Westfälischer Adel 1770-1860: Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite 9783666359910, 3525359918, 9783525359914


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Westfälischer Adel 1770-1860: Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite
 9783666359910, 3525359918, 9783525359914

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 35

KRITISCHE STUDIEN ZUR GESCHICHTSWISSENSCHAFT

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler

Band 35 Heinz Reif Westfälischer Adel 1770-1860

G Ö T T I N G E N • V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T · 1979

Westfälischer Adel

1770-1860 Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite

HEINZ REIF

GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1979

CIP-Kurztitelaufnahme Reif,

der Deutschen

Bibliothek

Heinz:

[Westfälischer Adel siebzehnhundertsiebzig bis achtzehnhundertsechzig] Westfälischer Adel 1770-1860: vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite / von Heinz Reif. - Göttingen; Vandenhoeck und Ruprecht, 1979. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 35) ISBN 3-525-35991-8

© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1979. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto-oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen. - Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

Inhalt Vorwort 1. Einleitung 1. Erkenntnisziel 2. Methodische Grundzüge 3. Gegenstand, Raum und Zeit der Untersuchung 4. Begriffe und orientierende Verlaufstypologien

15 17 17 18 22 24

II. Der katholische westfälische Adel in der ständischen Gesellschaft - Die Ausgangslage 1770 und deren historische Bedingungen

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A. Der Adel als Stand 1. Die adligen „Vorderstände" in der landständischen Verfassung: Domkapitel und Ritterschaft 2. Privilegien 3. Selbstbild, soziale Lage, soziales Prestige 4. Interne Differenzierung und innerer Zustand

34

B. ökonomische Grundlagen des Adelsstandes 1. Die Rechtsbeziehungen zwischen Grundherrn und Bauern in der münsterschen Grundherrschaft 2. Einkommen aus der Grundherrschaft 3. Ämtereinkommen 4. Ausgabefaktoren, Verschuldung und ökonomische Gesamtlage bis 1770

C. Verhalten und Bewußtsein 1. Die Familienordnung 1.1 Ursprüngliche Probleme der Familienordnung 1.2 Elemente der Familienordnung 1.3 Leistungen der Familienordnung 1.4 Institutionelle Absicherung 1.5 Familieninterne Absicherung durch soziale Kontrolle 1.6 Verhaltensnormen und Personbeziehungen

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58 58 61 67 73

78 78 78 80 92 95 96 104

2. Erziehung und Ausbildung 2.1 Zum Verhältnis von Staat, Erziehung und Gesellschaft in Deutschland vor 1770 2.2 Familienstruktur, Bild vom Kind und grundlegende Erziehungsprinzipien 2.3 Erziehung im Haus 2.4 Schulausbildung 2.5 Universitäts,besuch' 2.6 Kavalierstour 3. Ämtertätigkeit 3.1 Sicherung von Ämtern auf der Ebene des Standes 3.2 Familien-und standesinterne Aufteilung der Ämter 3.3 Verwaltungsorganisation, Auffassung vom Amt und Ämternutzung D. Zusammenfassung

III. Der Adel unter den Bedingungen des Wandels A. Zwei Wege vom Stand zur politisch privilegierten Berufsgruppe: Die unterschiedliche Entwicklung des altpreußischen und des münsterländischen Adels B. Die Wandlung des münsterländischen Adels vom Stand zur geschlossenen regionalen Elite 1. Der stiftsfähige Adel als zweiter Stand des westfälischen Provinziallandtags 2. Das Verhältnis zum Wirtschafts- und Bildungsbürgertum der Region 3. Die Einstellung zum preußischen Staat 4. Interne Wandlungsprozesse 5. Zusammenfassung C. Die veränderten ökonomischen Grundlagen des Adels 1. Entwicklung der Landwirtschaft im Bereich des Oberstifts nach 1770 2. Wandlung der bäuerlich-grundherrlichen Rechtsbeziehungen . . . 3. Arbeitsverfassung und Besitzorganisation 4. Wandlungen innerhalb des adligen Grundbesitzes 5. Einkommen aus Grundbesitz und Ämtern 6. Ausgabenstruktur und ökonomische Gesamtlage 7. Zusammenfassung 6

122 122 129 138 147 150 153 156 156 162 166 171

176

176

186 186 199 202 206 211 213 213 219 221 223 230 236 238

D. Verhaltens-undBewußtseinswandel 1. Familienstruktur im Wandel 1.1 Wirksamkeit der Familienordnung vor und nach 1770 1.2 Statusveränderungen und abweichendes Verhalten nach 1770 1.3 Erste Stabilisierungsbemühungen auf der Familienebene 1.4 Folgen des Rückzugs auf die Familie 1.5 Leistungen der Adelsfamilie in der Phase des Umbruchs 1.6 Grenzen der familieninternen Wandlungsprozesse 1.7 Versuche zur Reorganisation der Familienordnung nach der Eingliederung in den preußischen Staat 1.8 Zusammenfassung

240 240 240 260 279 283 291 299

2. Neue Formen der Erziehung und Ausbildung 2.1 Entwicklungen im preußischen Schulwesen nach 1770 2.2 Schulreform und gesellschaftliche Interessen in Preußen (1770-1840) 2.3 Neue Erziehungsprinzipien 2.4 Hauserziehung durch Privatlehrer und reformiertes Curriculum 2.5 Gymnasium, Jesuiteninternat und Ritterakademie Bedburg . 2.6 Universitätsstudium 2.7 Reisen 2.8 Zusammenfassung

315 315

304 313

318 324 336 342 357 364 368

3. Berufstätigkeit 3.1 Von traditionaler zu bürokratischer Herrschaft 3.2 Hindernisse auf dem Weg in die neuen Berufe 3.3 Der Weg in die neuen Berufe 3.4 Zusammenfassung

370 370 375 378 396

4. Vereinsaktivitäten 4.1 Korporation und Assoziation 4.2 Der Weg des Adels in die Vereine 4.2.1 Überblick über die Vereinsentwicklung 4.2.2 Gesellige Vereine 4.2.3 Vereine mit spezifischen Zielsetzungen: kulturelle und landwirtschaftliche Vereine 4.2.4 Vereinsgründungen im Umkreis der Revolution 1848: Großgrundbesitzerverein und katholische Vereinsbewegung 4.2.5 Neue Vereine auf rein adliger Grundlage 4.3 Zusammenfassung

398 398 400 400 401

5. Zeiterfahrung-Religion und Caritas-Selbstbild

431

E. Zusammenfassung und Ausblick

410

418 425 429

456

Abkürzungsverzeichnis

^^^

Tabellarischer Anhang

463

Münzen und Maße Anmerkungen Quellen und Literatur

679

Register

702

Verzeichnis der Tabellen Im Textteil ZahlderheiratendenTöchterproFamiliezwischenl720undl869 Zahl der heiratenden Söhne pro Familie zwischen 1720 und 1869 Verteilung der Rittergüter 1760 Domherrnstellen 1700-1803 in den Domkapiteln der geisdichen Staaten des Reichs Militärische Ämter 1700-1803 Domherrnstellen 1200-1803 im Domkapitel Münster Pfründenhäufung - die in westfälischen und außerwestfälischen Kapiteln besetzten Domherrnstellen 1700-1803 Kirchliche Ämter 1600-1803 innerhalb und außerhalb des Fürstbistums Münster Leitende zentrale Verwaltungs- und Hofämter im Fürstbistum Münster 1700-1803 Вesetzung der zwölf Drostenämter des Fürstbistums Münster 1700-1803 Schichtung der münsterländischen Adelsfamilien um 1770 aufgrund des Einkommens aus Grundbesitz Schichtung der münsterländischen Adelsfamilien um 1770 aufgrund des Ämtererfolgsiml7. und 18. Jahrhundert Schichtung der münsterländischen Adelsfamilien Schrumpfung der zur Ritterschaft zählenden Adelsfamilien Das Verhältnis von Geld- zu Getreideeinnahmen der v. Landsberg-Velenschen Rittergüter 1600-1850 Getreidepreise im Fürstbistum Münster 1530-1770 Gesamteinkommen der v. Droste-Sendenschen und v. Landsberg-Velenschen Rittergüter 1600-1770 Gehälter in der landesherrlichen Zentralverwaltung des Fürstbistums Münster 1803 Gehälter der bischöflichen Zentralverwaltung des Fürstbistums Münster 1803 Gehälter der Hofämter des Fürstbistums Münster 1803 Zahl der von den untersuchten Familien zwischen 1200 und 1803 besetzten Domherrnstellen im Domkapitel Münster Angehörige der untersuchten Adelsfamilien im Domkapitel Münster 1600-1803 Angehörige der untersuchten Adelsfamilien in westfälischen und nichtwestfälischen Domkapiteln 1700-1803

41 42 43 51 51 52 53 53 54 55 56 56 57 58 65 66 68 71 71 72 157 157 158 9

Häufung von Domherrnstellen in einer Hand 1700-1803 Angehörige stiftsfähiger westfälischer Adelsfamilien in leitenden zentralen Verwaltungsämtern 1700-1803 Zum Verlust der Landtagsfähigkeit von alten Rittergütern in der Provinz Westfalen (1830) Die ehemals landtagsfähigen Güter der Provinz Westfalen nach ihrer regionalen Lage und ihren Besitzern im Jahre 1824 Die Verteilung des adligen Besitzanteils an den ehemals landtagsfähigen Rittergütern Westfalens nach Kategorien innerer Differenzierung (1824) Ausgewählte Gemeinden mit besonders hohem bürgerlichen Besitzanteil an den ehemaligen landtagsfähigen Rittergütern 1824 Schichtung der untersuchten münsterländischen Adelsfamilien nach ihrem Einkommen aus Grundbesitz um 1830 Strukturveränderungen im Textilgewerbe des Münsterlands zwischen 1816 und 1849 Getreidepreise 1770-1865 Entwicklung der Flächennutzung zwischen 1810 und 1861 im Münsterland Entwicklung des Viehbestands zwischen 1810 und 1861 im Münsterland Fideikommißgründungen der untersuchten Adelsfamilien Mobilität der alten und neuen Rittergüter im Regierungsbezirk Münster 1770-1875 Gesamteinkommen münsterländischer Rittergüter 1770-1860 Eheliche Partnerwahl-der regionale Heiratskreis Anteil der heiratenden Kinder an der Gesamtkinderzahl Kinderzahl der Stammherrnehen Heiratsalter der Stammherrnfrauen Alter der Stammherrnfrauen bei der Geburt ihres letzten Kindes Kinderzahl der Ehen nachgeborener Söhne Heiratsalter der Frauen nachgeborener Söhne Alter der Frauen nachgeborener Söhne bei der Geburt ihres letztesKindes Heiratsalter der Stammherrn Heiratsalter der nachgeborenen Söhne Lebenserwartung der Männer Lebenserwartung der verheirateten Frauen Wiederverheiratung der Witwer Wiederverheiratung der Witwen AltersstrukturdesmünsterländischenAdels 1770und 1830 Entwicklung der Brautschätze im münsterländischen Adel Entwicklung der Wittümer im münsterländischen Adel MünsterländischeAdelssöhneamGymnasiumMünster 1790-1869 Zahl der Zöglinge auf der Ritterakademie Bedburg Studienorte und Anteil der dort studierenden münsterländischen Adelssöhne nach 1770 10

158 161 190 191 192 193 206 213 217 219 219 224 224 231 241 242 243 243 244 246 246 247 247 248 249 251 252 253 254 255 257 346 355 357

Studienfächer der münsterländischen Adelssöhne nach 1770 Ämter und Berufe zukünftiger Stammherrn Berufserfolg zukünftiger Stammherrn im preußischen Staatsdienst

360 378 378

Ämter und Berufe nachgeborentr Söhne Berufserfolg nachgeborener Söhne im preußischen Staatsdienst Standeswahl der zwischen 1795 und 1869 unverheiratet bleibenden Töchter Landwirtschaftliche Vereine in ausgewählten preußischen Provinzen

379 379 396 413

Tahellanscher Anhang Tabelle 1: Gehälter im Fürstbistum Münster, Großherzogtum Berg, Königreich Frankreich und Preußen Schaubild 1 : Einkommensfaktoren der v. Landsberg-Velenschen Rittergüter 1600-1830 Tabelle 2a: Bevölkerungswachstum im Gebiet des Oberstifts Münster Tabelle 2b: AnzahlderWebstühlenachausgewähltenProvinzen-1816 Tabelle 3: Leinenwebstühle im Gebiet des ehemaligen Oberstifts Münster 1816 Tabelle 4: Webstuhldichte in den münsterschen Kreisen um 1819 Tabelle 5: Bevölkerungswachstum in zwei Kreisen mit extrem unterschiedlicher Webstuhldichte Tabelle 6: EntwicklungderArmutinWestfalenim 19. Jahrhundert Tabelle 7: MarkenteilungenundAnsiedlungen bis 1835 Tabelle 8: Der ehemals nicht-landtagsfähige Großgrundbesitz in Westfalen nach Regierungsbezirken 1824 Tabelle 9: Mobilität der Rittergüter zwischen 1835 und 1864 nach Regierungsbezirken und Provinzen Tabelle 10: Erweiterung der Eigenwirtschaft des Adels zwischen 1830/35 und 1880/90 Tabelle 11: Zwischen 1816 und 1859 aufgehobene bzw. neugegründete Bauernhöfe Tabelle 12: Entwicklung der Ablösungen Tabelle 13: Resultate der Ablösungen bis 1899 im Regierungsbezirk Münster Tabelle 14: Die Gliederung der ehemals landtagsfähigen Rittergüter nach ihrer Grundsteuerleistung 1824 Tabelle 15 : Die Gliederung des ehemals nicht-landtagsfähigen Großgrundbesitzes in Westfalen nach Regierungsbezirken und Grundsteuerleistung 1824 Tabelle 16: Entwicklung des Viehbestands in vier ausgewählten Kreisen zwischen 1810 und 1861

463 468 473 473 473 474 475 475 475 476 477 478 479 479 480 480 481 481 11

Tabelle 17: Die fünfzehn höchstbesteuerten adligen Großgrundbesitzer in Westfalen 1824 Tabelle 18: Übersicht über die Vereine, an denen münsterländische bzw. westfälische Adlige beteiligt waren Schaubild 2: Preußische Offiziere und Beamte im „Adligen Damenclub" Schaubild 3: Mitgliedschaft des Adels in der Freimaurerloge zu Münster Schaubild 4 : Mitghedschaft des Adels im „Civilclub" Schaubild 5: Mitgliedschaft des Adels in der Gesellschaft „Harmonie" zu Warendorf Tabelle 19 : Mitgliederentwicldung des Pferdezuchtvereins in Münster Tabelle 20: Mitgliederstruktur des Münsterschen Vereins zur Beförderung der Pferdezucht Tabelle 21: Die Verteilung der Provinziallandtagsdeputationen vor 1848

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482 484 486 487 488 489 490 490 490

Für Cybèle

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Februar 1977 der Fakultät für Geschichtswissenschaft an der Universität Bielefeld als Dissertation eingereicht. Für Anregung, Rat und weiterführende Kritik bei Themenwahl und Durchführung der Arbeit möchte ich Professor J. Kocka und Professor E. Weis meinen herzlichen Dank aussprechen. Wichtige Korrekturvorschläge und Orientierungshilfen ergaben sich aus der intensiven und kritischen Diskussion von Thesen und Ergebnissen meiner Arbeit im Bielefelder Kolloquium zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Professoren J. Kocka und H . U . Wehler und im Kolloquium zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit von Professor W. Mager, Professor J. Hellwege, Professor F. Irsigler und Professor K. Schreiner. Leitern und Teilnehmern dieser Kolloquien fühle ich mich deshalb zu besonderem Dank verpflichtet. Bei der Überarbeitung des Kapitels zur Familienstruktur des Adels konnten erste Ergebnisse des vom Wissenschaftsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen geförderten, von Professor J . Kocka unter Mitwirkung von K. Ditt, J . Mooser, H . Reif und R. Schüren durchgeführten Forschungsprojekts „Vergleichende Untersuchungen zur Sozialgeschichte der Familie in Westfalen 1770-1870" berücksichtigt werden. K. Hausen, J . Mooser, H . Tyrell, G . Pedlow und H . Rosenbaum haben das Manuskript gelesen und Verbesserungen angeregt, die in die Überarbeitung eingegangen sind. Den Vorständen der Adelsfamilien, die mir den Zugang zu ihren Archiven gestatteten und den Archivbeamten, die mir die Quellenbestände zugänglich machten und mich während der Archivarbeit stets bereitwillig berieten und unterstützten, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat mich während des Studiums durch ein Stipendium unterstützt. In den letzten Monaten der Arbeit an der Dissertation erhielt ich ein Stipendium der Hans-Merensky-Stiftung. Den „Vereinigten Westfälischen Adelsarchiven", der Stadt Münster, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe und dem Wissenschaftsministerium von NRW danke ich für Druckkostenzuschüsse. Bielefeld, im Oktober 1978

H . Reif

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I. Einleitung 1. Erkenntnisziel Der altpreußisch-ostelbische Adel hat, trotz der erheblichen politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandlungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, seine Position als militärisch-politische Funktionselite auch im 19. Jahrhundert ohne nennenswerte Einbußen erhalten können. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war er in den Führungspositionen des Heeres, der Verwaltung und vor allem der Diplomatie in außerordendich hohem Maße überrepräsentiert.' Der Anteil des alten Adels aus Preußens wesdichen Provinzen an dieser Führungsschicht fällt deutlich geringer aus, und nur außerordendich selten taucht in den Offiziersranglisten und Staatshandbüchern des preußischen Staates im 19. Jahrhundert ein Angehöriger des katholischen westfälischen Adels in führender Position auf. Ein ähnliches Ergebnis ergibt eine Positionsanalyse auf der Ebene der preußischen Provinzialverwaltung. Sowohl innerhalb als auch außerhalb Westfalens war der katholische westfälische Adel, der weit über zwei Drittel des westfälischen Adels ausmachte, in den Obeφräsidien und Regierungen nicht bzw. äußerst selten vertreten.^ Die Befunde solcher Positionsanalysen, vor allem aber ein Forschungsinteresse, das sich auf den Einfluß der ostelbischen adlig-bürgerlichen Rittergutsbesitzerklasse, der ,,Junker", auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung in Preußen während des 19. und 20. Jahrhunderts konzentrierte, deren Genese rekonstruierte, haben in starkem Maße das Bild des preußischen und des deutschen Adels bestimmt.' Nun ist der Adel der preußischen Westprovinzen, und insbesondere der katholische Adel Westfalens, obwohl er seinen ostelbischen Standesgenossen auch in der Größe seines Grundbesitzes deutlich nachstand, für die politische und gesellschaftliche Entwicklung in Preußen während des 19. Jahrhunderts aber keineswegs ohne Bedeutung, gleichsam eine ,,quantité négligeable" gewesen. Erweitert man seine Perspektive über die staatlichen Spitzenpositionen hinaus und erfaßt diesen Adel als soziale Gruppe in seiner Region, so wird zunächst deutlich, daß er nach Zahl der Familien und Rittergüter sich durchaus mit dem Adel anderer Provinzen messen konnte. Dann fällt die große Zahl von Namen mit einem auch heute noch recht hohen allgemeinen Bekanntheitsgrad auf, z.B. die Namen der Familien v. Droste-Hülshoff, v. Droste-Vischering, v. Galen, v. Haxthausen, v. Heeremann, v. Kerckerinck-Borg, v. Ketteier, v. Landsberg-Velen, v. Mallinckrodt, v. Schorlemer etc. Dabei hat diese Bekanntheit ihren Grund nicht so sehr in historischen Verhältnissen vor 1800, sondern in Leistungen von Angehörigen dieser alten katholischen Adelsfamilien während des 19. Jahrhunderts in katholischer Kirche, karitativen Bewegungen, Politischem Katholizismus, Bauernvereinen und Zentrumspartei, also Institutionen und Organisationen des vom monarchisch-bürokratischen Staat abgehobenen gesellschaftlichen 17 2

Reif, Adel

Bereichs. Schließlich hat auch keine andere Provinz im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts so viele Adlige, und zwar fast nur katholische Adlige, ins preußische Abgeordnetenhaus und in den Reichstag gewählt wie Westfalen. Der katholische Adel Westfalens, vor 1800 noch stark in feudal-ständischen Traditionen und Institutionen des geisdichen Staats verankert, von aufgeklärten Kritikern als hoffnungslos rückständig dargestellt, ist nach seiner Eingliederung in den modernen preußischen Staat keineswegs in eine politikferne, Erinnerungen konservierende Privatheit eingetreten, wie ein Teil seiner süddeutschen und österreichischen Standesgenossen; er erscheint im Gegenteil am Ende des 19. Jahrhunderts als die von breiten Schichten der Bevölkerung anerkannte soziale und politisch-parlamentarische Elite der Provinz. Die vorliegende Untersuchung thematisiert die Beharrungskraft dieses Adels im Übergang vom Ancien Régime zur modernen Welt, das Wechselspiel von Funktionsverlust und erzwungener Anpassung aufgrund außengesetzter Bedingungen einerseits, Selbstbehauptung und Identitätswahrung durch Nutzung eines Anpassungsspielraums auf der Grundlage überkommener standesspezifischer Traditionen andererseits. Sie fragt nach internen Mechanismen und außengerichteten Strategien, durch den sich dieser Adel im Wandel erhielt, sowie nach Form und Grad der Verhaltensund Bewußtseinsänderungen, durch welche die Selbsterhaltung als Elite unter völlig veränderten Bedingungen gelang. Auf diese Weise werden Genese und Durchsetzung einer spezifischen Adelstradition im preußischen Staat des 19. Jahrhunderts in drei Schritten rekonstruiert: Einer Analyse der Lage des Adels vor der verstärkten Auflösung der ständischen Sozialstruktur folgt die Darstellung seines Anpassungs- und Erneuerungsverhaltens in einer Umbruchs- und Übergangsphase, das Grundlage für seine Selbstbehauptung und seine neue Position als regionale Elite seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde. Die Arbeit versteht sich einerseits als ein Beitrag, das stark von den Forschungen zum altpreußischen, ostelbischen Adel bestimmte Bild des deutschen Adels zu korrigieren, die Besonderheit des ,,Junkers" im Spektrum deutscher Adelsgruppen weiter aufzuklären; darüber hinaus gilt ihr Interesse der Frage, in welcher Weise Traditionen des Ancien Régime in die Gesellschaftsstruktur des 19. Jahrhunderts eingeschmolzen wurden. Ein drittes Erkenntnisziel ist methodischer Art und richtet sich auf die Möglichkeiten, die kollektive Biographie einer Sozialgruppe als Gesellschaftsgeschichte zu schreiben.

2. Methodische Grundzüge Der gesellschaftsgeschichdiche Ansatz enthält zwei wichtige Vorannahmen: Die Vorstellung von der Gesellschaft als eines strukturierten Ganzen und die begründete Vermutung, daß der Bereich zwischen Wirtschaft und Politik, der gesellschaftliche Bereich im engeren Sinne, hinsichtlich seiner Erklärungskraft für umfassende, gesamtgesellschafdiche Wandlungsprozesse einen gewissen Gewichtsvorsprung beanspruchen kann.·· Eine erste Vorstellung vom Ganzen sollen in dieser Untersuchung die inhaldich nur in wenigen, grundlegenden Strukturmerkmalen bestimmten ideal18

typischen Begriffe der absolutistisch gtprïgten feudal-ständischen Gesellschaft und der bürgerlichen Klassengesellschaft begründen. Im Schwerpunkt der Untersuchung werden für den Selbstbehauptungsprozeß als besonders wichtig eingeschätzte, allerdings schwer erschließbare Verhaltens- und Bewußtseinsbereiche wie Familie, Erziehung, Beruf, Verein, Religion etc. stehen, ohne daß andererseits die politischen und ökonomischen Strukturen bzw. Entwicklungen vernachlässigt werden.® Die Ausrichtung der Untersuchung auf Ursachen und Folgen interner Reaktionsweisen und Anpassungsmechanismen des Adels in dieser Ubergangszeit zwischen zwei grundlegenden Formen gesellschaftlicher Organisation verlangt sodann ein Wissen über gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, das sich so eng wie möglich auf den Adel als Herrschaftsstand und die aus den Quellen zu erarbeitenden Vorgänge innerhalb des Adels beziehen läßt. Eine umfassende, als Idealtyp verwendbare Theorie sozialen Wandels, die von den Begriffen der Stände- und Klassengesellschaft ausgeht, Prozesse in den hier vorwiegend interessierenden Wirklichkeitsbereichen in Kategorien und Hypothesen einbezieht und miteinander verknüpft, steht der historischen Forschung noch nicht zur Verfügung. Statt dessen wird zur Strukturierung des untersuchten Gegenstandsbereichs ein stark von Quellen und Forschungsliteratur geleitetes, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse flexibel integrierendes synthetisierendes Verfahren gewählt; d. h. eine selektive Analyse des gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesses, in dessen Kontext der untersuchte Adel steht, wird verbunden mit dessen detaillierter Analyse als Sozialgruppe, die sich in ihren aufschließenden Kategorien und Hypothesen auf Forschungsergebnisse der Sozialwissenschaften, der historischen Forschung, insbesondere der Untersuchungen zur Sozialgeschichte des Adels, und z.T. auch auf Begrifflichkeit und intentionale Aussagen der Quellen stützt. Durch Synthese dieser Ebenen - die thematisierten gesellschaftlichen Teilbereiche werden dabei jeweils als relativ autonom und in vielfachen Ursache-Wirkungs-Verhältnissen wechselseitig miteinander verbunden, also keineswegs als einseitig aus ökonomischen oder politischen Bedingungen ableitbar aufgefaßt - in einen umfassenden,,argumentativen, beschreibenden und erklärenden Gesamtzusammenhang" wird es, auch ohne explizite Konstruktion eines integrierten Untersuchungsmodells möglich, eine konkrete historische Realität zu rekonstruieren, einen Teil der für die Fragestellung relevanten Zusammenhänge zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen zu erfassen, Erklärungen für historische Teilprozesse zu erarbeiten.® Es liegt in der Konsequenz dieses Verfahrens, das Theorieverwendung - die theoretischen Bezüge und Modelle werden im folgenden und parallel zur Darstellung, in den Anmerkungen, explizit gemacht - und Gegenstandsnähe zu integrieren sucht, daß den Quellenaussagen und dem hermeneutischen Verstehen von Motiven und Verhalten der untersuchten Personen bei der Erarbeitung dieses Zusammenhangs zentrale Bedeutung beikommt. Dem bisher skizzierten methodischen Verfahren gemäß wird zunächst anhand der Forschungsliteratur ein notwendig sehr unvollständig bleibendes, als Idealtyp dennoch recht brauchbares, erste Orientierungen vermittelndes Bild von der gesellschaftlichen Ordnung in Deutschland um 1770, den um 1800 ablaufenden, die ständische Gesellschaft auflösenden Wandlungsprozessen und deren Zusammenhang mit den 19

hier besonders interessierenden gesellschaftlichen Teilbereichen Familie, Erziehung etc. erarbeitet. Diese nicht mehr weiter auf ursächliche Zusammenhänge hinterfragten Verlaufstypologien werden als außengesetzte, die soziale Lage und damit das Verhalten des Adel dynamisierende Faktoren aufgefaßt. Die damit verbundenen methodischen Nachteile, vor allem die fehlende Verknüpfung der im wesentlichen additiv aneinandergereihten einzelnen Wandlungsvorgänge und die gegenseitige Überlappung der in ihnen berücksichtigten Wirklichkeitsbereiche, sind bei der gegenwärtigen Forschungslage in Kauf zu nehmen. Die Verlaufstypologien liefern einen wichtigen kategorialen Rahmen und ermöglichen eine erste Einordnung des untersuchten Adels in überindividuelle und überregionale Zusammenhänge. In einem zweiten Schritt - und hierzu dienen j eweils die ersten Teilkapitel eines Untersuchungsabschnitts - werden die in den Verlaufstypologien erfaßten Prozesse sozialen Wandels weiter differenziert und konkretisiert, d. h. einerseits selektiv auf die untersuchte Region, die Erfahrungslage des Adels und die Traditionen des seit 1814/15 diese Region endgültig okkupierenden preußischen Staats bezogen; andererseits in ihren Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Zwischenbereiche dargestellt, die den Schweφunkt der Untersuchung bilden (Familie, Erziehung etc.). Eine erste Integration der Bereiche Familie, Erziehung, Beruf und Verein in die so gebildeten Verlaufstypologien, ihre Verwandlung von relativ unbestimmten Zwischenbereichen in Verbindungsbereiche mit spezifischen Leistungsmöglichkeiten, wird möglich durch eine Verbindung von strukturell-funktionalen (Eisenstadt) mit elitentheoretischen Überlegungen (Schumpeter).'' In der Perspektive strukturellfunktionaler Theorie lassen sich spezifische, im 18. Jahrhundert in Deutschland aufkommende Familien- und Erziehungsformen, das sich ausdifferenzierende Berufssystem des Zentralstaats und das Vereinswesen als Sozialisationsinstanzen auffassen, über die der Adel sich stufenweise von seinen altständisch-traditionalen Wert- und Verhaltensorientierungen hätte lösen können zugunsten einer universal-individualistischen Orientierung an Werten der sich durchsetzenden bürgerlichen Gesellschaft wie Besitz, Bildung, sachUch-funktional definierte Leistung, Recht auf Selbstverwirklichung etc. Die Zwischenbereiche boten dem Adel eine wichtige Anpassungsmöglichkeit zur Bewältigung der Negativerfahrungen in der Umbruchszeit: die Verbürgerlichung. Damit ist aber nur eine mögliche Entwicklung genannt. Jede dieser Stufen bot zugleich eine Vielzahl konkurrierender Möglichkeiten der Nutzung, so daß die Alternative Verbürgerlichung oder Beibehaltung ständisch-adliger, rückwärtsgerichteter Identität, letzteres assoziiert mit langsamem Absinken in die Bedeutungslosigkeit, eine Untersuchung über den Adel im 19. Jahrhundert leicht in falsche Geleise lenken kann. Doch lassen sich an die feststellbare Differenz zwischen diesem Entwicklungsmodell einer Modernisierung des Adels und der feststellbaren realen Entwicklung Fragen nach den Ursachen der gewählten Lösung anschließen. Das lenkt die Untersuchung zum einen auf die äußere Bedingungskonstellation, unter der diese Lösung sich realisierte, zum anderen auf die konkreten Sozialinteressen der untersuchten Adelsgruppe. Zum erstgenannten Aspekt gehört die Beobachtung Schumpeters, daß der Adel einerseits aufgrund seiner hervorgehobenen Stellung in der ständischen Gesellschaft einen gewissen Vorsprung vor anderen konkurrierenden Eliten be20

saß, die er zur Okkupation neuer gesamtgesellschaftlich relevanter Funktionen, und damit zur Sicherung seiner Machtstellung nützen konnte; daß aber andererseits mit fortschreitender Differenzierung dieser Funktionen die Zahl konkurrierender Elitegruppen zunahm und die Bedeutung der noch im Adel gesicherten spezifisch ,,adligen" Funktionen zunehmend schwächer wurde, so daß der Gedanke von der Ersetzbarkeit des Adels seit dem Ende des 18. Jahrhunderts immer häufiger geäußert wurde. Aus dieser Beobachtung ergibt sich die Notwendigkeit einer Analyse der Durchsetzungschancen des Adels im Kampf um neue relevante Funktionen gegenüber konkurrierenden bürgerlichen Funktionseliten und seiner MögUchkeiten, sich der Unterstützung anderer Sozialgruppen und mächtiger Institutionen zu versichern. Dabei wird von erheblicher Bedeutung sein, daß die untersuchte Adelsregion zwischen 1803 und 1815 einem mehrfachen Herrschaftswechsel unterlag. Neben den außengesetzten Durchsetzungschancen ist aber die konkrete Ausgestaltung der Sozialinteressen des Adels gleichermaßen für die gewählte Neuorientierung verantwortlich; denn die Selektion aus den verschiedenen Anpassungsmöglichkeiten wurde in ebenso starkem Maße von den Traditionen des Adels bestimmt, durch die er bisher seine familialen und ständischen Grundziele realisiert hatte, ökonomische, politische, soziale und kulturelle Bedürfnisse verschmelzen hier in einer Gemengelage, die analytisch nur partiell aufzulösen ist, deren Kenntnis aber erst eine Rekonstruktion von Bedürfnis- und Erfahrungslage, Verhaltens- und Bewußtseinswandel zuläßt, und erlaubt, die Leistungen der ausgewählten Vermittlungsbereiche für die Rekonstruktion dieses Adels im 19. Jahrhundert gegeneinander abzuwägen, die Folgen des im Wechselspiel von außengesetzten Zwängen bzw. Spielräumen und relativ autonomer Entscheidung über den Einsatz interner standesspezifischer Ressourcen zustande gekommenen Anpassungsweges näher zu bestimmen. Vergleiche mit anderen Adelsregionen und sozialen Schichten ließen sich aus arbeitsökonomischen Gründen nur sporadisch, dort wo es zur konkreteren Erfassung und Analyse des untersuchten Problems beitrug, durchführen. Innerhalb der Untersuchung einzelner Teilbereiche, wie z.B. der Familie, gewinnt, mit dem Ziel differenzierterer Analyse, die Erfahrungseinheit der Generation - wie zumeist üblich als 25 Jahre umfassend festgesetzt - ein gewisses Schwergewicht als Einheit der Reaktion und der Anpassung im Wandel. Doch wird zugleich auf die Zusammenhänge zwischen den Generationen, vor allem aber auf die Analyse von Bedingungszusammenhängen, die solche Altersphasen übergreifen, großes Gewicht gelegt, so daß der Erklärungswert des Generationenkonzepts seiner Bedeutung gemäß relativiert bleibt. Fragestellung, Untersuchungskonzept und Untersuchungsschwerpunkt erfordern den regionalgeschichdichen Ansatz, obwohl Erkenntnisziel und angewendete Kategorien nicht dominant an die Besonderheit der ausgewählten Region gebunden sind und die Arbeit sich eher als regionale Fallstudie mit einem Interesse an generellen Aussagen versteht. Doch erst eine solche regionale Eingrenzung ermöglicht es, die für den komplexen Anpassungsprozeß des Adels wichtigen gesellschaftlichen Teilbereiche konkret und präzise zu bestimmen, zu untersuchen und zu verknüpfen, und wichtige Voraussetzungen für das Verhalten dieses Adels, z. B. seine historischen Erfahrungen und Traditionen vor 1770, möglichst umfassend zu berücksichtigen. Erst so sind auch 21

bestimmte Untersuchungsmethoden, z.B. die Prosopographie und die Erarbeitung von Datenreihen aus schriftlichen Quellen nach dem Vorbild der in Frankreich entwickelten histoire sérielle anwendbar.® Die Auswertung der so erhobenen Daten und des umfassenden qualitativen Quellenmaterials wird vom Ziel der Untersuchung, der Biographie einer sozialen Gruppe bestimmt. Es geht nicht darum, rein additiv die Geschichten einzelner Familien, sondern die eine Gruppe bestimmenden dominanten Verhaltens- und Einstellungsmuster zu erarbeiten, deren Wandel zu verfolgen und so weit wie möglich zu erklären. Innerhalb des qualitativen Quellenmaterials gewinnen deshalb Quellen mit einem möglichst hohen, für die Gruppe repräsentativen Aussagegehalt, z.B. Testamente, Eheverträge, Leichenpredigten, Totenbriefe und Denkschriften einen besonderen Stellenwert. Die quantifizierende Analyse des Adelsverhaltens dient der Illustration, Kontrolle und Korrektur der anhand qualitativer Aussagen erarbeiteten Verhaltensmuster, bestimmt konkret ihren Geltungsbereich. Sie macht aber auch Verhaltensweisen sichtbar, die den Handelnden nicht bewußt waren und deshalb in qualitativen Quellen nur schwer oder gar nicht aufzufinden sind. So lassen sich z.B. die ersten Reaktionen des Adels auf die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sich verstärkenden Wandlungsvorgänge in seiner Umgebung, im quantifizierend analysierten Verhaltensbereich schon um 1770 nachweisen, während sie erst deutlich später in Äußerungen der Betroffenen ihren Ausdruck fanden. Qualitative und quantifizierende Analysen werden sich im Verlauf der Untersuchung ständig kontrollieren, beeinflussen und ergänzen. Auf der Ebene des qualitativen Quellenmaterials galt der Grundsatz, möglichst viele und verschiedene, sich gegenseitig erhellende Quellenarten heranzuziehen. Beide Verfahren sollen dazu beitragen, zwei Gefahren der quantifizierenden Analyse, die Überinterpretation der Zahlenreihen und die Vernachlässigung nicht quantifizierbarer Wirklichkeitsbereiche, zu vermeiden.

3. Gegenstand, Raum und Zeit der Untersuchung Zwei Drittel Westfalens standen vor 1803 unter geisdicher Herrschaft. Die westfälischen geistlichen Territorien besaßen bis zu ihrer Auflösung eine gut funktionierende ständische Verfassung, in der der landsässige stiftsfähige Adel eine außerordentlich starke Position einnahm.' Für diesen politisch mächtigen, religiös homogenen Adel waren die Territorialgrenzen innerhalb Westfalens von geringerer Bedeutung als die reUgiösen. Zwischen dem Adel der verschiedenen katholischen westfälischen Territorien fand ein reger Austausch auf der Ebene der Heiraten, des Grund- und des Ämtererwerbs statt. Da auch der katholische Adel anderer nordwestdeutscher Gebiete an den hochdotierten, prestigeträchtigen kirchlichen Pfründen der geistlichen Staaten, die nach dem Adelskriterium der Stiftsfähigkeit vergeben wurden, in starkem Maße interessiert war, und in diesem Gebiet die adhge Grundherrschaft einheitlich, d. h. in der Form der sogenannten nordwestdeutschen Grundherrschaft organisiert war, kann man ,,im Hinblick auf den landsässigen Adel Nordwestdeutschlands . . . von 22

einem ,Typenraum' im Sinne Otto Brunners sprechen . . . ; denn von Andernach bis Hildesheim (Domkapitel), von Osnabrück bis Arnsberg verstand man sich als homogene Schicht, läuft eine ebenso zunehmende soziale Abschließung parallel".^^ Zwei weitere, von geistlichen Staaten geprägte Typenräume finden sich im Rheintal (Köln, Mainz, Trier) und im fränkisch-hessischen Raum (Würzburg, Bamberg, Fulda). Hinzu kamen weitere geisdiche Staaten im ganzen Reich, insbesondere in Süddeutschland, in denen Domkapitelssitze und andere kirchliche Pfründen, aber auch die Landstandschaft, und damit ein erheblicher Teil der Ämter, ebenfalls nach dem relativ einheitlichen Adelskriterium der Stiftsfähigkeit vergeben wurden, so daß man davon ausgehen kann, daß ein erheblicher Teil des alten Reichsadels von den Verhältnissen in den geisdichen Staaten mehr oder weniger stark geprägt worden ist. Art und Ausmaß dieser Prägung zu erarbeiten, diesen Adelstypus des Alten Reichs genauer zu bestimmen, ist ein wichtiges Ziel der folgenden Untersuchung. Sie konzentriert sich auf den Bereich des preußischen Regierungsbezirks Münster, der mit dem Hauptteil, dem sogenannten Oberstift des 1803 aufgelösten Fürstbistums Münster, des größten geistlichen Staats im Reich, übereinstimmt. Diese Wahl hat den Vorteil, daß sie ein Mindestmaß an Vergleichbarkeit der während verschiedener Phasen der Übergangszeit erhobenen statistischen Daten garantiert. Für die prosopographisch-quantitative Analyse des untersuchten Adels wurden 25 münsterländische Adelsfamilien ausgewählt. Es handelt sich dabei um die Familien, die seit 1700 mit ihrer Hauptlinie und ihrem Besitzschwerpunkt im Oberstift Münster angesessen waren und auch nach 1860 noch existierten. Dadurch kann für die Zeit um 1800 für jede dieser Familien eine die Erfahrungen von vier Generationen einschließende, auf den geisdichen Staat bezogene Familientradition vorausgesetzt werden, so daß eine Homogenität in den Verhaltensmustern zu Beginn des Untersuchungsabschnittes gesichert ist. Die 25 Familien und die Lebenswege von ca. 720 ihrer Angehörigen wurden aus den Familienarchiven und vielfältigen Arten personengeschichtlicher Quellen rekonstruiert. Etwa 15 alte münsterländische Adelsfamilien, die zwischen 1770 und 1860 ausstarben oder aus Westfalen fortzogen, wurden nur auf der Ebene qualitativen Quellenmaterials berücksichtigt; dasselbe gilt von 10 weiteren Familien aus dem nichtmünsterländischen Westfalen (z.B. die Familie v. Fürstenberg), die seit spätestens 1770 mit Nebenbesitz bzw. einer Nebenlinie im Münsterland angesessen, und auf die Pfründen der geistlichen Staaten orientiert waren. Der Untersuchungszeitraum umfaßt die Zeit zwischen 1770 und 1860. Diese beiden Daten kennzeichnen keine scharfen Zäsuren, sondern sind eher als ungefähre Anhaltspunkte aufzufassen. Der Ausgangszustand um 1770 wird einerseits durch Rückgriffe auf die Entwicklung des Adels in den geisdichen Staaten Westfalens seit dem 16. und 17. Jahrhundert in seiner Entstehung und als ein sich weiterhin stetig wandelnder erarbeitet; andererseits wird er aber als Zeitraum aufgefaßt, in dem grundlegende, und lange Zeit relativ stabil gebliebene Strukturen der feudal-ständischen Gesellschaft in verstärktem Maße brüchig werden. Dieser Sachverhalt läßt sich einerseits an den Verlaufstypologien, andererseits an den deutlichen Verhaltensänderungen des Adels seit dieser Zeit belegen, obwohl sich im nun einsetzenden Prozeß des Übergangs noch 23

lange Zeit traditionale und moderne Elemente in der gesellschaftlichen Ordnung und den Verhaltensorientierungen des Adels überlagern. Um 1860 kann man von einer im Innern und im Äußern gefestigten Position des Adels als neuer und alter regionaler Elite sprechen. Der Umorientierungs- und Anpassungsprozeß hatte sich in einem ausgearbeiteten Konzept adligen Verhaltens in Familie, Stand, Region und Staat kristallisiert und die Angehörigen der Adelsfamilien folgten ihm. In dieser Zeit wurden die Adligen in das Abgeordnetenhaus gewählt, nahmen sie eine führende Rolle in der katholischen Vereinsbewegung ein, gründete v. Schorlemer mit starker Unterstützung seiner Standesgenossen den westfälischen Bauernverein. Die Ablösungsfrage bot zu dieser Zeit kaum noch Konfliktstoff, der Adel hatte sein Aufgabenfeld als Landwirt und Landverpächter gefunden, und mit der in den fünfziger Jahren einsetzenden Industrialisierung des Ruhrgebiets ergaben sich vielfältige neue, das lange Zeit gespannte Verhältnis des Adels zum Bauern übergreifende Probleme für die im Regierungsbezirk vorherrschende Landwirtschaft.

4 . Begriffe und orientierende Verlaufstypologien

a) Vom Stand zur Klasse - Auflösung der feudal-ständischen Gesellschaft Die grundlegende Einheit der streng hierarchisierten feudal-ständischen Gesellschaft, àtrStand, war ein durch rechtliche Bestimmungen und verbindhche kirchliche Weltdeutungen von anderen gesellschaftlichen Gruppen deuthch abgegrenzter, relativ geschlossener Funktionsverband. Jeder Stand (Geistlichkeit, Adel, Stadtbürgertum, Bauern) war bestimmt durch eigenes Recht, eine bestimmte Form der Teilhabe an politischer Herrschaft, eine besondere Form materieller Subsistenzbegründung und ein spezifisches Prestige. Herrschaft, Prestige und Besitz begründeten in nicht weiter auseinander ableitbarer ,,Kristallisation" die ständische L a g e . " In der Regel wurde der einzelne, über seine Familie vermittelt, durch Geburt Mitglied eines Standes, und erwarb damit einen Anspruch auf die von seinem Stand in einer vorwiegend durch Mangel gekennzeichneten Umwelt monopolisierten Lebenschancen. Zur Wahrung seines Prestiges, seiner Ehre, verpflichtete jeder Stand seine Mitglieder zu einer tendenziell alle Bereiche des Alltagsverhaltens normativ regelnden,,standesgemäßen" Lebensführung, die mit den legitimierenden Konstruktionen über den besonderen Wert des Standes im Einklang stand. Dieser Verpflichtungsidee waren Tendenzen zur Dynamik und zur Statik immanent. Zum einen begünstigte sie die zunehmende Monopolisierung noch nicht eindeutig ständisch okkupierter ideeller und materieller Güter, förderte sie über das Selbstrechtfertigungsbemühen der Standesmitglieder die Distanz zwischen den Ständen; andererseits aber waren die Rechtfertigungskonstruktionen der Stände aufeinander bezogen, so daß sie sich in der Regel nicht gegenseitig in Frage zu stellen vermochten und der Ausdehnung des einen Standes auf Kosten des anderen Grenzen gesetzt waren. 24

Diese rechtlich fixierte und erbhch verfestigte, teilweise dynamische, in stärkerem Maße aber relativ statische soziale Schichtung wurde durch zwei säkulare Prozesse sukzessive aufgelöst:^^ Die Fürsten und Landesherren, die Spitze der Herrschaftspyramide, suchten sich über die Mittel des Hofs, des stehenden Heers und einer zentralisierten bürokratischen Verwaltung (zunächst vor allem Steuerverwaltung) vom Mitherrschaftsanspruch der autonomen, lokal bzw. regional verankerten partikularen Herrschaftsverbände, von den ,,Häusern" bis zu den Ständen, zu lösen, alle Herrschaftsrechte in ihrer Hand zu monopolisieren, die in starkem Maße auf persönlicher Autorität der ständischen Führungsschichten beruhende politische Macht des dezentralisierten Ständestaates zu zentralisieren und durch bürokratische Formen der Herrschaftsausübung zu versachlichen. Tendenziell ging die Entwicklung dahin, daß der Fürst, gestützt auf ständisch nicht gebundene Funktionseliten, die rechtlichen Schranken zwischen den Ständen nach und nach aufhob, die besonderen Rechte der einzelnen Stände zugunsten eines allgemeinen Staatsrechts beseitigte, so daß schließlich ein in seinen Funktionen und Institutionen durch ,,innere Staatsbildung" (Hintze) erheblich erweiterter und gestärkter moderner, zentralistisch-bürokratischer Staat einer von Zwischengewalten befreiten, dekoφorierten Gesellschaft, zunächst von relativ unmündigen Untertanen, später von zunehmend selbstbewußter und selbständiger werdenden Staatsbürgern gegenüberstand. Dieser sehr idealtypische Verlauf ist jedoch zweifach zu korrigieren; denn weder die regionalen bzw. lokalen ständischen Herrschaftseinheiten, noch die ständische Sozialstruktur wurden, da der Fürst seine Solidarität mit dem Adel nicht aufgab, völlig aufgelöst. Es blieb vielmehr in mehr oder weniger starkem Maße bei einem Herrschaftskompromiß zwischen dem Fürsten, den von ständisch gebundenen Kräften stark unterwanderten, formal aber unständischen Staatsbeamten und den altständisch-regionalen Herrschaftsgruppen, die ihre alten Herrschaftsrechte als staatlich delegierte Funktionen interpretiert beibehielten und sich, ihren einstigen Anspruch auf gleichberechtigte Mitherrschaft aufgebend, in die Hierarchie zentralisierter staatlicher Herrschaft einordneten. Neben dem Prozeß der Staatsbildung hat die vom Staat geförderte, ansonsten aber eigenen Gesetzen folgende Entfaltung einer territorialen und überterritorialen Marktwirtschaft, , ,die Entfaltung kapitalistischer Märkte für Waren und Boden, Geld und Arbeit", die Leistungen der Stände entwertet, die Ausbildung unständischer Schichten mit ständisch unabhängigen, individuellen Qualifikationen und Wertorientierungen begünstigt, eine von der ständischen Lage unabhängige Prestigeordnung aufgebaut. Tendenziell ging die Entwicklung dahin, daß sich die Kristallisation der die ständische Lage begründenden Faktoren, Herrschaft, Prestige und Vermögen, löste und das ökonomische Kriterium Grundlage der neuen gesellschaftlichen Schichtung wurde. Die Verteilung knapper Güter und Lebenschancen erfolgte zunehmend über den Marktmechanismus und die Durchsetzungschance auf dem Markt, d. h. die Möglichkeit, Waren auf den Märkten anzubieten, wurde nun bestimmend für die soziale Lage der Familie und des einzelnen in „marktbedingten Klassen" (Weber), der Besitz bzw. Nichtbesitz an marktorientierten Produktionsmitteln teilte die Gesellschaft grundlegend in zwei, in sich weiterhin vielfältig untergliederte Klassen, dießesitzklasse und die nur über ihre Arbeitskraft verfügende Erwerbsklasse. 25

Auch an dieser Verlaufstypologie sind wesentliche Differenzierungen anzubringen. Zum einen erhielt innerhalb der Erwerbsklasse schon in ständischer Zeit die wissenschaftliche Bildung und die höhere Schulbildung insgesamt eine außerordentlich starke statusbegründende Kraft, da sie zum entscheidenden Auswahlkriterium für die Vergabe hoher Positionen in Staat und Gesellschaft wurde. Der Erwerb solcher höheren Bildung ging aber, obwohl zunehmend stärker über Vermögen gesteuert, in Besitzkategorien nicht auf, sondern erforderte eine, allerdings in ihren Grenzen nur schwer bestimmbare individuelle Leistung. Zum anderen blieben, wegen der lange vorherrschenden Gemengelage von ständischer Gesellschaft und Klassengesellschaft, auch im 19. Jahrhundert ältere, z . B . auf religiös-magische Vorstellungen und andere ständische Deutungsmuster gegründete Prestige- und Machtquellen erhalten, die ebenfalls nicht allein aus Besitzkategorien abzuleiten waren. Diese beiden für den Wandel von der feudal-ständischen zur Klassengesellschaft vorwiegend verantwortlichen säkularen Prozesse, Staats- und Marktwirtschaftsbildung, lassen sich in eine Anzahl von wichtigen Teilprozessen auflösen. Als wesentlich für die Entwicklung des Adels im Untersuchungszeitraum sollen die folgenden berücksichtigt werden:

b) Die Verbreiterung der zwischenständischen, staatsunmittelbaren Schichten: Staatsbürger und diskutierende Öffentlichkeit Im kameralistisch-merkantilistischen Programm der Staats-, Nation-, Volkswirtschafts- und Marktwirtschaftsbildung verbanden sich in Deutschland dynastisch-fiskalische Interessen der Reichsfürsten mit Sozialinteressen der Berufsbeamten und Universitätsgelehrten unter den Bedingungen relativer ökonomischer Rückständigkeit gegenüber Frankreich und England und eines intensiven Machtkampfs zwischen den europäischen Staaten. Der Fürstenstaat, der sich über dieses, am neuen weltlichen Ziel der Machtsteigerung ausgerichtete dirigistische Programm von der ständischen Gesellschaft sukzessiv abhob, stützte sich bei der Leitung der von ihm eingeleiteten Prozesse auf ständisch ungebundene Sozialgruppen, vor allem auf Berufsbeamte, Offiziere, von Zunft- und Gildenbindungen freie Wirtschaftsbürger und deren ebenfalls unzünftige Arbeitskräfte in Stadt und Land. In dem Maße, in dem die staatliche Wohlfahrtspolitik erfolgreich war und neue Lebenschancen bereitstellte, mußten sich diese Traditionen abbauenden sozialen Schichten verbreitern."^ Aus den gebildeten und besitzenden Kreisen dieser unständischen Sozialgruppen, in einem bei gegenwärtiger Forschungslage nur schwer bestimmbaren Ausmaße aber auch aus dem Kreis der traditionellen Berufsstände (Lehrer, Geistliche, Handel und Handwerk betreibendes höheres Stadtbürgertum), die ebenfalls an der neuen Innenpolitik, aber auch an der zunehmenden Zahl gut dotierter höherer Beamtenpositionen interessiert waren, rekrutierten sich die Personen, die im Laufe des 18. Jahrhundert eine Vielzahl dem Gespräch dienende Institutionen - geheime Orden, Lesegesellschaften, Salons, Zeitschriften, Theater, Vereine etc. - gründeten oder nutzten, um neue, ihrer realen oder antizipierten unständischen Existenz adäquate Orientierungen und Verhaltensweisen 26

zu gewinnen, das zur Anteilnahme und aktiven Teilnahme an der staatlichen Wohlfahrtspolitik erforderliche Wissen zu erwerben und in „arbeitender", diskutierender Geselligkeit (Rössler) die Politik des Fürsten und seiner Beamten zu verfolgen, zu verstehen, zu kommentieren und zu unterstützen. Ein von ständischen Bindungen und Herrschaftsfunktionen, z. T. auch von lokalen und regionalen Patronageverbänden aufgrund beruflicher Mobilität freigesetztes, aus gleichwertigen und gleichberechtigten einzelnen/'nwÄtleuten bestehendes, politischliterarisch interessiertes ,,Publikum" suchte so über eine von ihm institutionalisierte Öffentlichkeit die Verbindung zwischen Staat und neuen, zahlenmäßig ständig zunehmenden ,,Staatsbürgern" herzustellen.*' Diese Intention negierte die bisherige Tradition der Arkanpolitik des absoluten Monarchen, der sich über die Kabinettspolitik und den dem Adel exklusiv vorbehaltenen Hof zweifach von der nicht-adligen Bevölkerung abgeschlossen hatte. Die traditionelle Vermittlung zwischen monarchisch-absolutistischer Staatsführung und Untertanen erfolgte in der ,,repräsentativen öffendichkeit" der höfischen Festkultur, in der gesellschaftliche Ordnung und politische Entscheidungen in ritualisierter, symbolischer Form als unveränderbare und abgeschlossene dargestellt wurden. Eine aktive Teilnahme der Bevölkerung an politischen Entscheidungen war in dieser Form der öffentUchkeit nicht vorgesehen. In ihren Anfängen artikulierte sich in der diskutierenden Öffentlichkeit der Staatsbürger vorwiegend ein Interesse an Teilnahme, an, .patriotischer" Unterstützung der staatlichen Maßnahmen; eine konkrete politische Mitsprache lag außerhalb des zeitgenössischen Denkhorizonts. Zudem konzentrierten sich die Diskussionen zunächst auf moralisch-pädagogische und literarisch-ästhetische Problembereiche. Der ,,Exklusivitätsanspruch [des absoluten Fürsten und seiner Beamten, H. R.] auf politische Erwägungen und Entscheidungen" schien durch diese Diskussion kaum in Frage gestellt. Die Beamten und der aufgeklärte Monarch wandten sich partiell vom Arkanprinzip ab und nahmen die öffendiche Diskussion zur Kenntnis, beteiligten sich zum Teil sogar daran, und gerieten zunehmend unter den Zwang, Reformen durchzuführen. Die Diskussion gewann aber in dem Maße an politischer Qualität, in dem das Staatsbürgertum auf der Grundlage eines von ihr entwickelten, ständisch unabhängigen Tugend- und Leistungsethos die politischen Entscheidungen des Fürsten und seiner Beamten zunächst indirekt, über moralisch-pädagogische oder literarisch-ästhetische Inhalte, dann aber auch in direkter politischer Argumentation auf der Grundlage von Wertbegriffen wie individuelle Freiheit, rechtliche Gleichheit und individuelles Eigentum kritisierte und damit deren alleinige Kompetenz zu politischer Entscheidung in Zweifel zog. Aus dem Miteinander von staatlicher Politik und diskutierender öffendichkeit wurde seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zunehmend ein Gegeneinander," da Monarch und Beamte bis in den Vormärz hinein eine von den Regierten ausgehende Kontrolle und Mitsprache ablehnten. Die einst staatliche Entscheidungen mit übergroßem Vertrauen in den gerechten Herrscher und seine Beamten legitimierende Instanz stellte politische Entscheidungen zunehmend stärker unter Legitimationszwang und machte ihr Vertrauen zur Regierung von der Qualität der Rechtfertigung vor einer nun zur Vertreterin der allgemeinen gesellschaftlichen Interessen erhobenen politisch interessierten Öffentlichkeit abhängig. In dem Maße, in 27

dem solche Rechtfertigungen unbefriedigend bzw. ganz ausblieben, verstärkten sich die Forderungen nach Sicherung von Kontrolle und Mitsprache der Regierten durch eine parlamentarische Vertretung und Verpflichtung der Regierenden auf eine Verfassung.

c) Bürokratisierung

staatlicher

Herrschaft

Die Durchsetzung und Stabilisierung staatUcher Zentralgewalt, die Lenkung des Wirtschaftswachstumsprozesses und die Vereinheitlichung des Staatsgebiets erforderten eine Effektivierung der staatlichen Verwaltung, die - bei stets engen finanziellen Möglichkeiten - zum einen durch Bürokratisierung, d. h. durch sachlich funktionale Differenzierung des Behördensystems, zum anderen durch Prof essionalisierung, d.h. durch Ausbildung einer wissenschaftlich qualifizierten, disziplinierten, leistungsbereiten, pflichtbewußtenfdcA^eiiwtew5cAii/f mit einer an die sachlich-rational definierten Ziele des Staates gebundenen Berufsmoral geleistet wurde. Kameralwissenschaft und Rechtswissenschaft lieferten das berufsbezogene Leistungswissen, ein spezielles Beamtenrecht regelte Anstellung und Beförderung, bestimmte die Maßstäbe für berufliche Leistung, normierte das sachgemäße Verhalten des Beamten in seinem Dienstbereich, sicherte ihn aber auch vor der Willkür des Herrschers und dem Druck regionaler und lokaler Patronageverbände durch Prinzipien wie Lebenslänglichkeit der Anstellung, Pensionsberechtigung etc. Das Verwaltungshandeln wurde kalkulierbar und trug damit ebenso zur Orientierung der Verwalteten, vor allem der wirtschaftlich Tätigen bei, wie die Rechtsvereinheitlichung und die Ausdifferenzierung des Justizwesens aus dem Verwaltungsbereich. Eine preußische Besonderheit, die sich aus der engen Verschränkung von militärpolitischen und ökonomischen Zielen des Staates und einer ebenso engen Verschränkung von Militär- und Zivilverwaltung ergab, war die starke Prägung des Beamtenverhaltens durch militärische Disziplin- und Distanzierungsvorstellungen, die zu einer starken Militarisierung des Alltagslebens in Preußen führten." Der Verwaltungsausbau nach sachlich-wissenschaftlichen Prinzipien Heß den Staatszweck, dem dieser Ausbau diente, immer stärker in den Vordergrund treten, und zwar mit zwei grundlegenden Folgen. Das differenzierte, stark arbeitsteilige Verwaltungshandeln war von einer Person nicht mehr voll zu übersehen, zu kontrollieren und zu lenken. Die Staatsbürokratie verselbständigte sich gegenüber dem absoluten Herrscher. Die traditionale persönliche Herrschaft, das Kondominium von Monarch und Ständen, wurde vom sachlichen Staatszweck und der darauf bezogenen Bürokratie gleichsam überlagert. Ebenfalls unter den obersten Staatszweck und dessen Gesetze und Regeln gestellt, erschien der Fürst als dessen oberster Funktionär, verlor viel von der Aura des persönlichen Herrschertums und war damit der Kritik leichter zugänglich.^" Für den Beamten bedeutete diese Entwicklung eine erhebUche Aufwertung seines sozialen Prestiges. Er trat mit seiner bürokratischen Fachleistung in eine Herrschaftskonkurrenz mit den Inhabern ständischer Herrschaft, insbesondere mit dem auf traditional begründeter Autorität ruhenden Anspruch des Adels28

stands auf Ämter in Zentrale und Region sowie auf autonome Verwaltung und Gerichtsbarkeit auf der Ebene der Grund- bzw. Gutsherrschaft. Die konkrete Ausgestaltung dieses Spannungsverhältnisses zwischen Monarchie, bürokratischer Beamtenelite und ständischem Adel und des Kompromisses, in dem sich dieses Spannungsverhältnis kristallisierte, war für den Grad, bis zu dem die ständische Gesellschaft im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert aufgelöst wurde, von entscheidender Bedeutung.

d) Die zunehmende

Spannung zwischen Staat und Gesellschaft in Preußen im Vormärz^^

Während in Preußen Bürokratie und Monarch im Allgemeinen Landrecht noch einmal ältere Stände- und neue Staatsbürgergesellschaft in einem Kompromiß zu versöhnen suchten, haben die Beamten seit 1806, befreit von der persönlichen Herrschaft des absoluten Monarchen und unter dem Eindruck einer katastrophalen Staats- und Finanzkrise, ein durch die Diskussionen der ö f f endichkeit vorbereitetes ökonomisches und soziales Reformprogramm zu realisieren begonnen. Diese Modernisierungsmaßnahmen, die im Bereich der Wirtschaft, der Verwaltung und des Heeres ansetzten und dort auch erfolgreich der Staatsbürgergesellschaft den Weg bahnten, stagnierten, schlugen zum Teil sogar in ihr Gegenteil um, als die sozialen Folgen der Reform - eine unerwartet schnelle Konsolidierung des in seiner Gutsherrschaft keineswegs durchgreifend entmachteten ostelbischen Adels, gesteigerter Andrang akademisch gebildeter Bewerber auf die Beamtenpositionen, ein selbstbewußtes, politische Mitsprache forderndes Wirtschaftsbürgertum und die zunehmende Not der anwachsenden ländlichen und städtischen Unterschichten - die Herrschaftsposition des Beamtentums und die bürokratisch-absolutistische Monarchie insgesamt in Frage stellten. Die nach Interessen sich neu strukturierende Staatsbürgergesellschaft, durch die Verfassungsversprechen seit 1810 in Erwartung neuer, wenn auch schwieriger gewordener Vermittlungsformen zwischen Staat und Gesellschaft, sah sich in ihren Hoffnungen auf ungehinderte Meinungsbildung und Partizipation an zukünftigen politischen Entscheidungen durch gesetzlich garantierte Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit und ständische Repräsentation zunehmend enttäuscht. Gegen die in politischen Alternativen diskutierende öffendichkeit wurden Zensur sowie polizeiliche und gerichtliche Verfolgung gesetzt und auch die 1823/24 erlassenen provinzialständischen Verfassungen trugen den ,.Stempel der Angst",^^ schränkten die zur Partizipation berechtigten sozialen Schichten äußerst stark ein, ließen, aus Furcht vor weiterer Politisierung der Bevölkerung, nur weitgehend unverbindliche, nichtöffentliche Beratungen zu, behinderten die Arbeit der Provinzialstände durch eine restriktive Informationspolitik, verhinderten reformorientierte Beschlüsse durch ein faktisches Vetorecht für den Adel und die Möglichkeit einer Beratung ,,in partibus". Bestrebungen zur Ausweitung der Partizipation auf weitere bürgerliche Schichten wurden ebenso abgewehrt, wie die Einführung von Ständen auf gesamtstaatlicher Ebene.^^ Die Ministerialbürokratie behielt, von den Provinzialständen nahezu unbeschränkt und unkontrolliert, 29

weiterhin Legislative und Exekutive in ihren Händen; doch gewann in ihr die ostelbische, adlig-bürgerliche Rittergutsbesitzeridasse - gestützt auf ihre Angehörigen bei Hofe und auf Mitglieder des Königshauses, v. a. den Kronprinzen - zunehmend an Einfluß. Der ostelbische Adel gab seine Verfassungspläne und seine antibürokratische Haltung auf und verband sich mit Monarchie und Bürokratie, in der sich zunehmend stärker staatlich-autoritäre und restaurative Orientierungen durchsetzten, im Kampf gegen Liberalismus und demokratische Bewegung.^ Selbst in der Wirtschaftspolitik ging die Beamtenschaft in Berlin von ihrem einstigen liberalen Konzept in dem Maße ab, in dem das Wirtschaftsbürgertum eigene Gesetzesinitiativen entwickelte. Gegenüber der zunehmenden sozialen Not der. ländlichen und städtischen Unterschichten verhielt sie sich weitgehend passiv. Die konkreter werdenden Interessengegensätze führten zur Herausbildung erster Interessengruppen, die, um allgemeingültige Rechtfertigung ihrer Sonderziele und die Loyalität der Massen bemüht, den Prozeß der Ideologieproduktion in Gang setzten, der sich in dem Maße beschleunigte, in dem sich der Kampf auf ideologischer Ebene - von den Zensurmaßnahmen nur wenig beeinflußt - intensivierte.^^ Die allgemeine Erfahrung einer durch staatliche Reformgesetze bewirkten Dynamisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse, die scharfen ideologischen Auseinandersetzungen über alternative Konzepte gesellschafdicher Ordnung und eine anhaltend intensive Gesetzgebungsaktivität in der Folge der Reformgesetze bewirkten eine zunehmende Politisierung der verschiedenen Bevölkerungsschichten und eine Radikalisierung der öffentlichen Kritik an Bürokratie und Staat, eine fortschreitend sich steigernde Spannung zwischen Monarchie, Beamtenschaft und feudal-konservativem, großgrundbesitzenden Adel auf der einen, der liberalen und demokratischen politischen öffendichkeit auf der anderen Seite. Die verhinderte Neuvermittlung zwischen Staat und Gesellschaft war der Hauptgrund der Revolution von 1848. Nach 184 8, mit dem Erlaß einer Verfassung und der Einrichtung des preußischen Abgeordnetenhauses, war diese Vermitdung unter reaktionärem Vorzeichen institutionell gesichert. Die Schaffung von Massenloyalitäten wurde nun, trotz des restriktiven Dreiklassenwahlrechts, für die feudalkonservativen Adelseliten zunehmend mehr zu einer Überlebensfrage.

e) Auflösung des ,Ganzen Hauses' und Ausdifferenzierung der von emotionalen Personbeziehungen geprägten, privatisierten Kernfamilie Langfrisüg wirkende Wandlungsprozesse wie Verstaatlichung aller legitimen physischen Gewaltausübung, innere Staatsbildung, Bürokratisierung, Volks- und Marktwirtschaftsbildung, Säkularisation der Staatsziele und der auf den einzelnen bezogenen Glücksvorstellungen blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Organisation des Hauses als eines Familie, Arbeitskräfte und Schutzbedürftige umfassenden Sozialisations-, Produktions-, Konsumtions- und Herrschaftsverbands. Das Haus trat den größten Teil seiner Funkdonen sukzessiv ab an sich ausdifferenzierende gesellschaftliche Teilbereiche, z. B . den vom Haushalt getrennten Betrieb, den Markt, die staadi30

che Bürokratie oder die Schule.^' Der Haus- und Familienvater verlor damit wesentliche Grundlagen seiner Autorität. An die Stelle der Funktionsvielfalt des Hauses trat nach dieser teils freiwilligen, teils erzwungenen Entlastung die funktionale Spezialisierung der Familie auf die intensivierte Bemühung um Kinderaufzucht und Kindererziehung in der Zeit vor dem Schulbesuch und auf die emotionalen Bedürfnisse der Familienmitglieder. Durch die Funktionsentlastung des Hauses, insbesondere die Endastung von Herrschafts- und Produktionsfunktionen, entstand ein privater, relativ arbeitsfreier Lebensraum, der den verbliebenen Aufgaben gemäß durch neue Zugehörigkeitsdefinitionen, Rollen- und Interaktionsmuster bestimmt wurde.^^ In der Tendenz ging die Entwicklung dahin, daß die Kernfamilie, d. h. Eltern mit ihren Kindern, sich von der weiteren Verwandtschaft und den nicht-blutsverwandten Angehörigen des Hauses (Gesinde, Hauspersonal etc.) distanzierte, sich den Kontrollen und Erwartungen ihrer Umgebung tendenziell entzog, zugleich aber die Ehe- bzw. Eltern-Kind-Beziehungen erheblich intensivierte, vor allem emotionalisierte. Auf dem Gedanken der Gleichwertigkeit, nicht Gleichartigkeit, aller Familienmitglieder beruhende Vorstellungen führten die vorwiegend bürgerlichen Propagandisten dieses Familienmodells zu der Forderung, das gleiche Erbrecht für alle Kinder und die eheliche Gütergemeinschaft als allgemeingültige Prinzipien des Familienrechts durchzusetzen, was im französischen Code Civil zum erstenmal geschah. Da die privatisierte Kernfamilie in der Folge weitgehend vor staatlichen Eingriffen geschützt wurde, war ihr eine relativ au-' tonome Reaktion auf Wandlungsvorgänge in ihrer Umwelt möglich. O b und inwieweit der stark an überpersönlichen Verbänden und Vorstellungen orientierte Adel dieses Familienmodell übernahm, ist zu untersuchen.

f) Kommerzialisierung

der Landwirtschaft

Mit Kommerzialisierung der Landwirtschaft^® wird ein zu Beginn des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts einsetzender Prozeß bezeichnet, der sich im wesentlichen auf die Steigerung der Absatzmöglichkeiten von Agrarprodukten infolge des Bevölkerungswachstums, der gesteigerten gewerblichen und industriellen Aktivitäten und der Öffnung des englischen Getreidemarkts zurückführen läßt. Die neuen Einkommenschancen der Landwirtschaft provozierten ein verstärktes Interesse vor allem der großen landwirtschaftlichen Produzenten an einer Verbesserung des Bodenertrags durch neue Bewirtschaftungsweisen und einer Steigerung des Profits durch effektivere Betriebsorganisation und enge Orientierung des Wirtschaftsverhaltens an den Mechanismen des Marktes. Neben der aus fiskalischen und legitimatorischen Interessen an ökonomischem Wachstum orientierten Verwaltungsbürokratie war vor allem ein kapitalkräftiges Bürgertum, das durch Kauf oder Pacht großen Grundbesitz erwarb, Träger dieses Prozesses; doch schlossen sich zunehmend auch adlige Großgrundbesitzer dieser Tendenz an. Die herrschaftlich eingebundene Wirtschaftsverfassung der Grund- und Gutsherrschaft erwies sich dabei immer stärker als Fessel des marktorientierten Profitsteigerungsmotivs. Wurde die Trennung von Haus und Wirtschaftsbe31

trieb noch von den adligen Grundbesitzern in Eigeninitiative allgemein durchgesetzt, so bestanden - von Ausnahmen abgesehen - selbst im stark marktorientierten ostelbischen Adel erhebliche Widerstände gegen eine Aufhebung der herrschaftlichen Beziehungen zu den Bauern. Nach 1806 wurde der Boden und der wirtschaftende einzelne durch die von Beamten eingeleitete Reformgesetzgebung von feudal-ständischen Bindungen befreit, so daß ein freier, vom Konkurrenzprinzip bestimmter Güter- und Arbeitsmarkt entstand. Adel und Bauern, einst durch Herrschaftsbeziehungen eng aufeinander bezogen, waren nun freie Eigentümer eines vorwiegend in der Größe noch unterschiedlichen Grundbesitzes. Aber auch die alten genossenschaftlichen Anrechts- und Schutzverbände der Dorfgemeinde mit ihren vielfältigen, diffusen sozialen Funktionen wurden durch Teilung der Gemeinheiten und Aufhebung der Servituten aufgelöst zugunsten der Herstellung individuellen Eigentums und der Orientierung des Landbesitzers allein an ökonomischen Zielen. Der grundbesitzende Adel wandelte sich, vom Staat durch das Prinzip der Entschädigung für verlorengegangene Obereigentumsrechte wirkungsvoll unterstützt, je nach Art seines Grundbesitzes (Streulage vs. zusammenhängender Großgrundbesitz) und Modus der Entschädigung (Land- vs. Geldablösung) zum mit freien Landarbeitern wirtschaftenden landwirtschaftlichen Unternehmer oder zum Großverpächter.

g) Von anwachsender

vonndustñeller Armut zur sozialen Frage des 19. Jahrhunderts

Für die ständische Gesellschaft war die Knappheit der zum Überleben notwendigen Ressourcen ein strukturelles Problem, das man durch herrschaftliche Verteilung der knappen Güter und korporative Selbstkontrolle der Zahl der Konsumenten zu lösen versuchte. Die herrschaftlichen und genossenschaftlichen Verbände - Grundherrschaften, Gemeinden, Zünfte, Häuser etc. - waren Sicherungsverbände gegen Armut auf der Grundlage der Gegenseitigkeit oder Fürsorge, zugleich aber Kontrollverbände zur Beschränkung der Konsumenten des zu regulierenden Kreises gemäß einer auf Erfahrungsdaten beruhenden Vorstellung vom verfügbaren Nahrungsspielraum. Das Prinzip der sicheren Nahrung gemäß der vorgegebenen Wirtschafts- und Arbeitsverfassung war Grundlage eines großen Teils der das Alltagsleben regelnden Verhaltensnormen, z.B. für Ansiedlungs- und Heiratserlaubnis oder die Diskriminierung unehelicher Kinder. Diese Kontrollkreise, die keineswegs Statik erzeugten, sondern eine begrenzte Dynamik durchaus zuließen, haben den ursprünglich regelmäßigen Wechsel von Hungerkrisen und Zeiten beschleunigten Bevölkerungswachstums aufgehoben, zumindest aber zum Ausnahmefall gemacht.^' Doch ist schon in vorindustrieller Zeit innerhalb, vor allem aber außerhalb dieser kontrollierenden ständischen Kreise die Zahl der in Armut und an der Grenze der Armut lebenden unterständischen Schichten erheblich angestiegen. Die konkreten Ursachen hierzu sind vielfältig und noch nicht hinreichend erforscht. Doch lassen sich zwei grundlegende Prozesse identifizieren. Zum einen wurde bei zunehmend sich erweiternden nicht-agrarischen Einkommensmöglichkeiten - wegen der fortschreiten32

den regionalen Arbeitsteilung, der Verflechtung ländlicher Heimindustrie in den Weltmarkt, der merkantilistischen Wirtschaftsförderung und Peuplierungspolitik etc. - das alte Nahrungsprinzip der regulierenden Kreise, d. h. das Verhältnis zwischen gegebenen Überlebensressourcen und der damit ernährbaren Bevölkerung, komplexer und flexibler interpretierbar. Auf dem Lande wuchs die Zahl kleiner ländlich-heimgewerblicher und handwerklicher Produktionseinheiten und in der Stadt stieg die Zahl der außerhäuslichen Lohnarbeiter gleichmäßig an. Zum anderen hat die Verstaatlichung aller Herrschaft die Macht der ständischen Verbände sukzessiv geschwächt, ohne daß deren Kontroll- und Integrationsleistungen vom bürokratischabsolutistischen Staat voll übernommen wurden. Beide Prozesse wirkten dahin, daß sich die in der ständischen Gesellschaft mit ihrer zumeist großen Zahl zölibatärer Existenzen angelegte Tendenz zur Wahrung jeder Selbständigkeitschance, d. h., unter den Bedingungen vorherrschender Familienwirtschaft, zur Heirat und Haushaltsgründung, stärker als zuvor durchsetzte. Die Folge war ein Bevölkerungsanstieg auf dem Lande und eine Verbreiterung der ländlichen und städtischen Unterschicht, da Kriege, zyklische Mißernten, Konjunkturkrisen und ein langanhaltender Reallohnfall in den Städten die Zahl der an der Grenze der Armut lebenden ständig vergrößerte.^® Nach dem Siebenjährigen Krieg, mit Öffnung des englischen Getreidemarktes und dem deutlichen Anstieg der Agrarpreise, hat sich das Bevölkerungswachstum erheblich intensiviert,^' und mit der Aufhebung der älteren Kontroll- und Sicherungsverbände zugunsten der Freisetzung einer marktorientierten, staatsfreien, liberalen Eigentümer- und Erwerbsgesellschaft durch die Gesetzgebung der Reformzeit, verloren viele Angehörige der ländlichen Unterschicht diejenigen geringen, rechtlich nicht abgesicherten, weil von den älteren koφorativen Verbänden freiwillig gewährten Anrechte und Sicherungen, die sie bisher vor einem Absinken unter die Armutsgrenze bewahrt hatten. Die tiefgreifenden negativen Folgen der Agrarreform für die ländliche Unterschicht, verstärkt durch die Agrarkrise der zwanziger Jahre, und eine durch den ganzen Vormärz hin anhaltende Strukturkrise des ländlich-textilindustriellen Heimgewerbes waren verantwortlich für ein Anwachsen der Armut, das zum drängendsten Problem des Vormärz wurde, da der preußische Staat sich - trotz der intensiven öffentlichen Diskussion über mögliche negative politische Konsequenzen der Übervölkerung und einer zunehmenden Protestbereitschaft dieser Unterschichten auf seinen wirtschaftsliberalen Standpunkt zurückzog und umfassende sozialpolitische Maßnahmen ablehnte. Die aus ständischer Zeit überkommenen Institutionen der gemeindlichen, kirchlichen und privaten Armenfürsorge standen - selbst durch die Gesetzgebung der Umbruchs- und Reformzeit erheblich geschwächt - dieser neuen Qualität von Armut hilflos gegenüber.®^ Erst die Industrialisierung, für Westfalen insbesondere die Umstellung der Textilindustrie auf maschinelle Produktion in Fabriken seit Anfang der fünfziger Jahre und die seit den fünfziger Jahren ebenfalls deutlich expandierende großbetriebliche Produktion und Verarbeitung von Kohle und Eisen im Ruhrgebiet, beseitigte - trotz weiterhin wachsender Bevölkerung - langfristig die Armut der Unterschichten auf dem Lande, schuf aber zugleich mit dem Fabrikarbeiterproblem in den schnellwachsenden Industriestädten eine neue Konfliktzone.^^ 33 3

Reif, Adel

IL Der katholische westfälische Adel in der ständischen Gesellschaft Die Ausgangslage 1770 und deren historische Bedingungen A. Der Adel als Stand 1. Die adligen „ V o r d e r s t ä n d e " in der landständischen Verfassung: Domkapitel und Ritterschaft Die Landstände des Fürstbistums Münster wurden vom Domkapitel, der Ritterschaft und dreizehn landtagsfähigen Städten gebildet. Da sich das Domkapitel zur Mehrheit aus nachgeborenen Söhnen der Familien zusammensetzte, die im Fürstbistum Münster oder in den umliegenden geisdichen Staaten Westfalens die Ritterschaften bildeten, war eine enge Interessenidenutät zwischen erstem und zweitem Stand gegeben, die in der gemeinsamen zeitgenössischen Bezeichnung der adligen Vorderstände auch ihren adäquaten Ausdruck fand. Während das Domkapitel, dessen Anfänge sich bis ins frühe Mittelalter zurückverfolgen lassen, schon lange vor Einrichtung einer ständischen Verfassung im Fürstbistum als Berater des Bischofs existierte, hat sich die Ritterschaft erst im 14. Jahrhundert konstituiert. Die landständische Verfassung hat sich im 16. Jahrhundert, als auch das Bistum Münster sich vom Personenverbands- zum Territorialstaat umformte, ausgebildet. Ausgangspunkt für die Konstituierung der Ritterschaft als Landstand war wahrscheinlich der adlige Teil des Lehnsaufgebotes, welches in bestimmten zeitlichen Abständen in einen „Registrum militarium" namentlich erfaßt wurde.* In diesem Register erschienen neben den Kriegsdienst leistenden Bauern und Stadtbürgern alle Ritter, die auf der Basis von grundherrschaftlich organisiertem Lehnsbesitz und Allod sowie eines daraus fließenden arbeitsfreien Einkommens zur Leistung von Kriegsdienst und zur Übernahme von lokaler Herrengewalt fähig und verpflichtet waren. Aus der Gruppe der zur Lehnsfolge verpflichteten Ritter haben sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts die landsässigen Ritter als Ritterschaft und Landstand herausgelöst, wobei als Ursache neben dem steigenden Geldbedürfnis des einen Territorialstaat auf- und ausbauenden Landesherrn auch das Bedürfnis der Ritter, sich von dem wirtschaftlich zunehmend mächtiger werdenden, Grundbesitz erwerbenden Stadtbürgertum zu distanzieren, eine wichtige Rolle gespielt hat. Durch Aufzeichnung der im Lande gelegenen Adelssitze wurden diese zu landtagsfähigen Rittergütern, welche zum Erscheinen auf dem Landtag berechtigten.^ Als zweites Element der Standschaft wurde wohl schon damals, spätestens aber zu Beginn des 17. Jahrhunderts, der Nachweis adliger Abstammung zur Pflicht. Dieses 34

zusätzliche Kriterium einer Ahnenprobe war nicht in allen Territorien Voraussetzung zum Eintritt in die Ritterschaft; es verweist auf eine Eigenart des katholischen Adels der geistlichen Wahlstaaten und derjenigen Adelsgruppen, die an den vor allem kirchlichen Ämtern und Pfründen solcher Staaten interessiert waren. Die Entwicklung der Ahnenprobe ging von den Domkapiteln aus und verlief in allen sechzehn geistlichen Staaten des Reiches in gleicher Richtung. Im 14. Jahrhundert hatte das münstersche Domkapitel das reiche Stadtpatriziat und kurz darauf auch die Doktoren der Rechte aus dem Kreis der Anwärter auf eine Domherrnstelle ausgeschlossen. Mit den Nobilitierten trat bald eine weitere konkurrierende Gruppe auf. In der Folge wurde die Ahnenprobe sukzessiv von 4 auf 16 adlige Ahnen in der obersten Ahnenreihe gesteigert, mit dem Ziel, die Zahl der Bewerber für die 40 - mit der Stiftung der von Galenschen Familienpräbende im Jahre 1662 wurden es 41 - Domherrnpräbenden zu reduzieren und zu kontrollieren.® Dieses Verfahren zur Sicherung zahlenmäßig genau begrenzter Einkommens- und Machtchancen innerhalb einer eng begrenzten Gruppe, die fortschreitende Abschließung der Berechtigten durch Verschärfung der Ahnenprobe, hat vom Domkapitel über die Stiftskapitel, adligen Klöster und Damenstifter schließlich auch auf die Ritterschaft als Basis dieses Amter- und Pfründensicherungssystems übergegriffen; genauer gesagt: Die Entscheidung über die Berechtigung, sich um eine der monopolisierten Positionen mit Aussicht auf Erfolg bewerben zu dürfen, verlagerte sich von den einzelnen geistlichen Institutionen auf die Ritterschaft. Die Aufnahme in die Ritterschaft wurde damit die entscheidende Hürde vor dem Zugang zu allen vom stiftsfähigen Adel monopolisierten Präbenden.'* Da die Entwicklung in den anderen geistlichen Territorien des Reiches, von gewissen zeitlichen Verschiebungen abgesehen, parallel verlief, war die Erweiterung dieses Systems auf andere geistliche Staaten die konsequente Fortsetzung der einmal eingeschlagenen Ämtersicherungspolitik, sofern zwei Ritterschaften jeweils ein annähernd gleichgroßes Kontingent monopolisierter Ämter- und Pfründenchancen in den Austausch einbringen konnten. Dort, wo dieses der Fall war, erkannten Kapitel, Damenstifter und Ritterschaften des einen Landes die vor den gleichen Institutionen des Partnerlandes abgelegten Ahnenproben auch für sich an. Da diese Gleichheit in vielen Fällen aber nicht gegeben war, zudem die Reichsritterschaft nach 1648 - um über die Fürstbischofssitze Einfluß auf Reichstag und Reichspolitik zu gewinnen - die rheinischen und fränkisch-hessischen Domkapitel für sich zu monopolisieren begann, kam es durch weitere Verschärfungen der Ahnenprobe und Einführung zusätzlicher Selektionskriterien bald auch zu einem umgekehrten Prozeß, nämlich dem der gegenseitigen Ausschließung zwischen verschiedenen Anrechtsverbänden. Folge dieser Entwicklung war, daß im Abwehrkampf zwischen monopolisierenden Ritterschaften ein landsässiger Adel, z . B . in Westfalen, Bewerber aus ständisch höher einzuordnenden Adelsschichten wegen Unvollkommenheit ihrer Ahnenkette abweisen konnte; denn der zu Stiftsämtem berechtigte Adel wies, was seine adlige Geburt anbetraf, bald eine größere Reinheit der Abkunft auf als mancher Reichsritter und Reichsfürst.' Gegen die Einführung und Steigerung der Ahnenprobe, gegen die fortschreitende Tendenz von Domkapitel und Ritterschaft zur Exklusivität, hat eine Gruppe der Ausgeschlossenen, das Patriziat der Stadt Münster, Erbmänner genannt, energisch 35

protestiert und prozessiert. In der Mitte des 16. Jahrhunderts, als sich die Ritterschaft gerade zum Landstand umformte, erlangte der Erbmann v. Schenking vom Papst eine Domherrnpräbende, wurde aber wegen fehlender Reinheit der eingereichten Wappen vom Domkapitel abgewiesen. DerProzeß, den v. Schenking daraufhin anstrengte, in dem sich die Erbmänner bald insgesamt mit ihrem Standesgenossen solidarisierten, verlagerte sich schon am Ende des 16. Jahrhunderts vom Domkapitel auf die Ritterschaft als eigentlichen Prozeßgegner; denn den Erbmännern, die alle umfassenden Rittergutsbesitz aufweisen konnten, wurde zugleich auch die Zugehörigkeit zur Ritterschaft, zum zweiten Stand, bestritten. Während des Dreißigjährigen Krieges ruhte der Konflikt, lebte aber bald nach Kriegsende wieder auf.® Unter den Landesherren aus landsässigem westfälischen Adel, welche das Domkapitel zwischen 1650 und 1706 wählte, wurden die Zulassungsbedingungen für die Ritterschaft noch einmal erhebUch verschärft, indem die Ahnenprobe auf 16 Ahnen erhöht und damit endgültig mit der Ahnenprobe des Domkapitels synchronisiert wurde. Gründe hierzu waren neben dem Erbmännerstreit die nach 1648 zunehmende Zahl von Nobilitierungen durch den Kaiser und die Tatsache, daß während der Kriegswirren eine ganze Zahl von landfremden Adligen Rittergüter erworben hatten, die Standschaft erstrebten und damit potentiell auch den Druck auf die monopolisierten Ämter und Pfründen verstärkten.^ Ein wichtiges politisches Ziel der Fürstbischöfe aus landsässigem Adel seit Christoph Bernhard v. Galen war es, Domkapitel und Ritterschaft vor Überfremdung zu schützen bzw. die schon erfolgte Überfremdung zurückzudrängen. Schon vor der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich die Ahnenprobe mit sechzehn Ahnen als Norm durchgesetzt und die Ritterschaft ließ sich auch in einer Vereinbarung mit dem Landesherrn die Rechtmäßigkeit dieses Kriteriums bestätigen; doch volle Rechtsgültigkeit besaß ein solches Ausschlußkriterium erst, wenn es der Kaiser bestätigte; denn die Sechzehn-Ahnen-Bestimmung ging über das herkömmliche Reichsrecht in Fragen der Standschaft hinaus. Es lag aber um 1700 nur ein kaiserliches Privileg für die Acht-Ahnen-Probe vor.® Deshalb - die Aussicht, eine kaiserliche Bestätigung für sechzehn Ahnen zu erlangen, war wohl nicht besonders günstig - wurde die Zulassung zur Ritterschaft auf anderen Wegen zusätzlich erschwert. Zum einen hat man 1697 und in den folgenden Jahren eine im Laufe des 18. Jahrhunderts nur noch wenig veränderte neue Matrikel aller anerkannt zum Landtag berechtigenden Rittergüter aufgestellt; eine große Zahl von Gütern wurde als in ihrer Rittergutsqualität umstritten ausgeschieden. Zum anderen wurde die Ahnenprobe formal weiterentwickelt, insofern nicht mehr nur zwei Probanden aus dem Ritterstand die eingereichten Wappentafeln beschworen, sondern der ganze Ritterstand und sogar die Öffentlichkeit an der Prüfung der eingereichten Wappen beteiligt wurde.' Die Zahl der Beanstandungen eingereichter Ahnentafeln stieg in der Folge entsprechend an. Die durch Ahnenproben als stiftsfähig anerkannten Geschlechter wurden nun samt ihrer Ahnentafel in ein fortlaufend ergänztes Ritterbuch eingetragen. Zwar konnte nicht verhindert werden, daß die, allerdings in der Zahl schon durch Aussterben extrem reduzierten Erbmännerfamilien, die 1685 ihren Prozeß vor dem Reichskammergericht nach mehr als hundertjähriger Dauer erfolgreich beendeten, seit 1717 in die Ritterschaft, seit 1729 auch in das Domkapitel eindrangen; doch alle 36

anderen Ansprüche hat das um 1700 noch einmal verschärfte Selektionssystem während des 18. Jahrhunderts erfolgreich abgeschreckt bzw. abgewehrt. Die Stände des Fürstbistums Münster hatten gegenüber dem Fürstbischof, der vom Domkapitel gewählt und durch Wahlkapitulationen auf Erhaltung der ständischen Verfassung verpflichtet wurde, eine starke Position. Die Tendenz zum fürstlichen Absolutismus konnte sich im geistlichen Wahlstaat nur in geringem Maße durchsetzen. Selbstbewußt und mit unüberhörbarem Stolz auf die einst mächtigen münsterschen Stände äußerte sich rückblickend Friedrich Anton v. Korff, nunmehr preußischer Regierungsrat, in einem Bericht aus dem Jahre 1817: Diese Stände waren nicht etwa als Ratgeber des Fürsten, deren Gutachten nach Belieben befolgt oder beseitigt werden konnte, bloße Schattenbilder von Volksvertretern ; sie übten das verfassungsmäßige, im innersten Wesen deutscher Volkstümlichkeit begründete Recht aus, die Erhebung der Steuern zu bewilligen, und die Verwendung derselben zu kontrollieren. Die Landes-Kasse stand unter ihrer und des Fürsten Mitaufsicht. Auch an der Gesetzgebung nahmen sie wesentlichen Anteil."

Die Partizipation an diesen landständischen Rechten war aber auf einen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung äußerst kleinen Kreis von Personen begrenzt; denn die Bauern, neun Zehntel der damaligen Bevölkerung, hatten, wie in den meisten ständischen Verfassungen des Reichs, so auch in Münster, keine ständische Vertretung; zum einen deshalb, weil Adel und Kirche nahezu ausschließlich das Obereigentum über den bäuerlichen Besitz besaßen, der Bauer, der grundherrschaftlichen Nutzung des Bodens gemäß, aus adliger Sicht nur Erbnutznießer, nicht Grundeigentümer war, zum anderen, weil die bäuerlichen Schichten insgesamt als unmündig, als unfähig zur Teilnahme an der Herrschaft angesehen wurden. ^^ Auch der niedere Klerus, der clerus secundarius, besaß keinen direkten Anteil an der ständischen Mitherrschaft, sondern wurde vom hohen Klerus, dem Domkapitel, vertreten. Der durch die Ahnenprobe und/oder die Bedingung des Besitzes eines landtagsfähigen Rittergutes aus der Ritterschaft ausgeschlossene Adel - in der Zahl der Familien kamen um 1770 nichtstiftsfähiger alter Adel und Nobilitierte dem stiftsfähigen Adel etwa gleich - fand direkte ständische Vertretung nur, wenn er vollberechtigter grundbesitzender Stadtbürger einer zum Landtag berechtigten Stadt war. Beamte, Offiziere und andere Eximierte galten als unmittelbar auf die Person des Fürstbischofs bezogen und partizipierten infolgedessen nicht an landständischen Rechten. Der stiftsfähige Adel besaß in der ständischen Verfassung ein deutliches Ubergewicht gegenüber der Vertretung der Stadtbürger. Dieses Übergewicht konnte sich aber nicht zur völligen Dominanz der adligen Vorderstände weiterentwickeln, weil in Kurien verhandelt und abgestimmt wurde, weil den überstimmten Stadtbürgern der Appell an Kaiser und Reichsgericht als Bewahrern hergebrachter Rechte offenstand und weil der Fürstbischof in der Praxis nur solche Beschlüsse des unter Ausschluß der Öffentlichkeit tagenden Landtags berücksichtigte, die mit Zustimmung aller drei Stände gefaßt worden waren, so daß ein gewisser Einigungszwang bestand." Innerhalb der Stände war das Domkapitel der entscheidende Träger ständischer Herrschaft. Diese Stellung beruhte einerseits auf seiner ständigen Präsenz in Münster, wo jeweils zu Beginn des Jahres die Landstände für zumeist zwei bis drei Monate zu37

sammentraten. Das Domkapitel erhielt schon vor Beginn der Sitzungen die landesherrlichen Propositionen, bereitete mit dem Geheimen Rat die Landtage vor, lud zu den Landtagen ein und besaß insgesamt in der Regel einen erheblichen Informationsvorsprung vor seinen Mitständen. Noch entscheidender für die Vormachtstellung des Domkapitels war aber andererseits dessen Recht, den Fürstbischof zu wählen, durch Wahlkapitulationen zu binden und während der Dedisvakanz anstelle des Landesherrn zu regieren. Über die Wahlkapitulationen haben die Somkapitel der geistlichen Staaten nicht nur die ständische Verfassung zu sichern, sondern auch die Rechte und Privilegien einzelner, zum Teil auch aller Stände sukzessiv auszudehnen gewußt. Bisweilen wurde diese Tendenz zur Ausweitung ständischer Mitherrschaft und zur Beschränkung der Fürstengewalt derart stark, daß Kaiser und Papst als Kontrollinstanzen zugunsten des Fürsten eingreifen m u ß t e n . " Auch geschah es überaus häufig, daß der neue Fürstbischof die ihm besonders lästigen Paragraphen der Wahlkapitulation, einen Prozeß vor den sehr langsam arbeitenden Reichsgerichten riskierend, einfach negierte. Neben dem Zustimmungsrecht hinsichtlich der Jahr für Jahr neu bewilligten, von ihnen in eigener Regie durch die Pfennigkammer als ständischer Kasse verwalteten Steuern sowie der Mitsprache bei der Gesetzgebung in allen ,,wichtigen, das Hochstift betreffenden Landesangelegenheiten",*® die an fürsdichen Propositionen beraten wurden, hatten die Stände auch das Recht, eigene Vorschläge und Beschwerden einzureichen, auf die der Landesherr in Landtagsabschieden eingehen mußte. Eine weitere ständische Kompetenz bestand darin, Zustand und Verwendung der landesherrlichen Einkünfte, die von der landesherrlichen Kasse, der Hofkammer, verwaltet wurden, zu kontrollieren. Vor allem in diesem Recht der AusgabenkontroUe war eine Tendenz zur kontinuierlichen Ausdehnung des ständischen Mitspracherechts angelegt, zumal die Kompetenzen zwischen Landständen und Landesherrn nicht in umfassender Weise genau bestimmt waren. ** In den Wahlkapitulationen wurden aber über die ständischen Grundrechte hinaus, und zwar in verstärktem Maße nach dem absolutistischen Zwischenspiel der Regierung Christoph Bernhards v. Galen, zusätzliche Rechte der Landstände bzw. der adligen Vorderstände fixiert. Unter den Fürstbischöfen aus landsässigem westfälischen Adel, die von 1650 bis 1718 den Bischofsstuhl in Münster besetzten, hat die politische und soziale Stellung der adligen Vorderstände auf diese Weise eine wesentliche Stärkung erfahren. Eine Vielzahl neuer oder in Vergessenheit geratener Anrechte wurde in Verhandlungen zwischen Fürst und Landständen errungen und in Wahlkapitulationen konfirmiert.'^ Das Indigenat, Mitsprache des Domkapitels bei der Ämterbesetzung, ein fester Anteil der den Ständen zustehenden höheren Verwaltungsämter, aber auch die Mitsprache des Domkapitels in außenpolitischen Fragen und die Vereidigung von Beamten und des Militärs auf Landesherrn und Domkapitel zugleich wurden so als ständische, vorderständische oder domkapitularische Rechte fester Bestandteil der Wahlkapitulationen des 18. Jahrhunderts. Über Landtagsfähigkeit und Wahlkapitulationen hat der Adel die ständische Verfassung des Landes gesichert und ausgebaut; ebenso sicherte er aber mit diesen Instrumenten die grundherrschafdiche Agrarverfassung und damit seine Herrschaft über landarbeitende Menschen sowie seine Beteiligung an Rechtsprechung und Verwaltung des Landes in domkapitulari38

sehen Gerichtsbezirken, einzelnen Rittergütern zugehörigen Patrimonialgerichten und sogenannten Gerichtsbarkeit und Verwaltung über meist mehrere Dörfer umfassenden ,Herrlichkeiten'. Nicht zuletzt sicherten und gewannen die Vorderstände über Wahlkapitulationen und Landstandschaft eine Vielzahl von Privilegien, die zum erstenmal im , ,Privilegium patriae" von 1570 fixiert und in der folgenden Zeit, vor allem wiederum zwischen 1650 und 1720, fortschreitend vermehrt wurden.'' Die Aufbewahrung dieser Privilegien und die Obsorge für deren Einhaltung und sachgemäße Interpretation waren einem besonderen pater pdirwe, dem ein advocatus patriae zur Seite stand, übertragen.

2. Privilegien Die dem stiftsfähigen Adel zukommenden Privilegien lassen sich aufteilen in solche, die ihm als erstem bzw. zweitem Stand allein zukamen und solche, die er mit den Mitgliedern der ihm nachgeordneten Oberschicht aus altem nicht-stiftsfähigen Adel, Militär- und Beamtenadel sowie städtischem, vor allem münsterschem Honoratiorentum gemeinsam hatte. Innerhalb dieser Privilegien kann, trotz einer engen Verbindung dieser drei Bereiche in der ständischen Gesellschaft, eine Differenzierung gemäß ihrer Zuordnung zum politischen, ökonomischen oder sozialen Bereich durchgeführt werden. Als Mitglied der Vorderstände besaß der stiftsfähige Adel an politischen Privilegien die alleinige Standschaft im ersten und zweiten Stand und die damit gesicherten Vorrechte an Ämtern und Pfründen sowie die Berechtigung zur Teilnahme an der Landesherrschaft in domkapitularischen Gerichten, Patrimonialgerichten und Herrlichkeiten, aus der ihm wiederum Anrechte auf eine Vielzahl kleiner Abgaben und sozialer Vorzüge erwuchsen.^" An sozialen Privilegien sind erwähnenswert: Ein besonderes, das römische Recht mit seinen Pflichtteilen und gleicher Berechtigung aller Kinder, auch die eheliche Gütergemeinschaft ausschließendes, durch das Lehnsrecht gestütztes Sondererbrecht für den ganzen Familienbesitz, d. h. Lehns- und Allodialbesitz, das den erstgeborenen Sohn bevorzugte (Majorat); das Recht zur Gründung von Fideikommissen; den privilegierten Gerichtsstand vor dem weltlichen Hofgericht, den er auch für seine Bedienten und die in seinem selbstbewirtschafteten Besitz, der sogenannten Hovesaat, angesiedelten Bauern zumindest zeitweise durchgesetzt hatte,^^ sowie das Recht auf eine besondere Uniform für sich und seine Bedienten. Aus dem Kirchen- und Schulpatronat, das auch mit Pflichten, z.B. der Bezahlung aller Baulasten, verbunden war, erwuchsen ihm die Rechte zur Kollation von Pfarrer, Küster und Lehrer, auf eine hervorgehobene Kirchenbank, Einschluß in das Kirchengebet, Trauergeläut und Bestattung in der Kirche bei Todesfall eines Familienmitglieds. Eine ständische Einhegung durch Heiratsverbote und Verbote des Kaufs von Rittergütern für Bürgerliche gab es dagegen im Fürstbistum Münster nicht, da dessen Adel im Unterschied zum preußischen solchen Schutzes nicht bedurfte. Als rein stiftsadliges ökonomisches Vorrecht ist nur die Freiheit von Stempelgebühren zu nennen. 39

Noch zahlreicher als die rein stiftsadligen Vorrechte waren aber solche, die die Vorderstände zwar vorwiegend, aber nicht ausschließlich nutzten. Auf den mit Diäten verbundenen, alle zwei Jahre stattfindenden Kirchspieltagen, auf denen sie zusammen mit den Vertretern der Kirche gegenüber den ebenfalls berechtigten bürgerlichen Besitzern eines Ritter- oder Bauerngutes immer in der Mehrheit waren, vergaben sie die Gemeindeämter, prüften die Geschäftsführung der Gemeindebedienten, vor allem die Kirchspielrechnungen, und verteilten die Steuerlasten.^^ Im sozialen Bereich war das Jagdrecht, das zu Recht wohl verhaßteste Feudalrecht, um 1700 noch allein in der Hand der Vorderstände; später wurde es auch den anderen Rittergutsbesitzern, nicht aber den Rittergutspächtern zugestanden. Während des ganzen 18. Jahrhunderts ergingen in regelmäßigen Abständen Gesetze und Edikte zum Schutze des Wildes, nicht aber zum Schutze des bäuerlichen Feldes. Die Rittergutsbesitzer jagten entweder allein in ihrer Hovesaat oder, in der sogenannten Koppeljagd,-zu mehreren auf einem zumeist mehrere Kirchspiele übergreifenden Gebiet, also vorwiegend auf dem Boden der Bauern. Das für die Jagdvergnügen der Berechtigten geschützte Wild und die Jagden selbst fügten dem Bauern in jedem Jahr schweren Schaden zu, gegen den er sich weder schützen konnte noch durfte. Im Jagdrecht zeigte sich die Herrschaft des Adels über die Bauern in seiner offensten, verletzendsten Form.^^ Wie das Jagdrecht, war auch das Recht des Adels, Waffen zu tragen, Ausdruck einer vergangenen Leistung, des Kriegsdienstes. Doch mußte er den Degen, trotz ständig erneuerter Verbote, zunehmend mit anderen Schichten teilen; offiziell waren im 18. Jahrhundert nur Adlige, Graduierte und höhere Beamte berechtigt, einen Degen zu tragen. Einige allgemein adlige Privilegien betrafen Hoffähigkeit, Titel, Wappen und Anredeformen. Ein Privileg, welches die Vorderstände mit Beamten und Geistlichen teilten, das sie aber auch für ihre Hovesaatbauern durchsetzten, war die Freiheit von der Militärdienstpflicht.Als soziale Privilegien lassen sich schließlich auch die vorwiegend aus merkantilistischen, zum Teil aber auch aus Gründen der Konservierung der Ständeordnung erlassenen Verbote deuten, durch die den sogenannten mittleren und niederen Ständen Luxuskonsum, vor allem die Entfaltung von nicht standesgemäßem Kleidungs- und Eßluxus verboten wurde.^^ ökonomische Vorrechte waren neben solchen, die aus der Grundherrschaft flössen oder an ein Rittergut gebunden waren, die Steuerfreiheit für landtagsfähige und adlig schatzfreie Güter.^® Im Unterschied zum Adel kam den Beamten und GeistUchen die Steuerfreiheit ebenso wie die Freiheit von der Einquartierung nur für ihre Person zu. Zu nennen wäre hier noch die Freiheit der Rittergüter von Kriegsfuhren und Gemeindelasten (Wegebau, Wegebesserung u. a.) und die Freiheit von städtischen Abgaben, die ebenfalls auch den Geistlichen und Beamten gewährt wurde. Mit dieser Aufzählung sind zwar nicht alle, aber doch die wesentlichsten der außerordentlich zahlreichen Privilegien des stiftsfähigen Adels im 18. Jahrhundert erfaßt.

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3. Selbstbild, soziale Lage, soziales Prestige Folge der Konstituierung, fortschreitenden Exklusivität und rechtlich gesicherten politischen, ökonomischen und sozialen Privilegierung des Ritterstandes war dessen zunehmende Homogenisierung in Verhaltensweisen und Lebensstil. Der Homogenisierungsprozeß erfuhr aber zwischen 1650 und 1718, als nacheinander vier Fürstbischöfe aus westfälischem landsässigen Adel das Land regierten, eine wesentliche Beschleunigung und Intensivierung. Den Fürstbischöfen gelang es, den stiftsfähigen Adel wieder auf die katholische Religion zu veφflichten, und zwar nicht zuletzt dadurch, daß sie den nachgeborenen Söhnen, die zum Teil in benachbarten protestantischen Territorien Dienst in Militär, Verwaltung und bei Hofe nahmen, sichere Domherrnstellen boten. Diese Politik wird z. B. noch am 6.4.1720 in einem Brief des F. W. v. Plettenberg anF. B. V. Westerholt, der um eine Domherrnpräbende gebeten hatte, angesprochen, wenn es heißt: Was . . . der Paderbornischen Präbende anbelanget, ist solche dem Herrn v. Plettenberg zu Lenhausen, falls er zu der katholischen Religion inklinieret, zugesagt worden; sollte nun aber diese Inklination zu der Religion nicht vor sich gehen, so habe der hiesige Herr v. Plettenberg . . . (den nächsten Anspruch darauf).^'

Die rehgiöse Einheit des Adels sowie die infolge eines noch zu analysierenden Kauf- und Übergabesystems sicheren Domherrn- und Stiftsdamenpositionen waren Ausgangspunkt für eine erfolgreiche Familien- und Ämtersicherungspolitik, für eine verstärkte Homogenisierung der Verhaltensweisen dieses Adels seit dem Ende des 17. Jahrhunderts. Diese Homogenität läßt sich z.B. am Heiratsverhalten aufzeigen: Zahl der heiratenden Töchter pro Familie zwischen 1720 und 1869 Familie

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16 6 0 8

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44 71 33 23 53 50 О 31 93 47 11 42 40 31 46100 20 60 38 60 60 64 77 83 48

Die am stärksten abweichenden Ergebnisse im Heiratsverhalten finden sich bei der nicht stiftsfähigen alten westfälischen Adelsfamilie v. Herding und bei der Familie v. Münster, die ihren Besitzschwerpunkt im Laufe des 18. Jahrhunderts aus dem Münsterland hinaus verlagerte und neue Orientierungen gewann. Nimmt man diese zwei 41

Zahl der heiratenden Söhne pro Famihe zwischen 1720 und 1869

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a) insgesamt b) davon heiraten % heiratender Söhne

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10 9 1 1

6 910

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15 4 0 1 4 1 7 1 1 10 23 6 1 0

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8 15 366

6 2 10 197

67 57 43 59 55 25 67 54

Familien aus, so läßt sich sagen, daß ungefähr 50 % der Söhne und Töchter einer stiftsfähigen Adelsfamihe nicht heirateten. Einnahmen aus Grundherrschaft, ständischen Ämtern und kirchlichen Pfründen erlaubten einen luxuriösen, das Stadtbürgertum distanzierenden, die bäuerliche Bevölkerung stark beeindruckenden Lebensstil im Umkreis des Hofes, in den städtischen Adelspalais und den Schlössern auf dem Lande. Der Adel nutzte entschieden die neuen Möglichkeiten der Legitimation als alte und neue Führungsschicht, die ihm das Leben am Hof, der neuen politischen und kulturellen Zentrale, und die Nähe zum Fürsten bot. Den Prestigeverlust infolge Aufgabe seiner militärischen Funktionen konnte er so ausgleichen, zumal er sich über seinen Einfluß als Landstand auch im neuen Offizierskorps des stehenden Heeres etablierte. Hinzu kam, daß der Hof dem Adel neue Möglichkeiten bot, Reichtum zu erwerben. Mit der seit Ende des 17. Jahrhunderts einsetzenden Phase verstärkten Schloßbaus, der sich seit Beginn des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts eine Phase des Baus städtischer Adelspalais anschloß, begann ein Zeitalter, dessen herrschende Kultur in stärkerem Maße als in den Jahrhunderten zuvor von dem demonstrativen Prestigekonsum entfaltenden, hoforientierten stiftsfähigen Adel, seiner Bautätigkeit, seinen repräsentativen Festen in der Residenz, seinem Interesse für visuelle und akustische Kunstformen und seinem Mäzenatentum geprägt w u r d e . I h r e n Höhepunkt erreichte diese Adelskultur zwischen 1720 und 1763, als der Wittelsbacher Clemens August als Kurfürst von Köln fünf norddeutsche geistliche Staaten, darunter auch das Fürstbistum Münster, in seiner Hand vereinigte. Gleichwohl blieb selbst in dieser Zeit stärkster Hoforientierung der münsterländische Adel in seinem Selbstverständnis und in seiner Selbstlegitimation vorwiegend Landadel und ständischer Adel. Einen allein von persönlicher Gunst des Fürsten und Erfolg im individuellen Machtkampf bei Hofe abhängigen, familial-ständisch und grundbesitzmäßig ungesicherten Hofadel, wie ihn z . B . Lampe für Kurhannover beschreibt, hat es in den geistlichen Staaten Westfalens als besondere Adelsschicht nicht gegeben. Für diese Resistenz gegenüber einem Abgleiten in den Hofadel 42

ist aber zu einem erheblichen Teil auch die Tatsache verantwortlich, daß seit 1720 das Fürstbistum Münster, da es in Personalunion mit dem Kurfürstentum Köln regiert wurde, den Hof, der vorwiegend in Bonn weilte, nur selten in seiner Hauptstadt zu Gast hatte. Erst nach dem Siebenjährigen Krieg ließen Landesherr und Stände, letztere hatten schon lange darauf gedrungen, ein repräsentatives Schloß bauen; doch kam seine Fertigstellung zu spät: Die Zeit der glänzenden Hofhaltungen ging zu Ende. Der Kurfürst Max Franz, Bruder des an Friedrich II. orientierten Kaisers Josephs П., besaß nur noch wenig Sinn für eine kostspielige und nach Meinung der aufgeklärten Zeitgenossen auch nutzlose glänzende Hofhaltung. Mit der Durchsetzung der Ahnenprobe als Voraussetzung der Standschaft und der Aufnahme in Domkapitel und Stifter war der stiftsfähige Adel in den katholischen Territorien Westfalens verfassungsrechdich zum eigentlichen Adel seines Landes geworden.^' Der nicht stiftsfähige Adel sank dadurch auf die Ebene der bürgerlichen Oberschicht ab. Landstandschaft, das Recht des Domkapitels zur Wahl des Fürstbischofs, das Bewußtsein, Reichsfürsten aus seinen Reihen gestellt zu haben^" und jederzeit wieder stellen zu können, auch die Tatsache, daß eine Schicht nicht stiftsfähigen Adels, zusammengesetzt aus einem Adel verschiedenster Qualitäten, seinen Vorrang anerkannte, zumindest - da er nicht mächtig genug dazu war - nicht angriff, ließen den stiftsfähigen Adel dahin tendieren, sich als eine Variante des hohen Adels zu sehen, obwohl die Familien, von wenigen Einzelfällen abgesehen, keinen Teilbesitz von reichsritterschaftlicher oder gar reichsständischer Qualität besaßen und der Abstand schon zu den relativ kleinen Reichsständen auf westfälischem Boden, z . B . den Fürsten V. Bentheim-Steinfurt oder den Grafen v. Sayn-Wittgenstein, in der Mehrzahl der Fälle außerordentlich groß war. Doch dort, wo wie im Fall der Familie v. Merveldt, umfangreicher Grundbesitz, Besitz einer die Gerichts- und Polizeiherrschaft über mehrere Dörfer einschließenden ,,Herrlichkeit" sowie außerordentlicher Ämtererfolg an Höfen und in den westfälischen Domkapiteln zusammenkamen, konnte sich durchaus der Wunsch ausbilden, die Landeshoheit zu erwerben.^' Aber nicht nur rechtlich war die Position des stiftsfähigen Adels als Vorderstand eindeutig gesichert, sondern auch ökonomisch, wie folgende Tabelle aufweist: Verteilung der Rittergüter 1760®^ Besitzer

Zahl der Rittergüter

%

Steueranteil (in RT.)

%

stiftsfähiger Adel

154 (im Besitz von 66 Familien) 5

96,3

100887

95

3,1

5281

5

nichtstiftsf. Adel und Bürger

Als Gründe für diese Kontinuität des Rittergutsbesitzes innerhalb der Ritterschaft und eine im Durchschnitt auch recht hohe Besitzdauer lassen sich, neben der lehnsrechtlichen und fideikommissarischen Bindung eines großen Teils der Güter und der im folgenden Kapitel darzustellenden allgemeinen ökonomischen Lage der Adelsfa43

milien, deren durchweg enge verwandtschaftliche Verflechtung und eine bewußte Politik der Sicherung landtagsfähiger Güter in den Händen der ritterschaftlichen Familien nennen.^^ Die ständische Grenze erschien vielen Mitghedern dieser Ritterschaft so fest, so deutlich durch Korporation, Anspruch auf ständische Ämter und Rittergutsbesitz abgesichert, daß sie nur wenig Anstrengungen unternahmen, ihren in der Mehrzahl der Fälle usuφierten, aber herkömmlich gewordenen ,westfälischen' Freiherrntitel durch Appellation an den Kaiser in einen Reichsfreiherrntitel umwandeln zu lassen oder gar, in Reaktion auf die im 17. und 18. Jahrhundert immer häufiger werdenden Nobilitierungen, sich um eine Standeserhöhung, z.B. um einen Grafentitel, der allerdings nicht leicht zu bekommen und vor allem nicht billig war, zu bemühen.®'* Obwohl politisch wenig bedeutend und vom Besitz der landtagsfähigen Güter faktisch weitgehend ausgeschlossen, war die auch einen Teil des nichtstiftsfähigen Adels verschiedener Schattierungen einschließende Oberschicht des dritten Standes, die in ihrem größeren Teil in der Stadt Münster lebte, gleichwohl recht vermögend und von gefestigtem Ansehen. Im Fürstbistum Münster gehörten um 1770, nimmt man die Steuerlisten als Grundlage, etwa 120 bis 140 Familien zu dieser Gruppe. Ihr standen am Ende des 18. Jahrhunderts 63 Familien, die die Ritterschaft bildeten, gegenüber. Doch hatte sich diese Oberschicht im Vergleich zu früheren Jahrhunderten entscheidend gewandelt. Im 15. und zum Teil noch im 16. Jahrhundert verlagerten sich die Einkommenschancen aufgrund fallender Getreidepreise tendenziell vom Land zur Stadt; das Handel treibende münsterländische Stadtbürgertum gewann an Reichtum, das dem aufkommenden Territorialherrn dienende humanistisch und juristisch gebildete bürgerliche Beamtentum an Ansehen. Der landsässige Adel reagierte auf diesen relativen Macht- und Prestigeverlust, auf die Herausforderung durch den Stadtbürger, indem er sich stärker als bisher von diesem, aber auch von den reichen Bauern dis t a n z i e r t e . B i s ins 15. Jahrhundert hatten Landadel, städtisches Patriziat und große Bauern ihre Kinder noch häufig untereinander verheiratet; eine Verschmelzung zumindest der beiden ersteren Gruppen bahnte sich an. Die Erbmänner gaben die Kaufmannschaft auf, verließen den Rat der Stadt, erwarben Landgüter und zogen sich dorthin zurück, um adelsmäßig zu leben. Als sie für sich auch die Standschaft beanspruchten, kam es aber 1557 zu dem langwährenden Erbmännerstreit. 1570 ließ sich der Adel, auf Distanzierung der Stadtbürger bedacht, vom Landesherrn in einem umfassenden Vertrag seine Privilegien bestätigen. Die seit 1557 erhobenen Ansprüche der Erbmänner auf Ebenbürtigkeit gewannen durch diese ökonomisch-soziale Konstellation ihre poUtische Brisanz. Schien sich doch damit eine Art Austausch der Führungsschichten, eine sukzessive Ablösung des Adels durch ein selbstbewußtes, zum Landleben übergehendes reiches Stadtbürgertum anzubahnen. Die schon vorher bestehende Aversion des Adels gegen den Gelderwerb durch Handel und sogenannte niedere Gewerbe wurde in dieser Zeit deudich verstärkt. Die Aggression gegen den erfolgreichen Kaufmann fand 1597 in einer Antwort der Ritterschaft auf von den Erbmännern erhobene Ansprüche ihren deutlichen Ausdruck; zum einen wurden differenzierende Adelsmerkmale, die die Erbmänner angeblich nicht besaßen, z . B . die Teilnahme an ritterlichen Turnieren, die Einladung zu Landtagen, die Eintragung in 44

die ritterschaftliche Matrikel, aufgeführt; zum anderen wurde darauf hingewiesen, daß ein großer Unterschied bestehe zwischen adlichen Personen und Patrizier-Geschlechtern, obgleich auch diese in adhchen Kleidern einhergiengen, und Stand und Wesen sich anmaßten. Jeder reiche Kaufmann, der blos durch sein Gewerbe zu Reichthum gekommen, benähme sich jetzt in dieser ungehorsamen, aufgeblasenen Welt ganz unverschämt.

Und zugleich wurde z. T . eindeutig wahrheitswidrig betont, die Angehörigen der Ritterschaft hätten bei ritterlicher Kleidung und adlicher Sitte sich aller Kaufmannschaft und anderer verächtlicher Gewerbe jederzeit enthalten; auch mit Personen geringeren Standes keine Heiraten eingegangen, nicht einmal mit Patriziern, wenn dieselben auch noch so reich gewesen.^'

Nach dem Dreißigjährigen Krieg lebten die Spannungen zwischen Erbmännern und stiftsfähigem Adel mit unverminderter Spannung wieder auf. Das 1685 ausgesprochene und erst nach 1714 vom Stiftsadel akzeptierte Urteil des Reichskammergerichts zugunsten einer Aufnahme der Erbmänner in die Domkapitel hatte aber aus zwei Gründen keine sprengende Wirkung mehr. Zum einen deshalb, weil bis dahin die meisten Erbmännerfamilien ausgestorben, verarmt oder messalliiert waren, zum anderen weil die Macht des selbstbewußten und reichen Münsteraner Stadtbürgertums, welches nach dem Vorbild der Erbmänner in die Ritterschaft hätte eindringen können, durch Christoph Bernhard v. Galen, den ersten nach dem Dreißigjährigen Krieg gewählten Fürstbischof, zugleich der erste der vier aufeinanderfolgenden Fürstbischöfe aus landsässigem westfälischem Adel, in starkem Maße gemindert worden war. Dieser brach mit Gewalt die Selbständigkeit der Stadt Münster und das Selbstbewußtsein seines reichen Bürgertums, welches schon durch die Niederlage der Wiedertäufer im 16. Jahrhundert und den Dreißigjährigen Krieg ökonomisch stark geschwächt und zahlenmäßig dezimiert worden war. Das Honoratiorentum der Stadt Münster, das im 15. Jahrhundert die Erbmänner als neue dominierende ratsfähige Schicht abgelöst hatte, sank in der Folge in dem Maße, in dem der Adel durch das Aufblühen der Höfe zusätzlich an Prestige gewann, zum feudalisierten Honoratiorentum des 18. Jahrhunderts ab. Die Oberschicht des dritten Standes war nun nicht mehr Konkurrent oder um Gleichberechtigung kämpfender Gegner des sich abschließenden Adels, sondern gleichsam eine deutlich durch den Stiftsadel distanzierte, dessen Vorherrschaft akzeptierende, Patronage suchende, Verhaltensweisen und Lebensstil in gehöriger Distanz und in den Grenzen, die das Fehlen eines hohen arbeitsfreien Einkommens setzten, imitierende sekundäre Elite, die sich mit dem qualitativ niedriger bewerteten Grundbesitz und den weniger einträglichen Ämtern und Pfründen in Stiftskirchen, Klöstern, adliger Grundherrschaft und adligen Häusern, im Militär und der Verwaltung zufriedengeben mußte und bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch zufriedengab.^^ Sie sicherte ihren Besitz und die einmal erlangten Ämter analog zum Verfahren des stiftsfähigen Adels über Generationen hinweg in ihren Reihen durch eine strenge Heirats- und Familienpolitik, der allerdings die der Ritterschaft vorbehaltenen Sondererbre'chte und die Abschlußmöglichkeiten gegenüber aufsteigenden Schichten fehlte. Manche Familie gewann infolge dieser Familienpolitik und einer sparsamen Lebens45

förderung außerordentlichen Reichtum,'® doch da diese Honoratioren eine zufriedene Minderheit mit hoher Selbstrekrutierungsrate bildeten, wurde der stiftsfähige Adel durch sie nicht mehr in Frage gestellt. Zudem ließen sich nicht nur die höheren kirchlichen und staatlichen Ämter und Versorgungsstellen der zweiten Kategorie, im Bereich der Rechtsprechung, die der stiftsfähige Adel wegen der damit unumgänglich verbundenen Qualifikationsnachweise aufgab, sogar die leitenden Richterämter in den Händen ihrer Familien konzentrieren und auf Dauer stellen; über die Ämter und den mit Ämtereinkommen erworbenen Grundbesitz erlangte diese Schicht auch Anteil an politischen, ökonomischen und sozialen Vorrechten, die - wie oben dargestellt - ihnen als Gutsbesitzern, Geistlichen, Offizieren und höheren fürsdichen Beamten zustanden. Intern läßt sich diese Oberschicht in mehrere Gruppen differenzieren. Die Erbmänner und die alten Adelsfamilien, die aufgrund standesungleicher Heiraten und daraus folgender Anfechtbarkeit ihrer Ahnenreihen, trotz des Besitzes eines landtagsfähigen Rittergutes, nie in die Ritterschaft aufgenommen worden waren (z. B. v. Herding, V. Bischopinck, v. Heeremann), bildeten zusammen mit dem ehemals stiftsfähigen Adel, der aufgrund von Mißheiraten seine Adelsqualität verloren hatte (z.B. v. Raesfeld, v. Schonebeck) eine erste Gruppe, deren Mitglieder, sofern sie nicht als Rentner auf dem Lande lebten, vor allem in die Offizierslaufbahn, deren oberste Ränge ihnen noch das meiste Prestige brachten, eintraten.'' Unter ihr stand eine Gruppe von relativ mobilen, von auswärtigen Adelsfamilien abstammenden Militäradligen, denen sowohl das Rittergut als auch die unanfechtbare Ahnenreihe fehlte. Ihnen im Prestige gleich waren die Familien aus altem Beamtenadel, die sich seit Generationen im Besitz bestimmter, täglichen Arbeitsaufwand erfordernder Ämter, z.B. der Landrentmeisterei, der Pfennigkammermeisterei oder hoher Richterämter, befanden (v. Wintgen, v. Büren, v. d. Becke). Doch hat die nach dem Kriegsende 1648 einsetzende Welle kaiserlicher Nobilitierungen die Doktoren der Rechte in der Beamtenschaft des Fürstbistums Münster, die als erste auf eine Nobilitierung Anspruch erheben konnten, kaum erreicht; der alte münstersche Beamtenadel, sowohl der Personal- als auch der Erbadel, blieb auf wenige Famihen beschränkt. Die Schicht der im Kaiser- und Fürstendienst Nobilitierten stieg im Fürstbistum nicht so stark an, daß die Angehörigen der alten Adelsgeschlechter zu einer deudichen Minderheit wurden. Als letzte Gruppe dieser Oberschicht schlossen sich der um bzw. nach 1770 nobilitierte Beamtenadel und die bürgerlichen „wohlhabenden Beamtendynastien""® an. Die beiden zuletzt genannten Gruppen, die vorwiegend in der Stadt Münster wohnten - die höchsten von ihnen zu erringenden Ämter waren wohl die des Kanzlers, eines Hofrichters, eines Rats in den verschiedenen leitenden Kollegien, eines Landbzw. Pfennigkammermeisters und, nach 1773, des Universitätsprofessors - bildeten zusammen mit einer wohlhabenden, ebenfalls altständisch orientierten, für ihre Söhne und Töchter geistliche und weltliche Ämter und Pfründen anstrebenden Kaufmannschaft den aus älteren Patriziern und nahezu ebenso alten Honoratioren zusammengesetzten Kreis der ratsfähigen Geschlechter der Stadt Münster.'*^ Die führenden Beamten waren wegen der Indigenatspraxis in starkem Maße mit der städtischen Oberschicht verbunden.

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Das neue Wirtschaftsbürgertum blieb zahlenmäßig schwach, weil dem geistlichen Staat das dynamisierende Konzept einer expansiven Militär- und Wirtschaftspolitik weitgehend fehlte, ein Wachstum von Handel und Manufaktur zum Teil auch, wegen der Erinnerung des regierenden Adels an seine Schwierigkeiten mit dem münsterschen Wirtschaftsbürgertum im 16. und 17. Jahrhundert, von den Vorderständen gar nicht gewünscht wurde. In der Hauptstadt Münster war es weitgehend hoforientiert, bzw. vom Prestigekonsum und von der Patronage des Adels und der oben beschriebenen Oberschicht des 3. Standes abhängig; in Städten wie Rheine, Bocholt, Warendorf, Greven u.a. war es zahlreicher, unabhängiger, durchaus wohlhabend, aber dennoch - wie in anderen Territorien des Reiches - weit davon entfernt, ein über die Grenzen der Stadt hinausgehendes eigenständiges politisches Selbstbewußtsein, das die Adelsrechte in Frage stellte, zu e n t w i c k e l n . N o c h wesentlich schwächer als die Kaufmanns- und Fabrikbesitzerschicht in diesen Städten war die Schicht der bürgerlichen und bäuerlichen Großpächter auf dem Lande ausgebildet. Im Fürstbistum Münster um 1770 war sie in nur schwer erfaßbaren Ansätzen vorhanden."^ Die Stellung des stiftsfähigen Adels gegenüber diesen bisher beschriebenen Bevölkerungsschichten war vor allem deshalb so gefestigt, weil er in einer Zeit knapper Nahrungen in den Institutionen, welche eine Vielzahl besonders einträglicher und allgemein hochbewerteter Arbeits- und Versorgungsstellen zu vergeben hatten, allein oder an vorderster Stelle entschied, seine Patronage infolgedessen äußerst gesucht war. In der Kirche, bei Hof, in den höchsten Gremien der Landesregierung und in den Gemeinden war sein Votum für die Anstellung von Geistlichen, Beamten und Bediensteten entscheidend. In der ständischen, vor allem in der Steuerverwaltung (Pfennigkammer), in den domkapitularischen Verwaltungs- und Rechtssprechungsbereichen (Gografiate), in den einzelnen adligen Grund- und Gerichtsherrschaften und Herrlichkeiten, als Schul- und Kirchenpatron und als Leiter eines großen Hauses (Rentmeister, Hofmeister, Sekretäre, Schreiber) entschied er allein über die Vergabe einer Vielzahl begehrter Anstellungen. Da dieses Patronagesystem zum Teil generationenlang eφrobt war, besaß jede Adelsfamilie eine Vielzahl durch Tradition gefestigter Klientelbeziehungen zu bürgerlichen, aber auch bäuerlichen Familien. Manche Beamtendynastie verdankte ihren Erfolg der langjährigen Patronage einer oder mehrerer stiftsfähiger Adelsfamilien. Auch die kirchlichen Ämter wurden in starkem Maße über Patronagebeziehungen zum Stiftsadel erlangt. Denn sowohl das Generalvikariat, dem die Einstellung aller Geistlichen zukam, als auch die Archidiakonate, denen die Aufsicht und Gerichtsbarkeit über die Geistlichen eines Kirchenbezirks übertragen war, befanden sich im 18. Jahrhundert fest in der Hand von Domherrn. Der Grundherr und Kirchenpatron, der die Gemeindepfarre, seine Haus- und die von Familienmitgliedern gestifteten Familienkapellen mit Pfarrern und Vikaren besetzte, der Schulpatron, der die Lehrerstellen - zumeist an Geistliche - vergab, waren in der Regel aus stiftsfähigem Adel. Die Söhne und Töchter dieses Adels entschieden in Dom- und Stiftskirchen sowie in den Kapiteln der Damenstifter, auch in den adligen Klöstern über die Vergabe zahlreicher Pfarrer-, Vikar- und Kanonikerstellen. Der geistliche Staat produzierte, benötigte zum Teil aber auch eine Vielzahl von Geistlichen, weil die Mehrzahl der Inhaber 47

hoher kirchlicher Pfründen keine höheren Weihen besaß und die adligen Pfründeninhaber, selbst wenn sie die höheren Weihen besaßen, ihren geistlichen Pflichten höchst selten und kaum regelmäßig, es sei denn an Sonn- und hohen Feiertagen, nachkamen, diese Aufgaben in den meisten Fällen aber an die zahlreich vorhandenen Geistlichen aus dem mittleren Bürger- oder Bauerntum, die in ihrer Mehrzahl schlecht bezahlt wurden und ihre Einkünfte durch Ämterkumulation verbesserten, delegierten.'*'' Über diese Symbiose, die von der ebenfalls pfründenorientierten Oberschicht des 3. Standes innerhalb des clerus secundarius, die in den Stiftskirchen, reichen Klöstern und auch in einigen weniger reichen Damenstiften ihre bevorzugten, fest gesicherten Versorgungsstellen besaßen, imitiert wurde, fand eine Vielzahl von Geistlichen aus mitderen Bürger- und Bauernfamilien ihre Versorgung.^' Dazu kam die große Anzahl der über Testamente fundierten frommen Stiftungen, Seelenmessen, Memorien des Adels und höheren Bürgertums, die, von den Familien in Dauerauftrag an einzelne Geistliche vergeben, deren geringes Einkommen ebenfalls noch regelmäßig aufbesserten.-Von einer voll ausfüllenden Beschäftigung konnte aber auch bei den meisten dieser arbeitenden Geistlichen nicht die Rede sein. Die Uberfüllung der vom geistlichen Staat bereitgestellten subalternen kirchlichen Positionen war, trotz eines Rückgangs der Zahl der Klosterinsassen im Laufe des 18. Jahrhunderts, um 1770 unübersehbar; und als um 1760 und wieder 1777 die Stände über außerordentliche Kopfsteuern für alle Steuerfreien beschlossen bzw. berieten, kam es zum Konflikt, denn die zahlreichen, schlecht bezahlten Geistlichen im clerus secundarius wurden von solchen Steuern besonders hart getroffen. Im Verlauf dieses von scharfen Protesten gekennzeichneten Konflikts am Ende der siebziger Jahre scheint sogar der Gedanke einer eigenen Landtagsvertretung des clerus secundarius geäußert worden zu sein."® Eine Hofmeisterstelle, die der Adel zumeist an Theologen vergab, war unter diesen Umständen eine vielgesuchte, allerdings noch stärker feudalen Anpassungszwang ausübende Durchgangs- und Aufstiegsposition zu einer Pfarrer- oder einer gut dotierten Vikarstelle. Eine dem Adel gegenüber unabhängige und selbstbewußte Haltung war von dieser Geistlichkeit vor 1770 nicht zu erwarten. Wie der Adel gegenüber dieser abhängigen Geistlichkeit zu handeln gewohnt war, erhellt wohl am besten aus einer Szene, die der spätere Bürgermeister von Münster, Hüffer, aus dem Hause von Merveldt, überliefert hat: Als charakteristisch wurde erzählt: Als er [Graf Merveldt, H . R.] neuvermählt mit der jungen Gräfin, einer geborenen Gräfin v. Pergen aus Wien, zum erstenmal nach Lembeck gekommen und die Pfarrer der sieben Kirchspiele ihm aufgewartet hätten, seien diese eingeladen worden mit der Kammerjungfrau zu speisen, mit dem Beisatze, diese sei eine Person von gutem Herkommen.^'

In ähnlicher Weise wie bei den kirchlichen Positionen bildeten sich Klientelbeziehungen zwischen Adel und gebildeten, reichen Bürgertum auch im Bereich der Verwaltung und Rechtsprechung. Auch ein selbstbewußtes antiständisches, sich mit dem Landesherrn identifizierendes höheres Beamtentum konnte sich vor 1770 im Fürstbistum Münster nicht ausbilden, weil der gewählte Landesherr bei der Ernennung seiner Beamten an die Zustimmung des Domkapitels und in starkem Maße auch an das Indigenatsprinzip gebunden war, weil die Beamtenschaft von Stiftsadel durchsetzt 48

war, weil der Landesherr, der oft bei Antritt seiner Herrschaft schon recht alt war, häufig wechselte, das Domkapitel aber kontinuierlich bestehen blieb und weil dem Landesherrn ein politisches und ökonomisches, durch Verwaltungshandeln gelenktes Modernisierungsprogramm, mit dem die höhere bürgerliche Beamtenschaft sich hätte identifizieren und vom Adel absetzen können, noch fehlte. Dementsprechend blieb das Prestige des höheren arbeitenden Beamten deudich niedriger als das des herrschenden stiftsfähigen Adels, der die Ratskollegien nur besuchte und dennoch in selbstverständlicher Weise Vorsitz und Vorrang bei Diskussionen und Abstimmungen in Anspruch nahm. Schon die Einstellung in ein Amt, in der Regel nur über Adelspatronage möglich, hatte das Verhältnis von Uber- und Unterordnung zumeist deudich gemacht."® Die intensivere Universitätsausbildung des bürgerlichen Beamten, sein akademischer Grad, der dem Adel fehlte, auch die fortschreitende Dominanz der bürgerlichen Juristen im Rechtsprechungsbereich auf Kosten des Adels bildeten zwar Ansatzpunkte für die Entwicklung eines neuen, adelsfeindlichen Selbstverständnisses, für die Entfaltung des Konflikts zwischen erworbenem und zugeschriebenem Status; doch wurde die Position der bürgerlichen Beamten gegenüber dem stiftsfähigen Adel andererseits wieder dadurch geschwächt, daß die Zahl der bürgerlichen Juristen im 18. Jahrhundert und damit der Druck auf die begrenzte Zahl höherer Ämter im Bereich der Rechtsprechung und Verwaltung erheblich anwuchs; der Konkurrenzkampf innerhalb des Bildungsbürgertums verschärfte sich, mit der Folge, daß die Patronagemöglichkeiten des Adels zunehmend härter umkämpft waren. Promovierte Juristen ließen sich in Wartestellungen als Advokaten in Münster nieder oder nahmen ein Amt bei einer mächtigen Adelsfamilie an, um bei der geringsten Aussicht auf eine durch Tod oder andere Umstände freigewordene Stelle sogleich über Bittbriefe und Besuche bei Fürsprechern eine Anwartschaft zu erringen, wobei hier an Unterwürfigkeitsbezeugungen kein Mangel gewesen ist."*' Die Kehrseite dieser Unterwürfigkeit war gesteigerter Stolz und Arroganz auf der Seite des stiftsfähigen Adels.®" Waren im privat-geselligen Bereich noch begrenzte Kontakte zwischen beiden Schichten möglich, so zog der Adel auf der Ebene des repräsentativen geselligen Verkehrs die Grenzen äußerst streng; das wird z . B . aus der Gründungsurkunde des Damenclubs aus dem Jahre 1800 deudich. Die darin ausgedrückte Haltung kann für die Zeit um 1770 als vom Adel allgemein anerkannt gelten. Zum Beitritt berechtigt waren lediglich: Alle von hiesigem Adel, Domherrn, Äbtissinnen, allhier bey der Ritterschaft Aufgeschworene und ihre Frauen, auch die, so vermöge ihrer adelichen Chargen den H o f und sonst die adlige Gesellschaft als Mitglieder einverleiben lassen; so auch die Stabs-Officiere der münsterschen Truppen.'^

Betrachtet man die patriarchalischen Beziehungen des stiftsfähigen Adels zum Bauern, die herrschaftlich zu seinen Gunsten geregelt und durch feste Sozialisationsphasen, z . B . den Gesindezwangdienst, kontinuierlich eingeübt wurden; nimmt man die in vielem ähnlichen, herrschafdich allerdings nicht abgesicherten Beziehungen zur ländlichen Unterschicht der Kirchspiele, die durch zahlreiche karitative Einzelmaßnahmen der lebenden sowie testamentarische Verfügungen der verstorbenen Familienmitglieder zugunsten der Armen an das Haus der Grundherrn und an die vom 49 4

Reif, Adel

Adel geleiteten kirchlichen Institutionen gebunden wurde, hinzu; erwägt man weiter, daß Kaufmannschaft und Gewerbetreibende des Landes zu einem erhebUchen Teil vom Adel als dem größten Konsumenten, und zwar nicht nur von Luxuswaren, abhing; vervollständigt man schheßlich diese Aufzählung durch die oben dargestellten Abhängigkeitsbeziehungen der Geistlichen und der Beamten zum Adel hinzu, so ergibt sich das Bild einer durch physische und psychische, vor allem religiöse Herrschaftsmittel abgesicherten, ungefährdeten, durch vielfältige Patronagebeziehungen über Bürger und Bauern prestigemäßig weit hinausgehobenen und von den verschiedenen Schichten des Bürgertums, wenn auch nicht spannungslos, in dieser Position anerkannten stiftsfähig-adligen Führungsschicht, die politische, ökonomische und soziale Elite zugleich war.

4. Interne Differenzierung und innerer Zustand Jenseits der Homogenität des stiftsfähigen Adels aufgrund einer rechdich abgesicherten ständischen Lage, gemeinsamer Verhaltensweisen und eines verbindlichen standesspezifischen Lebensstils läßt sich für die adligen Vorderstände, betrachtet man die Familien unter dem Aspekt ihrer Verschiedenheit nach regionaler Herkunft, ihrer Religion, der vorwiegenden Ämterorientierung ihrer Familienpolitik und dem Umfang ihres Grundbesitzes, eine deudiche interne Differenzierung herausarbeiten, anhand derer eine grobe Prestigeschichtung des landsässigen Teils dieses Adels erstellt werden kann. Die Mitglieder des Domkapitels stammten, urteilt man nach dem Besitzschwerpunkt ihrer Familien, zu einem erheblichen Teil nicht aus dem Münsterland, sondern aus den umliegenden katholischen Territorien Westfalens; doch hatten viele dieser Familien auch Grundbesitz im Münsterland und besaßen, da dieser Besitz zumeist die Qualität des landtagsfähigen Rittergutes hatte, neben der Standschaft in ihrem Heimatterritorium auch die im Bistum Münster.'^ Streubesitz, Doppelstandschaften, Konnubium und enge gesellschaftliche Kontakte aufgrund gemeinsamer Interessen an der Sicherung kirchlicher und ständischer Ämter der westfäUschen geistlichen Staaten führten zu einer engen verwandtschaftlichen und interessenmäßigen Verflechtung des katholischen Adels Westfalens. Die NichtWestfalen im Domkapitel und in der Ritterschaft befanden sich demgegenüber in einer während des 18. Jahrhunderts zunehmend schwächer werdenden Minderheit. Differenziert man nach dem Kriterium Religion, so zeigt sich eine noch größere Homogenität der Vorderstände; denn in der Ritterschaft war Religionsverschiedenheit möglich und auch hier war sie nur in geringem Maße gegeben,'® vor allem deshalb, weil aufgrund von Doppelstandschaften einige wenige Familien aus den umliegenden protestantischen Territorien ins Münsterland vorgedrungen waren. Doch auch deren politischer und sozialer Einfluß bheb vernachlässigbar gering. Beträchtlicher werden die Unterschiede, differenziert man nach Adelsqualität. Hier ist festzustellen: In beide Vorderstände, in die Ritterschaft stärker, ins Domkapitel mit seinem wirksamen Selbstrekrutierungssystem schwächer, drangen seit Ende 50

des 17. Jahrhunderts einige Erbmännerfamilien ein, die sich, sofern sie nicht bis 1770 ausstarben, in Lebensstil und Verhaltensorientierung eng an die FamiUen aus stiftsfähigem Adel anglichen, ohne jedoch - dafür sorgten schon die von Erbmännern für Erbmänner fundierten Stiftungen und kirchlichen Pfründen - die Erinnerung an ihre sie von der Majorität der Standesgenossen unterscheidende Herkunft völlig aufzugeben.®^ Die Differenzierung des Adels nach der vorwiegenden Ämterorientierung der Familien bei der Versorgung nachgeborener Söhne und nach deren Amtererfolg soll im folgenden anhand einiger Tabellen dargestellt werden:'® Tabelle 1: Domherrnstellen 1700-1803 in den Domkapiteln der geistlichen Staaten des Reichs

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Die Familien v. Ketteler, v. Droste-Vischering, v. Galen, v. Velen (bzw. v. Landsberg-Velen), v. Raesfeldt, v. Korff-Schmising und ν. Merveldt konnten ihre Domherrnstellen besonders erfolgreich sichern; es waren gleichzeitig die Familien, die in der Reformationszeit im katholischen Glauben verblieben, von dem Ausscheiden einst konkurrierender, protestantisch gewordener Familien aus dem Kreis der Bewerber um die Domherrnstellen profitierten und/oder während des 15. und 16. Jahrhunderts ihre Söhne nicht so stark wie andere Familien auf Militärkarrieren umorientierten. Umgekehrt brachten das zeitweilige Bekenntnis zur protestantischen Reli52

gion und starke Militärorientierangim 17. Jahrhundert z.B. den Familien v. O e r , v. Nagel-Ittlingen, v. Graes, v. Heiden und v. Westerhoh den Verlust b z w . Einbußen ihres Einflusses auf die Dompherrnpräbenden.®® A n zwei Faktoren, der Pfründenhäufung und dem Erwerb besonderer Dignitäten in Domkapiteln, Stiftskirchen und Damenstiftern lassen sich die in kirchlichen Laufbahnen besonders erfolgreichen Familien noch genauer herausarbeiten: Tabelle 4: Pfründenhäufung - die in westfälischen und außerwestfälischen Kapiteln besetzten Domherrnstellen 1700-1803 Familie

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53

Kirchliche und militärische Spitzenämter garantierten Hofnähe und damit weitere Ämterchancen. Verwaltungs- und Hofämter häuften sich in den Händen der Familien, die schon in Kirche und Militär Erfolg gehabt hatten; sie wurden zum Teil sogar in deren Händen erblich (vgl. Tabellen 6 und 7). Bei rechtlicher Gleichheit und Gleichheit auch in bezug auf die dem Stiftsadel zustehenden Privilegien zeigt sich intern doch eine erhebliche Verschiedenheit der stiftsadligen Familien hinsichtlich ihres Ämtererfolgs. Voraussetzung und zum Teil auch Folge dieses Ämtererfolgs war ein sicheres und möglichst umfangreiches Einkommen aus der adligen Grundherrschaft. Aufgrund einer Extrasteuer, die 1760 auch vom stiftsfähigen Adel gezahlt werden mußte, läßt sich eine grobe Schichtung der Familien nach dem Kriterium ihres Einkommens aus der Grundherrschaft erstellen. Als drittes Element neben Ämtererfolg und Einkommen aus der Grundherrschaft wurde zur Feststellung der internen Differenzierung des untersuchten Adels das Element Teilnahme an staatlicher Herrschaft - zum einen die Patrimonalgerichte und „Herrlichkeiten", die es nur in wenigen Familien gab, zum anderen die Fürstbischöfe, die aus einer Familie hervorgingen - berücksichtigt. Damit sind drei wichtige, soziale Lage des stiftsfähigen Adels begründende Kriterien als Grundlage einer Schichtungskonstruktion ausgewählt. Zwei weitere Kriterien, das Alter der einzelnen Adelsfamilie und ihr traditionelles Bildungsniveau werden hier vernachlässigt, weil das Erfordernis der Ahnenprobe und die Ausbildungsanforderungen an die Bewerber um Domkapitelstellen hinsichdich dieser Kriterien eine relativ große Homogenität der Adelsfamilien erzwangen. Andere wichtige Prestigefaktoren, z. B. die in der Familientradition bewahrte große Leistungsbereitschaft gemäß spezifischer Adelsnormen (z.B. Caritas, Religiosität, kriegerischer Mut, Mäzenatentum etc.), müssen wegen der Lücken in den Informationen über die Traditionen der untersuchten Familien bei der Schich-

Tahelle 6: Leitende zentrale Verwaltungs- und Hofämter im Fürstbistum Münster 1700-1803 \

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Tabelle 7: Besetzung der 12 Drostenämter (3 im Niederstift) des Fürstbistums Münster 1700-1803 >

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Drostenamt quasi-erblich Mitglied als Drost nachgewiesen

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I

II

III

IV

V

durch verschiedene Formen der Adoption bemühte, das Aussterben weiterer Familien zu verhindern. Insgesamt verlief die Entwicklung so (Tabelle 10): 1495 und 1554 zählten noch alle Ritterdienst leistenden adligen Familien zur Ritterschaft; mit dem ersten Privilegium Patriae von 1570 konstituierte sich die Ritterschaft als Landstand über die Ahnenprobe und ein im Lande liegendes landtagsfähiges Rittergut. Dadurch wurde eine Vielzahl von Familien ausgeschlossen. Seit der strengen Abschließung des stiftsfähigen Adels am Ende des 17. Jahrhunderts, ist der zahlenmäßige Rückgang weitgehend auf das Aussterben einzelner Familien zurückzuführen. Diese Gründe sind noch wenig erforscht; aber ohne Zweifel hat die verstärkte Zuwendung dieses Adels zu den das Zölibat bedingenden Domkapitelspfründen dabei eine wichtige Rolle gespielt. Erst im 19. Jahrhundert hat sich dieser Schrumpfungsprozeß deutlich verlangsamt.®^ In dieser Entwicklung lagen vielfältige Gefahren für die Legitimität des Standes, weil er die von ihm beanspruchten politischen und religiösen Funktionen immer schwerer erfüllen, die von ihm monopolisierten Pfründen kaum noch alle besetzen konnte, und weil er als eine Oligarchie, deren Charakter durch den zahlenmäßigen Rückgang der beteiligten Familien immer deutlicher wur57

Tabelle 10: Schrumpfung der zur Ritterschaft zählenden Adelsfamilien®® Jahr

1455 1554 1570 1579 1616 1703 1760 1800 ca. 1850

Lehnsdienste leistende adlige Familien 208 (davon 44 Erbmännerfam.) 194 (davon 27 Erbmännerfam.) 170 (davon 27 Erbmännerfam.) 164 (davon 27 Erbmännerfam.)

landtagsfähiger eingesessener Adel

landsässiger Adel mit Besitzschwerpunkt im Oberstift Münster

110(60) 105 (57) 103 78 66 64 56

44 38 29 2767

de, bei den anderen Ständen Neid und Aggressionen provozierte. Um 1770 machten die stiftsfähigen Familien des Fürstbistums maximal 0,2 % der Bevölkerung aus. Eine Gefährdung dieses Standes, so läßt sich zusammenfassend feststellen, lag um 1770 mehr in seinen internen Problemen als in der Herausforderung durch eine neben ihm aufsteigende konkurrierende, neuen Orientierungen verpflichtete Elite begründet.*®

B, ökonomische Grundlagen des Adelsstandes 1. Die Rechtsbeziehungen zwischen Grundherrn und Bauern in der münsterschen Grundherrsch aft Es gab im Fürstbistum Münster um 1770, wie schon lange vorher im wesentlichen zwei Arten von grundherrschaftlich abhängigen Bauern, die Eigenbehörigen und die Erbpächter. ^ Diese unterschieden sich voneinander durch die zu entrichtenden Abgaben und Dienste. Der zahlenmäßig bei weitem überwiegende Teil der Bauern war dem Adel, der Kirche, dem Staat oder einer Stadt eigenbehörig. Die Eigenbehörigen waren mit ihrer Person und wegen des ihnen zugehörigen Bauernguts dienst- und abgabenpflichtig. Die bäuerliche Familie war verpflichtet, das ihr übertragene Gut zu bewirtschaften und ordnungsgemäß zu verwalten. Die Angehörigen des Bauern leisteten allein wegen ihres durch Geburt gegebenen unfreien Status Dienste und Abgaben. Die Gegenleistung des Gutsherrn bestand in einer inhaltlich durch Gewohnheit bestimmten, dem Grundherrn einen großen Spielraum willkürlicher Entscheidung gewährenden Schutz- und Fürsorgepflicht gegenüber seinen unverschuldet in Not ge58

ratenen bzw. alt gewordenen Eigenbehörigen; dem Bauernehepaar stand zudem eine ,Leibzucht' zu; diese bestand in der Regel aus einem kleinen Alterssitz und einer begrenzten Mitnutzung des Hofes. Der Eigenbehörige war an das Bauerngut seiner Familie gebunden; andererseits hatten er und seine Familie einen festen erblichen Anspruch auf die Nutzung des Gutes. Sie durften nicht willkürlich von diesem entsetzt, konnten nur mit dem Gut vom Grundherrn verkauft werden.^ Der Grundherr war verpflichtet, den Hof nach dem Tode des ,Wehrfester' genannten eigenbehörigen Bauern wiederum mit einem Mitglied aus dessen engerer oder weiterer Verwandtschaft zu besetzen. Ein Heimfall des Gutes an den Inhaber des Obereigentums, den Grundherrn, kam infolgedessen in Friedenszeiten nur selten vor. Doch selbst dann durfte dieser, vorwiegend wegen der Steuerinteressen des Fürstbischofs, das Gut nicht zu seiner eigenen Wirtschaft ziehen. Alle Eigenbehörigen hatten als Personalveφflichtung einen halbjährigen Gesindezwangdienst im Hause des Grundherrn zu leisten. Darüber hinaus zog dieser bei ihrem Tode den Sterbfall ein, der je nach Familienlage des Eigenbehörigen den halben oder gar den ganzen Nachlaß des Verstorbenen umfaßte. Die Eigenbehörigkeit konnte, falls der Grundherr zustimmte oder durch Gerichtsbeschluß dazu gezwungen wurde, durch Zahlung eines Geldbetrages, den ,Freikauf', aufgehoben werden. In der Regel war es den abgefundenen Söhnen und Töchtern des Bauern leicht möglich, nach Ableistung oder Ablösung des Zwangdienstes, die Freilassung durch Freikauf zu erreichen. Weitere Verpflichtungen des Wehrfesters und des ihm in der Regel nachfolgenden ältesten Sohnes ergaben sich aus dem Untereigentum am Bauerngut: Der dem Vater nachfolgende Sohn zahlte bei der Hofübernahme ein vom Grundherrn nach der ökonomischen Lage des Gutes festgesetzes ,Gewinngeld'. Für die Ehefrau, die der Bauer auf sein Gut holte, hatte er ein ebenso festgesetzes .Auffahrtsgeld' zu zahlen. Neben diesen unregelmäßig auftretenden Abgaben an den Grundherrn mußte der eigenbehörige Bauer regelmäßig Natural- oder Geldabgaben leisten, die aber nicht erhöht werden durften. Zu den Abgaben zählten in der Regel auch Getreidezehnten; diese waren häufig veφachtet und wurden zumeist in Naturalien entgolten; nur zum geringen Teil waren sie in Geld umgewandelt und fixiert. Schließlich hatte der Wehrfester noch, je nach Größe seines Gutes, fest begrenzte Hand- und Spanndienste zu leisten. Der Rechtsgrund dieser Hand- und Spanndienste war unklar; in der 1770 erlassenen Eigentumsordnung wurden sie aus der Nutzung des Gutes hergeleitet. Die Regel war wohl ein wöchentlicher Dienst: seltener fanden sich Verpflichtungen zu zwei oder mehr Diensttagen pro Woche.^ Auch die Dienste konnten in Geld oder real geleistet werden, wobei dem Grundherrn wiederum das Wahlrecht zukam. Auch konnte er Dienste, die er gerade nicht benötigte, anderen abtreten. Von besonderer Bedeutung für die späteren Konflikte zwischen Bauern und Grundherrn erwies sich die Regelung über das Kolonatsholz und die in den Holzungen mögliche Mast. Die Verfügung über Holz und Mast standen dem Grundherrn zu; jedoch nur in den Grenzen, die die Notwendigkeit setzte, die Wirtschaftskraft des Gutes zu erhalten. Der eigenbehörige Bauer durfte ohne Konsens des Grundherrn keine Bäume fällen. Jenseits dieser Ansprüche besaß der Grundherr umfassende Eingriffs- und Mit59

spracherechte hinsichtlich der bäuerhchen Familienorganisation und Wirtschaftsführung, die alle auf sein Interesse an der Erhaltung der Leistungskraft des Gutes, an der Sicherung, womöglich Erhöhung seiner grundherrlichen Einkünfte, zurückzuführen sind: Der Grundherr wählte aus der Zahl der vorhandenen Kinder den Nachfolger des Vaters aus - wenn keine Gründe dagegen sprachen, in der Regel den ältesten Sohn und hatte zudem ein Konsensrecht bei der Heirat des gegenwärtigen oder zukünftigen Wehrfesters, bei der Festsetzung der Brautschätze (Mitgiften) und Erbabfindungen für dessen Kinder oder Geschwister und bei der Regelung über die Altersversorgung des Bauern und dessen Frau. In Rechtsgeschäften war bei Verträgen, die das Interesse des Grundherrn berührten, dessen Genehmigung einzuholen, so z . B . bei Verpachtungen, Vermietungen, Schenkungen und Bürgschaften sowie bei Verschuldung des Guts und der zur Bewirtschaftung des Guts erforderlichen Mobilien. Prozesse gegen Dritte bedurften ebenfalls des grundherrlichen Konsenses. Der Bauer durfte kein Kolonatsland veräußern und es war ihm strikt verboten, testamentarische Verfügungen aufzustellen; denn das individuelle Vermögen des Eigenbehörigen fiel über den Sterbfall dem Herrn zu. Es galt der das Interesse des Bauern an Produktionssteigerung stark einschränkende Grundsatz: Was der Eigenbehörige an individuellem Eigentum erwirbt, erwirbt er dem Herrn. Zur Durchsetzung seiner Anrechte besaß der Grundherr eine begrenzte Beschlagnahme- und Strafgewalt; doch konnte der Bauer, da für ihn in den meisten Fällen grundherrschafdicher und gerichtlicher Bereich kaum eines der insgesamt 34 Rittergüter des Oberstifts, die Patrimonialgerichtsbarkeit besaßen, erfaßte in seinem zumeist wenig umfangreichen Gerichtsbezirk die Mehrzahl der von ihm abhängigen, verstreut liegenden Bauernhöfe; die drei ,Herrlichkeiten' bilden in dieser Hinsicht die Ausnahme - im Münsterland nicht zusammenfielen, gegen die Verfügung des Grundherrn die Gerichte des Landes anrufen; eine Möglichkeit, die recht häufig genutzt wurde. Ebensowenig fielen - wiederum bilden die ,Herrlichkeiten' hier die Ausnahme - grundherrschaftliche und Verwaltungskompetenz zusammen; doch war die Stellung des Adels gegenüber den Bauern hier dennoch stark, weil auf den Kirchspielsversammlungen nur die adligen, kirchlichen etc. Grundherrn stimmberechtigt waren und weil der Drost als Amtsvorsteher in der Regel ein im Amt begüterter Angehöriger der Ritterschaft war. Im Unterschied zum Eigenbehörigen war der Erbpächter persönlich frei; er und seine Familie besaßen wie die Eigenbehörigen ein erbliches Nutzungsrecht an dem übertragenen Gut; doch brauchten sie sich nicht freizukaufen, leisteten keinen Gesindezwangdienst und vor allem waren sie nicht mit dem die Eigenbehörigen so stark bedrückenden Sterbfall belastet. Ansonsten hat sich die rechdiche und reale Lage dieser beiden bäuerlichen Gruppen sehr angeglichen. Auch der Erbpächter trug an grundherrlichen Lasten den Gewinn, die Auffahrt sowie Abgaben und Dienste; auch er war den Konsens- und Eingriffsrechten des Grundherrn unterworfen."*

60

2. Einkommen aus der Grundherrschaft Die Grundherrschaft im Münsterland war eine Rentengrundherrschaft; der Rittergutskomplex bestand um 1770 in den meisten Fällen aus einer Eigenwirtschaft von ca. 300 bis 800 Morgen, der sogenannten Hovesaat, die für den Bedarf des adligen Hauses sorgte. Ein wesentlicher Grund für den relativ geringen Umfang der Eigenwirtschaft war, daß der Adel, um an flüssiges Geld zu gelangen, immer wieder einmal Teile seiner Hovesaat an Angehörige der stetig anwachsenden, grundherrlich nicht mehr gebundenen Schicht der ländlich-heimindustriellen Heuerlinge verkaufte oder an nichterbende Bauernsöhne als eigenbehörige Kleinstellen (Hovesaatskötter) ausgab. Zu der verbleibenden relativ kleinen Eigenwirtschaft gehörte dann eine Vielzahl - bei einem mittleren Rittergut zwischen 50 und 150 - zum Teil über das ganze Fürstbistum und darüber hinaus verstreuter Bauerngüter der unterschiedlichsten Größe.® Die absolute Höhe der Grundherrneinkünfte lag z. B. im Fall der sechs Rittergüter der Familie V. Landsberg-Velen um 1770 bei 9000 R T ; von diesen sechs Rittergütern war Haus Velen das größte; es hatte um 1770 einen jährUchen Gesamtertrag von ca. 7000 R T . Damit zählte es zu den großen Rittergütern im Münsterland; ein kleines Rittergut besaß um 1770 ein Gesamteinkommen bis zu 2000 R T ; ein mittleres brachte es auf 2 000-4 ООО R T im Jahr. Aus dem geringen Umfang der grundherrlichen Eigenwirtschaft erklärt sich die, z . B . im Verhältnis zur ostdeutschen Gutsherrschaft, geringe Belastung des Bauern mit Hand- und Spanndiensten; selbst diese wurden um 1770 zu ca. 80 bis 90 % über feste Geldbeträge abgegolten;® und zwar deshalb, weil die zum Teil erhebliche Entfernung der Bauerngüter vom Haus des Grundherrn den Wert der Dienste minderte, weil das Gesinde infolge des Zwangdienstes zahlreich verfügbar war und weil in den auf der Hovesaat angesetzten Eigenbehörigen, den sogenannten ,Hovesaatköttern', den Hovesaatsparzellen pachtenden Heuerlingen und den Heuerlingen in der Umgebung des Ritterguts, die als Tagelöhner verpflichtet wurden, Arbeitskräfte in ausreichender Zahl und mit besserer Arbeitsmotivation zur Verfügung standen.^ Wichtiger als die Dienste waren dem adligen Grundherrn die bäuerlichen Abgaben. Die ständigen Abgaben waren fixiert, konnten also nur widerrechtlich oder nach dem Heimfall, bei Neubesetzung eines Bauerngutes, erhöht werden. Im kriegerischen 17. Jahrhundert, besonders zwischen 1648 und 1700, kamen widerrechtliche Abgabenerhöhungen und Abgabensteigerungen über Heimfälle recht häufig vor. Bauern wurden gelegt, entweder direkt der steuerfreien Eigenwirtschaft zugeschlagen oder in Parzellen verpachtet; ebenso verfuhr der Grundherr mit wüst gewordenen Bauerngütern. Durch Gesetze zum Schutz der Bauern wurde damals aus fiskalischen Interessen, aber auch wegen des Widerstands der Bauern eine Tendenz zur Erweiterung der adlig-grundherrlichen Eigenwirtschaft auf Kosten von Bauernland - die Vielzahl der zur Verfügung stehenden Dienste bot dazu einen starken Anreiz - schon in ihren Anfängen bekämpft. Dagegen konnte nicht verhindert werden, daß der Adel über Heimfälle und Ausnutzung aller Möglichkeiten der wenig genau definierten grundherrlich-bäuerlichen Rechtsbeziehungen die Abgabenlast der eigenbehörigen Bauern in dieser Zeit erheb61

lieh steigerte. Eine zweite und vom Grundherrn leichter durchzusetzende Möglichkeit, die Abgaben der Bauern zu steigern, lag in der vollen Ausschöpfung der rechtlichen Bestimmungen über die unregelmäßigen, nicht fixierten Gefalle zugunsten des Herrn. Zwischen 1607 und 1708 hat sich z . B . auf diese Weise das Einkommen der Grundherrn aus Sterbfällen im Durchschnitt verdoppelt.® Eine dritte Möglichkeit der Einkommenssteigerung war dem Grundherrn dadurch gegeben, daß er zwischen Natural- und Geldabgaben wählen konnte. Ein für allemal in einem Geldbetrag fixierte Gefalle hätten den Nachteil gehabt, daß ein künftiger Anstieg der Getreidepreise dem Bauern Gewinn, dem Adel indirekt, z . B . über eine Verteuerung des Stadtlebens, Verlust gebracht hätte. Durch die Wahlmöglichkeit sicherte der Grundherr sich den Einkommenszuwachs aus Preissteigerungen. Wie ein Vergleich der weiter unten abgebildeten Schaubilder (S. 65 und 66) zeigt, hat der adlige Grundherr jeweils in Zeiten stark steigender und extrem hoher Getreidepreise von dieser Wahlmöglichkeit Gebrauch gemacht und Naturalabgaben statt Geld gefordert; denn das Verhältnis von Geld- zu Getreideeinkommen tendiert in diesen Jahren gegen Null. Wie hoch die adligen Grundherrn diese Möglichkeit, auf Kosten der Bauern von der Agrarkonjunktur zu profitieren, einschätzten, wird daran erkennbar, daß sie die Wahlmöglichkeiten zwischen Natural- und Geldabgaben in der Eigentumsordnung von 1770 in einem besonderen Paragraphen festlegen ließen. Im 18. Jahrhundert hat sich die Lage der Bauern, was die Steigerung grundherrlicher Abgaben betrifft, nicht mehr spürbar verschlechtert. Heimfälle wurden zunehmend seltener; die Sterbfallquoten blieben bis 1780 nahezu konstant, auch die grundherrlichen Abgaben veränderten sich nicht mehr wesentlich.' Über die reale Lage der Bauern im Münsterland ist wenig bekannt. Sie war im Vergleich zu anderen Agrargegenden z . B . zu Ostpreußen oder zum naheliegenden Paderborn mit großer Wahrscheinlichkeit weniger drückend.^" Doch wäre es falsch, hieraus ein harmonisches Verhältnis zwischen Bauern und adligem Grundherrn abzuleiten. Angemessen erscheint es, von einem permanenten, aber veralltäglichten, in seinem Ablauf gleichsam routinierten Konflikt zwischen Grundherrn und Bauern zu sprechen, der immer dann heftiger wurde, wenn sich infolge stark steigender Getreidepreise die Frage der Verteilung des Mehφroduktes mit neuer Intensität stellte. Die Gesetze zur Regelung der grundherrlich-bäuerlichen Verhältnisse und die zahlreichen Prozesse, die Bauern gegen ihre Grundherrn anstrengten und zum Teil bis zum Reichskammergericht als letzter Instanz fortführten, sind deudiche Indikatoren für den permanenten Konflikt zwischen Bauern und Grundherrn. Auf der Ebene bäuerlichen Alltags äußerte sich dieser Dauerkonflikt unter anderem darin, daß die abgelieferten Naturalien, vor allem der Kornzehnte, zumeist von den Feldern geringerer Qualität stammten und die Dienstleistenden wenig intensiv arbeiteten. Vor allem die Höhe der ungewissen und nicht fixierten Abgaben war zwischen Grundherrn und Bauern stets kontrovers. Sterbfall, Gewinn, Auffahrtsgeld und Leibzucht belasteten das Bauerngut häufig etwa zur gleichen Zeit, nämlich dann, wenn der erbende Sohn kurz nach dem Tod des Vaters heiratete. Kam dieser Fall wegen frühen Tods des Bauern zweimal innerhalb kürzerer Zeit vor, so konnte die Belastung des Bauernguts außerordentlich drückend werden. Kampfmittel der Bauern zur Durchsetzung niedri62

ger Sterbfälle und Gewinngelder waren die aus Familienbindungen entstehenden Lasten, Brautschätze und Erbabfindungen, die aus dem Gut geleistet werden mußten und dieses stark in Anspruch nahmen. Auf dem Gut stehende Lasten mußten nämlich vom Grundherrn bei Bestimmung der ungewissen Gefälle berücksichtigt werden; deshalb hatte sich dieser ein Konsensrecht zu den das Gut belastenden Maßnahmen des Eigenbehörigen vorbehalten. Gerade in Fragen der Erbabfindungen und Brautschätze hat der Bauer aber immer wieder dieses Konsensrecht negiert, wie die mehrfach wiederholten Edikte zur Begrenzung der bäuerlichen Familienlasten und zur Verhinderung eigenmächtiger Lösungen seitens des Bauern erkennen lassen. Da die Familienlasten einen wesentlichen Teil der Gesamtverschuldung des Bauern ausmachten, dieser Teil aber eine partiell gewollte, mit sich näherndem Zeitpunkt der Hofübergabe anwachsende Verschuldung war, so läßt sich über die Qualität der Gesamtverschuldung der eigenbehörigen Bauern um 1770 kaum mehr sagen, als daß sie nur selten zu Konkursen geführt hat, obwohl die Kreditmöglichkeiten für den abhängigen Bauern wegen des Sterbfalls, der auch den Personalkredit auf erworbenes Eigentum erheblich beschränkte, außerordentlich ungünstig waren. Die steuerliche Belastung der eigenbehörigen Güter durch Landes- und Gemeindeabgaben sowie landesherrliche und gerichtsherrliche Dienste können im Verhältnis zu anderen Regionen ebenfalls als weniger drückend bezeichnet werden. Die Steuern hafteten als Reallast auf den Gütern und wurden im 18. Jahrhundert nicht mehr erhöht, so daß Bauerngüter, die sich in ihrer ursprünglichen Größe erhalten oder sich sogar ausgedehnt hatten, mit steigenden Getreide- und Viehpreisen real zunehmend geringer besteuert waren. Die Eigentumsordnung von 1770 betonte, daß in diesem Hochstift viele Eigenbehörige große Höfe unter haben und doch wenig davon praestieren, und durchgehends die eigenbehörigen Güter und Erbe auf keine solche proportionierliche und nach dem Nießbrauch abgemessene Pacht stehen, als die, so einer Heuer- und Conditionsweise inhatt . . .

Da die Belastung durch regelmäßige grundherrliche Abgaben mit denen durch landesherrliche und Gemeindesteuern - nach den wenigen vorhandenen Einzelbeispielen geurteilt - ungefähr im Verhältnis 1:1:^/4 standen, läßt sich vorbehaltlich weiterer Forschungen feststellen, daß die Behauptung des späteren Bürgermeisters von Münster, Hüffer, für die Zeit vor 1800, beim münsterländischen Bauern sei „Wohlstand und Stabilität die Regel" ^^ gewesen, bezogen auf die zahlenmäßig breiteste bäuerliche Schicht des Münsterlandes, die mittleren und größeren Bauern, auch für die Zeit um 1770 gelten kann, zumal dann, wenn man bedenkt, daß marktorientierte bäuerliche Nebengewerbe (Butterproduktion, Korbflechterei, Weberei, Spinnerei etc.), sowie die vom Adel scharf bekämpfte Verpachtung von Land und Vermietung von Wohnraum an ländliches Heimgewerbe betreibende Heuerlinge zusätzhch bares Geld einbrachten,^^ während die grundherrlichen Abgaben und Dienste zu einem erheblichen Teil in Geld umgewandelt und durch Rechtstradition fixiert waren. Eine solche relativ gesicherte Lage Schloß jedoch nicht aus, daß auch diese Bauern bei Mißernten, Preiskrisen oder familialen Unglücksfällen gezwungen waren, den Grundherrn um Nachlaß der Abgaben zu bitten, so daß die patriarchalisch-fürsorgerischen Bindungen sich in der Regel nicht auflösten. 63

Das Rittergut war zum einen Sammelpunkt der grundherrlichen Abgaben und Dienste, zum anderen mit seiner Eigenwirtschaft, die vorwiegend auf Bedarfsdekkung der Angehörigen des Hauses zielte, Zentrum einer Getreidebau und Viehzucht betreibenden, zahlreiche Anrechte in Mark, Bauernschaft und Kirchspiel nutzende Wirtschaft, die zahlreiche Nebenzweige, in der Regel Korn- und Ölmühlen, Brauerei und Brennerei, Schäferei, häufig auch eine Ziegelei umfaßte. Dazu kamen zumeist noch Gärten, Fischteiche, ein Tiergarten und verschiedene Handwerksstätten, vor allem solche für Sattler, Schmiede und Schreiner. Hinsichtlich der Grundnahrungsmittel war der grundherrliche Haushalt durch eine umfassende Vorratswirtschaft nahezu autark; nur Kolonialwaren mußten auf dem Markt gekauft werden. Für die Milchwirtschaft und umfassende Leinenvorräte sorgte das zahlreiche weibliche Gesinde. ^^ Da in der Regel mehrere Rittergüter in der Hand einer Familie vereinigt waren, vergab der Adel wegen des höheren Ertrags den größten Teil der Hovesaaten in Parzellen an die umwohnenden Bauern und Heuerlinge, einen geringen Teil aber auch ungeteilt an einzelne, in der Regel bäuerliche Pächter, in Zeitpacht. Nur Rittergüter, die Hauptwohnsitz einer Adelsfamilie waren oder von ihr zumindest zu bestimmten Jahreszeiten, z . B . während der Jagdsaison, bewohnt wurden, betrieben in nennenswertem Maße Eigenwirtschaft, von einem Verwalter, dem Rentmeister, geleitet. Dieses von der Selbstbewirtschaftung tendenziell abrückende, kombinierte Pacht- und Rentmeistersystem setzte den adligen Grundherrn, der sich zunehmend stärker auf Kontrollfunktionen in seiner Grundherrschaft beschränkte, für einen Hof-, Stadt- und Landleben integrierenden Lebensstil frei. Die Geldeinnahmen zur Erhaltung der Eigenwirtschaft des Hauses sowie zur Befriedigung des Prestigekonsums der Familie bestanden aus den Zeitpächten, den regelmäßigen Geldabgaben und in Geld abgegoltenen ungewissen Gefällen, sowie dem Erlös aus meistbietend an Aufkäufer oder auf einem nahe liegenden Kornmarkt verkauften Naturalabgaben. Das Rittergut diente so teils der Bedarfsdeckung, teils war es - mit Überschüssen - am Marktgeschehen orientiert. Das Verhältnis von Geld- zu Getreideeinnahmen nahm bei sechs von einem Gut aus verwalteten Rittergütern im 18. Jahrhundert folgende Entwicklung (Schaubild 1):^® Das Verhältnis wuchs nach 1700 auf einen Durchschnitt von über 4:1 an. IndieserZeit verlangten Schloßbau und Übergang des Adels zum Hof- und Staddeben nach einem großen Vorrat an stets flüssigem Geld; bis 1755 ging das Verhältnis auf ca. 3:1 zurück, um zur Zeit des Siebenjährigen Krieges - weil der Grundherr die extrem hohen Getreidepreise nutzen wollte und weil der Bauer zum Teil in Not geraten und zur Leistung von Geldabgaben, zum Teil von Abgaben überhaupt, nicht mehr fähig war unter die Grenze von 1:1 abzufallen. Die Steigerung der Geldabgaben gegenüber den Naturalabgaben im 18. Jahrhundert im Vergleich zum 16. und 17. Jahrhundert bedeutet, daß insgesamt gesehen - bei den weitgehend konstant bleibenden Sätzen der regelmäßigen Abgaben - die Geldwertverluste und der Anstieg der Getreidepreise von 1770 stärker dem Bauern als dem adligen Grundherrn zugute kamen. Das Absinken des Verhältnisses von 4:1 auf 3:1 während des 18. Jahrhunderts zeigt dagegen andere Einwirkungen als sich einander aufhebend gesetzt - , daß der grundherrliche Adel diese Entwicklung zu seinen Gunsten zu korrigieren suchte." Die Getreide64

Schaubild 1: Das Verhältnis von Geld- zu Getreideeinnahmen der V. Landsberg-Velenschen Rittergüter 1600-1850 / - Roqqenwent- der Oeldeinnahme Roggenwcpf d e s Getret'des

lì· 12· t110-



6-



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30

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50

60

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80

90 1T00 10

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40

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90

1800 10

20

30

40

50

Schaubild 2: Getreidepreise im Fürstbistum Münster 1530-1770 (in fünfjährig gleitenden Durchschnitten) 66

preise im Münsterland waren, wegen der fehlenden bzw. äußerst mangelhaften Verkehrswege, bis 1770 noch vorwiegend von lokalen Bevölkerungsbewegungen, vor allem aber von den lokalen Ernteergebnissen abhängig und damit starken Schwankungen unterworfen (Schaubild 2);!® Im 16. Jahrhundert stiegen die Getreidepreise erheblich an, zwischen 1540 und 1600 nahezu um das Dreifache. Die N o t des Dreißigjährigen Krieges brachte noch einmal einen zusätzlichen Preisanstieg; dann fielen die Preise, um sich, seit ca. 1690 wieder langsam steigend, zwischen 1710 und 1770 ungefähr auf dem Niveau der Preise vom Jahre 1600 - von der Teuerung während des Siebenjährigen Krieges abgesehen - zu konsolidieren. Die im Schaubild 3 (S. 68) dargestellte Entwicklung des Gesamteinkommens der Landsberg-Velenschen und Droste-Sendenschen Rittergüter im Münsterland zeigt aber nur partiell eine Abhängigkeit von der Preisentwicklung:'' Neben den Preisen haben Kriege und Phasen, in denen sich die Grundherrn bemühten, über Zeitverpachtung eingezogener Bauerngüter sowie über indirekte und direkte Erhöhungen der bäuerlichen Abgaben ihr Einkommen zu steigern, die Entwicklung des Gesamteinkommens in erheblichem Maße bestimmt. Den LandsbergVelenschen Rittergütern brachte die zweite Phase des Dreißigjährigen Krieges erhebliche Ertragseinbußen; dagegen erzielte man während des Siebenjährigen Krieges außerordentlich hohe Gewinne. Bei den Droste-Sendenschen Rittergütern lösten sich während des Siebenjährigen Krieges eine Phase der Einkommenssteigerung und eine der Einkommensminderung ab. Die Erfolge intensiver Bemühungen des Grundherrn um Einkommenssteigerung nach dem Dreißigjährigen Krieg lassen sich deutlich am Anstieg des Landsberg-Velenschen Gütereinkommens nach ca. 1655/60 ablesen. Das Einkommen der beiden Familien aus grundherrlichem Besitz zeigt für das 18. Jahrhundert bis 1770 im Fall der Droste-Sendenschen Rittergüter eine leicht, im Fall der Landsberg-Velenschen Rittergüter eine deudich ansteigende Tendenz, für die aber eher Kriegsgewinne und die bessere Nutzung des Anstiegs der Getreidepreise - durch Forderung von Natural- statt Geldabgaben - als eine weitere kommerzielle Ausnutzung der bäuerlichen Abhängigkeit verantwordich waren.

3. Ä m t e r e i n k o m m e n Das Ämtereinkommen besaß für die stiftsfähigen Adelsfamilien ein außerordentlich großes Gewicht; zum einen, weil es so hoch war, daß es durchaus mit dem Einkommen aus Rittergütern konkurrieren konnte, zum anderen, weil das Ämtereinkommen im Unterschied zum Gütereinkommen einen stets abrufbaren Fond an flüssigem Geld darstellte. Die grundherrschafdichen Verhältnisse im Münsterland, die geringe kommerzielle Nutzung der bäuerlichen Abhängigkeit durch den Adel, sind zu einem erheblichen Teil darauf zurückzuführen, daß der Adel sich auf die zahlreichen, zunehmend höher dotierten Ämter des geistlichen Staates konzentrierte und dort mehr als nur Ersatz für seinen Verzicht auf eine Steigerung des grundherrlichen Einkommens fand.^° Das höchste erreichbare Jahreseinkommen boten die Domherrnstellen der ad67

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Schaubild 3: Gesamteinkommen (in Geld umgerechnet) der v. Droste-Sendenschen und V. Landsberg-Velenschen Rittergüter 1600-1770 (in fünfjährig gleitenden Durchschnitten) 68

Ilgen Domkapitel. Das Domkapitel Münster besaß am Ende des 18. Jahrhunderts ein Vermögen von 2,6 Millionen R T ; es erbrachte ein durchschnittliches Bruttojahreseinkommen von ca. 100000 R T : zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1805) waren es 120000 RT/Jahr. Ein Jahresnettoeinkommen von 82315 R T am Ende des 18. Jahrhunderts ging zu 74 % (61995 R T ) an die 41 adligen Domherrn und zu 26 % (21230 RT) an 94 bürgerliche Geistliche und Beamte des Domkapitels. Die 120000 R T zu Beginn des 19. Jahrhunderts fielen zu 82 % (98680 R T ) an die Domherrn und zu 18 % (21320 RT) an bürgerliche Geistliche und Beamte; da die Gehälter der Geistlichen und Beamten offenbar fixiert waren, wirkten sich Einkommensverbesserungen allein zugunsten der Domherren aus. Die Domherren erhielten Jedoch nicht gleiche, sondern höchst verschiedene Anteile; ein Teil der Domherrn war in der Regel auch noch nicht vollberechtigtes Mitglied des Domkapitels. Die Einkünfte des vollberechtigten Domherrn setzten sich aus den allgemeinen Präbendeneinkünften, Anwesenheitsgeldern (Residenz- und Präsenzgeldern), selbstverwalteten Nebenpfründen (z. B. Vikarien) und besonderen Nutzungsberechtigungen zusammen. 1805 erhielten von münsterschen Domkapitularen der Domdechant der Dompropst der Domscholaster der Vicedominus der Domkantor der einfache, vollberechtigte Domherr

6560 4249 2306 1727 2480

RT RT RT RT RT

1214 R T " .

D a die Domherren sehr häufig auch in anderen Domkapiteln präbendiert waren und insgesamt zwei, drei oder mehr Präbenden besaßen, zum Teil auch noch in den Kapiteln von Stiftskirchen saßen, kamen Domherrneinkommen über 3 ООО R T häufig, solche über 4000 R T nicht selten vor. Inhaber hoher Dignitäten, z. B. Domdechanten, konnten um 1800 bei Pfründenhäufung durchaus ein Einkommen von 7000 bis 8 ООО R T erreichen;^^ zumal dann, wenn sie zusätzlich eine der mit Gehältern ausgestatteten Positionen in den Ratskollegien oder ein Hofamt besetzten. Zu diesen regelmäßigen Einkommen addierten sich noch die nicht mehr umfassend rekonstruierbaren Nebeneinnahmen. Die wichtigsten davon kamen in der Zeit einer Sedisvakanz ein, da dann die Einnahmen des verstorbenen Landesherrn dem Domkapitel zufielen und weil vor der Wahl eines Fürstbischofs erhebliche Bestechungssummen in das Domkapitel flössen. Vor der Wahl des Bayern Clemens August zum Bischof von Münster und Paderborn 1719 erhielten 17 Domherrn ,Douceurgelder', auch Handsalben genannt, zwischen 2 ООО und 10000 R T ; insgesamt fielen an das Domkapitel zu Münster 370000 fl. (ca. 250000 RT). 1780, als der Österreicher Max Franz und der Minister Franz v. Fürstenberg bei der Wahl konkurrierten, zahlten unter anderem Preußen 30000 R T und HoUand 200000 Gulden (ca. 134 ООО RT) zur Unterstützung der Wahl v. Fürstenbergs. Dieser selbst bot einem Domherrn für dessen Stimme 50 ООО Taler und dazu noch gut dotierte Ämter. Max Franz zahlte 20 ООО fl. (ca. 13 400 RT) für eine Stimme; sein Höchstgebot lag bei 67 ООО RT.^^ Da die Fürstbischöfe häu69

fig erst im mittleren oder höherem Alter in ihr Amt gewähh wurden, konnte ein Domherr durchaus mit zwei solcher die jährlichen Ämtereinkünfte spürbar erhöhenden Sedisvakanzen rechnen. Bei dieser Einkommenslage der Domherrn ist es nicht verwunderlich, wenn einzelne Spitzenverdiener nach ihrem Tode - trotz eines aufwendigen Lebensstils und der in der Regel festen Überzeugung von der Sinnlosigkeit, Geld zu sparen - ihren Familien einen Nachlaß im Werte von 60 ООО bis 8 0 ООО R T hinterließen.^·* Gelang es gar einem Domherrn, zum Fürstbischof aufzusteigen, so stieg auch sein Einkommen in nicht mehr rekonstruierbare Größenordnungen; der Glanz seiner Familie war damit ideell wie materiell auf Jahrhunderte hinaus gesichert. Verschwindend gering nehmen sich daneben die Einkommen der Stiftsdamen aus; im Stift Borghorst bezog im Jahre 1803 die Pröpstin 611 RT, drei Stiftsdamen je 366 RT, und die übrigen Stiftsdamen 320 RT. Je nach Reichtum des einzelnen Stifts wurden diese Werte schätzungsweise um ein Viertel über- bzw. unterschritten.^' Durch Kumulation von Stiftspräbenden konnten auch die Stiftsdamen, welche in ihrem Stift freien Unterhalt genossen, ein jährliches Einkommen über 500 RT im Jahr erreichen; Inhaberinnen hoher Dignitäten war es möglich, durch Pfründenkumulation in die Nähe von 1 ООО RT zu gelangen und sich damit dem Einkommen der Äbtissin eines Stifts anzunähern. Auch bei der Äbtissinnenwahl wurden Handsalben gezahlt; doch verblieben diese in einem dem Einkommen der Äbtissin und des Stifts entsprechenden bescheideneren Rahmen als bei den Bischofswahlen. Eine alternative Ämterlaufbahn für nachgeborene Söhne war die des Offiziers. Doch im 18. Jahrhundert war die Zeit des Offiziers, der seine militärische Führungsposition mit unternehmerischem Geschick verbinden konnte, die Zeit des ,,military enterpriser" (Redlich) Vergangenheit, und der Offizier des münsterschen stehenden Heeres mußte sich - bei einer sehr geringen Zahl von Spitzenpositionen und dementsprechend geringen Aufstiegschancen - mit Gehältern zufriedengeben, die im Durchschnitt deutlich unter denen der Domherrn lagen. Der zweithöchste Offizier der münsterschen Truppen bezog nach 43 Dienstjahren ein Jahreseinkommen, das dem Anfangseinkommen eines vollberechtigten Domherrn entsprach. Nur der höchste Offizier erhielt mit 4 114 RT ein außerordentlich hohes Gehalt: ein Offizier mittleren Ranges (Capitain, Rittmeister, Hauptmann) bezog dagegen nur ein Einkommen von ca. 700 RT im Jahr. Selbst wenn man auch hier verschiedene Möglichkeiten zur Erhöhung des Einkommens in Rechnung stellt, war die Offizierslaufbahn unter diesem Aspekt sehr viel weniger attraktiv, als die des Domherrn.^® Eine sowohl Domherrn und Offizieren als auch Stammherrn zugängliche Einkommensquelle bildeten die den Ständen vorbehaltenen Ämter des Landesherrn in den zentralen Regierungskollegien. Da der Fürst die allgemein praktizierte Ämterkumulation in Rechnung stellte, war die Regelung der Gehälter für adlige Räte ziemlich willkürlich. In jedem Kollegium saßen in der Regel mehr adlige Räte als es Gehälter gab. Ämterhäufung und Gehälterhäufung waren somit nicht identisch.^^ Ein Amt wurde auch wegen seines Prestiges und seiner Mitsprachemöglichkeiten gesucht; zudem hatten Räte ohne Gehalt das erste Anrecht auf eine Stelle mit Gehalt. Den Anteil des Adels an den Gehältern der zentralen Rats- und Verwaltungskollegien zeigt die folgende Zusammenstellung:^® 70

Tabelle 4: Gehälter in der landesherrlichen Zentralverwaltung des Fürstbistums Münster 1803 höhere Beamte (Bürgerl., Subalterne Beamte Nobilitierte, nichtstìftsf. Adelige Zahl Σ der Gehälter Zahl davon ohne Σ der Gehälter Zahl Σ der Gehälter inRT. Gehalt inRT. inRT.

Insgesamt

StiftsfühigerAdel

Geh.-Rat Reg.- und Hofrat Geh. Kriegsrat Hofkammer Medizinalkollegium

11

6

2350 - 0 - 0

3

1

1200 - 0 - 0 18

5734 - 8 - 10 15 2836- 1 9 - 0 9770 - 2 7 - 10

7 1

5 -

600-0-0 1145-0-0

2 9

567- 0 - 0 3568-21 - 6

4 785 - 2 - 7 1952 - 2 - 7 8 1640- 0 - 0 6 3 5 3 - 2 1 - 6

2

2

12

2367- 4 - 8

8 1040-

Σ

24

14

-

9

5713-14-

4

8 2842-

Σ der Gehälter inRT.

3 - 9 10806- 0 - 1

0 - 0 3407- 4 - 8

5295 - 0 - 0 50 18950-21 - 4 43 8 1 4 3 - 2 5 - 4 32389- 18- 8

Es wird erkennbar, daß der Adel - gemessen an seinem Anteil am Domkapiteleinkommen - die Gehälter der landesherrlichen Zentralverwaltung in relativ geringem Umfang, nämlich nur zu einem Sechstel, für sich in Anspruch nahm. Vor allem im Rechtswesen und in den Verwaltungsbehörden, die tägliche Anwesenheit oder Rechnungsführung verlangten, war er kaum vertreten; auch hatten einzelne der arbeitenden bürgerlichen Geheimen Räte und Referendare ein höheres Gehalt als die adligen Räte. Neben den Verwaltungsämtern nutzte er zwei Ämter und ein Gehalt, die der Landesherr als Bischof zu vergeben hatte:

Tabelle 5: Gehälter der bischöflichen Zentralverwaltung des Fürstbistums Münster 1803 Stiftsfähiger Adel

höher Beamte (Bürgerl., Subalterne Beamte Nobilitierte, nichtstiftsf. AdeUge Zahl davon ohne Σ der Gehälter Zahl Σ der Gehälter Zahl Σ der Gehälter Gehalt inRT. inRT. inRT.

Bischöfl. Behörden: Generalvicariat Weihbischof

1 1

-

700-0-0

-

Σ

2

1

700 - 0 - 0

3

1

-

3

1357- 1 8 - 8 -

1357- 1 8 - 8

9 1900 - 18 - 8 -

-

9 1900 - 18 - 9

Insgesamt

Σ der Gehälter inRT.

3258-9-4 700 - 0 - 0 3958 - 9 - 4

Bei den Hofämtern dominierte der Adel eindeutig gegenüber seinen bürgerlichen und nobilitierten Ämterkonkurrenten: 71

Tabelle 6: Gehälter der Hofämter des Fürstbistums Münster 1803 SdftsfähigcrAdel

höhere Beamte (Bürgerl., Subalterne Beamte Nobilitierte, nichtstiftsf. Adelige Zihl davon ohne Σ der Gehälter Zahl Σ der Gehälter Zahl Σ der Gehälter Gehalt inRT. inRT. inRT.

Insgesamt

Σ der Gehälter inRT.

Hofbeamte: officianten Fischereiofficianten Oberhofmarschallamt Oberhofmarschall u. Bediente Kämmerer Σ

2

-

1015-9-4

4

327-

5-3

5

-

-



9

340-

0-0

7

1

-

1000 - 0 - 0

4

100 -

0-0

3

1029 - 21 - 0

15

4

_

1

-

8

-

4689 -

9 -4

2 6 6 - 18 - 8 6971-

9-4

10 -

27

-

1796 - 26 - 3

-

30

1 3 4 2 - 14 - 7

-

1 5 2 - 14 - 0

-

750 -

0 -0 -

9 0 2 - 14 - 0

4 9 2 - 14 - 0 1100-

0-0

6468-

2-4

2 6 6 - 18 - 8 9670 - 21 - 7

Die Gehälter der Hofämter schwankten im 18. Jahrhundert am deutlichsten, weil sich hier die Gunst des Fürsten am stärksten auswirkte; doch läßt sich feststellen, daß die Gehälter im Durchschnitt langsam gestiegen sind. Den höchsten Rang nahm bei Hofe der Obristhofmeister (Obristmarschall) mit einem Gehalt von ca. 2 ООО RT im Jahr ein; Obristküchenmeister, Obriststallmeister und Obristjägermeister erhielten in der Regel jeweils ca. 1 ООО bis 1200 RT; ein Kämmerer durfte nach seiner Ernennung auf 200-400 RT jährlich hoffen. Insgesamt besaß der stiftsfähige Adel um 1802 19 Gehälter in den bisher erwähnten Behörden und Ämtern der Zentrale, in denen er mit 34 Vertretern präsent war. Diese 19 Gehälter summierten sich zu einem Betrag von 12 966 RT; das waren ca. 20 % der insgesamt in der Zentrale für 34 adlige und 118 bürgerliche oder nobilitierte höhere Beamte sowie für 112 subalterne Beamte gezahlten Gehaltssumme.^' Der Adelsanteil am Einkommen des Domkapitels lag zur gleichen Zeit bei 82 %. Jenseits der Verwaltungszentrale hatte sich der stiftsfähige Adel für seine Stammherrn noch die obersten Verwaltungspositionen in den 13 Ämtern des Landes, die Drostenstellen, gesichert. Hier bestand in der Bezahlung eine ebenso große Uneinheitlichkeit wie bei den Hofämtern. Das Einkommen der Drosten setzte sich aus einem Geldgehalt, Naturalanteilen und Nutzungsrechten zusammen. Die Möglichkeiten, dieses Einkommen durch verschiedene Arten von ,Handsalben' aufzubessern, waren außerordentlich zahlreich. Das regelmäßige Einkommen der Drosten schwankte um 1800 zwischen einem Minimum von 500 RT (Amt Werne) und einem Maximum von 1 756 RT (Amt Wolbeck); die meisten Drosten bezogen ein Einkommen von ca. 1 ООО RT im Jahr.^" Über die Kumulation von Verwaltungs- und Hofämtern war es Domherrn, Offizieren und Stammherrn möglich, ihre Einkommen aus Gehältern bzw. Rittergütern noch einmal erheblich zu steigern. Zwei Beispiele von Spitzenverdienern sollen das veranschaulichen: Clemens August v. Merveldt (geb. 1722) erhielt um 1780 als 72

Obristmarschall 2000 fi., als Obristküchenmeister 2800fl., als Geheimer Rat 1 ООО fi. (insgesamt 3 835 RT); sein Gehalt als Statthalter des Kurfürsten im Vest Recklinghausen betrug umgerechnet 1055 RT; als adliger Rat für das Vest erhielt er noch einmal 144 R T und als Drost zu Wolbeck flössen ihm ca. 1500 R T zu ; insgesamt besaß er also ein Einkommen von 6 534 R T aus sechs verschiedenen Gehältern. Clemens August v. Korff-Schmiesing (geb. 1749) erhielt um 1780 als Regierungs- und Hofrat 1937 RT, als Geheimer Rat 500 RT, als Obristmarschall 1333 RT, insgesamt also 3 770 R T im Jahr aus drei verschiedenen Gehältern; als Kriegsrat war er ohne Gehalt.^' Das jährliche Ämtereinkommen, das sich der stiftsfähige Adel gesichert hatte, war ein bedeutsamer Faktor in seiner wirtschaftlichen Gesamtrechnung und wurde von den Familien, z . B . bei der Regulierung des Erbfalls, fest einkalkuliert. Der spätere Bürgermeister von Münster, Hüffer, schätzte um 1800 das jährliche Einkommen des stiftsfähigen Adels aus den geistlichen Ämtern und Pfründen ,,des Domkapitels, der Propsteien, der Kollegiatskirchen und der adlige Fräuleinstifter"^^ auf 160000 RT; das war eine Schätzung, die eher zu niedrig als zu hoch lag, wenn man bedenkt, daß das adlige Domkapitel zu dieser Zeit allein jährlich zwischen 80 ООО und 100000 R T im Jahr unter sich aufteilte und daß wenigstens sechs bis acht der Damenstifter des Münsterlandes durchschnittlich jeweils zwischen 8 ООО und 12 ООО R T im Jahr einnahmen. Zählt man an Ämtereinkommen aus Verwaltung, Militär und Hofämtern noch einmal 50000 R T zu den Hüffersehen 160000 R T hinzu, so ergibt sich ein Betrag von 210000 RT, den das Fürstbistum dem stiftsfähigen Adel jährlich an Ämtereinkommen garantierte. Die in den anderen umliegenden geistlichen Staaten gesicherten Ämter und Pfründen mitgerechnet, haben die untersuchten 25 münsterländischen Adelsfamilien ein Ämtereinkommen von schätzungsweise 7 0 % dieses Betrages, d.h. jährlich ca. 150 ООО R T pro Jahr in ihren Reihen gesichert, d. h. ca. 6000 R T pro Familie; das entsprach dem Bruttoeinkommen eines größeren Rittergutes im Münsterland. Ein solches Einkommen bezog z . B . eine Familie, in der der Vater Drost (1 ООО RT), der erstgeborene Sohn Offizier (800 RT), der zweitgeborene Sohn Domherr mit 2 Pfründen (3 500 RT) und drei Töchter Stiftsdamen (insgesamt 1200 RT) waren. Solche Familien kamen innerhalb der untersuchten Gruppe recht häufig vor, repräsentieren insofern die dem Durchschnittseinkommen entsprechende Familie. Real war die Teilhabe der verschiedenen Familien an diesen Ämtern - wie oben dargestellt wurde - jedoch äußerst unterschiedlich;^^ doch kann man sagen, daß der Anteil des Ämtereinkommens am Gesamteinkommen der Familien zwischen 20 und 35 % schwankte.

4. A u s g a b e f a k t o r e n , Verschuldung und ö k o n o m i s c h e G e s a m t l a g e bis 1770 Angesichts dieser sicheren, auf grundherrschaftlichen Besitz und Ämter gegründeten Einkommenslage des Adels wäre eine günstige ökonomische Gesamtlage zu vermuten. Doch es standen dem Einkommen ebenso umfassende, häufig sogar Ausgaben gegenüber, die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, der Zeit, in der der Adel sich innerlich reorganisierte, zunehmend gesteigert hatten. D a waren zum einen die erheb73

liehen Ausgaben, die sich aus den Verpflichtungen des Vaters zur standesgemäßen Erziehung und Versorgung der Kinder durch Heirat oder Ämter ergaben. Dazu kamen die Erbabfindungen für die nachgeborenen Söhne und die Töchter. Auch die verwitwete Mutter mußte unterstützt werden. Die einzelnen Faktoren dieser aus Familienbindungen fließenden Belastungen lassen sich für die Zeit um 1770 als Durchschnittswert angeben. Die Witwenversorgung lag damals bei ca. 1100 R T im Jahr; die Brautschätze (Mitgiften) erforderten eine einmalige Aufwendung von ca. 3000 R T ; die Erbabfindungen für nicht heiratende Töchter waren etwas geringer, die der nachgeborenen Söhne etwas höher als die Brautschätze. Zu diesen Abfindungskosten kamen die Ausbildungskosten; für die Töchter, die nur eine Gouvernante mit einem Gehalt von 50 bis 100 R T pro Jahr erhielten, lagen sie relativ niedrig, für die Söhne äußerst hoch. Der Hofmeister der Söhne erhielt neben der Kost im Durchschnitt 150 bis 300 RT/Jahr. Die Ausbildungskosten steigerten sich aber extrem, wenn die Söhne, gemäß dem adligen Erziehungsideal der Zeit, mit einem Hofmeister und einem Bedienten die Universität besuchten und zum Abschluß ihrer Ausbildung mit diesem eine ein- bis zweijährige Kavalierstour durch Europa absolvierten. Die Kosten hierfür waren immens: Studium und Reise der Brüder Ferdinand und Werner v. Plettenberg in den Jahren 1707-1711 kosteten z . B . 15750 R T ; Paul Burchard v. Merveldt erhielt zwischen 1780 und 1795 eine Ausbildung, die insgesamt 14400 R T erforderte. Maximilian v. Merveldt (geb. 1797) absolvierte zwischen 1814 und 1818 eine KavaÜersausbildung alten Stils, die insgesamt 17405 R T verschlang. August v. Nagels teils schon modern, teils noch adlig-altständisch ausgerichtete Ausbildung zwischen 1816 und 1822 kostete noch immer 11268 R T . Allein für die einjährige Kavalierstour der aus einer wenig vermögenden Familie stammenden zwei Brüder v. Korff im Jahre 1795/96 wurden ca. 5000 R T ausgegeben. Unvollständige Angaben in anderen Adelsarchiven zeigen auf, daß Ausbildungskosten zwischen 10 ООО und 15 ООО R T für zwei Söhne - in der Regel wurden immer zwei Söhne zusammen von einem Hofmeister erzogen und unterrichtet - im 18. Jahrhundert durchaus normal waren. Zu den Ausbildungskosten traten die Ämtererwerbskosten. War eine Präbende über Familienbeziehungen oder fürsdiche Gunst nicht zu erlangen, so mußte sie gekauft werden. Eine Stiftspräbende für die Töchter kostete zwischen 500-1 ООО R T ; eine Domherrnpräbende zwischen 10000 und 15000 R T . Überaus häufig erlangte man aber eine Präbende über den erstgenannten Weg; dann entstanden aber immer noch Amtsantrittskosten von 1 ООО bis 2 ООО R T bei einem Domherrn, 300 bis 500 R T bei einer Damenstiftspräbende.^® Für die Equipierung eines Offiziers waren zwischen 500 und 1000 R T aufzuwenden. Zwar wurden bisweilen auch die Offiziersstellen gekauft; doch sind hierüber keine konkreten Verkaufsverhandlungen und Verkaufspreise überliefert. Faßt man die bisher genannten Kosten in einer Schätzung zusammen, so läßt sich sagen, daß, niedrig geschätzt, ein Domherr, die Erbabfindung eingeschlossen, bis zur ersten Nutzung der Präbende ohne Ämterkauf ca. 10000 bis 13 ООО R T , mit Ämterkauf ca. 20000 bis 28 500 R T an Geldaufwendungen erforderte; ein Offizier brauchte 6 ООО bis 7 ООО, eine Stiftsdame 3 500 bis 5 ООО R T und eine heiratende Tochter 4 ООО bis 5000 R T . Ein Stammherr mit zwei Söhnen und drei Töchtern - vorausgesetzt die 74

Söhne wurden Domherr und Offizier, zwei Töchter gingen ins Damenstift und eine Tochter heiratete - hatte in einer Generation ca. 30000 bis 45 ООО R T für die standesgemäße Versorgung seiner Kinder, also mindestens 5 bis 8 Bruttojahreseinkünfte aus einem großen Rittergut (ca. 6000 bis 7000 R T ) , von denen die münsterländischen Stammherrn im Durchschnitt zwei besaßen, aufzuwenden;^® dazu kamen wahrscheinlich noch zumindest zeitweise die jährlichen Witwenversorgungskosten von ca. 1100 R T . An dieser Rechnung zeigt sich einerseits, daß die Ämtereinkommen und Einkommen aus den Nachlässen der unverheirateten Onkel und Tanten den Stammherren sehr willkommen sein mußten und eine Bedarfsdeckungswirtschaft nach dem Vorbild der Hausväterliteratur bei solch hohen, zudem zeitlich konzentriert anfallenden Geldaufwendungen nicht mehr möglich war, andererseits, daß die Belastung des Stammherrneinkommens durch Kosten, die sich aus Familienbindungen ergaben, mit einem Anteil von ca. 15 % des Einkommens aus Grundbesitz während einer Generation (25 Jahre) - Abfindungen und Brautschätze lagen niedrig - keineswegs so drükkend waren, daß eine zunehmende Verschuldung unausweichlich folgen mußte. Doch zu den bisher dargestellten Versorgungs- und Ausbildungskosten trat seit Ende des 17. Jahrhunderts ein umfassender, zusätzliches Geldeinkommen voraussetzender, ständisch gebundener höfisch-adliger Prestigekonsum. Dieser diente der ,Repräsentation und Prätention von Macht' (v. Kruedener) und damit einerseits der Aufrechterhaltung und Steigerung fürstlicher, aber auch adlig-ständischer Herrschaft in der Epoche des höfischen Absolutismus, andererseits der effektiven Erfüllung der beanspruchten Herrschaftsfunktionen in Grundherrschaft, Amtsbezirk und fürstlicher Residenz. Schloßbau und der verstärkte Übergang des Adels zum Stadtleben im 18. Jahrhundert steigerten den Geldbedarf der Familien außerordentlich; erst recht aber stieg dieser Geldaufwand durch die stärkere Ausrichtung des Adels auf den Hof in der Residenzstadt Münster während des 18. Jahrhunderts bis 1770/80, d. h. durch den für diese Zeit nachweisbaren stetig anwachsenden Prestigekonsum in bezug auf Kleidung, Schmuck, Kutschen, Pferde, Veranstaltung von Festen, Jagdgesellschaften.^^ Nur ein geringer Teil des Einkommens blieb für produktive Investitionen, z . B . für Güterkäufe, übrig. Die reiche münsterländische Familie v. Droste-Vischering besaß um 1770 zwar 20 Rittergüter; aber davon waren ihr 16 durch Erbe oder Heirat, nur 4 durch Kauf zugefallen. Zu nennenswerter Kapitalbildung ist es selbst bei den reichsten Adelsfamilien - von den an befreundete Familien ausgeliehenen Kapitalien einmal abgesehen - nicht gekommen; es sei denn, eine Familie konnte einen Fürstbischof stellen; dann flössen in der Regel umfassende Kapitalien aus Subsidien und anderen landesherrlichen Einkünften, die schnell zu Schloßbauten, Kauf von Rittergütern oder Stiftung gut dotierter Familienämter verwandt wurden, dem Familienbesitz zu.^® Folge dieses Ausgabeverhaltens war: Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wuchs die Schuldenlast in nahezu jeder Adelsfamilie an, während sich gleichzeitig wegen der fortschreitenden zahlenmäßigen Schrumpfung des Standes und eines durch das Erfordernis der Ahnenprobe eng beschränkten Heiratskreises mit jedem Erbfall das Grundvermögen derselben Familien mehr oder weniger schnell vergrößerte. Die Zunahme der Grundbesitzkonzentration durch Güterkäufe des Adels war demgegenüber wesentlich geringer. 75

Auf Tilgung der Schulden wurde wenig Wert gelegt; zur Bezahlung der Zinsen nahm man neue Kredite auf; und es war für den Adel nicht schwer, sie zu bekommen. Die zahlreichen Stiftungen zu milden und frommen Zwecken sowie die kirchlichen, landesherrlichen und ständischen Kassen suchten, da der Geldkreislauf wenig intensiv war, ständig nach günstigen und sicheren Anlagemöglichkeiten für ihre Kapitalien; mit ihnen konkurrierte das reiche städtische Bürgertum, das seine Ersparnisse risikolos zu nutzen, sein Vermögen in eine sichere Rente zu verwandeln suchte. Gegenüber den oberen und mittleren stadtbürgerlichen Schichten fungierte der Adel so z . B . als eine Art Sparkasse, die die Altersversorgung alleinstehender Frauen sicherte oder das Erbvermögen noch unmündiger, unter Vormundschaft stehender Waisen vergrößerte. Von Krisen-, z . B . Kriegszeiten abgesehen, zeigten die Gläubiger ebensowenig Neigung zur Rückforderung des Kapitals wie der Adel zur Tilgung der Schulden. Da die adligen Schuldner ihre Zinsen stets regelmäßig zahlten, war der Zinssatz mit 3—4 % recht günstig.'® Eine reale Gefährdung des Familienbesitzes entstand während des 18. Jahrhunderts aus dieser Verschuldung nur in wenigen Fällen. Zunächst deshalb, weil die Geldaufnahmen von den Standesgenossen indirekt, d. h. durch genaue Beobachtung und vielfältige Ermahnungen, kontrolliert wurden; dann aber auch, weil der Kredit des Adels tendenziell ein Personalkredit war. Es gab im Fürstbistum Münster kein Hypothekenbuch und der Adel wandte sich energisch gegen alle Versuche, das Hypothekenwesen zu verbessern, den Kreditmarkt durchsichtiger zu gestalten. Es gelang ihm so zu verschleiern, daß ein erheblicher Teil der Rittergüter fideikommissarisch gebunden war, eine Tatsache, die, wäre sie allgemein bekannt gewesen, seinen Kredit stark gemindert hätte."" Erst bei Konkursen, die sehr selten blieben, wurde die fideikommissarische Bindung des Gutes sichtbar; es durfte nicht zur Tilgung der Schulden verkauft werden, blieb in der adligen Familie und erholte sich zumeist in einem Jahrzehnte währenden Entschuldungsprozeß; den Schaden hatten die Gläubiger. Fideikommissarische Bindung der Güter und fehlendes Hypothekenwesen hielten die Güter- und Geldmobilität innerhalb des Fürstbistums in engen Grenzen; die tendenzielle Einengung des Kredits auf Personalkredite begünstigte die Anlage von Kapitalien beim Staat oder beim Adel, der seiner Umgebung den Reichtum seiner Familien ständig eindrucksvoll darstellte. Der Grad, den die Verschuldung des Adels erreichte, ist nur in Umrissen zu bestimmen; doch läßt sich auf jeden Fall feststellen, daß die nach dem Siebenjährigen Krieg aufkommenden Klagen von Adelsfamilien über ihre Verschuldung stärker waren als diese selbst. Ursache der Klagen war eine plötzliche Geldnot, in die der Adel dadurch geriet, daß seine Gläubiger während des Siebenjährigen Krieges ihre Kapitalien loskündigten; manche Adelsfamilie konnte sich nur noch durch ein vom Kurfürsten gewährtes Moratorium h e l f e n . D i e Einkommenseinbußen während des Krieges trugen dazu bei, diese Krisenstimmung kurzzeitig noch zu intensivieren. Da sich jedoch die Verhältnisse nach dem Siebenjährigen Krieg schnell wieder normalisierten, vergaßen die meisten Adelsfamilien rasch die Gefahren, die dem Familienbesitz infolge der Verschuldung drohten. Am Beispiel zweier Familien, deren Stammherrn innerhalb des Adels wegen ihrer als unzulässig erachteten einseitigen Orientierung am 76

höfischen Leben und höfischen Aufwand zuungunsten des traditional-ständischen Prinzips der Sicherang des Familienbesitzes als .Verschwender' galten und deren Verschuldung man als katastrophal ansah, lassen sich Aufschlüsse über die reale Verschuldung des adligen Besitzes gewinnen. Um 1700 gründete der Fürstbischof Friedrich Christian V. Plettenberg, seine Einkünfte zugunsten seiner Familie verwendend, durch den Ankauf mehrerer Rittergüter für insgesamt 468 ООО RT, die er zum Großteil seinem Neffen Ferdinand übergab, die Linie v. Plettenberg-Nordkirchen/^ Auf dem Rittergut Nordkirchen ließ er bis 1712 ein prachtvolles Schloß bauen; für die Bauarbeiteii hatte er bis zu seinem Tode 1712 108000 RT aufgewandt, und der Schloßbau war noch keineswegs abgeschlossen. Zur Fertigstellung des Schlosses Nordkirchen investierte sein Neffe Ferdinand noch einmal 133000 RT, so daß die Schloßbaukosten bis 1732 auf 241 ООО RT stiegen. Ferdinand v. Plettenberg, erfolgreicher Politiker und Minister am Hofe des Kurfürsten zu Köln und des Kaisers zu Wien, vergrößerte den Besitz der Linie noch einmal beträchtlich, gewann der Familie Reichsstandschaft und Reichsgrafentitel hinzu, steigerte aber auch das Ausmaß der Verschuldung. Als er 1737 in Wien starb - durch außerordentlichen Reichtum und hohes Prestige war die Familie über den westfälischen landsässigen Adel hinausgewachsen und hatte sich in den Wiener Hofadel integriert - hinterließ er Schulden in Höhe von 247000 RT. Sein Sohn Franz Joseph lebte am Wiener Hof, heiratete in den Wiener Hofadel und verletzte damit eine weitere im münsterländischen Adel geltende Verhaltensnorm: die Orientierang am stiftsfähigen westfälischen Adel als Heiratskreis; mit seinem Vater hatte er nur noch die Neigung zum außerordentlichen Aufwand nach höfischen Normen, nicht aber das Einkommen aus Staatsämtern gemeinsam, so daß die Verschuldung stark voranschritt. Dessen Enkel Max Friedrich, vaterlos aufgewachsen und ebenfalls wieder in den Wiener Hofadel heiratend, war der „Verschwender', der die Schulden beim Hauptgläubiger der Familie, dem Fürsten Sayn-Wittgenstein, auf 478 ООО RT anwachsen ließ und damit sowie durch die französische Okkupation des Rheinlands alle Besitzungen außerhalb Münsterlands verlor. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts stand ein Großteil seiner Güter unter Zwangsverwaltung. 1811, nach Regulierang der 478 ООО RT Schulden, waren die Max Friedrich verbleibenden Güter noch mit 153 ООО RT belastet, hatten aber zu dieser Zeit ein von den französischen Steuerbehörden geschätztes Brattojahreseinkommen von 85 ООО RT und einen versteuerbaren Reinertrag von 27166 RT. Rechnet man die Steuern zu 20 % des Reinertrags, so ergibt sich daraus, bei einer Kapitalisierang zu 3 %, allein ein Grandwert von 725 ООО RT. Der Verschuldungsgrad des gesamten Güterkomplexes lag damit bei 52 %; zum Vergleich sei angeführt, daß die ostelbischen Kreditinstitute des preußischen Adels, die sogenannten Landschaften, eine Verschuldung bis zu 50 % zuließen, aus einer solchen Verschuldung also noch keine schwerwiegenden Folgen für den Gesamtbesitz ableiteten."® Das zweite Beispiel einer starken Verschuldung durch das Leben am Hof e bietet der Freiherr Hermann Adolph v. Nagel-Vornholz, der zu Anfang der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts zu einer Kavalierstour aufbrach und vom Wiener Hof erst nach nahezu einem Jahrzehnt wieder ins Münsterland zurückkehrte. Durch Schulden von über 40 ООО RT steigerte er die Gesamtverschuldung der Familie auf über 80 ООО RT."" 77

Das Bruttoeinkommen der Güter Vornholz, Welschenbeck, Wohnung, Stromberg und Nienborg belief sich um 1770 im zehnjährigen Durchschnitt auf ca. 15600 RT; nach den schon angeführten Umrechnungsbedingungen ergibt sich daraus ein Güterwert von 168 ООО RT und ein Verschuldungsgrad von 48%. Die Schulden der meisten münsterländischen Adelsfamilien lagen, soweit sie festgestellt werden konnten, deutlich unter den 80000 RT des .Verschwenders* v. Nagel. Alle Anhaltspunkte deuten somit darauf hin, daß der Verschuidungsgrad der meisten Adelsfamilien die Grenze von 30-35 % des Güterwertes zumeist nicht überschritten hat. Bei sicherem Ämtereinkommen sowohl des Stammherrn wie auch der nachgeborenen Söhne und nicht heiratenden Töchter und bei steigenden Preisen können die ökonomischen Grundlagen des münsterländischen stiftsfähigen Adels um 1770 noch als stabil bezeichnet werden.

C . Verhalten und Bewußtsein 1. Die Familienordnung

1.1 Ursprüngliche Probleme der

Familienordnung

Auf einer Ebene unterhalb des Standes hatte sich die Adelsfamilie, hier verstanden im Sinne eines legitimen, agnatisch begrenzten Blutsverbandes, im internen Verteilungskampf um die vom Stand errungenen und gesicherten Lebenschancen durchzusetzen. ' Enge Beziehungen zum Kaiser, zum Papst und zum Lehns- und Landesherrn, der die meisten der angestrebten Privilegien, Ämter und zum Teil auch noch Lehen vergab, Verbindungen zu relevanten Personen an Höfen und in wichtigen Ämtern sowie Prestige innerhalb des eigenen Standes waren die dominierenden Mittel, sich unter den Bedingungen knapper, von vielen erstrebter Ämter, die einen ausgezeichneten, hochbewerteten Lebensstil ermöglichten, durchzusetzen und zu erhalten.^ Die wesentliche Grundlage für ein Bestehen der Familie in dieser Auseinandersetzung bildete der Besitz großer Rittergüter. Wer ein solches, oder gar mehrere davon besaß, für den war die Gefahr gebannt, in eine bedeutungslose Stellung innerhalb oder gar jenseits des Standes abzusinken. Die außerordentlich hohe Aufmerksamkeit, die in den verschiedenen auf eine Familienordnung abzielenden Urkunden auf die Lösung der Verteilungsproblematik innerhalb der adligen Familie gerichtet wurde, verweist darauf, daß es nicht genügt, die ökonomische Gesamtlage einer adUgen Grundherrschaft allein aus der Einnahmeund Ausgabeentwicklung des Ritterguts als Wirtschaftsbetrieb in seiner Abhängigkeit von Agrarkonjunkturen und Krisen der verschiedensten Art zu bestimmen. Für die adUge Familie als Konsumtionsverband auf der Grundlage des Rittergutes war die Regelung der aus Familienverpflichtungen sich ergebenden Ausgabelasten von außerordentlicher Wichtigkeit. Von der Höhe der Familienlasten hing in starkem Maße die 78

Sicherheit des Familienbesitzes ab. Sucht man die Grundbedeutung der Formel „Erhaltung adligen Stammes und Namens",^ die im 17. Jahrhundert zum festen Bestandteil der auf die Adelsfamilie bezogenen Urkunden gehörte, zu bestimmen, so lassen sich zwei Hauptziele der im 17. Jahrhundert deudich verstärkten Bemühungen um eine modifizierte und verbesserte Familienordnung folgendermaßen beschreiben: Es galt zum einen die Familienkontinuität generativ und auch durch eine ungefährdete Traditionsweitergabe zu sichern; zum anderen aber, den Familienbesitz, vor allem den in dieser Zeit als Machtbasis so wichtigen Grundbesitz, zu erhalten und, wenn möglich, noch zu erweitern. Der vorindustriellen Denkweise in bezug auf den Bodenbesitz gemäß, lag der Schwerpunkt der adligen Organisationsmaßnahmen dabei deudich bei den Bemühungen um Erhaltung, weniger um Erweiterung des Besitzes. Die adlige Familienordnung suchte den Konsum der Familie im weitesten Sinn zu regeln, indem sie das aus dem Familienbesitz fließende arbeitsfreie Einkommen und andere in der Familie gesicherte Lebenschancen auf die Familienmitglieder aufteilte. Den Familienlasten wurde dabei die größte Aufmerksamkeit gewidmet, weil von ihnen stärkste Gefährdung des Familienbesitzes ausging.' Drei Ereignisse im Lebenszyklus der Familienmitglieder waren seit jeher mit großen ökonomischen Belastungen, wegen der dabei konkurrierenden Anforderungen der Familienmitglieder aber auch mit Konflikten verbunden: Der Erbfall beim Tod des Vaters, die Ausstattungskosten bei der Heirat der Kinder, insbesondere die Versorgung der heiratenden Söhne, die Morgengabe und Witwenversorgung für deren Frauen und die Brautschätze der heiratenden Töchter; nicht zuletzt aber die Kosten für àie Ausbildung der Söhne und Töchter sowie deren Versorgung mit einem Amt oder einer Pfründe. Infolge dieser nicht unerheblichen Kosten für die Ausstattung und Versorgung der Kinder kam es häufig zu Kollisionen zwischen zwei primären Familienzielen: Die Notwendigkeit - trotz hoher Kindersterblichkeitsrate - der Gefahr des Aussterbens in der folgenden Generation zu entgehen, führte zu einer positiven Bewertung hoher Kinderzahlen; denn dadurch besaß man einen Ersatz für die möglicherweise bis zum Zeitpunkt der Großjährigkeit und Heiratsfähigkeit sterbenden Kinder, vor allem für die Söhne. Eine hohe Kinderzahl konnte aber zugleich falls viele Kinder das heiratsfähige Alter erreichten oder den Vater überlebten - die Realisierung des zweiten Familienziels, die Erhaltung des Grundbesitzes verhindern.® Dieser Gegensatz hatte seit dem Mittelalter neben anderen Ursachen immer wieder dazu geführt, daß adlige Familien ausstarben, verarmten und zur Bedeutungslosigkeit absanken. Hier lag der ursprüngliche Ansatzpunkt für alle familienpolitischen Organisationsmaßnahmen. Der soziale Wandel während des 16. und 17. Jahrhunderts, die ökonomische Krise infolge des Dreißigjährigen Krieges und die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts verschärfte Abschließung der Ritterschaft warfen zusätzliche Probleme auf, die auch das Verhalten der Standesangehörigen auf der Ebene der Familie betrafen. Durch eine Fülle von testamentarischen Bestimmungen, Anordnungen in Ehepakten, Geschwister- und Familienverträgen, zuletzt auch durch Fideikommißstiftungen haben mehrere Generationen, aufgrund zumeist mehrmals wiederholter negativer Erfahrungen an einer spezifischen Familienordnung des münsterländischen Adels gearbeitet. In der Regel suchten die Familienväter, aber auch an79

dere Familienmitglieder, bei ihren urkundlichen Dispositionen - allein schon, um Konflikte zu vermeiden und ihre Bestimmungen wirksamer auf Dauer zu stellen - den Rat und die Zustimmung der Verwandten und Freunde, die die Ehepakten, Geschwisterverträge etc. dann mit unterschrieben und auf diese Weise die Einhaltung der Verabredungen - auch nach dem Tod einzelner Familienmitglieder - garantierten. Hier lag der Ansatzpunkt für eine Vereinheitlichung der Anordnungen in den Familienurkunden über die Einzelfamilie hinaus. Als Ergebnis dieser Ordnungsbemühungen hat sich dann über vielfältige Zwischenlösungen am Ende des 17. Jahrhunderts das seitdem allgemein im münsterländischen und katholischen westfälischen Adel insgesamt geltende, der Hausordnung des hohen Adels verwandte Modell einer Familienordnung, vorwiegend ein Erb- und Heiratssystem, herausgebildet, das zum Teil in das geltende Adelsrecht aufgenommen wurde, zum Teil aber auch nur auf dem Konsens der Familienhäupter beruhte.

1.2 Elemente der Familienordnung Erst eine Analyse der konkreten Bestimmungen der vom Ende des 17. Jahrhunderts bis 1770 nur noch unwesentlich veränderten Familienordnung des münsterländischen Adels kann aufweisen, auf welchem Wege und mit welchem Erfolg dieser Adel die Hauptprobleme auf der Ebene der Familie, die Sicherung des Besitzes und der Kontinuität sowie die von der Ebene des Standes her delegierte Aufgabe, den Prozeß der Distanzierung vom nichtstiftsfähigen Adel zu unterstützen, gelöst hat. Soweit es der Klarstellung dient, wird mit der folgenden Behandlung der wichtigsten Teilprobleme innerhalb der Familienordnung und der Art ihrer für alle Standesangehörigen verbindlichen Lösung ein kurzer historischer Rückblick auf den Problemlösungsverlauf bis 1770 verbunden.

a) Der Erbfall heim Tode des Vaters Beim Tod des Vaters und Stammherrn wurde die Nachfolge in dessen Stellung als Familienhaupt nach den Prinzipien des Agnatenverbandes und der Primogenitur geregelt. Der älteste Sohn folgte dem Vater in die Position des Stammherrn, d. h. auch in den gesamten Familienbesitz, den er - entsprechend dem Fideikommißgedanken nicht als Individuum besaß, sondern im Auftrag des Fideikommißgründers sowie dessen Nachfahren, d.h. aller gegenwärtigen und zukünftigen Familienmitglieder, nur verwaltete. Die fideikommissarische Bindung des Grundbesitzes - die durch ein spezifisches Rechtsgeschäft auf Dauer festgesetzte Unteilbarkeit, Unveräußerbarkeit und erschwerte Verschuldbarkeit eines Gutes - war eine gesamteuropäische Erscheinung innerhalb des Adels. Nur hinsichtlich des Durchsetzungszeitpunktes und des Ausmaßes, in dem der Familienbesitz gebunden wurde, sind Unterschiede nachzuweisen.' In Westfalen hat sich die Fideikommißlösung über eine Vielzahl von Zwischen80

stufen hinweg entwickelt. Schon das Lehnssystem begünstigte den Mannesstamm der Familie. Die Töchter erhielten aus dem Lehnsgut nur eine Abfindung, während ihnen vom Allod zunächst noch ein Kindsteil (portio) zustand; doch hat sich auch hier spätestens im 17. Jahrhundert das Abfindungssystem im großen und ganzen durchgesetzt. In der Regel wurde darüber hinaus zwischen dem Erbrecht an väterlichem und mütterlichem Gut unterschieden. Bei letzterem bestand bisweilen noch bis ins 18. Jahrhundert beim Adel ein Erbrecht der Töchter. Im allgemeinen galt aber wohl, daß die Töchter mit der Versorgung durch Heirat oder eine Pfründe auf alle Anrechte aus väterlichem und mütterlichem Gut verzichteten. Infolge der Auflösung des mittelalterlichen, die Unteilbarkeit des Gutes auf Herkommen und lehnsrechtliche Grundlagen aufbauenden, im Unterschied zum Fideikommiß aber z . B . Konkurse nicht ausschließenden Stammgutprinzips dominierte im 15. und 16. Jahrhundert die gleichberechtigte Brüderteilung. Allod und Lehen wurden unter den Brüdern aufgeteilt, oft auch dann, wenn nur ein Gut im Besitz der Familie war. Nur langsam haben die Familienväter während des 17. Jahrhunderts die Brüderteilungen zugunsten einer Wiederaufnahme des Stammgutgedankens und einer Durchsetzung des Majoratsprinzips, nach dem nur der älteste Bruder die Güter erbte und die nachgeborenen Söhne ausbezahlt wurden, wieder zurückdrängen können.® Erst mit der Ausbreitung der Fideikommißregelung um 1700 waren diese endgültig ausgeschlossen. Die Erfahrung des Aussterbens oder des Absinkens einer großen Anzahl einst mächtiger Geschlechter infolge von Erbteilungen und kostspieligen Erbprozessen hat die Rezeption der Fideikommißlösung am stärksten begünstigt. Durchsetzbar wurde diese Lösung, weil nach 1648 Friedenszeit und außerfamiliäre Entwicklungen die Position des Haus- und Familienvaters, seine Verfügungsgewalt über die Kinder, erheblich steigerten: Mit dem Ende des Krieges gingen den Söhnen die Offiziersstellen in den Söldnerheeren des Auslands, v. a. des Reichs, verloren. Deutscher Orden und Malteserorden waren endgültig in die Bedeutungslosigkeit abgesunken und boten nur noch wenige, in ihrer Mehrzahl zudem schlecht dotierte Stellen. Eine Militär- oder Beamtenkarriere im Ausland wurde nun außerordentlich erschwert, weil die Offiziersstellen des stehenden Heeres wenig zahlreich und hart umkämpft waren, zudem zunehmend stärker unter den Einfluß der Adelsfamilien des Landes gerieten. Nur über Konnexionen der Familie und den Einsatz erheblicher Geldmittel war eine solche Karriere im Ausland noch realisierbar. Gleichzeitig waren die Familienväter infolge der Reorganisation und fortschreitenden Stärkung des Standes sowie steigender Einkommen aus Grundherrschaft und Ämtern, mit denen sie neue Versorgungsstellen fundierten, in der Lage, den Söhnen, die eine Karriere im Ausland anstrebten, sichere, gut dotierte, allerdings in ihrer Mehrzahl mit dem Zölibat verbundene Ämter in erheblicher Zahl anzubieten.' Die Friedenszeit nach 1648 wurde so zur Zeit der starken Familienväter, die nicht nur die ständische Position festigten, sondern auch von ihren Kindern nun generell Verhaltensformen erzwangen, die in Einklang standen mit der von ihnen gewünschten uneingeschränkten Anerkennung des größeren ökonomischen Handlungsspielraum gewährenden Stammgutprinzips bzw. der fideikommissarischen Bindung des Familienguts, dem Majoratsprinzip als Nachfolgeordnung und dem Abfindungsprinzip als Ersatz der Erbteilung. 81 6

Reif, Adel

Das Ergebnis ihrer Bemühungen um eine einheidiche adlige FamiUenordnung hielten fünf münsterländische Stammherrn am Ende des 17. Jahrhunderts fest, indem sie, in der damals üblichen Form, in der auch das Neue lediglich als Bestätigung des Gewohnten erschien, erklärten: Demnach im hiesigen löblichen Süft und Fürstbisthumb Münster in puncto primogeniturae inter filios Nobilium vermoegh woll und uhralt hergebrachter Gewohnheit umb conservation adlichen Stamm und Namens der ältester alleinig succedire, die jüngre Brüder aber wie auch die Schwester respectivo gegen ein apenagium und standesmäßigen Brautschatz von den Stammguettern abgesondert sein und bleiben. So thuen wir dieses mit eigenhändiger Unterschrift und Pittschaften bezeugen."*

b) Heirat des

Stammherrn

Die Heirat des Stammherrn, die zunächst einmal die Kontinuität der Familie auf generativer Ebene sichern sollte, war darüber hinaus ein Vorgang von außerordentlicher Reichweite. Nicht nur die Brautleute, sondern die Eltern und alle anderen Familienangehörigen, Verwandte und Freunde, der Stand, und selbst der Landesfürst als Lehnsherr und Wahrer der Landesreligion waren daran unmittelbar interessiert. Die große Bedeutung dieses Ereignisses wird nicht zuletzt auch daran sichtbar, daß sich bei Auswahl des Ehegatten und der Eheeinleitung beim Aushandeln der Eheschließungsbedingungen und bei der Aufsetzung der Urkunde die Eltern, Verwandten und Freunde, wie Formeln in den Eheverträgen und die Unterschriftenreihen zeigen, unmittelbar beteiligten. Eine Vielzahl von Intentionen überlagerten sich in diesem Fall derart, daß die Harmonie zwischen den zukünftigen Eheleuten als lediglich marginale Voraussetzung der Eheschließung angesehen werden konnte. Der Wille der Eltern, Verwandten und Freunde trat vor den des Brautpaares. Zunächst war die Heirat unter ökonomischen Gesichtspunkten ein wichtiges Ereignis. Die Braut wechselte den Familienverband und gewann in der neuen Familie ein Anrecht auf Schutz, Unterhalt und Fürsorge. Da sich der Brautvater gleichzeitig dieser Aufgaben entledigte, mußte er einen Ausgleich dafür aus seinem Besitz entrichten, den sogenannten Brautschatz. In vielen Eheverträgen, z. В. dem des Johann Ferdinand v. Droste-Senden und der Charlotte v. Brabeck vom 17. 8. 1715 wurde dementsprechend betont, der Brautschatz werde gezahlt, ,,um die Bürde solches Ehestandes nun dem Herrn Bräutigam in etwas zu erleichtern . . Darüber hinaus gewährte der Brautvater der heiratenden Tochter noch eint Ausstattung, die in der Regel aus Kleidern, Schmuck und Haushaltsgegenständen bestand, aber auch durch einen zusätzlichen Geldbetrag abgegolten werden konnte.^^ Anderen als diesen relativ geringen Besitz brachte die mit ihrer Heirat auf Erbansprüche aus elterUchem Gut verzichtende Ehefrau nicht mit. Dem entsprach, daß eheliche Gütergemeinschaft strikt ausgeschlossen war. Um die Anrechte der Frau zu sichern, wurden in den Ehevertrag, in Abhängigkeit von der Brautschatzhöhe, auch spezifische Gegenleistungen der neuen Familie an die Braut aufgenommen. Die Morgengabe, ein Geschenk des Bräutigams am Tage nach der Hochzeit, bestand bis 82

ins 17. Jahrhundert entweder aus einem Bauerngut, zu Besitz oder Nutznießung, aus einem Geldbetrag oder aus Schmuck. Im 18. Jahrhundert ist dann ein Geldbetrag oder eine jährliche Rente üblich geworden.^® DzsNadelgeld sollte der Frau eine stets ausreichende standesgemäße Kleidung sichern, wurde aber erst am Ende des 18. Jahrhunderts allgemein üblich und betrug ^/ю bis V20 des Brautschatzbetrages. Das Spielgeld, ein Taschengeld für die Frau, erscheint nicht in allen Eheverträgen mit einem festgesetzten Betrag, war aber wohl eine durch Herkommen gesicherte Leistung des Ehegatten. Dort, wo Beträge fixiert waren, lagen sie bei ca. 50 Reichstaler pro Jahr für jeweils 3000 Reichstaler Brautschatz. Die 'Witwenversorgung sicherte den Lebensunterhalt der Frau, wenn ihr Ehemann starb und der älteste Sohn die Leitung der Familiengüter übernahm. Sie bestand entweder in der Nutzung eines ländlichen Witwensitzes auf einem Nebengut der Familie oder in einer Stadtwohnung, zumeist in Münster, und einer Geldrente. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde die Stadtwohnung, die in stärkerem Maße als der ländliche Witwensitz den Übergang des Adels zur Geldwirtschaft voraussetzte, zur dominierenden Lösung des Problems der Witwenversorgung. Die verstärkte Tendenz des Adels zum saisonal gebundenen Stadtleben seit Anfang des 18. Jahrhunderts hat die Durchsetzung dieser Lösung begünstigt. Die Versorgung der Witwe war, da sie gewöhnlich nicht im Haushalt des heiratenden ältesten Sohnes bleiben durfte, seit jeher ein kritischer Punkt in der Familienordnung. Trotz vertraglicher Zusicherung wurde ihre Rente oft geschmälert oder ihr gar vorenthalten; da sie in der Regel Rückhalt an ihrer Herkunftsfamilie suchte und fand, entstanden gerade um diesen Punkt der Eheverträge die meisten Prozesse. Mit der allgemeinen Durchsetzung des Stammguts- bzw. Fideikommiß-Systems wurde auch die Versorgung der Witwe sicherer, weil nun nur noch der älteste Sohn für die Zahlung der Witwenversorgung zuständig war. Daß es dennoch mit der Fürsorge um die verwitwete Mutter auf dem ländlichen Witwensitz oder in der Stadt häufig schlecht bestellt war, wird erkennbar an den in Testamenten des Vaters auftretenden Bitten und Befehlen, in denen die Söhne dringend aufgefordert werden, sich um ihre Mutter weiterhin zu sorgen. Die Lage der Witwe besserte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts auch insofern erheblich, als ihr in vielen Fällen die lebenslange Nutznießung der Familiengüter nach dem Tode ihres Mannes in den Ehepakten oder im Testament zugestanden wurde, ein Vorzug, den man in früheren Zeiten nur Erbinnen eingeräumt hatte. Diese Aufwertung der Ehefrau war wohl nur möglich, weil in der Regel der älteste Sohn und zukünftige Stammherr infolge der Besitzkonzentration auf ein Nebengut der Familie ausweichen konnte. Häufig verzichtete die Witwe aber in fortgeschrittenem Alter auf dieses Nutzungsrecht und übertrug dem ältesten Sohn die Güter schon zu ihren Lebzeiten. In der Regel wurde die Übertragung des lebenslänglichen Nutzungsrechts an die Mutter mit einer Klausel verbunden, in der ihr das Einwilligungsrecht bei der Heirat des ältesten Sohnes zugestanden wurde. Die Muner und Witwe setzte so die Kontrolle des verstorbenen Vaters über den ältesten Sohn und zukünftigen Stammherrn fort. Zwei Regelungen in den Eheverträgen wirenunter ökonomischen und familienpolitischen Gesichtspunkten von besonderer Wichtigkeit; sie betrafen die kinderlose Ehe und die Wiederverheiratung der Witwe. Blieb die Ehe kinderlos, so erfüllte sie ein we83

sentliches Familienziel nicht. In diesem Fall fiel beim Tod der Frau ihr Brautschatz an die Herkunftsfamilie zurück. Die Herkunftsfamilie der Ehefrau hatte also, solange noch keine Kinder vorhanden waren, weiterhin beschränkte Vermögens- und Schutzrechte an der Tochter. Erst mit der Geburt des ersten Kindes ging die Ehefrau ganz in den Famiiienverband des Ehegatten über und erwarb ein Anrecht auf lebenslange Unterstützung. Deshalb waren auch noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts Witwenrente und Morgengabe von Kindern abhängig gemacht. Diese Regelung hat man jedoch im Laufe des 18. Jahrhunderts aufgegeben und der Witwe sogar, über ihre normale jährliche Witwenversorgung hinaus, Geldbeträge in Höhe des von ihr eingebrachten Brautschatzes und ihrer Morgengabe oder eine zusätzliche Aufstockung ihrer jährlichen Bezüge gewährt.^" Schritt die Witwe zu einer weiteren Ehe, so verlor sie die Vormundschaft über ihre noch unmündigen Kinder, die sie zumeist zusammen mit zwei männlichen Familienmitgliedern oder Freunden der Familie ausübte; die Kinder verblieben bei der Familie des verstorbenen Vaters. Zudem büßte sie in der Regel ihren Anspruch auf die Witwenversorgung ein.^^ Aber die Ehe des zeitlichen oder zukünftigen Stammherrn hatte nicht nur diesen Versorgungsaspekt. Auf einer anderen Ebene dienten die Heiraten dazu, das von der Ritterschaft aufgebaute Privilegien- und Ämtermonopol aufrechtzuerhalten und zunehmend zu verengen, also rein standespolitischen Zielen. Die fortschreitenden Abschließungstendenzen des stiftsfähigen Adels fanden ihre Entsprechung zum einen in Aussagen über die Ziele der Ehe. Hier dominierte vor 1700 eine die Fortpflanzung adliger Nachkommen und adligen Stamms sowie die Vermehrung der katholischen Kirche und der christlichen Religion betonende Formel. Im 18. Jahrhundert fiel das religiöse Ziel wieder weg, da Gegenreformation und ständische Reorganisation abgeschlossen waren; im 19. Jahrhundert, unter den Bedingungen des protestantischen preußischen Staats, wurde es dann wieder aufgenommen.^^ Da innerhalb des Standes, auch innerhalb der allein vom Adel besetzten Dom- und Stiftskapitel, wichtige Entscheidungen durch Wahl oder Mehrheit gefällt wurde, war die Heirat auch wichtig unter dem Aspekt der Erhaltung oder Neugründung politischer Bündnisse, sogenannter ,Freundschaften'. Nahezu in allen Eheverträgen ist deshalb die Erhaltung oder Begründung von ,Freundschaft' als Eheziel formelhaft festgehalten. Große ,Freundschafts'-Kreise garantierten nach dem Reziprozitätsprinzip bedeutenden politischen Einfluß. Zum anderen schlugen standespolitische Ziele sich nieder in Heiratsvorschriften der Familienurkunden, in denen katholische Religion und eine bestimmte Zahl adliger Ahnen als Nachweise der Stiftsfähigkeit von der zukünftigen Braut des Stammherrn gefordert wurden. Die eheliche Partnerwahl, zumindest die des ältesten Sohnes und Nachfolgers in die Familiengüter, durfte den Anspruch der nachfolgenden Familienmitglieder auf die in Stand und Familie gesicherten Ämter und Versorgungsmöglichkeiten nicht gefährden; nur wenn die Nachkommen stiftsfähig blieben, konnten die einmal von den Familienmitgliedern erworbenen Ämter an Verwandte weitergegeben werden und so der Familie dauernd erhalten bleiben. Zusätzlich legten die Testamente noch fest, daß die Heirat, selbst wenn die Braut stiftsfähig und katholisch war, nur mit Einwilligung der Eltern stattfinden dürfe. Hielt sich der älteste Sohn nicht an diese Vorschriften, so verlor er sein Anrecht 84

auf Nachfolge in die Familiengüter; nachgeborenen Söhnen und Töchtern entzog man, wenn sie ohne Erlaubnis heirateten, ihren Anspruch auf Abfindung oder Brautschatz. Infolge dieser strengen Heiratsordnung kam es im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts zu einer immer stärkeren regional und ständisch gebundenen Beschränkung des Heiratsmarktes. Die Söhne mit Heiratserlaubnis suchten ihre Ehefrauen innerhalb eines durch den katholischen, stiftsfähigen Adel des Münsterlandes und Westfalens gebildeten Heiratskreises.^ Mit der dadurch zunehmenden Homogenität des Standes der münsterländischen Ritterschaft ergaben sich neue Möglichkeiten für effektive Ordnungsmaßnahmen, aber auch Gefahren. Einerseits erlaubte der überschaubare Heiratskreis die wirksame Installation neuer Kontrollen; so ließ sich z.B. innerhalb der begrenzten Zahl der den Heiratsmarkt kontrollierenden Familienhäupter ein Konsens über Brautschatzhöhe, Witwenversorgungen und Abfindungen leichter herstellen oder der Zahlungsmodus für die Heiratskosten so regeln, daß eine zu drükkende Verschuldung des Brautvaters ausgeschlossen war; andererseits verringerte sich die Zahl der Familien, die diesen Heiratskreis bildeten mit der Zeit derart, daß kirchliche Dispense wegen Heirat in zu naher Verwandtschaft überaus häufig notwendig wurden. Auf die daraus resultierende Gefährdung von Legitimität und Solidarität des Standes infolge zunehmender Besitzkonzentration und interner Polarisierung wurde schon hingewiesen.^® Die besonders intensive Kontrolle der Erbtochterheiraten sicherte zwar den Güterbestand innerhalb des Heiratskreises, verschärfte aber die Probleme nochmals, da ein Stammherr, der eine Erbtochter heiratete, die Zahl der Familien um eine weitere reduzierte. Deshalb ging man zunehmend dazu über, daß Zweitsöhne Erbtöchter heirateten und eine Nebenlinie gründeten oder aber durch Namensübernahme die Linie der Frau fortsetzten. Trotz dieser gleichsam gegensteuernden Maßnahmen ist aber der Prozeß der Kumulation von Rittergütern in der Hand der Familien des stiftsfähigen münsterländischen Adels im Laufe des 18. Jahrhunderts infolge der strikten Heiratspolitik verstärkt fortgeschritten.^® Barg die Anhäufung von Rittergütern in der Hand weniger Familien langfristig gesehen auch Gefahren, so wurde sie doch zunächst einmal familienintern zu einer weiterführenden Regelung des Heiratsverhaltens genutzt. Zumeist heiratete der älteste Sohn in früheren Jahrhunderten erst nach dem Tode des Vaters; ein vorzeitiger Verzicht des Vaters auf die Rolle des Familienhauptes war in Analogie zu den Fürstenhäusern nicht üblich. Eine solche Regelung hätte auch die zur Aufrechterhaltung der Familienordnung notwendige Autorität des Vaters zu sehr geschwächt. Im Unterschied zu den Bauernfamilien, in denen die mit zunehmendem Alter nachlassende Arbeitskraft ein relativ zuverlässiger Maßstab für den Zeitpunkt der Übergabe eines Gutes an den Sohn darstellte, war das Alter des Vaters im Adel kein Grund für die Ausbildung einer spezifischen Alterslösung. Aber eines seiner Güter abzutreten, zur Verwaltung oder zum Besitz, war dem Vater ohne Gesichtsverlust durchaus möglich. Das Heiratsdatum des ältesten Sohnes wurde durch eine solche Maßnahme vom Todesdatum des Vaters weitgehend unabhängig; es konnte herabgesetzt werden, wenn es das Interesse des Vaters, z. В. an der Vermeidung eines Konflikts mit seinem nach Selbständigkeit strebenden ältesten Sohn, erforderte. Dem Konflikt, der im Zusammenleben 85

der Eltern mit dem ältesten Sohn auf einem Gut angelegt war - dieser Konflikt war immer dann wahrscheinlich, wenn der Vater ein nach den Maßstäben der damaligen Zeit hohes Alter erreichte - wurde durch eine solche Nebenhaus-Lösung vorgebeugt.^^ Starb der Vater, so verließ die Witwe, vorausgesetzt der älteste Sohn war großjährig und verheiratet, den Stammsitz der Familie und bezog den ländlichen oder städtischen Witwensitz, der ihr in den Ehepakten zugesprochen worden war; der als Nachfolger designierte älteste Sohn verließ das Nebenhaus und zog auf den Stammsitz. Eine erweiterte Familie, d. h. in diesem Falle eine Familie, in welcher der überlebende Elternteil integriert war, wurde aus Gründen der Konfliktminderung ebenso gemieden wie die Form der Stammfamilie.

c) Heirat der Töchter Die Heiraten der Töchter des Stammherrn unterlagen, da sie in der Regel Stammherrn aus dem eigenen Heiratskreis heirateten, ebenfalls den oben dargestellten familienund standespolitischen Motiven. Im Falle der Tochterheiraten wirkten ökonomische und standespolitische Motive sogar besonders intensiv zusammen. Die Brautschätze, die in der Regel in den Besitz des Mannes übergingen, waren dann für die Familie der Tochter nicht verloren, wenn vorstellbar wurde, daß sie in einer späteren Generation durch Heirat eines Sohnes für die Familie zurückgewonnen werden konnten. Das war dann möglich, wenn die Töchter immer wieder Männer heirateten, die aus einem begrenzten Kreis von Familien kamen, dessen Reichtum als Ganzes gesehen auf diese Weise konstant blieb. An dem durch den Brautschatz der Tochter gesteigerten Reichtum einer Familie konnte man wiederum teilnehmen, indem Söhne, Enkel, Urenkel etc. dereinst eine von deren Töchtern heirateten. Die Erkenntnis des französischen Anthropologen Lévy-Strauss, daß Heiratsordnungen in traditionalen Gesellschaften nicht neue Verwandtschaftsgruppen, sondern Allianzen von Verwandtschaftsgruppen nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit begründen, läßt sich auf das Heiratsverhalten des münsterländischen Adels, auf seine durch Heirat gestifteten ,Freundschaften' und den durch das Kriterium der Stiftsfähigkeit eng gehaltenen Heiratskreis, der dem Stand seinen Reichtum an Ämtern und Grundbesitz erhielt, voll anwenden. Konkreter vorstellbar war eine solche Langzeitreziprozität, wenn die Mitgift aus Land bestand. Wahrscheinlich stammt deshalb das vom Adel im 17. und 18. Jahrhundert konsequent ausgebaute endogame Heiratsmuster aus weit früherer Zeit.^' Im Gegensatz dazu waren die Brautschätze bei Wahl eines Partners aus regional entfernten Adelsgruppen nicht mehr in diesem Sinne kalkulierbar. Sie waren in einem solchen Fall für Familie und Stand verloren und - damit wird ein weiterer Vorteil des regional begrenzten Heiratsmarktes sichtbar - er mußte in der Regel auch wesentlich höher liegen, als es in der eigenen Heiratsregion üblich war; denn im engeren regionalen Heiratskreis konnte man in dem Maße, in dem das geschlossene Heiratssystem fest etabliert war, die Brautschätze auf einem außerordentlich niedrigen Niveau gleichsam einfrieren, ohne daß sich die Heiratschancen der Töchter entsprechend verringerten. Im extremen Fall, einen vollkommen gleichgewichtigen Austausch von Ehepart86

nern zwischen den Familien vorausgesetzt, hätte das Heiratssystem auch ohne Brautschätze für die Töchter funktionieren können. So wird verständlich, daß die Brautschätze trotz steigender Lebenshaltungskosten und deutlicher Verbesserung der Einkommenslage des Adels im 18. Jahrhundert auf relativ niedrigem Niveau gehalten und bald mit den ebenfalls relativ niedrigen Erbabfindungen der Töchter gleichgesetzt werden konnten. Auszahlung des Brautschatzes und vollständiger Erbverzicht der heiratenden Töchter fielen seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in der Regel in einem Rechtsakt, gleichsam einer Erbschaft vor dem Tode des Vaters zusammen.^" Dieses System basierte auf der Dominanz des Mannesstamms in der Erbfolge und dem fehlenden Erbrecht der Frauen. Die für das Stadtbürgertum und auch den nichtstiftsfähigen Adel des Fürstbistums geltende eheliche Gütergemeinschaft Schloß der stiftsfähige Adel deshalb nicht nur für seinen Lehnsbesitz, sondern für jeglichen Eigenbesitz strikt aus. Sie stand schon dem Lehnswesen, das die Sicherung des Lehnsgutes im Mannesstamm verlangte, erst recht aber diesem System des geschlossenen Heiratskreises auf der Grundlage ungeteilten Grundbesitzes entgegen; denn die Brautschätze wären, da der Besitz des Bräutigams im Falle einer Übernahme der Gütergemeinschaft die Berechnungsgrundlage für die Höhe des Brautschatzes abgegeben hätte, extrem gestiegen und die Wiederverheiratung des überlebenden Elternteils hätte, da die Kinder erster Ehe ,abzuschichten' waren, die Güterteilung erzwungen.^* Weil aber der Austausch der Töchter nicht völlig gleichgewichtig stattfand, weil das Vermögen und das Ansehen der Familie, in die eine Tochter hineinheiratete, die Höhe des Brautschatzes nicht unwesentlich mitbestimmte, vor allem aber, weil über Erbtochterheiraten erhebliche Besitzerweiterungen möglich waren, blieb die Heirat der Töchter auch weiterhin in erheblichem Maße von ökonomischen Überlegungen beeinflußt. Vor allem dann, wenn große, aber verschuldete Güter im Besitz einer Familie waren, suchte man durch eine Erbinnenheirat aus den finanziellen Schwierigkeiten herauszukommen. So schrieb z . B . der Rentmeister Löhers, der die Güter der Familie V. Nagel verwaltete, an seinen hochverschuldeten Hausherrn, den jungen Hermann Adolph v. Nagel, um ihn von Wien ins Münsterland zurückzulocken, am 5 . 6 . 1 7 5 3 : . . . ich kann versichern, daß Ew. Gnaden nicht geringe Hoffnungen sich machen könten, zu der Fräulein von Velen, indehm bereits 2 competenten abgefertigt seyen, und derselben h. Valter sie an keinen anderen als einheimischen Cavallier verheyraten will; was könte Ew. Gnaden auf der Weld nicht glücklich seyen?

Doch wurden die Besitzverschiebungen, die sich aus Erbinnenheiraten ergaben, vom Stand genau registriert und diskutiert; das zeigt z. B. die Mitteilung desselben Rentmeisters an seinen Herrn am 3. 6. 1755, in der es heißt: ,,Herr von Westphalen wird heyraten, die älteste Fräulein von Asseburg, mithin werden die große Güter combinirt."®^ Im Unterschied zu den Verhältnissen in anderen Adelsregionen war das an die Heiraten geknüpfte Gewinnmotiv jedoch nicht so stark, daß es vor 1770 die ständischen und regionalen Grenzen des Heiratskreises auch nur partiell aufzuheben vermochte.^^

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d) Versorgung und Ausbildung nicht heiratender Töehter und nachgeborener Söhne Seit dem Mittelalter war es im münsterländischen Adel üblich, einen Teil der Töchter, um die Heiratsausgaben der Familie niedrig zu halten, mit kirchlichen, an das Zölibat gebundenen Versorgungsstellen auszustatten. In dem Maße, in dem die Brüderteilungen eingeschränkt wurden und die nachgeborenen Söhne sich von weltlichen auf geistliche Ämter, vor allem auf das Domkapitel, umorientierten bzw. umorientiert wurden, stieg auch die Zahl der Töchter ohne Aussicht auf eine Ehe, und damit das Bedürfnis der Adelsfamilien nach weiteren sicheren, das Zölibat fordernden kirchlichen Pfründen. Die Familienhäupter versuchten deshalb ihren Anteil an den Pfründen in adligen Stiftern und Klöstern der Umgebung zu erweitern. Dort, wo dies auf dem Wege des Kaufs oder der Ausnutzung von Familienverbindungen nicht gelang, stifteten sie mit erheblichen Kapitalien Familienpräbenden. Seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts war es so den Familienvätern möglich, zumindest die Hälfte ihrer Töchter ohne Schwierigkeiten mit Stiftsstellen zu versorgen. Die Kosten für die Ausbildung der nicht heiratenden Töchter blieb gering, da die Bildungsanforderungen an die Anwärterinnen auf Pfründen des Damenstifts außerordendich niedrig waren. Den Kauf einer Stiftspräbende übernahm der Stammherr; dazu kam eine schmale Abfindung. Beide Ausgaben kamen ungefähr dem Brautschatz der heiratenden Schwester gleich. Auch hier folgte nach dem Amtsantritt der Erbverzicht. Die ,kavaliersmäßige' Ausbildung der nachgeborenen Söhne war außerordendich teuer, vor allem für die zukünftigen Domherrn, für die ein Auslandsstudium Pflicht war. Die Kosten für die Ausbildung und den Erwerb eines Amtes zahlte der Stammherr; doch wurden letztere in der Regel als Vorschuß auf die Erbabfindung betrachtet. Statt des vor der Durchsetzung der Majorats- und Fideikommißlösung üblichen Erbteils erhielt der nachgeborene Sohn seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zumeist nur noch eine im Vergleich zum Gesamtwert des Familienbesitzes sehr niedrige Restabfindung. Eine Heirat wurde infolgedessen, auch dann, wenn sie ein von Zölibatsforderungen freies Amt besaßen, äußerst selten. Wenn sie heirateten, dann zumeist in relativ hohem Alter, wenn ihr Amtseinkommen ihnen den Kauf eines Rittergutes erlaubte. Die geringe Abfindung ließ die Begründung einer selbständigen, standesgemäßen Existenz in jungen Jahren nicht zu. Die Aufgabe der generativen Reproduktion des Standes fiel, wegen des mit den Domkapitelstellen verbundenen Zölibats und der - wenn überhaupt - späten Heirat der weltliche Ämter annehmenden nachgeborenen Söhne, vorwiegend den Stammherrnehen zu, so daß ein den internen Wettbewerb steigerndes, die Standessolidarität belastendes zahlenmäßiges Anwachsen des Standes weit über die Zahl der von ihm gesicherten Pfründen und Ämter hinaus nicht zu befürchten war.^" Es trat vielmehr das Gegenteil ein.

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e) Regelungen zur Zahlung der Familienlasten Den Brautschätzen der heiratenden Töchter wurde deshalb besondere Aufmerksamkeit geschenkt, weil mit diesen ein Teil des Familienvermögens in eine andere Familie überging und der Bräutigam zumeist auf schnelle Ubergabe dieses Vermögens Wert legte. Im späten Mittelalter bestand der Brautschatz noch weitgehend aus Landbesitz ; bis um die Mitte des 17. Jahrhunderts setzte er sich zum Teil aus Land, zum Teil aus Geld zusammen. Im 18. Jahrhundert herrschte dann - da das meiste Land inzwischen im Stammguts- oder Fideikommißverband gebunden war und als Folge des fortschreitenden Übergangs des Bauern wie des Adels zur Geldwirtschaft - die Geldlösung allgemein v o r . ' ' Schon im Mittelalter wurde, wenn ein Geldbetrag im Brautschatz enthalten war, derselbe in Raten innerhalb von zwei bis drei Jahren ausbezahlt; doch mußte der ausstehende Rest nach dem in der Region üblichen Satz verzinst werden. Im 18. Jahrhundert, als der Brautschatz nur noch über Geld reguliert wurde, waren Fristen von fünf und mehr Jahren die Regel. Aber auch die Rente mit weit herausgeschobenem Auszahlungstermin des Kapitals, z. B . nach dem Tod des Vaters, kam daneben häufig vor. Eine plötzliche Aufkündigung des gesamten В etrages wurde in den Eheverträgen häufig nachdrücklich ausgeschlossen. Zwar war eine Belastung des Fideikommißguts zum Zwecke der Brautschatzzahlung ebenso wie zum Zwecke der Abfindungszahlung durchaus erlaubt; doch zeigte die Neigung zur Raten- und Rentenlösung an, daß man sich bemühte, die Brautschatzkosten - dem Fideikommißgedanken entsprechend - vorwiegend aus den laufenden Einnahmen des Gutes zu bestreiten. Eine Aufnahme von Geldkapitalien zu diesem Zweck war wohl nur dann notwendig, wenn mehrere Töchter kurz hintereinander heirateten. Dann halfen zumeist die Onkel und Tanten in den geistlichen Versorgungsanstalten, oder aber Verwandte und Freunde dem Stammherrn mit einem Geldbetrag aus seinen Schwierigkeiten.^' Da auch der zukünftige Stammherr zumeist kurz nach der Zeit der Auseinandersetzung mit seinen Geschwistern heiratete, konnte der Brautschatz seiner Frau zur Bezahlung der Brautschätze der Schwestern in Aussicht genommen werden. Nach diesem Ausgleich und der Zahlung eventuell noch vorhandener Schulden wird wohl selten noch so viel übrig geblieben sein, um zusätzliche Anlagepläne, den Brautschatz der Frau betreffend, zu schmieden. Vorschriften über die Verwendung des Brautschatzes, z. B. seine Festlegung zum Kauf von Landbesitz, fehlen deshalb in den Ehepakten des 18. Jahrhunderts. Da man zum Zeitpunkt der Eheschließung noch nicht wissen konnte, wieviel Kinder geboren und wieviel davon das heiratsfähige Alter bzw. die Großjährigkeit erreichen würden, war es unüblich, die Abfindungsbeträge der nachgeborenen Söhne und nicht heiratenden Töchter schon im Ehevertrag festzusetzen. Das geschah meist erst im Testament des Vaters, der zur Zeit der Testamentserrichtung schon die auf seine Familie zukommenden Lasten genauer kalkulieren konnte. In der Regel begann die Verzinsung der Abfindungen für die Töchter und nachgeborenen Söhne mit dem 18. Lebensjahr. Wenn sie großjährig geworden waren, also mit 21 bzw. 25 Jahren, konnte die ratenweise Auszahlung erfolgen. Bis zu diesem Zeitpunkt war aber in der Regel 89

für die nachgeborenen Söhne und die unverheirateten Töchter ein Amt oder eine Versorgungsstelle erworben, so daß die noch ausstehende Abfindungssumme nicht ausbezahlt, sondern nur verzinst wurde. Als reale finanzielle Belastungen der Güter, die zumeist auch über Darlehen gedeckt werden mußten, blieben so auf der Familienebene nur die Ausbildungs-, Reise- und Ämtererwerbskosten der nachgeborenen Söhne; die Kosten für den eventuell notwendigen Kauf von Stiftsstellen für nicht heiratende Töchter waren gegenüber diesem Ausgabefaktor vernachlässigbar gering. Erst wenn alle Abfindungs- und Versorgungsansprüche der Geschwister bestimmt, wenn auch noch nicht in jedem Fall abgegolten waren, pflegte der älteste Bruder und zukünftige Stammherr zu heiraten; hier liegt ein Grund für das relativ hohe Heiratsalter der Stammherren im münsterländischen Adel. Faßt man die Haltung der münsterländischen Familienväter zur Regulierung der Familienlasten zusammen, so gilt wohl auch für diesen Adel das Urteil, welches Forster in seiner Untersuchung über den Adel von Toulouse hinsichtlich des gleichen Problemkomplexes fällt: Shrewd and economical, this provincial nobility had long since abandoned the aristocratic tradition of largesse. As with other expenses, the burden of family settlement was met in a businesslike manner.^'

f ) Lösungen zur Sicherung von generativer Kontinuität und

Traditionsweitergabe

In den Urkunden, die am Ende des 17. Jahrhunderts die Fideikommiß-Qualität der Familiengüter begründen sollten, bemühten sich die Familienhäupter, alle Fälle eventuell notwendig werdender Nachfolge in den Familienbesitz genau zu erfassen, um den bisher so verderblichen Erbprozessen, die so mancher Familie den Ruin gebracht hatten, auszuweichen. Alle Veränderungen innerhalb der Familie und im Familienbesitz, so wurde festgelegt, welche die Anrechte der Familienmitglieder tangierten, konnten nur mit deren Kenntnis und Zustimmung durchgeführt werden, z.B. substanzielle Veränderungen des Gutes, Adoptionen oder Ehen zur linken Hand, d.h. Ehen, mit einer standesungleichen Person, bei denen die Kinder von Adelsrang und Erbansprüchen ausgeschlossen waren. Die beiden letztgenannten Formen der Familienerweiterung wurden von den Familienräten zumeist dann abgelehnt, wenn dadurch standesfremde Personen, denen man einen Mangel an Familiensolidarität unterstellte, in die Familie eindringen konnten, so daß eine Störung oder gar ein Abbruch der Familientradition zu befürchten war. Nur wenn die neue Ehefrau oder der Adoptierte aus dem eigenen Heiratskreis kamen, wurden Ehen zur linken Hand und Adoptionen als relativ problemlos angesehen und akzeptiert; es sei denn, das Motiv, sich seine Anrechte nicht schmälern zu lassen, sorgte für weitere Verwirrung.^' Starb der älteste Bruder vor der Heirat oder blieb er ohne Kinder, so verließ der nächstälteste Bruder seine Pfründe oder sein Amt, heiratete, zog auf das Familiengut und setzte mit seinen Kindern die Stammlinie fort. Vorwiegend aus diesem Grunde nahmen die Domherren in jungen Jahren nur die niederen Weihen, so daß sie leicht mit päpstlichem Dispens die geistliche Laufbahn wieder verlassen konnten. Nicht nur beim Tod 90

des ältesten Bruders, auch bei sichtbar werdender Kinderlosigkeit der Ehe des gegenwärtigen bzw. zukünftigen Stammherrn hatten die nachgeborenen Söhne ihre Versorgungsstelle oder ihr Amt zu verlassen, um die Kontinuität der Familie sicherzustellen. Entweder gab der Stammherr seine Position schon zu Lebzeiten auf, oder der nachgeborene Sohn etablierte sich nach seiner Heirat auf einem Nebengut und sorgte für den erforderlichen Nachwuchs. Die Verfügbarkeit der nachgeborenen Söhne in der Nähe des Stammsitzes, wie sie sich mit der fortschreitenden Tendenz derselben zu kirchlichen, vor allem zu Domherrnpfründen durchsetzte, überwandt so die Barriere, die der an generativer Kontinuität interessierten Familienordnung durch das kirchliche Verbot der Scheidung bei unfruchtbarer Ehe gesetzt war. Waren keine Brüder mehr vorhanden, so sukzedierten die Schwestern des verstorbenen letzten Stammherrn, ebenfalls in der Reihenfolge ihres Alters, aber zumeist mit folgender Sonderregelung: Der gewählte Ehemann hatte sich in den Ehepakten zu verpflichten, Namen und Wappen der Familie seiner Frau zu übernehmen oder dem seinen hinzuzufügen. Auch das war eine Adoption, und zwar durch Heirat; aber sie war ultima ratio zur Erhaltung der Familie, und die Familiensolidarität war über die auch für solche Heiraten geltenden familien- und standesspezifischen Heiratsnormen gesichert. Diese Adoption durch Ehe kam in dem Maße häufiger zur Anwendung, in dem die Schrumpfung der Familienzahl als Gefahr für den Stand erkannt wurde. Die Heirat einer Erbin wurde zur erstrebten, wohl fast einzigen Gelegenheit für nachgeborene Söhne, in relativ jungen Jahren zu einer selbständigen Existenz zu kommen. Adoption durch Ehe mit einer Erbin wurde auch von den meisten Familienvätern positiver bewertet als Gründung einer Nebenlinie durch Heirat einer Erbin, weil dadurch der Stand zugleich zahlenmäßig und in seinem Bestand an Familiennamen, d. h. an Familientraditionen, gesichert wurde. Starb der Stammherr und hinterließ unmündige Kinder, so schritt die Mutter oft wieder zur Heirat. In diesem Fall hatte sie die Kinder in der Familie des verstorbenen Mannes zurückzulassen. Enge Verwandtschaft und nahes Beieinanderwohnen der Familien, dazu die ständige Anwesenheit der Tanten und Onkel in den geistlichen Versorgungsanstalten und Ämtern der Umgegend garantierten jedoch ein hohes Maß an Substituierbarkeit des Verstorbenen und der durch Wiederverheiratung aus der Familie austretenden Mutter, so daß die Traditionsübermittlung an die Kinder, vor allem deren Erziehung, während der Vormundschaft keinem zu harten Bruch unterlag."·^ Dennoch waren vor allem beim frühen Tod des Vaters nachteilige Folgen zu befürchten; denn bei dem herkömmlichen arbeitsteiligen und dominant autoritären Erziehungssystem, in dem der Vater stets die oberste Kontrolle ausübte, war ein späteres Fehlverhalten gerade des vom Vater besonders aufmerksam beobachteten zukünftigen Stammherrn, der zudem in solchem Fall sehr früh in den Besitz aller Familiengüter eintrat, eine häufige Konsequenz. Die Vormünder, selbst zumeist Familienväter, konnten nicht so intensiv die Erziehung kontrollieren wie der Vater. Und die Mutter erzog entweder, in übertriebener Imitation des Vaters, zu hart, oder, ihrer hergebrachten Rolle gemäß, zu weich. Auch konnten die Vormünder ihre Aufgaben vernachlässigen, denn sie wurden nur wenig kontrolliert; der Landesherr schritt nur in extremen Fällen ein und dann auch noch zumeist auf Bitten eines der Vormünder."^ 91

Der Tod der Mutter war unter dem Gesichtspunkt der Traditionsweitergabe weniger problematisch, weil die Kinder hier auf Dauer einen Elternteil, nämlich den Vater, behielten. Auch heiratete der Vater nach dem Tod der Mutter meist sehr schnell wieder: vor allem um die Kindererziehung zu sichern, aber auch, weil der Frau wichtige Funktionen in der Hauswirtschaft zukamen, so daß - wenn auch sicher nicht so stark wie in der Bauernfamilie - auch aus ökonomisch-organisatorischen Gründen ein gewisser Zwang zur Wiederbesetzung der Hausfrauenposition bestand.

1.3 Leistungen der

Familienordnung

Durch die Familienordnung wurde die adlige Familie in ihrem Bestand gesichert: 1. Sie regelte den Erbfall, indem sie ihn mit dem Heirats-, Ausbildungs- und Ämtererwerbsfall der Kinder verband, und zwar derart, daß die Aufteilung des Erbes gleichsam vor dem Tode des Vaters schon entschieden und akzeptiert war. So half sie, den Streit der Kinder um den väterlichen Nachlaß zu vermeiden; denn der Vater vergab in seinem Testament nur noch das Ersparte aus dem Reingewinn des Gutes, und zwar zumeist in der Form von Legaten. Der Universalerbe stand durch die Familienordnung fest. Darüber hinaus verhinderte sie, wo es durch den Besitz mehrerer Rittergüter in einer Familie möglich war, durch die Nebenhaus-Lösung den Konflikt zwischen Vater und ältestem Sohn, wegen einer sonst möglicherweise hinausgezögerten Heiratserlaubnis, und auch den Konflikt zwischen Mutter und Frau des ältesten Sohnes und Stammherrn, insofern ein Zusammenleben der alten und der neuen Generation durch Nebenhaus- und Witwensitzlösung vermieden wurde. Die Schutz-, Versorgungsund Plazierungsressourcen der Familie wurden nach einem gestuften Verzichts- und Anrechtssystem auf die einzelnen Mitglieder verteilt. Durch eine unter Beteiligung von Verwandten, Freunden und zum Teil auch Juristen detailliert ausgearbeitete und genau formulierte Erbfolgeordnung hat man einem Erlöschen oder auch nur einem harten Kontinuitätsbruch innerhalb der Familie, vor allem einer Störung der Traditionsweitergabe durch Sozialisation und Erziehung der Kinder, erfolgreich entgegengearbeitet. Insgesamt ließ sich die Familienordnung ständig erweitern, fortbilden und modifizieren, da in jeder Generation über Testamente, Eheberedungen und Familienverträge neue Erfahrungen in Verbote, Ermahnungen und Ratschläge an die Familienmitglieder umgesetzt werden konnten. Eine Folge davon war, daß Testamente und Eheverträge mit der Zeit immer umfassender und detaillierter wurden."^ Problematische, immer wieder Spannung erzeugende Momente in der Familienordnung blieben die Verzichtsanforderungen an die nachgeborenen Söhne und die Töchter. Vor allem wenn der Vater früh starb, konnten hier durch nachträgliche oder erhöhte Forderungen Konflikte mit dem Bruder und Stammherrn entstehen. Auch die Witwenversorgungen boten manchen Anlaß zum Streit, vor allem deshalb, weil diese Ausgabe am stärksten für die Familie verloren erschien und die Witwe andererseits im Konfliktfall zumeist einen sicheren Rückhalt an ihrer Herkunftsfamilie fand. 92

Dennoch läßt sich feststellen, daß die Zahl der Prozesse zwischen Familienmitgliedern bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erkennbar zurückging, eine Tendenz, die zumindest zum Teil auf die Wirkung der Familienordnung zurückzuführen ist.·*^ Welch entscheidende Verbesserung damit verbunden war, wird erst recht deudich, wenn man bedenkt, daß in vorhergehenden Jahrhunderten gerade aufgrund kostspieliger Erbprozesse so manche mächtige Adelsfamilie zugrunde gegangen oder verarmt und infolgedessen in sozial bedeutungslose Positionen abgesunken war. 2. Die Familienordnung ermöglichte eine zeitliche und quantitative Fixierung der durch die Ansprüche der Kinder bedingten ökonomischen Belastung des Familienbesitzes und steigerte damit die Berechenbarkeit dieses wichtigen Ausgabenfaktors, so daß Regelmechanismen zur Begrenzung und gefahrlosen Aufbringung dieser Geldbeträge entwickelt werden konnten, die von zeitweiligen kurzfristigen Einnahmeschwankungen bzw. Veränderungen des Bodenwertes unabhängig waren. Einerseits war auf der Grundlage der Familienordnung die Entwicklung von Regelungen hinsichtlich der Geldbeschaffungs-, Schuldentilgungs- und Zahlungsmodalitäten möglich, andererseits konnten von ihr Maßnahmen zur Reduzierung oder gar Beseitigung verschiedener Ausgabefaktoren (Brautschatz, Abfindung etc.) ausgehen."*® Die ökonomisch bedeutsamen Auswirkungen des Heiratsalters, der Wiederverheiratung, der Heiratsquoten der Töchter und der Ausstattungs- und Ausbildungskosten der nachgeborenen Söhne wurden deutlich ins Bewußtsein gehoben und begünstigten so die Ausbildung von Verfahren zu ihrer Steuerung gemäß familien- und standespolitischen Zielsetzungen. 3. Korrespondierend zu den Aktivitäten auf der Ebene des Standes unterstützte die Familienordnung schließlich auch den Auf- und Ausbau der Ritterschaft als eines Anrechtsverbandes, so weit zu diesem Ziel die Familienorganisation beitragen konnte. Die Übernahme der vom Stand geforderten Bedingungen für die Mitgliedschaft, vor allem des Kriteriums der Stiftsfähigkeit, in ihre Heirats- und Erbordnung hat zur fortschreitenden Homogenisierung der Ritterschaft des Fürstbistums und des stiftsfähigen westfälischen Adels insgesamt beigetragen. Die Familienordnung des münsterländischen Adels war ein arbeitsteiliges Konzept zur Sicherung und Verbesserung der privilegierten Lebenssituation aller Familienangehörigen in einer vorwiegend durch Mangel gekennzeichneten Umwelt. Der Stammherr leitete die Grundherrschaft und übernahm als Landstand Ämter am Hof und in der Staatsverwaltung. Die Geschwister in den verschiedenen geistlichen Versorgungsanstalten sicherten den Familienanspruch an den dortigen Pfründen und Ämtern über ihr Wahlrecht und vor allem über ihre Möglichkeiten als Turnar. Durch dieses Turnarsystem erhielt jeder Pfründer in wiederkehrender Reihenfolge Gelegenheit, eine durch Tod, Ausscheiden etc. frei werdende Position an Kinder des Stammherrn oder andere Verwandte zu vergeben. Die Söhne in anderen Ämtern des geistlichen Staates hatten diese formale Möglichkeit, den Familienanteil an staatlichen und kirchlichen Ämtern konstant zu halten, zwar nicht, doch wirkten ihre Verbindungen zu relevanten Personen und zum Fürsten, die sie mit fortschreitender Karriere aufbauten, in die gleiche Richtung: sie trugen zum „ G l a n z " der Familie bei. Die Grundlage dieses Familienmodells, wie es sich am Ende des 17. Jahrhunderts 93

voll ausgebildet hat und noch am Ende des 18. Jahrhunderts bestand, war die von den nachgeborenen Söhnen und den nicht heiratenden Töchtern geforderte, im Vergleich zu Familien anderer Adelsregionen außerordentlich harte Erb- und Heiratsverzichtsdisziplin. Die Härte dieses Systems wird deshalb betont, weil hierin die spezifische Eigenart der Familienstruktur des münsterländischen und des westfälischen Stiftsadels insgesamt zu sehen ist; denn in den angewendeten Methoden war dieser Stand keineswegs originell, sondern traditional. Der Adel anderer Regionen wie auch die bäuerliche Bevölkerung waren ihm darin v e r w a n d t . D e r entscheidende Unterschied lag aber in der Konsequenz, mit der diese Mittel zur Organisation von Familie und Stand eingesetzt wurden und der damit erreichten Homogenität der Verhaltensweisen dieses Adels. Der durch Heirats- und Erbverzicht fideikommissarisch gesicherte Grundbesitz bot die Grundlage für eine standesmäßige Lebensführung, schützte vor Verarmung und bot allen Familienmitgliedern Zuflucht bei Unglücksfällen oder Krankheit. Wenn jeder in der von ihm erwarteten Weise und in seiner Position zum , Glanz' der Familie beitrug, gewann er Anspruch auf die gestufte Teilnahme an Reichtum, Macht und Prestige der Familie als einer Ausschlußgemeinschaft, ein Vorteil, der nicht nur in sicheren Ämtern, sondern auch in vielfältiger Form als Anerkennung in Alltagssituationen und in dem dadurch ermöglichten Bewußtsein eines hervorgehobenen, außerordentlichen Wertes des eigenen Seins seinen Ausdruck fand. Die ungleichgewichtige Aufteilung der von der Familie gesicherten, zum Teil monopolisierten Lebenschancen provozierte zwar immer wieder Spannungen, führte aber nur selten zu Konflikten, die die ganze Familie hätte gefährden können.·*^ Eine Lebenssicherung im Alleingang war dem einzelnen im 17. und zum Teil auch noch im 18. Jahrhundert, vorausgesetzt, er wollte weiterhin ,standesmäßig' leben, nur sehr selten möglich. Familienziele bestimmten das Verhalten und die Lebenschancen der Eltern und Kinder, nicht der einzelnen Familienmitglieder auf Realisierung ihrer individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten. Die Familie war noch immer die am häufigsten genutzte und wirksamste Form einer Überlebensgemeinschaft auf Gegenseitigkeit in einer Umwelt des Mangels und der Unsicherheit. Ein zusätzliches Motiv zur Wahrung der Familiensolidarität lag darin, daß jedes Mitglied der Familie seine Anrechtsposition innerhalb der Familienordnung infolge von Todesfällen, unstandesgemäßen Heiraten, kinderlosen Ehen, Krankheiten etc. der Verwandten noch verbessern konnte. Die Familienordnung legte deshalb nicht nur die innerfamiliäre Arbeitsteilung, sondern auch den Modus ihrer eventuell notwendig werdenden Veränderung fest. Es gab zusätzlich zum gegebenen Anrechtssystem noch ein potentielles, das dann wirksam wurde, wenn die in der Familienordnung festgelegten Ziele gefährdet oder aber von Familienmitgliedern mißachtet wurden. Diese Aufstiegsmöglichkeiten des einzelnen innerhalb der Familienhierarchie wirkten im Sinne der Familienväter. Sie erzwangen, daß jedes Familienmitglied das andere kontrollierte.·*® Das potentielle Anrechtssystem der Familie band die einzelnen Mitglieder auch dann, wenn sie die ihnen vorgeschriebenen Lebenswege schon länger betreten hatten, an die Familie des Stammherrn zurück.

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1.4 Institutionelle Absicherung Familie und Haus waren im Anden Régime die grandlegenden Einheiten des sozialen Lebens und der gesellschaftlichen Organisation. Die Familie, und nicht der in der ständischen Gesellschaft durch korporative Verbände wie Haus und Stand gegenüber dem Staat mediatisierte einzelne, wurde im Adel als letzte Grandeinheit des Staates betrachtet. Die Bestimmungen der Familienordnung fanden einen starken Rückhalt an,staatlichen' und kirchlichen Normen. Das Lehnssystem, erst nach 1815 in den vor 1803 nichtpreußischen Gebieten "Westfalens aufgehoben, bevorzugte seit jeher den Mannesstamm und die Legitimation von Herrschaft stützte sich bis in die Zeit des monarchischen Absolutismus hinein auf das Deutungsmuster einer hierarchischen Stufung hausväterlicher Herrschaft (Gottvater-Landesvater-Hausvater)."' Der Hausvater übte relativ autonom ordnende und schützende Funktionen aus: seine nur wenig eingeschränkte Gewalt trat innerhalb der Familie vorwiegend als eheherrliche und väterliche Gewalt auf, d.h. als Herrschaft über die Ehefrau, die unmündigen Kinder und die großjährigen Kinder, soweit sie im Haus bUeben o d e r - wie im Fall der Nebenhaus-Lösung - an das Haus gebunden waren. Die unverheirateten Töchter standen ihr Leben lang in der väterlichen Gewalt. Nur die nachgeborenen Söhne wurden aus ihr entlassen, wenn sie sich eine selbständige Existenz aufgebaut hatten. Die Ausübung der Hausherrschaft wurde im altständischen Staat von der Seite des Landesherrn nur wenig kontrolliert, und wenn, dann nicht zugunsten des Individuums, sondern zugunsten des staatlichen Verbandes. Dazu gab ihm die Lehnsvormundschaft, die mit fortschreitendem Ausbau der Landesherrschaft als Obervormundschaft des Landesherrn interpretiert wurde, ein Recht; denn der Landesherr hatte an der zweckmäßigen Vorbereitung seines zukünftigen Lehnsmanns, vor allem an dessen Religions- und Berafserziehung ein unmittelbares Interesse, da von diesen Faktoren die Nutzung des Lehnsbesitzes im Sinne des Fürsten und die Erfüllung der vom Lehn zu leistenden Dienste abhing. Darüber hinaus konnten dem Landesherrn auch Vorgänge, die eine Veränderang der Substanz des Lehnsgutes oder eine Wandlung irt Anrechtssystem der Lehnsnachfolge bewirken mußten, nicht gleichgültig sein. Alle Familienverträge, Namensübernahmen, Wappenerweiterangen, Sukzessionsordnungen, Familienstiftungen, Adoptionen, Ehen zur linken Hand etc. waren ihm deshalb zur Bestätigung vorzulegen.^" Eingriffe des Landesherrn in die hausherrliche Gewalt erfolgten bis ins 18. Jahrhundert hinein jedoch äußerst selten, und zwar vor allem dann, wenn die Vormünder eines aufwachsenden Stammherrn ihre Aufgaben stark vernachlässigten oder wenn durch das Verhalten eines noch unmündigen Stammherrn der Familien- und damit auch der Lehnsbesitz in Gefahr zu geraten drohte, z. B. in Fällen von Verschwendung oder wenn Vormünder den aufwachsenden Stammherrn in einer landesfremden Religion unterrichten ließen.'* Der Hausherr blieb im familiären Ordnungsbereich weitgehend autonom, denn sein Interesse an der В esitzerhaltung ging mit dem des Landesherrn und des Ritterstandes meist völlig konform.®^ Da das Familienordnungsmodell des Adels sich in nahezu allen Familien des Standes relativ gleichzeitig entwickelte, bestand die Möglichkeit, deren Bestimmungen über ständische Initiativen auf den vom Adel beherrschten Landtagen oder durch 95

Wahlkapitulationen als „herkömmliches", stiftsadliges Erb-, Ehe- und Familienrecht zu fixieren. Die katholische Kirche begünstigte seit jeher in ihrer Lehre die patriarchalisch-fürsorgerische Herrschaft des Mannes über die Kinder und die Frau, deren Rechtlosigkeit mit ihrer moralischen und intellektuellen Minderwertigkeit begründet wurde. Auch die Bibel stützte die Autorität des Mannes und rechtfertigte zudem die Heraushebung des ältesten Bruders über seine Geschwister.'' Zwar stand die kirchliche Gesetzgebung des Mittelalters zunächst dem Aufbau eines geschlossenen Heiratskreises entgegen, indem sie Heiraten zwischen Verwandten, und zwar bis zum siebten Verwandtschaftsgrad, verbot; dieses Ehehindernis wurde aber seitdem sukzessiv abgebaut und zudem durch ein großzügig gehandhabtes Dispensrecht des Papstes umgangen."* Eine wesentliche Unterstützung erfuhr die väterliche Heiratskontrolle durch das Konzil von Trient, das zwar einerseits das schon seit dem Mittelalter bestehende Konsensgebot - eine Ehe war nur dann gültig, wenn beide Ehepartner ihre Einwilligung gaben - bekräftigte, andererseits aber auch von den Familienvätern als Heiratskontrollen nutzbare Heiratsvorschriften erließ. Der Ehekonsens war nun vor dem örtlich zuständigen Pfarrer in Anwesenheit von zwei oder drei Zeugen zu bekräftigen; die geplante Ehe mußte von der Kanzel der Heimatgemeinde vor der Eheschließung dreimal verkündigt werden; zuletzt wurde dann noch die Eintragung in ein vom Heimatpfarrer geführtes Trauungsbuch gefordert. Eine Eheschließung der Kinder ohne das Vorwissen der Eltern war durch diese Vorschriften nahezu unmöglich gemacht. In einem Land, in dem bis zum Ende des 17. Jahrhunderts der Adel zum Teil noch protestantisch und das darüber hinaus auch von protestantischen Territorien umgeben war, wirkte sich auch das Verbot von Mischehen zugunsten der väterlichen Kontrollabsichten aus. Da die Ehegerichtsbarkeit in den geistlichen Wahlstaaten bei kirchlichen Gerichten lag, war es den Kindern kaum möglich, eine gültige Ehe ohne Konsens und Vorwissen der Eltern zu schließen.®® So wurde die Entwicklung der Familienordnung sowohl von landesherrlicher als auch von kirchlicher Seite, über physische und psychische Legitimations- und Kontrollmittel in erheblichem Maße abgestützt. Doch noch wesentlich stärker wirkten in gleicher Richtung Mechanismen sozialer Kontrolle auf der Ebene der Familie und des Standes.

1.5 Familieninterne

Absicherung durch soziale

Kontrolle

Die von Generation zu Generation wiederholte Realisierung der anfänglich noch durchaus unfertigen Familienordnung führte zur Bildung einer spezifischen adligen Familientradition, in der sich im wesentlichen zwei Vorstellungsinhalte verbanden. Zum einen die Erinnerung an die Leistungen aller hervorragenden Vorfahren, aus der sich eine in ihrer Genese nicht mehr präsente Vorstellung von Blut, Art oder Geist der Familie als Trägerin ausgezeichneter Personqualitäten und stabiler, Vertrauen verdienender Verhaltensweisen entwickelte. Zum anderen das Bewußtsein der Lebenden, die Beiträge aller Vorfahren, die zum gegenwärtigen ,Glanz' der Adelsfamilie beige96

tragen haben, in sich zu versammeln und durch sich im Handeln zu repräsentieren, und zwar deshalb, weil man den Namen der Familie trug und von einem bestimmten Rittersitz, im Westfälischen ,Haus' genannt, stammte.'® Oft waren ,Haus' und Name der Familie sogar identisch; denn das ,Haus' war der Kristallisationspunkt, in dem die oben dargelegte ,Bedeutung' der Familie und die Vorstellung von einem spezifisch gearteten Grundbesitz, dem Rittergut als Grundlage aller Leistungen der Familie, zusammenflössen.'^ Im Symbol des adligen .Hauses' vereinigten sich in enger und unlösbarer Verknüpfung die Vorstellungen von Personen und Sachen. Halbwachs, der diesen Sachverhalt als erster umfassend analysiert hat, betont aber, daß die Persönlichkeit im Vordergrand steht, daß die besessenen Güter nur sichtbares Zeichen und Ausdruck persönlicher Qualitäten des Eigentümers sind, daß Besitztitel auf Titeln schlechthin beruhen, das wird in der adligen Gesellschaft offenbar, wenn man die Einsetzung in das Eigentum, die Unterscheidung der Ländereien in adelige und nichtadelige . . . betrachtet.®'

Infolgedessen war der adlige Grundbesitz auch immer emotional besetzt und konnte im Normalfall keine vom Bodenmarkt bestimmte Ware werden, so daß auch nichtfideikommissarisch gebundener adliger Grundbesitz, selbst bei hoher, nahezu aussichtsloser Verschuldung, häufig nicht verkauft wurde.'® Andererseits bildeten sich unter diesen Bedingungen auch - wie noch zu zeigen sein wird - keine rein individuellen Bindungen zwischen den Familienmitgliedern aus; die Regel war eher die Stuftung emotionaler Bindungen nach der Stellung in der Familienordnung, z.B. eine relativ enge emotionale Bindung zwischen dem Vater und dem zukünftigen Stammherrn, entsprechend dem obersten Familienziel, der Kontinuitätssicherung. Die Familienmitglieder verkehrten miteinander überwiegend auf der Ebene ihrer durch die Familienordnung festgesetzten repräsentativen Rollen; von ähnlicher Art waren auch die Beziehungen zwischen den Vertretern zweier Familien innerhalb des Standes. Am deutlichsten unterschied sich die adlige Familie von anderen vorindustriellen Familientypen, selbst von der ihr in vielem ähnlichen bäuerlichen Familie, durch die Art und Weise sowie das Ausmaß, in dem es ihr gelang, Traditionen auf Dauer zu stellen, sie stets für sich und Außenstehende präsent zu halten, und durch Wiederholung der immer wieder scheinbar gleichen Erfahrungen und Leistungen den Familienbesitz zu sichern und zu erweitern.*" Bekanntheit der Familie, ihrer besonderen, sie vor anderen Adelsfamilien auszeichnenden Traditionen, Qualitäten, Leistungen gemäß den Forderungen des allgemeinen adligen Verhaltenskodex war das primäre Ziel der Adelsfamilie und jedes seiner Angehörigen: Zwei Adlige, die sich begegnen, ohne sich jemals gesehen zu haben, müßten nach Austausch einiger Sätze in der Lage sein, sich als Mitglieder einer und derselben weitverbreiteten Familie wieder zu erkennen, . . . Das setzt voraus, daß sich in der Klasse des Adels durch Generationen hindurch ein wohlverbundenes Ganzes von Traditionen und Erinnerungen fortpflanzt. Da man in anderen Gruppen nichts dergleichen fand, muß man sagen, daß die Klasse des Adels lange Zeit der Grundpfeiler des Kollektivgedächtnisses gewesen ist . . . Nirgendwo anders ist der Rang einer Familie in solchem Maße von dem bestimmt, was sie selbst und die anderen Familien von ihrer Vergangenheit wissen."

Unter zu wahrendem Besitz der Familie dürfen dabei nicht nur der Grundbesitz, Mobilien. Amter und Pfründen sowie die verschiedenen Formen des Prestigekonsums 97 7

Reif, Adel

verstanden werden, sondern auch andere Formen àtsReichtums, z.B. die oben dargelegten Erinnerungen an die Vorfahren oder religiöse Vorteile durch gestiftete Seelenmessen, Armenspeisungen, Jahrgebete oder gar die große Zahl von Vorfahren und Armen als Fürbitter im Himmel. Alle diese Elemente trugen zur Bedeutung der Familie bei; und diese Bedeutung wurde durch eine große Zahl von Mechanismen als das Ergebnis eines Generationen währenden Kontinuums bewußtgehalten. Die Familie als Gemeinschaft von Lebenden und Toten aktualisierte sich im Toten- und Religionskult. Wie stark selbst im 18. Jahrhundert vorstellungsmäßig die Möglichkeit bestand, eine gleichsam körperlich nahe Gemeinschaft von Lebenden und Toten zu denken, wird daran erkennbar, daß bis in diese Zeit hinein auf den Familienbildern Lebende und Tote zusammen dargestellt werden. Noch Ferdinand v. Galen wurde 1825 durch seine verstorbene Mutter und die toten Verwandten „der Himmel zur Heimat".®^ Zum Totenkult gehörten das repräsentative Begräbnis, das Familiengrab und die kunstvollen, wappengeschmückten Epitaphe in der Pfarrkirche der Gemeinde,'^ der Familienheilige,®^ Denkmäler von Familienangehörigen und die Ahnengalerie, zum Religionskult die Kirchensitze, die Familienkapelle im Schloß sowie der Hausgeistliche, und damit die nahezu sichere Gewähr, nicht ohne Empfang der Sakramente sterben zu müssen. Auf einer anderen, stärker weltlichen Ebene sorgten mündliche Traditionen, z. B. Familienanekdoten, zumeist in Verbindung mit einem im Familien-Schatz aufbewahrten Requisit,aber auch Genealogien sowie Autobiographien von Familienmitgliedern, bewußt zur Erinnerung der Nachfahren hinterlassen, für die dauernde Anwesenheit der Vorfahren im Alltag der Familie.®® Die Namen der Kinder hatten die Aufgabe, das Andenken an die Vorfahren zu festigen und zur Wiederholung von deren Leistung anzuspornen oder àtnReichtum der Familie an religiös-kulturellen Symbolen, z. B. den Besitz eines Familienheiligen, zu signalisieren. Die Familienurkunden im Archiv wurden bei jedem Erb- und Heiratsfall aufs neue befragt. In dem Maße, in dem die Erhaltung des Adelsbesitzes zu einem wichtigen Thema der Urkunden wurde, vor allem mit der Durchsetzung der Fideikommißlösung, gewannen auch die zukünftigen Familienmitglieder neben den Vorfahren einen festen Platz in den Vorstellungen der gerade Lebenden. Schließlich hielt eine Vielzahl von visuellen Eindrücken im Alltagsleben, z.B. der Namenszug und Titel sowie das adlige Siegel unter einem Brief oder einer Urkunde,®^ das Wappen, Bilder, Namen oder Skulpturen von Vorfahren an den verschiedensten Orten und Gegenständen, vor allem am Wohnsitz und in der Kirche, am eindringlichsten aber das Bild des Schlosses selber die Bedeutung und kollektiv gegründete Leistung der Familie im Bewußtsein der Lebenden gegenwärtig. In gleichem Sinne wirkte aber auch die Teilnahme am adligen Lebensstil insgesamt, d. h. zum einen die Herrschaft über Menschen, die freie Verfügung über die eigene Zeit, die Form der Betätigung und abwechslungsreiche Formen der Unterhaltung und Muße, zum anderen aber auch die regelmäßige Bestätigung des hervorgehobenen Werts der Person durch eine Vielfalt von mehr oder weniger alltäglichen Signalen und Ritualen, von der Kleidung, dem Gruß angefangen bis zum Glockengeläut bei einem Todesfall in der Familie oder dem Vorzugsrecht beim Eintritt in die Gemeindekirche. So berichtete z.B. Augustv. Korff in einer Tagebucheintragung vom 7. 12. 1855 über verschiedene, die in einer Doppelschloßanlage nah

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beieinander wohnenden Familien v. Korff und v. Ketteier betreffende Rangstreitigkeiten: Prozesse und Rangstreitigkeiten (hat es) genug zwischen ihnen gegeben, zumal in der Zeit, als Harkotten als Herrlichkeit große Privilegien hatte, wie aus den noch vorhandenen Prozeßakten zu ersehen ist. D i e Ketteier konnten es nicht verschmerzen, daß die K o r f f s die Ersten und Ältesten in Harkotten waren; seit dem 12. Jahrhundert, in welchem die Brüderteilung stattfand. Sie konnten es nicht ertragen, daß den K o r f f s manche Vorrechte in Prozessen anerkannt und zugesprochen wurden, welche namentlich zur Zeit der Herrlichkeit stets ausgeübt wurden. So zum Beispiel das jus praeferentium in Bezug auf Eröffnung der Briefe; der Korff erbrach alle gemeinschaftlichen Briefe zuerst, las sie und dann erst gelangten sie zu Ketteier. Bei Abnahme der Kirchenrechnung erhalte ich noch stets dieselbe zuerst und schicke sie nach genommener Revision zu Ketteier. Beim Zusammentreffen an der Kapellentüre hat stets die Frau v. Korff den Vortritt vor der Frau v. Ketteier, welches jetzt . . . von meiner Schwester noch beobachtet wird. Auch sitzen wir sowohl in der Pfarrkirche als auch in der Kapelle an der Evangelistenseite ..

Die vielen Zeremonien während der repräsentativen Feste der Familie, des Standes, des Staates und der Kirche boten ständig Möglichkeiten zur Aktualisierung der Familientradition und mit ihr der Leistung aller Vorfahren. Überhaupt war für die Selbstdarstellung der adligen Familie nach außen und innen - entsprechend der in vorindustrieller Zeit vorherrschenden, ganzheitlich-sinnlichen, vom konkreten Phänomen bestimmten Warnnehmungs-, Denk- und Erfahrungs weise - das Element der sichtbaren Hervorhebung von Bedeutung tragenden Elementen konstitutiv; am deutlichsten wird dieses Strukturelement adligen Selbstverständnisses wahrscheinlich in der Konstruktion des Wappens, der Stammtafel und vor allem des Stammbaums, über dessen ins Auge fallende Botschaft an Familienmitglieder und Außenstehende Simmel schreibt: Die Bedeutung des Stammbaumes ist für dieses Verhältnis der Familie - und weiterhin der Adelsgruppe überhaupt - zu ihrem Individuum von tiefer Symbolik: Die Substanz [i. S. einer allen Familien gemeinsamen Wertsubstanz, H . R . ] , die den einzelnen bildet, muß durch den einheitlichen Stamm des Ganzen hindurchgegangen sein, wie die Substanz des Zweiges und der Frucht eben dies ist, die auch den Stamm gebildet h a t . "

Der SO geartete Besitz der adligen Familie wurde als Machtreichtum (Sombart) gekennzeichnet, und von Reichtumsmacht, die nur ein Element des Machtreichtums ausmacht, abgesetzt. Die Unterscheidung soll hervorheben, daß, in graduellem, aber deutlichem Unterschied zur modernen kapitalistischen Gesellschaft, in einer vorkapitalistischen, noch vorwiegend archaisch-religiösen Weltbildern verhafteten Gesellschaft eine Vielzahl von Faktoren und u. a. auch das Geld, Einfluß auf das Verhalten des Menschen ausüben können.'" Die Wirkung des adligen Machtreichtums richtete sich sowohl nach außen als nach innen, in die Familie hinein. Nach außen trug er bei zum Glanz höfischen Lebens, zur ,,Kultisierung" des Fürsten (v. Kruedener), und damit zur Stabilisierung der fürstlichen Herrschaft. Doch nutzte der Adel das Hofleben, vor allem aber das Residenzleben bei Abwesenheit des Hofes, auch zur symbolischen Repräsentation seiner eigenen vergangenen und gegenwärtigen Leistung, d.h. zur relativ selbständigen Kultisierung des ständischen und stiftsfähigen Adels. Das Zusammenspiel von Fürstenkult und Adelskult schuf so - kirchlich-religiöse und künsderische Symbolwelten zu mo99

difizierten, einsichtigen Deutungsmustern der gegebenen hierarchischen Ordnung integrierend - eine wirksame neue, kulturelle Legitimation der Herrschaftsverhältnisse im geistlichen Adelsstaat. Auf der Ebene des Standes gewann die Familie durch die spezifische Form ihres adligen Machtreichtums die Anerkennung ihrer Standesgenossen; und auf der Ebene der Grundherrschaft stützten vielfältige, auf diesen Machtreichtum aufgebaute ritualisierte Alltagskontakte zwischen Grundherrn und Bauern Bittbesuche des Bauern, Besuch des Grundherrn beim kranken Bauern, Anwesenheit beim Schulexamen und Prämierung der besten Schüler, Besuch einer Bauernhochzeit etc. - die den Bauern über das adlige Haus, Kirche und Schule vermittelten legitimierenden Deutungen der patriarchalischen Herrschaftsstellung des adligen Grundherrn.^' Nach innen gewendet - und in dem hier thematisierten familialen Zusammenhang wichtiger - wirkte der Machtreichtum der Adelsfamilie einerseits als vielfältige Anregung bei Sozialisation und Erziehung der Kinder, wodurch in einer An selffulfilling prophecy dem Blut der Adelsfamilie zugeschriebene persönliche Eigenschaften geweckt, entwickelt und gefestigt, aber auch durch Alltagsrituale im adligen Haus die innerfamiliale Macht- und Rollenverteilung und der ständisch-patriarchalische und Distanz in spezifischer Mischung vereinende Herrschaftsgestus eingeübt wurden; andererseits aber als ein mit jedem Testament, jeder Pfründenfundation, jeder Seelenmessenstiftung sich selbst fortschreitend effektiver gestaltender Mechanismus der familieninternen sozialen Kontrolle. War schon kaum ein Familienmitglied bereit, die sichere Lebensstellung und die Anerkennung, die ihm auf Reisen, an Höfen, aber auch in jedem alltäglichen Wirkungsbereich als Mitglied seiner Familie zuteil wurde^ aufzugeben zugunsten eines ungewissen Lebensweges, der mit großer Wahrscheinlichkeit ein erhebliches Absinken in der sozialen Stufenleiter mit sich gebracht hätte; so war ebenso wirksam wie diese Art des Verlustes die Drohung des Stammherrn, ein von der Familienordnung abweichendes Verhalten durch Ausschluß von anderen Formen des familiären Machtreichtums, z.B. von der Nutzung des Kirchensitzes oder gar von dem Anrecht auf ein Familienbegräbnis zu bestrafen. Alle mit dem sozialisierten Selbstverständnis verbundenen Ansprüche materieller und psychischer Art waren in der Hand des Stammherrn zusammengefaßt und übten einen starken Kpnformitätsdruck aus. Weitere Anpassungszwänge ergaben sich aus der steten Gegenwärtigkeit aller Faniilienmitglieder, selbst der zukünftigen, im Bewußtsein des einzelnen Adligen. Alle Vorfahren waren ihm durch Bilder, Erzählungen, Stiftungen und Gedenktage, z.B. durch die vielen von verschiedenen Familienmitgliedern gestifteten Jahrgebete und Seelmessen, an denen er teilzunehmen hatte, bekannt und vertraut. Er wußte, daß sie seine angenehme, hervorgehobene Position als Mitglied einer bedeutenden Familie durch ihre Leistung, und sei es durch das Opfer des Erb- und Heiratsverzichts im Sinne der Familienordnung, mit ermögUcht hatten und daß alle diese ihm zum Teil vertraut und liebgewordenen Vorfahren ihre Opfer und Bemühungen zugunsten des Glanzes der Familie umsonst erbracht haben würden, daß die hervorragende Bedeutung der Familie, an der viele Generationen mitgearbeitet hatten, gefährdet oder gar zerstört würde, wenn er als einzelnes Familienmitglied die Solidarität ihnen gegenüber und damit gegenüber der Familienordnung aufkündigte. Dieses Wissen entwik100

kelte sich im Konflikt des einzelnen mit der Familie zu einer psychischen Belastung, die ein abweichendes Verhalten außerordentlich erschwerte.^^ Der Machtreichtum der Familie bewirkte, dal? das einzelne Familienmitglied von einer an das Haus gebundenen kollektiven Familienvorstellung, die seinen Lebensweg und sein Verhalten jenseits der individuellen Wünsche im vorhinein bestimmte, weitgehend beherrscht und orientiert wurde. Neben einem außerordentlichen Maß an Konformitätsdruck und dem daraus sich ergebenden Verzicht auf individuelle Selbstverwirklichung^"* gemäß den Bestimmungen der Familienordnung entband diese kollektive Familienvorstellung aber auch häufig ein Maß an Verzichtsbereitschaft, das in starkem Maße über das von der Familienordnung geforderte hinausging, und zwar zugunsten der Vorstellung einer nur aufgeschobenen, späteren Belohnung durch die Lebenden oder gar alle Mitglieder der Familie nach dem Tode. Die Verdrängungsmoral der katholischen Kirche kam dem letztgenannten Verhalten besonders entgegen. Auf derselben Ebene - nach außen gerichtet - lagen die Fähigkeiten, Opfer im Sinne des von überindividuellen, familialen und ständischen Orientierungen bestimmten Selbstverständnisses zu bringen, eine Fähigkeit, die den Adel häufig ausgezeichnet hat. Zu solchen Opfern war der katholische Adel Westfalens im 18. Jahrhundert nicht mehr gezwungen, im Gegensatz zum preußischen Adel, dessen Söhne während des Siebenjährigen Krieges, um die privilegierte Stellung ihres Standes zu rechtfertigen, als Offiziere in großer Zahl ihr Leben ließen. Zwar befand sich auch die kollektive Familienvorstellung, entsprechend den neuen Erfahrungen der Familie und des Standes in einer sich wandelnden Umwelt, ständig in einem Prozeß derUminterpretation: Familien starben aus; der Grund- und Ämterbesitz einer Familie änderte sich, das hohe Prestige eines besonders erfolgreichen Familienmitglieds erhöhte das seiner Familie, die Stellung des Standes insgesamt im geistlichen Staat unterlag dem Wandel etc. In Abhängigkeit von diesen Erfahrungen wurde auch die Familienvorstellung durch Erinnern und Vergessen bestimmter Bedeutungselemente umgeformt, zum Teil auch durch Aufnahme neuer Vorstellungsinhalte in das Bild der Familie erweitert. Aber insgesamt gesehen vollzog sich eine solche Uminterpretation unmerklich, jenseits der bewußten Wahrnehmung der Beteiligten. Das Moment des ständigen Wandels des Familienbildes war in einem außerordentlichen Maße aus den bewußten Vorstellungen der Handelnden ausgeklammert. Zur Ausbildung und Verfestigung eines solch statischen Bildes von der eigenen Familie haben drei Entwicklungen entscheidend beigetragen. Zunächst einmal war das Ausmaß der Wandlungen im sozialen und politischen Bereich des katholischen Westfalen, die auf eine Anfechtung des Adels als privilegiertem Stand hinwirkten, vom Ende des 17. Jahrhunderts bis 1770 gering, wenn man es mit den Erfahrungen desselben Adels im 16. oder im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert vergleicht.^® Dann begrenzte die fortschreitende Abschließung und Homogenisierung des Standes seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, vor allem der regional und personell sehr eng begrenzte Heiratskreis und die allgemeine Durchsetzung eines Erb- und Ämtersicherungssystems, in dessen Folge sich spezifische Lebenswege und Karrieremuster ausbildeten, das reale Maß an Veränderungserfahrungen im eigenen regionalen Umkreis. Einzelne Familienmitglieder, die sich gegen den in den Familienordnungen artikulierten kollektiven 101

Familienwillen auflehnten und davon abweichend andere Existenzmöglichkeiten zu realisieren suchten, wurden zumeist, sofern sie nicht selbst diesen Weg einschlugen, durch mehr oder weniger großen Druck der Familie und des Standes zum Verlassen der Region veranlaßt, zumeist mit Erfolg;'® denn die staatlichen und kirchlichen Positionen, die ein annähernd standesgemäßes Einkommen gewährleistet hätten, unterlagen der Kontrolle der älteren Stammherrn und deren Brüder. Auf diese Weise wurde verhindert, daß erfolgreiche Alternativen der Selbstverwirklichung vor den Augen der aufwachsenden Adelssöhne und -töchter realisiert wurden. Abweichler fielen durch Abdrängung in andere Regionen nicht nur aus der Familie, sondern auch aus dem von Familie und Stand aufgebauten Anrechtssystem heraus; denn sie konnten keinen Beitrag mehr leisten zu den in der Familienordnung festgelegten Zielen. Folge dieser die Herrschaft der Familienväter wirksam unterstützenden internen Kontrollen war eine fortschreitende Homogenisierung des Standes bis in das Alltagsverhalten seiner Angehörigen hinein. Die auf der Grundlage des in der Familienordnung ausgedrückten kollektiven Familienwillens gesteuerte Erziehung, Ausbildung und Ämterversorgung der Kinder wiederholte sich in gleicher Weise, allen Standesmitgliedern sichtbar, in den verwandten, befreundeten oder benachbarten Adelsfamilien der Region und wurde auf diese Weise zu einer kaum noch einmal in Frage gestellten Selbstverständlichkeit. Noch im späten 19. Jahrhundert, nach der Auflösung des alten Standes, war es deshalb möglich, daß münsterländische Adlige untereinander den Begriff ,,unsere Familien" ohne die Gefahr, Mißverständnisse hervorzurufen, benutzen konnten.'' Wirksame reale und bewußtseinsmäßige Barrieren schränkten so die Fälle abweichender oder alternativer Selbstverwirklichung in außerordentlichem Maße ein. Letztlich entscheidend für die bis 1770 nahezu unangefochtene Starrheit der familialen und ständischen Orientierungsmuster im münsterländischen Adel war aber wohl ein Verhalten, das mit dem Begriff der Bodenständigkeit gekennzeichnet worden ist: Seine außerordentlich stark eingeschränkte horizontale Mobilität seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, im wesentlichen eine Folge des zu diesem Zeitpunkt in seiner für das 18. Jahrhundert gültigen Form ausgearbeiteten Familienordnungsmodells und der mit der Durchsetzung der Familienordnung in Verbindung stehenden organisatorischen Verfestigung der Ritterschaft. Für die Zeit vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert ist eine für vorindustrielle Verhältnisse außerordentlich hohe regionale Mobilität der Adelssöhne nachzuweisen; die fortschreitende Durchsetzung des Unteilbarkeitsprinzips hat hier zunächst noch verstärkend gewirkt. Diese Mobilität ging aber nach dem Dreißigjährigen Krieg sehr stark zurück, um erst im Laufe des 19. Jahrhunderts langsam wieder anzusteigen. Auf bewußte Intentionen der Stammherrn, die Einschränkung der Mobilität nachgeborener Söhne zugunsten einer stärkeren Familienbindung betreffend, als den Ausgangspunkt für das neue Verhalten der Bodenständigkeit verweist die folgende Textstelle in einem, wie gewohnt wahrscheinlich auf früheren Urkunden aufbauenden Testament von 1816: Z u r besseren Erhaltung des Flors unserer Familie . . . vorzüglich aber, weil wir überzeugt sind, daß es für unsere Kinder selbst anständiger und besser ist, unter sich ein Haupt der Familie zu haben, als wenn sie alle nach einer schmalen Teilung den elterlichen Gütern als F r e m d e den

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Rücken kehren müssen, ernennen wir unseren ältesten Sohn Carl Theodor Grafen von Westerholt-Gysenberg zu unserem Universalerben.'®

Die Autorität des Stammherrn wurde also nicht allein gestärkt, um die Einhaltung der Familienordnung zu gewährleisten, sondern auch deshalb, weil man die Geschwister selbst nach der Übernahme eines Amtes weiterhin an die Familie und den Stammsitz binden wollte. Sie sollten der Familie des Stammherrn nicht entfremdet werden; denn die Familienpfründen und die innerhalb des Standes gesicherten Ämter und Versorgungsstellen konnten nur dadurch bewahrt werden, daß ständig Familienmitglieder die frei werdenden Positionen wieder besetzten. Auch für die Sicherung der Familienkontinuität war eine nicht zu weite Entfernung der nachgeborenen Söhne vom Stammsitz ihrer Familie günstig. Starke Mobilität gefährdete aber noch auf andere Weise die Familienordnung. Die Heirats- und Erbverzichtsdisziplin, die Disziplin gegenüber der Familienordnung und dem Stammherrn insgesamt, konnte sich unter dem Einfluß einer fremden U m gebung mit abweichenden Familientraditionen, jenseits elterlicher Kontrolle, auflösen. Durch Heirat und Gründung von Nebenlinien im Ausland war zudem der Rückfall des Besitzes nachgeborener Söhne an die Stammfamilie gefährdet, zumindest erschwert.^' Wechselte der Besitz der Hauptlinie auf eine solche Nebenlinie über, so bestand die Gefahr, daß auf lange Sicht und möglicherweise für immer der Grundbesitz, aber auch der umfassende Machtreichtum dieser Familie dem Stand verlorenging. Die Familie wurde in der Umgebung ihres ursprünglichen Stammsitzes vergessen.®" Die in der Region liegenden Rittergüter, welche durch Konsens möglichst im stiftsfähigen münsterländischen Adel gehalten werden sollten, konnten - nach dem Prinzip des Höchstgebotes v e r k a u f t - v o n ausländischen Adligen, neuen Konkurrenten um Ämter иц^ Privilegien, oder gar von Bürgerlichen oder Bauern erworben werden. In beiden Fällen wurde dadurch der von den Familien insgesamt gesicherte privilegierte Grundbesitz gemindert. Im letzten Fall - wenn bürgerliche oder bäuerliche Familien adligen Grundbesitz und die damit verbundenen Privilegien nutzen durften - kam noch eine Ansehensminderung des ganzen Standes hinzu. All diese Gründe sprachen dafür, die Autorität des Stammherrn gegenüber den Geschwistern weiter zu stärken, diese auf Lebenszeit enger an ihn zu binden, sie möglichst unter seiner Kontrolle oder zumindest der des Standes zu halten. Der Ubergang vom Prinzip der Erbteilung zum System der Abfindungen hat hier zusätzlich gute Dienste geleistet, da die Abfindungsbeträge so niedrig gehalten wurden und die Stammherrn eine frühe Auszahlung der Abfindungen durch entsprechende Klauseln in Ehepakten und Testamenten erschwerten, daß auf ihrer Grundlage allein eine erfolgreiche Karriere in auswärtigen Territorien nicht möglich war. Die eigene Region war umgeben von protestantischen Ländern, an deren H ö f e man schon aus religiösen Gründen nicht mehr gehen k o n n t e . I n den kleineren Ländern waren zudem diejenigen Ämter, deren Einkommen eine standesgemäße Lebensführung garantierte, in ähnlicher Weise wie im Fürstbistum Münster vom dortigen Adel oder von bürgerlichen Beamtenaristokratien mehr oder weniger stark monopolisiert. Es blieben für den nachgeborenen Sohn, der wegzugehen wünschte, also vor allem die großen katholischen Länder Bayern oder Österreich. Aber auch hier war für den Antritt einer Karriere in den besseren 103

Ämterlaufbahnen ein Startkapitel erforderlich, das die knappen Abfindungsbeträge zumeist weit überstieg. Ohne zusätzliche finanzielle Unterstützung seitens des Vaters und Stammherrn war eine standesgemäße Karriere auch in diesen Ländern nur schwer möglich. In starkem Gegensatz zu den Schwierigkeiten, die mit einer Karriere im Ausland verbunden waren, garantierte der Vater dagegen relativ sicher zu erwerbende, gut dotierte, weitgehend arbeitsfreie, mit keiner Gefahr für Leib und Leben verbundene Ämter in der Nähe des Stammsitzes, in dem sein Name auch dem nachgeborenen Sohn eine selbstverständliche bevorzugte Behandlung und die Realisierung eines adligen Lebensstils, z . B . durch Einladungen zu Festen, zum Reiten und zur Jagd gewährleistete. Schließlich blieb auch noch ein weiterer in anderen Regionen die Abwanderung der nachgeborenen Söhne verursachender Faktor ausgeschlossen, der demographische Druck; denn der Stand blieb wegen seiner Heiratspolitik, seiner starken Abschließung und wegen des fortschreienden Aussterbens von Familien in seiner Zahl sehr begrenzt. Durch den Abbau der Mobilitätsbereitschaft nachgeborener Adelssöhne wurde das Maß der in die kollektive Familienvorstellung eingehenden Welterfahrungen und Wirklichkeitsvorstellungen eng begrenzt. Den nachwachsenden Adelssöhnen fehlten lebende familiäre Vorbilder jenseits der ihnen zugemuteten Verhaltensweisen, an denen sie sich hätten ausrichten können. Auch die Kavalierstour am Ende der Ausbildungszeit diente nicht dem Gewinn zusätzlicher, sondern der Verfestigung anerzogener Orientierungen. Die Bestimmungen der Familienordnung, die ihnen Heirats- und Erbverzicht auferlegten, erschienen so den nachgeborenen Söhnen als unwandelbar, als eine Art Schicksal, dem sie nicht entrinnen konnten. In den Händen der Familienväter und Stammherrn vereinigte sich eine Vielzahl wirksamer Disziplinierungs- und Sanktionsmöglichkeiten; dem korrespondierte eine weitgehende Machtlosigkeit der nachgeborenen Söhne. Die Drohung der Söhne fortzugehen, konnte den Vater und Stammherrn kaum schrecken; denn die den Ritterstand bildenden Familien sicherten ihm ein hohes Maß an Substituierbarkeit der durch den Weggang einzelner Söhne ausfallenden Leistungen. Seine Pflege im Alter und bei Krankheit war durch die unverheirateten Töchter und Stiftsdamen gewährleistet und die Stammsicherung konnte im Notfall ebenfalls über Heiraten einer Tochter und Namens- und Wappenübernahme durch den Ehemann (Adoption durch Ehe) erfolgen. Emotionale Bindungen waren im Adel zu dieser Zeit in der Regel noch nicht so weit entwickelt, daß sie als psychische Druckmittel hätten eingesetzt werden können. Die Drohung des Vaters, dem Sohn sein Wohlwollen zu entziehen, ihn zu enterben oder gar aus der Familiengemeinschaft auszuschließen, verfehlte dagegen seine Wirkung kaum.

1.6 Verhaltensnormen und a) Die Beziehungen

zwischen

Personbeziehungen

Eheleuten

Die Arbeitsteilung der Eheleute wurde bestimmt von den zwei Hauptaufgaben der Familie des Stammherrn: Leitung der Grundherrschaft und Realisierung der in der 104

Familienordnung festgelegten Familienziele. Der Ehemann und Stammherr vertrat den Familienanspruch nach außen®^ und garantierte als Hausvater in patriarchalischer Machtfülle Sicherheit und Versorgung aller ъхаНат als dem Zentrum adUger Grundherrschaft zur Regelung von Produktion und Konsumtion beschäftigten Personen und der Familienangehörigen. Darüber hinaus hatte er vielfältige Verpflichtungen hinsichtlich der Verwaltung des Kirchspiels sowie die Sorge für Gemeindekirche und -schule. Auf der Ebene des Standes vertrat er die Familie in politischen, z. B. auf den Landtagen, und repräsentativen Angelegenheiten, z . B . am Hof. Die Ehefrau wechselte durch ihre Heirat nur vom Schutz- und Herrschaftsverband ihres Vaters in den ihres Ehegatten; deshalb spielte der Großjährigkeitstermin für den Zeitpunkt ihrer Eheschließung keine wesentliche Rolle; Mündigkeit, im Sinne der Unabhängigkeit von einem Herrschaftsverhältnis, erreichte sie durch die Heirat ohnehin nicht. Als Hausfrau übernahm sie komplementär zum Hausherrn wirtschaftliche Aufgaben. Sie leitete die Vorratswirtschaft des Hauses, war für die Versorgung aller auf dem Rittergut wohnenden Personen verantwortlich und hatte das Hauspersonal sowie einen Teil des Gesindes anzuweisen und zu kontrollieren. Darüber hinaus hatte auch sie einige, vorwiegend karitativ-fürsorgerische Funktionen im Kirchspiel. Die klug und sparsam wirtschaftende, anspruchslose und fleißige Hausfrau war dementsprechend ein oft genanntes Ideal bei der Partnerwahl; auf Bildungsansprüche wurde dagegen weitgehend verzichtet. Die Landedelfrau der Hausväterliteratur bestimmte im münsterländischen Adel um 1770 stärker das Ideal der Frau als die gebildete Hofdame. Über die ihr im Haus zugewiesenen Aufgaben hinaus wurden ihr aber normalerweise keine weiteren ökonomischen Kompetenzen zugestanden.®^ Als Ehefrau übernahm sie zudem repräsentative Verpflichtungen an der Seite ihres Mannes; darüber hinaus waren Gebären und, unterstützt von der Amme, Aufzucht und Erziehung der Kleinkinder ihre wichtigsten Aufgaben. Diese Stellung in Haus und Familie vermittelten ihr im Laufe der Ehe ein sicher fundiertes Selbstwertgefühl.®" Da Rentmeister und Haushälterin in der Organisation der Grundherrschaft und des Hauses einen Großteil der anfallenden Arbeiten übernahmen, blieben dem adligen Grundherrn und seiner Hausfrau vorwiegend kontrollierende und organisatorische Aufgaben vorbehalten. Aber nicht so sehr die Absorption seelischer Energien im anstrengenden Alltagsleben durch die stets präsenten Aufgaben in Grundherrschaft, Haus, Familie und Stand war es, die eine Entfaltung differenzierter seelischer Empfindungen, geistiger Bedürfnisse und die Entwicklung intensiver emotionaler Bindungen zwischen den Eheleuten erschwerte; in starkem Maße ließ die Einordnung der Ehe in das umfassende Familienordnungskonzept, in dem die Ehegründung mit Vorstellungen wie Versorgung der Töchter, Aufbau von politischen Freundschaften, Besitzsicherung, -erweiterung und -monopolisierung, Erhaltung der Familienkontinuität, Aufbau eines Anrechts- und Privilegiensicherungsverbandes etc. verbunden wurde, die Entwicklung einer am individuellen Glück orientierten, harmonierende persönliche Eigenschaften der Eheleute voraussetzenden Ehevorstellung nicht zu.®^ In dem System der von Eltern, Geschwistern und Freunden arrangierten Ehe liefen die ersten Kontakte zwischen den Familien über Mittelspersonen, um eine Demütigung durch eventuelle Absagen möglichst zu verhindern und um Spannungen, die 105

sich aus einer solchen offenen Absage ergeben konnten, zu vermeiden. Dann folgten ausführliche Verhandlungen über die Konditionen sowohl materieller als auch moralischer Art, die in die Ehepakten aufgenommen werden sollten. Oft lernten sich die zukünftigen Eheleute erst kurz vor der Eheschließung kennen. Widerstände seitens der Braut waren nicht zu befürchten. Neben der familialen Prägung gemäß den Familienzielen begründeten ungünstige Versorgungslage und geringe Lebensqualität der unverheirateten Frau im Stift sowie das geringe Angebot an adligen Söhnen mit Heiratserlaubnis und die damit allgemein ungünstigen Heiratschancen der adligen Töchter die Bereitschaft der Frau, eine Ehe auch unter weitgehendem Verzicht auf Wahl des Ehemannes nach eigenen, individuell bestimmten Kriterien einzugehen, vor allem dann, wenn sie schon ihre Wartestelle im Damenstift, das ziemlich unverhohlen als Heiratsmarkt aufgebaut wurde, bezogen hatte;®® denn als Alternative drohte das Schicksal der Stiftsjungfer. Eine Frau konnte es sich kaum leisten, einen Bewerber abzulehnen. In einem Brief an seine Mutter meinte Friedrich Anton v. Korff noch 1796: Es scheint wohl, als wenn die Dinette [ν. Droste-Vischering, H . R . ] und Fräulein Schell sehr großen Beruf in sich verspürten, im Chanoinessen Stande ihr Leben zu beschließen; denn allem Vermuthen nach werden sie in der Folge keine Gelegenheit wieder bekommen, K ö r b e austheilen zu können; dem Wunsch für Felitz und Marianne stimme ich von ganzem Herzen bei, und hoffe, daß diese klüger seyn werden.®'

Die Ausbildung intensiver Gefühlsbeziehungen zwischen den Eheleuten vor der Ehe wurde unter solchen Bedingungen nicht für nötig erachtet. Eine Kalkulation des Heiratssystems nach den vorhandenen Versorgungsmöglichkeiten schien sinnvoller als die Fundierung des Heiratsverhaltens auf einer wegen ihrer Labilität mit Mißtrauen betrachteten Emotion. Anette v. Droste-Hülshoff berichtete 1839 von ihrer Mutter, daß diese noch immer der Ansicht sei, ,,zum heuraten gehöre keine Liebe, und nicht begreift, warum man nicht nimmt, was einem vernünftige Leute rekommandieren".®® Einer solchen Praxis der Eheeinleitung gemäß fehlten zumeist zu Beginn der Ehe enge emotionale Bindungen zwischen den Eheleuten. Dennoch waren die so geschlossenen Ehen nicht von vornherein dazu bestimmt, unglücklich zu werden. Im Gegenteil ist anzunehmen, dajß es durchaus ehrlich gemeinte und auf reale Erfahrungen gegründete Urteile waren, wenn die meisten Eheleute später in den Testamenten ihre Ehe als harmonisch und vergnügt beurteilten.®' Für Bereiche und Fälle fehlender persönlicher Ubereinstimmung waren Ersatzbeziehungen und -lösungen, zumindest für den Mann, gewohnheitsmäßig akzeptiert. So fand die zumeist noch auf einer vorindividuellen Stufe verbleibende, nicht durch geistig-seelische Beziehungen zur Frau überformte Sexualität des Mannes seine durch Herkommen anerkannten, im 18. Jahrhundert zumindest geduldeten Möglichkeiten zur Realisierung außerhalb der Ehe. Der Frau wurden dagegen solche Möglichkeiten nicht eingeräumt. Das von der Kirche produzierte Bild der Frau als eines sexuell triebhaften, mit Verführungsschuld belasteten Wesens begründete ihre Verzichtsposition und kam dem Bedürfnis der Familienordnung nach eindeutigen Kriterien der Familienzugehörigkeit entgegen; die vor 1700 überaus häufig, im Laufe des 18. Jahrhunderts nur noch selten nachweisbaren unehelichen, natürlichen Kinder der Männer brachten hier schon genug Unsicherheit und Konflikte. Bei völliger Disharmonie zwischen den Eheleuten konnte 106

eine getrennte Lebensführung die kirchlich verbotene Scheidung ersetzen. Daß eine solche faktische Trennung bei unglücklichen Ehen praktiziert wurde, erweist ein Brief des Jobst Edmund v. Twickel an seinen Neffen Clemens aus der Zeit um 1780, in dem ersterer auf die unglückliche Ehe der Mechthild v. Twickel mit dem Erbkämmerer Clemens August v. Galen Bezug nahm und meinte: . . . man darf in solgen Fellen kein Rathgeber seyn, allein weillen der Gallen darauf gesetzet, ihr tot zu haben, so wer besser, daß er ihr jahrlich so vieil auszahlte und sie solges in Vergnügen versehe als ihre zane Jahre in solgen taglichen Qual v e r k u r t z t e . "

Zwar fehlten zumeist emotionale Bindungen zwischen den Eheleuten vor der Ehe, aber in den meisten Fällen muß sich eine Art von Liebe, glaubt man den Testamenten, auf eine wenig bewußte und sehr diffuse Weise, und zwar über die von der Familienordnung bestimmten sachlichen Eheziele später eingestellt haben. Eine solche Form ehelicher Liebe wird z. B. erkennbar, wenn Hermann VIL ν. Velen in seinem Testament vom 11.10.1575 an seine,,hertzliebe Hausfrau in Erstattung und Ersetzung der bisher mir erzeigten Treue, Liebe und Wohltaten, auch mit Auferziehung der Kinder und sonsten gehabten Mühe und Sorgseligkeit" die Nutzung des Hauses Velen als Witwenversorgung vergibt.'^ Ausgangspunkt der ehelichen ,Liebe' war die organische Solidarität der Eheleute, die sich daraus ergab, daß sie innerhalb der Grundherrschaft, des Hauses und der Familie vor Aufgaben standen, die sie nur gemeinsam lösen konnten. Intensive Arbeit in der Wirtschaft mit dem Ziel, das Gut zu entschulden, die gemeinsame Organisation von Familienfesten und die damit verbundene Anerkennung durch die Bezugsgruppe, vor allem aber die Geburt von Söhnen konnte eine solche ,Liebe' aufkommen lassen. Hier liegt die Berechtigung für den damals immer wieder in Eheverhandlungen und Korrespondenzen auftauchende Grundsatz: zunächst sei die Heirat zu arrangieren, die Liebe folge dann schon in der Ehe nach. Dieser Satz wurde erst dann endgültig fragwürdig, als mit dem sozialen Wandel am Ende des 18. Jahrhunderts und den damit korrespondierenden Individuierungsprozessen auch im münsterländischen Adel die Ehevorstellung mit neuen Bedeutungen und Verhaltenserwartungen verbunden wurde. Schon vorher hatte sich allerdings der Einfluß der Eltern bei der ehelichen Partnerwahl gemindert. Das Vetorecht der Kinder wurde fortschreitend gestärkt gegenüber dem ursprünglich allein dominierenden Eheeinleitungs- und Konsensrecht der Eltern. Diese bemühten sich um 1770 zumeist schon, Ansätze von Liebe zwischen den zu Verheiratenden vor der Ehe zu entdecken. Doch war die Heirat auch jetzt noch eine zu wichtige Angelegenheit, als daß sich die freie Partnerwahl hätte durchsetzen können. Sachliche Ziele blieben in einem Heiratsarrangement, wie an den vielen Ehen mit großem Altersunterschied zwischen Bräutigam und Braut, am hohen Wert, der den Erbinnenheiraten zugemessen wurde, und an der üblich bleibenden Wiederverehelichung schon kurz nach dem Tod des Ehegatten abzulesen ist, weiterhin dominant.

b)

Eltern-Kind-Beziehungen

Wie die Ehe und das Leben der Eltern, so war auch die Zukunft des Kindes durch die Intentionen und Bestimmungen der Familienordnung determiniert. Sein Lebensweg 107

und sein Anteil an den von der Familie gesicherten Lebenschancen waren durch die Stellung in der Geburtenfolge und das Geschlecht festgelegt. Diese im Adel existierende kraß unterschiedliche Bewertung der Kinder wird z. B. in einem Brief des Franz V. Droste-Vischering schlagartig verdeutlicht, in dem er von der Geburt von Zwillingen, einer Tochter und dem erstgeborenen Sohn berichtete: ,,Du kannst Dir die Freude der Böselagers d e n k e n ; . . . als das Mägdlein zur Welt kam, (sind) beyde Aeltern ganz lüten gewesen; und als der Knabe erschien, (haben) beyde wie die Magdalena vor Freude geweint und der Vater gerufen habe: Gott erhalte uns den Jungen!"®^ Jedes Kind hatte eine feste, ihm zugeschriebene Position im Anrechtssystem der Familienordnung; um familiale Anrechte zu wahren, wuchsen sie zum Teil gleichsam in die ihnen zugedachten Erbämter und Familienpräbenden hinein. Da die Kindersterblichkeit zu dieser Zeit außerordentlich hoch war, konnten die von der Familie zu besetzenden Positionen nur dann gesichert werden, wenn ständig für Ersatz der gestorbenen Kinder, wenn möglich, für einen gewissen Überschuß gesorgt wurde. Hierin lag - jenseits des Zieles der Stammerhaltung - ein weiteres Motiv für die positive Bewertung hoher Kinderzahlen in den Familien des münsterländischen Adels, das auch bei der schnellen Wiederverheiratung eine Rolle gespielt hat.'® Intensive emotionale Eltern-Kind-Bindungen konnten die Realisierung des Familienplans nur behindern oder Verwirrung schaffen, und im Konfliktfall mußten sie gegenüber den Anforderungen der Familienordnung immer zurückgestellt werden.'* Der Zwang, die Familie in einer Umwelt knapper Subsistenzmöglichkeiten in ihrem Besitzstand zu erhalten, und die hohe Kindersterblichkeit waren Gegebenheiten, die die Eltern schon aus Gründen des Selbstschutzes vor permanenten psychischen Mißerfolgserlebnissen bis ins 18. Jahrhundert davon abhielten, ihre Beziehungen zu den Kindern emotional zu intensivieren.'^ Die Religionsvorstellungen, die das Leben in der Welt abwerteten und eine ständige Nähe und Verbundenheit zwischen Lebenden und Toten vorstell- und damit erfahrbar machten, kamen diesen Entlastungsbedürfnissen entgegen. Analog den Ausführungen zur Ehevorstellung läßt sich auch hier sagen: Das Verhältnis dieses Adels zu seiner Umwelt war 1770 noch nicht problematisch. Die Zukunftsperspektive erschien fest, die Position des Adels gesichert. Ein durch kumulierte negative Erfahrungen bedingter Beweggrund, die Einstellung zum Kind zu überdenken und zu verändern, war infolgedessen für diesen Stand nicht gegeben. Das Kind wurde allgemein als einnatürliches Eigentum der Eltern angesehen.'® Die Forderung nach Einordnung in den Familienplan und damit nach uneingeschränkter Unterordnung unter den Willen der Eltern, vor allem des Vaters, war - von den außerordendich harten väterlichen Sanktionsmitteln, die eine Anpassung jederzeit erzwingen konnten, einmal abgesehen - eine den Eltern als ihr Recht selbstverständliche Erwartung. Denn absoluter Gehorsam des Kindes war nur die unvollkommene Gegenleistung dafür, daß es von der Kleinkinderphase bis zum Eintritt in das Erwachsenenalter von den Eltern versorgt, erzogen und schließlich mit einem eine selbständige Lebensführung ermöglichenden Amt oder einer Pfründe versehen wurde. Jenseits dieser Aufgaben bestanden keine weiteren Vorstellungen von einer besonderen Pflicht der Eltern gegenüber dem Kinde. Das Kind war bis zum vollwertigen Eintritt 108

in das familiäre Leistungssystem eine Art,parasitäre' Existenz; es hatte den Eltern für deren Fürsorge ständige Dankbarkeit und uneingeschränkten Gehorsam zu erweisen. Für die Erwachsenen waren die Kinder wenig relevant. In deren Briefen tauchen sie nicht als ein wesentlicher Kommunikationsgegenstand auf. Recht häufig wurden sie aus dem Haus gegeben.'® Da die Eltern Aufgaben und gesellschaftliche Verpflichtungen in verschiedenen Praxisbereichen wahrnahmen, war die Zeit, in der die Familie komplett zusammen war, deutlich begrenzt. Für die verbleibende Zeit wurden die für nötig erachteten schützenden, kontrollierenden, pflegerischen und erzieherischen Einwirkungen zum überwiegenden Teil an Ammen, Kindermädchen, Hofmeister und Gouvernanten delegiert oder Hausbedienten als Nebenaufgabe übertragen. Das Selbststillen war noch ungebräuchlich. Gleichwohl hatte die Mutter, vor allem im Zeitraum nach der Entwöhnung des Kleinkindes von der Amme und vor deren Übergabe an den Hofmeister oder die Gouvernante, weit intensivere Kontakte zum Kind als der an den Außenkontakten orientierte Vater, so daß Gefühlsbindungen zu den Eltern in der Regel nicht völlig unausgebildet blieben. Dennoch war das Verhältnis der Kinder zur Mutter ein weitgehend distanziertes; stärker bei den Söhnen, die sich, gemäß ihrer späteren Aufgabe, mit zunehmendem Erwachsenwerden am Vater orientierten, weniger ausgeprägt bei den Töchtern, die, wenn sie nicht von Kind an in einem Stift aufwuchsen, bis zu ihrer Heirat im Haus verblieben. Hier konnte sich wegen des längeren und intensiveren Zusammenseins in späteren Jahren eher eine enge Mutterbindung entwikkeln.^"" Ansonsten haben sich emotionale Bindungen analog zu dem oben dargelegten Prozeß der Ausbildung ehelicher ¿¿e^e eher über funktionale Beziehungen aufgebaut, z . B . zwischen dem Vater und dem ältesten Sohn, der schon früh zu vielen, die Familie langfristig betreffenden Entscheidungen mit herangezogen wurde; oder zwischen Mutter und Stammherrn, weil sie in ihrem ältesten Sohn die zukünftige Stütze ihres Alters sah, und weil er sie aufgrund seines Prestiges als zukünftiger Stammherr auch bei der Erziehung und Disziplinierung der Geschwister unterstützen konnte, so daß häufig die harte Disziplinierung durch den Vater vermieden wurde. Man liebte die Kinder im wesentlichen deshalb, weil sie eine Realisierung der Familienziele garantierten. Das Kind in seiner individuellen Anlage, seiner Besonderheit, war in diesen emotionalen Bindungen dagegen weniger präsent. Der Vater war aus dem alltäglichen Mutter-Kind-Kontext weit herausgehoben. In der Erziehung wirkte er nur als letzte kontrollierende und disziplinierende Instanz. Erst wenn die Söhne in die W e l t traten, übernahm er deren Leitung, was ein besonderes Ritual, den Erlaß eines Reglements der Väter zur Bestimmung ihres Verhaltens im Studium, auf der Kavalierstour oder bei Antritt eines Berufs, verdeutlichte.^"^ Die Autorität des Vaters als Hausherr und Familienchef ließ eine vertrauliche Nähe der Kinder zu ihm nicht zu. Das Bewußtsein des Kindes von seiner Unvollkommenheit, Abhängigkeit und Schwäche fand seinen Ausdruck und seine Verfestigung in Ritualen und Formeln, in denen Gefühle der Untertänigkeit, des Respekts und der Verehrung für den Vater ausgedrückt wurden. Diese Pflicht zur Unterordnung und zum uneingeschränkten Gehorsam gegenüber dem Vater hatten die Kinder mit dem Hauspersonal und dem Gesinde gemein. Auf dieser partiell identischen Lage beruhte die Ge109

wohnheit, daß auch die Letzteren Kinder genannt wurden."'^ Zumeist blieb die Vater-Kind-Beziehung wegen der herausgehobenen, gottähnlichen Herrscherposition des ersteren von einer aus Dankbarkeit, Verehrung und zum Teil Angst zusammengesetzten Liebe auf der Seite des Kindes und nur sehr schwachen, niemals spontan artikulierten emotionalen Bindungen auf der Seite des Vaters bestimmt. Die gottähnliche Stellung des Vaters wird zum einen deutlich in den Briefformeln, in denen der ,,schuldige Respekt", die „schuldige Hochachtung" und die ,,tiefste Untertänigkeit" immer wieder betont und die Gefahr, beim Vater in ,,Ungnade" zu fallen, als größtes Schrecknis dargestellt werden. Sie läßt sich z. B. aber auch ablesen an Briefen wie dem des Joseph V. Plettenberg von der Universität Leyden vom 22. 7. 1732 an seinen Vater; dort heißt es in untertänig, devotem Stil: O b w o h l dieser O r t so Stil ist, daß nichts m e r k w ü r d i g e s habe, w o m i t I h r o G n a d e n unterhalten könne, so thue doch D e r o gnädiges Befehl und meiner Schuldigkeit nach diese wenigen Zeilen Ihr G n a d e n a u f w a r t e n u m b mich über d e r o Gesundheit z u erkündigen, welche h o f f e , und w ü n sche die beste zu seyn. Thue unterdessen auch D e r o gnädiges Befehl und A n t w o r t auf mein letzt erlassenes Schreiben erwarten; . . . D e r ich nebst unterthänigstem H a n d k u ß mich zu beharrlichen G n a d e n empfehle, und verharre E w . H o c h g e b o r e n meines gnädigen H e r r n V a t t e r unterthänigst gehorsamster Diener und S o h n F. J . v o n Plettenberg.^®'

Das Herrschaftsmoment war in dieser Beziehung dominant. Emotionale Appelle der Kinder an den Vater liefen über die Mutter. Fiel diese aus, so blieben sich Kinder und Vater zumeist fremd.

c) Das Verhältnis Vater-ältester

Sohn

Der Vater konzentrierte seine Bemühungen vorwiegend auf den ältesten Sohn und zukünftigen Stammherrn. Entsprechend den Bestimmungen der Familienordnung besaß der Erstgeborene eine hervorgehobene Stellung innerhalb der Familie, die von früh an in einer verdeckt oder offen bevorzugten Behandlung ihren Ausdruck fand. Da er unmittelbar in den Wirkungskreis des Vaters hineinwachsen sollte, war er diesem in besonderem Maße zugeordnet. Sobald er den mütterlichen Schutzbereich verlassen konnte, begann er - neben der Hofmeistererziehung - durch Imitation des Vaters zu lernen. Dieser ließ ihn schon früh, zumeist mit dem sechsten bis achten Lebensjahr beginnend, bisweilen an seinem Alltagsleben teilnehmen. Die aufmerksame Beobachtung und ständige Beeinflussung des ältesten Sohnes durch den Vater war aber auch deshalb so notwendig, weil dieser durch Verwaltung des Familienbesitzes den Glanz der Familie in der Zukunft sichern sollte. Sah der Vater im Verhalten seines ältesten Sohnes eine Gefahr für die Fortsetzung der Familienkontinuität und die Erhaltung des Familienbesitzes, konnte er, trotz des geltenden Primogenimrrechts, einen anderen Sohn als Stammherrn einsetzen.'"® Ein Fehlverhalten des Stammherrn, z . B . eine allein an individuellem Genuß orientierte, und insofernverschwenderische Lebensführung, konnte Reichtum und Bestand der Familie völlig zerstören. Zum Teil lebte der Stammherr das Leben seiner verzichtenden Geschwister und Verwandten mit. Dieser Sachverhalt und seine hervorgehobene Position führten 110

dazu, daß er in seiner Lebensführung und seinen den Familienbesitz betreffenden Entscheidungen auch nach dem Tod des Vaters von seinen Geschwistern und den anderen Verwandten mehr oder weniger stark in seiner Lebensführung kontrolliert wurde. Da diese in seiner unmittelbaren Nähe wohnten, war es für ihn nahezu unmöglich, sich dieser Aufsicht zu entziehen.'"^ In der Hauptsache aber übernahm bis zu seinem Tode der Vater selbst die Kontrolle. Der älteste Sohn verblieb am längsten im unmittelbaren Einflußbereich des Vaters. Die Großjährigkeit, die er mit 25 Jahren erlangte, hatte real kaum emanzipative Auswirkungen, da sie nur formalrechtlich die Geschäftsfähigkeit bestimmte und insofern vor allem für den unter Vormundschaft aufwachsenden Stammherrn relevant war. Eine Entlassung aus der väterlichen Gewalt trat ansonsten in der Regel erst mit dem Tode des Vaters ein: allerdings milderte die Etablierung des Sohnes auf einem Nebengut die väterliche Kontrolle, da der älteste Sohn auf diese Weise zumindest eine gewisse Selbständigkeit in der Führung eines Gutsbetriebs gewann. Da aber das Nebengut in der Regel ein Fideikommißgut war, blieb die oberste Kontrolle weiterhin beim Vater."» Zwar wurde der Heiratstermin des ältesten Sohnes mit der Durchsetzung der Nebenhauslösung vom Todesdatum des Vaters unabhängig, doch galt eine zu frühe ökonomische und familiäre Selbständigkeit des zukünftigen Stammherrn aus Gründen familiärer Konfliktminderung und im Interesse väterlicher Kontrolle als Gefahr für den Familienbesitz. Eine die gesamte Fruchtbarkeitsphase der Frau nutzende Geburtenfolge und die Gewohnheit des Vaters, beim Tode seiner Frau sich wiederzuverheiraten, führten dazu, daß häufig noch Kinder geboren wurden, wenn der älteste Sohn schon im heiratsfähigen Alter war. Heiratete dieser nun früh und etablierte seine Familie auf dem Nebengut, so kumulierten sich die Familienlasten, weil nun in zwei Familien zur gleichen Zeit anspruchsberechtigte Kinder geboren wurden. Die noch unversorgten Geschwister des zukünftigen Stammherrn mußten eine erhebliche Verschlechterung ihrer Abfindungs- und Ausstattungsbedingungen, d.h. geringere Heirats-, Ausbildungs- und Ämtererwerbschancen befürchten, da sie in einem solchen Falle mit dem Tod des Vaters sogleich im familiären Anspruchssystem in die zweite Reihe, hinter die Kinder ihres ältesten Bruders und neuen Stammherrn rückten. Eine zu frühe Heirat des zukünftigen Stammherrn wäre also einerseits mit hohen Kosten, andererseits mit starken internen Familienspannungen verbunden gewesen. Sie war aber auch für den Vater, wenn dieser noch relativ jung war, nicht günstig; denn er wurde in seiner Handlungsfreiheit, z.B. in seinen Wiederverheiratungsabsichten beim Tod seiner Frau, eingeschränkt und mußte darüber hinaus von einer zu frühen, auch nur ökonomischen Selbständigkeit des Sohnes die Neuinterpretation der Haustradition befürchten. Deshalb neigten die Eltern dazu, die Nebenhausgründungen und die damit in den meisten Fällen einhergehende Heirat des ältesten Sohnes hinauszuschieben. Zumeist gelang das durch verschiedene Beschäftigungstherapien, zu denen auch das Studium und die Kavalierstour teilweise gerechnet werden können. Recht häufig wurde neben dem Einsatz des ältesten Sohnes in der väterlichen Gutsverwaltung auch die Möglichkeit zu einer zeitweisen Ämtertätigkeit in diesem Sinne genutzt. Die Meinung, daß die jungen Jahre eigenem Verdienst vorbehalten sein soll111

ten, war im münsterländischen Stiftsadel weit verbreitet und galt für alle Söhne, auch für den zukünftigen Stammherrn, der im Erbfürstentum Münster zumeist als adjungierter Drost ein wenn auch wenig arbeitsintensives Betätigungsfeld fand.*'^ Für den ältesten Sohn galt in noch wesentlich stärkerem Maße als für die nachgeborenen Söhne das Gebot der Bindung an die Heimatregion; denn ein jahrelanger Aufenthalt in Jungen Jahren in einem fremden Land, jenseits der Kontrolle des Vaters, hätte dem zukünftigen Stammherrn eine Summe von neuen, von den Gewohnheiten der Familien in seiner Region abweichenden Erfahrungen vermittelt, so daß ein Bruch in der Familientradition nach dem Tod des Vaters zu befürchten gewesen wäre. Zudem bestand die Gefahr, daß der Sohn seine Frau aus dieser fremden Region wählte und damit die Prinzipien der Familienordnung verletzte. Schon die Nebenhauslösung hatte die väterliche Kontrolle geschwächt und barg in sich die Gefahr eines Traditionsbruchs; denn da der älteste Sohn nicht mehr in der Familie des Vaters lebte, konnte mit dessen Tod der Haushalt auf dem Stammsitz sich auflösen. Es ist ein Zeichen für die weithin gewahrte Familiensolidarität der ältesten Söhne, daß sie fast immer nach dem Tod des Vaters vom Nebenhaus zum Stammsitz umzogen, und die Kontinuität des väterlichen Haushalts auf dem Stammsitz sicherten, selbst wenn sie schon ein relativ hohes Alter erreicht und schon lange Jahre auf dem Nebenhaus gewohnt h a t t e n . D i e wenigen Fälle abweichenden Verhaltens eines jungen Stammherrn lassen sich dagegen mit ziemlicher Sicherheit auf ein Sozialisationsversagen der Familie zurückführen, zumeist auf den frühen Tod des Vaters, der - im Gegensatz zur Mutter - für die Erziehung des zukünftigen Stammherrn nicht so leicht zu ersetzen war, und auf eine Fehlerziehung durch die Mutter oder Vormünder. ^^^ Ein durch Studium, Reisen und zeitweise Ämtertätigkeit kontrollierter Heiratszeitpunkt des zukünftigen Stammherrn und dessen anschließend relativ selbständige, am Gutsbetrieb des Vaters orientierte Wirtschaftsführung - in dessen Nähe und unter dessen Kontrolle - auf einem Nebengut sicherten so die unveränderte Weiterführung der Familientradition in der Betriebsführung und im Lebensstil.

d) Geschwisterbeziehungen

und Lehenszyklus

der einzelnen

Familienangehörigen

Oträlteste Sohn war dazu bestimmt, in die in der ständischen Gesellschaft allein vollen sozialen Status gewährende Position des Familien- und Hausvaters einzurükken.^^" Nach dem Tod des Vaters übernahm er als neues Familienhaupt die zentrale Position innerhalb des Grundherrschafts- und Familiensystems. Ihm wurde im geringsten Maße von der Familienordnung Verzicht zugemutet. Nach der Abfindung der Geschwister nutzte er allein die Einkünfte aus den Familiengütern. Doch hatte er andererseits auch umfassende Pflichten im Interesse der Gesamtfamilie, die, wenn er ihnen sorgfältig nachkam, durchaus mit erheblicher Arbeitsbelastung verbunden waren. Das brachte eine Vielzahl von zeitraubenden, mit Ärger, Enttäuschung und Sorgen verbundenen Pflichten mit sich. Zunächst hatte er die Rechte der Familienmitglieder zu sichern, d. h. die Brautschätze, Abfindungen, Ausbildungs- und Ämtererwerbskosten für seine Geschwister zu zahlen, so weit dieses durch seinen Vater noch 112

nicht geschehen war. Wenn mehrere Schwestern innerhalb kurzer Zeit heirateten, konnte die Belastung des Familienbesitzes kurzfristig sehr stark sein. Auch die Zahlung der Ausbildungskosten verursachte den Stammherrn viel Arger, weil sie immer deutlich höher ausfielen als sie projektiert waren. Der Stammherr hatte Familienfeste, wie Hochzeiten, Taufen, Bestattungen etc. der Außenwelt mitzuteilen und auszurichten. Häufig mußte er - wegen frühen Tods des Vaters - dessen Stelle in der Erziehung seiner noch unmündigen Geschwister übernehmen. Er sicherte die Versorgung der Mutter und Witwe, vor allem die Auszahlung der jährlichen Witwenrente. In den meisten Fällen wurde er auch zum Exekutor des letzten Willens seiner Onkel, Tanten und Geschwister ernannt; darüber hinaus war es seine Aufgabe, in allen Erb- und Sukzessionsfällen, die die Familie im weitesten Sinne betrafen, als Anrechtswahrer aufzutreten sowie ungerechtfertigte Ansprüche an seine Familie von der Seite einzelner Familienmitglieder oder von fremder Seite abzuwehren. Hier wie dort kam es häufig zu Meinungsverschiedenheiten, Konflikten und Prozessen."® Das Haus des Stammherrn war letzte Zuflucht und wirksame Lebensversicherung aller in N o t geratenen Familienmitglieder. Das wurde in den meisten Testamenten oder Ehepakten der Famihen ausdrücklich festgelegt. Dem Familienhaupt oblag die Fürsorge für seine schutzbedürftigen, vor allem kranken Verwandten, wenn diese keine andere Pflegemöglichkeit fanden. Auch hatte er für die Harmonie zwischen den Familienmitgliedern zu sorgen, und Streit zu schlichten. Da in dieser Zeit selbst relativ geringfügige Konfliktfälle, über langwierige und kostspielige Prozesse, erhebliche Konsequenzen haben konnten, wurde er auch von seinen erwachsenen Verwandten, wenn sie in ihrem Lebensbereich in irgendeinen Konflikt gerieten, zumeist konsultiert und um Hilfe gebeten; denn der Familienbesitz galt den anderen Familienmitgliedern in solchen Fällen, da ihr eigenes Vermögen gering war, als Rückhalt und Rückversicherung. Der Stammherr war so an den meisten Problemen, KonfUkten und Prozessen der Geschwister und Verwandten beteiligt, hatte sie zum Teil sogar selbst auszutragen. So war August Ferdinand v. Merveldt bei der Äbtissinnenwahl im Stift Langenhorst gleichzeitig Rückversicherungsinstanz, kompetenter Ratgeber und mächtiger Helfer seiner Schwester Clara Ludowica im Kampf um die Äbtissinnenstelle. Er arrangierte sich mit dem Domherrn v. d. Lippe, der für seine Schwester diese Position zu erringen suchte; nahm Kontakt mit dem Kaiserhof in Wien und mit dem Kurfürsten auf, um die Intentionen des Domherrn zu vereiteln; besorgte die Wahlgeschenke, die Clara Ludowica möglichst vor der Wahl an die Stiftsdamen verteilen sollte; und nachdem Clara zur Äbtissin gewählt war, organisierte er auch den glanzvollen festlichen Rahmen für die Einführung seiner Schwester als Äbtissin des S t i f t s . * " Da die Familie trotz oder gerade wegen der in ihr ungleichgewichtig aufgeteilten Aufgaben und Anrechte ein Leistungsverband auf Gegenseitigkeit war, galt nicht nur das Prinzip der gemeinsamen Besitz- und Anrechtsnutzung, sondern auch das der gemeinsamen Haftung für das Verhalten aller Mitglieder. Der dem Stammherrn von der Familienordnung zugeschriebenen Kontroll- und Disziplinierungsbefugnis entsprach auf der Gegenseite seine Verpflichtung, für das Fehlverhalten seiner ihm anbefohlenen nächsten Verwandten zu haften. In der Belastung durch diese vielfältigen und bisweilen äußerst beschwerlichen Verpflichtungen liegt wohl der Grund dafür, 113 8

Reif, Adel

daß bisweilen, vor allem in Krisenzeiten oder bei ökonomisch kritischer Lage des Familienbesitzes, zukünftige oder amtierende Stammherren ihre Stellung als Belastung empfanden, nicht anstrebten oder gar niederlegten, und statt dessen ein ruhiges Dasein als Domherr bevorzugten.^" Zwischen Verwandtenforderungen, ökonomischen Erfordernissen des Grundbesitzes, eigenen Ansprüchen und Anordnungen der Familienordnung stehend, entschied sich der Stammherr im Konfliktfall häufig gegen seine Verwandten. Seine von Jugend an herausgehobene Stellung gegenüber den Geschwistern und die sachlichen Anforderungen der Familienordnung, die er, Stammherr geworden, zu vertreten hatte, verhinderten zumeist die Ausbildung engerer emotionaler Beziehungen zu Geschwistern und nächsten Verwandten. Die Kontakte zu den verheirateten Schwestern und Brüdern blieben zumeist distanziert, immer von offiziellen Bezügen durchdrungen. So wurden z . B . nachgeborene Söhne häufig nur als verfügbares Element im auf Pfründenerwerb ausgerichteten familienpolitischen Kalkül, als Mittel der Geldanlage, betrachtet. Uber einen Bruder des Hermann Adolph v. Nagel schrieb der Rentmeister der v. Nageischen Güter Löhers am 12. 1. 1754 an Hermann Adolph nach Wien: Wegen der Münsterischen Praebende ist meine ohnvorgreifliche Meinung: Dero H . Bruder mus kendlich nebst der Paderbörnischen noch eine andere Praebende haben, und unter allen ist die Münsterische für dem Haus die Beste. Gleichwohl wird am diensahmsten seyen, daß man damitt warte, bis Dero H . Bruder aus der Frömbde kombt, und erst sihet, in was für einen Stande derselbe sich befinde, ob er frisch und gesund sey, welches ich von Herzen wünsche, dan es war ein großer Schade, 14 000 R T vergeblich anzuwenden.""

Geschwister und Verwandte traten sich in der Regel gleichsam nur mit ihrer repräsentativen Seite gegenüber. Das wird auch in Anreden wie „Frau Schwester", ,,Herr Bruder" etc. deutlich. Nur in Not- und Krisensituationen konnte bisweilen dieses distanzierte Verhältnis, von gemeinsamem, solidarischem Handeln ausgehend, emotional intensiviert werden. Bei unverheirateten Schwestern trat dazu häufig noch eine einseitige, verehrende £¿e¿e zum ältesten Bruder auf, analog zu der oben dargestellten möglichen Gefühlsbeziehung der Kinder zum Vater. Das Verhältnis zu den jüngeren Brüdern blieb dagegen zumeist sehr unpersönlich. Bei der weiteren Verwandtschaft hielt nur das Bewußtsein von der Familie als dem engeren Unterstützungsverband auf Gegenseitigkeit eine minimale ,,Affection" zum Stammherrn wach.*" Die Töchter verblieben bis zum Datum ihres Eintritts ins Stift oder bis zu ihrer Heirat dem Bereich der Mutter zugeordnet. Sie erhielten von ihr, von angestellten Gouvernanten oder aber von einer Tante im Stift eine den Ansprüchen der Zeit gemäße hauswirtschaftliche und in beschränktem Maße auch eine allgemeine Ausbildung. Mit ca. achtzehn Jahren wurde ihnen mehr Selbständigkeit eingeräumt. Die nun einsetzende Verzinsung ihres Abfindungskapitals erlaubte ihnen einen in Grenzen selbständigen Konsum. Seitdem strebten sie mehr oder weniger direkt die Ehe an. Eine bewußte Wahl des geisdichen Standes war im 18. Jahrhundert außerordentlich selten. Doch sind aus früheren Jahrhunderten eine Reihe von Fällen nachzuweisen, in denen Töchter, für die schon in jungen Jahren Bewerber auftraten, das Leben im Stift, in 114

dem sie sich von Kind an aufgehalten hatten, einer Heirat vorzogen. Kindliche Religiosität, Bindung an die gewohnte Umgebung, der Wille, dem Wunsch der Eltern so wie der Tanten im Stift nach Heiratsverzicht und Religiosität entgegenzukommen und auch das zu dieser Zeit noch weniggü'wzen^e Leben der Landedelfrau mögen bei diesen Entscheidungen mitgewirkt haben. So verzichtete z. B. Helena v. Fürstenberg 1601 auf eine Heirat, weil sie „zum Heiraten ganz ungeeignet" sei. Auch Ursula v. Fürstenberg (geb. 1614) entschied sich ,,aus eigenem Antrieb und aus Liebe zu Gott" für den geistUchen Stand, obwohl schon mehrere Bewerber um ihre Hand gebeten hatten. ^^^ Um die innerhalb der Familie gesicherten oder ihr neu zufallenden Stiftspräbenden zu nutzen, aber auch um nicht zu früh eine klare und willkürliche Trennung zwischen heiratenden und nicht heiratenden Töchtern durchzuführen, wurden nahezu alle Töchter zunächst einmal in ein Damenstift gegeben, das ein Teil von ihnen später wieder verließ, um zu heiraten. Insofern bestand zumindest subjektiv für alle noch jungen Stiftsdamen die Aussicht zu heiraten. Real gelangte dagegen nur etwa die Hälfte der Töchter, und zwar aufgrund des mangelnden Angebots an heiratsberechtigten Männern, zur Heirat. Die heiratenden Frauen stabihsierten, wenn sie innerhalb des Heiratskreises heirateten, den regionalen Adel als privilegierten Landstand; denn sie halfen mit, dessen Bestand an Familien, Grundbesitz und Ämtern zu erhalten. Da sie im 18. Jahrhundert nur niedrige Brautschätze in Anspruch nahmen, waren sie, vorausgesetzt es heiratete, wie es im Durchschnitt der Fall war, in einer Familie maximal nur die Hälfte der Töchter, in der Regel keine allzu große Belastung für den Besitz der Familie. Gemäß der vorindustriellen, verstärkt aber der adligen Denkweise, nach der nur der Verheiratete volle soziale Geltung beanspruchen konnte, standen die verheirateten Frauen im Ansehen weit über ihren unverheirateten Schwestern im Damenstift, zum Teil sogar über den unverheirateten nachgeborenen Söhnen, soweit diese nicht Domherrn geworden waren. Gemäß ihrer wichtigsten Leistung, der Kontinuitätssicherung durch Gebären von Kindern, waren Heiraten, Schwangerschaften und Geburten, wie aus zahlreichen Briefen hervorgeht, die wohl wichtigsten alltäglichen Gesprächsthemen unter den Frauen. Da die verschiedenen Familien relativ nahe beieinander wohnten und zumindest einmal im Jahr, in den Wintermonaten, in Münster zusammentrafen, standen die jungverheirateten Frauen unter großen psychischen Belastungen, wenn sich nicht bald nach der Heirat Nachwuchs einstellte. Schon das Ausbleiben von Kindern über mehrere Jahre wurde von der Frau als Versagen in ihrer wichtigsten Aufgabe, von der adligen Umgebung als Katastrophe empfunden. Eine große Kinderzahl verlieh der Frau dagegen außerordendiche Würde. Das Bild der alten Mutter im Kreis vieler Kinder und Enkel hatte im Adel einen außerordendich hohen Prestige- und Gefühlswert."® Normal war für die verheiratete Frau im münsterländischen Adel eine gleichmäßige Geburtenfolge unter Ausschöpfung der ganzen Fruchtbarkeitsphase, infolgedessen eine große Kinderzahl, in die nur die hohe Kindersterblichkeit Lücken riß. Diese Geburtenfolge wurde aber wegen der hohen Müttersterblichkeit häufig abrupt unterbrochen. Eine schwierige Phase der Ehe war für die jungverheiratete Frau dann zu überstehen, wenn in der Familie, in die sie hineinheiratete, die Nebenhauslösung oder die 115

Ausgliederang der Witwe aus der Familie des ältesten Sohnes und neuen Stammherrn nicht praktiziert wurde. Sie bedurfte dann eines hohen Maßes an Anpassungs- und Unterordnungsfähigkeit, um Konflikte zu vermeiden; denn die Autorität lag in dieser traditionalen Gesellschaft noch ungebrochen beim Alter, d. h. in dieser Konstellation bei der Schwiegermutter. Doch war der jungen Frau die Pflicht zur Unterordnung aus ihrer Zeit als Tochter nicht fremd; dazu wurden von ihr Anpassung an die Tradition des Hauses sowie Gehorsam gegenüber ihrem Ehemann gefordert. Der Hausherr bestimmte allein die Lebensführung. Das Günstigste, was zu erwarten stand, war eine gewisse Rücksichtnahme auf ihre Wünsche. Dankbarkeit und Demut blieben dann ihr Teil.^^ Als Witwe führte die Ehefrau, wenn sie diese Phase ihres Lebenszyklus erreichte, ein angenehmes, abwechslungsreiches und sorgenfreies Leben, zumal nachdem sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die Stadtwohnung gegenüber dem ländlichen Witwensitz als allgemeine Lösung durchgesetzt hatte. Trat die Witwensçhaft in jungen Jahren ein, so war Wiederverheiratung die erstrebte Lösung. Hatte die Witwe noch unmündige Kinder, so konnte sie auch auf Wiederverheiratung verzichten und die Vormundschaft ihrer Kinder und damit verbunden die Administration der Familiengüter übernehmen. Noch im 16. Jahrhundert war es unüblich, daß die Witwe Vormünderin wurde; man zog ihr den Brader, den Neffen oder andere erwachsene Verwandte vor. Im 18. Jahrhundert hatte sich aber allgemein durchgesetzt, und es wurde sogar in den Ehepakten ausdrücklich festgehalten, daß die Witwe àit natürliche Vormünderin der Kinder wäre und infolgedessen auch die Administration der Familiengüter zu besorgen hätte. Doch wurde diese ihr auferlegte Pflicht der Witwe oft zur Belastung. Sophie Antonetta v. Korff, geb. v. Boeselager, trag z. B. deshalb in einem Gesuch des Jahres 1799 an den Kurfürsten darauf an, ihren Sohn Fritz v. Korff mit 23 Jahren für großjährig erklären zu lassen: Es sind ungefehr zehn Jahre verflossen, seitdem ich als alleinige Vormünderin meiner minderjährigen Söhne zufolge des Tesfâments meines seeligen Gemahls die von Korffschen Güter mit möglichster Sorgfalt verwaltet habe. Die mit dieser Verwaltung notwendig verbundene viele Mühe und Sorgen, das Gefühl der schweren Pflichten, welche dieselben mir auferlegt, und die daraus erwachsende Ängstlichkeit und Unruh auch, ich kann es Eurer Kurfürstlichen Durchlaucht unterthänigst nicht verhelen, der Überdruss an solchen, einem Frauenzimmer ohnehin doppelt beschwerlichen Geschäfte, machte schon seit einiger Zeit den Wunsch in mir wach, jene Vormundschaft niederzulegen, und den Rest meiner Tage in Ruhe und sorgloser Zufriedenheit verleben zu können."'

Ein harter Brach und damit psychische Spannungen, die zu Konflikten führen konnten, traten im Leben der verheirateten Frau nur dann ein, wenn der Mann kurz vor oder nach der Großjährigkeit ihres ältesten Sohnes starb, weil sie dann, noch voll bei Kräften, aber aufgrand ihres Alters ohne Wiederverheiratungschance, das Gut und damit ihre geachtete Stellung als Hausherrin relativ unvorbereitet aufgeben mußte, da der Sohn in einem solchen Fall, von der Kontrolle des Vaters befreit, überaus häufig sofort heiratete. Hier zeigte die schwache Position der Witwe in einem Agnatensystem ihre volle Wirkung. Viele Familienordnungen haben deshalb die Heirat des ältesten Sohnes, im Falle des vorzeitigen Todes des Vaters, an den Konsens der Mutter 116

gebunden. Auch die vielen testamentarischen Verfügungen, in denen die Witwe lebenslängliche Nutznießung der Güter - es sei denn, sie trat freiwillig zugunsten ihres ältesten Sohnes zurück - zugestanden wurde, sind wahrscheinlich vorwiegend auf diese negativen Erfahrungen der jungen Witwen zurückzuführen. In der Hierarchie der Kinder nach Maßgabe der Familienziele standen die nachgeborenen Söhne neben bzw. unter denverheirateten, aber deutlich über den unverheirateten Schwestern, da sie übér Ämterbesitz das Ansehen der Familie steigern konnten. Die Domherrn als Geistliche traf darüber hinaus auch nicht das Odium des Mangels einer eigenen Familie. Nachgeborene Söhne, die über eine Ämterkarriere ein hohes, z.B. geisdiches Amt errangen, evtl. sogar geisdiche Fürsten wurden, konnten neben dem Stammherrn großes Ansehen erringen, ihn z.T. sogar, am Familienprestige gemessen, überflügeln. Starb der Stammherr, so übernahm ganz selbstverständlich ein solch angesehener Onkel die Vormundschaft des zukünftigen Stammherrn und die verwaiste Rolle des Familienoberhaupts, wie z.B. der Fürstbischof von Paderborn und Münster, Ferdinand v. Fürstenberg, am Ende des 17. Jahrhunderts. Die Bestimmung des Amts der Söhne lag beim Vater; zwar war seine Entscheidung nicht völlig unrevidierbar, aber es gab harte Grenzen in den Fällen, in denen die Realisierung eines Familienziels durch abweichende Pläne eines Sohnes in Frage gestellt wurden. Schon die Namengebung signalisiert, daß der Lebensweg des nachgeborenen Sohnes weitgehend festgelegt war. Während der zukünftige Stammherr den Namen des regierenden Fürsten oder eines wichtigen Mitglieds des Kaiserhauses trug, bekam der nachgeborene Sohn den Namen eines Onkels und damit ein Vorbild, auf das er in der Erziehung ausgerichtet wurde, dem er nachzustreben hatte, so daß durch die Wiederholung der ursprünglichen Leistung des Onkels im Neffen gleichen Namens die Erinnerung an diesen Vorfahren wachgehalten und der Glaube an die Familie als Trägerin ¿er hervorragenden Eigenschaften, die schon den Onkel ausgezeichnet hatten, bestärkt w u r d e . " ' Die nachgeborenen Söhne blieben, sofern sie nicht zur Erziehung früh aus dem Haus gegeben wurden, in der Regel bis zum fünfzehnten Lebensjahr im Haus des Vaters, um dann außer Haus die Ausbildung fortzusetzen wie die zukünftigen Domherrn, oder aber um in einer niedrigen Charge direkt in eine Ämterlaufbahn einzutreten; letzteres galt für die Söhne in den Militär- und Verwaltungslaufbahnen. Während das Amt eines Domherrn oder eines Deutsch-Ordens-Ritters die ganze Lebenszeit ausfüllte, gingen Militär- und Verwaltungskarrieren in eine Phase der arbeitsfreien Altersruhe über. Da der Militärdienst in den unteren und mittleren Offizierschargen wenig einträglich war und Blitzkarrieren nur selten vorkamen, konnte der Offizier in der Regel lange Jahre ans Heiraten nicht denken. Heiratete er, dann erst wesentlich später als der Stammherr, wenn er einen hohen Rang erreicht hatte, oder wenn er mit einer durch Abfindungskapital oder Erbvermögen vergrößerten ersparten Geldsumme ein kleines Rittergut gekauft hatte, dessen Einkünfte, vermehrt um seine Pension, ihm die Gründung einer Familie gestatteten. Frühe Heiraten nachgeborener Söhne waren ansonsten nur über Erbtochterheiraten oder die Nutzung einer Sekundogenitur der Familie möglich. Doch oft heirateten die nachgeborenen Söhne im Militärdienst nicht, so daß ihr Vermögen an die Stammlinie zurückfiel. Die häufig mit ei117

nem Auslandsaufenthalt verbundenen Militärkarrieren wurden, wegen der alternativ ungleich angenehmeren und einträglicheren Domherrnlaufbahn immer weniger gewählt. Nur außerordendiche Erfolge in militärischen Laufbahnen im Ausland drangen bis in die Heimatregion, wurden dann aber auch hoch bewertet. Fehlte dieser Erfolg jedoch, so ging die Leistung des Sohnes, wegen der großen Entfernung, leicht dem Standes- und auch dem Familiengedächtnis verloren, wie man ja auch Abweichler und Versager durch informellen Druck ins Ausland und damit in die Randzone des Familiengedächtnisses, nahe der Grenze zum Vergessen, abzudrängen suchte. Die wegen ihrer regionalen Mobilität in besonderem Maße zur Ausbildung individueller, familienfremder Ziele und Verhaltensweisen disponierten nachgeborenen Söhne haben sich nach ihrer um 1700 weitgehend abgeschlossenen Umorientierung auf das Fürstbistum und seine gut dotierten Domherrnstellen den Anforderungen der Familienordnung in der Regel ohne Widerstreben gefügt. Die Domherrnstellen erlaubten einen anspruchsvollen, abwechslungsreichen Lebensstil und boten darüber hinaus zudem die Möglichkeit, sich politisch zu engagieren, im Dienst der Landesherrschaft bis in höchste staatliche Ämter vorzurücken und schließlich sogar im geistlichen Wahlstaat die Landesherrschaft zu erringen. Eine Neigung zur Abkehr von den Vorschriften des durch den Vater definierten kollektiven Familienwillens, vor allem von den Forderungen nach Heirats-, Erb- und Berufswahlverzicht, ist bei den nachgeborenen Söhnen vom Ende des 17. Jahrhunderts bis 1770 kaum nachzuweisen, es sei denn, dem Sohn wurde ein übertrieben harter Verzicht zugemutet."* Das Verhältnis zwischen dem nachgeborenen Sohn als Domherrn und seinem ältesten Bruder als Stammherrn war in dieser Zeit zwar weiterhin distanziert, doch allgemein spannungsfrei. Der Onkel war als Pate, Turnar und Testator für die Familie des Stammhalters von anerkannter Wichtigkeit; die über Patenschaft und Namengebung gesicherte Bindung zwischen dem Onkel und einem seiner (nachgeborenen) Neffen war ein wichtiges Element im Ämtersicherungssystem der Adelsfamilie. Sein recht hohes Domherrneinkommen gab dem Stammherrn einen sicheren Rückhalt in Situationen plötzlicher Geldknappheit, und das Domherrnvermögen flöß in der Form nicht rückgezahlter Darlehen und Kapitalien oder angekauften Landbesitzes an die Stammfamilie zurück. Außerordentlich reiche Domherren gründeten Sekundogenituren zugunsten eines nachgeborenen Sohnes des Stammherrn oder errichteten umfangreiche Familienstiftungen. ^^^ Starb der Stammherr ohne Kinder, so ergab sich für den Bruder und Domherrn die Möglichkeit und Notwendigkeit, seinerseits Stammherr unàFortsetzer der Familie zu werden. Trat dieser Fall nicht ein, so verblieb er durch Übernahme von Ersatzfunktionen im Sinne der Familienordnung, z. B. als Vormund und Erzieher oder als Ratgeber des Neffen und Stammherrn, die ihm aufgrund des damals hoch bewerteten Alters in selbstverständlicher Weise zuerkannt wurde, dennoch stets in einer geachteten, wenn auch vom unmittelbaren Familiengeschehen zumeist distanzierten Stellung. Die unverheiratet bleibenden Töchter besaßen in der Familie wegen ihres geringen Beitrages zu deren Glanz nur eine außerordentlich marginale Bedeutung; es sei denn, sie wurden Äbtissin eines Damenstiftes und steigerten als Leiterin eines Hauses und der das Stift tragenden Grundherrschaft Ansehen und Einfluß der Familie oder such118

ten dasselbe Ziel als Nonne eines der umliegenden Klöster durch außerordentliche, Aufmerksamkeit erregende Frömmigkeit zu erreichen. Da eine Frau in dieser von Männern bestimmten Welt keine Möglichkeit zur selbständigen, alternativen Selbstverwirklichung jenseits der Ehe und des Stifts oder Klosters besaß, war es den Familienhäuptern leicht möglich, die nicht heiratenden Töchter, um die Familienlasten gering zu halten, zu einer im Verhältnis zum Lebensstil der nachgeborenen Söhne und verheirateten Schwestern äußerst kargen Stiftsexistenz zu zwingen. Die Stifter waren ursprünglich durch die Vorfahren der Adelsfamilien zu religiösen und Versorgungszwecken eingerichtet worden, so daß sich schon von daher ein gewisser Zwang zur Nutzung des Stiftungskapitals durch weibliche Familienmitglieder ergab. Im 16. und 17. Jahrhundert war der religiöse Aspekt immer stärker zurückgetreten. Am Ende des 18. Jahrhunderts dominierte dann deudich der Versorgungsaspekt. Das Stift galt vielen Familien als notwendiges Mittel, die ansonsten funktionslosen unverheirateten Töchter leidlich zu versorgen. Die trostlose Lage der im Stift verbleibenden Stiftsdamen schildert eindringlich in einer Denkschrift über die Damenstifter im Münsterland im Jahre 1787 der ehemalige Minister und Generalvikar Franz V. Fürstenberg: Damenstifter sind Zufluchtsörter, w o sich Fräuleins von Adel schicklich aufhalten können. D i e Vorurteile der Geburt und die wenigen für Fräuleins vom Stand übrigbleibenden Aussichten machen diese Einrichtung für den mehr zahlreichen als bemittelten deutschen Adel nötig . . . Der überall eingedrungene Mönchsgeist hat sich auch hier verbreitet, und da die zunehmende Aufklärung hindene, die Mädchen wie ehemals zu wirklichen Nonnen zu zwingen, so wurden quasi-Nonnen daraus gemacht und man glaubte, Gott, dem Herzen- und Nierenforscher einen gefälligen Dienst durch gezwungenen und unverstandenen Gesang schmachtender Mädchen zu bringen. N u n stelle man sich ein westfälisches auf einem elenden Dorf gelegenes, von allem menschlichen U m g a n g entferntes Damenstift vor, von welchem alle jene sorgfältigst wegeilen, denen Glücksumstände oder bessere Aussichten einen anderweitigen Aufenthalt gönnen. Der eigentliche gegenwärtige Bestand solcher Stifter ist also aus alten übergebliebenen und in ihrem D o r f e gegen allen menschlichen U m g a n g verwilderten Fräulein und aus jungen aufkeimenden Mädchen bestellt, welche in verschiedenen aus H o l z und Leim zusammengemachten elenden Wohnungen die Tage ihres Lebens mit Psalmodieren und Nichtstun zubringen. Ohne Aussicht, ohne Meister, ohne gesitteten U m g a n g , ohne Bücher noch sonstige Langeweile zerstreuenden und H e r z und Verstand bildenden Hilfsmitteln, sitzt das junge, unerfahrene Mädchen die besten Jahre ihres Lebens in diesem O r t , wo ihr, wenn sie sich der Zanksucht und Hader der armen Fräulein entschlagen will, kein ander Mittel übrigbleibt, als mit Hintansetzung aller Anständigkeit in Tracht und Kleidung durch K o t und Morast über Heiden und Feldern bei allen Witterungen umherzuirren und nebst Vernachlässigung ihres A n z u g s und Teints sich durch körperliche Bewegung zu zerstreuen; und wer weiß, wie mancher Müllerknecht oder Jägerbursche ein so verlassenes gefühlvolles Mädchen ein Adonis w a r ? " ^

Wirksame Möglichkeiten des Widerstandes gab es für die Töchter nicht. Zwar wurde die Funktionslosigkeit der Stiftsdamen noch eine Zeit lang überdeckt, weil zunächst der größte Teil aller Töchter ins Damenstift eintrat und der Vater - die Auswahl den Mechanismen des von einer geringen Zahl heiratsberechtigter stiftsadliger Söhne bestimmten Heiratsmarkts überlassend - keine Bestimmungen darüber traf, welche Tochter heiraten sollte und welche nicht; doch die Töchter, die es nicht zu einer Heirat brachten, maßten damit rechnen, ihr weiteres Leben im Stift zu verbringen. Da eine gewisse Ausbildung Voraussetzung für den Antritt einer Stiftspräbende war, fiel 119

den älteren Stiftsdamen, zumeist Tanten der Anwärterinnen, die Aufgabe zu, ihre Nichten, die dazu schon in jungen Jahren zeitweise ins Stift gegeben wurden, die geforderten Qualifikationen zu vermitteln und zugleich die im Elternhaus begonnene hauswirtschaftliche Ausbildung, so gut es eben möglich war, weiter zu führen. Doch jenseits dieser zeitlich begrenzten Aufgabe besaß die Stiftsdame nur ein extrem enges Tätigkeitsfeld, dessen Möglichkeiten noch durch das zu dieser Zeit geringe Interesse an einer Ausbildung der Frau und deren infolgedessen zumeist niedrigen Bildungsstand auf subjektiver Ebene weiter reduziert wurden. Die relativ niedrigen Präbendeneinkünfte und die geringen Zinsbeträge aus dem, nach Abzug der Ämtererwerbskosten, eventuell noch verbliebenen Abfindungskapital erlaubten nur einen im Vergleich zu den Geschwistern kargen Lebensstil. In dem Maße, in dem sich die Hoffnungen auf eine Ehe zerschlugen, wurde die volle Härte der Verzichtssituation, der lebenslängliche Zwang zu einer kümmerlichen, unproduktiven Stiftsexistenz voll wirksam. Die Misere der Stiftsdamen fand ihren Ausdruck in der spannungsvollen, intrigenreichen Atmosphäre im Stift, an den auf Präbendenkäufe, -Verkäufe und -resignationen sowie auf Heiratsnachrichten und -gerüchte reduzierten Gesprächs- und Briefinhalten, den abnehmenden Familienkontakten und der Wendung der alternden Stiftsdamen zu verstärkter Religiosität.^^® Eine häufig anzutreffende Reaktion der Stiftsdamen auf die Vernachlässigung durch ihre Verwandten waren vorgeschützte Krankheiten; auf diese Weise suchte z.B. schon die Stiftsdame Ursula v. Fürstenberg im Jahre 1659 ihre Verwandten wieder auf sich aufmerksam zu machen. Doch dieses Mittel entwertete sich mit der Zeit, so daß selbst bei wirklichen Krankheiten die Verwandten kaum reagierten. Eine solche harte Einstellung gegenüber kranken Stiftsdamen findet sich z. B. in den Briefen des Rentmeisters der Familie v. Nagel Hermann Löhers wieder, der an Hermann Adolph v. Nagel, der sich seit Jahren in Wien befand und sich weder um die Familiengüter noch um seine im Stift lebenden Schwestern bekümmerte, am 3. 6. 1755 schrieb: Mit der Fräulein Schwester zu Freckenhorst ist es leyder nicht zum besten; sie hat nun in die zwölf Wochen nichtes wieder gegessen, und hat eine Arth von einer fallenden Krankheit; ich halte es aber für eine Eigensinnigkeit und simulirtes Werck. Wan die sich in der Weldt nicht anders guberniren will, so wäre ihr der Himmel zu gönnen. Die Fräulein zu Borghorst ist auch kränklich."'

Die an sich schon in damaliger Zeit von Unterordnungsbereitschaft geprägte Haltung der Frauen gegenüber den Männern wandelte sich bei den alternden Stiftsdamen häufig zur einschmeichelnden Selbstverleugnung, eine Entwicklung, die auf das Fehlen jeder Grundlage zur Ausbildung eines festen Selbstwertgefühls, z.B. einer im Sinne der Familiennormen wirklich nützlichen Tätigkeit, zurückzuführen ist. Als unverheiratete Tante am stärksten auf die Familie des Neffen und Stammherrn als dem Ersatz für ihr nicht gelebtes eigenes Leben angewiesen erfuhr die Stiftsdame in besonders schmerzhafter Weise die Entfernung von den Familien ihrer Geschwister als Mangel. Die Patenschaft bei Neffen und Nichten war die wichtigste Verbindung der Stiftsdamen zu ihrer Familie. Mit Geschenken suchten sie die Patenkinder an sich zu binden. Daß das Leben der Familie des Bruders ein Ersatz für das nicht gelebte eigene Leben 120

war, wird deutlich in einem Brief der Maria Viktoria v. Twickei an ihre Schwägerin Franziska v. Twickei, in dem sie schrieb, sie hoffe . . . daß wir wieder ein neues Jahr hoffentlich erleben werden, und (auf) das alte zurücksehen ohne . . . besondere Unglücksfälle in unserer Familie erlebt (zu haben), und daß sie so einig unter Eltern, Geschwistern und Tanten, nicht wahr, ich darf mich doch nicht vergessen, sind . . . und mache den großen Zuhesatz in dem neuen Jahre, daß unsere Söhnchen avancieren, die Soldaten so wie die Zivilisten und unsere Töchter geben, was ihnen glücklich machen kann; du bist doch wohl nicht ungehalten, daß ich von unseren Söhnchen und Töchtern spreche, ich habe sie alle gern, um nicht mit Papa und M a m a gemeinschafdichen Teil an die guten Kinder zu nehmen."'

Orientierung an fremden Vertrauenspersonen von niedrigerem Stande war häufig die Folge. Eine solche Umorientierung der Stiftsdamen auf familienfremde Vertrauenspersonen brachte aber die Gefahr mit sich, daß ihr Vermögen der Familie verloren ging. Diese Befürchtung hegte z.B. der Rentmeister Löhers, als er in einem Brief vom 3 . 6 . 1754 an Hermann Adolph v. Nagel nach Wien schrieb: Ich habe die G n . Frau Äbtissin so schrifdich als mündlich ersuchet, sie mögte doch einige 1 ООО Tir. nach dem Beyspiel des H . D o m p r o b s t e n seel. gegen geringe Pension herschießen, aber umbsonst, die Andtworth ist: ich will mich nicht auskleyden, bis m e i n e ñ g x r gemacht habe; zudem will sie darum flattiert seyen, anjetzo ist dieselbe gewaltig mit dem Husten incommodirt, und könte leicht eine Gefahr ausstehen, weil sie besonders verdrießlich und melankolisch, und wan dieselbe vor D e r o Rückkunft mit T o d t abgehen solte, wäre gewiß für Hochdieselbe ein großer Schade, indehm sie das ihrige leicht an Kirchen und andere vermachen w ü r d e . " '

Langwährende Einsamkeit machte die alternde Sriftsdamen außerordentlich empfänglich für die geringste Äußerung von Liebe oder Anerkeimung. Infolgedessen stand sie dauernd in der Gefahr im Interesse fremder Intentionen manipuliert zu werden. In ihrer teilweise bis in die Nähe der völligen Selbstverleugnung getriebenen Lebenslage bedurfte es häufig nur eines Anlasses, und die ohnehin wenig intensive emotionale Bindung zum Stammherrn verwandelte sich in Aggression. Mit dem durch die ¿ünehmende Anziehungskraft des Hofes verursachten allgemeinen Übergang des Adels zum Stadtleben in Münster seit Beginn des 18. Jahrhunderts und der Etablierung der Witwen in Stadtwohnungen milderte sich die Lebenslage der Stiftsdamen etwas, da sie nun, von der Residenz im Stift auf einige Zeit befreit, bei der Mutter wohnen und am Leben der Familie intensiver teilnehmen konnten. Ein Minimum an Kontakten zur Familie wurde in der Regel über Patenschaften und Vormundschaften aufrechterhalten. Hinzu kam das Interesse des Stammherrn an ihrem testamentarisch zu vergebenden Vermögen, das zumeist allein aus dem als Rentenbasis genutzten restlichen Abfindungskapital bestand. Es war für die Stiftsdamen in den meisten Fällen völlig natürlich, daß dieses Kapital an die Familie des ältesten Bruders zurückfiel."" So läßt sich zumindest in bezug auf die Stiftsdamen und den größten Teil der nicht zu einem Domherrnamt gelangten nachgeborenen Söhne des münsterländischen Adels behaupten, daß es bis Ende des 18. Jahrhunderts vor allem deshalb im Münsterland keine verarmten stiftsfähigen Adelsfamilien gegeben hat, weil diese Familien innerhalb ihrer selbst, über ein außerordentlich ungleichgewichtiges und gut durchor121

ganisiertes Heirats-, Erb- und Berufswahl-Verzichtssystem, Existenzen von relativer Armut einplanten und erzwangen, die durch religiöse Verbrämung nur schwach gemildert und von den Betroffenen zum Teil nur unter großen psychischen Entbehrungen ertragen werden konnten. Doch haben sich bis 1770 alle Familienangehörigen den ihnen von der Familienordnung zugeschriebenen Verhaltenserwartungen unterworfen.

2. Erziehung und Ausbildung 2.1 2um Verhältnis von Staat, Erziehung und Gesellschaft in Deutschland vor 1770 a) Erziehung in der altständischen Gesellschaft - eine Typologie^ Erziehungsaufgaben wurden in der altständischen Gesellschaft noch im wesentlichen von deren politischen, ökonomischen und sozialen Grundeinheiten, der Familie, dem Haus und dem Stand wahrgenommen. Art und Umfang der zu vermittelnden Fähigkeiten und Verhaltensweisen waren im großen und ganzen von diesen Bereichen her bestimmt. Die von der Kirche geleistete umfassende, alle Teilbereiche integrierende Welterklärung ließ die Landesherren als .Hausväter', und unter ihnen die Vielzahl von Hausvätern innerhalb der einzelnen Stände, in sinnvoller und eindeutiger Weise auf den göttlichen ,Hausvater' hin orientiert erscheinen. Eingebunden in eine zugleich vertikal, durch das religiöse, hierarchisch aufgebaute Kosmosmodell, und horizontal, durch die sich wiederholenden Vorbilder der Vorfahren, stabilisierte Familienordnung waren die Erfahrungen und damit die zu erlernenden Fähigkeiten und Verhaltensweisen des einzelnen durch Geschlecht, Reihenfolge in der Geburt, Forderungen der Familienordnung, Zugehörigkeit zu einem ,Haus' und einem Stand in starkem Maße im Vorhinein bestimmt. In einer auf diese Weise fest geordneten, bis ins Detail des Alltagslebens verbindlich interpretierten Welt, die nur in engen Grenzen als quantitativ und - jenseits apokalyptischer Vorstellungen - in keiner Weise als qualitativ veränderbar aufgefaßt wurde, war die ,mit- und nachahmende' Einübung hergebrachter, selbstverständlicher Verhaltensmuster im alltäglichen Umgang mit Bezugspersonen die vorherrschende Form, in der Erziehungs- und Lernprozesse abliefen.^ Da alle Erfahrungen schon einmal gemacht worden waren, lag bei den Vorfahren und bei d e n , Alten', die ja die beste Übersicht über das Ganze besaßen, die nicht angezweifelte oder hinterfragte Autorität in Erziehungsangelegenheiten. Die Erfahrung des Mangels bestimmte und das Bedürfnis nach Sicherheit organisierte die altständische Gesellschaft. Zwei aus diesen Gegebenheiten abgeleitete Prinzipien der Erziehung waren im Hinblick auf die spätere Entwicklung des Erziehungswesens von Bedeutung. Zum einen erschien die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, entsprechend dem äußerst reduzierten Möglichkeitsspielraum des einzelnen, nicht als ein positiver, die 122

Erziehung leitender Wert.^ Im Gegenteil, jedes Streben des einzelnen nach Autonomie wurde als Gefahr für die mühevoll auf Herrschaft und Verzichtsdisziplin aufgebauten Ordnungen in Familie, Stand und ,Staat' angesehen. Zum anderen hatte alles Sinnlich-konkrete innerhalb der konzentrisch von der Familie bis zum ,Staat' sich erweiternden Lebenskreise unmittelbar ,Sinn' und Bedeutung iimerhalb eines streng geordneten Ganzen und damit auch einen entsprechenden festen Wert. Anhand der sinnlich wahrnehmbaren Vorgänge seiner Umgebung, einer überschaubaren Zahl von sich regelmäßig wiederholenden .Fällen' innerhalb des Alltagslebens oder bei besonders bedeutsamen Ereignissen wie z. B. Festen, und in direktem Bezug auf wenige, Vorbilder' konnte der Heranwachsende, schon von Kind an, durch ,Abschauen' und Imitation nach und nach feste Verhaltens- und Handlungsmuster und damit die wesentlichen Grundlagen für ein späteres Bestehen in der Erwachsenengesellschaft erwerben. Gegenüber diesen, durch alltägliche Gewöhnung, durch .Umgang' mit Standesangehörigen gewonnenen Qualifikationen spielten solche, die in speziellen, aus der Alltagswelt ausgegrenzten Erziehungsinstitutionen. z . B . in Schulen oder im Unterricht durch angestellte Hauslehrer, erworben wurden (Lesen, Schreiben, Rechnen, Sprachen etc.). nur eine untergeordnete Rolle. Die bewußt und planvoll vorgehende, formale Fertigkeiten und systematisiertes, regelhaftes Wissen vermittelnde Erziehung stand lediglich in einem Ergänzungsverhältnis zu den umfassenden Prägungsprozessen in Familie. Haus und Stand. Art und Inhalt der dem Heranwachsenden vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten wurden aber auch in diesem stärker ausdifferenzierten und institutionalisierten Erziehungsbereich allein vom Bedürfnis der altständischen Grundeinheiten, im Falle der Hauslehrer konkret von den einzelnen Hausvätern quasi kraft eigenen Rechts festgelegt. Eine unmittelbar Status konstituierende Qualität besaß dieser Teil der Erziehung nicht. Soziale Position und Prestige des einzelnen wurden von Familie und Stand bestimmt.·* Das mit diesem Typus entworfene Bild einer Erziehung in der altständischen Gesellschaft ist nun, will man den realen Verhältnissen näher kommen, zumindest dreifach zu korrigieren; denn zum einen wurden die damals stets gegenwärtigen Spannungen und Konflikte zwischen dem einzelnen und den kollektiven Grundeinheiten, die vielfältigen Formen und Fälle abweichenden Verhaltens ausgespart; zum anderen war das Maß und die Intensität des Eingebundenseins des einzelnen in Familie. Haus und Stand und der Anteil der Nachahmungs- zur spezialisierten, bewußt regelhaften Erziehung in den Ständen sehr unterschiedlich und schließlich wurden auch die stets wirksamen Prozesse politischen, ökonomischen und sozialen Wandels noch nicht berücksichtigt; gerade letztere hatten aber einen erheblichen Einfluß auf die damaligen Erziehungsvorstellungen und das Erziehungsverhalten.®

b) Wandel der Erziehungsvorstellungen Volkswirtschaftsbildung

bis 1770 infolge fortschreitender

Staats- und

Für die Entwicklung der Erziehungsvorstellungen und der Erziehungsinstitutionen waren zwei grundlegende langfristige Wandlungsprozesse entscheidend: Die Ausbil123

dung des zentralisierten, bürokratisierten modernen Staates und der Aufbau eines leistungsfähigen, expansiven, an überregionalen Märkten orientierten Wirtschaftssystems. Als eine erste, dem Interesse am Ausbau zentraler staatlicher Institutionen verpflichtete weltliche Bildungskonzeption läßt sich das Bildungsideal der Humanisten interpretieren. Durch Rückgriff auf die Antike mit ihren im Verhältnis zum spätmittelalterlichen .Staat' sehr komplexen politischen Verfassungen und den ihnen entsprechenden Tugenden produzierte eine kleine, an den aufblühenden Höfen des 15. und 16. Jahrhunderts lebende bzw. orientierte intellektuelle Elite eine den Bedürfnissen des sich durchsetzenden Territorialstaats entsprechende »politische Bildung', ein spezifisches rationales Herrschaftswissen, für die Fürsten und deren unmittelbare Führungsschicht. Von zwei Schichten rezipiert wurde der Humanismus in der Folge zum allgemeinen Bildungsideal der Zeit. Zum einen entwickelte sich auf seiner Grundlage ein bedeutender, aus städtischen Oberschichten sich rekrutierender weltlicher Gelehrtenstand, der, von der Reformation beeinflußt, das Bildungskonzept in starkem Maße an christliches Gedankengut zurückband. Zum anderen nahm die infolge fortschreitender Ausweitung staatlicher Kompetenzbereiche und sich durchsetzender Dominanz der Höfe gefährdete, ständisch entmachtete, schließlich zum höfischen, militärischen oder administrativen Funktionsadel umgebildete Aristokratie über verschiedene Entwicklungsstufen und in zunehmender kritischer Absetzung von der als weltfremde Pedanterie und zeitvergeudende ,Schulfuchserey' abgewerteten humanistischen Gelehrtenbildung ebenfalls humanistisches Gedankengut auf und entwickelte auf dieser Grundlage das neue höfisch-adlige Bildungsideal des für den Staat brauchbaren ,Kavaliers', in dem die älteren adligen Bildungsideale, das heroische des Rittertums und das wissenschaftlich-gelehrte des Fürstendieners, des ,Politicus' mit den neuen Bedingungen für den Erfolg im Fürstendienst am Hof, der zunehmend an Bedeutung gewann, indem er in erheblichem Maße Prestige- und Ämterchancen bei sich konzentrierte, zu einer Einheit gebracht worden war.® Dieses Bildungsideal wurde in Deutschland nach dem für das städtische Bürgertum verheerenden Dreißigjährigen Krieg, mit dem Erstarken der Höfe und des Adels, zum allgemein verbindlichen Bildungsideal nicht nur des Adels, sondern auch der den Adel nachahmenden bürgerlichen Oberschicht. Der Adel als eigentlicher Träger des Kavaliers-Ideals distanzierte sich über seine neue kostspielige Bildung vom Bürgertum und zog sich - die Ratschläge der an Adelsbildung interessierten pädagogischen Schriftsteller von Montaigne bis Locke sind ein deutliches Indiz für diese Tendenz - aus den am Gelehrtenideal festhaltenden Universitäten und Gelehrtenschulen, deren Prestige dadurch erheblich sank, weitgehend zurück.' Die Kavaliersausbildung betonte in Absetzung von der gelehrten lateinischen Bildung die Kenntnis der realen Welt (moderne Sprachen, Jura, Staatswissenschaften, angewandte Naturwissenschaften etc.), die für das Leben und den Erfolg an Höfen unumgänglichen verfeinerten, disziplinierten, am Ideal strengster Selbstkontrolle ausgerichteten weltgewandten Umgangsformen (die conduite) und die .Exercitien' genannten Übungen in spezifischen Formen höfischer Geselligkeit, wie Tanzen, Reiten, Fechten etc. Der Bildungsgang eines jungen Adligen bestand in der Regel aus 124

mehreren deutlich voneinander abgrenzbaren Phasen. Die auf Bildung der adlig-höfischen Person konzentrierte, Nachahmungserziehung und Vermittlung von ausgewähltem Regelwissen integrierende Ausbildung begann mit der Erziehung im väterlichen ,Haus' durch einen Hofmeister; dann folgte der,Besuch' einer Universität. Ein gelehrtes Studium und ein akademischer Grad als Abschluß des Universitätsaufenthalts wurde nun, im Gegensatz zur Gewohnheit des 15. und 16. Jahrhunderts, nicht mehr angestrebt. Den letzten Schliff erhielt der angehende Kavalier auf einer an den glänzenden europäischen Höfen ausgerichteten längeren Reise, der ,Kavalierstour'. Seine institutionelle Kristallisation fand dieses neue Ideal adliger Standesbildung in den vorwiegend im 17. Jahrhundert in protestantischen Teilen Deutschlands gegründeten spezifischen Standesschulen, den höfisch-adliges, regelhaftes Herrschaftswissen vermittelnden Ritterakademien, die nicht zuletzt deswegen eingerichtet wurden, weil die neue Standeserziehung mit außerordentlich hohen Erziehungsausgaben, die den Adel auf die Dauer schwer belasten mußten, verbunden war.® Da sie den sogenannten ,Realien' einen wichtigen Platz in ihrem Erziehungsprogramm einräumten, werden Kavaliersideal und Ritterakademien mit einem gewissen Recht in der Forschung als Vorläufer und Vorbilder der bürgerlichen Realientendenz und des neuen Erziehungsideals des praxisorientierten nützlichen Staatsbürgers aufgefaßt, das sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts langsam gegenüber dem bis dahin Universitäten und höhere Schulen beherrschenden Gelehrtenideal durchsetzte.' Doch sind, zur Erklärung der späteren Entwicklung, der weitgehenden Auflösung der Ritterakademien im 18. Jahrundert bzw. deren Aufhebung während der Humboldtschen Reformen zu Anfang des 19. Jahrhunderts, auch die Unterschiede zwischen beiden Bildungsidealen festzuhalten: Sie unterschieden sich vor allem in dem Stellenwert, den sie den Realien im Verhältnis zu den personalen Erziehungszielen einräumten. Die Erziehung in den Ritterakademien blieb selbst in Preußen, dessen Adel am weitesten auf dem Wege vom ehemaligen Herrschaftsstand zum sozial privilegierten Funktionsstand fortgeschritten war, in dominanter Weise von der Pflege familien- und standesspezifischer Personqualitäten, die nun auf eine Regierung des Staates vom Hofe aus bezogen wurden, abhängig. Auch die Realien dienten dieser ,Kultivierung' der Person und damit der Steigerung des ,Machtreichtums' der adligen Familie und des Standes. Dagegen spielte das Bedürfnis des Staates nach spezialisierten und besser qualifizierten bürokratischen Funktionsträgern nur eine sekundäre Rolle. So wie das Prinzip des Adels, der Machtreichtum, keine Reduktion auf die reine Funktion zuließ, so war es auch dieser kultivierten Erziehung unmöglich, zu reiner Fachbildung überzugehen und die Bürokratisierung des Staates, die Neudefinition von staatlich relevanter ,Leistung' im Sinne der Erfüllung differenzierter, streng sachlich definierter Funktionen konsequent zu unterstützten. Im Gegensatz zum neuen realistischen Bildungskonzept des Bürgertums, das lediglich in rein äußerlicher und instrumenteller Aneignung den weltmännisch-formbetonten Teil der Kavaliersausbildung mit übernommen hatte und sich dessen mit der Zeit zugunsten weiterer Fachbildung wieder endedigte, setzte die Adelserziehung auf den Ritterakademien staatliche Positionen mit großen Handlungsspielräumen und relativ unbestimmten Rollenvorschriften voraus, in denen sich die umfassend gebildete adligePerso« realisieren konnte; d. h. vor allem Füh125

rungspositionen am Hof, im Militär und in wenigen Spitzenpositionen der Verwaltung, nicht aber in den mittleren Bereichen einer auf reibungsloses Funktionieren im Alltag angewiesenen Bürokratie. So trugen die Ritterakademien wohl in wesentlichem Maße zur, .Säkularisierung des Nutzenbegriffs" bei, zu dessen Umorientierung von der Kirche auf den Staat; aber zur Ausarbeitung und Durchsetzung des für das 18. und die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts spezifischen Programms der .Verstaatlichung' des von Standesprinzipien unabhängigen, universal orientierten Erziehungsbereichs haben sie wenig geleistet. ^^ Neue Anregungen zur Umwandlung und zum Ausbau des Erziehungswesens gingen seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in Deutschland von den sich verstärkenden staatsbildenden Aktivitäten der Fürsten aus, die aus dynastischen und Legitimitationsgründen an politischer, militärischer und ökonomischer Machtsteigerung des Staates interessiert waren. Im Kameralismus gewannen die sich durchsetzenden absolutistischen Fürsten Deutschlands das der Sozialstruktur ihrer Staaten - es fehlte noch auf lange Zeit ein mächtiges, auf Überschreitung der Ständegrenzen hinarbeitendes, selbstbewußtes Wirtschaftsbürgertum - gemäße Programm einer Modernisierung der altständischen Gesellschaft durch verstärkte Konzentration der politischen Gewalt in zentralen staatlichen Institutionen, weitere Entmachtung der altständischen, partikular gewordenen Gewalten zugunsten einer sich bis auf Regional- und Lokalebene ausweitenden Verwaltung und Aufbau einer überregionalen, an Märkten orientierten, vom Staat gelenkten leistungsfähigen Wirtschaft. Die .Wohlfahrt für Alle' trat als neues, dynamisches Prinzip neben die herkömmlichen staatlichen Ziele des Friedensund Rechtsschutzes nach innen und der militärischen Sicherung nach außen. Die dem Staat nach diesem Konzept, das noch auf älteren hauswirtschaftlichen Prinzipien aufbaute, zufallenden neuen Aufgaben waren nur durch eine auf Leistungssteigerung abzielende Neuorganisation der staatlichen Verwaltung und eine qualifiziertere, leistungsfähige Beamtenschaft zu erreichen. Das von Beamten entworfene Programm einer Modernisierung vom Staate aus förderte dessen Bürokratisierung wie es andererseits auch einen gewissen Grad staatlicher Bürokratisierung voraussetzte. Die für zukünftige, besser ausgebildete Beamten entworfene Berufsausbildung übertrug man an neue, bzw. sich im Sinne der veränderten Ausbildungserfordernisse reformierende Universitäten und Schulen. Intensive Beschäftigung mit der Antike wurde - ein Zeichen für die selbstbewußte Einschätzung der Qualität des neuen Staates durch die Reformer - als veraltet und irreal aus dem neuen Ausbildungskanon gestrichen. Statt leerer lateinischer .Wörter' sollten die realen, vom Staat zu beherrschenden und zu lenkenden ..Dinge" den Unterricht in den neuen Ausbildungsstätten der Beamten bestimmen. Die bisher vorwiegend regional und ständisch ausgerichteten Universitäten und Schulen sollten im Interesse einer verbesserten, wissenschaftlichen Beamtenausbildung auf die Ziele und Programme der staatlichen Zentrale umorientiert werden, .brauchbare', .nützliche' Staatsbeamte und in ferner Zukunft auch andere staatsbezogene Berufsstände ausbilden. Nur in Schüben und über Zwischenlösungen setzte sich das auf die Bedürfnisse des Staates hin orientierte Konzept einer stärker praxisorientierten Erziehung durch. Doch wuchs mit zunehmender Bürokratisierung des Staates und ersten Erfolgen sei126

nés Wirtschaftsprogramms auch die Zahl der am staatlichen Handeln und an den neuen staatlichen Positionen orientierten bürgerlichen Schichten. Durch die von diesen vorwiegend getragene Aufklärungsbewegung verbreitete und modifizierte sich der ursprüngliche Entwurf der Kameralisten. Das Schwergewicht der Argumentation verlagerte sich von der Machtsteigerung des Staates auf die mit diesem Ziel harmonisierbare Wohlfahrt und Glückseligkeit aller sowie jedes einzelnen Menschen. Auch wurden mit zunehmender Diskussion über diese Zielprobleme Gegensätze zwischen der als notwendig erachteten Freisetzung der individuellen Fähigkeiten des einzelnen und den in den meisten Wirklichkeitsbereichen noch existierenden altständischen Organisationsformen klarer bewußt. Doch verblieb - entsprechend der sozialen Herkunft der Aufklärer, die vorwiegend aus dem Bildungsbürgertum kamen - die Leitung des Wandlungsprozesses weiterhin beim Staat und seinen Beamten. Sichtbares Zeichen für die Umorientierung der Universitäten auf den neuen, .nützliche' Kenntnisse nach Maßgabe der staatlichen Ziele betonenden Plan einer wissenschaftlichen 5er«/sausbildung der Beamten war das Anwachsen der Lehrstühle für Kameralwissenschaften im Laufe des 18. JahrhundertSv^^ Weniger auffallend, aber neben der Universitätsreform gleichgerichtet wirkend, eng orientiert an der diskutierenden öffendichkeit und wegen der schmalen finanziellen Spielräume auch nur langsam fortschreitend, modernisierten sich eine Anzahl von größeren städtischen Gymnasien.^® Am deutlichsten, weil inhaltlich und organisatorisch völlig auf das von den Aufklärern geforderte staatsbezogene Modernisierungsprogramm ausgerichtet, und von ihren Gründern in der Öffentlichkeit auch propagandistisch sehr wirkungsvoll vertreten, wurden die modernen Erziehungsprinzipien in den neu gegründeten philantropischen Schulen realisiert. Hier trat neben ,nützliche' Fachausbildung und Entwicklung der individuellen Fähigkeiten als neuen Zielen noch die Rezeption und Anwendung moderner pädagogischer Methoden. Mit den Philantropinen und reformierten Gymnasien setzte sich am Ende des 18. Jahrhunderts das von Beamten, einer unmittelbar auf den sich durchsetzenden bürokratisch-absolutistischen Staat bezogenen Berufsgruppe, entworfene neue ständisch- unabhängige Bildungsideal und dementsprechend auch ein neuer Erziehungstypus durch, der in seinen wesentlichen Elementen dem alten Erziehungstypus entgegengesetzt war.

c) Die neuen Erziehungsvorstellungen

- eine Typologie

Inhaltlich war der neue Erziehungstypus durch eine die alten lokalen, regionalen und ständischen Orientierungsmuster übergreifende bestimmt. Das zu vermittelnde Wissen sollte der Einleitung und Steuerung eines nach wenigen grundlegenden Staatszielen bestimmten, von der staatlichen Zentrale gelenkten gesamtgesellschaftlichen Wachstums- und Transformationsprozesses dienen. Differenzierte Kenntnis der zu beherrschenden, durch staatliche Ziele konstituierten Sachbereiche und der in ihrem Zusammenhang auftretenden Probleme sowie instrumentelle Fähigkeiten zu deren Lösung in stark arbeitsteiligen, sachbezogenen Handlungskontexten waren die zwei grundlegenden, zur neuen beruflichen Leistung befähigenden Quali127

fikationen. Diese standen aber im Gegensatz zu den Qualitäten, die durch die sinnlich-ganzheitlich bestimmte Erfahrungs- und Kenntnisvermittlung in der stabilen Welt des Hauses und Standes erworben wurden.'^ Durch Umgang mit relevanten Personen in sich wiederholenden Situationen des Alltagslebens waren diese neuen Qualifikationen nicht zu erwerben, weil das erforderliche sachlich-funktionale Regelwissen sowie das Wissen über Möglichkeiten seiner Anwendung stetig anwuchs, und die neue, staatsbezogene Arbeitswelt jenseits der Häuser und des Standes lag. In dieser Arbeitswelt gab es auch zunehmend weniger kategorisierbare, sich wiederholende Fälle und darauf bezogene feste Handlungsmuster und Rollenvorschriften; andererseits traten in starkem Maße unbestimmte Entscheidungssituationen in den meisten staatlichen Positionsbereichen auch nicht mehr auf, so daß persönliche ,Vorbilder', deren Entscheidungsverhalten in solchen Problemfällen man imitativ übernehmen und durch Weitergabe an Nachwachsende perpetuieren konnte, dort ebenfalls nur von untergeordneter Bedeutung waren. Die neue Berufserziehung forderte ein stark selbstdiszipliniertes Verhalten und volle Konzentration auf die instrumenteile Bewältigung sachlich spezifizierter und genau definierter Probleme, und zwar innerhalb eines stark eingeschränkten persönlichen Entscheidungsspielraums. Umfassende persönliche Qualitäten waren weniger wichtig als hochentwickelte spezialisierte Fähigkeiten, mußten z. T. sogar als ebenso hinderlich erscheinen, wie affektive Bindungen an zu verwaltende Sachen oder an Personen, mit denen man zusammen arbeitete. Im Gegensatz zu den Erziehungszielen des Hauses und Standes mußte nun das Verhalten einseitig vom zerlegenden, abstrahierenden Verstand - nicht von diffusen praktischen Fähigkeiten und umfassenden persönlichen Qualitäten - und vom Interesse an Sachen - nicht an Personen - geprägt, d. h. affektiv neutral sein. Entsprechend war auch die hergebrachte sinnlich-ganzheitliche Form der Wahrnehmung in eine distanziert-analytische aufzulösen. Allen diesen Anforderungen des neuen Berufsbildungskonzeptes konnte das alte Erziehungsverfahren nicht genügen. In der Konsequenz wurde deshalb die realistische, am Staat und seinen die Welt des Hauses und Standes überschreitenden dynamisierenden Zielen ausgerichtete Fach- und Berufserziehung neuen oder reformierten Erziehungsinstitutionen, den „Schulen als Veranstaltung des Staates" (ALR), übertragen.

e) Konsequenzen der Umformung des Erziehungsbereichs für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche Noch auf einer weiteren Ebene haben sich durch das Aufkommen der neuen, auf die Staatsziele orientierten schulischen Fachausbildung weittragende Konsequenzen ergeben: in der Realientendenz war eine grundlegende Veränderung des Verhältnisses von Kirche und Staat im Erziehungsbereich angelegt. Denn über die Schulerziehung zum Staatsbürger mit nützlichen Kenntnissen wurde der einzelne nicht nur aus seinen primären Erfahrungsbereichen in Haus und Stand herausgetrennt; es stellte sich für ihn zugleich auch verstärkt das Problem, daß die neuen staatlichen Sinngebungen für 128

Arbeit und Leben in der Welt in vielen Bereichen nicht mit den in stärkerem Maße noch an den älteren gesellschaftlichen Einheiten orientierten kirchlichen Deutungsmustern harmonierten. Im Grunde entstand hier ein Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Glücksprinzipien. Wo jedoch religiöse, an der ewigen Glückseligkeit ausgerichtete Vorstellungen mit den vom absolutistischen Staat und seinen Propagandisten vertretenen weltlichen Sinngebungen kollidierten, beanspruchten letztere die Priorität." Auf Dauer gesehen wurde dadurch der Einfluß der Kirche - die entschiedenen Aufklärer sahen in ihr eine, einer Privatsache, der Religion dienende ,Partei' - auf das konkrete Verhalten der Gläubigen im Alltagsleben zurückgedrängt. Staat und ,Tugend', das neue, staatsbezogene, ,vernünftige' Normen liefernde innerweltliche Sinnsystem, standen über der Kirche und der von ihr verwalteten Religion. Die an den neuen Universitäten betriebenen Wissenschaften, an ihrer Spitze die Philosophie und - näher an der staatlichen Praxis - die Kameralwissenschaften und Jura, arbeiteten zusammen mit Staatsbeamten und diskutierender Öffentlichkeit an Produktion und Verbreitung dieser grundlegenden, auf das Diesseits orientierten neuen Sinngebungen.^' Grundlage ihrer Bemühungen war eine veränderte Anthropologie. Ein antizipiertes Hinaustreten aus der Welt des Mangels und der Hungerkrisen, der durch Verzicht und Herrschaft garantierten Nahrung und sicheren sozialen Stellung, forderte nicht nur die äußere Freisetzung von älteren ständischen Zwängen und den Erwerb von neuem Fachwissen, neuen instrumenteilen Fähigkeiten; Orientierung an den vom Staat vertretenen Integrations- und Wachstumszielen erforderte darüber hinaus auch fest verankerte Vorstellungen von einer offenen Zukunft, einer durch Planung zum Besseren veränderbaren, wenn auch widerständigen Welt, und Selbstbewußtsein, ,Mut zum Wünschen', Veränderungsbereitschaft, weitgehend innenstabilisierte Selbstorientierung, den Glauben an die durch im Grunde nicht abschließbare Selbstbildung erreichbare Steigerung der eigenen Erkenntnis- und Leistungskräfte. Da die Kirchen mit diesen anthropologischen Grundvorstellungen weder harmonierten noch zu dem neuen Ideal der politischen Bildung, den mit,nützlicher' Kenntnis ausgestatteten Staatsbürger, in nennenswerter Weise beitragen konnten, wurde es aus der Sicht des Staates notwendig, ihren einst umfassenden Einfluß auf die Schule immer mehr zurückzudrängen. Der Staat wurde zum wichtigsten Erzieher.^"

2.2 Familienstruktur, Bild vom Kind und grundlegende Erziehungspñnzipien

Die Familienordnung des münsterländischen Adels wies einerseits jedem Kind eine sichere Position innerhalb von Familie, Stand und ,Staat' zu ; sie forderte aber andererseits uneingeschränkte Einfügung des einzelnen Familienmitglieds in ihr arbeitsteiliges Konzept, das durch ungleichgewichtig verteilte Verzichtsleistungen bei Heirat, Erbfall und Berufswahl bestimmt und durch väterliche Gewalt sowie vielfältige Formen sozialer Kontrolle abgesichert war. Kinder waren so schon früh bestimmt in ihrer

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Reif, Adel

Rolle als zukünftiger Amtsinhaber, Ehegatte und Stammherr. Jedes Kind wurde wenn auch in unterschiedlicher Intensität - zur Realisierung der Familienziele gebraucht. Jedes war ein Faktor im Programm der Familienordnung, deren Verzichtssystem durch individuelle Wünsche schnell gefährdet werden konnte. Für eine individuelle Selbstverwirklichung jenseits der Familienordnung war kein Spielraum vorgesehen. Die Ausbildung eines von individuellen Bedürfnissen bestimmten Selbstbewußtseins konnte kein Erziehungsziel sein, da es mit der Einpassungs-Forderung nicht zu vereinbaren war. Den von der Familie gesetzten Erfordernissen entsprach das Bild, welches man vom Kind hatte. Es soll am Beispiel der Erziehungsinstruktionen des Franz Theodor v. Fürstenberg, die im Unterschied zu denen anderer Familienväter lückenlos überliefert sind, dargestellt werden. Das Kind erschien als in starkem Maße - infolge der Erbsünde- vom Bösen gefährdet. Die Taufe befreite es zwar zunächst vom unmittelbaren Zugriff des Teufels, doch war, wegen seiner Schwäche und einer bleibenden inneren Tendenz zum Bösen, ein Rückfall jederzeit möglich. In welchem Maße den Kindern negative Eigenschaften zugeschrieben wurden, wird z . B . deutlich aus einer Instruktion des Franz Theodor aus dem Jahre 1737: . . . wan die Kinder frech, sündhaft daher liegen, wan die Kinder H o f f a n zeigen, wan sie einen trutzigen Kopf zeigen, wan sie ohngehorsam seindt, wan sie hartnäckig seindt, zwar nichts sagen, gleichwohl das, was ihnen befohlen ward, unter der Hand nicht tun, oder es allein zur Halbscheid . . . tun, vermeinen kindischen Verstand genug zu haben, es ihrem Praeceptor und anderen Vorgestellten, auch den Eltern, abgewinnen können, und sich in solcher Heimtückigkeit zu erlüstigen und sich einbildeten, als was sie sich auf einer solche Art ihre Schuldigkeit, ihre Gehorsamb könnten entziehen so kann ihnen solches ersdich zu Gemüt geführt werden; wan sie dann aber sich nicht im Augenblick ändern, oder sonsten gar zu oft zu dieser kindischen Hoffart, trutzigen Kopf pp. zurückkommen, so helfen . . . keine bona nota, sondern die Kinder müssen gegeißelt werden.^'

Die Vorstellung von einer im Innern des Kindes angelegten l^eigung zum Bösen, die im kindUchen Eigenwillen und seinen ,Leidenschaften' offen zutage trete, bestimmte stärker das Erziehungsverhalten der Familienväter als die darauf bezogene Vorstellung einer mit Verführungsangeboten aufwartenden verdorbenen Umwelt. Die Umwelt bot dem Kind zwar durch das Laster einzelner stets Möglichkeiten zur Realisierung des in ihm angelegten Bösen, wurde aber als in ihren Grundstrukturen intakt aufgefaßt. Ein gradueller Unterschied hinsichtlich der Anfälligkeit für Verführungsangebote wurde zwischen Jungen und Mädchen behauptet; danach neigten letztere wesentlich stärker zur Verderbnis durch ungezügelte Leidenschaften als die Jungen. Diese Unterscheidung antizipierte, daß von den Mädchen in stärkerem Maße als von den Jungen Unterordnung und Verzicht erwartet wurde. In seiner Erziehungsinstruküon von 1740 forderte Franz Theodor eine eingezogene, schüchterne, furchtsame Schamhaftigkeit, welche einem jungen wohlgezogenen Weibsmensch viel mehr Ehre antuet; ich auch bei einem ordinären Weibsmensch mehr hätte von Beten, Nähen, Spinnen, Wirtschaften als wie von Reiten, Schießen, Spielen, Intrigen machen und dergleichen . . .,dennmeineMeinungist, daß gleich wie das Weibsvolk geboren ist, um unter einem beständigen Gehorsam zu sein, meine Töchter nicht erst in der weit herumjüchtern sollen und hernachher sich dem Gehorsam nicht mehr wissen zu finden, sondern daß sie aus

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meinem Gehorsam in ihres Mannes oder eines anderen Gehorsam herüber gehen sollten; deshalb . . . muß man ihnen die Nasen nicht zu hoch aufheben.^^

Eigenwille, Ubermut, ursprünglicher, spontaner Selbstausdruck, fehlende Bereitschaft zu Unterordnung und Verzicht erschienen, wenn sie am Kind wahrgenommen wurden, unter dem Gesichtspunkt ihres späteren Erwachsenendaseins als massive Gefährdung der Familienordnung. Dementsprechend waren Mißtrauen und Unempfindlichkeit gegenüber dem ,Reiz des Kindlichen' die Grundelemente in der Einstellung des Erwachsenen zum Kind. Es erschien unter dem Gesichtspunkt der Erwachsenennormen, von einer dem Kleinkind zugestandenen Niedlichkeitsphase abgesehen, nur von geringem Wert und in starkem Maße auch als Gefahr für die Kontinuität von Familie und Stand. Eine so auf das potentiell Böse und den zukünftigen Erwachsenen im Kind verkürzte Perspektive verhinderte auch die Wahrnehmung eines in spezifischen Altersphasen gegliederten, z . T . krisenhaften Entwicklungsprozesses des Kindes. Zwar durchlief auch in damaliger Sicht das aufwachsende Kind verschiedene Altersphasen, doch waren diese einerseits von äußeren Bedingungen, andererseits vom Stand der körperlichen Entwicklung bestimmt. Die dem ,niedlichen' Kleinkind zugesprochene Phase der moralischen Unverantwortlichkeit, in der Regel identisch mit der Pflegephase durch die im Hause wohnende Amme, und die daran flexibel sich anschließende Phase der Betreuung durch ein Kindermädchen, evtl. auch einer ersten Unterrichtung durch die Mutter, dauerte ungefähr bis zum sechsten Lebensjahr. Mit sechs bis acht Jahren wurde der Knabe als körperlich so weit erstarkt und intellektuell so weit entwickelt angesehen, daß er zur weiteren nun geschlechtsspezifisch differenzierten Ausbildung dem Vater und dessen Vertreter, dem Hofmeister, zu einer gezielteren, nun voll an den Realien des zukünftigen Erwachsenenlebens orientierten Erziehung übergeben werden konnte. Der zum Teil recht frühe Eintritt in die Ämter begrenzte die Jugendphase noch im 17. Jahrhundert auf die Zeit zwischen dem zwölften und vierzehnten Lebensjahr, dem Abschluß der körperlichen Reife. Doch wurde diese Grenze, die stark an der Waffenfähigkeit als ursprünglich dominierender gruppenspezifischer Leistung orientiert war, in dem Maße verschoben, in dem sich der Adel auf andere Berufe konzentrierte, die stärker intellektuelle Leistungen und eine über die Hauserziehung hinausgehende Spezialausbildung erforderten. Vor allem die Ausbildungsvorschriften für die Domherrnstellen haben dazu beigetragen, daß um 1770 das Ende dieser Jugendphase zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Lebensjahr lag." Die intellektuelle Aufnahmefähigkeit wurde als der körperlichen Leistungsfähigkeit vorangehend oder synchron aufgefaßt. Deshalb setzte schon mit sechs bis acht Jahren die gezielte Wissenserziehung ein, und zwar mit Lernanforderungen, die - an heutigen Curricula gemessen - tendenziell am intellektuellen Entwicklungsstand Erwachsener orientiert waren. Da die Welt, in die der einzelne hineinwuchs, fest und im ganzen auch geordnet erschien, konnte auch das Aufwachsen des Kindes nur als gestufter, aber im ganzen einliniger, nur von einzelnen Rückfällen ins Böse unterbrochener, mit zunehmendem Alter aber problemloser werdender Weg zum Erwachse131

nen, dessen Status allein Wert besaß, aufgefaßt werden; analog zur Einstellung zum Kind fehlte dementsprechend auch ein Verständnis für den ,Reiz der Jugend'.^·* Mißtrauen, Selbstsicherheit und H ä n e waren die diesem Kinderbild entsprechenden Grundhaltungen der Erwachsenen in der Erziehung. Der Eigenwille des Kindes, Zeichen seiner Anfälligkeit für das Böse, mußte gebrochen werden, wenn nötig mit Gewalt.^® Mittel dazu waren körperliche Strafen, deren äußerste Härte durch das hohe religiöse Ziel, die ewige Glückseligkeit des Kindes zu sichern, gerechtfertigt erschien. Einige Auszüge aus den Erziehungsinstruktionen Franz Theodors mögen die Bereitschaft der Väter zeigen, beim geringsten Anzeichen fehlenden Gehorsams der Kinder härteste Strafen zu verhängen. Er befahl z . B . seinem Hofmeister, falls einer der Söhne nicht gehorche, den Renitenten von anderen peitschen zu lassen, mithin auch einen Wildfang mit Wasser und Brot, bis der dolle Kopf wird gebrochen sein, auf einige Tage zu züchtigen und von allen Gesellschaften und Veränderungen zu entfernen.

Auf diese Weise sollte der ,,blinde Gehorsam" gegen den Hofmeister erzwungen werden. In einer anderen Instruktion aus dem Jahre 1740 heißt es: Sollten sie sich aber ohngerechter Weise widersetzen, so soll es an Zwang, an Schlägen, an Geißeln nicht fehlen, denn ich will lieber keine Kinder haben, als ohngehorsame Kinder und laue Maulchristen . . . wollte dieses oder jenes ungeratene Kind es gleichwohl . . . perfekte nicht tun, so soll es erstlich vielleicht vor allen Kindern direkte gegeißelt werden, und es dann gleichwohl solche Sachen von seiner Mutter auf den Knien begehren . . . ; wan die Kinder etwa gegeißelt werden wollten, und eine gar zu kurze Zeit eine Empfindlichkeit darüber bezeigen, so könnte ihnen selbiges, bis sie sich wieder bekriegten, nachgesehen werden; sollte aber selbiges in einen Trutz und ungenehm saure Gesichter wollen ausschlagen, so müßten die Kinder einen Tag nach dem andern so lange gegeißelt werden, und der Kopf wieder gebrochen werden; eben also wie die Jäger die jungen Hunde cuschen lehren . . .

Mit Vorliebe schien Franz Theodor seine Erziehungsvorstellungen aus dem Umgang mit Tieren zu gewinnen, denn einige Sätze später hieß es nochmals: . . . und wan sich einer von meinen Kindern unterstehen sollte, wie ein trotziger, hochmütiger, grober Esel dahin zu stehen, so will ich ihn so lange schlagen und geißeln lassen, wie die jungen Hühnerhunde, bis ich ihn mit Gewalt zum Gehorsam bringe, zur Demut, zur Bescheidenheit, zur Achtsamkeit, um seinen Nächsten mit Freudigkeit vorzukommen und zu gewinnen.^*

Da sich der Eigenwille des Kindes zum ersten Male und besonders ausgeprägt nach dem dritten Lebensjahr äußerte, setzten in dieser Zeit auch die harten körperUchen Strafen ein. Mit der Wahrnehmung des kindlichen Eigenwillens in diesem Lebensabschnitt nahm übergangslos und hart eine Gehorsamserziehung nach Erwachsenennormen seinen Anfang. Das Kind mußte lernen, sich in seinem Handeln in jedem Detail einer von außen gesetzten Regel zu unterwerfen. Der auf Traditionssicherung gegenüber seinem Gott, dem Staat, dem Stand und seiner Familienordnung verpflichtete und von diesen mit Zwangsgewalt ausgestattete Familienvater, der in der Erziehung seines Sohnes nur die Wiederholung seines eigenen Erziehungsprozesses zu sehen vermochte, erzwang mit großer Selbstsicherheit die Unterwerfung des Kindes unter die Normen, die er in seiner unmittelbaren Umgebung in alltäglich sich wiederholenden Situationen wirksam sah. Regelmäßige Konflikte mit aufwachsenden Kindern 132

waren gleichsam notwendig als Möglichkeiten zur Einübung der Unterordnungsfähigkeit des Kindes unter die von der väterlichen Autorität verordneten Gebote und Regeln: Man muß sich finden können, weil man in der Welt nicht alles haben kann . . . also gehet das auch mit einem Vater; er weiß, was dem Kinde dienet, muß auch bisweilen versuchen, ob der K o p f sich biegen, ob man seinen eigenen Willen ohne Mühe, ohne Rechthaben zu wollen, absagen könne . . . (im anderen Falle). . . muß dem dollen K o p f , dem ohnsinnigen Eigenwillen widerstanden werden . . . An dem sich zu begeben, seinen Willen . . . abzusagen, ist das Leben gelegen; welcher selbiges nicht kann, muß crepieren . . . man folge nicht die exempla der Halssurrigkeit, durch welche mehrere, auch in familia, seindt zu Schanden gangen.^'

Durch harte Strafen und Demütigungen wurde das Kind nach und nach von sich abgelenkt; es identifizierte sich mit dem Stärkeren und der von diesem gesetzten Regel. Eine intensive emotionale Eltern-Kind-Beziehung hätte hier zweifach gestört; zum einen, weil sie dem Vater das Strafen erschwert hätte, zum anderen, weil dadurch nach Meinung der Erziehenden das Ich-Bewußtsein und Selbstwertgefühl des Kindes und damit seine Neigung zum Bösen, zum autonomen Handeln, gestärkt worden wäre, so daß die Einübung von unbedingtem Gehorsam und die Einführung in die vorgegebenen Herrschaftsverhältnisse behindert worden wären. Die Vorstellung von der Anfälligkeit des moralisch labilen Kindes hatte aber noch weitere Konsequenzen. Das Kind wurde ständig von Erwachsenen überwacht und lenkend beeinflußt sowie von möglichen Verführern, d. h. vor allem von Personen mit alternativen, die Standesbildung gefährdenden Einstellungen und Verhaltensweisen streng abgetrennt.^" Das Prinzip der permanenten Beschäftigung der Kinder mit mehr oder weniger sinnvollen Aufgaben, die schon z . T . vor dem sechsten bis achten Lebensjahrverordneten, mit Unterrichtsstunden angefüllten Tagespläne, sind insofern zwar einerseits Indiz für das seit dem 16. Jahrhundert verstärkten Bedürfnis des Adels nach Wissenserweiterung, andererseits aber auch ein Mittel gegen die Untätigkeit des Kindes als der günstigsten Verführungsgelegenheit des nach dem Aufkommen des Bürgertums, nach der Einschränkung der ständischen Macht durch die Fürsten, und V. a. nach der Reformation mit neuer Macht auftretenden Teufels. In den Erziehungsreflexionen Franz Theodors wird immer wieder betont, daß man niemalen müsse müßig sein und sich müßig erfunden werden. Vor das weibliche Geschlecht, um nicht müßig zu sein, will es heißen: Bald bete, betrachte und lese ich, bald stricke, sticke, nähe, spinne mit solcher Wechslung übend mich, den Himmel leicht gewinnend. Dieses wohl betrachtet, muß also ein junges Weibsbild sich von jung auf gewöhnen, allezeit beschäftigt, niemals müßig zu sein, allezeit beschäftigt zu sein lieben; den Müßiggang aber hassen . . .

Und an einer anderen Stelle heißt es: Ich möchte gern meine Buben zu allerlei anständigen Wissenschaften, meine Töchter zum Haushalten und allerlei anständige Arbeiten, also daß selbige niemals müßig sind, der Teufel sie niemals müßig findet, anhalten lassen.

Zu den Prinzipien der Überwachung und Abtreimung trat das der Abhärtung hinzu. Frühes Aufstehen, karge Nahrung, Verzicht auf kleine Annehmlichkeiten des Alltagslebens und auf das Vergnügen sollten die Fähigkeit zum Selbstverzicht ausbilden 133

helfen.^^ Auch der Zwang zur kontrollierten Bewegung schon in frühen Jahren gehört partiell in diesen Zusammenhang. Ungestümes scheinbar ,Regel'-loses Spiel der Kinder wurde mit Mißtrauen betrachtet. Franz Theodor riet seinem Hofmeister: Man lobet die, welche sich mehreres von den Kindereien abgeben, lieber zu großen Leuten halten, nebenst einer dem homini animali zuträglichen Bewegung, Spaziergang, auch sonsten gern in nützlichen Nachforschungen sich aufhalten, man suchet die, welche schlechter Dinge niederträchtig, kindischer bleiben wollen, auch hierzu anzufrischen, unterdessen ihnen zum Anfang ihr niederträchtiges Kinderspielen nicht absolute niederzulegen.

Und August Ferdinand v. Merveldt sprach noch um 1800 dem Spiel der Kinder jegUchen Sinn ab: Kinder lernen selten etwas gutes im Umgang einer vom andern. Vorsichtige Eltern werden ihre Kinder vorsichtig vor vielem Umgang mit anderen Kindern hüten, damit sie nicht verdorben werden und nicht andere verderben.''

Orientierungspunkt aller dieser Maßnahmen war der antizipierte spätere Verzicht der Kinder auf Ämterwahl, Erbe und Heirat bzw. - im Falle des zukünftigen Stammherrn - auf individuelle Nutzung des Familienbesitzes. Bisweilen wurden diese grundlegenden Erziehungsziele von den Familienvätern auch unmittelbar angesprochen, z.B. in der Erziehungsanleitung Franz Theodors V. Fürstenberg vom 20. 10. 1743,in der es heißt: Wenn einer fünf Töchter, wenn einer sechs Söhne hat, so fraget nicht, daß er gleich alle verheiratet haben möchte. Er würde gern ein Teil, wohl den größten Teil seiner selbigen Kinder, wenn es auch von beiden Geschlechtern wäre, unverheiratet, ja geisdich mit Präbenden, mit Dompräbenden versehen, sehen; wie will er selbiges aber zuwege bringen, wenn er nicht eine sichere Ruhe, eine sichere Andacht ein eingezogenes (Leben) von Anfang an in seinem Hause, in selbigen seinen Kindern christlich einbaut . . . Ich bin sogar wohl zufrieden, daß, so lange ich lebe, wie selbiges meinem Vater also geraten ist, von Heiraten unter meinen Kindern keine Rede sei."

Das Erziehungskonzept dieses Adels war jedoch insofern gespalten, als es negative und positive Vorstellungen von den Fähigkeiten des Kindes miteinander verband. Einerseits war das Kind schwach, der Verführung jederzeit zugänglich und damit der Hilfe Erwachsener und der Erniedrigung durch Strafe bedürftig; andererseits wurden aber von ihm als späteren Erwachsenen die glänzendsten Leistungen nach dem Vorbild der Vorfahren und den Ansprüchen der Familienordnung erwartet. Diese Spannung zwischen individueller Submission und ständischem Selbstbewußtsein suchte man aufzulösen durch die Vorstellung eines durch die Erziehung linear-sukzessiv von der Tendenz zum Bösen gereinigten Kindes. Ihm konnten so, parallel zum Entwicklungsstand dieser Reinigung, größere Freiheiten zugestanden werden.'' Diese Vorstellung konnte sich in der Praxis behaupten, solange die Auswirkungen der Pubertät - da in der Umwelt für den Adelssohn nur wenige Möglichkeiten zur Verfestigung seiner in dieser Altersphase aufkommenden Neigung zu abweichendem Verhalten vorhanden waren - nur, wenn sie überhaupt sichtbar wurden, wenig intensiv und kurzzeitig auftraten. Die für sein späteres Selbstbild und Verhalten entscheidenden Prägungen erfuhr das Kind im münsterländischen Adel nicht in einem aus der Erwachsenensphäre ausge134

grenzten Erziehungsraum durch die Ehern oder andere Personen, die ihm mit ausdifferenzierten Erziehungsfunktionen entgegentraten, sondern innerhalb der AlhagsweU von FamiUe, Haus und Stand, im Umgang mit den dort lebenden erwachsenen Personen, durch Teilnahme an den immer wieder ablaufenden häufig ritualisierten Bräuchen, Gewohnheiten und Handlungen. Vorbilder, aus deren Perspektive heraus die Ereignisse mit- und nachzuerleben waren, die die einzuübenden Beispiele boten, waren stets in sinnlich-ganzheitlichen Zusammenhängen präsent und in eindeutiger Weise den verschiedenen Kindern zugeordnet: z . B . der Vater als Leiter der Eigenwirtschaft, als Grund- und Gerichtsherr, als Kirchenpatron, aber auch - auf der Ebene des ,Staates· - als Amtsdrost, Landstand oder Kammerherr des Kurfürsten. Da das Kind von keinem dieser Wirkungsbereiche grundsätzlich ausgeschlossen war, sondern an allen- wenn auch nicht in gleicher Intensität und stets zeitlich limitiert, auf sozialisationsrelevante Situationen beschränkt - teilnahm, erschloß sich ihm nach und nach die Bedeutung seiner Familie und seines Standes, lernte es mithandelnd und nachahmend, in der von den Erwachsenen geforderten Weise mit deren Machtreichtum umzugehen, gewann es - an den ihm vorgestellten lebenden oder verstorbenen Vorbildern in Familie und Stand orientiert - in starkem Maße gleichsam naturwüchsig die ihm zugeschriebene Position und das mit dieser Position notwendig verbundene Verhalten.^® Wie stark die Vorbilder der Vorfahren auch die Erziehungsvorstellungen der Eltern leiteten, wird an Beispielen aus der Familie v. Fürstenberg deutlich erkennbar. Über Franz Theodor v. Fürstenberg, den Vater des Ministers Franz v. Fürstenberg, wird berichtet, daß er dem Sohn ,,zu Zeiten die Vorfahren der Familie im Gemälde vorzeigte und von jedem die Thaten erzählte, wodurch er sich ausgezeichnet hatte" ; dabei soll er gewünscht haben, ,,ut crescant in Casparos^Theodoros etFerdinandos". In ähnlicher kontinuitätsbewußter Weise äußerte sich der spätere Fürstbischof von Paderborn und Hildesheim Franz Egon v. Fürstenberg am 23. 10. 1788 gegenüber seinem Bruder Clemens Lothar: . . . von Caspar bis hierhin seynt noch allezeit Fürstenberger gewesen, so was gewußt haben, und ich wollte gern, daß auch unsere Nachkommen in unserer Vorfahren Fußstapfen treten.

Und in die Richtung seiner Töchter gewandt brachte Franz Theodor v. Fürstenberg am 5. 3. 1743 folgendes .Vorbild' in Erinnerung: Eine Äbtissin zu Heerse wollte mit 24, 30 endlich annoch mit 4 0 Jahren heiraten, hatte sich aber hernach gegen mich öfters erfreuet, daß sie es nicht getan hätte, sondern unverheiratet ihr eigener H e r r wäre geblieben.

Auf der rechten Randspalte hatte er dazu vermerkt: ,,Wie man über das Heiraten kömmt."®^ Eine auf diese Weise vermittelte Identität war deshalb so fest, weil sie in ihren wesendichen Elementen durch sinnlich konkrete Vorgänge aufgebaut worden war und weil sie durch sich ständig wiederholende gleichartige Vorgänge in der Umgebung immer aufs neue stabilisiert wurde. Die von den unmittelbar erlebbaren Situationen in der konkreten Umwelt des Kindes abstrahierenden, in einem aus der Erwachsenenwelt mehr oder weniger stark ausgegrenzten eigenständigen Erziehungsbereich 135

durch Hofmeister oder Schule erworbenen Regel- und Wissensbestände, die auf das Hofleben und zentrale Verwaltungsämter bezogen waren, wurden zwar zunehmend wichtiger, konnten aber die grundlegende Erziehungsleistung von Familie, Haus und Stand nur ergänzen. Nichtsdestoweniger war der zu vermittelnde Stoff immens; denn der im Fürstendienst und in seiner Region .brauchbare' Adlige sollte sich in den verschiedensten gesellschaftlich relevanten Wirklichkeitsbereichen a'uskennen. Als wichtigstes methodisches Prinzip der Wissenserziehung galt die Gedächtnisschulung, ein Verfahren, das aus mehreren Gründen damals sinnvoll war; denn die Problemlösungen liefen in dieser Gesellschaft über Beispiele der Vorbilder in ähnlichen Fällen. Ein gutes Gedächtnis sicherte die Kenntnis vieler Vorbilder und Präzedenzfälle, und garantierte dadurch Verhaltenssicherheit im Sinne der Familien- und der ständischen Ordnung. In ähnlicher Weise konnte man auf der Ebene des Standes und am Hof, in der Konversation, durch die Kenntnis von Personen- und Ereignisdaten Vorteile gewinnen; denn Bekanntsein war ein wichtiges Prestigemerkmal jeder adligen Familie und in einer als fest vorgestellten Welt war ein umfassendes Faktenwissen gleichbedeutend mit Weltgewandtheit und Weltbeherrschung. Diese Art des Wissens ermöglichte dem Adligen die vom Kavalier geforderte Geschmeidigkeit im Umgang mit seinen Standesgenossen und Vertretern anderer Stände seiner Region.'® Im Schwerpunkt wurde die Gedächtnisschulung an dem alles dominierenden Lateinunterricht betrieben, da er dort am besten mit einem weiteren, die Familie stützenden Prinzip verbunden werden konnte: Zu Anfang des Lateinunterrichts wurde nämlich zunächst allein die Grammatik als Leerform, durch Auswendiglernen von Regeln und deren Wiederholung, eingeübt; erst dann schritt man zu Inhalten weiter. Das Kind verinnerlichte durch diese Schulung an leeren Formen die Dominanz der von außen gesetzten Regel gegenüber den Inhalten, so wie die Regeln der Familienordnung gegenüber seinen eigenen Bedürfnissen im Vordergrund standen. Eine weitere Eigenart des bewußten, auf Vermittlung eines von Familie, Haus und Stand relativ unabhängigen Wissens ausgerichteten Erziehungstils ergab sich als Konsequenz einerseits aus der optimistischen Vorstellung einer früh einsetzenden und schnell fortschreitenden Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten des Kindes, andererseits aus dem Bild einer statischen, auf Wiederholung herkömmlicher Gewohnheiten beruhenden Welt: das Kind wurde nicht nur hinsichtlich der Menge des zu Lernenden stark belastet, sondern auch mit Inhalten konfrontiert, die heute erst in fortgeschrittenem Alter gelernt werden. Das Kind - so vermeinte man zu erkennen verstand schon früh sehr viel. Daß es oft nur Worthülsen waren, die eS artikulierte, wurde nicht wahrgenommen, war aber auch nicht beunruhigend; denn man wußte: die praktische Situation, auf die das Gelernte Bezug nahm, würde sich wiederholen; das noch Unverstandene oder Fehlende konnte später ergänzt werden. Das antizipatorische Lernen hatte in dieser Erziehungskonzeption einen gewichtigen Stellenwert." Diese Erziehung: die Imitation einer Erwachsenenwelt, an der das Kind, aus keinem Lebensbereich der Erwachsenen grundsätzlich ausgegrenzt, deren Normen von früh an unterworfen, teilnahm und eine in quantitativer und qualitativer Hinsicht das Kind stark belastende, äußerlich bleibende Wissenserziehung, hat einen Erschei136

nungstypus des Kindes geprägt, der in der Forschung mit der Wendung ,kleiner Erwachsener' gekennzeichnet worden ist."*" Als Beispiel aus dem münsterländischen Adel um 1770 sei der sechsjährige Friedrich v. Ketteier angeführt, der 1787 in Begleitung seiner Eltern durch Norddeutschland reiste. Auf Anordnung der Eltern führte er ein Tagebuch. Das Besuchsprogramm in Bremen umfaßte unter anderem folgende Stationen: Den zweiten Tag besahen wir das Waisenhaus, den Bleikeller, wo die doten Körper drin aufbewahrt werden. Zuerst sahen wir einen Studenten, der sich erstochen hat; dan ein schwedischen Oberst und schwedische Greisin, die noch Haare hat und Flechte im Nacken hat. D a sahen wir auch ein kleines Kind, welches an die Blattern gestorben ist; von da gingen wir nach das Zeughaus; da waren zwei Brüder die sich einander erschossen hatten.

Auch in Hamburg nahm Friedrich am gesamten Besuchsprogramm der Erwachsenen teil. Klopstock und Claudius fand er beide „sehr artig und angenehm". In der Oper sah er unter anderem ,Don Carlos', mit dem berühmten Schröder in der Hauptrolle."*' Am heutigen Bild vom Kinde gemessen, erscheint Friedrich außerordentlich ,frühreif. Doch der,kl eine Erwachsene' war eine eigene historische Erscheinungsform des Kindes: die der altständischen Geselbchaft. Der Persönlichkeitstypus, der diesem Erscheinungstypus entsprach, war bestimmt durch Bereitschaft zu rigidem Gehorsam gegenüber außengesetzten, von Autoritäten verköφerten Regeln, ängstliche Vermeidung des spontanen Selbstausdrucks, eine außergewöhnlich stark ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstkontrolle und ein starkes Selbst-, d. h. Traditionsbewußtsein. Das Ich realisierte sich in festen, außerordentlich stark differenzierten äußeren, ,Sinn'-vollen Formen. Es ist wichtig, mit Roessler zu betonen, daß diese vor allem durch die wachsende Hoforientierung des Adels vorangetriebene Dominanz der äußeren Form nicht mit ,Äußerlichkeit' im heutigen Sinn gleichgesetzt werden darf. Er betont, daß in dieser Zeit im täglichen U m g a n g Sinnen- und Sinnerlebnis noch ungeschieden sind. Durch die Sinne, d. h. mittels körperhafter Gestalten, erscheint hier der Sinn, und der Sinn wiederum vermag nur in Gestalten ausgedrückt zu werden. Auch die Gebärde ist Gestalt in diesem Sinne, in gewisser Weise selbst noch die Sprache.·*^

Die Etikette, die Formung und Beherrschung des Inneren und Äußeren nach festen außengesetzten Regeln, bestimmte das Verhaltensideal; sie ermöglichte die Darstellung ständischen Rangs und fürsdicher Macht bei Hofe und schützte zugleich den verletzten, zurückgedrängten Teil des Ich durch ihre Forderung nach Distanz und die von ihr gebotenen Möglichkeiten der Distanzierung. Die selbstbeherrscht würdevolle, formvollendete Standesperson dominierte gegenüber dem spontanen, an eigenen Zielen ausgerichteten Individuum. Emotionen traten vorwiegend in Verbindung mit den Forderungen und Bedürfnissen von Familie und Stand auf. Zu einer davon gelösten, allein auf Liebe und Vertrauen beruhenden Ich-Du-Beziehung war diese ,Person' in der Regel nicht fähig. Die Anmutung, sich einer solchen Beziehung auszusetzen, die in der Äußerung einer offenen individuellen Gefühlsneigung lag, mußte verletzen."*^ Solche Formen an individuellen Kontakten orientierter, spontaner Emotionalität hatten in dieser Ordnung nur wenig Sinn. Ein anderes Gefühl, die Angst, mußte dann aufkommen, wenn für 137

ein Problem keine Vorbildlösung zur Hand war. Das Innere bot dann keine ausreichende Basis für die eigenständige Entwicklung einer solchen Lösung; denn Mißtrauen gegen sich selbst war ein wesendiches Ergebnis dieser Erziehung. Dieses Mißtrauen wurde von den Vätern in ihren Erziehungsinstruktionen immer wieder bestärkt. Als ein Beispiel unter vielen sei der Graf August Ferdinand v. Merveldt mit der Erziehungsinstruktion von 1811 für seine beiden Söhne angeführt. Dort heißt es: Suchet den Umgang älterer Leute. Von diesen könnt Ihr lernen, wenn Ihr Euch gelehrig erweiset . . . Höret lieber andere, als daß Ihr sprechen solltet. Drückt Euch mit geziemender Bescheidenheit aus und traut Eurer Ansicht, Eurem Urteil nicht.

Und in einer anderen Instruktion aus der Zeit um 1800 schärft er einem Sohn ein: In allen Dingen, in allen Angelegenheiten frage um Rat. H ö r e alle rechtlichen und vernünftigen Leute und traue Dir selbst am wenigsten. Bei gleichen Umständen entscheide gegen Dich, wenn kein anderer oder keine andere Klugheitsrücksicht verletzt wird."*^

Die Verhaltenssicherheit war vorwiegend von außen fundiert; ihre Voraussetzung war die unangefochtene selbstverständliche Herrschaftsposition des Standes und der Familie, deren Teil man war, und eine Welt ohne offene Fragen. Alle Fragen waren von Autoritäten, von der Familienordnung bis zur Kirche, beantwortet, so daß man bei diesen Rat suchen konnte. Starke Entlastung von außen war Voraussetzung des Verzichts auf Innenstabilisierung."*® Der Erziehungsprozeß war mit dem Erwerb eines Amts endgültig abgeschlossen. Erfahrungserweiterung konnte dann nur noch additiv, durch eine Summierung im Grunde schon bekannter Lebenssituationen stattfinden. Die inneren Spannungen wuchsen in der Regel nicht so stark an, daß ein Ausbruch aus dem Herkommen, eine Infragestellung der Autoritäten möglich wurde. Der Übergang zur Selbstbestimmung schließlich wäre noch härter gewesen, hätte er doch den Verlust der festen sozialen Position und des wesendichen Teils der Identität bedeutet. Der wenig entwickelte, von individuellen, inneren Bedürfnissen bestimmte Teil des Ich, der dann noch verblieben wäre, hätte nur eine sehr unsichere Grundlage für den erforderlichen Neuaufbau der Person abgeben können.

2.3 Erziehung

im

Haus

a) Kavaliersideal und Erziehung durch Hofmeister Aus der Umgangserziehung innerhalb von Familie, Haus und Stand hatte sich schon früh ein regelmäßiger, nach Sachbereichen gegliederter, detailliert geplanter Unterricht ausdifferenziert, der im wesendichen von zeitweise verpflichteten Fachlehrern, Hofmeistern und Gouvernanten, deren Aufgaben allerdings nicht auf diese Ausbildungsfunktionen beschränkt waren, durchgeführt wurde. Das Bildungsideal, von dem der Hofmeister-Unterricht der Knaben seit dem 17. Jahrhundert bestimmt wurde, war das des,Kavaliers'. Die konkrete Vorstellung vom Kavalier wurde vor allem durch die geschichtliche Erfahrung dieses Adels und seine 138

Position im geistlichen Staat geformt. Als sich "im Bistum Münster während des 15. und besonders des 16. Jahrhunderts durch den Auf- uiid Ausbau des Territorialstaates die Ämterchancen von kriegerischen, Kraft und Mut voraussetzenden Qualifikationen ablösten und in starkem Maße von organisatorisch-intellektuellen Fähigkeiten abhängig wurden, reagierte der landsässig gewordene Adel auf diese Veränderung und die damit aufkommende Konkurrenz von humanistisch gebildeten, an einer Universität promovierten bürgerlichen Juristen und Theologen um staatliche und kirchliche Ämter, mit Steigerung seiner Bildungsbemühungen. Er richtete sich - ohne voll darin aufzugehen - am humanistisch gelehrten Bildungsideal als der neuen relevanten Form politischer Bildung aus und schickte seine Söhne zu einem erheblichen Teil auf Gymnasien und Universitäten, auf denen sie Jura oder Theologie studierten und in der Regel auch einen akademischen Grad erlangten, der ihnen die neuen staatlichen Positionen erschloß."*' Daneben blieb die ältere Form der Adelserziehung, die Erziehung als Hofpage am Fürstenhof, weiter bestehen. Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts orientierte er sich stärker an Frankreich und dem dort vorherrschenden höfisch-adligen Bildungsideal des Kavaliers. Eine schnelle und konsequente Umorientierung auf das neue Bildungsideal, z.B. eine Imitation des französischen Hofadels fand aber nicht statt; zum einen, weil sich in den westfälischen geisdichen Wahlstaaten kein starker Absolutismus mit vorwiegend weldich ausgerichteten Staatszielen durchsetzte, zum anderen, weil in diesen Staaten ein das Alltagsleben des Adels bestimmendes, kontinuierliches glänzendes Hofleben nicht aufgebaut wurde. Die Einkommens-, Prestige- und Karrierechancen verlagerten sich nicht eindeutig zum Hof und zum gewählten Fürsten, sondern verblieben zu einem erhebhchen Teil in den Händen der adligen Stände. Die Adelssöhne konzentrierten sich insgesamt gesehen stärker auf kirchliche, ständische und miUtärische Ämter der Region als auf Hofämter, orientierten sich mehr am adligen Landleben und adlig-städtischer Geselligkeit als an dem Leben am Hofe, der im 18. Jahrhundert zumeist in Bonn weilte. Zwei Konsequenzen brachte diese Konstellation für die Ausformung des Kavaliersideals im münsterländischen Adel. Einerseits behielt die Adelserziehung einen religiös-ständisch bestimmten Tugendkern, der Veräußerlichungstendenzen, wie sie von kritisierenden bürgerlichen Schriftstellern des 18. Jahrhunderts im Bild des in Komplimentierformeln erstarrten ,Hofschranzen' dargestellt wurden, entgegenwirkten. Zum anderen wurde eine an Realien und weldichen Staatszielen ausgerichtete, spezifisch adlige Erziehungsanstalt, wie sie in anderen Territorien aufgebaut wurde, hier nicht vermißt. Nur langsam und nicht insgesamt hat sich der münsterländische Adel seit dem Ende des 17. Jahrhunderts aus den Jesuitengymnasien zurückgezogen, und zwar vor allem deshalb, weil das neue adlig-höfische Bildungsideal seine intensivierten Bemühungen um Distanzierung des nicht-stiftsfähigen Adels und des akademisch gebildeten Bürgertums stützte und legitimierte. Die neue, äußerst kostspielige Bildung und der vom Kavalier geforderte Lebensstil, boten die Möglichkeit zur weiteren Distanzierung konkurrierender Elitegruppen durch Prestigekonsum·."^ Die bürgerlichen Gymnasiasten und Studenten wurden als in ihrer Mehrzahl roh und undiszipliniert abqualifiziert und in der Tat wurden sowohl Schuldisziplin als auch die Leistung 139

der Lehrer in dem Maße schwächer, in dem auch die bürgerlichen Oberschichten in Imitation des Adels im 18. Jahrhundert zur Hauserziehung übergingen. Aber nicht nur zur Sicherung und Steigerung der sozialen Stellung des Stiftsadels war der Übergang zur Hauserziehung günstig, sondern auch zur Stabilisierung und Kontinuitätssicherung der Familienordnung,· denn in dem Maße in dem man den Kindern Verzicht zumutete, wurde eine stärkere Disziplinierung durch Abtrennungs- und Überwachungserziehung als notwendig angesehen. Erst in dritter Linie war für den Rückzug aus dem Jesuitengymnasium die Tatsache verantwordich, daß deren Curriculum für eine überregionale Karriere und einen Erfolg an Höfen zu wenig Realien enthielt."" Die Form, in der die Kavahersausbildung vermittelt wurde, blieb im münsterländischen Adel bis ans Ende des 18. Jahrhunderts uneinheitlich. Tendenziell setzte sich ein Modell durch, in dem sich an eine Hauserziehung durch Hofmeister der Universitätsbesuch und die Kavalierstour anschlossen. Daneben blieb aber eine ältere Form Hofmeistererziehung im Hause bis zum zwölften Lebensjahr, dann Eintritt in das Jesuitengymnasium und von dort aus Übergang zu Universität und Kavalierstour - bis ans Ende des 18. Jahrhunderts bestehen."' Hauserziehung der Söhne durch bürgerliche Hofmeister, die in ihrer Mehrzahl Geisdiche und, nach ihrer Erziehertätigkeit, Anwärter auf ein Amt aus dem Reservoir des adlig-kirchlichen Patronagesystems von Familie und Stand waren, kann für die Zeit um 1770 als normale Ausgangsphase der Knabenerziehung angesehen werden. Der regelmäßige Unterricht setzte zwischen dem fünften und achten Lebensjahr des Kindes ein. Doch vermittelten in der Regel schon vorher Kindermädchen, im Haus lebende Verwandte, der Hofmeister seiner älteren Geschwister oder auch die Mutter dem Kind grundlegende Kenntnisse im Lesen, Schreiben, Rechnen und in der Religion. Mit der Anstellung eines Hofmeisters setzte für den Knaben der Unterricht in den vom adligen Bildungsideal vorgeschriebenen Fächern ein; zumeist wurden zwei im Alter nahe beieinander liegende Söhne gemeinsam erzogen. Eine Differenzierung des Fächerkanons nach zukünftiger Ämterlaufbahn der Zöglinge war nicht üblich, weil häufig auch der Erstsohn eine der Familie zugefallene Domherrnpräbende antrat, um sie später an einen seiner jüngeren Brüder weiterzugeben. Das Fach Religion behielt, während es in der französischen Ausformung des Kavaliersideals stark zurücktrat, in der Erziehung des münsterländischen Adels eitie bedeutende Stellung neben den Realien und den Erfordernissen adlig-höfischer ,conduite'. Wegen der engen Bindung dieses Adels an katholische Religion und Kirche behielt auch das Latein weiterhin einen zentralen Stellenwert im Stundenplan, zumal sich die von den Jesuiten gereinigten Klassikertexte, Cicero und Terenz wurden vorwiegend gelesen, vorzüglich dazu eigneten, adlige Tugenden wie Genügsamkeit, Selbstbeherrschung oder Verzichtsbereitschaft zu exemplifizieren. In katholischen Ländern war darüber hinaus das Lateinische neben dem Französischen die Sprache der Diplomatie. Viele münsterländische Adlige beherrschten am Ende des 18. Jahrhunderts das Lateinische so gut, daß sie es als Brief- und Umgangssprache nutzen konnten. Neben dem Latein wurden die Sprachen der zwei dominierenden Höfe, Französisch (Paris) und Itahenisch (Wien) gelernt, doch beherrschten wohl nur wenige Adelssöhne beide Sprachen als Umgangs- und Briefsprache. An den meisten in Deutsch geschriebenen Briefen um 140

1770 fällt der unbeholfene sprachliche Ausdruck auf; Englisch wurde nur selten gelernt; Unterricht im Griechischen war so gut wie unbekannt/" Neben den modernen Sprachen gehörten als weitere Realien bestimmte Wissensfächer zum A u s b i l d u n g s k a n o n . H i e r standen Kirchen- und Profangeschichte an erster Stelle, innerhalb derer die wichtigsten Fakten über bedeutende Personen und Familien - genealogische und heraldische Informationen spielten dabei eine wichtige Rolle - sowie über Institutionen und Staaten vermittelt wurden. Geographie ergänzte die aus der Geschichte gewonnene Weltkenntnis durch Daten über Länder, Hauptstädte, Residenzen und strategisch wichtige Punkte wie Flüsse, Festungen, Schlachtfelder etc. Großer Wert wurde auch auf Mathematik gelegt, v. a. auf angewandte Geometrie; denn sie vermittelte brauchbare Kenntnisse für eine militärische Karriere, z . B . über Festungsbau oder Kartographie, sowie für die Praxis des Grundherrn, von dessen Interesse am Schloßbau angefangen bis zur alltäglichen Arbeit in der Feldverm e s s u n g . D i e Naturwissenschaften, in dieser Ausbildung stark vernachlässigt, waren durch das Fach Naturgeschichte vertreten, in dem ein wenig systematisiertes Auswahlwissen aus Biologie und Physik, das letztlich dem Religionsunterricht zuarbeitete, zusammengefaßt wurde. Die Naturgeschichte erhielt in der Regel einen außerordentlich geringen Stundenanteil. Ein drittes Element der KavaUersausbildung, auf der Universität und der Kavalierstour in den Vordergrund tretend, aber auch in der Hauserziehung schon berücksichtigt, waren die adligen,Exerzitien'. Im engeren Sinne verwandt, bezeichnete das Wort spezifische ritterlich-gesellige Fertigkeiten, von denen im münsterländischen Adel besonders das Reiten, Voltigieren, Tanzen und Fechten eingeübt wurden; diese Übungen standen völlig unter dem Postulat des formalisierten, geometrisierten, bis in die letzte Bewegungsnuance kontrollierten Verhaltens, eine freie, ungebundene und insofern gesunde oder natürlich-individuelle Bewegung war mit den Exerzitien nicht intendiert.^' Im weiteren Sinne aufgefaßt zählten zu den Exerzitien auch die vielfältigen gesellig-höfischen Betätigungs- und Umgangsformen von der musischen Zerstreuung und Selbstdarstellung über Gesellschaftsspiele bis zum eleganten Benehmen bei Tisch und in der Konversation. Innerhalb dieser Exerzitien im weiteren Sinne nahm im münsterländischen Adel die Musik einen besonderen Platz ein. Wohl jedes Kind einer adligen Familie spielte ein oder gar mehrere Musikinstrumente. Die besondere Bedeutung der Musik im adligen Bildungskanon ist auf zwei Gründe zurückzuführen. Zunächst spielte der Einzelund Chorgesang sowie die Musik insgesamt in der Liturgie der katholischen Kirche seit jeher eine wichtige Rolle. Vor dem Antritt einer Präbende hatte der zukünftige adlige Domherr ebenso wie die Anwärterin auf eine Stiftspräbende eine, wenn auch wenig schwierige Prüfung im Fach Kirchenmusik und Chorgesang abzulegen. Musikdarbietungen waren aber auch wichtige Bestandteile höfisch-repräsentativer Selbstdarstellung. Vor allem am Wiener Hof, aber auch am Hof der geistlichen Fürsten in Münster, Paderborn, Bonn etc. waren Konzerte der Hofkapelle Höhepunkte der barock-höfischen Festkultur. Diese Repräsentationsform übernahmen die adligen Familien des Münsterlandes vom Hof. öffentliche musikalische Darbietungen in den städtischen Adelspalais unter Teilnahme von Familien- und Standesangehörigen bil141

deten ein wesentliches Element in der repräsentativen Selbstdarstellung des münsterländischen Adels.^^ Deshalb gehörte die theoretische und praktische Ausbildung im Fach Musik fest zum Stundenplan adliger Zöglinge. Als weiteres musisches Fach kam häufig noch Zeichnen hinzu, und zwar dann, wenn die Schwestern darin unterrichtet wurden und ein Zeichenlehrer verpflichtet worden war. Dagegen gewann die Beschäftigung mit anderen Bereichen der Kunst kein nennenswertes Gewicht. Das Interesse für Malerei und Plastik war nach der Phase des verstärkten Schloßbaues in den letzten zwei Dritteln des 18. Jahrhunderts wieder stark zurückgegangen und eine Hochschätzung der Dichtung hat sich vor dem Ende des 18. Jahrhunderts, als über die Religion und unter Vermittlung des Fürstenberg-Gallitzin-Kreises ein Zugang zu Klopstock und Claudius gewonnen wurde, wohl überhaupt nicht ausgebildet. Das Ästhetische unterlag den strengen Kriterien der Religion; deshalb konnte sich ein weltlich bestimmtes literarisches oder kunsthistorisches Interesse im münsterländischen Adel nicht ausbilden. Bibel, religiöse Erbauungsschriften und Hausväterliteratur waren die den Aufwachsenden verordneten, auf Nachfolge ausgerichteten Lektürestoffe. Romane wurden dagegen schon als .Verführer' scharf verurteilt, als sie noch nicht, wie am Ende des 18. Jahrhunderts, in trivialisierter Form den ,Lesehunger' der Mittel- und Unterschichten zu stillen begannen.'® Der Vergeistigung und damit einhergehend der Individualisierung dieses Adels waren durch dessen Bindung an die Religion enge Grenzen gesetzt. Der Kristallisationspunkt, der diesen durch Hofmeistererziehung gewonnenen Kenntnissen und Fertigkeiten ihren Sinn gab, war die Person des adligen Kavaliers. Nicht der Wahrheitsfindung auf irgend einem Wissensgebiet, nicht der effektiven Bewältigung spezifischer sachlicher Berufsanforderungen diente die Kavaliersausbildung, sondern der glänzenden Selbstdarstellung einer durch diese Erziehung kultivierten, durch Familie und Stand grundlegend geprägten Person in einem diffusen, von einer Fülle ineinander verwobener Sach- und Personenbeziehungen bestimmten Praxisbereich, der höfischen Gesellschaft, die im Fürstbistum Münster durch die relative Eigenständigkeit einer ständischen Adelsgesellschaft ihr spezifisches Gepräge erhielt. Diszipliniertes, ausgeglichenes formvollendetes Verhalten und ,angenehmer' Umgang war in beiden Geselligkeitsbereichen, in Adelspalais und am Hof, wo viele Menschen auf relativ engem Raum zusammentrafen und zumindest saisonal auch zusammenlebten, eine erste wichtige Voraussetzung für gesellschaftlichen Erfolg. Das geistreich-witzige weltmännische Plaudern über ,curieuse' Ereignisse in aller Welt, eine spielerisch-unverbindliche und dennoch nicht langweilige Konversation waren für diese Geselligkeit bestimmend, nicht Tiefsinn, ernste und engagierte Problemdiskussion. Alle Möglichkeiten inneren und äußeren Konflikts waren ausgeschaltet durch die Verpflichtung zur eleganten Einhaltung der Etikette als hoch differenzierter, Rang zuweisender Ordnungsregel, die einerseits eine ausgeprägte Rangsensibilität hervorrief, andererseits ein hohes Maß an selbstkontrollierter, ritualisierter Formung der eigenen Bedürfnisse und des äußeren Verhaltens im Umgang mit anderen, vom Fürsten bis zum Bedienten verlangte. Von Anfang an achteten die Eltern deshalb auf ein diszipliniertes, kontrolliertes Bewegungsverhalten der Kinder. So forderte 142

Z.B. Franz Theodor v. Fürstenberg, um Ausschaltung des auch in dieser Hinsicht schädlichen Gesindeeinflusses bemüht, daß seine Kinder auch in den guten Sitten und Gebärden sich allerdings üben und befleißigen, sich des affectirten Gangs, Kopfschütteins und Maulsaufsperrens und anderen dergleichen abgeschmackten kindischen Betragens entschlagen . . . alle wohl anständige Höflichkeit allgemach annehmen, zu dem End nur mit ihresgleichen oder doch anderen ehrbaren Leuten umgehen, keineswegs aber in ihrer eigenen Wohnung sowohl als auch anderswo in den Küchen und Winkeln herumlaufen und sich mit Knechten und Mägden, auch sonst in der Schule mit jeglichen ungezogenen Buben gemein machen, sondern sich jederzeit ehrbar und züchtig halten."

Wie stark in der ständischen Gesellschaft sinnliche Wahrnehmung und moralische Qualität, äußere Erscheinung und innerer Zustand als Einheit gesehen wurden, wird wohl am besten deutlich aus einem Zeugnis, das die Räte des Herzogtums Westphalen in einem Brief vom 29. 1. 1638 an den Kurfürsten ihrem Standesgenossen Friedrich v. Fürstenberg ausstellten: Wenn also des von Fürstenbergs Physiognomie, Sprache, Gang und des ganzen Körpers Beschaffenheit und Haltung recht und verständig angesehen und erwogen werden, so zeugen die alle, daß der gütige Gott den von Fürstenberg mit der prädominierten, adligen Inklination, in der Liebe Gottes, in der Gerechtigkeit, in der Wahrheit zu bestehen, Frieden zu pflanzen und manchen Gutes zu tun, hoch begabt hat; inmaßen denn ihm von hohen und niedrigen Standesgenossen rühmlich nachgegeben wird, daß derselbe ein Spiegel der adligen Tugenden sei."

Nur in Verbindung mit der Fähigkeit zu elegantem Umgang und glänzender Selbstdarstellung konnte das zweite Kriterium für Ämtererfolg, die durch wissenschaftliche Bildung nachgewiesene ,Brauchbarkeit' im Dienste des Fürsten bei der Lenkung des Staates vom Hof oder von der städtischen Zentrale aus, wirksam werden. Die Ausbildung zum Kavalier war Standeserziehung und auf eine erfolgreiche Bewährung in verschiedenen für den Adel relevanten Praxisbereichen ausgerichtet. Deshalb wurde hinsichdich der Wissensfächer auch immer wieder die Priorität eines breiten vor einem ,pedantischen', gelehrt-gründlichen Wissen betont. Dennoch läßt sich für den münsterländischen Adel die spezifische Eigenart des Kavaliersideals näher bestimmen, wenn man sie an den kulturellen Idealen, die sich im europäischen Kavaliersideal überlagerten, mißt; zugleich werden auf diese Weise die antizipierten Praxisbereiche dieses Adels deutlich. Das erste für die Adelssöhne wesentliche kulturelle Ideal war das des religiösen und, in den Grenzen der Religion, auch musisch interessierten Vertreters der Kirche, das zweite zielte auf den mit der Lenkung der Staatsgeschäfte nach innen und außen betrauten Staatsmann; das dritte schließlich war das des Propagandisten fürsdicher und adliger Macht, aber nicht durch Gelehrsamkeit, sondern durch vollendete adlig-höfische Umgangsformen und kultivierte adligständische und höfische Geselligkeit. In weitem Abstand von diesen drei dominierenden Idealen folgt das des Soldaten und Offiziers. Es fehlen im 18. Jahrhundert weitgehend - und daran wird erkennbar, daß dieser Adel bis 1803 eine politisch aktive Elite w a r - die Ideale des gelehrten und vielfältig interessierten, in vielen Künsten und Wissenschaften dilettierenden; das Schöne und Kostbare sammelnden ,Virtuosen', des in kultivierter Weise müßigen, der politischen Praxis fernen Adligen.'® Die Ausbildung zum Kavalier war weder im alltäglichen Umgang mit Angehörigen 143

der Familie und des Standes noch durch Hofmeistererziehung allein zu leisten. Der Hofmeister unterrichtete die Knaben in der Religion und, soweit es ihm möglich war, in den anderen Wissensfächern; dazu übernahm er im Auftrag der Eltern Überwachungs- und Lenkungsaufgaben; insofern ergänzte er die Umgangserziehung. Für die adligen Exerzitien und soweit die Realien vom Hofmeister nicht übernommen werden konnten, mieteten die Eltern - zumeist während der Wintersaison in der Stadt Münster-spezielle Fecht-, Reit-, Tanz-, Musik-, Zeichen-, aber häufig auch Sprachlehrer. Auf den anderen Erziehungsstationen, Universitäten und Kavalierstour, wurde dieser Unterricht fortgesetzt. Zum Endzweck der adligen Erziehung, dem formvollendeten und ,angenehmen' Umgang, der adligen ,conduite', konnte der Hofmeister wenig beitragen. Im Gegenteil, häufig bedurfte es hier der Erziehung des zumeist bürgerlichen Hofmeisters durch die Eltern, um negative Vorbildwirkungen auf die Kinder auszuschalten.*® Die nachahmende Einübung der,conduite' in Familie und Stand reichte nicht aus. Die Regelsysteme der antizipierten Praxisfelder transzendierten die primären Erfahrungsbereiche: Familie, Stand und Region. Erst auf der Reise an ausländische Höfe konnte der junge Adlige den letzten Schliff, ,Welt'Kenntnis und Sicherheit im eleganten Etikette-bewußten Umgang mit Fürsten und Standesgenossen gewinnen.

h) Landedelfrau und Dame: Erziehung im Stift und Hauserziehung Gouvernanten

durch

In dem für die Umgangserziehung und den Unterricht der Mädchen im münsterländischen Adel verbindlichen Bildungsideal überlagerten sich die Ideale der in der Lenkung des Hauses, der umfangreichen Vorratswirtschaft, erfahrenen, im grundherrschaftlichen Bereich heimischen, tüchtigen Landedelfrau und der in den Umgangsformen höfischer und adlig-städtischer Geselligkeit gewandten Dame.®^ Praxisbereiche jenseits des Hauses, des Stadtpalais und des Hofes und - für die nicht heiratenden Mädchen - des Damenstifts, wurden in der Erziehung nicht berücksichtigt. Die Einführung in die Rolle der Hausfrau erfolgte zunächst im Hause, durch Teilnahme an der Alltagspraxis der Mutter, der Haushälterin und des weibUchen Gesindes. Franz Theodor v. Fürstenberg bestimmte 1743, was die Töchter, wenn die Söhne zum Studium abgereist seien, lernen sollten: Von selbiger Zeit an könne man selbige beiden Töchter in Küchen, Keltern, Garten, Feldern, Ställen pp. mit lassen herumgehen, Rahm, Arzneien, Confectüren machen und desgleichen Sachen, wenn sie Lust dazu zeigten, tun lassen, jedoch auch ohne Jychtern, mit einer sicheren, Leuten wohl anständigen Eingezogenheit . . . Eine solche junge Person hat ihre vorgeschriebene Zeit, wenn (sie) noblement in Büchern (liest), Bettern, Stallungen, Gärten, Feldern, spazierensweise herumgehet, zum Anfang zwar, damit sie das, was sie nicht weiß, lernet, denn aber nachher, wenn sie es verstehet, damit sie regieret und anordnet.®^

Doch wurde diese Erziehung wie auch der Hausunterricht durch Gouvernanten sehr häufig dadurch, daß das Mädchen ihre Stiftsresidenz antreten mußte, abrupt unterbrochen. Aus Antworten der münsterländischen Damenstifter auf eine Anfrage des 144

Generalvikars Franz ν. Fürstenberg im Jahre 1787 über den Modus ihrer Präbendenvergabe läßt sich dieser unausgeglichene Erziehungsgang der Mädchen rekonstruieren. Mit sieben bis acht Jahren begann der Hausunterricht durch Gouvernanten. Der Vater erwarb schon früh eine Präbende für die Tochter, und zwar deshalb, weil zwischen Erwerb und voller Nutzung der Präbendeneinkünfte bzw. dem Recht der Weitergabe an eine jüngere Schwester vom Damenstift eine mehrjährige Wartezeit eingeschoben worden war, in der die Rechte an der Präbende ruhten. Das Mädchen hatte nach den Berichten zweieinhalb bis dreieinhalb Jahre im Stift zu residieren; vor, innerhalb oder nach der Residenzzeit war noch zusätzlich eine Wartezeit (Karenzzeit) von eineinhalb bis dreieinhalb Jahren vorgeschrieben, die wahlweise im Elternhaus oder im Stift zugebracht werden konnten. Eine planvolle Unterrichtung der angehenden Stiftsdamen war nur für die Gebiete Chorgesang und Religion vorgesehen; weitere Unterweisung konnte sich aus dem Bemühen um Zeitvertreib ergeben, z.B. die Einweisung in Handarbeiten und ins Musizieren, war aber völlig dem Zufall überlassen. Zwar bestimmten die Eltern den Beginn der Residenzzeit ihrer Tochter, doch wird aus den Berichten deutlich, daß sie sich bei der Fesdegung des Eintrittsalters nur in geringem Maße von Erziehungsrücksichten leiten ließen. Zwei andere Interessen der Eltern führten dazu, daß sie ihre Töchter schon zwischen dem siebten und zwölften Lebensjahr ins Stift brachten. Einerseits wollten die Eltern einen Teil ihrer Töchter verheiraten. Bei einer bis zu sechsjährigen Wartezeit vor dem vollen Präbendengenuß war es nicht sinnvoll, den Eintritt der Mädchen über das zwölfte Lebensjahr hinauszuzögern, da es sonst gerade in den für die Eheanbahnung günstigsten Jahren dem Heiratsmarkt entzogen war. Andererseits konnte eine Präbende nicht jederzeit erlangt bzw. weitergegeben werden, und in der Regel zwang dies den Vater, ein Präbendenangebot auch dann zu nutzen, wenn seine Töchter noch sehr jung waren. In einem solchen Fall suchte er dann häufig den Zeitabstand bis zum Beginn der Verzinsung des in die Präbende investierten Kapitals dadurch zu verringern, daß er die älteste der Töchter schon in sehr jungen Jahren ins Stift gab. Das Interesse des Vaters an den Heiratschancen der Töchter und an baldiger Verzinsung der Kaufsumme für die Präbende bestimmten das Eintrittsalter der Töchter stärker als Erziehungsrücksichten. Diese scheinen überhaupt gering geachtet worden zu sein; denn die Äbtissin des Damenstifts Hohenholte meinte in ihrem Bericht vom 23. 12. 1786, daß für die Erziehung der Mädchen das Jahr nach der Aufschwörung hinreiche, das hieß für dieses Stift die Zeit zwischen zehneinhalb und elfeinhalb Jahren. Doch waren die Äbtissin und ihr Kapitel andererseits bereit, das Mindestalter für den Eintritt ins Stift auf vierzehn Jahre zu erhöhen, „wodurch das Stift enthoben würde, sich mit nicht erzogenen Kindern belästigen zu müssen"." Früher Residenzbeginn und lange Wartezeiten vor der vollen Nutzung einer Stiftspräbende haben eine über das zwölfte Lebensjahr hinausgehende kontinuierliche Erziehung der Mädchen stark behindert. Zwar konnte sie nach einer im Durchschnitt zweieinhalb bis dreieinhalb Jahre währenden Residenzzeit wieder aufgenommen werden, doch äußerte sich v. Fürstenberg, der die Erziehungsgewohnheiten seiner Standesgenossen genau beobachtete, in einer Zusammenfassung des Problems recht skeptisch zu dieser Möglichkeit: 145 10

Reif, Adel

. . . daß aber durch verpflichtete Haltung deren lange Residenzen die Jugend und Eltern verlieren, ist ganz zuverlässig; dann, wann die Eltern länger ihre Kinder bei sich behalten, um sie was lernen zu lassen, desto später findet die Residenz, folglich auch die Benutzung der Präbende und die Freiheit zu resignieren an; läßt man sie aber bei erstem hergebrachten Alter die Residenz anfangen, so wird in den besten Jahren der Unterricht abgebrochen, und nach geendigter Residenz dann die Fräulein etliche Jahre älter geworden, und mehr um sich gegucket hat, will es mit dem Lernen nicht mehr viel bedeuten."

Der auf die Erziehung zur Dame bezogene wissensmäßige Teil des Unterrichts im Haus wurde zum Teil von einer angestellten Erzieherin, der Gouvernante, übernommen. Reichten deren Qualifikationen nicht aus, dann traten zeitweise verpflichtete Fachlehrer hinzu; darüber hinaus wurde häufig die Möglichkeit genutzt, die Mädchen am Unterricht der Brüder, soweit er von Fachlehrern geleistet wurde, teilnehmen zu lassen.*^ Eine Erziehung der Töchter in auswärtigen Mädchenpensionaten kam, wohl wegen der als besonders wichtig erachteten frühen Einweisung in die umfangreichen Aufgaben der Hausfrau und aus Kostengründen, nur sehr selten vor. Der aus dem Bildungsideal der adligen Dame abgeleitete Fächerkanon blieb schmal. Lesen, Rechnen, französische und deutsche Sprache sowie Briefaufsatz in schöner Schrift waren neben der dominierenden Religionsunterweisung die wichtigsten Fächer. Dazu traten der Musikunterricht und das Zeichnen, das seinerseits eng auf die Handarbeiten bezogen war. In der Zusammenfassung Franz Theodors v. Fürstenberg umfaßte der Fächerkanon der adligen Töchter: Die französische Sprache, die deutsche Sprache, um selbige wohl lesen, in selbiger wohl reden, wohl schreiben zu können . . . ein wenig Lateinisch zwischendurch, selbiges kann nicht schaden.. . . deutlicheCharakteremüssenimschreibengemacht, nach der Kunst muß wohl gerechnet werden. Es muß vielleicht etwas in der Musik gemacht werden, muß dann hauptsächlich gearbeitet, genähet werden. Andächtige Bücher, des livres morales, von der Sittenlehre, von auferbaulichen Historien, Haushaltungs-, Koch-, Arznei-Bücher müssen gelesen werden."

Die im Unterricht der Söhne wichtigen realen Wissensfächer wie Geschichte, Geographie, Mathematik etc. fehlten im Stundenplan der Mädchen. Von den umfangreichen Exerzitien der Knabenerziehung blieb bei den Mädchen nur der Tanzunterricht." Bis zum Jahre 1770 blieb im münsterländischen Adel bei den Mädchen wie bei den Knaben die Hauserziehung durch Hofmeister und Gouvernanten die vorherrschende Erziehungsform. Die Abschließung der Kinder von Gleichaltrigen anderer Schichten war weit fortgeschritten. Ihre Überwachung und Bewahrung vor Verführern war aber trotz dieser Distanzierung vor allem deshalb noch lückenhaft, weil innerhalb des Hauses die Abtrennung von fremden Erwachsenen, vor allem aber von dem häufig gleichaltrigen Gesinde, trotz ständiger scharfer Verbote noch nicht durchgesetzt war. Als exemplarisches Beispiel mag der lange und nur zeitweise erfolgreiche Kampf des Franz Theodor v. Fürstenberg gegen den Einfluß des Gesindes auf seine Kinder gelten. In einem Promemoria an die Bewohner seines Hauses verordnete er: Es wird hiermit allen meinen Hausgenossen, wes Standes und Geschlechtes selbige auch sind, kundgetan, daß das Treiben, das Schmeicheln hinter meinen Kindern, selbige nach ihren Schwachheiten zureden. Recht zu geben . . . gänzlich verboten haben will . . . Denn Knechte und Mägde suchen insgemein, die Kinder gegen Hofmeister, Mademoiselle, Präzeptor zu ver-

146

stricken, selbige zu lästern, zu verspotten, über selbige mit den Kindern ein Gelächter zu treiben, um sich groß zu machen und den Kindern das Herz abzugewinnen, wie mir selbiges aus meiner Kindheit und Jugend ganz wohl anoch bekannt ist."

Das Kind im münsterländischen Adel wurde nicht in einer aus der Erwachsenenwelt streng ausgegrenzten, nach Altersstufen gegliederten, kindbezogenen-künstlichen Welt, wie sie die Jesuiteninternate hergestellt hatten, erzogen, sondern lebte noch in engem Kontakt sowohl mit jüngeren und älteren Geschwistern als auch mit Eltern, Erziehern, Verwandten, Freunden und dem Gesinde, von denen es im Umgang lernte. Die Hauserziehung durch Hofmeister und Gouvernanten ergänzte die Umgangserziehung, war ihr gegenüber aber nicht dominant. Das Vorbild der erwachsenen Bezugspersonen bestimmte früh das Verhalten des Kindes. Bemühungen des Kindes, möglichst schnell den Erwachsenenstatus der Vorbilder zu erreichen, wurden durch die Hauserziehung gestützt.

2.4

Schulausbildung

Im Fürstbistum Münster war die Domschule im Jahre 1500 von dem adligen Domherrn Rudolf V. Langen in ein humanistisches Gymnasium umgewandelt worden, das im 16. Jahrhundert als vorbildhaft für ganz Deutschland galt. Ein anderer Adliger, der Domscholaster Gottfried v. Raesfeld, später Domdechant, holte ein Jahrhundert später den Jesuitenorden nach Münster, der 1588 das Gymnasium übernahm und bis zu seiner Aufhebung 1773 leitete. Auch in den umliegenden geisdichen Fürstentümern Paderborn und Osnabrück übernahmen Jesuiten die dortigen Gymnasien. Schon seit der Mitte des 16. Jahrhunderts trat der landsässige Adel Münsterlands zunehmend in die Jesuitengymnasien ein, vor allem in Münster, aber auch in Köln, Fulda und Siegen. Am Ende des 17. Jahrhunderts erreichte die Zahl stiftsadliger Gymnasiasten ein Maximum, sank seit dem Ende des 17. Jahrhunderts jedoch wieder und erreichte um 1770 ein Minimum.*' Städtische Lateinschulen wurden im 18. Jahrhundert vom münsterländischen Adel nahezu völlig gemieden,^" ebenso die an Realien und dem Kavaliersideal orientierten, dem Adel vorbehaltenen Ritterakademien in auswärtigen katholischen Ländern, z. B. in Würzburg. Anhand dieses Sachverhalts läßt sich vermuten, daß der münsterländische Adel das Jesuitengymnasium im 18. Jahrhundert zugunsten der Hauserziehung verließ, um sich von den Schülern aus dem Bürger- und Bauernstand zu distanzieren, weniger weil er im Jesuitengymnasium die Behandlung der Realien vermißte. In den meisten ihrer Grundprinzipien stimmte die Erziehung in den Jesuiteninternaten und -gymnasien mit der des münsterländischen Adels überein. Internatserziehung war das eigentliche Instrument der Jesuitenerziehung. In Münster war zu diesem Zweck das adlige Galensche Konvikt mit 18 Pensionären, meist aus unvermögenden Adelsfamilien, dem Gymnasium angegliedert. Doch nahm dieses Konvikt bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht alle adligen Gymnasiasten auf; die anderen wohnten mit ihren Hofmeistern in den Adelspaiais oder in bürgerlichen Pensionen und besuchten als Externe das Gymnasium. Zwei wesendiche Prinzipien der Jesuitenerzie147

hung, die strikte Abtrennung der Schüler von ihrer alltäglichen Lebenswelt und deren kontinuierliche Überwachung konnten hier also nicht voll realisiert werden. Andererseits wirkte sich dadurch aber auch ein Nachteil der Jesuitenerziehung, der Verlust an Realitätsbezügen, bei einem erheblichen Teil der adligen Schüler nicht voll aus. Die Jesuiten erzogen zu Demut, unbedingtem Gehorsam gegenüber vorgegebenen Autoritäten und ständiger Bereitschaft zum Selbstverzicht. Sie vermieden dagegen alles, was Individualisierung hätte fördern können; insofern entsprach ihr Schulsystem den A d e l s n o r m e n . D e r Weg zur Realisierung dieser Ziele führte über einen Fächerkanon, in dessen Mittelpunkt der über die Lektüre zensierter klassischer Autoren gewonnene Zugang zur alten lateinischen Welt stand. Die stärker individuellen Verhaltensorientierungen folgende griechische Welt wurde dagegen vernachlässigt, ebenso die anderen Wissensfächer, Geschichte, Mathematik und die durch das System der scholastischen Philosophie nahezu erstickten Naturwissenschaften. Die Schüler wurden in eine lateinische Welt eingeführt, die ohne offene Probleme, ohne Konflikte, ohne mögliche Alternative erschien. Die über diesen Stoff vermittelte Wertstruktur harmonierte mit den Adelsnormen, war auf Selbstverzicht und Respektierung des Gegebenen aufgebaut, sah im Neuern auf religiösem, aber auch auf sozialem Gebiet das Böse oder aber zumindest keinen positiven Wert.^^ In den Erziehungsmethoden unterschieden sich die Jesuiten insofern deutlich von den Prinzipien adliger Hauserziehung, als sie anstelle von körperlichen Strafen über Appelle an den Ehrgeiz sowie ein differenzierteres System von Belohnungen und moralischen Strafen die Lernmotivation der Schüler zu sichern und zu heben suchten. Überhaupt war eines ihrer wesentlichsten Ziele, das in Unterricht und Erziehung vermittelte Verhalten durch Gewissensbildung, Gewissensbeängstigung, Appelle an Ehrgefühl und Ehrgeiz im Innern des Kindes, dessen Vertrauen sie erringen wollten, zu verankern. Hier lag ein deudicher Unterschied zur Erziehungspraxis des Adels. Zwischen zwei Grundzielen dieses Lehrordens, der Erziehung zu einer neuen, innerlich fest verankerten, disziplinierten Religiosität durch Abschließung und Abkehr von der Welt einerseits und der auf diese Welt gerichteten gegenreformatorischen Wirkungsabsicht andererseits bestanden aber Spannungen. Der Eintritt und das Verbleiben in Jesuitengymnasien wurde dem Adel dadurch erleichtert, daß in den Konvikten die bestehende Standesordnung respektiert wurde. Die Adelssöhne, die im Konvikt oder mit ihren Hofmeistern in der Stadt wohnten, genossen bevorzugte Behandlung.^^ Den Jesuiten lag viel daran, den Adel der Region in ihre Gymnasien zu ziehen. So integrierten sie schon früh, wenn auch in engen Grenzen und unter Kritik aus den eigenen Reihen, weltlich-höfische Bildungselemente, z.B. die adligen Exerzitien, in ihr humanistisch-religiöses Bildungskonzept und kehrten sich damit weltlich-realen Bildungselementen zu, die zum Teil im Widerspruch mit den in der Latinität vermittelten Werten standen.'·* Auf anderer Ebene läßt sich die Spannung darin erfassen, daß die Jesuiten einerseits Geistliche und Ordensmitglieder, andererseits aber auch Adels- und Bürgersöhne ausbildeten. Mit zunehmender Wissenserweiterung und Differenzierung der Ämter- und Berufsqualifikationen stellte sich für letztere die Frage drängender, wie man mit solcher Bildung in der Welt bestehen könne. Die Jesuitengymnasien haben zum Teil im 18. Jahrhundert auf diese Frage mit Modifikatio148

nen ihres Fächerkanons, vor allem mit der Aufnahme fremder Sprachen und der Muttersprache reagiert. Doch blieben ihre Reformen weitgehend äußerUche Zugeständnisse; die realitätsferne lateinische Welt galt weiterhin als dominierendes Zentrum ihres Curriculums. Die Jesuiten hatten in ihren Gymnasien zwar nach dem Leistungsstand der Schüler gegliederte Fachklassen eingeführt, doch waren diese noch nicht gleichzeitig einheitliche Altersklassen. Es gab zudem keine klare Trennung zwischen der Universität und den Gymnasien. Die Jesuitengymnasien boten den ersten Teil des Universitätsstudiums, den philosophischen und den theologischen Kurs, neben ihrer sechsklassigen Schulausbildung an. Es gab damals kein Mindestalter für den Eintritt eines Zöglings in die Universität. Infolgedessen ist es kaum möglich, einen durch Altersstufen genau bestimmten allgemeinen Ausbildungsgang des adligen Jesuitenzöglings zu rekonstruieren. Doch ist eine Tendenz hinsichtlich des Eintrittsalters erkennbar. Im 16. Jahrhundert gab der münsterländische Adel seine Söhne oft schon mit sechs bis acht Jahren ins Jesuiteninternat. Ein starkes Interesse an der dort effektiveren Abtrennung, Überwachung und Disziplinierung der Kinder mag, angesichts des religiös gespaltenen eigenen Standes, für diese Haltung entscheidend gewesen sein.^' Da die Zöglinge der Jesuiten bis zu ihrem elften Lebensjahr in der untersten Klasse verblieben, erst dann, bei ausreichender Leistung, jährlich aufstiegen, wurde das Internat mehr als Vorschule denn unter dem Aspekt effektiven Lernens genutzt. Es war infolgedessen kaum möglich, die volle Ausbildung am Jesuitengymnasium vor dem sechzehnten bis siebzehnten Lebensjahr abzuschließen. In den oberen Klassen gab es zumeist eine Vielzahl von Schülern, die weit älter waren. Im 18. Jahrhundert scheint sich nach und nach ein Eintrittsalter von zwölf Jahren durchgesetzt zu haben, d. h. in den FamiUen, in denen man die Gymnasialerziehung beibehielt, wurde die Hauserziehungsphase soweit wie möglich ausgedehnt.^' Daneben findet sich die Variation, daß die Söhne eine dem gymnasialen Kurs der Jesuiten vergleichbare Hausausbildung erhielten und mit sechszehn Jahren in den zweijährigen philosophischen und theologischen Kurs der Jesuitengymnasien eintraten. Eine Differenzierung der Inanspruchnahme des Gymnasiums nach der zukünftigen Ämterlaufbahn ist nicht nachzuweisen. Adelsfamilien, die ihre Kinder im 18. Jahrhundert weiterhin ins Jesuitengymnasium schickten, ließen auch ihre ältesten Söhne und zukünftigen Stammherrn, nicht nur die zukünftigen Domherrn, dort ausbilden. Die Damenstifter lassen sich zwar als kleine Schulen für die zum Teil mit sieben bis acht Jahren eintretenden adligen Mädchen auffassen; doch war vor 1770 im Münsterland die Ausbildung im Stift, soweit sie die Unterweisung in Religionslehre und Chorgesang durch Stiftsgeisdiche überschritt, in starkem Maße dem Zufall überlassen, sei es, daß eine Stiftsdame, zumeist eine Tante, sich für fähig hielt, den Unterricht selbst zu übernehmen, sei es, daß ein Geisdicher, ein Student oder ein in der Nähe wohnender juristisch gebildeter Beamter bezahlten Unterricht gab.'^ Wissen und intellektuelles Niveau vieler junger, heiratsfähiger Stiftsdamen, die von Kind an im Stift lebten, ließen um 1770, folgt man den Urteilen münsterländischer adliger Zeitgenossen, sehr zu wünschen übrig.^®

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2.5

Universitäts,besuch'

Schon seit 1303 war für alle zukünftigen Domherrn ein Studium an einer italienischen oder französischen Universität, den Zentren der theologischen, juristischen, später der humanistischen Wissenschaft, unumgänglich vorgeschrieben. 1780 begründete der Freiherr Clemens August v. Kerckerinck zur Borg diese Vorschrift folgendermaßen: In alten Zeiten, wo leider der Adel in Deutschland in der tiefsten Unwissenheit steckte, so daß es ein Wunder ware, wenn ein Edelmann lesen und schreiben konnte, sähe das münstersche Dom-Kapitul doch ein, daß es ihrem Corpori eine Schande sein würde, wenn darinnen eben eine solche Unwissenheit herrschete. Sie beschlossen also, keinen zum Kapitul zuzulassen, welcher nicht authentisch beweisen konnte, daß er 1 Jahr und 6 Wochen auf einer Universität in Frankreich oder Italien studieret. Sie suchten dadurch die jungen Adlige zu studieren zu nöthigen und sich durch ihre vorzügliche Kenntnüß und Wissenschaften vor allem übrigen Adel zu distinguieren und in Ehrfurcht und Ansehen zu erhalten."

Für die noch relativ geringe Zahl von Adelssöhnen, die damals innerhalb einer Familie zum Domherrn bestimmt wurden, zwischen 1200 und 1400 wurde im Durchschnitt nur jeder dritte Sohn einer Familie Domherr, war also spätestens seit dem 14./15. Jahrhundert der Erwerb einer Bildungsqualifikation erforderlich. Den anderen Söhnen, die infolge des Bedeutungsverlustes militärisch-feudaler Leistungen leitende Positionen in Zentraiverwaltung und Diplomatie der im 16. Jahrhundert erstarkenden Landesherrschaft zu gewinnen suchten, stellte sich dieses Problem erst 100 bis 200 Jahre später.®" Sie waren gezwungen, die gelehrte Bildung als wichtigstes Kriterium für die Vergabe der neuen Positionen anzuerkennen. Im Gegensatz zu ihren Brüdern und zukünftigen Domherrn, die ihr Studium nur mit einer unverbindUchen Disputation abschlossen, benötigten sie ein Examen als Magister artium, Licentiat oder gar den Dr. iur. utriusque.'* Humanistisch-gelehrter Unterricht am städtischen Gymnasium und intensives Universitätsstudium wurden feste Ausbildungsstationen des Adels vor dem Erwerb eines Amts in der landesherrlichen Zentralverwaltung. Mit der Durchsetzung einer Regierung der Staaten vom Hofe aus und der Ausbreitung des Kavaliersideals - eine Entwicklung, die Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts im westfälischen Raum einsetzte - änderte sich aber die Einstellung des Adels zum Universitätsstudium in erheblichem Maße.®^ Das vom praxisfernen ,pedantisch-schulfuchserischen' Gelehrtenideal bestimmte, auf ein spezifisches Amt bezogene intensive Jurastudium wurde aufgegeben. Universitäre Bildung diente nun der Kultivierung der adligen Person, wurde zu einer in seiner bisherigen Bedeutung stark relativierten Station auf einem abwechslungsreichen Bildungsweg. Durch .Besuch' der Universität in Begleitung eines Hofmeisters und eines Dieners bewährte sich der junge, an einem weltlichen Beruf interessierte Adelssohn - ohne an ein Examen zu denken - ,auch' in dieser gelehrten Welt, fügte er das Prestige, das dem Universitätsbesuch anhaftete, seinem umfassenden, auf Familie, Stand und spezifischer Standesbildung basierendem Ansehen hinzu. Durch die Art seiner Studienreise, vor allem aber durch standesgemäßen Lebensstil und repräsentatives Auftreten an der Universität vermied er sorgfältig, als Studierender zu erscheinen, der sich über spezifische 150

Wissensqualifikationen ein Amt zu erwerben trachtete. Sein Studium war eben kein jBrotstudium'. Diese Einstellung mußte aber fleißiges Lernen nicht notwendig ausschließen. Franz Wilhelm v. Galen formulierte die für den münsterländischen Adel geltende Einstellung zum Universitätsstudium der Söhne, als er 1697 in einer Hofmeisterinstruktion für seine beiden Söhne schrieb: . . . weilen ein Mensch und sonderlich adeücher in keiner größerer Verachtung setzet, bey leder menlicher als [durch] ignorance, als verlange ich, daß [sie] sich zu dem studio iuris fleissich geben und verfolglich as ius publicum et historias, weilen ein Cavalier ein solches in allen conversationibus nicht allein beliebt macht, sondern auch in estime setzet und sich absonderlich capable macht, daß dadurch ihr fortun bey allen H ö f e n und großen Herren als Kayser und Köningen etc. allemals vermehren! U n d ferner zu allen Hofchargen bequem s e i n . "

Neben dem Ziel, die Söhne zu brauchbaren Fürstendienern ausbilden zu lassen, hat auch die Furcht vor Müßiggang der Söhne an der mit zahlreichen Verführungen aufwartenden Universität die Väter in der Regel dazu bestimmt, den Söhnen ein hohes Maß täglicher Übungs- und Vorlesungsstunden aufzuerlegen. Die neue Form kavaliersmäßiger adliger Universitätsbildung wurde - im Gegensatz zum bisher betriebenen gelehrten Studium - zum wirksamen Distanzierungsinstrument. Wenn überhaupt, dann nur in Auswahl, besuchten die zu weltlichen Laufbahnen bestimmten Adelssöhne das offizielle Vorlesungsangebot eines Studiengangs. Häufig verpflichteten sie die Professoren, in deren Haus sie wohnten oder zu deren ständiger Tischgesellschaft sie gehörten, zu Privatvorlesungen. Die Distanz zu den in ihren Umgangsformen ,rohen' bürgerlichen Studenten war nach dem Willen der Väter streng zu wahren und ständig neu einzuüben. In der Instruktion Wilhelm Ferdinands v. Galen von 1738 heißt es dazu: Weil dann diesem nächst daran gelegen, wie einer in äußerlichen Sitten erzogen und gouvernirt werde, also soll auch mehr gemelter mein Sohn sich aller modestie Höflichkeit und affabilität befleißigen, aller böser, leichtsinniger oder auch in geringstem veracht- und verdächtlicher Gesellschaft sich gänzlich entschlagen, und nur mit solchen conversiren, von welchen er gute Sitten und einem rechtschaffenen Cavalliren, und Freiherrn geziemende Anständigkeiten erlerne, und bei männiglichen guten R u h m und L o h n erlangen könne.'^

Hier hatte der Hofmeister, der seinerseits häufig von Vertrauten des Vaters am Universitätsort kontrolliert wurde, wichtige Kontrollfunktionen; zudem wirkte er, der zumeist schon ein Brotstudium hinter sich gebracht hatte, als Repetitor. Ein starkes Engagement der Adelssöhne in landsmannschaftlichen und anderen studentischen Organisationen, bekannt und berüchtigt als Orte der Rohheit, war deshalb ausgeschlossen." „ E x omnibis aliquid, ex toto nihil" ; mit diesem Satz formulierte Graf Wilhelm Ferdinand V. Galen 1738 in einer Instruktion für seine nach Paris reisenden Söhne das kavaliersmäßige Lernverhalten an der Universität.®* Neben dem breiten, wenig tiefen Wissen waren adlige Exerzitien, Kontakte mit Söhnen anderer Adelsfamilien und Besuche bei mächtigen Persönlichkeiten und Familien in der Nähe der Universitätsstadt positive Ergebnisse des Universitätsbesuches. Nahezu alle großen Universitäten hatten diese Übungen, sich gleichsam feudalisierend, ihrem Lehrprogramm angefügt, um die Prestige und hohe Studienzahl si151

chernden Adelssöhne anzuziehen. Eine einheitliche Studiendauer ist nicht nachzuweisen. Die untere Grenze des Universitätsaufenthaltes lag bei zwei bis drei Jahren; längere Aufenthalte erhöhten das Prestige. Der Prestigesteigerung diente wohl auch die Gewohnheit, möglichst zwei oder mehrere Universitäten zu besuchen. Dem Universitätsbesuch Schloß sich eine Reise an, in deren Verlauf sich die Adelssöhne häufig an weiteren Universitäten einschrieben. Das Studium der zukünftigen Domherrn war nach Lebensstil und Lernintensität dem der anderen Adelssöhne sehr ähnlich, da es sich ebenfalls stark am neuen Bildungsideal des Kavaliers ausrichtete; die Reise als neues Bildungselement wurde auch in die Domherrnausbildung aufgenommen.®^ Häufig richtete sich auch der erstgeborene Sohn, wenn er eine Präbende für seinen jüngeren Bruder sichern sollte, nach diesem Studienmodell. Es begann mit der Vorbereitung im adligen Haus, auf einem Jesuitengymnasium oder einer katholischen deutschen Universität, wo der allgemeine philosophisch-theologische Kurs absolviert wurde. Daran Schloß sich das vorgeschriebene Auslandsstudium von einem Jahr und sechs Wochen an. Der Schwerpunkt des Wissensstudiums lag beim öffentlichen, privaten und kanonischen Recht. Die zukünftigen Domherrn wählten zumeist theologische Vorlesungen hinzu; selten studierten sie Theologie im Schwerpunkt. Darüber hinaus waren Geschichte, Sprachen und Exerzitien für beide Studienmodelle verbindlich. Die Ausweitung in andere Wissensbereiche war sehr variabel, im wesentlichen von der Qualität des vorhergehenden Hausunterrichts und den Amtsambitionen, die der Vater hinsichtlich seiner Söhne hatte, abhängig. Die Wahl der Studienorte ergab sich aus dem angestrebten Studienmodell. Für die zukünftigen Domherrn war eine italienische bzw. französische Universität verpflichtend. Vor dem 16. Jahrhundert waren Bologna, Siena und Padua mit ihren berühmten Rechtsschulen, im 16. und 17. Jahrhundert Rom, daneben im 17. und dominant im 18. Jahrhundert Paris die Hauptstudienorte für das Biennium.'® Zum Teil wählte man auch die weniger teuren, in den adligen Exerzitien aber ebenfalls ausgezeichneten französischen Universitätsstädte Reims, Orleans, Lyon und Dijon. Die zu weltlichen Berufen bestimmten Adelssöhne studierten häufiger und länger an deutschen Universitäten.®' Hinsichdich der Wahl der Universitäten ist vor 1770 kein deudicher Schwerpunkt nachzuweisen. Häufiger Wechsel und außerordentliche Vielfalt der Studienorte bestimmen das Bild. Protestantische Universitäten wurden seltener besucht, aber nicht prinzipiell gemieden. Der Besuch der modernisierten, pietistischen Universität Halle ist allerdings nicht nachzuweisen. Ein wesentliches Kriterium für die Universitätswahl war die Qualität adliger Exerzitien. Deshalb absolvierten auch häufig die Söhne, die nicht Domherrn wurden, ihr Studium an französischen Universitäten, vor allem in Paris. Daneben galten aber auch Salzburg, Dillingen und Straßburg als Studienorte mit Exerzitienmöglichkeiten von ausgezeichneter Qualität.*®

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2.6

Kavalierstour

Die Kavalierstour tritt im Erziehungsplan des münsterländischen Adels in zwei Variationen auf, als erweiterte Universitätsreise der zukünftigen Domherrn und als auf Hof- und Weltkenntnis gerichtete Reise des Stammherrn und der nachgeborenen Söhne, die nicht zu geistlichen Ämtern, sondern zum Fürstendienst bestimmt waren. Die ältere Form der akademischen Reise, die zumindest partiell vom gel ehrt-humanistischen Reiseideal, von der Intention, das individuelle Bewußtsein durch Weltkenntnis zu erweitern, bestimmt war, entstand durch die seit dem 14. Jahrhundert bestehende Verpflichtung der zukünftigen Domherrn zu einem Auslandsstudium in Italien oder Frankreich. Je nach finanziellen Möglichkeiten wurde dabei die An- und Rückreise ausgedehnt. Die zweite Form, die eigentliche Kavalierstour, war ein Element des von Frankreich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts übernommenen neuen adligen Bildungsideals und entsprach den Bedürfnissen der sich festigenden, vom Hof aus regierten Machtstaaten und deren zunehmenden, von einem international sich homogenisierenden Hofadel getragenen diplomatischen Verflechtung.Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts ist diese Form der Reise im münsterländischen Adel nachzuweisen. Am Ende des 17. Jahrhunderts hat sie sich neben der älteren akademischen Reise, die sich der Kavaliersreise anglich, voll durchgesetzt. Die Kavalierstour war die letzte Station der adligen Standesbildung: Universitätsaufenthalt und Reise währten zusammen in der Regel vier bis sieben Jahre. Nahezu alle Söhne, ohne Ausnahme aber die Stammherrn und zukünftigen Domherrn, wurden auf eine Kavalierstour geschickt. Da die Söhne vorher zumeist eine Zeit lang in Deutschland studierten, lag das Alter der Reisenden bei Reiseantritt zwischen siebzehn und einundzwanzig Jahren.'^ Die Kavalierstour hatte verschiedene Funktionen im Interesse von Familie und Stand zu erfüllen. Einerseits setzte sie, entsprechend dem adligen Bildungsprinzip der fortschreitenden Horizonterweiterung, nach der Hauserziehung durch Hofmeister, dem Gymnasialunterricht und dem Universitäts,besuch' die Ausbildung des Adelssohns unmittelbar fort. Auf der Kavalierstour wurden berühmte Universitäten besucht und Professoren zu Privatvorlesungen verpflichtet. Sprache, politische Institutionen und Geschichte des Reiselandes standen im Mittelpunkt des Unterrichts. In den großen Residenzstädten, vor allem in Paris, waren zudem die besten Exerzitienmeister Europas versammelt, so daß man sich auch in diesen Übungen erst auf der KavaUerstour vervollkommnen zu können glaubte. Zudem ließen sich die für zukünftigen Ämtererfolg außerordentlich wichtigen Sprachkenntnisse ebenfalls im jeweiligen Lande selbst am besten erweitern und festigen. Am wichtigsten waren aber die Kontakte mit der hier anwesenden ,Noblesse', durch deren Umgang man sein bisheriges elegantes Benehmen verfeinern, sein Verhalten auf die international an Höfen geltende romanisch-adlige Formkultur abstimmen konnte. In Visiten bei angesessenen Adelsfamilien und hochgestellten Persönlichkeiten erhielten die Umgangsformen der Adelssöhne den letzten Schliff. Auf den Höhepunkten der Reise, den Audienzen beim König in Paris, beim Papst in Rom und beim Kaiser in Wien wurde dann gleichsam die letzte ЬеЬфгоЬе abgelegt; danach konnte man sich als vollwertiges Mitglied der internationalen Adelsgesellschaft ansehen. Um die Funktion der Reise als letzte 153

Probe vor dem Erwachsenenstatus noch zu betonen, übertrugen die Väter, bei denen die Entscheidung über die Gewährung des Erwachsenenstatus letztlich lag, den reisenden Söhnen noch eine besondere Aufgabe, deren Erfüllung Erwachsenenqualitäten voraussetzte, z . B . den Abschluß eines Geschäftes oder eine Art diplomatische Sendung.'^ Die Kavalierstour war aber nicht nur Abschluß der Ausbildung nach dem geltenden Bildungsideal des Standes, sondern auch als Beginn der Ämterkarriere im Dienst eines Fürsten, der Kirche oder des Standes gedacht. Das Bestehen in fremder adliger Geselligkeit und bei Audienzen am Hofe, auch die Besichtigung einer militärischen Aktion, z . B . einer Belagerung, konnte als eine Art Berufsprobe für den Hofmann, den adligen Rat, den Offizier oder für die diplomatische Laufbahn angesehen werden. Der Adelssohn bewies, daß er fähig sei, ,sich in Affären brauchen zu lassen'. Auch diente die Reise zugleich dem Aufbau von Personenbeziehungen, von denen man sich Vorteile für eine spätere Ämterkarriere versprach; und mancher reisende Adelssohn hat von den Audienzen beim Papst, Kaiser oder Landesherrn eine Domherrnpfründe oder ein lukratives Amt mit nach Hause gebracht.®^ Eine wichtige Funktion gewann die Kavalierstour auch dadurch, daß sie erhebliche Kosten verursachte. Das ,Weltmännische' in Verhaltensform und Horizont war ein Spezifikum des Kavaliersideals; die neue, äußerst kostspielige, adlig-höfische Bildung wurde zu einem wichtigen standeskonservierenden Moment. Sie machte die im 15./16. Jahrhundert schwindende Distanz zum Bürgertum wieder deutlicher und festigte das Ansehen des Adels beim grundherrlichen Bauern.®' Die hohe Verhaltenssicherheit des Adels gegenüber Vertretern anderer Stände schon in jungen Jahren gründete sich neben dem Reichtum und Ansehen seiner Familie und seines Standes in starkem Maße auf eine breit angelegte Bildung. Wie auf der Universität wurde auch auf der Reise unter strenger Kontrolle des Hofmeisters Distanzierungsverhalten weiter eingeübt. Aber nicht nur zur Distanzierung der Angehörigen anderer Stände, auch für das Selbstbewußtsein der regionalen Adelsgruppe und ihre interne Differenzierung waren die Kavalierstouren von erheblicher Bedeutung.'® Die Daheimgebliebenen versicherten sich in ständigen, allen Standesgenossen offenen Briefkontakten mit den Reisenden, im Austausch von Informationen über Höfe, Familien und Personen ihrer Zugehörigkeit zur internationalen Adelsgesellschaft und erprobten über Empfehlungsschreiben für die Reisenden Reichweiten und Möglichkeiten ihrer Konnexionen. Der reisende Sohn, der diese Möglichkeiten eröffnete, und dessen Familie, die die Reise finanzierte, gewannen auf diese Weise innerhalb des Adelsstandes an Prestige. Die Adelssöhne waren gleichsam Gesandte des regionalen Adels an die großen Höfe.'^ Nicht zuletzt in diesen vielfältigen Funktionen der Kavalierstour sowie in der Tatsache, daß die Kavaliersausbildung den Erwerb des Erwachsenenstatus und den Zeitpunkt der Heirat hinausschob, liegt die Antwort auf die Frage, warum der münsterländische Adel, der nur sehr bedingt ein Hofadel war und für dessen Söhne neben den Hofämtern geistliche und ständische Ämter in demselben Maße wichtig waren, in völligem Gegensatz zu den auch im Münsterland verbreiteten merkantilistischen Grund154

Sätzen, seine Söhne auch im 18. Jahrhundert unter hohem Kostenaufwand zu Kavaliersreisen ins Ausland schickte. Die Route der Kavalierstouren war durch die großen Residenzstädte Paris, Rom und Wien bestimmt. Die Anreise nach Paris erfolgte in der Regel, wegen der Festungen, der Häfen und der in Brüssel besonders rein gesprochenen französischen Sprache, über die Niederlande. Von Rom aus wurde Neapel und der Vesuv besucht. Über Venedig erreichte man Wien; von dort ging es entweder über München, Regensburg und die Heineren, vor allem die geisdichen Residenzen (Würzburg, Mainz etc.) oder über Prag und Dresden zurück nach Westfalen. England, ebenso Spanien, wurden in den meisten Fällen nicht besucht. Der Reiseweg führte zwar auch durch protestantische Länder, war aber nicht unabhängig von konfessionellen Gesichtspunkten ausgewählt. Die übliche Reisedauer lag zwischen einem und zwei Jahren." Sucht man die relevanten Wahrnehmungskriterien während der Reise näher zu bestimmen, so ist das Interesse an repräsentativen Bauwerken, an Schlössern, Kirchen, Gärten, Stadthäusern, Festsälen, aber auch Zeughäusern, Festungen und Hafenanlagen an erster Stelle zu nennen. Die kunstgeschichtUch interessanten Bauwerke und Kunstdenkmäler des Altertums erschienen dagegen kaum als wertvolles Bildungsg u t . " Daneben standen gleichwertig repräsentative gesellige Veranstaltungen jeglicher Art, sofern sie Gelegenheiten zu Kontakten mit Standesgenossen boten, vor allem Festveranstaltungen, Opern- und Theateraufführungen, Bibliotheks- und Galeriebesuche und Jagden. An dritter Stelle ist das Interesse an Gegenständen des Prestigekonsums - manche Bestellung von daheimgebliebenen Familienmitgliedern und Standesgenossen war hier zu erledigen - an Kuriositäten und Raritäten zu nennen. Hier gewann man einerseits die Stoffe für die späteren weltgewandten, plaudernden Konversationen: Informationen über Personen und Familien, Anekdoten, Naturwunder, merkwürdige Lebewesen etc.^°® Andererseits ergänzte man den famiUären Machtreichtum durch Erwerb seltener Gegenstände, von der Münze über die Reliquie bis zu Ablässen. An den Hauptorten der Reise entfalteten die Adelssöhne, auch die zukünftigen Domherrn, um mit dem eingesessenen Hofadel und anderen reisenden Standesgenossen in Kontakt zu kommen, einen zum Teil außerordentlich aufwendigen Lebensstil, in dem Kleidung, Schmuck, Waffen, gemietete Lakaien, die die von zu Hause mitgebrachten und auf der Reise gesammelten Empfehlungsschreiben und Visitenkarten überbrachten, Kutschen, sogar selbst finanzierte gesellige Veranstaltungen und Feste für den angesessenen Adel eine wichtige Rolle spielten. In diesen Lebensstil war der Unterricht durch Professoren und Exerzitienmeister dann in lockerer Weise integriert. Die für die Reise ebenfalls bezeichnenden Bücherkäufe, die in der damaligen Zeit der Bildung, aber auch der Steigerung des Prestiges dienten, spiegeln die im Kavaliersideal des münsterländischen Adels vorherrschenden kulturellen Ideale wider. Gekauft wurden Bücher über religiöse, pohtische und historisch-genealogische Inhalte, dazu Reisebeschreibungen, Anleitungen zur Vervollkommnung in den adligen Exerzitien und einige Werke über Kuriositäten, z.B. NaturaUen, vor allem aber theologische und praktische Werke zur Musikkunde. Ein Interesse dieses Adels an bildender 155

Kunst und Literatur ist auch aus den Bücherkäufen auf der Kavalierstour nicht nachzuweisen. Die Kavalierstour vermittelte den Adelssöhnen, verfolgt man ihre Wahrnehmungen anhand von Briefen und Tagebüchern, im Grunde keine qualitativ neuen Erfahrungen. Sie fanden auf der Reise im wesentlichen alles so vor, wie sie es erwartet hatten und gewannen so den Eindruck einer festen, vom Adel bestimmten Welt. Sie reisten, um ihre bisherigen Verhaltensformen zu vervollkommnen und ihre bestehenden Grundsätze bestätigt zu finden. Die Welt erweiterte sich für sie vor allen Dingen quantitativ, sie lernten an den Höfen und bei Visiten Personen kennen, gewannen in zumeist weitgehend formellen, inhaltlich wenig verbindlichen Gesprächen Stoff für spätere Konversationen, Kenntnisse innerhalb einer als begrenzt homogen und fest erscheinenden adlig-höfischen Welt. Die Reisenden schildern die Erscheinungen objektiv und emotionslos; zum Teil werden sie im Tagebuch als nun bekannte Fakten in Stichwörtern festgehalten; subjektive Beteiligung, persönliche Betroffenheit, Überraschung oder gar Irritation sind äußerst selten erkennbar. Möglichkeiten zur Relativierung oder qualitativen Veränderung der eigenen Identität durch eine mögliche Erfahrungserweiterung, die im Reisen, in der Wahrnehmung des vom eigenen Verhalten abweichenden anderen hätte angelegt sein können, wurden nicht gesehen, da die als wichtig erachteten Erlebnisse des Reisenden ausschließlich vom Bezug auf eine während der ganzen Reise gleichbleibenden höfischen Adelsgesellschaft bestimmt blieben. Kontakte mit anderen Bevölkerungsschichten fielen entweder unter das Wahrnehmungsmuster des ,Curieusen' oder blieben nebensächliche Episode.

3 . Ämtertätigkeit

3.1 Sicherung von Ämtern auf der Ebene des Standes Neben der Erhaltung adeligen Grundbesitzes war die Sicherung von knappen, einträglichen und prestigefördernden Ämtern zweites wesentliches Ziel der Familienund Standespolitik des Adels. Unter den Ämtern, die der Adel als Stand ganz oder teilweise für sich zu sichern suchte, waren die Domherrnstellen besonders wichtig. Aktivitäten zur Monopolisierung der Domherrnstellen, Aufbau der auf Heirats- und Erbverzicht gegründeten Familienordnung und fortschreitende AbschUeßung des Ritterstandes standen miteinander in engem Zusammenhang. Nicht alle Domherrnstellen in Münster wurden vom einheimischen Adel besetzt. Auch Adelssöhne aus dem weiteren westfälischen Umkreis und selbst aus nichtwestfälischen Regionen wurden ins münstersche Domkapitel aufgenommen. Entsprechend suchten die Söhne des münsterländischen Adels auch in andere Domkapitel einzudringen. Effektive Ämtermonopolisierung und zahlenmäßige Schrumpfung der stiftsfähigen münsterländischen Adelsfamilien boten die seit dem 15./16. Jahrhundert zunehmend stärker genutzte Möglichkeit, Domherrnstellen in der Hand eines Sohnes zu kumuheren. Nachdem sich süddeutscher und norddeutscher stiftsfähiger Adel, 156

während des 18. Jahrhunderts gegenseitig ausgeschlossen hatten, engte sich der Anwärterkreis für die westfälischen Domherrnstellen tendenziell auf den niederrheinisch-westfälischen stiftsfähigen Adel ein.^ Zwischen 1200 und 1400 waren 80 % der münsterschen Domherrn Westfalen, 20 % waren NichtWestfalen. Zwischen 1400 und 1588 waren 91 % Westfalen im münsterschen Domkapitel; von diesen stammten mindestens 54 % aus dem Fürstbistum Münster. Seit dem späten 16. Jahrhundert sank der westfälische und münsterländische Anteil aber ab, weil ein erheblicher Teil des einheimischen stiftsfähigen Adels protestantisch geworden war. Diese Entwicklung läßt sich auch an den Domherrn der untersuchten Familien ablesen:^ Tabelle 1: Zahlder von den untersuchten Familien zwischen 1200 und 1803 besetzten Domherrnstellen im Domkapitel Münster Zeit Zahlder Domherrn

1200-1399

1400-1499

1500-1599

1600-1699

1700-1803

insgesamt

9

17

71

46

71

214

Ein weiterer Grund für den Rückgang zwischen 1600 und 1699 wird deudich, wenn man die Domherrn nach Familien aufschlüsselt.^ Ein Teil der nachgeborenen Söhne zog im kriegerischen 17. Jahrhundert eine Militärkarriere dem Domherrnleben vor. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts begann aber gleichmäßig fortschreitend die Rückeroberung der Domherrnstellen, wobei die intensivierte Organisation der Ritterschaft und die verschärfte Ahnenprobe eine bedeutsame Rolle gespielt haben. Im 18. Jahrhundert wurde der Domherrnanteil des 16. Jahrhunderts wieder erreicht: Tabelle 2: Angehörige der untersuchten Adelsfamilien im Domkapitel Münster 1600-1803 Zeitraum Záilde^N.

1600-1649

1650-1699

1700-1749

1750-1803

1600-1803

eintretenden ^ s . Domherrn N. insgesamt aus den untersuchten Familien Anteil in %

85

74

98

94

351

22 25,9

24 31,1

37 37,8

34 36,2

117 33,3

Über die münsterschen Domherrnstellen hinaus gelang es aber auch, eine erhebliche Zahl von Domherrnpräbenden in anderen Domkapiteln, westfälischen und nichtwestfälischen, zu gewinnen, wie Tabelle 3 (S. 158) zeigt: Diese 172 Domherrnpräbenden konnten von den 25 untersuchten Familien nur besetzt werden, weil die zu Domherrn bestimmten nachgeborenen Söhne zumeist zwei oder mehrere solcher Stellen zugleich besaßen". 157

Tabelle 3: Angehörige der untersuchten Adelsfamilien in westf. und nichtwestf. Domkapiteln 1700-1803: Dom- Münster Osnakapitel brück Zahl der Domherrnstellen

71

37

Pader- Minden HUdes- Halber- Speyer born heim stadt

13

11

19

7

7

andere

insgesamt

7

71 + 101 = 172

Tabelle 4: Häufung von Domherrnstellen in einer Hand 1700-1803 Zahl der Domhermpräbenden in 1 Hand Zahl der Domherrn

5

6

36 38 18 1 2

1

1 2

3 4

Die Extremwerte in der obigen Tabelle - fünf und sechs Domherrnstellen in einer Hand - betreffen Angehörige der Familie v. Galen. Der Grund für diese Ausnahmestellung liegt darin, daß - im Gegensatz zum Fürstbischof Friedrich v. Plettenberg und dessen Familie, die ihren aus der Landesherrschaft fließenden Reichtum in adligen Grundbesitz investierte - der Fürstbischof Christoph Bernhard v. Galen und seine durch ihn zu vermehrtem Reichtum gekommene Familie ihr Geld in Familienpräbenden an verschiedenen Domkapiteln (Münster, Osnabrück, Minden, Halberstadt, Worms) und Damenstiftern (Freckenhorst, Nottuln, Wietmarschen) anlegten. Insgesamt wurde die Pfründenhäufung noch dadurch verstärkt, daß es die adligen Domherrn auch nicht verschmähten, die wesentlich niedriger dotierten Dignitäten vor allem der münsterschen Stiftskirchen (Alter Dom, St. Mauritz, St. Ludger, St. Martini) und die Archidiakonalgewalten über die verschiedenen Kirchspiele des Bistums ihrem Ämterbesitz hinzuzufügen. Ins Verzicht auf adligen Lebensstil und stärker innerliche Religiosität fordernde Kloster gingen seit dem 17. Jahrhundert dagegen nur noch sehr wenige der Adelssöhne, während sie im 16. Jahrhundert auch zahlreich in adlige Prämonstratenser-, Benediktiner-, Zisterzienser- oder Dominikanerklöster eingetreten waren.' Neben dem Domherrnamt galt im münsterländischen Adel das des Offiziers als angesehene, standesgemäße Beschäftigung für die nachgeborenen Söhne, aber auch für den zukünftigen Stammherrn. Hohes Prestige brachte ein Amt im Deutschen Orden, der religiöse und militärische Aufgaben integrierte und zudem den Aufstieg in hohe Amter bis hin zum Landesherrn bot. Bis zu seiner Auflösung im 16. Jahrhundert war er eine Domäne westfälischer Adelssöhne, die in Livland hohe Ämter und z. T. auch großen Reichtum erwarben. Er existierte zwar bis 1803 im Westen und Süden Deutschlands in verschiedenen Kommenden weiter und vergab seine nicht mehr sehr zahlreichen und in der Bailei Westfalen auch recht niedrig dotierten Stellen über aller158

dings weniger anspruchsvolle Ahnenproben nach dem Vorbild der Domkapitel; auch haben einzelne der münsterländischen Adelssöhne solche Stellen besetzt. Doch gewann im kriegerischen 17. Jahrhundert für die Adelssöhne die Offizierslaufbahn im Dienst weltlicher Fürsten eine wesendich stärkere Anziehungskraft. Aus dieser Zeit läßt sich eine große Zahl erfolgreicher Militärkarrieren der damals noch erstaunlich mobilen münsterländischen Adelssöhne nachweisen.* Im 18. Jahrhundert genoß dann die Militärlaufbahn in diesem Adel, aber auch - wegen der geringen Bedeutung des münsterischen Militärs für eine wirkungsvolle Verteidigung des Fürstbistums im Kriegsfall - in der Bevölkerung, ein deutlich geringeres Ansehen als die Position eines Domherrn. Häufig wechselten Offiziere ins Domkapitel über;' der Sold der Offiziere lag erheblich unter dem Einkommen der Domherrn und an schnelle Karriere in der Militärlaufbahn war in vorwiegend friedlichen Zeiten nicht zu denken. Insgesamt sind zwischen 1700 und 1803 64 Adelssöhne Offiziere, 96 Domherrn geworden. Neben dem münsterschen Offizierskorps, das im 18. Jahrhundert ungefähr zur Hälfte adlig war, neben den einheimischen Adelssöhnen dienten hier aber auch Söhne auswärtiger, selbst protestantischer Adelsfamilien, wurde zu einem geringen Teil auch das österreichische Offizierskoφs gesucht. Insgesamt läßt sich feststellen, daß im Laufe des 18. Jahrhunderts die Orientierung der münsterländischen Adelssöhne an einer Militärkarriere, wenn man einmal von einzelnen Familien mit besonders starker Militärtradition, wie z.B. die Familie v. Wenge, absieht, zunehmend schwächer geworden ist. Die nicht stiftsfähigen münsterländischen Adelsfamilien schickten dagegen ihre Söhne weiterhin in starkem Maße in das fürstbischöfliche Offizierskorps, wie das Beispiel der Familie v. Schonebeck zeigt. Einen dritten für den Adel wichtigen Ämterbereich bildeten die adligen Hof- und Verwaltungsämter. Die Inhaber der Hofämter übernahmen bei der Anwesenheit des Hofes im Münsterland, zumeist befand sich dieser im 18. Jahrhundert jedoch in Bonn, organisatorische und repräsentative, eng auf die Person des Fürsten bezogene Funktionen. Es gab fünf Hofämter, die z. T. in Form einer Hofkarriere durchlaufen werden konnten. Vom niedrigsten adligen Hofamt aufsteigend waren es: der Obristküchenmeister, der Obriststallmeister, der Obristmarschall, der Erbkämmerer und der Erbdroste. Die ersten drei bildeten in der genannten Reihenfolge die Stufen einer Hofkarriere.® Zwei dieser Ämter waren allerdings, wie der Name schon anzeigt, in bestimmten Familien (v. Galen, v. Droste-Vischering) erblich; nur drei konnten noch, z.B. beim Regierungswechsel, vom neuen Landesherrn vergeben werden.' Wegen ihrer Nähe zum Ämter und Privilegien vergebenden Fürsten, auch wegen ihrer im 18. Jahrhundert zunehmend besseren Bezahlung waren die Hofämter vom Adel sehr gesucht und besaßen dementsprechend ein außerordentlich hohes Prestige. Ein eindeutig landesherrliches Amt war das des Drosten, des adligen Vorstehers eines der zwölf Ämter des Fürstbistums, der Mittelinstanzen fürstbischöflicher Verwaltung. Der Drost wurde vom Fürsten ernannt; doch waren am Ende des 18. Jahrhunderts schon neun Drostenämter innerhalb bestimmter Adelsfamilien gleichsam erblich; nur drei wurden noch regelmäßig vom Fürsten in freier Wahl, aber auch stets an Angehörige stiftsfähiger Adelsfamilien vergeben, so daß sich in diesem Amt ständische und fürsdiche Interessen kreuzten. Weniger deutlich war der Anteil landständi159

scher und landesherrlicher Kompetenz bei den adligen Räten, den Mitgliedern der zentralen Verwaltungskollegien. Als Ergebnis des Auf- und Ausbaus eines landesherrlichen Behördenwesens am Ende des 16. Jahrhunderts entsund der Regierungsund Hofrat, der sich zum einen aus Vertrauten des Fürsten am Hofe, den Hofräten, zum anderen aus Vertretern der landständischen Interessen, den Landräten, zusammensetzte. Letztere waren wohl Vertreter ständischer Interessen, wurden aber vom Fürstbischof aus den Reihen der Stände berufen, waren also nicht von ihrem Stand frei gewählt und speziell b e a u f t r a g t . S o w o h l Hof- als auch Landräte konnten zunächst bürgerlich oder adelig sein. Da der Adel im 16. und zum Teil noch im 17. Jahrhundert seine Söhne bis zum Erwerb eines Universitätsgrads Jura studieren ließ, war auch das Institut der Hofräte kein rein bürgerliches. Seit 1588 konnten die ,ständischen ' Vertreter im Regierungs- und Hofrat nur noch aus den adligen Vorderständen, zwei aus dem Domkapitel, zwei aus der Ritterschaft, gewählt werden. Unter Fürstbischof Christoph Bernhard v. Galen (1650-1678) wurde der Regierungs- und Hofrat zum obersten Gerichtshof; an seine Stelle als oberste kollegiale, zentrale Verwaltungsbehörde trat der Geheime Rat, personell nach denselben Prinzipien zusammengesetzt. Doch während im Geheimen Rat und in den anderen inzwischen eingerichteten wichtigen Ratskollegien, z. B. im Kriegsrat, der stiftsfähige landsässige Adel seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nahezu alle Stellen für sich gewann, bürgerliche Juristen fast ganz auf die untergeordnete, nur beratende Position des Geheimen Referendars zurückgedrängt blieben, vollzog sich auf der Ebene des Regierungs- und Hofrats die entgegengesetzte Entwicklung. Hier verlor das adlige Element zugunsten des bürgerlichen an Bedeutung. Zwar blieb die Zahl der adligen Hof- und Regierungsräte in diesem Kollegium bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein weiterhin hoch, und auch hier präsidierte, wie in allen leitenden Kollegien, ein Angehöriger der adligen Vorderstände. Doch verloren die adligen Räte hier, seit der Konzentration des Kollegiums auf die Rechtsprechung, zunehmend an Bedeutung; und zwar deshalb, weil die Adelssöhne spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, mit der Übernahme des Kavaliersideals, das intensive, auf einen akademischen Grad ausgerichtete Jurastudium aufgegeben hatten und auch nicht mehr das Minimum an Fachwissen besaßen, das eine Teilnahme an juristischen, streng formalisierten Entscheidungsprozessen sinnvoll und erfolgreich machte. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts war der landständische Adel aus diesem Gremium faktisch ausgeschieden; es wurde von bürgerlichen Rechtsgelehrten beherrscht, so daß der Domdechant v. Spiegel am Ende des 18. Jahrhunderts erklären konnte: Die Justizpflege ist ganz in den Händen des tiers état, nur noch in dem obersten Polizeikollegium war bisher das Gewicht auf Seiten der höheren Stände.

Von großer Bedeutung für die Entwicklung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurde die Tatsache, daß zwischen Fürsten und Geheimen Räten, lange Zeit bedeutungslos bleibend, die mit bürgerlichen Beamten besetzte Geheime Kabinettskanzlei bestehen blieb. Neben dem Verlust von Positionen, die eine juristisch-gelehrte Bildung voraussetzten, ist an der folgenden Zusammenstellung auch der Rückgang der Militärorientierung ablesbar, denn der Kriegsrat wurde nur mit Offizieren besetzt: 160

Tabelle 5; Angehörige stiftsfähiger westf. Adelsfamilien in leitenden zentralen Verwaltungsämtern 1700-1808 Geh.-Räte

Reg.- und Hofräte

Kriegsräte

Hofkammerpräsident

Zahl der Adligen

43

17

13

5

Zahl der Positionen insgesamt

43

52

40

5

Ämter

Während der Anteil des einheimischen Stiftsadels im militärischen und rechtsprechenden Bereich sich sukzessiv verringerte, kam es auf der Ebene der H o f - und Verwaltungsämter häufig zu erheblichen Ämterhäufungen in einer Hand. Die beiden adligen Vorderstände, Domkapitel und Ritterschaft, so läßt sich die bisherige Analyse der Ämteraktivität des Adels auf der Standesebene zusammenfassen, hatten über ständische Abschließung, Wahlkapitulationen, ständischen Mitregierungsanspruch und über die bevorzugte Stellung des Adels in der Nähe des Fürstbischofs, des Kaisers und des Papstes den größten Teil der hohen, das Prestige steigernden politischen, kirchlichen, militärischen Hof- und Verwaltungsämter für Angehörige des einheimischen stiftsfähigen Adels fest gesichert. ^^ In Zeiten der Sedisvakanz vergab das Domkapitel sogar die Ämter selbst. N u r die leitenden Positionen in der Rechtsprechung waren verlorengegangen. Die münsterländischen Adelssöhne konzentrierten sich innerhalb der so gesicherten Ämterbereiche aufs Ganze gesehen stärker auf die D o m herrn- als auf die Offiziersstellen, so daß ein Teil der mittleren Offizierschargen an den nichtstiftsfähigen Adel und an das höhere Bürgertum fiel. Daran und auch an den Ämterkumulationen wird deudich, daß diesem Adel mehr gut dotierte, Prestige gewährende Ämter zur Verfügung standen, als er aufgrund der Zahl seiner Angehörigen nutzen konnte. Auswärtige Ämter wurden - im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten, wo Stellen im Deutschen Orden hohe Mobilitätsanreize schufen - nur wenig gesucht. Alle anderen Ämterbereiche galten als nicht standesgemäß. Den nicht heiratenden adligen Frauen boten sich nur die Orden als Tätigkeitsfelder an. Während nicht heiratende Töchter bis ins 16. Jahrhundert ihre Versorgung vorwiegend in adligen Klöstern fanden, entstanden seit dem Ende des 16. Jahrhunderts durch Umwandlung schon weitgehend verweltlichter Klöster adlige Damenstifter, die einen vom strengen klösterlichen Leben abweichenden, weltliche und geistliche Elemente integrierenden standesgemäßen Lebensstil ermöglichten.*^ Ursprünglich vorhandene karitative und unterrichdiche Verpflichtungen der Stiftsdamen gegenüber den Gemeinden wurden aufgegeben, so daß als Aufgaben nur Chordienst und Gebet in den verschiedenen Gottesdiensten übrig blieben. In Relation zu den Berechtigten waren die Stiftsstellen außerordentlich zahlreich, so daß auch hier Pfründenhäufungen vorkamen. Das einzige, das Ansehen einer Frau und auch ihrer Familie steigernde Amt war das der Äbtissin eines der in Westfalen recht zahlreichen Damenstifter. Für das Fürstbistum Münster allein nennt der Hofkalender von 1785 schon neun adlige Damenstifter. Der Äbtissin oblag die innere und äußere Leitung des Stifts ; sie besaß Aufsichts- und Disziplinargewalt über die Stiftsdamen, aber auch über die 161 11

Reif, Adel

vom Stift für die Messen und Memorien angestellten zahlreichen Geistlichen. Darüber hinaus kam ihr Archidiakonalgewalt über die Geistlichen des Kirchspiels, sogar die weltliche Gerichtsbarkeit über den Wigbold zu, in dem das Stift lag. Aus diesen Herrschaftsfunktionen wuchsen ihr zahlreiche Möglichkeiten zur Vergabe von Pfründen und Ämtern zu; z.B. die Vergabe bestimmter Stiftspräbenden, die Besetzung von Pfarrer-, Vikar- und Kanonikat-Stellen des Stifts und des Kirchspiels und die Anstellung weltlichen Stiftspersonals.'®

3.2 Familien-

und standesinterne

Aufteilung

der

Ämter

Alle Familienmitglieder waren durch die Familienordnung verpflichtet, den Ämterbesitz der Familie zu sichern und zu erweitern. Häufig erfolgte die Bestimmung zu einem Amt durch das Testament des Vaters, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die Kinder noch unmündig waren. Eine individuelle Ämterwahl nach Anlagen und Neigungen wurde nicht als sinnvolles Bedürfnis akzeptiert. Das familiale Ämtersicherungssystem und die häufigen Verschiebungen im familialen Anrechtssystem infolge von Todesfällen ließen die Fixierung auf ein spezifisches Amt nicht zu. Auch das geltende Bildungsideal betonte die Brauchbarkeit des Kavaliers in verschiedenen Praxisbereichen und die Wechsel von einem Amt zum andern waren recht häufig. Die feste lebenslange Bindung an einen die Person prägenden Beruf war im Adel noch nicht die Regel, noch bestimmte die Standesperson das Amt und der Einfluß der Familie die Ämterfülle und den Karriereweg. Stellte sich eine von der väterlichen Intention abweichende Berufsneigung bei einem Kind ein, so hatte es sich in der Regel der von außen gesetzten Familiennorm zu unterwerfen, dem Familieninteresse unterzuordnen. Zumeist wurde die Bestimmung zu einem Amt ohne schmerzhafte innere oder äußere Konflikte von den Kindern angenommen, da sie sich nach dem geltenden aristokratischen Verhaltenskodex, nach dem sie erzogen waren, richteten. Diesem Verfahren der Ämterbestimmung gemäß erschien auch eine über das gewohnte Maß hinausgehende, intensivierte Religiosität nicht als notwendige Voraussetzung für die Übernahme eines kirchlichen Amt. Versorgungs- und Prestigefunktionen des Amts im Interesse der FamiUe hatten Vorrang. Zumeist stellte sich aber das für einen Domherrn oder eine Stiftsdame notwendige Minimum an Religiosität mit der Bestimmung zum Amt oder nach dem Amtseintritt ein. Ein Leiden am geistlichen Amt oder dessen Abwehr infolge fehlender innerer Berufung und Religiosität ist in der Regel nicht aufgetreten; schon eher stellten sich solche Motive aufgrund des von Geisdichen geforderten Lebensstils e i n . " Alle Söhne, auch die zukünftigen Stammherrn, mußten nach den Familien- und Standesnormen in Ämtern tätig werden. Ein Rückzug auf die Verwaltung und Nutzung der Güter galt als Negation der aristokratischen Verpflichtung zur Übernahme politischer Führungsfunktionen als ,landjunkern'. Die Güter, von den Rentmeistern verwaltet, sicherten nur die Abkömmlichkeit für den Fürstendienst. Sich selbst entschuldigend und die Baulust seiner Standesgenossen verurteilend schrieb der Stammherr der Familie v. Fürstenberg um 1740 in einem Promemoria: 162

. . . aber man wird hiergegen sagen, wie dieses die Obligation nicht wäre, welche ein Edelmann gegen das gemeine Wesen hätte, nämlich zu H a u s hinter dem Ofen zu sitzen, als welcher Land und Leute müßte helfen regieren, Fürsten und Herren vel in toga in hasta dazu müßte zur H a n d stehen, wie keiner in bene ordinata re publica müßte übrig und müßig sein, wie ein so tanes Leben mehr einem Bauern, mehr einem Bürger, einem Pflechtiger, einem Rendmeister, als wie einem ansehnlichen Edelmann sich eignete . . . Die besten Jahre sind billig in re publica anzuwenden . . . (deshalb) hielte ich auch daher, daß ein Edelmann nicht müsse landjunckern, sondern in der Kirchen oder bei H o f oder in dem Krieg oder in Landesregierungen seiner capacitet nach H a n d mit anlegen und dem gemeinen Wesen nützlich sein, wenigstens seine besten Jahre also in der Arbeit zubringen, wenn er auch schon nach 50 Jahren in otio non otiosus sich zur Ruhe wolle begeben, wirtschaften, seine Kinder unterrichten, und sonst von H a u s aus dem gemeinen Wesen nützlich sein; weswegen ich alle kostbaren Schlösser, Gärten und andere voluptuaria, welche der Adel, mehrenteils über seine Kräfte, auf dem Lande richtet, dadurch und selbiger Unterhaltung verarmet, oder doch ihm keine sonderlichen Auskünfte, wenn er abwesend ist, jährlich folgen, dadurch verführt wird, auf dem Lande zu verbauern oder da er sich doch in die affaere begibt, selbige Schlösser ihm alsdann zur Last ledig stehen, völlig mißbillige . . . "

Die ältesten Söhne gingen entweder wie ihre jüngeren Brüder zunächst ins Domkapitel bzw. ins Militär, oder sie nahmen als designierte, ,adjungierte' Drosten an der Ämterverwaltung des Vaters teil.^' Wenn sie mit einem nicht zum Fideikommißbesitz gehörenden Nebengut der Familie als Ritter aufgeschworen waren, konnten sie auch schon vor dem Tod des Vaters zentrale Verwaltungs- und Hofämter gewinnen. Häufig rückten sie nach des Vaters Tod in dessen sämdiche Ämter ein.^° Die nachgeborenen Söhne übernahmen Domherrn- oder Offiziersstellen und drangen von dort in die zusätzliches Prestige und repräsentative Verpflichtungen gewährenden Verwaltungsund Hofämter vor. Versuche, einmal erworbene Ämter in der Familie zu sichern, hatten am ehesten dort Erfolg, wo die Ämter allein nach standesinternen Regeln vergeben wurden, bei den Domherrn- und Stiftsdamenstellen. Eine der Präbenden des Domkapitels Münster war eine Familienpräbende der Familie v. Galen und wurde von dem Stammherrn der Erbkämmererfamilie v. Galen vergeben. Die anderen vierzig Präbenden wurden in den ungeraden Monaten vom Papst, in geraden Monaten vom Domkapitel vergeben. In turnusmäßigem Wechsel kam jedem Domherr in einer Woche der ungeraden Monate das Recht der Präbendenvergabe zu ; nur der Dechant hatte das Recht doppelter Turnusausübung. Erlangte ein Turnar durch den Todesfall eines Domherrn das Recht, die freigewordene Präbende neu zu besetzen, so vergab er sie in der Regel an Familienmitglieder.^^ Fehlten in der Familie Söhne, die zu einer Besitznahme berechtigt waren - sechzehn adlige Ahnen, katholische Religion, die erste Tonsur und ein Mindestalter von vierzehn Jahren waren hier die Bedingungen^^ - so konnte er sie auch an .Freunde' vergeben oder verkaufen. Da die Todesfälle der Domherrn nicht zu berechnen waren, gewann eine andere Möglichkeit, durch welche Präbenden frei wurden, gesteigerte Bedeutung: die Resignation, mit der ein Domherr freiwillig sein Amt aufgab. Da er oft nur die zum Eintritt ins Domkapitel erforderlichen niederen Weihen besaß, stand ihm dieser Weg ohne Schwierigkeit offen; hatte er die höheren Weihen, so mußte einer der von Rom großzügig vergebenen Dispense helfen. Die Resignation konnte allgemein an das Kapitel erfolgen; in einem solchen Fall ging das Vergaberecht an den gerade zuständigen 163

Turnar. Eine gezielte Weitergabe der Präbende in der vom verzichtenden Besitzer intendierten Weise war aber nur dann möglich, wenn er seine Präbende im Turnus eines ihm vertrauten Domherrn resignierte. Dieser Weg Schloß aber nach kanonischem Recht die Vergabe der freigewordenen Präbende an einen nahen Verwandten des resignierenden Domherrn aus, war insofern für Präbendenverkäufe an Nichtverwandte, nicht aber für den Aufbau einer familialen Ämterkontinuität der geeignete Weg. Zu diesem Zweck, so hatte sich herausgestellt, war die Resignation der Präbende zu Händen des Papstes in favorem tertii, nämlich des gewünschten Familienmitglieds, die sicherste Methode; denn von Rom wurde der Ämternepotismus voll unterstützt. Dieses Verfahren zur Weitergabe von Domherrnstellen innerhalb einer Familie hat obwohl das System nicht immer funktionierte - zur Sicherung und zum kontinuierlichen Anwachsen der Zahl der Domherrnstellen in den Händen weniger münsterländischer bzw. westfälischer Familien erheblich beigetragen. Ämterhäufung und enge Heiratsverbindungen, die weitere Pfründenkumulation begünstigten, waren Ursache der Oligarchisierang innerhalb des westfälischen stiftsfähigen Adels. Alte und kranke Domherrn, auch zukünftige Stammherrn, die eine Zeit lang für ihre nachgeborenen Brüder eine oder mehrere der von der Familie gesicherten Domherrnpräbenden besetzt hielten, konnten so auf sicherem Wege ihre Präbende an die von den Familienvätern bestimmten Nachfolger weitergeben. Einzige erschwerende, aber Doppelbesetzungen und Prozesse vermeidende Zusatzbedingung für die Resignation zu Händen des Papstes war, daß der Resignierende seinen Verzicht um zwanzig Tage überlebte.^' Dieses Verfahren machte es möglich, daß die Präbenden mit der Zeit als einer Familie zugehörig angesehen werden konnten, wie es Karl Friedrich v. Droste-Senden anläßlich einer mißglückten Präbendentransaktion 1788 in einem Brief an den Kurfürsten ausdrückte: Erwähnte Präbende war ehemals in meiner Familie - weiland mein Bruder resignierte selbe auf den nun Verstorbenen (v. Ledebur, einen Verwandten, H . R.) und die einzige H o f f n u n g , auch dafür einst wieder unsere Familie durch unseren Onkel mit einer Präbende beglückt zu sehen, ist nun vereitelt . . . , [da v. Ledebur im päpstlichen Monat, ohne Zeit zur Resignation, verstorben

warj.^"

Die Fälle, in denen Domherrnpräbenden infolge von Todesfällen innerhalb der päpstlichen Monate vakant wurden, konnten durch die Resignation eingeschränkt, nicht aber völlig verhindert werden. Fiel eine Präbende dem Papst zu, dann pflegte in der Regel ein ,Wettrennen der Bewerber nach Rom'^^ einzusetzen. Zeitweise trat der Papst auch sein Vergaberecht an den Fürstbischof ab, aber nur dann, wenn dieser nicht aus dem einheimischen Adel stammte. Eine dritte Variante, eine Domherrnpräbende zu gewinnen, die wie die zwei vorgenannten Fälle dazu geeignet war, eine auf Domherrnstellen bezogene Standes- und Familienpolitik zu durchkreuzen, war die kaiserliche Preces. Mit dem Regierungsantritt erwarb der Kaiser ein Anrecht auf eine Domherrnpräbende, das allen anderen Erledigungsfällen voranging; es war üblich, daß er diese Präbende an den Vertreter einer von ihm geschätzten adligen Familie des Reiches vergab. In den zwei zuletzt genannten Fällen waren die Beziehungen der Familien zum Papst, zum Fürstbischof und zum Kaiser von entscheidender Bedeutung für den Erwerb einer Präbende. Deren Höfe waren denn auch feste Orientierungs164

punkte jeder Kavalierstour und mancher Reisende hat eine solche Präbende mit nach Hause gebracht. Gute Familien- und Freundschafts-Organisation sowie enge Konnexionen zu den vorgenannten Höfen waren die Grundlagen einer erfolgreichen Politik der Sicherung und Kumulierung von Domherrnpräbenden.^' Der Familie, die auf diesen beiden Ebenen versagte, blieb nur der Weg, eine Domherrnpräbende zu einem hohen Preis zu kaufen oder sich auf andere Ämter zu konzentrieren. Die nach ihrer Orientierung an Militär- oder kirchlichen Ämtern zu unterscheidenden FamiUentraditionen sind deshalb ein wichtiges Indiz für die Stellung einer Familie in der Prestigehierarchie des Standes. Stiftsdamenstellen wurden in ähnlicher Weise wie die der Domherrn besetzt; nur fielen hier die frei werdenden Präbenden wechselweise an die Äbtissin und an das Stiftskapitel, welches die ihm zufallenden Präbenden ebenfalls in wöchendichem Turnus vergab. Daneben bestanden feste Familienpräbenden. Auch in den Stiftern dominierten die Mechanismen von Resignation oder Verkauf. Die Besetzung der Äbtissinnenposition erfolgte durch Wahl des Stiftskapitels, wegen der Wichtigkeit dieses Amtes häufig unter scharfen Kontroversen.^'' Die Verwaltungsämter wurden in den von Indigenats- und ständischer Mitregierungsforderung gesetzten Grenzen vom Fürstbischof besetzt; ebenso die Offiziersstellen und die Hofämter. Voraussetzung für den Erwerb dieser Stellen war zwar die zeitweilige Anwesenheit am Hofe, aber keineswegs ein langjähriges Hofjunkerdasein, obwohl auch solche Fälle nachzuweisen sind. Ein Verkauf der hohen Hof- und Verwaltungsämter durch den Fürstbischof und damit der gezielte Aufbau eines Amtsadels war unter den Bedingungen ständischer Mitregierung erst recht nicht möglich. Die Vergabe der Ämter lief häufig über vom Fürstbischof vergebene Exspektanzen, die an eine Familie und deren noch minderjährige Kinder vergeben wurden, zumal dann, wenn der Vater schon dieselben Ämter besaß. Die Drostenstellen wurden durch solche Exspektanzen am stärksten in bestimmten Familien gesichert. Schon zu Lebzeiten des Vaters wurde ihm der Sohn im Amte ,adjungiert'. Starb der Vater bei Minderjährigkeit des Sohnes, so war eine Amtsführung durch Stellvertreter üblich, zumeist durch einen der Vormünder. Auf diese Weise waren im 18. Jahrhundert neun der zwölf Drostenämter gleichsam zum ,ius quaesitum' einer Familie geworden. Hof- und zentrale Verwaltungsämter wechselten dagegen, trotz deudicher Bevorzugung einiger Familien,^® noch relativ häufig die Besitzer. Das für die Amtsführung unumgänglich notwendige Sachwissen erwarb der neue Amtsinhaber zumeist durch mündliche und schriftliche Instruktionen und durch Umgang mit seinem Vorgänger bzw. den Inhabern ähnlicher Ämter. Ein Qualifikationsnachweis im Sinne eines Bildungspatents wurde nicht gefordert. Auch gab es keine klaren Karrierekriterien für spezifische Laufbahnen, wie z.B. die vom Obristküchenmeister zum Obristmarschall.^® Am deutlichsten waren die Beförderungsregeln noch beim Militär ausgeprägt, wo das Alter, die Anciennität, wichtigstes Kriterium war. Ansonsten erfolgten Ämtervergabe an die einzelnen Familien und Beförderungen bzw. Entlassungen von Amtsinhabern in Abhängigkeit vom Einfluß der FamiUe und vom persönlichen Wohlwollen und der Gunst des Fürstbischofs.

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3.3 Verwaltungsorganisation,

Auffassung von Amt und

Ämternutzung

Im Fürstbistum Münster, in dem sich kein starker dynastischer Absolutismus mit einer langfristigen Zukunftsperspektive entwickeln konnte, das als geistlicher Wahlstaat bis zu seiner Aufhebung im Jahre 1803 eine mitregierende ständische Vertretung besaß, war zwar seit dem Ende des 16. Jahrhunderts eine landesherrliche Zentralverwaltung aufgebaut worden, die sich bis zur Lokalebene erstreckte, doch nicht, wie in den absolutistischen Staaten, durch Zurückdrängung der Stände, durch Beseitigung ihrer Mitherrschaft, sondern in Zusammenarbeit mit den Ständen, die sich zudem die wichtigsten Verwaltungspositionen sicherten. Da eine langfristige absolutistisch-dynastische Politik fehlte, gab es auch keine permanenten Anreize zur Erweiterung der Staatsfunktionen und zu einer dieser Tendenz entsprechenden quantitativen und qualitativen Erweiterung des Verwaltungshandelns. Zwar existierte seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein kleines stehendes Heer, doch war es - von der machtpolitischen Episode unter Christoph Bernhard v. Galen abgesehen - eher eine über Subsidienverträge genutzte zusätzliche Einkommensquelle als ein Machtinstrument des durch Wahlkapitulationen stark in seiner Entscheidungsfreiheit eingeengten Fürstbischofs. Die Stände achteten streng darauf, daß das Steuerbudget nicht erhöht wurde. Das merkantilistische Programm einer Steigerung der Wirtschaftskraft des Landes und damit auch der Staatseinnahmen durch Einleitung und Lenkung eines wirtschaftlichen Wachstumsprozesses von einem sich zunehmend bürokratisierenden Staate aus konnte im Fürstbistum Münster bis 1770 nur in Ansätzen Fuß fassen, so daß weder die Notwendigkeit einer Verwaltungsintensivierung empfunden, noch die ständische Sozialstruktur als eine die wirtschaftliche Entwicklung hemmende Grenze wahrgenommen wurde. Diesem Entwicklungsstand entsprach auch die innere Verfassung des münsterschen Beamtenwesens.Ihrer vorbürokratischen Organisation gemäß vermischten sich im Amtsbegriff dieser Verwaltung in mehr oder weniger starkem Maße persönliche und sachliche Bezüge. Eine durch feste Regeln bestimmte Kompetenz für jedes Amt, d.h. eine genaue Verteilung der regelmäßig von einem Amtsinhaber zu leistenden Tätigkeiten, unter Vermeidung von Überschneidungen mit anderen Amtsbereichen, und eine der begrenzten amtlichen Pflicht entsprechende genaue Begrenzung der Befehlsgewalt, fehlte weitgehend, wie z.B. an dem unbestimmten Verhältnis zwischen dem Drosten und dem Rentmeister eines Amtes erkennbar wird: ,,Amtsdroste und Amtsrentmeister führten gemeinsam Geschäfte, ohne daß ein besonderes Subordinationsverhältnis zwischen beiden bestand, und ohne daß es eine genaue Abgrenzung ihres beiderseitigen Wirkungskreises gab . . ."^^SoweitsichgewohnheitsmäßigKompetenzabgrenzungenergebenhatten, waren diese auf das Bemühen zurückzuführen, die Sportelkonkurrenz zu beschränken. Das gilt z.B. für die geistlichen und weltlichen Gerichte des Fürstbistums, denen sowohl eine klare sachUche Kompetenzverteilung, als auch ein geregelter Instanzenweg fehlte, so daß sie in starkem Maße miteinander konkurrierten. Ämterkumulation und Ämterverkopplung waren überaus häufig. Für die höheren Beamten in Verwaltung und Justiz gab es zwar bestimmte Einstellungs- und Beförderungsregeln; doch war auch für ihre Karriere und Altersversorgung in starkem Maße Fürst- und Adels-

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gunst entscheidend und der Nachweis seiner Stiftsfähigkeit befreite den Adel in der Regel von allen weiteren Qualifikationsanforderungen. Ähnlich lagen die Verhältnisse in der Verwaltung insgesamt. Vielfalt herrschte vor, da eine nach einheitlichen, sachlichen Arbeitsteilungsprinzipien gestaltete Verwaltungsorganisation fehlte. Eine strikte Trennung von Verwaltung und Justiz bestand nicht.^^ Die zentralen Verwaltungskollegien, an ihrer Spitze der Geheime Rat, hatten spezifische Bereiche der Rechtsprechung an sich gebunden. Dazu kam, daß im Grunde mehrere zentrale Verwaltungen und entsprechend viele Kassen nebeneinander bestanden: die staatliche, die kirchliche, die ständische und die der fürstlichen Kammer. Zum Teil waren die Funktionen dieser verschiedenen Verwaltungssektoren in der Hand eines Beamten gebündelt. So stand der Amtsrentmeister zum einen dem staatlichen Verwaltungsbezirk vor, zugleich war er aber auch Leiter der fürsdichen Domänenverwaltung seines Amtes. Von der staatlichen Amtsverwaltung waren einzelnen Ständen oder Personen, infolge von Privilegien und hergebrachten Sonderrechten, bestimmte Gebiete zu eigener Verwaltung und Rechtsprechung vorbehalten. Hierzu zählten die domkapitularischen Gogerichte, einzelne Stadtgerichte sowie die ,Herrlichkeiten' und Patrimonialgerichte einzelner Grundherrn und Stifter. Auch hier hatten die Richter in der Regel zugleich Polizeifunktionen zu übernehmen. Dieser Verwaltungsaufbau sowie die relativ selbständige Stellung des ständischen Adels im Land und gegenüber dem Landesherrn prägten die Auffassung der Adligen zu ihren Ämtern. Die Wahrnehmung von Verwaltungsfunktionen wurde angesichts der diffusen Kompetenzregelung als eine relativ autonome, persönliche Leistung im Dienste des Standes oder des Fürstbischofs angesehen. Geregelt und begrenzt wurde die Ämtertätigkeit im wesentlichen durch den vermuteten Willen des Herrn; die Nähe zu ihm, sein in der Regel schon mehrfach geäußertes Vertrauen zu einer ihm treu ergebenen Familie, rechtfertigten dieses Interpretationsrecht. Zusätzlich orientierend wirkten die durch das .Herkommen' gegebenen ständisch, d.h. von der Schätzung der Person her geprägten Normen für den Umgang mit den regelmäßigen Problemen und den Menschen des Amtsbereichs, und die meist Jahrhunderte zurückliegenden, in den Adelsarchiven aufbewahrten Urkunden und Akten über Präzedenzfälle. Für eigene Interpretationen und persönliche Entscheidungen blieb dabei viel Raum, zumal die gegenseitige Kontrolle der nur schwach aufeinander bezogenen Amtsinhaber gering blieb. Die standes- und familienspezifischen Qualitäten des Amtsinhabers bestimmten seine Amtsführung, eine Unterscheidung zwischen öffendichem und privatem Interesse war dieser noch stark vom ständischen Mitherrschaftsanspruch geprägten Amtsauffassung fremd. Man diente der Person des Fürsten, nicht einem abstrakten Prinzip. Eine Reduktion der Person auf rein sachliche Funktionsausübung und Befehlsausführung ließ die ständische Interpretation des Adels und des Amtes nicht zu; denn das vom Adel gesuchte Amt erfüllte stets mehrere Funktionen.^' Es repräsentierte die Herrschaft des Fürsten in der Person seines adligen Stellvertreters; es repräsentierte zugleich die Qualitäten und den sozialen Rang der Familie ihres Inhabers sowie die den zur Mitherrschaft und Kontrolle berechtigten Stand, dem dieser Stellvertreter zugehörte. Das Amt erfüllte somit wichtige Legitimationsfunktionen. Zugleich besaß der Amtsinhaber durch seinen eigenen und seiner Familie langwähren167

den, treuen persönlichen Dienst als fürstlicher und ständischer Beamter ein Versorgungsanrecht, das durch die Ämtereinkünfte, die neben einem festen Gehalt aus Naturalien, Sportein und nicht zuletzt aus Anerkennungs- und Bestechungsgeldern bestanden, abgegolten wurde. N u r partiell wurden diese Einkünfte als Entgelt für die konkreten Arbeitsverrichtungen in der alltäglichen Amtsführung aufgefaßt. Insgesamt galt diesem Adel um 1770 das Amt noch als ein gegen bestimmte Leistungen für den Fürsten nutzbarer Besitz des Amtsinhabers, seiner Familie und seines Standes. Welche dieser verschiedenen Ämterfunktionen am stärksten die Bedeutung eines Amtes bestimmte, war im 18. Jahrhundert in starkem Maße eine Frage des Machtverhältnisses zwischen adligen Amtsinhabern und dem gerade regierenden Fürstbischof. Generell ergab sich aber aus dieser mehrschichtigen Ämterauffassung, daß die Amtsführung und der alltägliche, abwechslungsreiche, zwischen Tätigkeit und Muße harmonisch wechselnde adlige Lebensstil, daß Arbeits- und Wohnsphäre auf Dauer nicht auseinanderfallen durften. Damit war zugleich eine Entscheidung hinsichtlich der Arbeitsintensität gefallen. Regelmäßige, zeitlich umfassende und streng disziplinierte Arbeit in einem vom adligen Haus getrennten Büro, ein voll von den Amtsanforderungen her bestimmter Zeit- und Lebensrhythmus wurde nicht akzeptiert. Uberhaupt ließ sich die Leistung des adligen Amtsinhabers nicht in quantitativen, zeitlichen Kategorien messen. Wie das Prinzip der FachquaUfikation setzte das der Leistungsmessung in Zeitkategorien die Reduktion des Amtsbegriffs auf die rein sachlich vorgeschriebene Verwaltungsfunktion und damit die Eliminierung des qualitativen, des ständischen Elements am Amt voraus. Die Arbeitsanforderungen des Amtes durften die Person des Inhabers nicht voll absorbieren, weil dieser gleichzeitig noch weitere, für die Erhaltung der Macht von Familie und Stand wichtige Funktionen zu erfüllen hatte und zudem die meisten Adligen in der Regel mehrere Ämter verwalteten. Eine regelmäßige Ämtertätigkeit läßt sich im münsterländischen Adel während des 18. Jahrhunderts deshalb auch nicht nachweisen. Für den Geheimen Rat beschreibt Katz die Situation am Ende des 18. Jahrhunderts anhand eines Briefes des bürgerlichen Rats Druffel vom 19. 1. 1800 an den Kurfürsten. Von den adligen Geheimräten frequentierten Graf Westerhok selten, der Erbkämmerer gar nicht, der Obermarschall auch nicht; Graf v. Elverfeldt und Graf v. Merveldt waren nur eifrige Mitarbeiter, wenn sie in Münster anwesend waren; Freiherr v. Twickel lebt fast beständig auf dem Lande und kam selten nach Münster.^'

Und derselbe Druffel berichtete am 19. 1. 1800 an den Kurfürsten: Der nun für den Geheimen Rat verlorene Domdechant v. Spiegel war eine von den seltenen Erscheinungen, wo ein Domkapitular sich mit Eifer und Anstrengungen den Geschäften widmete - selbst arbeitete

Tendenziell reduzierten sich die Leistungen der adligen Amtsinhaber auf die Wahrnehmung wichtiger repräsentativer, das ständisch-fürstliche Herrschaftssystem und das Ansehen von Familie und Person stabilisierender Funktionen. Die reinen Arbeitsfunktionen übernahmen in der Regel bürgerliche Beamte und Geistliche, so daß eine Vielzahl wichtiger staatlicher und kirchUcher Positionen doppelt besetzt waren. In der Amtsverwaltung arbeitete der bürgerliche Amtsrentmeister, während der adlige 168

Drost zumeist nur zweimal pro Jahr ins Amt - wenn er in einem anderen Amt wohnte - oder zum Sitz des Amtsrentmeisters kam, um repräsentative Aufgaben zu übernehmen.^' In der Domkirche entlasteten bürgerliche Vikare die adligen Domherrn von einer Vielzahl geistlicher Aufgaben und in der Grundherrschaft entlastete der Rentmeister den adligen Grundherrn von Arbeitsfunktionen. HinsichtUch der zentralen Kollegien wurde offen ausgesprochen, daß die Arbeit bürgerlichen Referendaren und Räten zukam, während die adligen Räte nach Beratung und Diskussion nur noch abstimmten. Über eine dem Adel vorbehaltene Stelle am Hofgericht berichtete der damalige Referendar Olfers: In der letzten Zeit fanden die Stände es überflüssig, einen Hofrichter, der doch nicht arbeitete, zu besolden; deshalb wurde die Hofrichterstelle nicht wieder besetzt . .

Die Tendenz zum Amt als РцеПе eines von täglicher, sachlich-funktional bestimmter Arbeit freien Einkommens war um 1770 nach Ämterbereichen verschieden weit fortgeschritten. Die Drostenstellen, zum größten Teil gleichsam erblicher Ämterbesitz einzelner Familien, waren weitgehend arbeitsfrei; die Hof- und zentralen Verwaltungsämter verlangten zwar auch keinen regelmäßigen Arbeitsaufwand, waren aber zum größten Teil noch nicht erblich. Am weitesten war die Tendenz zur Arbeitsfreiheit und zum Amt als Familienbesitz in Domkapiteln und Damenstiftern vorangeschritten. Die Domherrnstellen erschienen den adligen Familien als Mittel zur Versorgung der nachgeborenen Söhne ohne besonderen Anspruch an Religiosität. Eine regelmäßige Arbeitsleistung war mit ihnen nicht mehr notwendig verbunden. Ein Großteil des Präbendeneinkommens war schon zu gewinnen, wenn der Domherr an den zwei Generalkapiteln zu Jacobi (24. 7.) und Martini (10.11.) teilnahm. Die an der Domkirche residierenden, infolgedessen mehr einnehmenden Domherrn waren lediglich verpflichtet, alle drei Monate einmal in Münster anwesend zu sein.^' Domherrn mit Präbenden an verschiedenen Domkapiteln reisten gleichsam nur noch von Generalkapitel zu Generalkapitel, um Einkünfte zu ,ziehen'. Konsequenter Endpunkt dieser Entwicklung war die von Rom als Simonie bekämpfte Auffassung der Domherrnpräbende als Investitionsobjekt, die Kapitalisierung des Amtes. Als Friedrich v. Korff auf seiner Kavalierstour 1797 in Berlin für seinen Bruder Clemens, dem eine Domherrnstelle in Münster schon sicher war, eine weitere Domherrnpräbende in Minden für nur 2000 Tal er bei 300 Taler jährlichem Einkommen angeboten bekam, frohlockte er: ,ein herrliches Interesse'; trotz dieses außerordendich hohen Verzinsungssatzes für sein Kapital (15 %) wollte er die Präbende jedoch nur annehmen, wenn sein Bruder vom König von ,aller' Anwesenheitspflicht in Minden befreit wurde."" Mit Domherrn- wie mit Stiftsstellen wurde im 18. Jahrhundert ein schwunghafter Handel nach dem Prinzip maximalen Profits getrieben. Es war z. B. unter den Stiftsdamen, die eine Präbende zu vergeben hatten, genau bekannt, daß in Westfalen die ,Oberländerinnen' das meiste Geld dafür hergaben. Dabei war man sich wohl bewußt, gegen kanonisches Recht zu verstoßen; doch bestand ein Konsens, den ,alten Simon' aus dem Spiel zu lassen.·*^ Sowohl die Arbeitsneigung als auch die moralischen Qualitäten der Domherrn scheinen im Verlauf des 18. Jahrhunderts abgesunken zu sein. Die Beispiele hierfür 169

sind zahlreich. Faulheit, Geldgier, Bestechlichkeit, Intrigantentum und Pietätlosigkeit, vor allem anläßlich der wegen der Präbendenvergabe so wichtigen Todesfälle von Domherrn, waren die am häufigsten nachzuweisenden, auch von einzelnen Mitgliedern des Domkapitels bisweilen scharf getadelten negativen Charaktereigenschaften dieser hohen adligen Geisdichkeit, die sich in ihrem von Jagd, Festen, Reisen, Speisen und Musik geprägten Lebensstil, vom Zölibat abgesehen, nur wenig von einem weltlichen adligen Kavalier unterschieden.^^ Die Beispiele hierfür sind zahlreich. So berichtete Ferdinand August v. Spiegel am 6. 2. 1790 über Ernst Constantin ν. DrosteHülshoff, er sei ein ,Faulenzer', ,,Essen, Trinken, Schlafen und Lümmeln auf einem gutgepolsterten Kanapee sind seine einzigen Verrichtungen.'"*^ Und in einem Bericht über die Parteiverhältnisse am Domkapitel Münster hieß es über Heidenreich Ludwig V. Droste-Vischering am 25. 12. 1700: Ii est très honnête homme e: très sincère, je veux dire droit . . . Q u o i q u e extrêmement riche, il est néamoins avare et retenu jusqu'à la sordité.·"

Ähnliche Verhältnisse herrschten in den Damenstiftern. Doch bestand hier eine umfassendere Anwesenheitspflicht, wenn auch Ausnahmegenehmigungen von der Äbtissin leicht zu erlangen waren. Der Lebensstil der Stiftsdamen war aber aufgrund des wesentlich geringeren Einkommens und der stärker eingeschränkten Bewegungsfreiheit der Frau viel weniger abwechslungsreich als der des Domherrn. Oft jahrelang abgeschlossen von der Familie und städtisch-adliger Geselligkeit führten die Stiftsdamen ein erzwungen müßiges, zurückgezogenes Leben im eigenen Haus mit zumeist auf ein Dienstmädchen, die mitresidierenden Stiftsdamen und die Stiftsgeistlichkeit beschränkten, im Vergleich zum Lebensstil der Adelsfamilie stark reduzierten Alltagskontakten."*' Am wenigsten stark hatte die Tendenz zur Verwandlung des Amts in eine rentenbringende Pfründe im münsterschen Militärwesen Platz gegriffen, obwohl sich auch dort eine Art Militäradel, dessen Angehörige immer wieder die leitenden Offiziersstellen gewannen, ausgebildet hatte. Hier waren aber durchaus noch erfolgreiche Karrieren möglich. Die Hälfte aller die Militärlaufbahn antretenden Söhne des münsterländischen Adels erreichte den Rang des Majors oder stieg noch weiter auf. Dagegen waren die münsterschen Adelssöhne im Domkapitel weniger erfolgreich. Während sie zwischen 1700 und 1803 37 % aller Domherrnstellen besetzten, gelangten nur vier von neunzehn Domprobst- und Domdechantenstellen in ihren Besitz. Dieser Befund scheint dem aufgeklärten Domherrn Clemens August v. Spiegel recht zu geben, der am Ende des 18. Jahrhunderts vor allem die Münsterländer unter den adligen Domherrn als unwissend und träge kennzeichnete; in den Parteiungen des Domkapitels seien sie vorwiegend auf die Rolle der Mitläufer beschränkt.

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D. Zusammenfassung Der stiftsfähige Adel beherrschte zusammen mit dem Fürstbischof in einem fürstlich-ständischen Kondominium das Territorium und besaß auf allen Ebenen staatlicher Organisation - Haus, Grundherrschaft, Kirchspiel, Amt und Residenz - einen erheblichen Anteil an den staatlichen und kirchlichen Herrschaftsmitteln. Er besetzte die Domherrnstellen, dominierte die Landstände, stellte das Herrscheφersonal in den kirchlichen, höfischen, verwaltenden und militärischen Spitzenpositionen - und zwar stets in mehr oder weniger starkem Maße auf der Grundlage seines Selbstverständnisses als relativ autonomer, zur persönlichen Mitherrschaft berechtigter Standesperson - und behielt darüber hinaus in den Bereichen des Hauses, der Grundherrschaft und des Kirchspiels eine starke lokale Herrenstellung. Bedingungen des geistlichen Wahlstaats setzten absolutistischen Tendenzen, insbesondere zur Entmachtung der Stände und Umformung des ständischen Adels in einen Funktionsadel, enge Grenzen. Eine allein auf die Person des Fürsten eingeschworene unständische Beamtenschaft konnte sich hier nicht ausbilden - die Protektion des Adels war für den Erwerb der meisten Stellen wichtiger als die Gunst des Fürsten - und einer Tendenz zur Aufweichung seiner ständischen Identität durch Nobilitierungen begegnete der Adel durch das Instrument der Ahnenprobe, das zum einen die Kompetenz zur Bestimmung dessen, was Adel hieß und wer adlig war, in seinen Händen sicherte, zum anderen eine zunehmende Ausschließung weiterer Adelsgruppen von den Herrschaftspositionen des geisdichen Staates - gegen den Widerstand der Ausgeschlossenen, von Kaiser und Papst jedoch kaum behindert - ermöglichte. Durch das Kriterium der 16-Ahnenprobe erhob sich der stiftsfähige Adel als zahlenmäßig eng begrenzte, kaum durch Aufsteigende ergänzte, stark exklusive, auf soziale Distanz bedachte adlige Oberschicht über alle anderen Oberschichtgruppen seiner Umgebung. Mögliche konkurrierende Eliten - Wirtschaftsbürgertum und wissenschaftlich-gelehrte Beamtenschaft - waren zwar in Ansätzen vorhanden, aber noch ohne spürbare Auswirkungen auf die hervorgehobene Adelsposition. Der Rittergutsbesitz war unangefochten und von außerordentlich hoher Kontinuität; die hochdotierten Spitzenämter waren - von Verlusten im Justizbereich abgesehen - in stiftsadliger Hand; die wichtigsten anderen kirchlichen und staatlichen Ämter gingen entweder direkt an seine Protégés oder fielen zumindest an Angehörige solcherFamilien, die von der Adelsherrschaft im geisdichen Staat seit Generationen profitierten. Spannungen ergaben sich auf dieser Ebene zum einen im Innern des Standes - wegen der sehr ungleichgewichtigen Verteilung der Herrschaftsmittel - zum anderen im Verhältnis zu den anderen Ständen, insofern die im 18. Jahrhundert allerdings verlangsamt fortschreitende Schrumpfung des Standes die Gefahr barg, als Oligarchie, die die von ihr beanspruchten Funktionen wegen ihrer geringen Zahl nicht mehr erfüllen konnte, erkannt zu werden. Subsistenzbasis dieses Adels war ein arbeitsfreies, rentenartiges Einkommen aus Abgaben und Leistungen der Grundherrschaft, die in seiner Krieger- und Herrschaftsfunktion im mittelalterlichen Personenverbandsstaat gründete, nun aber Grundlage seiner neuen, ständische und höfische Funktionen, Hof-, Residenz- und 171

Landleben integrierenden adligen Lebensform geworden war. Dazu kamen die in seinen ständisch-höfischen Funktionen wurzelnden Privilegien, die in zumeist mehr oder weniger starkem Maße Steuerentlastungen gleichkamen. Von besonderer Wichtigkeit war ein sicheres, hohes, differenziertes Einkommen aus häufig kumulierten und verkoppelten Ämtern. Mit den Naturalabgaben der Grundherrschaft und mit seinem ständischen Prestigekonsum war der Adel in Marktbeziehungen integriert. Ein langsam steigendes Einkommen aus der Grundherrschaft und Besitzverbesserungen aus den häufigen Erbfällen konnten allerdings eine Tendenz zur Verschuldung aufgrund des anspruchsvoller werdenden höfisch-ständischen Lebensstils ebensowenig aufheben wie die sukzessive Steigerung des Ämtereinkommens. Doch kann man keineswegs von einer ruinösen Wirkung des Schloßbaus, des neuen Bildungsideals, des Ubergangs zum H o f - und Residenzlebens etc. sprechen. Auf den grundherrUch abhängigen Bauern hat die neue kostspielige Adelskultur trotz einer auf Steigerung der Natural- auf Kosten der Geldabgaben konzentrierten, langfristigen, unmerklichen ,,seigneurialen Reaktion" - im 18. Jahrhundert nicht mehr als harte Steigerung der Belastung zurückgewirkt. Der wenig zahlreiche Adel konzentrierte sich stärker auf die Abschöpfung eines Teils des Steuereinkommens des Landes über hochdotierte, ständisch interpretierte Ämter. Der geistliche Staat - wenig armiert und bürokratisiert, und mit einem nicht zuletzt aufgrund ständischen Widerstands sehr begrenzt bleibenden steuerlichen Beitrag zum Pracht entfaltenden Hofleben des Fürsten - kam mit einem geringen Steuereinkommen aus, das gleichwohl für wenige Spitzenpositionen hohe Gehälter zuließ. Ein zahlenmäßig begrenztes, aus Steuermitteln hochdotiertes, stark ständisch geprägtes Herrschaftspersonal und erfolgreicher ständischer Widerstand gegen höfisch-absolutistische Tendenzen zur Steigerung des staatlichen Steuereinkommens führten zu einer stagnierenden steuerlichen und grundherrlichen Belastung des Bauern und nicht zuletzt wohl auch zu dem Sprichwort: ,,Unterm Krummstab ist gut leben". Die Sicherung der adligen Subsistenzbasis erfolgte durch eine familienintern, standesintern (Sozialisation, soziale Kontrolle) und institutionell (Kirche, Lehnswesen, Hausherrschaft) vielfältig abgesicherte, auf ungleichgewichtig verteilten Erb-, Heirats- und Berufswahlverzicht gegründete Familienordnung. Uber dieses streng arbeitsteilige, Grundbesitz, Ämter, hergebrachtes Prestige und generative bzw. sozialisatorische Kontinuität, aber auch den zahlenmäßigen Bestand und die Organisationsbemühungen des Standes sichernde Regel- und Disziplinierungssystem suchte der Adel in einer von Mangel bestimmten Umwelt die privilegierte, standesgemäße Lebensführung aller seiner Mitglieder bei gleichzeitiger ungeteilter, ungeschmälerter Besitzgrundlage zu gewährleisten. Die Familienordnung folgte in ihrer Lösung trotz der vielfältigen überregionalen Orientierungen dieses Adels - im wesentlichen der Grundvorstellung aller Subsistenzwirtschaft, der prinzipiell begrenzten, nur auf Kosten eines anderen erweiterbaren Lebenschancen eines von gleichgewichtigem, langfristig reziprokem Austausch der wichtigsten Ressourcen bestimmten Kreises, in diesem Fall der geistlichen Staaten Westfalens, und erzwang, in Spannung zur überregionalen kulturellen Orientierung, eine starke Regionalisierung der Verhaltensorien172

tierung, insbesondere die Bindung an einen engen Heiratskreis und die Ämter der geistlichen Staaten Westfalens. Die Familienordnung schrieb dem einzelnen Rolle und Status in der familialen Hierarchie und im Stand eindeutig zu, und zwar nach den Kriterien des Geschlechts (Agnatenverband) und der Position in der Geburtenfolge (Fideikommiß- und Majoratsprinzip). Lebenszyklus des einzelnen wie Familienzyklus der Stammherrnfamilie waren durch diese Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzende Konzeption eindeutig fixiert, in der dem Zölibat, der arrangierten Ehe, der relativ frühen Bestimmung zu einem Amt, der Regelung von Heirats-, Abfindungs- und Ausbildungskosten besondere Bedeutung beikam. Die Famihenziele prägten die Mentalität des einzelnen, bewirkten relativ unemotionale, wenig intensive, nach Familienfunktion gestufte, aber solidarische Beziehungen zwischen Familienmitgliedern und eine Ehevorstellung, in der emotionaler Zuneigung zwischen den zukünftigen Eheleuten noch keine wichtige Funktion und Bedeutung zukam. Der relativ spannungsfreien Besitzsicherung durch Regelung aller Erbschaftsfragen vor dem Tod des Familienvaters standen nur zwei latent bleibende Gefahren gegenüber: Die Spannungsreste aus der Verzichtslage der nachgeborenen Söhne und der nicht heiratenden Töchter und die langsam fortschreitende zahlenmäßige Schrumpfung des Standes durch das - nicht zuletzt von der hohen Zahl zölibatärer Existenzen im Heiratskreis verursachte - Aussterben weiterer Familien trotz aller Sicherungen. Erziehungsziele und Erziehungsstil des stiftsfähigen Adels folgten zum einen den spezifischen Anforderungen seiner internen Familien- und Standesorganisationen, zum anderen dem Legitimationsbedürfnis des Standes gemäß seinen älteren grundherrlich-patriarchalischen, ständisch-religiösen und seinen neu hinzugewonnenen höfischen Funktionen. Alte und neue, regionale und überregionale Orientierungen verschmolzen im Erziehungs- und Bildungsideal dieses Adels, sich gegenseitig Grenzen setzend, in spannungsvoller Weise. Eine Härte- und Überwachungserziehung bestimmt vom Mißtrauen gegen individuelle Bedürfnis- und Willensäußerungen des Kindes - entsprach der auf Verzichtsbereitschaft zugunsten traditional konstituierter, nur kollektiv realisierbarer Familienziele gegründeten Familienordnung, stützte den Abschließungsprozeß auf der Standesebene. Die Rezeption des Kavaliersideals und der Aufbau einer höfisch geprägten, umfassenden Adelskultur kompensierte Statuseinbußen, die sich aus dem endgültigen Verlust der feudal-heroischen Kriegerfunktion ergaben, stützten den Prozeß der Absicherung und fortschreitenden Monopolisierung der stiftsadeligen Herrschaftspositionen, legitimierten insbesondere den Anspruch auf die ersten Ämter im Staat, distanzierten konkurrierende Eliten wie die gelehrten bürgerlichen Räte, das reiche Wirtschaftsbürgertum und den nicht stiftsfähigen Adel. Die intensivierte kulturelle Legitimation durch eine hochdifferenzierte, distanzierende, kostspielige adlige Standesbildung forderte eine Steigerung der Erziehungs- und Sozialisationsaktivitäten. Ein zweiter, aus der Umgangserziehung als ursprünglich dominierendem Erziehungstypus ausdifferenzierter Bestand an Regelwissen war zu erwerben: Neben das religiöse Wissen des Domherrn trat das hofbezogene, ,,weltmännische" Herrschaftswissen des Kavaliers. Zugleich galt es, die neuen kultivierten, ein hohes Maß an Selbstkontrolle fordernden, hochformalisierten ad173

lig-kavaliersmäßigen Verhaltens- und Umgangsformen einzuüben. Die Folge waren eine Ausdehnung der Ausbildungszeit, überladene Stundenpläne und eine früh einsetzende, die Abtrennung von nichtadligen Kindern verstärkende Aufmerksamkeit auf das am Erwachsenenideal gemessene äußere Verhalten des Kindes. Einer Vereinseitigung dieses Bildungsideals waren allerdings enge Grenzen gesetzt, da der stiftsfähige Adel stets eine Vielfalt von Funktionen behielt, vor allem niemals in die Nähe eines „verjunkerten" Landadels oder eines von Fürstengunst abhängigen Hofadels geriet. Die mit dem Hof- und Residenzleben gegebenen Ämter- und Legitimationschancen wurden lediglich mit älteren magisch-geblütsrechtlichen, traditional-herrschaftlichen und religiös-kirchlichen Formen stiftsadeligen Machtreichtums verschmolzen. Zudem bheb eine kritisch-mißtrauische Distanz dieses Adels gegenüber den zur „Verschwendung" verführenden Höfen und den amoraUschen Verhaltensweisen des Hofadels, wie sie vor allem in den Briefen der Eltern an ihre reisenden Söhne immer wieder zum Ausdruck kommt, stets erhalten. Nachteile der Verhofung des Adels wie Verschuldung durch übergroßen Prestigekonsum, Auflösung der patriarchalisch-herrschaftlichen Beziehungen zum Bauern, Statusunsicherheit infolge völliger Abhängigkeit von hart umkämpfter Fürstengunst und Praxisverlust infolge der Reduzierung auf Unterhaltungs- und Prachtentfaltungsfunktionen wurden vermieden. Indikatoren solcher Negativwirkungen, z. B. eine Idyllisierung des Landlebens, Melancholie, intensivierte Religiosität etc. sind dementsprechend in diesem Adel vor 1770 nicht nachzuweisen. Selbstbewußtsein wie Prestige blieben stark vom Wissen um das Alter, den Rang und die Leistung der eigenen Familie, vom ständischen Mitherrschaftsanspruch und der lokalen Herrenstellung geprägt; Nähe zum Fürsten und Fürstengunst waren zwar wichtig, konnten aber die anderen Selbstbewußtsein und Status begründenden Kriterien nicht dominieren. Die Mentalität dieses Adels blieb geprägt von der traditionalen Bindung an Familie, Stand und Territorium, d. h. sie war eher von den in FamiHe und Stand verbindlichen Verhaltensmustern als deren um Fürstengunst bemühte individuelle Variation, eher vom Verzicht als Genuß, eher von selbständiger ständischer Leistung als abhängigem Fürstendienst, eher von religiös begründeter Moral als Libertinage und Amoralität bestimmt. Der begrenzt bleibende Anschluß an die dominant werdende höfisch-absolutistische Weltdeutung und die darauf gegründete Adelskultur hat die Führungsposition des stiftsfähigen Adels so gestärkt, daß die Bürokratisierung der Staatsverwaltung und die Durchsetzung des wissenschaftlich gebildeten Fachbeamten als erstem Anwärter auf die staatlichen Spitzenpositionen bis 1770 ausblieb, der ständische Einfluß auf die Ämterbesetzung und das auf der Auffassung von der persönlichen Gestaltung des Amts beruhende diffuse vorbürokratische Verwaltungssystem fortdauerten. Die von Kaiser, Papst und Fürst nur wenig verunsicherte familiale und ständische Ämtersicherung, Ämtervergabe und Amtsauffassung führten so bis 1770 zur Kumulation, Verkoppelung, Quasi-Erblichkeit und schließlich zur Verpfründung staatlicher und kirchlicher Spitzenpositionen. Dabei war in den kirchlichen Ämtern die Tendenz zu relativ arbeitsfreien, auf wenige Repräsentationsfunktionen beschränkten, sonst allein der Versorgung nichterbender Kinder dienenden, durch Kauf, Tausch oder ge174

zielte Weitergabe erworbenen hochdotierten Pfründe wesentlich weiter fortgeschritten als im staatlichen Bereich. Um 1770 war der stiftsfähige Adel die relativ unangefochtene politische, ökonomische und soziale Führungsschicht seiner Region, als Stand wirkungsvoll organisiert, durch Verfügung über vielfältige physische und psychische Herrschaftsmittel wirkungsvoll legitimiert, durch eine Vielzahl von Patronage- und Loyalitätsbeziehungen zu bürgerlicher Oberschicht und bäuerlicher Bevölkerung auch vertikal fest in seine Region integriert. Die Auflösung dieser außerordentlich gesicherten Position als Herrschaftsstand durch die in der Einleitung typologisch skizzierten Wandlungsprozesse und die Selbsterhaltung dieses Adels als regionale Elite sind im folgenden Thema der Untersuchung.

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III. Der Adel unter den Bedingungen des Wandels A. Zwei Wege vom Stand zur politisch privilegierten Berufsgruppe: Die unterschiedliche Entwicklung des altpreußischen und des münsterländischen Adels Das soziale und politische Verhalten des münsterländischen Adels und des katholischen Adels der preußischen Westprovinzen insgesamt unterschied sich im 19. Jahrhundert in erheblichem Maße von dem des altpreußischen ostelbischen Adels. Für diesen Unterschied sind die stark voneinander abweichenden Erfahrungen beider Adelsgruppen im Prozeß der Auflösung ihrer einst herrschaftsständischen Position von erheblicher Bedeutung gewesen. Die Veränderung der drei die ständische Qualität bestimmenden Faktoren Herrschaft, Prestige und Reichtum lassen sich für beide Adelsgruppen in Abhängigkeit von den Prozessen der Staats- und Marktwirtschaftsbildung, denen sie ausgesetzt waren, darstellen. Der altpreußische, ostelbische Adel wurde während der Regierungszeit des Großen Kurfürsten und Friedrich Wilhelms I., die in Preußen aus Gründen des inneren Rechts- und Friedensschutzes, äußerer Sicherheit und dynastischen Machtinteresses, gestützt auf loyale, vor allem bürgerliche Beamte und ein stehendes Heer, nach dem Vorbild wesdicher Staaten den territorialstaatlichen Absolutismus auf- und ausbauten, als Herrschaftsstand entmachtet. Doch hat auch der preußische Absolutismus ,die prinzipielle gesellschaftliche Solidarität mit dem Adel nie aufgegeben'.' Beide Herrscher beließen dem Adel in einem Kompromiß als staatliche, von der Zentrale delegierte Aufgaben inteφretierte Hoheitsfunktionen im Gerichts- und Polizeiwesen auf der Rittergutsebene. Unter Friedrich II. wurde der Adel dann in das neue vom preußischen aufgeklärten Absolutismus vertretenen Programm ,innerer Staatsbildung' und merkantilistischer Macht- und Wohlfahrtssteigerung als führender Funktionsstand, vor allem als Offizier, höherer Beamter und Hofadel, eingebaut und konserviert. Dem Adel oblag nach dem Allgemeinen Landrecht die ,,Verteidigung des Staates, sowie die Unterstützung der äußeren Würde und inneren Verfassung desselben" ( A L R I I , 9, § 1). Die Verluste an geburtsständisch begründeter Herrschaft wurden durch einen Zugewinn an berufsständischer Herrschaft kompensiert. Er erhielt Ämtervorzüge in Heer, Verwaltung und am Hof. Durch zum Teil freiwillige, zum Teil zunächst erzwungene Übernahme der Offiziers- und leitenden Beamtenstellen band er sich zunehmend an die Ziele des Monarchen; durch eine enge Verbindung von gutsherrlicher und militärischer Organisation sollte er nach dessen Willen zum ordnenden Mittlerelement zwischen Staat und bäuerlicher Bevölkerung werden. Gemäß seinem starken Interesse an der Erhaltung und StabiUsierung der funktionsständischen preußischen Gesellschaftsordnung betrieb Friedrich II. nach dem Siebenjähri176

gen Krieg eine umfassende Adelsschutzpolitik. Indulte, Moratorien und Kreditanstalten für die adligen Rittergutsbesitzer sowie ein Verbot des Kaufs von Rittergütern für Bürgerliche sollten die ökonomischen Grundlagen des Adels, Heirats- und Berufsschranken seine innere Homogenität sichern. Ämtervorrechte, das Recht Fideikommisse zu gründen, der privilegierte Gerichtsstand und am Rittergut haftende Vorrechte und Herrschaftsfunktionen waren weitere Privilegien, womit er den Adel vor anderen Ständen auszeichnete.^ Diese hervorgehobene und vielfach privilegierte Stellung des Adels als ersten Funktionsstands des Staates wurde im Allgemeinen Landrecht von 1791/94 auf neuer Rechtsgrundlage noch einmal explizit bestätigt. Sie wurde interpretiert als privatrechtlicher Vorzug des Adels, als sein individuelles Eigentum, und harmonierte dadurch mit der dem Allgemeinen Landrecht zugrunde liegenden, die gegebene Sozialordnung überspringenden Fiktion einer Gesellschaft gleicher Staatsbürger. Die Reformgesetze seit 1807 hoben die funktionsständisch begründete Position des Adels, seine politischen, sozialen, geburtsrechdichen Privilegien weitgehend auf; doch erhielt er sich neben erb- und eherechdichen Privilegien weiterhin eine starke Stellung auf der Gutsebene: Verwaltungs- und Gerichtsfunktionen blieben dem Rittergutsbesitzer erhalten.^ Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene besaß er dagegen keine Herrschaftsrechte und keinen Sonderstatus mehr. Die 1823/24 erlassenen Gesetze zur Errichtung der Provinzialstände definierten dementsprechend den zweiten Stand auch als Schicht der Besitzer großen Grundbesitzes, genauer als eine jedem Staatsbürger erreichbare Gruppe von Rittergutsbesitzern, der auch die adligen Rittergutsbesitzer von einem bestimmten Zensusbetrag aufwärts angehörten. Die geburtsrechdich abgesicherten Vorstellungen vom Adel als einer besonderen Qualität, die einst die Bevorrechtigungen begründet und abgesichert hatten, blieben unberücksichtigt. Insofern war dieses Gesetz eine letzte, in seiner konkreten Ausgestaltung auch schwache ,rationale Neuschöpfung der absoluten Bürokratie' (Koselleck), die gegen den altständischen, regional gebundenen Adel, der die liberale Reformgesetzgebung scharf bekämpft hatte, gerichtet war.^ Der Geburtsadel wurde zu einer partikularen Schicht der Gesellschaft, blieb aber innerhalb der den zweiten Stand der Provinziallandtage bildenden Grundeigentümerelite dominant und behielt damit eine starke Position auf den Provinziallandtagen. Darüber hinaus gelang es ihm, durch Aktivierung seiner persönlichen Beziehungen zum politisch wieder an Einfluß gewinnenden Hof, vor allem zum Kronprinzen, und durch Aufbau einer Hofpartei seit den zwanziger Jahren Einfluß auf die Ministerialbürokratie und damit auf die Gesetzgebung zu gewinnen.^ Zugleich nutzte er diese Möglichkeit, die Beamtenschaft mit Adligen seiner Orientierung zu durchsetzen, die liberale Ausrichtung dieser Bürokratie sukzessiv aufzulösen. Die in Berlin ohnehin nur gering veranschlagten Beratungs- und Kontrollfunktionen der Provinzialstände wurden durch diese Politik noch einmal erheblich geschwächt. Einerseits gelang es dem Adel über Hof- und Ministerialbürokratie eine Gesetzgebung durchzusetzen, die den zweiten Stand auf Kosten der Stadt- und Landgemeinden auf Kreis- und Landgemeinde- bzw. Gutsebene politisch stark begünstigte; hier konnten sich ältere herrschaftsständische Orientierungen auch während des 177 12

Reif, Adel

Vormärz erhalten. Andererseits initiierte er im Laufe des Vormärz eine unter Friedrich Wilhelm IV. weiter verstärkte Adelsschutz- und Adelsrestaurationspolitik, die die Rechtsgleichheit innerhalb des Standes der Rittergutsbesitzer wieder aufhob. Durch erneute Hervorhebung der qualitativen Adelsvorstellungen wurde „der beweglichen Ritterklasse nachhinkend eine Art persönlichen Dienstadels übergestülpt".® Von seiner ursprünglich autonomen herrschaftsständischen Position bheben dem altpreußischen Adel im 19. Jahrhundert nur die staatlich delegierten Herrschaftsrechte in Provinziallandtagen, Kreis- und Gutsbezirken bzw. Landgemeinden. Doch hat er sich für diesen Verlust durch verstärkten indirekten Einfluß auf die dominierenden Herrschaftsträger, den Monarchen und seine Familie, den Hof und die staatliche Zentralbürokratie zu entschädigen gesucht. Auch im Offizierskorps hat er seinen Einfluß schon bald nach der Reformzeit wiedergewonnen. Die Stütze des absolutistische Herrschaft anstrebenden preußischen Fürsten im Kampf gegen den ständischen Adel, die in der Steuer- und Militärverwaltung tätigen, juristisch gebildeten bürgerlichen Beamten, wurden in dem Maße zu einer mit dem Adel prestigemäßig konkurrierenden Elite, in dem sich der Staat mit einer eigenen Konzeption von der ständischen Gesellschaft abhob, Kameralismus und aufklärerische diskutierende Öffentlichkeit diese Konzeption inhaltlich auszufüllen begannen. Erfüllt vom Bewußtsein des Dienstes an einem den partikularen Adelszielen qualitativ überlegenen Staatsziel und gestützt auf ein diesem Staatsziel entsprechendes Tugendund Leistungsethos traten sie dem Adel zunehmend selbstbewußter entgegen, entwickelten sie sich, wie die zahlreichen Nobilitierungen von Beamten unter Friedrich Wilhelm L und auch unter Friedrich IL zeigen, zu einer aufgrund individueller Leistung und erworbener Qualifikation prestigemäßig mit dem Geburtsadel konkurrierenden administrativen Elite. Die Übernahme neuer Funktionen am Hof und im Militär, vor allem aber die offene aristokratische Wende Friedrichs II. nach der Etablierung des absolutistischen Systems bremste diesen Ansehensverlust des Adels wieder ab. Doch in dem Maße, in dem der Adel in die staatliche Verwaltung eindrang und bald nicht nur die leitenden, sondern auch die mittleren und z.T. sogar die unteren Verwaltungspositionen anstrebte, die von den Vorgängern Friedrichs II. in Gang gesetzte Aufstiegsmobilität bürgerlicher Akademiker in staatliche Positionen zurückdrängte, steigerte sich auch die Adelskritik der zunehmend breiter werdenden bürgerlichen Schichten, die auf Beamtenpositionen und das kameralistische Wirtschaftsförderungsprogramm ausgerichtet waren. Diese von der aufgeklärten diskutierenden öffendichkeit getragene Adelskritik setzte Mitte der fünfziger Jahre ein, erreichte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt und wurde schließlich in den neunziger Jahren durch Zensurmaßnahmen zum Schweigen gebracht.^ Sie gründete vorwiegend auf dem bürgeriichen Tugend- und Leistungsideal und betonte das Mißverhältnis zwischen Ämtervorzügen und ,Verdienst', d. h. den moralisch-geistigen Qualitäten und der ,nützlichen' Arbeit adhger Beamter. Die Bevorzugung des Adels wurde also zunächst als ethisches und ökonomisches, erst später, kurz vor der Unterdrückung aller Kritik durch die Zensur, auch als politisches Problem aufgefaßt. Man kritisierte den Konkurrenten um Ämter, den Adel in der Verwaltung, und besonders stark auch den 178

Konkurrenten um Einfluß auf den König, den Hofadel, intendierte lange Zeit nicht die Abschaffung des Adels, sondern eher die - vom Geburtsadel überwiegend abgelehnte - Bildung eines neuen, Adel und höheres Bürgertum umfassenden Amtsadels. Da der alte Adel aber nur eine schmale Schicht rittergutsbesitzender bürgerlicher oder nobilitierter Spitzenbeamter durch gesellschaftliche Kontakte und Konnubium integrierte, das Bürgertum aber ansonsten weiterhin deutlich distanzierte, blieben die Spannungen zwischen Adel und aufklärerischem Bürgertum in starkem Maße weiter erhalten.® Der Landadel blieb völlig außerhalb dieser Diskussion. Der Adel war auch in dieser Phase noch der gesellschafdich angesehenste Stand; aber er geriet zusehends unter Legitimationszwang und übernahm, soweit er sich an Ämtern orientierte, durch Teilnahme an dieser Diskussion in Zeitschriften und ,Gesellschaften' die Prämissen der bürgerlichen Kritik, vor allem die Orientierung an wissenschaftlicher Bildung und ,nützUcher' Arbeit. Zwar hat er durch die Einführung von Leistungsnachweisen und Prüfungen als Voraussetzung für Einstellungen und Beförderungen im preußischen Staatsdienst, durch das sogenannte ВerechtigungsWesen in der Reformzeit, noch einmal kurzzeitig eine Minderung seines Einflusses in der preußischen Bürokratie hinnehmen müssen; doch nach 1820 war auch das Berechtigungswesen für ihn kein Hindernis mehr und gefördert durch die Hofbeziehungen gewann er - trotz allgemein steigenden Andrangs auf die Beamtenpositionen - ein auch zahlenmäßig zunehmendes Gewicht in der preußischen Bürokratie. Durch gesellschaftliche Kontakte und Heiratsbeziehungen verschmolz der altpreußische Adel mit der Schicht der leitenden bürgerlichen und nobilitierten Beamten. Insofern hat er sich Einfluß und Ansehen erhalten. Gleichzeitig erlitt sein Ansehen aber seit dem Ende des 18. Jahrhunderts aufgrund von zwei anderen Entwicklungen starke Einbußen. Zunächst durch eine anwachsende Zahl relativ armer, grundbesitzloser oder gar verarmter Adliger, die, auf Ämtervorrechte pochend, in die Offiziers- und Beamtenlaufbahnen drängten, in subalternen Positionen Fuß faßten oder von staatlichen Unterstützungen lebten. Dieser zahlreiche arme Adel provozierte neben der Adelskritik auch Pläne, z . B . Justus Mosers und des Freiherrn v. Stein, zu einer Adelsreform auf der Grundlage gesicherten großen Grundbesitzes. Aber auch nach oben hin verwischten sich die Prestigegrenzen; denn eine große Zahl kapitalkräftiger Bürgerlicher war sukzessiv als Pächter oder Besitzer in die Rittergüter eingedrungen, und in den leitenden Verwaltungsämtern arbeiteten Adlige und Bürgerliche, letztere zum Teil ebenfalls im Besitz großer Güter oder Rittergüter, Seite an Seite.' Hier lag der Grund dafür, daß die Vertreter einer Adelsreform um 1800 für eine beschränkte Öffnung des Geburtsadels plädierten. Die provinzialständische Verfassung ging über diese Reformpläne hinaus, indem sie den armen Adel rigoros aus dem zweiten Stand ausschloß und zudem die ,Käuflichkeit' der Standschaft, ihre ökonomische Grundlage, nicht aber die vorwiegend adlige Zusammensetzung des Standes der Rittergutsbesitzer betonte. Hierdurch wurde der alte Adel in seinem Prestige entscheidend geschwächt, und zwar vor allem gegenüber dem aufkommenden, Land erwerbenden Wirtschaftsbürgertum, weniger gegenüber dem Bildungsbürgertum, das von der provinzialständischen Verfassung weitgehend negiert wurde. Wie stark das Ansehen des Geburtsadels, der in erheblichem Maße Anteil an der reaktionären Politik von Monarchie und 179

Ministerialbürokratie im Vormärz hatte, schließlich gesunken war, zeigen die Anträge und Diskussionen über die Aufhebung des Adels in den Parlamenten während der Revolution von 1848.^° Die merkantilistische Politik der Wirtschaftsförderung und -lenkung vom Staate aus vernachlässigte, als sie durch Verwaltungsorganisation, Rechtskodifikation, neue Gesetze, Ausbau des Erziehungswesens, Subventionsmaßnahmen etc. den Rahmen für kalkulierbares ökonomisches Handeln setzte, auch in Preußen in starkem Maße zunächst den Agrarbereich zugunsten der Förderung von Manufakturen. Erst nach dem Anstieg der Getreidepreise im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, als sich die Einkommenschancen tendenziell von der Stadt zum Land verlagerten, gewann auch der Agrarsektor zunehmend die Aufmerksamkeit der Bürokratie. Vor diesem ökonomischen Aufschwung war durch die Umformung des Adels zu einem Dienstadel, für den Abwesenheit vom Rittergut und Prestigekonsum bei Hof bzw. in der Garnison als Norm galt, ein erheblicher Teil der Angehörigen dieses Standes verarmt. Der Siebenjährige Krieg brachte vielen Adelsfamilien den Ruin. Die von-Friedrich II. zugunsten des Adels erlassenen Moratorien und Indulte sowie die Einrichtung der Landschaften als Kreditanstalten für die adligen Rittergutsbesitzer suchten dieser Entwicklung entgegenzuwirken, blieben aber aufs Ganze gesehen erfolglos, wie die breite Schicht verarmten Adels um die Jahrhundertwende erweist. Die Realisierung der freien Wirtschaftsgesellschaft wurde vor 1806 in ihrer wesentlichen Konsequenz, der Auflösung aller- Bauern und Boden umfassenden - feudalen Bindungen, vom Großteil der adligen Rittergutsbesitzer abgelehnt und bekämpft, obwohl die die Ertragssteigerung hemmenden Wirkungen der feudalen Agrarverfassung bekannt und zum Teil auch anerkannt waren und der Staat mit der Regulierung der bäuerlichen Verhältnisse bei seinen Domänenbauern vorbildhaft vorangegangen war. Der Großteil der Rittergutsbesitzer suchte statt dessen, durch eine gesteigerte Ausbeutung der herrschaftlich abhängigen bäuerlichen Arbeitskräfte die Gewinnchancen zu nutzen; die dem Gutsbezirk angegliederten hoheitlichen Funktionen erleichterten die Realisierung solcher Intentionen. Der Staat griff, wegen des Interesses an der Erhaltung seiner steuerlichen und militärischen Leistungskraft, erst dann ein, wenn es zum Legen der Bauern kam. Hier war die einzige wesentliche Grenze des sich der staatlich delegierten Herrschaftsmittel bedienenden Gewinnsteigerungsmotivs. Erst mit der militärischen Katastrophe 1806 und der Notsituation seit 1807 konnte die staatliche Verwaltung die Liberalisierung des Agrarbereichs durchsetzen. Der Boden wurde durch die Agrargesetzgebung der Reformzeit tendenziell zu einer allein unter dem Gesichtspunkt der Rentabilität zu beurteilenden mobilen Ware auf einem freien Bodenmarkt; der Bauer - sofern er die Regulierung und die Agrarkrise der zwanziger Jahre überstand - war fortan freier Eigentümer. Die Landbewohner ohne Landbesitz und solche, deren Land zur Ernährung einer Familie nicht ausreichte, traten als freie Arbeitskräfte dem Bauern und dem Gutsherrn unter Marktbedingungen gegenüber. Die optimale Verwertung des individuellen Besitzes und der individuellen Erwerbsfähigkeit schien gewährleistet. In der Tat erhöhte sich die Mobilität der Rittergüter. Durch die Beseitigung der Standesbarrieren vor den Rittergütern drang in verstärktem Maße bürgerliches Kapi180

tal in den Rittergutsbesitz ein. Ein erheblicher Teil des Adels hatte seine Rittergüter schon kurz vor der Reformzeit durch eine von den billigen Landschafts-Krediten begünstigte spekulative Verschuldung zum Zwecke des Güterkaufs verloren. Hier war der Boden schon zur Ware geworden. N u n vergrößerte sich, zumal in den folgenden Agrarkrisen, der Anteil bürgerlicher Rittergutsbesitzer zunehmend durch freiwillige und zwangsweise Verkäufe des Adels. Die Besitzumschichtung war aber nicht so stark, daß die adligen Rittergutsbesitzer ihre zahlenmäßige Dominanz einbüßten. Adlige und bürgerliche Rittergutsbesitzer zogen im Vormärz auf zweifache Weise ökonomische Vorteile aus der Gesetzgebung der Reformzeit. Zum einen gewannen sie durch die Ablösungsgesetzgebung; denn das Allgemeine Landrecht von 1791/94 hatte das feudale Obereigentum zum individuellen Eigentum erklärt, so daß aus Legalitätsgründen der Grundsatz der Entschädigung angewendet werden mußte. Neben den Landschaften haben so vor allem die Bauern die Umstellung der adligen Gutswirtschaft auf ökonomisch-rationale Bewirtschaftungsweisen finanziert. Zum anderen stand ihnen eine breite, freigesetzte ländliche Unterschicht als Reservoir billiger Arbeitskräfte zur Verfügung. Neben den direkten staatlichen Kredithilfen wirkten zudem die fortbestehende politische Privilegierung auf der Provinz-, Kreis- und Gutsebene und die Steuerverfassung als „indirekte Wirtschaftshilfen". Innerhalb des zweiten Standes vereinigten sich in den altpreußischen Gebieten großgrundbesitzendes, profitorientiertes Bürgertum und wirtschaftlich konsolidierter, alter Adel zu einer politisch-ständisch (Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Steuerfreiheit der Rittergüter) privilegierten, exportorientierten Großgrundbesitzerklasse, innerhalb derer der Adel weiterhin zahlen- und prestigemäßig dominierte." Oer geistliche Wahlstaat bot wenig Ansatzpunkte für die Entwicklung eines dynastisch monarchischen oder bürokratischen Absolutismus mit langfristigen Zielsetzungen. Der Fürst war Geistlicher, wurde zumeist erst in fortgeschrittenem Alter gewählt, und das Domkapitel konnte über sein Wahlrecht die fortdauernde Umwandlung des geistlichen Staates in die Sekundogenitur eines Herrscherhauses verhindern. Darüber hinaus begrenzten Wahlkapitulation und regelmäßig tagende Stände die Möglichkeiten des Fürstbischofs, politisch initiativ zu werden. Die Ausbildung eines von der ständischen Gesellschaft sich abhebenden Staates mit einem rein innerweldichen Staatsziel und einem langfristigen, nach vorne gerichteten militärisch-ökonomischen und verwaltungstechnischen Programm der Machtsteigerungs- und Wohlfahrtspolitik war unter diesen Bedingungen nicht möglich. Zudem waren die geistlichen Staaten in der Regel zu klein, um das Problem der inneren und äußeren Sicherheit durch ein stehendes Heer allein zu lösen. Wohl aber wäre es möglich gewesen, den auf Steigerung des Wirtschaftswachstums durch Lenkungsmaßnahmen des Staates ausgerichteten Teil des Wohlfahrtsprogramms aufgeklärter absolutistischer Staaten zu übernehmen; doch dem standen - neben Gründen der Religion - die auf Sicherung des Gegebenen und mißtrauische Kontrolle fürstbischöflicher Maßnahmen ausgerichteten Interessen des ständischen Adels entgegen, dessen Entmachtung in Analogie zum altpreußischen Adel nicht möglich war. Die beiden adligen Stände im Fürstbistum Münster haben im 18. Jahrhundert - nicht zuletzt aus Sorge vor einem Wiedererstarken des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums - Ansätze zu einer Mo181

dernisierung der Staats- und Wirtschaftsverfassung stets schon in den Anfängen unterbunden; indirekt durch eine enge Begrenzung des vorwiegend von den Ständen verwalteten Steueraufkommens, der in die fürstliche Kasse fließenden Geldmittel, die der Fürst durch Kredite von H o f j u d e n ständig überzog, sowie durch eine Kontrolle der Ämterbesetzung. Das Mittel zur Verhinderung solcher Maßnahmen war die Verweigerung des ständischen Konsenses für die vom Bischof eingebrachten Gesetzesvorschläge.^^ Die Stände selbst, die getrennt und geheim tagten, vor allem Steuer-, Militär- und interne Organisationsfragen behandelten und am Ende des 18. Jahrhunderts nur noch durch wenige Standesgenossen auf den Landtagen vertreten waren, entwickelten selten eigene politische Initiativen. Die geistlichen Staaten konnten eine starke staatsmännische Initiative nicht ertragen . . . andere Mittel der Modernisierung aber als staatlichen Zentralismus und aufgeklärten Absolutismus kannte die Zeit nicht; der Wahlsuat auf aristokratischer Grundlage hatte keine aktiveZukunft. "

Die Kehrseite dieses Zustands war aber eine im Vergleich zu den Verhältnissen im preußischen Staat äußerst reduzierte steuerliche und militärische Inanspruchnahme der vorwiegend agrarischen Bevölkerung durch den Staat, die den Ständen, die auch •für eine geregelte Tilgung der Landesschulden sorgten, wegen weitgehend fehlender, offen artikulierter sozialer Unzufriedenheit das Bewußtsein vermittelte, ihre Funktionen voll zu erfüllen. Dennoch ist dieser vorwiegend auf Statik angelegte Staat im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Bewegung geraten; aber weniger durch eigene Initiativen als durch Einflüsse von außen. Ausgangspunkt der Entwicklung war der Reform- und Legitimationsdruck, dem die geistlichen Staaten zunehmend dadurch ausgesetzt wurden, daß die nach aufklärerischen Prinzipien diskutierende, am aufgeklärt-absolutistischen Staatsprogramm orientierte literarisch-politische Öffentlichkeit die geistlichen Staaten immer schärfer als rückständig kritisierte, indem sie ihre innere Verfassung mit der der fortgeschrittenen absolutistischen Staaten verglich. Hauptkritikpunkte wurden die dem geistlichen Staat fehlende dynamische Wirtschaftskonzeption, das mangelhafte Verwaltungs- und Gerichtswesen, die schlechte, der Willkür breiten Raum einräumende, wenig durchorganisierte Rechtspflege, die korrupte und wenig quaUfizierte Beamtenschaft, die wenig durchorganisierte, durch Hof juden ergänzte Finanzverfassung, innerhalb derer domkapitularische, ständische und fürsdiche Kassen nebeneinander bestanden, die große Zahl untätiger, nützliche Betätigung ablehnender oder negierender Geistlicher, die feste Bindung eines Großteils des Bodens an die am wirtschafdichen Wachstum wenig interessierte ,tote Hand' der pfründnerischen kirchlichen Institutionen und der schlechte Zustand des Gesundheits- und Erziehungswesens. Neben dieser Kritik nach wirtschafte-, verwaltungs- und sozialpolitischen Kriterien stand die aufgrund theologischer und moralischer Prämissen. Beanstandet wurde hier besonders: die auf Bestechung beruhenden Praktiken bei der Fürstbischofswahl, die Ämtervergabe durch Verkauf und Nepotismus, die ungerechte Verteilung der Steuerlast aufgrund einer Vielzahl von adligen und bürgerlichen Befreiten, die fehlende Toleranz gegenüber Andersgläubigen, die Negation der auf182

geHärten Gedankenwelt in den von geistlichen Orden geleiteten Schulen, die mangelnde Religiosität der Geistlichen und die Abwertung der kirchlichen Ämter zu Pfründen für die Familien des Adels und des höheren Bürgertums. Auch die ständische Verfassung wurde als überholt in Frage gestellt.^' Diese Kritik kam den Interessen der umliegenden weltlichen Staaten, vor allem des angrenzenden preußischen • Staats nach Ausweitung der Staatsgrenzen entgegen. ,,Solche Anschauungen liefen auf Säkularisation hinaus: Säkularisation der Religion zur Staatsreligion, der Kirche zur Staatskirche, der Geistlichen zu S t a a t s d i e n e r n . D i e Vorwürfe wurden zum Teil auch von den Domherrn und Beamten in den geistlichen Staaten aufgenommen, so daß schließlich der moralische Druck von innen und außen zugleich kam.^^ Legitimationszwang und die nach dem Siebenjährigen Krieg auftauchende Säkularisationsgefahr für das Fürstbistum waren die Ursachen für die Reformpolitik des Ministers Franz v. Fürstenberg, der seit Mitte der sechziger Jahre das Fürstbistum nach dem Vorbild der aufgeklärten absolutistischen Staaten zu reformieren suchte. Seinen Versuchen zur Neuordnung des Finanz-, Militär- und Gerichtswesens, wie auch seiner Wirtschaftspolitik waren durch die Widerstände seiner Standesgenossen und durch die Finanzschwäche des Fürstbischofs enge Grenzen gesetzt. Die meisten Reformansätze scheiterten. Nur im Gesundheitswesen, im Erziehungswesen und in seinem Bemühen, das Fürstbistum wieder kulturell auf das Niveau der umliegenden protestantischen Staaten zu heben, hat er Erfolg gehabt. Die Zeitgenossen haben die Fürstenbergschen Reformen, wie die ,katholische Aufklärung' insgesamt, als Erfolg fortschreitender Aufklärung mißverstanden. Doch ging es Fürstenberg vor allem darum, den adlig-geistlichen Staat durch den Nachweis seiner Fähigkeit zur Selbstreform gegenüber den Säkularisationsneigungen umliegender mächtiger Staaten neu zu legitimieren, die Unabhängigkeit des Fürstbistums auf neue Weise zu sichern. " Das Vertrauen der Aufklärer in die positiven Möglichkeiten des aus traditionalen Verbänden freigesetzten vernünftigen Individuums teilte er nicht; die Gleichheit intendierenden naturrechtlichen Vorstellungen und die aufklärerische Religionskritik hat er scharf abgelehnt und bekämpft. Nach Fürstenberg bemühte sich der Kurfürst Max Franz, der nach dem Vorbild Friedrichs IL und seines Bruders Joseph IL ein arbeitender Monarch mit aufgeklärtabsolutistischen Intentionen war, als Fürstbischof von Münster ebenfalls um eine innere Reform des Fürstbistums. Es gelang ihm, durch eine Aufwertung der vom ständischen Adel nicht kontrollierten Geheimen Kabinettskanzlei einige bürgerUche Beamte enger an sich und die Gedanken der Aufklärung zu binden. Der Geheime Rat Druffel, den er zeitweise auch nach Bonn zog, wurde sein engster Vertrauter. Mit ihm besprach er in einem mehrjährigen geschäftlichen Briefwechsel eine Vielzahl notwendiger, letztlich aber nicht durchgesetzter Reformen.^" Doch verbreitete und festigte sich unter den bürgerlichen Beamten, wie auch eine zunehmende Zahl von Konflikten zwischen der Landtagskommission und den adligen Vorderständen verdeutlicht, das Bewußtsein, eine im Grunde den adligen Ständen überlegene Sachkompetenz zu besitzen. Gleichwohl hat sich, wenn auch in der Zeit nach 1789 bäuerliche Unruhen und indirekte Angriffe des dritten Standes auf die Steuerfreiheit des Adels die Vorder183

stände verunsicherten, an der Herrschaftsposition und an dem alle anderen Schichten weit übertreffenden Prestige des Stiftsadels bis 1803 nichts Wesentliches geändert.^' Die Säkularisation der sechzehn geistlichen Staaten des Reichs, die Auflösung der aus dem Mittelalter überkommenen Reichskirche setzte auch dem Fürstbistum Münster ein Ende. Neben der Aufklärungskritik war ein solcher Schritt schon durch die österreichische und bayrische Kirchenpolitik sowie einzelne Klosteraufhebungen in geistlichen Staaten vor 1803 vorbereitet worden. Seit Anfang der neunziger Jahre, nach der Beschlagnahme des Kirchenguts in Frankreich 1789, hat man in Münster eine solche Maßnahme befürchtet; 1795 wurde sie in einem geheimen Zusatzabkommen des Friedens von Basel zur Entschädigung der weltlichen Fürsten für verlorengegangenen linksrheinischen Besitz beschlossen,^^ 1802/03 dann ausgeführt. Die Folgen der Säkularisation waren für Münster insofern besonders hart, als es unter acht Fürsten aufgeteilt wurde. Den Großteil des Entschädigungsobjekts erhielt allerdings Preußen. Durch Herrschaftswechsel und eine Revolution von oben wurden der alte geisdiche Staat und seine ständische Verfassung aufgehoben; der Adel verlor seine ständischen Funktionen, seine Ämtervorrechte, seine Versorgungsstellen für Familienmitglieder und zum Teil auch seine frommen und milden Stiftungen; denn es war schwer in diesem Fürstbistum staatliche und kirchliche Kompetenzen genau voneinander abzugrenzen.^^ Die Säkularisationsmaßnahmen erstreckten sich zum Teil über das Jahr 1815 hinaus. Die Kirche verlor ihre politischen Funktionen, ihre grundherrschaftliche ökonomische Grundlage und damit ihren Charakter als Versorgungsanstalt. Viele der bisher im engeren Sinne kirchlichen Aufgabenbereiche, vor allem das Unterrichtsund Armenwesen, fielen dem Staate zu. Die sich langsam entfeudalisierende Geistlichkeit wurde auf ihre seelsorgerischen Funktionen verwiesen. Während sich der Kirche damit die Möglichkeit einer inneren Erneuerung eröffnete, war für den Adel die Erfahrung des Verlusts dominant. Die Hoffnung auf Wiederherstellung der alten Verhältnisse wurde stark gemindert, als sich, nach Mediatisierung und Rheinbundakte 1806, das schon durch die Säkularisation erheblich geschwächte Reich, der alte Rechtsbewahrungsverband, einst der stärkste Rückhalt der geisdichen Staaten und des Ständewesens, endgültig auflöste, die Einzelstaaten des Reiches souverän wurden." Der preußische Staat und die entschädigten Fürsten hatten kaum mit der Neuordnung der ihnen zugefallenen Teile des Münsterlands begonnen, als die Niederlage Preußens von 1806 das ehemalige Fürstbistum Münster unter französischen Einfluß brachte: zunächst unter den des Königreichs Holland, dann - noch 1807 - an das Großherzogtum Berg, schließlich Ende 1810 zum Teil an das Königreich Frankreich. Die Franzosen, die ein noch stärkeres militärisches und fiskalisches Interesse an dem okkupierten Gebiet hatten als die Preußen, führten die Säkularisationen der Kapitel und Klöster und die Trennung von Staat und Kirche mit aller Härte weiter. Das Großherzogtum Berg, ein französischer Vasallenstaat, leitete durch eine umfassende, im wesentlichen am Code Napoléon orientierte Reformgesetzgebung die Angleichung der Sozialstruktur des ehemaligen Fürstbistums an die Verhältnisse in Frankreich ein; die ständische Gesellschaftsordnung löste sich durch diese zweite Revolu184

tion von oben weitgehend auf. Die Agrargesetze verwandelten die herrschaftlichen Beziehungen zwischen Bauern und Grundherrn in rein sachlich-schuldrechtliche Verhältnisse; doch war auch hier, wie in Preußen, der Grundsatz der Entschädigung anerkannt. Die relativ autonomen ständischen Verwaltungs- bzw. Gerichtsbezirke, die Patrimonialgerichte und Herrlichkeiten, gingen dem Adel mit der Einführung des französischen Präfektursystems verloren. Das Lehnswesen wurde aufgelöst und die Vorzugsstellung des Adels, insbesondere seine erb- und eherechtlichen Privilegien wurden beseitigt. ,,Formell und von der juristischen Interpretation her gesehen war so die Rechtsgleichheit konsequenter hergestellt als im Preußen der Reformzeit". Doch ließ Napoléon den alten Adel bestehen; der Staat stützte sich sogar auf diesen Adel bei Einführung der neuen, streng zentralistisch-bürokratischen Verwaltung. Ein Austausch des ständischen Adels durch einen reinen Verdienstadel fand im Großherzogtum Berg nicht statt. Das neue Recht stiftete vorwiegend Verwirrung; die neue Administration löste ältere Verwaltungstraditionen nicht auf, zumal nahezu überall die preußischen und altmünsterschen Beamten übernommen wurden. Die führende soziale Position des ständischen Adels wurde zwar stark erschüttert, doch nicht rigoros abgebaut. Nach 1814 verwarf Preußen, welches nun in den Besitz des ganzen ehemaligen Oberstifts kam, den Code Napoléon, machte aber die Reformgesetze der bergischen und französischen Zeit nur in Einzelfällen rückgängig, z . B . in der Fideikommissfrage und bei der Wiedereinführung des L e h n s w e s e n s . D e r katholische westfälische Adel blieb im Vormärz infolge der französischen Herrschaftsepisoden in stärkerem Maße ständisch entmachtet als seine Standesgenossen in den altpreußischen Provinzen. Das Verhalten des katholischen westfälischen Adels im Vormärz wurde von einer Erfahrung geprägt, die sich von der des altpreußischen Adels erheblich unterschied. Hier ein langsamer, schrittweiser, mehr als ein Jahrhundert währender Umformungsprozeß zum Funktions- und Berufsstand innerhalb eines Staates, der deutlich erkennbar den Verlust eines Teils der ständisch-adligen Herrschaftsrechte durch soziale und ökonomische Privilegien kompensierte, dort eine plötzliche und radikale ständische Entmachtung, ohne daß Kompensationsmöglichkeiten erkennbar wurden. Hier um 1800 ein Adel ohne starre Familien- und Standesorganisation, über ein flexibel gehandhabtes Konnubium sukzessiv durch nobilitiertes höheres Bürgertum (hohe Beamte und reiche Grundbesitzer) ergänzt, den Bodenbesitz kaum fideikommissarisch gebunden, ohne sicheren familialen Anspruch auf zudem noch schlecht bezahlte und überfüllte, umkämpfte, staatliche Spitzenpositionen, zum Teil von Armut bedroht, zum Teil in seinem sozialen Prestige von bürgerlichen Oberschichten eingeholt, der seine gutsherrschaftlichen Funktionen, deren ökonomischen Widersinn er zum Teil schon eingesehen hatte, durch die in der öffentlichen Diskussion schon lange vor 1807 vorbereitete Reformgesetzgebung verlor. Dort ein bis 1803 in starker Position mitregierender familial und ständisch straff organisierter, lastenmäßig abgeschlossener Adel, weder ökonomisch noch in seinem Prestige durch irgend eine bürgerliche Schicht in nennenswerter Weise gefährdet, voll überzeugt von seiner Leistung als Stand, weitgehend noch ohne Einsicht in die ökonomisches Wachstum hemmenden Wirkungen der Feudalordnung, der innerhalb weniger Jahre sämtliche 185

ständischen und grundherrschaftlichen Herrschaftsrechte, zudem alle Ämter und Versorgungsstellen verlor und plötzlich zum Adel des modernen protestantischen Preußen zählte. Seine Entwicldung mußte sich aufgrund dieser Erfahrung des harten Umbruchs in ihrem Verlauf von der des altpreußischen Adels unterscheiden.

B. Die Wandlung des münsterländischen Adels vom Stand zur geschlossenen regionalen Elite 1. Der stiftsfähige Adel als zweiter Stand des westfälischen Provinziallandtags Das Domkapitel blieb 1803, reduziert auf kirchUche Funktionen und Vermögensverwaltung, im preußischen Erbfürstentum Münster bestehen. Am 26. 9. 1806 wurde es dann aber doch aufgelöst, weil es eine den Interessen des neuen Landesherrn entgegengerichtete Politik betrieb. Im November 1806, als Wilhelm von Holland, zur besseren Sicherung der Finanzbedürfnisse des neuen französischen Vasallenstaates, die Stände wieder ins Leben rief, wurde auch das Domkapitel wieder eingerichtet, aber mit der schon in preußischer Zeit geltenden Auflage, vakant werdende Stellen nicht neu zu besetzen. Am 14. 11. 1811 hob Napoleon erneut alle Kapitel, Stifterund Klöster des Lippe-Departements auf. 1812 wurde das Domkapitel - zahlenmäßig stark reduziert - wieder eingerichtet, blieb aber seitdem eine rein kirchliche, zunehmend von Bürgerlichen besetzte Institution.^ Als der zur Zeit der preußischen Inbesitznahme Münsters gerade tagende Landtag aufgehoben und trotz mehrerer Petitionen und persönlicher Vorstellungen der Ritterschaft in den Jahren 1803 und 1804 nicht wieder einberufen wurde, beschloß dieser am 13. 6. 1804 als ,ständischer Verein' weiter bestehen zu bleiben und regelmäßig ,,zur Beförderung ihres Privatvorteils" in Münster zu tagen. Doch verstieß nach Meinung des Ministers v. Angern die ,,beabsichtigte Fortsetzung des ständischen Vereins" gegen die Bestimmungen des Reichsdeputationshauptschlusses und konnte deshalb nicht genehmigt werden. Den Mitgliedern der alten Ritterschaft wurde jedoch gestattet, ihr koφoratives Vermögen gemeinsam zu verwalten und zu diesem Zweck zusammenzutreten, nach Voranmeldung von Ort, Zeit und Thematik der Zusammenkunft. Dennoch protestierten sie schon 1805 wieder als Korpus gegen die Belastung durch eine außerordentliche Steuer und baten noch einmal um Wiedereinrichtung einer ständischen Verfassung. In den beiden Fürstentümern Salm strengten die dort ansässigen Ritter sogar noch einen Prozeß vor dem Reichskammergericht wegen einer von ihnen nicht bewilligten Steuer an; doch ging auch dieser letzte Rückhalt der Stände 1806 mit der Auflösung des Reiches verloren. Nach der Wiedereinberufung der Stände durch Wilhelm von Holland tagten sie seit dem 28. 11. 1806 permanent, ohne Anteil an der Verwaltung zu erlangen, bis Ende 1808. Über persönliche Kontakte zu den leitenden französischen Beamten suchte der Adel seine Standschaft und seine Privilegien zu schützen, seinen politischen Einfluß zu sichern; doch blieb e r 186

trotz einiger Erfolge - in starkem Maße von den Führungspositionen ausgeschlossen. Und als die Stände am 26.6.1806 - in Düsseldorf sollte eine Kommission zur Einführung neuer Gesetze und einer Verfassung eingerichtet werden - vom tagenden Landtag aus ihr Recht auf ständische Mitsprache, zumindest durch Deputierte, betonten, verwahrte man sich in Düsseldorf gegen diese .Anmaßung', und am 5. 7.1807 wurden die ohne Erlaubnis des Landesherrn tagenden Stände dann endgültig aufgelöst.^ Ein schwacher Ausgleich für diesen Verlust war die spätere Berufung mehrerer einheimischer adliger Gutsbesitzer in die Departements- und Arrondissementsräte, denen nur wenige beratende und repräsentative Funktionen zukamen. Schon 1803 hatte die preußische Regierung in Berlin die Wiederherstellung einer ständischen Verfassung im okkupierten Münsterland nach Abschluß der Auseinandersetzungen mit den anderen entschädigten Fürsten in Aussicht gestellt. Nach 1814/15 lebten die Hoffnungen der alten Ritterschaft auf Restituierung der ständischen Verfassung, angeregt durch die Versprechen des preußischen Monarchen und die Bestimmung der Bundesakte über ständische Verfassungen, wieder auf. Bis 1803 eine politisch äußerst aktive Elite, war der Adel nicht bereit, sein altes Recht auf Partizipation an den Landesangelegenheiten kampflos preiszugeben. Die ersten Erfahrungen mit der preußischen Bürokratie hatten allerdings schon die Gefährdung der gewohnten ständischen Mitsprache deudich gemacht, betonte doch der die Eingliederung der westfälischen Entschädigungsländer in den preußischen Staat leitende Beamte v. Schulenburg am 5. 2. 1802, daß ,,die ganze Landesverwaltung von Uns zum Wohl des Ganzen fortgeführt" werde.^ Neben dem allgemeinen Wunsch, die Vertretung des Allgemeinwohls, das bis 1803 unbestritten den Ständen zugekommen war, gegen die Ansprüche der auf Zentralisation und Vereinheitlichung ausgerichteten preußischen Bürokratie zu verteidigen, hat auf einer konkreteren Ebene auch das Motiv, durch ständische Mitsprache und ständische Ämter Einfluß auf die Konzeption und Durchführung der bevorstehenden Reformen zu gewinnen, die Verfassungsaktivitäten des münsterländischen Adels geleitet. Ergebnis dieser Aktivitäten waren zwei große Petitionen in den Jahren nach 1815, mehrere Geschäftsberichte des Regierungsrats v. Korff, die immer wieder auf Wiederherstellung einer zeitgemäß modifizierten ständischen Verfassung drangen, die Plädoyers der adligen Deputierten für eine ständische Verfassung in der von dem Oberpräsident Vincke einberufenen Vorbereitungskommission im Jahre 1817 und in der Immediatkommission 1822 sowie einige Denkschriften und Versuche persönlicher Einflußnahme in Berlin.·* Insgesamt verhielt sich der münsterländische Adel aber bis zur Herausgabe des Ablösungsgesetzes vom 20. 9.1820 und des Gesetzes über die Provinziallandtage vom 5. 6. 1823/27. 3. 1824 in der Frage der Wiederherstellung einer ständischen Verfassung eher passiv abwartend, zum Teil resignativ; er konzentrierte sich noch stark auf die durch die Veränderungen seit 1803 entstandenen internen Probleme in Familie, ehemaligem Stand und Grundherrschaft.® An der allgemeinen verfassungspolitischen Diskussion der Zeit bis 1823, die in Westfalen zu gleicher Zeit im Kreis um den Freiherrn V. Stein, der eine Reihe von rheinischen und märkischen Adligen in diese Diskussion gezogen hatte, und in der Umgebung des Oberpräsidenten v. Vincke mit großer Intensität geführt wurde, beteiligte sich der münstersche Adel nur wenig, obwohl 187

er über einen seiner profiliertesten Vertreter, den Grafen August Ferdinand v. Merveldt, Zugang zu diesem Kreis und Kenntnis seiner Diskussionsergebnisse besaß. Die Petitionen und Denkschriften der ehemaligen Münsterschen Ritterschaft zeigen im Unterschied zu denen des Steinkreises® einen weitgehenden Verzicht auf die Diskussion verfassungspolitischer Prinzipien, fehlende Neigung zu überregionaler Kooperation mit anderen Adelsgruppen, ein Minimum an Bereitschaft zu Neuerungen gegenüber der aufgehobenen altständischen Verfassung sowie ein Beharren auf möglichst schneller Wiederherstellung der ständischen Verfassung und der verlorengegangenen Adelsprivilegien. Das einzige Zugeständnis, zu dem dieser Adel sich zunächst bereit fand, betraf die Bauern, denen er, entsprechend der durch die Aufhebung der Eigenbehörigkeit geschaffenen neuen Lage, eine eigene Vertretung auf dem Landtag einzuräumen bereit war. In einzelnen Denkschriften wurde ohne genauere Angaben auch einer gewissen Verbreiterung der städtischen Repräsentation zugestimmt. Im übrigen hielt man die vorrevolutionäre münstersche Ständekonzeption für durchaus zeitgemäß. Man wünschte zwei oder drei getrennt beratende und abstimmende Kurien; deren erste vom alten Erbadel gebildet werden sollte. Wie im alten Fürstbistum Münster sollte es auch im preußischen Regierungsbezirk Münster - man dachte an eine ständische Verfassung für jeden der drei Regierungsbezirke der Provinz Westfalen - für jedes Haupt einer stiftsfähigen Adelsfamilie die persönliche und erbliche Standschaft geben. Obwohl Stein diesen Rückgriff auf den ,,so sehr prostituierten Adelsbrief"' scharf kritisierte, hat sich der münstersche Adel, der seine Auflösung durch seiner Kontrolle entzogene, Beamte und Wirtschaftsbürger erfassende Nobilitierungsschübe befürchtete, entschieden gegen eine Erweiterung des Ritterstandes um nobihtierte oder gar bürgerliche Großgrundbesitzer ausgesprochen.® Man bediente sich dabei einer eng ausgelegten legitimistischen Argumentation und behauptete, jede Regelung, die erkennbar Neuschöpfung und nicht Fortentwicklung des alten Bewährten sei, werde die Ansprüche der mittleren und unteren Bevölkerungsschichten wecken und zwangsläufig zu Revolution und Demokratie führen. Eine solche ,,patriarchalisch gouvernementale" und ,,altständisch unbelehrbare"' Einstellung ließ den Gedanken an eine Erweiterung der an der Verfassung partizipierenden Schichten nur in äußerst engen Grenzen zu, und auch der Forderung nach ö f fendichkeit der Landtagsverhandlungen stand dieser Adel weithin mit Unverständnis gegenüber. Das Mißtrauen und die Aggression gegen die Beamtenbürokratie haben den katholischen westfälischen Adel auf dem Provinziallandtag zwar zeitweise dazu gebracht, in Entsprechung zu der anwachsenden Schärfe seiner Bürokratiekritik und der ebenfalls ständisch gefärbten Selbstverwaltungsidee, die Forderung nach Reichsständen aus altständischen Ansprüchen heraus zu unterstützten; doch galt sein Hauptinteresse stets den Regionalständen, und als sich diese Einschränkung später nicht durchhalten ließ, den Provinzialständen und damit der Erhaltung und Berücksichtigung regionaler Eigenart. Und spätestens seit dem Ende der dreißiger Jahre wurde diese Forderung, die rein äußerlich mit den liberalen Ansprüchen auf erweiterte politische Partizipation der Staatsbürger an den Entscheidungen des Staates übereinstimmte, aufgegeben und zunächst indirekt, später auch direkt bekämpft.^" Bei solchen Erwartungen und Einstellungen konnte die reale Gestaltung der Pro188

vinzialstände in den Gesetzen vom 5. 6.1823 und 27.3.1824 bei diesem Adel nur Enttäuschung hervorrufen. Sie entband bei ihm aber in den zwei folgenden Jahren eine zwar verspätete, jedoch nicht völlig erfolglose Phase politischer Agitation gegen die Gesetze mit dem Ziel, in letzter Sekunde doch noch wichtige Modifikationen durchzusetzen. Der endgültige Verlust ehemaliger Herrschaftsfunktionen sui generis und die Reduktion der ständischen Position auf staatlich delegierte, äußerst beschränkte Rechte und Funktionen, vor allem aber die Negation des geburtsständischen Prinzips, die Zurücksetzung der zugeschriebenen Vorrechte adliger Geburt und adligen Besitzes gegenüber einem durch individuelle Leistung erwerbbaren Vorrecht wurde aufs schärfste verurteilt. Das einst so wichtige Kriterium der Stiftsfähigkeit war bedeutungslos geworden. Das Wort Ritterschaft ist ein seelenloses Blendwerk, größerer materieller Grundbesitz ist das einzige, was die Ritterschaft in der neuen Verfassung von den Grundbesitzern des vierten Standes unterscheidet,

SO klagte die Ritterschaft in einer Petition an den König im Jahre 1825; sie vermißte ,,höchst schmerzlich . . . die urälteste teutsche Bevorrechtigung des Geburts- oder beygelegten Adels".** So konsequent adelsfeindlich, wie es hier dargestellt wird, war aber die Neufundierung der Ritterschaft durchaus nicht. Die neue Standschaft ergab sich aus einer Mischung von zugeschriebenen und erwerbbaren Kriterien, die nicht ohne Willkür war. Entsprechend ihren sozial-konservativen Intentionen begünstigten die Gesetze den Grundbesitz und schlossen reines Geldeinkommen*^ ebenso von der Standschaft aus, wie die Faktoren Religion (Kirche) und Bildung. Der Ritterstand wurde auf den Besitz eines ehemals landtagsfähigen Gutes von mindestens 75 Reichstalern Steuerleistung gegründet, weil die Monarchie zu ihrer Stützung einen ökonomisch fest abgesicherten zweiten Stand wünschte; dadurch verloren ca. 40 % aller ehemaligen Rittergüter in Westfalen ihre Landtagsqualität (vgl. Schaubild 1); aber da die meisten Familien mehrere Rittergüter besaßen, schieden im Münsterland nur einige wenige Familien, z . B . die Burgmannsfamilien V. Heyden und v. Delwig, aus der Ritterschaft aus. Von dem bisher nicht landtagsfähigen Grundbesitz sollten dagegen nur besonders große Güter von mindestens 150 Reichstalern Steuerleistung, die zehn Jahre und länger in der Hand eines bürgerlichen oder adligen Besitzers waren, ebenfalls die Qualität eines Ritterguts erhalten. Noch weniger als die Neubestimmung des landtagsfähigen Rittergutes beruhte die Verteilung der Stimmen auf die einzelnen Korpora auf rein quantitativen Operationen. Zwar verlor der Adel, der im wesendichen den neuen Ritterstand bildete, seine einstige Majorität: Die den ersten Stand bildenden zwölf Standesherren hatten persönliche Standschaft, die Ritterschaft wählte zwanzig Deputierte, Stadt- und Landgemeinden (dritter und vierter Stand) hatten ebenfalls je zwanzig Stimmen. Doch sowohl nach der Kopfzahl - für den Provinziallandtag 1826 wählten 121 stimmberechtigte Rittergutsbesitzer die zwanzig Deputierten des zweiten Standes*^ - als auch nach dem Anteil der von den einzelnen Ständen gezahlten Grundsteuer - der zweite Stand zahlte 6 bis 8 % der Grundsteuer, besaß aber 28 % der Stimmen - war der zweite Stand deutlich gegenüber den Grundbesitzern des dritten und 189

Schaubild 1: Zum Verlust der Landtagsfähigkeit von alten Rittergütern in der Provinz Westfalen (1830)

„Rahdenl

e

, ·

Mindetir

BurgsTeinfurt

Coesfeld

Herford

e

ef^ldl Warendorf

Borken

Zahl der alten Rittergüter (Stichjahr» 1803)

Ш

Zahl d c r t n d e n 2.Stand d e s Prov. L a n d t a g s a u f g e n o m m e n e n alten Rfttergûter

M o n s t a b 1:15

190

vierten Standes bevorzugt. Hinzu kam, daß Beschlüsse eine Zweidrittelmehrheit erlangen mußten, um als Antrag der Provinzialstände an den König zu gelangen; kam keine Zweidrittelmehrheit zustande, dann konnten lediglich zwei für die Regierung weitgehend unverbindhche konträre Meinungsäußerungen nach Berlin gesandt werden; erster und zweiter Stand zusammen besaßen also eine Art Sperrminorität.

Tabelle 1: Die ehemals landtagsfähigen Güter der Provinz Westfalen nach ihrer regionalen Lage und ihren Besitzern im Jahre 1824"

Besitzer

Zahl der eh. Idtf. Güter

Besitzanteil nach der Zahl der Güter in %

Reg.-Bez. Münster

Reg.-Bez. Minden

Reg.-Bez. Arnsberg

Adel Bürger Institutionen Sonstige

192 31 4 1

120 24 1 1

insgesamt

228 34,39

ProzentanteU aller eh. Idtf. Güter der Prov.

Münster

Minden

Arnsberg

221 62 7 0

84,2 1 13,60 1,75 0,44

82,19 16,44 0,68 0,68

76,21 21,38 2,41 0

146

290

100,00

100,00

100,00

21,99

43,67

Σ 664 eh. Idtf. Güter in der Provinz

Vergleichszahlen für die Rheinprovinz Besitzer

ZaM der eh. Idtf. Güter Besitzanteil nach Zahl der Güter in % Reg.Bez. Reg.Bez. Reg.Bez. Reg.Bez. Reg.Bez. Koblenz Trier Aachen Köln Düsseidf. Koblenz Trier Aachen Köln Düsseidf. (ind. Cleve)

Adel Bürger, Institutionen, Sonstige

100

20

95

110

135

38,61

71,43

60,90

53,14

44,55

159

8

61

97

168

61,39

28,57

39,10

46,86

55,45

Insgesamt

259

28

156

207

303

Prozentanteil 27,18 aUereh. Idtf. Güter der Prov.

2,94

100,00 100,00 100,00 100,00 100,00

16,37 21,72 31,80

Σ 953 eh. Idtf. Güter in der Rheinprovinz

191

Tabelle 2: Die Verteilung des adligen Besitzanteils an den eh. Idtf. Rittergütern Westfalens nach Kategorien innerer Differenzierung 1824 AdelsquaUtät

Zahl der Güter Reg. Bez. Münster

Standesherm stiftsfähiger AdelWestfal. nicht stiftsf. alter Adel Westfalens alter, aber zugewanderter Adel in jüngster Vergangenheit Nobilitierte (Beamtenadel) Insgesamt

Besitzanteil nach Zahl Besitzantetl nach Grund· Besitzantetl nach Grundder Güter in % steueraufkommen in % Reg. Reg. Reg. Reg. Reg. Reg. Reg. Reg. Reg. Reg. Reg. Bez. Bez. Bez. Bez. Bez. Bez. Bez. Bez. Bez. Bez. Bez. Min- Arns- Münster Minden Arnsberg Münster Minden Ams- Münster Minden Arnsberg den berg berg

4

3

1

2,08

2,50

0,45

29

139

277

0,09

0,99

0,79

99,01

95,56

f

11

166

86,46

117< 2 0 4 9

i

31492 97,5 • 92,3

91,78 13897« 3 3 4 1 2

4,69

1572

4,58

900

2,62

9

0

0

4,69

4

0

16

2,08

0

7,24

320

0 1350

0,93

0

3,85

192 120 221 100,00 100,00 100,00 34313 14036 35039 100,00 100,00 100,00

Tabelle 3: Ausgewählte Gemeinden mit besonders hohem bürgerlichen Besitzanteil an den ehemaligen landtagsfähigen Rittergütern 1824 Kreise aN > BQ Ш üBS

ff Iserlohn

Bochum i Altena < Hagen d -s Minden с Halle i? li Tocldenburg üV) Keddinghausen Q =3 Ahaus Beckum

192

Zahl der eh. landtagsfähigen Steueranteil Rittergüter adlig insges. davon adlig dav. bürgerl. in% in% in%

Steueranteil bürgerlich in%

23 35 19 13

15 25 9 7

65,22 71,43 47,37 53,85

8 10 10 6

34,70 28,57 52,63 46,15

2004 2911 1284 2220

69,34 71,40 71,93 63,98

886 1165 501 1250

30,66 28,60 28,07 36,02

15 11

9 7

60,00 63,64

6 4

40,00 36,36

653 872

71,44 69,65

261 380

28,56 30,35

19 33 27 23

12 25 24 18

63,16 75,76 88,89 78,26

7 6 3 4

36,84 18,18 11,11 17,29

1358 3757 1485 3895

71,10 85,04 90,80 73,49

552 199 149 588

28,90 4,71 9,12 11,09

überhaupt erwies die reale Ausführung des Gesetzes sehr bald, daß der Adel keineswegs seinen Untergang oder zumindest die erzwungene Aufgabe eines erheblichen Teiles seiner altständischen Identität zu befürchten hatte. Die Bestimmung, nach der Besitzer eines ehemals nicht landtagsfähigen Guts mit einem Grundsteueraufkommen von mindestens 150 R T in den Kreis der Rittergüter aufzunehmen seien, wurde schon bald aufgegeben. Sie war, wie so viele andere in diesem Gesetz, eher für die östlichen als die westlichen Provinzen sinnvoll. Die ehemals landtagsfähigen Güter aber, so ergab sich aus einer Erhebung des Oberpräsidenten um 1825, waren im Unterschied zu den Verhältnissen in östlichen Provinzen oder auch in der Rheinprovinz noch zum weitaus überwiegenden Teil in der H a n d des Adels, wie Tabelle 1 zeigt. Von 664 alten Rittergütern waren in Westfalen noch 533 ( = 80,3 %) in der Hand des Adels; im Rheinland besaß der Adel dagegen von 953 Rittergütern nur noch 460 (48,3 %). Eine nach Adelsqualität differenzierende Analyse der ehemaligen Rittergüter in adligen Händen ergibt folgendes Bild (vgl. Tabelle 2). Der stiftsfähige bzw. - im ehemaligen Gebiet von Minden-Ravensberg und der Grafschaft Mark - alte Adel besaß den größten Teil der ehemals landtagsfähigen Güter; das Bürgertum hielt auf der Ebene der Regierungsbezirke einen Besitzanteil, der sich zwischen 6 und 21 % bewegte. In einzelnen Kreisen war es aber schon sehr stark in den ehemaligen Rittergutsbesitz eingedrungen (vgl. Tabelle 3). Im Bereich des alten Fürstbistums Münster überschritt der Anteil bürgerlicher Besitzer ehemaliger Rittergüter aber nicht die 18 %-Grenze; den höchsten Anteil hatte der Kreis Beckum mit 1 7 , 2 9 % . Von den schließlich für wahlberechtigt erklärten 424 neuen Rittergütern waren ca. ein Drittel in bürgerlichem Besitz. In den gewerbereichen Gebieten der Regierungsbezirke Minden und Arnsberg lag dieser Anteil deudich über, in den agrarischen Gebieten der ehemaligen geisdichen Staaten dagegen deutlich unter dem Durchschnitt. Im Regierungsbezirk Münster besaß der ehemals stiftsfähige Adel 113 von 142 (80 %) der neuen Rittergüter. Hier, wie insgesamt in Westfalen hat es der stiftsfähige bzw. alte Adel über ein diszipliniertes Wahlverhalten, trotz des allerdings nur noch langsam wachsenden Anteils bürgerlicher Rittergutsbesitzer durchgesetzt, daß bis 1848 nur Deputierte aus altem Adel in den Provinziallandtag gewählt wurden. Allein unter den gewählten Stellvertretern fanden sich zwei bürgerliche Rittergutsbesitzer. Die neue Ritterschaft war in Westfalen, was die Provinziallandtagsdeputierten betraf, mit der alten identisch. Faktisch war der Adel als Geburtsadel nicht nur im ersten, sondern auch im zweiten Stand vertreten. Die neue und alte Ritterschaft handelte auf dem Landtag, von einigen wenigen, vor allem kirchenpolitischen Fragen abgesehen, in starkem Maße nach einheitlichen Prinzipien. Kontroversen und Diskussionen zwischen bürgerlichen oder nobilitierten Angehörigen der Ritterschaft, die ihren Status erst durch Kauf eines Rittergutes erworben hatten, und traditional orientierten altadligen Vertretern, die eine Einstellungs- und Verhaltensänderung der letzteren hätten bewirken können, fanden in der Ritterschaft der Provinz Westfalen, da Angehörige der erstgenannten Gruppe nicht in den Landtag gewählt wurden, vor 1848 nicht s t a t t . " 193 13

Reif, A d e l

Uber die Geschäftsordnung des Landtags vermochte der Adel im zweiten Stand noch mehr von seiner 1823/24 verloren geglaubten ständischen Machtposition zurückzugewinnen. Die Sperrminorität für Anträge an den König wurde schon erwähnt; mit zwei Drittel seiner Stimmenzahl konnte der Adel zudem, wenn er bei einheitlichem Standesvotum v o m dritten und vierten Stand überstimmt wurde, eine itio in partes, getrennte Beratung, beantragen. Schon bevor der Landtag zu tagen begonnen hatte, waren weitere wichtige Entscheidungen zugunsten des Adels gefallen; denn er stellte den Landtagsmarschall, bis 1830-31 den Freiherrn v. Stein, dann, bis über 1848 hinaus, Ignaz v. Landsberg-Velen. Der Landtagsmarschall wiederum bestimmte schon vor Beginn des Landtags die Ausschußvorsitzenden - bis 1848 waren diese ebenfalls ausschließlich Adlige - sowie die Ausschußmitglieder. Die Ausschuß Vorsitzenden ernannten die Referenten zu den im Ausschuß behandelten Problembereichen. Unbequeme Kritiker aus dem dritten und vierten Stand konnten über das Auswahlrecht des Landtagsmarschalls, dem Adel unliebsame Probleme durch Auswahl der Referenten und durch Tagesordnungskniffe ausgeschaltet bzw. entschärft werden.^® Die Ausschußvorsitzenden und die adligen Deputierten insgesamt wurden vom Landtagsmarschall an den Vorbereitungen der Landtagssessionen beteiligt und erschienen mit klaren Konzeptionen zu den Verhandlungsgegenständen auf dem Landtag, während die Vertreter des dritten und vierten Standes sich erst hier kennenlernten. Bei neu aufkommenden Fragen konnte der Adel schnell und unkompliziert eine Meinungsbildung unter sich herbeiführen; denn als eine Art adliges Nebenparlament bestanden neben dem Landtag der adlige ,Rauchklub' und der .Adlige Damenklub'. Zur Zeit des Landtags war nahezu der gesamte katholische Adel Westfalens, dessen Stadtsaison mit der Sitzungsperiode des Landtags zusammenfiel, in Münster anwesend. Schließlich kamen als Vorteile dem Adel noch zugute, daß er bis 1803 an periodische Landtagsarbeit gewöhnt war, diese Erfahrung hat ihm zumindest auf den ersten Landtagen einen Wissensvorsprung in Organisations- und Verfahrensfragen verschafft, und daß die Standesherrn sich in ihrer großen Mehrheit von Adligen des zweiten Standes, vor allem von münsterschen Adligen, vertreten ließen, so daß die Vertreter des ersten und zweiten Stands hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft und ihrer Interessen nahezu völlig identisch waren. Schon von dieser Entwicklung in der realen Gestaltung der Landtagsarbeit ging für den alten Adel kein Zwang aus, seine altständischen Orientierungen fortschreitend abzubauen. Die weitere Entwicklung der ständischen Gesetzgebung, die er zunehmend erfolgreicher zu beeinflussen und zu nutzen wußte, motivierte ihn aber geradezu, das Gegenteil zu tun, nämlich seine altständischen Orientierungen wieder sukzessiv zu verstärken. Schon im November 1823, nach dem Erscheinen des ersten Gesetzes zur Errichtung des Provinziallandtages, protestierte die ehemalige Ritterschaft des Fürstbistums Münster in einer nach Berlin gesandten Denkschrift gegen die Vermischung des alten Adels mit reichen bürgerlichen Grundbesitzern im 2. Stand, und am 22. 2. 1825 richtete sie sich an den Kronprinzen sowie kurz darauf auch an den König mit demselben Protest, aber auch mit heftiger Klage darüber, daß der dritte und vierte gegenüber dem ersten und zweiten Stand die Majorität der Stimmen zugesprochen bekommen habe. Der König versprach in seiner Antwort Virilstimmen - also zusätz194

liehe, v o m Wahlvorgang unabhängige, v o m K ö n i g direkt verliehene Landtagsmandate - an reiche landsässige Adlige f ü r den ersten Stand und Kollektivstimmen im zweiten Stand für solche miteinander verwandten Adelsfamilien, die durch Z u s a m menlegen ihres Grundbesitzes ein Fideikommiß mit Majoratserbfolge stifteten. Mit dieser Verfügung v o n 1825 hat der K ö n i g , dessen Provinziallandtagsgesetze gerade den Erbadel als älteres Prinzip politischer Standschaft durch ein rein dingliches Prinzip, den Besitz eines Rittergutes, ersetzt zu haben schienen, das ältere Prinzip des Erbadels, die persönliche Q u a l i t ä t , als daneben weiterhin geltend anerkannt. Innerhalb des zweiten Standes schien es nun noch eine Teilelite mit besonderen persönlichen Qualitäten z u geben. D i e Politik des indirekten Adelsschutzes und der weiteren politischen Bevorrechtigung des zweiten Standes insgesamt begann schon auf dem ersten Provinziallandtag mit der Beratung einer Erbfolgeordnung der Ritterschaft. Der zweite Stand sollte z u einem in seinem G r u n d b e s i t z geschützten, konservativen, königstreuen Stand ausgebaut werden. D a s bisher dominante verfassungspolitische Reformziel des ,Staatsbürgers' w u r d e zugunsten des Sicherheitsbedürfnisses altständischer und monarchischer Kräfte aufgegeben. D e r K ö n i g wünschte, weitgehend in Einklang mit der Bürokratie, die Konsolidierung und Erhaltung einer zahlenmäßig, ökonomisch und in ihrer konservativen Orientierung stabilen neuen Ritterschaft. D a der C o d e Civil zwischen 1807 und 1811 alle Fideikommisse sowie Substitutionen und Erbverzichte vivente patre aufgehoben und das römische Pflichtteilrecht sowie die eheliche Gütergemeinschaft eingeführt hatte, war eine neue, den Familienbesitz in einer H a n d schützende Erbordnung, die Genehmigung der Wiedererrichtung von Majoraten und Fideikommissen oder sogar eine Befreiung, die ,Autonomie' der Stammherren v o n der allgemein geltenden E r b o r d n u n g erforderlich. Während der folgenden Landtagsverhandlungen hielten die adligen Deputierten die Frage, o b die neue privatrechtliche Bevorrechtigung dem alten Adel oder der neuen Ritterschaft galt, bewußt im Zwielicht.^^ A b e r 1832, nach dem Kronprinzenbesuch in Münster, glaubte man sich durch dessen Zusagen so sicher, daß in Koalition mit dem rheinischen Adel zusehends offener die A b sicht geäußert wurde, die alte Adelskorporation gegen alle Widerstände und Kritik seitens anderer Bevölkerungsgruppen über privatrechtliche Bevorrechtigungen in Erb- und Ehefragen wieder ins L e b e n zu rufen, den alten Adel auf Provinzebene neu zu organisieren u n d damit einen institutionellen A n s a t z p u n k t für weitere Privilegierungen zu schaffen.^^ Ferdinand v. Galen schrieb zu diesem v o n der preußischen Monarchie vollzogenen Ü b e r g a n g von der verdeckten zur offenen Adelsprivilegierung in seiner Autobiographie im J a h r e 1833: Ein reges politisches Leben entwickelte sich unter meinen Standesgenossen, auf welche der Besuch des Kronprinzen mehr oder weniger elektrisierend gewirkt hatte. Ernste Besprechungen fanden statt über gemeinsame Interessen und namentlich über Wiederbelebung des ständischen Prinzips durch Herstellung der Adelskoφoration als lebensfähige Genossenschaft mit gemeinsamen Rechten und Instituten . . . Zertrümmert durch die französische Fremdherrschaft und den preußischen Polizeistaat war von den historischen Gebilden der Vergangenheit nichts für uns übrig geblieben als ein Aggregat von Rittergutsbesitzern, nach Flächen, Inhalt und Zensus abgeschlachtet, ohne Rücksicht auf Geburt, Herkommen und historischen Besitz. Es handelt 195

sich nun daram, von allem Verlorenen nur das wesentliche wieder herzustellen durch uns selbst unter Genehmigung des Staats. Erhaltung des Grundbesitzes, Erziehungsanstalten, Autonomie bildeten die Grenzen unserer Wünsche, für deren ReaUsierung wir auf die Unterstützung des Kronprinzen rechnen konnten . . . Der Adel Westfalens und Rheinlands fuhr fort, sich enger zusammenzuscharen in Gesinnung und Entwürfen, bessere Zeiten erwartend unter dem Schutz oder spätestens unter der künftigen Regierung des Kronprinzen.

Und 1837, als die Verhandlungen über ein Autonomiestatut für den alten Adel Westfalens auf ihrem Höhepunkt waren, formulierte Graf Bocholz, einer der altadligen Verhandlungsführer programmatisch: . . . die Hauptsache ist unsere Constituierung ah Stand-, um dieses zu erreichen, müssen wir mit den Nebenpunkten nicht geizen. . . . Mit gehöriger Consequenz im Weiterbau werden wir dann dereinst das Ziel einer festen Mauer für König und Vaterland nicht verfehlen.^'

Aber nicht nur auf privatrechtlicher Ebene, sondern auch durch die allgemeine Gesetzgebung zur politischen Neuordnung der Provinzen wurde der zweite Stand zunehmend neu privilegiert, das den Provinziallandtagsgesetzen zugrunde gelegte M o dell des Staatsbürgers weiter aufgelöst. Den Anfang machte die am 13. 7. 1827 erlassene Kreisordnung mit ihrer Bevorrechtigung des Rittergutsbesitzes in der Stimmenzahl - jedes Rittergut erhielt, obwohl sich auf dem Landtag 46 von 68 Abgeordneten dagegen ausgesprochen hatten, eine Virilstimme - und bei der Landrats wähl.

In der

westfälischen Landgemeindeordnung vom 31. 10. 1841 wurde größeren geschlossenen Gutsbezirken, die es allerdings in Westfalen nur, als Ausnahme von dem sonst dominierenden Streubesitz, in der Gegend um Paderborn und Arnsberg in wenigen Fällen gab, die Exemtion von den Gemeinden zugestanden, auch eine erneute Trennung von Stadt und Land akzeptiert.^® In beiden Fällen profitierten die Rittergutsbesitzer von einer Übertragung östlicher Organisationsprinzipien auf die westlichen Provinzen. Durch diese zwei Gesetze gewannen die Angehörigen des zweiten Standes eine mächtige Stellung auf dem Lande, die nahezu so stark wie im Ancien Régime war. Besonders verletzend für den dritten und vierten Stand war aber die Privilegierung des neuen und alten Ritterstandes dadurch, daß zwei seit der französischen Zeit als endgültig abgeschafft angesehene soziale Vorrechte wieder in Geltung gesetzt wurden: Zum einen führte man - obwohl der zweite Stand in den zwanziger Jahren noch sein Desinteresse an einer solchen Regelung bekundet hatte - den privilegierten Gerichtsstand für Angehörige der Ritterschaft ein; diese hatte eine solche Maßnahme seit 1833 im Gegensatz zu den Jahren vorher wieder energisch befürwortet.^® Zum anderen stellte die preußische Regierung 1814 das von denFranzosen aufgehobene, in der Bevölkerung äußerst verhaßte Jagdrecht auf fremden Boden wieder her; in den Provinziallandtagssitzungen der dreißiger Jahre verteidigte der Adel gerade dieses dem Bauern so schädliche Vorrecht als hergebrachtes ,wohlerworbenes' Recht mit einer Energie ohnegleichen, so daß in der Jagdfrage die Gegensätze zwischen dem Adel und dem dritten und vierten Stand im Vormärz am heftigsten wurden. Annette v. Droste-Hülshoff schrieb über dieses ihr unverständlich egoistische Verhalten ihrer Standesgenossen am 2. 8. 1844 empört an ihren Onkel August v. Haxthausen: Man ist jetzt am Regulieren der Jagdgerechtigkeiten, und Wernern stehen die Haare zu Berge vor Wichtigkeit. Das ist alles ganz gut, man soll sich nichts nehmen lassen, aber ich wollte, die

196

Herren dächten auch zuweilen an allgemeinere Landesinteressen. Es empört den Bürger- und Bauernstand, daß sie auf den letzten Landtagen nichts als ihre Jagdgeschichten haben zur Sprache kommen lassen, weder Schulen, Pfarreien noch sonstiges. Werner wird das nicht gewahr, da er nur mit dem Adel umgeht, aber ich höre es desto öfterer. Das Schlimmste ist, man findet dies Benehmen nicht nur ungerecht, man findet es höchst borniert.^'

Innerhalb der von Annette v. Droste-Hülshoff angesprochenen ,,allgemeinen Landesinteressen", die auf dem Provinziallandtag zur Sprache kamen, konzentrierte sich der Adel zunächst auf Problembereiche, die mit seinen ökonomischen Interessen und seinem Interesse an der Erhaltung des bäuerlichen Grundbesitzes in engem Zusammenhang standen. In den Fragen der Ablösungsgesetze bezog er eine harte, wenig Verzichts- und kompromißbereite Position. Aus Furcht vor erneuter Steuererhöhung und weil das Verfahren hohe Kosten für den Grundbesitzer mit sich brachte, angeblich auch auf falschen Prämissen zu dessen Ungunsten beruhte, bekämpfte er die von den preußischen Beamten ohne Teilnahme ständischer Deputierter durchgeführte Katastrierung des Grundbesitzes. Steuererleichterungen für den seiner Ansicht nach mit Steuern überlasteten Grundbesitz sollte zum einen die Abschaffung der Zusatzcentimen, einer noch aus französischer Zeit stammenden, nur in einigen Teilen Westfalens erhobenen ehemaligen Sondersteuer für Gemeindeangelegenheiten, bringen, zum anderen ein mit Nachdruck geforderter Grundsteuerausgleich zwischen den angeblich zu niedrig besteuerten östlichen und den westlichen preußischen Provinzen.^® Stand der Adel in der Ablösungsfrage in hartem Gegensatz zu den Vertretern des dritten und vierten Standes, so fand er in der Frage der Katastrierung, des Steuerausgleichs und der Zusatzcentimen deren uneingeschränkte Zustimmung. Hier und im Kampf um Erweiterung der Kompetenzen des Landtags lagen Möglichkeiten zur Solidarisierung alle Stände, die der Adel dazu benutzte, seine vom altständisch interpretierten Selbstverwaltungskonzept her formulierte grundsätzliche Kritik an der Provinzialbeamtenschaft, der neuen, seine regionale Führungsposition in Frage stellenden Elite, zu stützen und zu stärken. Ein zweites Gebiet, dem sich der Adel auf den Provinziallandtagen besonders stark zuwandte, war das des Bauernschutzes, einerseits, weil er eine stabile, konservative Sozialordnung auf dem Lande zum Schutz gegen Überbevölkerung, soziales Elend, soziale Unruhen und Revolution erhalten bzw. neu begründen wollte, andererseits aber, weil eine solche Ordnung auch seinem Interesse an Sicherung der bäuerlichen Abgaben und Erweiterung des Familienbesitzes am stärksten e n t s p r a c h . I n Übereinstimmung mit dem Oberpräsidenten v. Vincke und Teilen des dritten und vierten Standes, aber gegen die Intentionen einiger liberaler Beamter in den Provinzregierungen und der Vertreter von Industrie- und Gewerbeinteressen im dritten und vierten Stand, die den Arbeitern einen kleinen Landbesitz zu sichern wünschten, suchte der Adel durch Gesetzgebung die Verschuldung, Aufteilung und Zersplitterung von Bauerngütern zu verhindern. Dazu wurde am 13. 7. 1836 eine vom allgemein geltenden Pflichtteilerbrecht abweichende, eheliche Gütergemeinschaft ausschließende, 1846 wegen vielfacher Unzulänglichkeiten wieder aufgehobene bäuerliche Erbordnung erlassen, die eine Realteilung ausschloß, den Anerben wieder zum Nachteil der anderen Kinder bevorzugte. Ihr folgten in den vierziger Jahren (1842/43 und 1845) Gesetze, 197

die zunehmend schärfer die Ansiedlung von Familien in den Landgemeinden verbot, wenn diese kein ausreichend gesichertes Einkommen besaßen. Besonders die adligen Landräte, die hier einen großen Entscheidungsspielraum nutzen konnten, haben diese Gesetze äußerst restriktiv ausgelegt.^" Im Zusammenhang mit dem Bauernschutz stand auch der Kampf des Adels gegen die Emanzipation der Juden. Für das Paderborner Land, wo die Not der Bauern besonders groß war, wurde den Juden am 20. 9. 1836 verboten, Land zu erwerben; der Adel setzte sich sehr für eine Ausdehnung dieses Verbots auf die ganze Provinz ein. Man warf den Vieh- und Getreidehandel sowie Geldverleih betreibenden Juden vor, für die Verschuldung des Bauern und die zunehmende Zahl bäuerlicher Konkurse verantwortlich zu sein; ein undifferenzierter, in der Ausschließlichkeit, mit der er erhoben wurde, absurder Vorwurf, der, ebenso undifferenziert und ausschließlich argumentiert, mit mehr Recht gegen den Adel hätte erhoben werden können.®' Die Interessen von Gewerbe und Industrie wurden vom katholischen westfälischen Adel nur wenig unterstützt, vom münsterländischen Adel vor 1848 in der Regel sogar, z. B. in der Frage des Eisenbahnbaus oder der Vergabe zinsgünstiger Kredite aus der Provinzialhilfskasse an gewerbliche und industrielle Projekte, energisch bekämpft. Ebenso entschieden wandte sich der Adel gegen alle Gesetzesanträge, die auf eine fortschreitende Erweiterung der MögUchkeiten politischer Partizipation abzielten; er war gegen eine Öffentlichkeit der Provinziallandtagsverhandlungen, gegen die Pressefreiheit und seit den dreißiger Jahren auch gegen die Einführung von Reichsständen. Als in den dreißiger Jahren die enge Interessenpolitik des zweiten Standes zu einer zunehmenden Konfrontation mit dem dritten und vierten Stand führte, ist durch Initiative des Adels 1837 sogar das bestehende Maß an Partizipation erheblich zurückgeschraubt worden, nämlich durch die in Berlin akzeptierte Forderung, nur selbst wirtschaftende Landwirte sollten zu Deputierten des vierten Standes gewählt werden können; damit setzte er indirekt den Ausschluß der in Gewerbe und Industrie tätigen Grundbesitzer durch; gerade aber aus dieser Gruppe waren Männer wie Harkort und Biederlack, die führenden Abgeordneten des vierten Standes hervorgegangen. Grundlage dieser Adelspolitik war eine die starke gewerbliche und heimindustrielle Durchdringung des Agrarbereichs in Westfalen bewußt negierende berufsständische Interpretation der Provinzialstände, die den vierten Stand als Vertretung allein der Bauern auffaßte, deren konservativ-agrarische Interessen aber im Einklang mit den eigenen und im Widerspruch zu den liberalen gewerblich-industriellen Interessen, die im dritten Stand vertreten waren, sah. Deshalb wurde 1841/43 auch der Antrag, die Steuerschranken für die Wahlberechtigung und Wählbarkeit im Stand der Landgemeinden (vierter Stand) zu senken, die den gewerbetreibenden klein- und unterbäuerlichen Schichten politische Partizipation ermöglicht hätten, strikt abgelehnt. Der Konflikt um die Wählbarkeit in den Landgemeinden war insofern ein erstes Vorgefecht zwischen ,Industriellen' und .Agrariern', wobei beide Gruppen um die .Vormundschaft' über die Bauern kämpften, deren Interessenlage im Vormärz noch widersprüchlich war. Das liberale Bürgertum auf dem Provinziallandtag betonte den Gegensatz zwischen Adel und Bauern, erkennbar am Kampf des Adels um weitgehende Entschädigung seiner Eigentumsrechte aus der Feudalzeit auf Kosten des Bau198

ern, am Beharren auf dem Bauern schädliche feudale Vorrechte wie Jagdrecht, Rechte an Gewässern etc., vor allem aber am Aufkauf verschuldeter Bauernhöfe zur Erweiterung adligen Landbesitzes. Damit gewann es in den meisten kontroversen Abstimmungen die Stimmen der Bauern im vierten Stand. Der Adel verwies seinerseits auf Interessengegensätze zwischen Bauern und liberalen Abgeordneten bei dem bäuerlichen Sondererbrecht, der Gesindeordnung, Fragen der Besteuerung etc., konnte aber damit beim Bauern den schmerzhaften Prozeß der Ablösung von Feudallasten, der wegen der vorherrschenden Geldablösung im Unterschied zum ostelbischen Preußen bis in die fünfziger Jahre fortdauerte, nicht vergessen machen.^^

2. Das Verhältnis zum Wirtschafts- und Bildungsbürgertum der Region Diese unnachgiebige reaktionäre Politik bestimmte das Verhältnis des Adels zu den Vertretern des dritten und vierten Standes und zu den Provinzialbeamten - hier vergrößerten sich die Spannungen zusehends - , sie bestimmte aber auch zunehmend das Verhältnis zur Bevölkerung insgesamt. Der Adel sah sich selbst in den dreißiger Jahren verstärkt isoliert gegenüber der ,,Demokratie" der Beamten, der,,Herrschaft des städtischen Elements" und einer von prozeßsüchtigen Advokaten, politisches ,,Geschrei" verbreitenden Publizisten und liberalen Doktrinären ohne praktische Erfahrung in ihren Begierden auf leichten Gewinn aus dem Besitz des Adels angestachelten, verführten ländlichen Bevölkerung.^^ Der seit jeher schwache gesellschaftliche Kontakt zum gehobenen, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts langsam aber stetig selbstbewußter werdenden Bürgertum war in den dreißiger Jahren, wie die Äußerungen Annettes v. Droste-Hülshoff zeigen, nahezu völlig abgebrochen.''* Anstatt sich der Realität eines sich aus seiner vergangenen nachgeordneten Position langsam befreienden, politisch eigene, keineswegs durchweg liberale Interessen, Gedanken und Argumente entwickelnden einheimischen Bürgertums, dessen politisch aktivste Vertreter ihm auf den Provinziallandtagen in Gestalt der Abgeordneten Harkort, Biederlack, Bracht, Sommer, Devens, Hüffer etc. entgegentraten, zu stellen, blieb der Adel bei seiner distanzierenden,,herablassenden' Haltung und verlängerte damit die Spannungen des Provinziallandtags auch in den gesellschaftlichen Bereich. Die Folge einer solchen arroganten Haltung gegenüber dem höheren Bürgertum war eine „starre Scheidewand" zwischen diesem Adel, die dem Freiherrn vom Stein noch 18-30 für den münsterschen Bereich so spezifisch erschien; dem Abgeordneten Hüffer, in dem er den Prototyp des früheren münsterschen Bürgertums sah, unterstellte er sogar direkten ,,Adelshaß".^' Vom Adel als anerkannter regionaler Führungsschicht kann schon nach 1803, erst recht aber in den dreißiger und vierziger Jahren nicht mehr gesprochen werden. Besonders distanziert und spannungsvoll war das Verhältnis des Adels zum neuen, reichen Wirtschaftsbürgertum. Neben der ,,Beamtenaristokratie" war die ,,Geldaristokratie" - schon diese vom Adel verwandten Begriffe zeigen, daß er die Auseinandersetzung mit diesen Gruppen als eine solche zwischen konkurrierenden Eliten ver199

stand - die vom Adel am stärksten bekämpfte Schicht. Annette v. Droste-Hülshoff konstatierte 1846 ein „scharmantes Entgegenkommen und gegenseitige heimliche Verachtung der Geld- und Geburtsaristokratie",®® und scharfe, herabsetzende Urteile des Adels über die ,,Kapitalisten" finden sich im Vormärz in vielen Briefwechseln zwischen Adligen. Durch die Begründung der neuen Ritterschaft allein auf großen Grundbesitz war das reiche Wirtschaftsbürgertum, das seinen Reichtum in Rittergütern anzulegen und so in den zweiten Stand einzudringen suchte, für den Adel zu einer ihn unmittelbar gefährdenden Schicht geworden. Doch es war eher Zukunftsangst, als reale Erfahrung, wenn v. Bocholz in einer Denkschrift vom 20. 2. 1831 schrieb, es hätten weil die Landgüter in jüngeren Jahren ziemlich allgemein W a r e geworden sind, eine Menge Kaufleute, ja sogar Juden!! deren im merkantilischen Interesse erworben . . . indem man also für die jetzige Ritterschaft eine Successionsordnung erläßt, führt man folgende Resultate herbey: . . . man übergeht und opfert den nicht mit Rittergütern begabten landsässigen Adel dem merkantilischen Prinzip . . . Geldreichtum gehört zum städtischen Element; er verbleibe ihm daher; er mag von der H ö h e in die Tiefe rollen, zum allgemeinen W o h l e den Verkehr vermitteln, aber den Landmann und den Landbau mit sich fort in den Abgrund ziehen, dies darf er nicht. "

Erinnerungen an die vergangene Bedrohung durch den Geldreichtum des Stadtbürgertums im 15. und 16. Jahrhundert Ueßen die Gefahr einer Ablösung des Adels als Führungsschicht durch das reiche Bürgertum wieder in unmittelbare Nähe rücken. Die konkrete Erfahrung, daß reiche Kaufleute, Gewerbetreibende und Industrielle Grundbesitz, z . B . verschuldete Bauerngüter aufkauften, parzellierten und wieder verkauften, so daß die Güterpreise stiegen und der ebenfalls am Kauf von Land äußerst interessierte Adel nicht mehr mitbieten konnte, die Wahrnehmung, daß diese reichen Bürger Rittergüter kauften und in zunehmender Zahl zu den Deputiertenwahlen für die Provinziallandtage erschienen, schließlich auch die Tatsache, daß dieses Wirtschaftsbürgertum offenbar seinen Reichtum wegen der größeren Gewinne wesendich schneller steigerte als der Adel selbst, aktivierten die Erinnerung an frühere Zeiten und provozierten Abwehrreaktionen, zu denen auch der oben thematisierte Bauernschutz gehörte. Am schärfsten war die Reaktion auf ideologischer Ebene. Hier wurde die angebliche sittliche und charakterliche Überlegenheit des Adels, die ihren Ort im reinen adligen Blut habe, zunehmend betont.^' Dem Geldreichtum des charakterlosen, reichen Bürgers, der sein rastloses Streben allein auf den spekulativen Gelderwerb ausrichtete, wurde wieder wie im 16. Jahrhundert der an Standes- und Familienwerte gebundene, zu Fürsorge und Caritas verpflichtende, auf beständigem, ererbtem Grundbesitz beruhende Reichtum des Adels gegenübergestellt. Zugleich zeigte der Adel durch konkretes, vor allem karitatives, religiöses und patriarchalisches Verhalten auf, daß leicht und schnell erworbener Reichtum keinen Adel zu begründen vermochte; nicht zuletzt aber suchte er durch einen Muße und Tätigkeit harmonisch vereinenden Lebensstil - und hier erhält das starre Festhalten an der alten Jagdberechtigung ihren Stellenw e r t - den extremen Abstand zwischen Adel und Geldbürgertum zu verdeudichen. Die bürgerlichen und nobilitierten Rittergutsbesitzer lehnte der alte Adel - mit ganz wenigen Ausnahmen - als nicht ebenbürtig ab. Die neuen Provinzialstände wa200

ren im ersten und zweiten Stand von altständischen Motiven erfüllt. Bürgerliche oder nobilitierte Mitglieder des zweiten Standes wurden ohne Diskussion schon auf der Ebene der Deputiertenwahl ausgegliedert, so daß der in Münster versammelte Adel und seine Deputierten auf dem Landtag unter sich blieben. Während sich im Osten Adel, reiches Wirtschafts- und höheres Bildungsbürgertum zur Klasse der Großgrundbesitzer integrierten, traten in Westfalen und noch krasser im Rheinland diese Schichten in spannungsvoller Weise auseinander. Auch aus der Diskussion zwischen den Ständen, wie sie die Verfassung des Provinziallandtags vorschrieb, hat sich keine Änderung der altständischen Ansichten und Verhaltensweisen des katholischen westfälischen Adels ergeben. Die kontroversen Diskussionen auf den Landtagen führten zumeist zu keinem gemeinsamen Ergebnis, weder im liberalen Sinne des Kompromisses noch im Sinne des konservativ-reformerischen Konzepts Steins, der aus der Diskussion zwischen den Ständen die Annäherung aller an ein fiktives Gemeinwohl erwartete.'"' Ein starker Zwang zur Einigung bestand nicht; in kontroversen Fragen beantragte der Adel immer häufiger getrennte Beratungen, machte von seiner Sperrminorität Gebrauch und vertraute im übrigen auf seine Konnexionen nach Berlin, vor allem zum reaktionären Innenminister v. Rochow und zum adelsfreundKchen Kronprinzen mit seinem Kreis. Die damals im Adel vorherrschende Meinung über den Sinn politischer Diskussion zwischen den Ständen, die die Verhärtung der politischen Gegensätze während der dreißiger Jahre deutlich macht, hat 1837 Graf Bocholz unmißverständlich formuliert: Daß der Landtag sehr stürmisch werden sollte, scheint mir nicht wahrscheinhch, sobald die Ritterschaft der Grundsatz vereint, sich auf keine Prinzipienstreite einzulassen, die doch nie zu einem Resultate führen, jeder bleibt doch bei seiner Meinung. D a nun die Ritterschaft zur Zeit noch nicht mit der Gallerie buhlen kann . . . so dürfte es am angemessendsten sein, alle Streitigkeiten, welche sich um Prinzipien handeln, lediglich durch die bloße Abstimmung zu erledigen, durch welches Benehmen sich die citoyen in ihren Absichten sehr getäuscht sehn dürften."^

Der katholische Adel Westfalens entwickelte sich im Vormärz - seiner realen, nicht seiner rechtlichen, berufsständischen Situation nach - weniger zu einer durch neue Privilegien und Vorrechte sowie ständische Überhänge zusätzlich gestärkten Großgrundbesitzerklasse in einer modernen Wirtschaftsgesellschaft. Er wurde vielmehr zu einer Adelspartei mit stark altständischen Verhaltensweisen und Orientierungsmustern selbst im unmittelbar ökonomischen Bereich, die sich von den allerdings nur langsam nachdrängenden wirtschaftlich erfolgreichen Bürgern und Nobilitierten distanzierte, neue politische Prinzipien nur in äußerst engen Grenzen akzeptierte und Demokratisierung aufs schärfste bekämpfte. Dabei ist zu beobachten, daß mit zunehmender Kritik seitens des dritten und vierten Standes der altständische Interessenstandpunkt enger und härter verfochten, die Verbindung mit der ähnlich eingestellten rheinischen Ritterschaft fester geknüpft wurde. Seit Beginn der dreißiger Jahre wuchs, in Reaktion auf dieses Verhalten, die Adelsfeindschaft innerhalb des dritten und vierten Standes, aber auch in der Bevölkerung stark an."^ Einer der schärfsten Adelskritiker Westfalens, der Referendar am Land- und Stadtgericht Ahaus Friedrich Steinmann schrieb 1843:

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Junker- und Pfaffenthum . . . spuken wieder aufgelebt in der Wirklichkeit, in ihrem Gefolge Günstlinge und Connexionen, Kastengeist und Vetterschaften, Intriguen und dergleichen Misere mehr. Auf hochbeinigem Klepper hockt wieder die Junkerei und courbetin. Vollblutstammbäume und Ahnentafeln sind das Studium des Aristokratismus, Wettritte und Wettrennen seiner Tage Last und Hitze, britische Jockeys und Beschäler seine Götzen; an Pferdezucht und Rossezucht erkrankt das Adels Jugend . . . Der Kastengeist geht - eine grauenhafte Spukgestalt - wieder um.·*'

3. Die Einstellung zum preußischen Staat Aber das Verhältnis des katholischen westfälischen Adels zum preußischen Staat war trotz der Adelsschutzpolitik keineswegs ungebrochen harmonisch. Schon seine H o f kontakte und Konnexionen zu den verschiedenen Staatsministerien waren wenig intensiv, da er keine Vertreter besaß, die dauernd am H o f , in der N ä h e der königlichen Familie, lebten oder eine hohe Position in den Staatsministerien besetzten; lediglich zum Kronprinzen, dem dieser altständische westfälische Adel sehr zusagte, bestanden aufgrund einiger Besuche in Münster und der zeitweise in Münster stationierten Generale V. Luck und V. Müffling engere Verbindungen. Ein Teil der höheren Beamten in der Berliner Zentrale, vor allem aber die in ihren die Landesverwaltung betreffenden Ansichten noch stärker liberalen Beamten der Provinz standen diesem noch stark in altständischen Kategorien denkenden und handelnden, rückständig wirkenden Adel mit Fremdheit und Feindschaft gegenüber. Wo immer nur möglich, versuchten die Provinzbeamten durch eigene Stellungnahmen zu geplanten Gesetzen und Erlassen die erneute Privilegierung des Adels zu verhindern bzw., als dennoch den Adel begünstigende Gesetze erlassen wurden, diese auf dem Verwaltungswege auszuhöhlen.^" Letztlich entscheidend für das Verhältnis des katholischen Adels Westfalens zum preußischen Staat waren aber zwei weitere Faktoren. Preußen wurde in starkem Maße für den als Unrecht erfahrenen Verlust der außerordentlich hervorgehobenen Stellung dieses Adels vor der Säkularisation verantwortlich gemacht; schon 1803 hatte der damalige Domdechant Ferdinand August v. Spiegel in einer Denkschrift nach Berlin gewarnt: . . . dem Westfälischen Adel geht einer seiner wesendichsten Vorzüge verloren, ihm entgeht die ganze Rente aus dem Vermögen'des Domkapitels, sein Wohlstand wird erschüttert, die Versorgungsanstalten der jungen Kinder adliger Familien hören auf. Vermögensteilungen und hierdurch der Ruin des Adels werden unvermeidlich . . . Wie will man Liebe und Anhänglichkeit für eine Verfassung von ihm fordern, da ihm das G r a b seines Wohlsttndes in eben dieser neuen Verfassung vor Augen schwebt?"'

U n d als 1838, noch während der Erregung, die das .Kölner Ereignis', die Verhaftung des Kölner Erzbischofs v. Droste-Vischering und seine Abführung in die Festung Minden, im katholischen westfälischen Adel hervorgerufen hatte, ein jüdischer Berliner Autor diesem Adel fehlendes Vertrauen zum preußischen König als dem Wahrer des Rechts vorwarf, verfaßte Ferdinand v. Galen ein später dann doch nicht veröffent202

lichtes Antwortschreiben, das deutlich macht, wie die Erinnerung an diesen Verlust in den Adelsfamilien noch nahezu ungebrochen weiterwirkte: Der Staat, unser moderner Staat soll nichts wollen können als wozu er Recht hat. Aber sagt mir, wo sind sie denn geblieben, alle die heiligen Rechte, die Deutschland von seinen Vorfahren geerbt hat, die Rechte des Kaisers, die Rechte des Fürsten, die Rechte des Adels, die Rechte der Städte, die Rechte der Bürger, die Rechte der Bauern? H a t sie nicht alle, alle der moderne Staat geschluckt und sollte er nun mit einem Mal satt seyn und nicht mehr um die Rechte der Kirche schnuppern wollen? Waren denn die Empörungen gegen den Kaiser recht, die Säcularisationen recht, die Mediatisationen recht, die Einsäckelung des Eigenthums der Hunderttausende von frommen Stiftungen recht, die Zerstörung der ständischen Befugnisse recht? . . . wir haben in Westfalen bittere Erfahrungen genug g e m a c h t / '

Neben dem hier von Ferdinand v. Galen angesprochenen Verlust ständischer Mitregierung, ständischer und kirchlicher Ämter und einer Vielzahl frommer und karitativer Stiftungen - die Stiftungen waren jedoch durchaus nicht insgesamt von Frankreich oder Preußen eingezogen worden, viele blieben bestehen - hatte der Adel noch auf vielen weiteren Gebieten wesendiche Einbußen an seinen Vorrechten hinnehmen müssen: Die preußische Einstellung gegenüber der französischen Reformpolitik war nicht einheitlich und prinzipiell, sondern vorwiegend von den Erfordernissen der Politik bestimmt, und hier dominierte zunächst das Geldbedürfnis des Staates. Die Abschaffung der persönlichen Unfreiheit und die Ablösung der grundherrUchen Gefälle hat Preußen 1815, insoweit die Franzosen darin weiter vorangegangen waren als die preußische Agrargesetzgebung seit 1807, nicht rückgängig gemacht. Die Allodifikation der Lehen wurde dagegen rückgängig gemacht, weil damit eine Möglichkeit gegeben war, die Staatskasse zu füllen; denn die Ablösung des Heimfalls der Lehnsgüter erfolgte gegen einen Allodifikationszins von 1 % des jährlichen Reinertrags eines Lehngutes.Bezeichnend für die adlige Mentalität einer Anrechtswahrung um jeden Preis war, daß der Adel im ersten Fall die Aufhebung der schädlichen französischen Gesetzgebung forderte, im zweiten Fall sich aber gerade auf die französische Gesetzgebung berief und die Zahlung des Allodifikationszinses ablehnte. In beiden Fällen ging die endgültige Regelung aber zu Lasten des Adels."® Weitere direkte finanzielle Belastungen ergaben sich aus dem Wegfall der Steuerfreiheit und der Stempelfreiheit unter französischer ebenso wie unter preußischer Herrschaft; denn beide Staaten benötigten Geld. Bei Eintragungen ins Hypothekenbuch und bei Fideikommißgründungen waren Gebühren zu entrichten."' Die Freiheit des Adels von städtischen und Gemeindeabgaben ging verloren. Die neue Verpflichtung zu Kriegsfuhren und Einquartierung hat nur in französischer Zeit Kosten verursacht; denn Westfalen blieb unter Preußen über 1848 hinaus von Kriegen verschont. Das waren ökonomische Einbußen, die sich summierten. Dazu kam noch die Aufhebung der Gerichts- und Verwaltungsrechte, womit ebenfalls Einkünfte, vor allem aber Prestigechancen verbunden gewesen waren. Die von den Franzosen aufgehobenen Patrimonialgerichte und die schon von den Preußen 1803 in ihren Kompetenzen stark eingeschränkten, von den Franzosen endgültig aufgehobenen Herrlichkeiten sollten nach 1815 wieder hergestellt werden; jedoch nur in einigen Gegenden der Pro203

vinz Westfalen, zum Beispiel im Gebiet des ehemaligen Bistums Paderborn und des Herzogtums Westfalens, ist es in Einzelfällen dazu gekommen. Eine Wiedererrichtung der münsterschen Patrimonialgerichte und Herrlichkeiten wurde durch den Einfluß der Provinzialbürokratie verhindert, weil hier zwischen Gerichtsbezirk und Verwaltungsbezirk keine Einheit bestand; die Verfügung vom 9 . 9 . 1 8 1 4 hatte aber die Wiedererrichtung nur für den Fall erlaubt, daß der Gerichtsbezirk Kreisgröße erreichte; auch das war eine an den Verhältnissen der östlichen Provinzen orientierte Verfügung, die sich in Westfalen zu Ungunsten des Adels auswirkte®". Im Gegensatz zu den Verlusten an ständisch-politischen und ökonomischen Vorrechten sind die verlorengegangenen sozialen Vorzüge (Kleidung, Befreiung von der Wehrpflicht etc.), die langjährige Infragestellung des von den meisten Familien usurpierten Freiherrntitels durch das preußische Heroldsamt, und vor allem die vielfältigen Patronagemöglichkeiten und des Adels in ihrem Gewicht kaum zu bestimmen'*. Der zweite Grund für das trotz einer adelsfreundlichen Gesetzgebung gespannte Verhältnis des katholischen westfälischen Adels zur preußischen Monarchie und zum preußischen Staat wurde in dem Text Ferdinand v. Galens schon angedeutet : Die Verschiedenheit der Religion, die für den Adel in der Übergangszeit eine außerordentliche Bedeutung'^ gewonnen hatte. Der preußischen Politik einer Ausdehnung staatskirchlicher Prinzipien auf die katholische Kirche stand die enge Bindung des katholischen westfälischen Adels an die orthodoxe katholische Religionsauffassung, an Kirche und Papst, diametral entgegen. Seit 1815 lag hier zum Teil latent, zum Teil manifest ein Konfliktbereich, der die Entwicklung einer festeren Bindung dieses Adels an den preußischen Staat behinderte und in Frage stellte. Das zeigte sich deutlich in den Jahren 1837/38 : Das Verhältnis des Adels zum preußischen Staat war infolge der adelsfreundlichen Haltung und Gesetzgebung des Innenministers v. Rochow und der Versprechungen des Kronprinzen so gut wie nie zuvor; die Rheinischen Ritterbürtigen Autonomen hatten sich etabliert; die Konstitution der westfälischen Autonomen schien, trotz heftiger Gegenwehr der Provinzialbürokratie und einiger Einwände der Ministerialbürokratie, nur eine Frage der Zeit. D a gewannen mit dem Kölner Kirchenstreit von 1837/38, der durch das Verhalten des Kölner Erzbischofs Clemens August V. Droste-Vischering provoziert und durch die harte Reaktion der Regierung in Berlin verschärft wurde, die religiös eingebundenen antipreußischen Emotionen des Adels wieder auf mehrere Jahre die Oberhand'^. Diese Distanz zum preußischen Staat blieb auch nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. zunächst erhalten, nicht zuletzt deshalb, weil ein in ungeduldiger und den König verletzender Weise formulierter, auf Regelung der Streitsache mit dem Bischof gerichteter Anrag des Grafen Westphalen auf dem Provinziallandtag von 1841 zu einer erneuten Verschärfung der schon abgeklungenen Spannungen führte. Erst im weiteren Verlauf der vierziger Jahre hat sich das Verhältnis dieses Adels zum preußischen Staat und zum konservativen Monarchen verbessert. Der Kölner Kirchenstreit wurde aus zwei Gründen für das spätere Verhältnis des Adels zum preußischen Staat wichtig. Einerseits sind die abklingenden antipreußischen Ressentiments, in religiösem Gewände auftretend, wieder gestärkt worden; andererseits machte der Adel die Erfahrung, daß er keineswegs so isoliert dastand, wie es 204

nach den Konflikten auf dem Landtag und mit den Provinzialbeamten sowie den Angriffen gegen den Adel in der Öffentlichkeit der Fall schien. Daß die bürgerliche Geistlichkeit, die sich nach der Säkularisation nur langsam von ihren feudalen Bindungen und Orientierungen löste, auf seiner Seite stand, war ihm wohl bewußt; denn in der rationalistischen Theologie hatten seit Ende des 18. Jahrhunderts Adel und Geisdichkeit einen gemeinsamen Gegner, dessen Bekämpfung Solidarität stiftete. Auch die Religiosität der bäuerlichen Bevölkerung schien noch einigermaßen sicher. Womit zumindest ein Teil des Adels nicht gerechnet hatte, war die Protestbereitschaft der mittleren und unteren sowie eines Teils der oberen Schichten des Stadtbürgertums. Die Gründe für diese Protestbereitschaft lagen zum einen darin, daß die Auflösung der geistlichen Staaten Westfalens und der Übergang an Preußen für eine Vielzahl von Familien des Bürgertums mit mehr oder weniger großen Einbußen verbunden gewesen war. Wie der Adel und die Kirche ihre Patronagemöglichkeiten, so hatten viele Bürger ihre Vorteile bringenden Konnexionen zu Adel und Kirche eingebüßt; auch die in einer Vielzahl bürgerlicher Familien gesicherten kirchlichen oder staatlichen Ämter und Pfründen sowie fromme und karitative Stiftungen der Vorfahren waren verloren. Die Zahl der Stellen für Geisdiche schrumpfte erheblich. Viele mußten mit einer Pension vorlieb nehmen. Die große Zahl der Advokaten und Prokuratoren fand im preußischen System der Rechtssprechung keinen Platz mehr.®" Dazu kamen Erinnerungen an das harte und zum Teil arrogante Auftreten des preußischen Militärs und der preußischen Beamten in der Übergangszeit, die Entlassung vieler altmünsterscher Beamter und aller Offiziere des fürstbischöflichen Heeres im Jahre 1803 sowie die Benachteiligung der einheimischen, vor allem der katholischen Bevölkerung, bei Anstellungen und Beförderungen im Staatsdienst. Der preußische Staat war zudem straffer organisiert, die Verwaltung arbeitete konsequenter, drang in stärkerem Maße als die altmünstersche bis zum Bürger vor. Die Erfahrung einer umfassend bevormundenden Verwaltung war ebenso neu wie die des harten preußischen Militärdienstes. In den ersten Jahren nach 1815 desertierten die Söhne der Bürger und Bauern in großer Zahl ins benachbarte Ausland, vor allem nach Holland. Diese aufgespeicherten Aggressionen gegen den preußischen Staat kamen dem Adel als Führer der katholischen Opposition im Kölner Kirchenkampf zugute. Hinzu traten die Belastungen, die vom Adel schon vorher als Möglichkeiten zur Solidarisierung mit der Bevölkerung erkannt worden waren. Die stärkere Besteuerung im Verhältnis zur Zeit vor 1803, die anscheinend ungerechte Besteuerung im Verhältnis zu den östlichen Provinzen, die vielfältigen Verwaltungskosten von den Hypothekeneintragungs- bis zu den Katastergebühren und nicht zuletzt auch die Spannungen, die sich aus der liberalen preußischen Wirtschaftspolitik während des Vormärz, vor allem aus dem Anwachsen der besitzlosen städtischen und ländlichen Unterschichten ergaben. Die Verdienste der preußischen Regierung, z. B. die Maßnahmen zur Effektivierung der Landwirtschaft und zum Teil auch der Industrie (Wegebau, Kanalbau), der Ausbau des Erziehungswesens, die effektivere Rechtsprechung und Verwaltung, die Erweiterung politischer Partizipation und eine gerechtere Besteuerung innerhalb der Provinz durch Beseitigung der Steuerbefreiungen sind demgegenüber von der Bevölkerung nur in geringem Maße anerkannt worden. Die Erkenntnis des Adels, daß die Religion 205

ein Mittel war, eine Vielzahl in politischen und ökonomischen Fragen divergierender Schichten zu integrieren und zu aktivieren, die alte Führungsposition wieder zu gewinnen, war ein Ergebnis der Kirchenkampfzeit zwischen 1837 und 1841, eine Erfahrung, die vor allem in den besonders religiösen Familien, den Familien v. Droste-Vischering, V. Nagel, v. Ketteier u n d v. Merveldt in starkem Maße präsent blieb.

4. Interne Wandlungsprozesse Die Grundlagen f ü r das Verhalten dieses Standes im Vormärz und nach 1848 lassen sich aus einer Analyse seiner inneren Verfassung, zunächst aus seiner internen Differenzierung nach dem Einkommen aus Grundbesitz erhellen. Für den Ämter- und Herrschaftsbereich kann bis 1803 eine die Relation um 1770 nicht mehr verändernde weitere Entwicklung, nach 1803 ein jeweils der Position der Familie entsprechender Verlust an Ämtern und Herrschaftsmöglichkeiten angenommen werden.'^ Die schon um 1770 erheblichen Unterschiede zwischen den Familien hinsichtlich ihres Einkommens nach Grundbesitz haben sich bis 1830 noch erheblich vergrößert:®' Tabelle 4: Schichtung der untersuchten münsterländischen Adelsfamilien nach ihrem Einkommen aus Grundbesitz um 1830

Familie

Index (Min = 100)

V. Landsberg-Velen V. Droste-Vischering V. Merveldt v. Galen V. Westerholt V. Plettenberg-Nordk. V. Beverförde (Elverf.-W.) v. Korff-Schmising V. Twickel V. Graes V. Nagel-Vomholz V. Kerckering-Borg V.Wenge

12480 10280 8030 6210 5960 5740 3 920 2510 1850 1730 1580 1400 1400

Familie v. Droste-Senden V. Kerckering-Stapel v. Oer v. Ascheberg v. Nagel-Ittlingen v. Ketteier v. Droste-Hülshoff y. Heiden v. Herding v. Korff-Harkotten v. Schonebeck v. Raesfeldt

Index (Min = 100) 1290 1270 1150 1040 1000 690 690 690 380 380 380 100

Eine Folge der im Vergleich zu 1770 zunehmenden Einkommensunterschiede zwischen den vermögenden u n d den wenig vermögenden Adelsfamilien war, neben dem Anstieg der Konflikte zwischen Gläubigern und Schuldnern innerhalb des Adels, daß, zumindest bis 1803, die weniger vermögenden Familien, um ihre Prestigeposition zu halten, sich gezwungen sahen, einen zunehmend größeren Anteil ihres Einkommens f ü r .standesgemäßen' Konsum auszugeben. Ein Beispiel f ü r dieses Verhalten bietet die Familie v. Korff ; die Witwe v. Korff schickte ihre Söhne - trotz heftiger 206

Kritik benachbarter und befreundeter Familien - in den Kriegsjahren 1795/96 auf eine mit hohen Kosten verbundene Kavalierstour. Man war dabei geradezu fixiert auf zwei Söhne der reichen Familie v. Droste-Vischering, die zur gleichen Zeit reisten. Da die Korff-Söhne ihren Reiseweg eng an dem der Droste-Brüder orientierten und diese mit ihrer Kavalierstour sogar übertreffen wollten, nahmen sie einerseits deren von der herkömmlichen Reiseroute abweichenden Zielorte, z . B . Hamburg, darüber hinaus aber auch noch von den Drosten nicht besuchte Orte wie Berlin in ihren Reiseplan auf. Zum Glück verhinderte der Einfall der Franzosen in Italien die Realisierung des vollen Reiseplans. Friedrich Anton v. Korff schrieb darüber erleichtert am 27. 8. 1796 an seine Mutter: Unter uns gesagt, wären wir wohl schwerlich mit der ausgesetzten Summe von 6 ООО Rthl ausgekommen, wenn wir die Reise durch Italien gemacht hätten; es hat sich diesemnach für uns, mit dem Einfall der Franzosen in dieses Land, nicht übel gefügt; indem es doch immer etwas schimpflich gewesen wäre, wegen des Kostenpunkts von dieser Reise abzustehen; doch hiervon mus man vor allem nichts sagen, wäre es auch nur, um gewisse Rechthaber nicht gar zu übermüthig zu machen.''

Trotzdem konnte die Reise nur über eine Vielzahl von Krediten finanziert werden. Noch stärker stieg die Verschuldung der Familie an, als der junge Stammherr, eben von der Reise zurückgekehrt, das in Verfall geratene alte Schloß durch ein neues ersetzte. Die Familie v. Korff ist ein Beispiel dafür, daß es innerhalb des vor 1803 allein privilegierten stiftsfähigen Adels eine kleine Gruppe von Familien gab, die bei geringerem Landbesitz und relativ hoher Verschuldung in der Gefahr standen zu verarmen. Doch einen armen stiftsfähigen Adel ohne Grundbesitz und Herrschaft, ohne durch standesgemäße Erziehung und adligen Lebensstil geprägte Verhaltensformen, der nur durch Arroganz auffiel und in einem übertriebenen Stolz, der das Bürgertum verletzte, auf seine Ämtervorrechte in Militär und Verwaltung pochte, schließlich aber, wegen Überfüllung der Ämter, selbst mit subalternen Beamtenpositionen vorliebnehmen mußte, einen solchen stiftsfähigen Adel, der in Preußen um 1800 die Position des Adels insgesamt in Frage stellte, hat es im katholischen Westfalen vor 1803 nicht gegeben.^® Die Notwendigkeit von Plänen einer Adelsreform allein auf der Basis des Grundbesitzes konnte deshalb von diesem Regionaladel, der sich als der eigentliche Adel des Fürstbistums bezeichnete, auch nicht recht eingesehen werden. Nach 1803, als diç nachgeborenen Söhne ihre einst sicheren, einträglichen Ämter verloren, heirateten, mit ihren schmalen Abfindungen ein kleines Gut erwarben und infolge der umschlagenden Konjunktur oder aus Unfähigkeit in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, stieg die Zahl armer stiftsfähiger Adelsfamilien stärker an. Doch wurde die der Umgebung sichtbare Armut auch jetzt in Grenzen gehalten, weil es reiche allgemeine und Familienstiftungen für verarmte stiftsfähige Adlige gab, weil man auf das alte Prinzip des , Exports* verarmter Adliger in ausländische Ämter zurückgriff und weil sich in solidarischen Hilfsaktionen in der Regel mehrere Familien um solche Standesgenossen kümmerten, die zu verarmen drohten. Annette v. Droste-Hülshoff berichtete z . B . über eine solche Hilfsaktion zugunsten ihres Nachbarn v. Schonebeck: 207

D e r gute brave Werner hat jetzt seinen Sinn darauf gerichtet, den jungen Schonebeck dem Olfers [Bankier, H . R . ] aus den Klauen zu reißen. E r hat Bocholtz dafür interessiert und denkt noch mehrere dafür zu gewinnen. Sie wollen ihm das Geld zur Abtragung seiner Schulden zu ganz geringen Zinsen, etwa 2 % , vorschießen . . . E r verteidigt zwar Olfers, insofern ein Bankier nicht anders handeln könne und jeder Bankier per se ein Jude sein müsse, aber der langen Rede kurzer Sinn bleibt doch, daß Olfers den armen Schelm fast ganz im Leibe hat und die Schulden selbst lange nicht so schlimm sind als der Umstand, daß Olfers sein Gläubiger i s t . ' "

Nach der Erfahrung von 1823/24, daß zu geringer Grundbesitz Verlust der Standschaft und damit Minderung der Adelsqualität bedeuten konnte, gewannen solche Hilfsaktionen die Qualität standeskonservierender politischer Maßnahmen. Eine wesentUch wichtigere Konsequenz der großen internen Prestige- und Besitzunterschiede lag aber darin, daß diese sich zunehmend in Familienverbindungen, aber auch in Parteiungen auf dem alten Landtag verfestigten. Solche Parteiungen innerhalb von Ritterschaft und Domkapitel hatte es immer gegeben und immer haben dabei Familienverbindungen eine erhebliche Rolle gespielt. Wichtiger war dagegen, daß diese Parteiungen neue Bedeutungen in sich aufnahmen, einen neuen Sinn gewannen. Für die Zeit um 1770 gilt für den stiftsfähigen Adel noch, wzsKeinemann für das Domkapitel zu Münster im 18. Jahrhundert festgestellt hat: Diese Gruppierungen ergaben sich jedoch nicht in erster Linie aus ideologischen, sozialen, ständischen, landes- oder reichspolitischen Gegensätzen, sondern erwuchsen zumeist aus persönlichen Bindungen und Verbindungen. Persönliche Verbindungen sind naturgemäß labiler als etwa durch den Glauben an eine bestimmte Ideologie oder durch gemeinsame wirtschafliche oder standespolitische Interessen zusammengehaltene Gruppen. Die Struktur des Domkapitels trug daher einen ausgesprochenen dynamischen Charakter.'*

Nach 1770 wandelte sich dieser Adel aber gerade in die zuletzt angedeutete Richtung; dabei waren Besitzunterschiede von wesentlicher Bedeutung. Eine andere Ursache für diese Entwicklung war die zunehmende Infragestellung des Adels durch die kritische bürgerlich-aufklärerische Öffentlichkeit und die modernen, aufgeklärt-absolutistischen Staaten Preußen und Österreich mit ihrem dynamischen Staatsprogramm. Am Ende der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts hatte alles noch in gewohnten Bahnen begonnen, als die bis dahin dominierende Plettenberger ,Partei' von der der Fürstenberger, die sich vor allem auf die reichen Münsterländer Adelsfamilien stützte, abgelöst wurde.®^ Eine Verschärfung der Gegensätze zwischen den Parteiungen ergab sich, als Franz v. Fürstenberg 1762 Minister wurde; denn im Gegensatz zu den bisherigen Parteiungen entwickelte er ein erst über langfristiges, stetiges Veränderungshandeln erreichbares, keineswegs schon zu Beginn seiner Ministerschaft voll entwikkeltes Reformkonzept zur Modernisierung des vom stiftsfähigen Adel beherrschten geistlichen Staates. Der Kampf zwischen den Parteiungen ging seitdem nicht mehr vorwiegend um die Verteilung von Einkommens- und Herrschaftsanteilen, sondern um die Unterstützung oder Abwehr dieses Programms. In Entsprechung zu seiner langfristigen Konzeption hat sich Fürstenberg auch konsequent um ein dauerhafteres und geschlosseneres Zusammenwirken sowie eine einheitliche Anschauungs- und Willensbildung seiner Anhänger, z . B . durch regelmäßige Zusammenarbeit in Kreisen und Vereinen, und um eine Ausweitung seiner Anhängerschaft auf Nichtadlige, vor allem auf den Kreis der leitenden Beamten bemüht. 208

Die Konsequenz aus dieser stärkeren Organisation der neuen Paneiung und ihrer in ganz neuer Qualität auf Veränderung abzielenden Pläne war, daß die Konflikte zwischen altständisch orientierten Parteiungen und dieser neuen .Partei' zunehmend schärfer wurden. Ihren Höhepunkt erreichten die Konflikte - die Verhärtung der Gegensätze zeigt sich auch daran, daß die Fürstenberger sich die .Gutgesinnten' und ,Partei des Gemeinwohls'*® nannten - mit der Kandidatur Fürstenbergs um die Position eines Koadjutors des Fürstbischofs im Jahre 1780, die für ihn negativ ausfiel; damals warfen die Fürstenberger v. Nagel-Vornholz und v. Galen Vertretern einer Gegenpartei vor, sie hätten mit ihrem Votum das Vaterland verkauft, worüber es zum Prozeß und zur Verurteilung der Fürstenberger k a m . " In der Folge wurde auch der gesellschaftliche Verkehr zwischen den Familien beider Parteiungen gänzlich abgebrochen; in drastischen Worten kennzeichnete ein Fürstenberggegner, der Domherr Jobst Edmund v. Twickel die Situation, als er am 3. 3. 1781 an seinen Neffen schrieb: . . . der Horst [Oberjägermeister v. d. Horst, ein Fürstenberggegner, H . R.] sein Partie mit die alte Franz von Gallen hat aufgehört, weillen die nit mehr mit ihnen in öffentlicher Gesellschaft hat spielen wohllen; wan unsere Partie die ander trift in die Gesellschaft, so wird ihnen nit mehr gedancket, sondern es wird ausgerufen, fuhi Teuffei, wie stuncket es h i e r . "

Der Konflikt hielt in den achtziger Jahren mit unverminderter Heftigkeit an.®® Fürstenberg hat aufklärerisches Gedankengut für sein Reformkonzept stets nur im Interesse einer Konservierung des geistlichen Staates und der Herrschaft des Stiftsadels herangezogen; ansonsten war er entschiedener Gegner aller dem Adel gefährlichen politischen Gleichheitsforderungen der Aufklärer. Nach seiner fehlgeschlagenen Kandidatur zog er sich immer stärker auf eine Position mystisch-orthodoxer, gegen rationalistische Strömungen in Theologie und Kirche ankämpfender Religiosität zurück. Seine entschiedenen Gegner auf konsequent aufklärerischer Grundlage wurden in den beiden letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die Gebrüder v. Spiegel, die Kritiker des Stiftsadels, des geistlichen Staates und einer den Menschen unmündig haltenden Theologie waren. Sie ließen auch angesichts der Entwicklung der Französischen Revolution nicht von ihren aufklärerischen Maximen ab.®^ U m dieses Zentrum sammelte sich mit den Domherrn v. Asseburg, v. Brabeck, v. Weichs und dem Grafen Münster eine Gruppe von Aufklärern, die, unterstützt vom Kurfürsten und einer Vielzahl von dominant rückwärts gerichteten Mitläufern, die Fürstenberger Partei energisch bekämpften. Damit waren beide am Ende des Jahrhunderts dominierende ,Parteien' einem ideologischen Konzept verpflichtet und dementsprechend hart waren auch die Gegensätze und die Methoden, diese Gegensätze auszutragen.*® Ergibt sich so das Bild einer unsicheren, zerrissenen Oligarchie, so darf auf der anderen Seite die Gegentendenz einer zunehmenden Solidarisierung parallel zu dem Ausmaß, in dem der Adel durch äußere Entwicklung gefährdet wurde, nicht übersehen werden. Seit den neunziger Jahren begann sich der Einfluß des Frömmigkeitskreises um Fürstenberg und die Fürstin Gallitzin durch Heiratsverbindungen der Familien v. Droste-Vischering, v. Merveldt, v. Galen, v. Ketteier und v. Nagel schnell auszuweiten. Mit der Auflösung des Domkapitels und der ständischen Verfassung ging ein großer Teil der Konfliktanlässe innerhalb des Standes verloren und die steigende Gefährdung des Adels in seiner politischen, ökonomischen und sozialen Stel209 14

Reif, Adel

lung sowie die nun auftretenden gleichartigen Probleme innerhalb der einzelnen Familien führten bald zu einer vorher nicht vorhandenen interneii Harmonie und zu verstärkter Homogenität des Standes. Der Prozeß innerer Auflösung, der durch die von Fürstenberg antizipierte äußere Gefährdung des geistlich-adligen Staates und sein Konzept zu dessen Konsolidierung ausgelöst worden war, wurde durch den Versuch gestoppt, den Stand und den geistlichen Staat insgesamt gewaltsam von außen aufzulösen; eine Welle der Solidarität festigte den Stiftsadel in den letzten Jahren des alten Jahrhunderts aufs neue und machte so ein entschiedenes Auftreten gegenüber den Angriffen von außen erst möglich. Für die Orientierung des Adels nach 1803 war ein Strukturmerkmal seiner internen Organisation von entscheidender Bedeutung: Die Aufnahme von Mittlerpersonen, die - aus anderen Regionen stammend - in wesentlich stärkerem Maße als der Adel des geistlichen Staates die Adelskrise am Ende des 18. Jahrhunderts erfahren und Konzeptionen zur Bewältigung dieser Krise entwickelt hatten. Zwei Konvertiten, die Fürstin Gallitzin und der Graf Stolberg, haben als Mitglieder des ,Kreises von Münster' Fürstenbergs Reformpläne zum Teil noch mit bestimmt, vor allem aber an der spezifischen Konzeption einer mystisch-romantischen Religiosität mit stark bekennenden Intentionen, die der katholische westfälische Adel später von diesem ,Kreis' übernahm, mitgewirkt." Stolberg vermittelte dem westfälischen Stiftsadel zudem moderne Orientierungen für den ökonomischen Bereich, indem er dessen Aversion gegen Handel und Gewerbe wieder belebte und ihm, nach Auflösung der ständischen und grundherrlichen Verfassung, nahelegte, ein neues, der anwachsenden Bedeutung der ländlichen Ökonomie entsprechendes Selbstverständnis als innovativer Landwirt und Vorbild der Bauern zu gewinnen. Sein Konzept einer Neudefinition des altständischen Adels durch religiös fundierte altruistisch-karitative Gesinnung und außerordentliche Leistung in standesgemäßen Berufs- und Tätigkeitsfeldern unter Verzicht auf Privilegien und politische Vorrechte ist im katholischen westfälischen Adel erst nach 1848 zum leitenden Programm geworden; doch hat es in einzelnen, dem Kreis von Münster besonders eng verbundenen Familien, z. B. den Familien v. Droste-Vischering, v. Ketteier, v. Merveldt und v. Nagel, schon während des Vormärz in starkem Maße gegolten. Nicht zu unterschätzen sind auch die überregionalen Personenbeziehungen, die der katholische westfälische Adel durch die Fürstin Gallitzin und den Grafen Stolberg gewann.^" Hierin wurden aber beide deudich übertroffen durch den Freiherrn v. Stein, der sich nach 1815 in der Grenzgegend zwischen dem Münsterland und der Grafschaft Mark ankaufte und von diesem Zeitpunkt an sein Bemühen darauf richtete, den westfälischen Adel zu einer politischen Handlungseinheit in der Verfassungsfrage und später auch in den Verhandlungen auf den Provinziallandtagen zu formen. Stein organisierte die gemeinsame Arbeit der verschiedenen Adelsgruppen an Denkschriften und Petitionen, knüpfte für den westfälischen Adel Verbindungen nach Berlin an, forderte die einzelnen regionalen Adelsgruppen - wenn es sein mußte unter scharfem Tadel - immer wieder zu intensiver Zusammenarbeit und zur Ausbildung gemeinsamer politischer Orientierung auf.^^ Er zog die Adelsdeputierten auf den ersten drei Provinziallandtagen, die er als Landtagsmarschall leitete, regelmäßig zu den 210

Vorberatungen heran, initiierte und lenkte die ersten politischen Anträge des Adels auf dem Landtag und bewog den münsterländischen Adel zur Aufgabe seiner passivresignativen Haltung, auf welche dieser sich bis in die zwanziger Jahre von einigen nach Berlin gesandten Protestbriefen abgesehen, beschränkt hatte. Durch Identifikation mit v. Stein, den Ferdinand C. H . v. Galen nicht zu Unrecht rückblickend ,,das Werkzeug Gottes zu unserer Befreiung" nannte, löste sich der katholische westfälische Adel zu einem Teil - in vielen Bereichen blieben dennoch Unterschiede zu V. Steins Einstellung - aus seinen altständischen, rückwärts gewandten Orientierungen, so daß er auf den Landtagen zu politischer Diskussion mit den anderen Ständen überhaupt erst fähig wurde.^^ Doch konnte auch v. Stein die reaktionäre Wende dieses Adels nicht verhindern; zum einen, weil die von Berlin angebotenen Möglichkeiten einer erneuten Bevorzugung des alten Adels auch in Westfalen mächtiger wirkten als sein Einfluß ; zum anderen, weil, als er 1832 starb, die neue Generation der in der Umbruchzeit geborenen Adelssöhne, auf die er keinen so großen Einfluß besaß wie auf ihre Väter, die Position des Adels auf den Provinziallandtagen einnahm. Diese Adelssöhne betrieben nach der Julirevolution 1830, gestützt auf die konservativen Kreise in Berlin, eine wesentlich aggressivere und härtere Politik der Anrechtswahrung und -erweiterung als ihre Väter. Neben dieser Tendenz zu einer Annäherung an den preußischen Staat aufgrund politischer Zugeständnisse seit den dreißiger Jahren gab es innerhalb des Adels aber auch eine andere, die eher einer Reaktivierung der adligen Veφflichtungsidee im Medium der Religiosität anhing. Sie betonte stärker die Bindung des Adels an die Kirche, die sowohl gegen Liberalismus als auch gegen staatskirchliche Tendenzen des protestantischen Staates zu verteidigen war. Hier blieb eine deutliche Distanz zum preußischen Staat bestehen. Doch bildeten diese beiden Richtungen intern keine Gegensätze; sie bestanden nebeneinander in unterschiedlicher Gewichtung. Diese beiden Konzeptionen gingen zum Teil quer durch einzelne Familien, wie z . B . im Fall der Familie v. Merveldt, deren Stammherr Ferdinand Anton mehr dem religiösen, deren nachgeborener Sohn Carl mehr dem politischen Konzept anhing.^" In den dreißiger Jahren bis 1837/38 (Kölner Ereignis) und wieder in den vierziger Jahren bis 1848 lag das Übergewicht bei der politischen Konzeption; zwischen 1837 und 1842 und nach 1848 herrschte dagegen die religiöse vor. Die Ursachen, die zur Durchsetzung des einen, zur Verdrängung des anderen Konzepts geführt haben, sollen im folgenden dadurch zu erhellen gesucht werden, daß die Genese der den Konzepten jeweils zugehörigen Motivbereiche in der Alltagserfahrung des Adels während der Umbruchzeit um 1800 und im Vormärz verfolgt und analysiert wird.

5. Z u s a m m e n f a s s u n g Durch Säkularisation, französische Herrschaft und preußische Annexion verlor der stiftsfähige Adel seine durch Grund- und Ämterbesitz, Prestige und Herrschaftsmonopol charakterisierte Führungsposition; doch sein Grundvermögen und seine 211

Adelsqualität blieben relativ unangefochten. Die reaktionäre preußische Innenpolitik seit den zwanziger Jahren, die den zweiten Stand und den Geburtsadel wieder öffentlich und rechtlich privilegierte, kam im katholischen Westfalen vorwiegend dem stiftsfähigen Adel zugute, der die große Mehrzahl der Rittergüter besaß und die Provinziallandtagsabgeordneten stellte. Reaktionäre Gesetzgebung und - trotz zahlenmäßiger Minderheit - relativ starke Stellung auf dem Provinziallandtag, ermutigten ihn zu einer harten Politik der Anrechtswahrung, zum Kampf für alte Adelsrechte, für umfassende Entschädigung der feudalen Eigentumsrechte am Boden und gegen eine Erweiterung der Möglichkeiten politischer Partizipation. Konfrontation und Isolation auf dem Landtag, und zum Teil auch schon in der Bevölkerung, führten ihn seit dem Ende der zwanziger Jahre immer stärker dazu, seine weitere Privilegierung über Aktivitäten jenseits des Provinziallandtags, durch persönliche Einflußnahme am Hof und in der Ministerialbürokratie, voranzutreiben, wodurch sich die Spannungen auf dem Provinziallandtag weiter verschärften. Trotz eines Engagements für Maßnahmen zum Schutz des Adel und Bauern umschließenden „Landmanns" gelang es dem Adel vor 1848 nicht, die Vertreter der Bauern von ihrer Orientierung an den liberalen Abgeordneten des dritten und vierten Stands zu lösen. Fortschreitende Privilegierung der Rittergutsbesitzer gegenüber den Gemeindevertretern und die bis 1851 äußerst schwierige Geldablösung standen solchen Bemühungen um Solidarisierung auf der Grundlage gemeinsamer agrarischer Interessen entgegen. Da die preußischen Provinzialbürokratie den Einfluß des altständisch orientierten Adels auf die Durchführung der Agrarreformen abwehrte und dessen erneute Privilegierung bekämpfte, blieb neben dem Konflikt mit den Uberalen Provinziallandtagsabgeordneten auch die Spannung zur liberalen Provinzialbürokratie erhalten; es kam in Westfalen - im Unterschied zum ostelbischen Preußen - nicht zu einem dauerhaften Kompromiß zwischen Adel und Bürokratie. Trotz erheblicher Prestigeeinbußen betonte der Adel - dessen interne Frontbildungen sich nach 1800 durch eine Welle standeskonservierender Solidarität auflösten weiterhin in Geselligkeit und Konnubium die Distanz zur höheren Beamtenschaft, insbesondere aber - durch demonstrative Herausstellung adliger Standesqualitäten die Distanz zum reichen Wirtschaftsbürgertum, das, weniger in den katholischen als in den alten preußischen Gebieten Westfalens, mit seinem Reichtum den Geburtsadel in seinem Rittergutsbesitz bedrohte. Die Bindung des katholischen westfälischen Adels an den preußischen Staat blieb, trotz aller politischen Erfolge und aller Vermittlungsbemühungen durch modernere, in Westfalen ansässige Adlige wie z. B. v. Stein, in starkem Maße von Verlusterfahrungen und der Bindung an katholische Kirche und Religion bestimmt. Mißtrauen und Skepsis herrschten trotz aller Annäherung vor. Dieser Adel integrierte sich nicht als relativ offene Rittergutsbesitzerklasse in Staat und Gesellschaft Preußens, sondern blieb eine stark altständisch orientierte, kirchlich und regional gebundene, eng geschlossene Wertelite, von deren Wert allerdings bis in die fünfziger Jahre hinein nur noch ein zudem langsam schrumpfender Teil der Bevölkerung überzeugt war.

212

с . Die veränderten ökonomischen Grundlagen des Adels 1. EntwicHung der Landwirtschaft im Bereich des Oberstifts nach 1770 Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs die Bevökerung in Mitteleuropa. ^ Für das Oberstift des Fürstbistums Münster liegen die Daten zur Bevökerungsentwicklung seit 1795 vor; sie ergeben folgendes Bild:^ Die Bevölkerung des Obersüfts, für deren Versorgung die Landwirtschaft der Region vorwiegend zuständig war und blieb, vergrößterte sich zwischen 1795 und 1858 um 43,5 %; dabei ergaben sich keine gravierenden Wachstumsunterschiede zwischen Stadt und Land.^ In der gleichen Zeit wuchs, insgesamt gesehen, auch das industrielle Gewerbe - vorwiegend Textilgewerbe - des Münsterlandes. Von 9948 Beschäftigten in industriellen Gewerben arbeiteten 1816 95,7 % im Textilgewerbe, 87,4 % allein im Leinengewerbe; die Leinenherstellung war am Ende des Ì8. Jahrhunderts der bedeutendste Gewerbezweig des Münsterlands. 1819 gewann das Textilgewerbe des Regierungsbezirks Münster - nach der absoluten Zahl der Webstühle gerechnet - innerhalb Westfalens, das seinerseits unter den preußischen Provinzen an dritter Stelle stand, die Spitzenposition. Hinsichtlich der Webstuhldichte lassen sich zu dieser Zeit die ehemaligen Ämter Ahaus, Horstmar und Sassenberg, in denen sich die Leinenweberei konzentrierte, durchaus mit den Leinengebieten Minden-Ravensberg und Tecklenburg/Lingen vergleichen.^ Doch vollzogen sich innerhalb des expandierenden Textilgewerbes bis 1848/49 erhebliche interne Umstrukturierungen: Tabelle

1: Strukturveränderungen im Textilgewerbe des Münsterlands zwischen 1816 und 1849 Zahl der Webstühle

NO

00

00

auf 1000 Einwohner

im Haupterwerb absolut %

im Nebenerwerb absolut %

insgesamt Leinen Baumwolle

9525 8702 654

35 32 2

2879 2056 654

30,2 23,6 100,0

6646 6646

insgesamt Leinen BaumwoUe

20154 6591 13362

62 20 41

14133 2733 11205

70,1 41,5 83,9

6021 3658 2157

-

69,8 76,4 -

29,9 58,5 16,1

Der Anteil der Leinenwebstühle an der Gesamtwebstuhlzahl sank von 91,4 % (1816) auf 32,7 % (1849); der der Baumwollwebstühle stieg dagegen von 6,9 % auf 66,3 %. Schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ging die münsterländische Leinenweberei langsam aber stetig zurück;' die Krise der Leinenindustrie, der Preisverfall seit den zwanziger Jahren, hat diese Entwicklung nur beschleunigt. Die absolute Zahl der hauptgewerblich in der Leinenproduktion Tätigen stieg bis 1849 zwar noch erheblich an; die der nebengewerblichen Tätigen fiel jedoch stark; doch scheint in vielen Fällen 213

nur ein Ubergang zu einem neuen Material, der Baumwolle, stattgefunden zu haben; denn die absolute Zahl der nebengewerblich in der gesamten Textilindustrie Tätigen sank nur wenig ab. Relativ zum Bevökerungswachstum ist das Leinennebengewerbe jedoch deutlich zurückgegangen. Daß in der Gesamtbilanz die Zahl der Webstühle dennoch deudich schneller anwuchs als die Bevölkerung, ist auf die außerordentliche Steigerung der Zahl der im Hauptgewerbe tätigen Baumwollweber zurückzuführen. Insgesamt läßt sich also eine Verlagerung vom Leinen zur Baumwolle und vom Neben· zum Hauptgewerbe feststellen. Bis 1849 wuchs die Industrie innerhalb des Münsterlandes - wenn auch der Agrarsektor weiterhin in starkem Maße der dominierende Wirtschaftsbereich blieb - deutlich an. 1816 waren erst 3 667 (13,5 von 1 ООО) Personen hauptberuflich in Industriebetrieben beschäftigt; 1849 schon 17455 (53,1 von 1 ООО); an dieser Steigerung hatte die Baumwollindustrie den größten Anteil. Nach 1850 gewann dann in den südlichen Kreisen des Regierungsbezirks Münster, in den Kreisen Recklinghausen, Lüdinghausen und (z. T.) Beckum, aber auch im Kreis Tecklenburg der Bergbau erhebliche Bedeutung. Seit dem 17. Jahrhundert hatte sich, z . T . gestützt, zumindest aber geduldet von den geldbedürftigen Grundherrn und Bauern die in den grundherrschafdichen Kontext kaum oder gar nicht mehr integrierte unterbäuerliche Schicht der Kleinstellenbesitzer oder -pächter, v. a. die Gruppen der Markenkötter, Brinksitzer und Heuerlinge, ständig erweitert.® Die Grundlage hierzu boten zum einen die von Markgenossen, Grundherrn und Bauern bereitgestellten Landparzellen, zum anderen die wachsenden Möglichkeiten zum Nebenerwerb im Landhandwerk, durch Saisonarbeit in der holländischen Landwirtschaft, v. a. aber im hausindustriellen Leinengewerbe. Das trotz interner Umstrukturierungen nach 1800 weiterhin stetige Fortschreiten des Textilgewerbes förderte neben der wichtig bleibenden Saisonarbeit in Holland und der, von Krisenphasen abgesehen, günstigen Agrarkonjunktur das Bevölkerungswachstum. Ein stärkeres ВevölkerungsWachstum in den Kreisen mit hoher Webstuhldichte, die zugleich Kreise mit ungünstigen Bodenverhältnissen und einem starken Anteil bäuerlichen Kleinbesitzes waren, läßt sich anhand der positiven Korrelation zwischen Bevölkerungsdichte und Webstuhldichte zwar als langfristiger Prozeß vermuten, für den Zeitabschnitt zwischen 1795 und 1858 ist er aber nicht signifikant nachweisbar.' Doch kann zumindest festgestellt werden: In den weniger fruchtbaren Agrargegenden boten neben- und hauptgewerbliche Tätigkeit in der Textilindustrie die Grundlagen für ein В evölkerungs Wachstum, das dem der Gegenden mit günstigeren Agrarverhältnissen gleichkam. Daß dieses Bevölkerungswachstum in Westfalen größer war als das Wachstum der durch Agrarkonjunktur und fortschreitenden Ausbau der Eisen- und Textilindustrie bereitgestellten Lebenschancen - zumal der Agrarsektor in den zwanziger Jahren in eine Krise geriet - zeigt die ständige Zunahme armer Personen in der Provinz Westfalen im Vormärz. Während die beiden anderen, stärker industrialisierenden westfälischen Regierungsbezirke aber einen gleichmäßigen Anstieg der Armut bis 1850 erlebten, erreichte sie im Münsterland ihren Höhepunkt schon in den zwanziger Jahren und nahm dann bis 1850 gleichmäßig ab;® hier erwiesen sich Baumwollindustrie und 214

Agrarkonjunktur als wichtigste Determinanten der Armut. Seit Ende der zwanziger Jahre überwogen im Regierungsberzirk Münster die positiven Auswirkungen des Wirtschaftswachstums in diesen beiden Bereichen die negativen des Bevölkerungswachstums. In Minden-Ravensberg, wo die Leinenpreise, und im Arnsbergischen, wo die Eisenpreise für den Anstieg der Armut bestimmend waren, blieb dagegen während des ganzen Vormärz das umgekehrte Verhältnis erhalten. Neben den Krisen in der Agrar-, Leinen- und Eisenindustrie haben auch die Gemeinheitsteilungen schon seit Mitte der zwanziger Jahre die an der Grenze der Armut lebende ländliche Unterschicht verbreitert; denn durch diese Teilungen gingen den Heuerlingen (Einlieger) und einem Teil der in den Marken angesiedelten Kleinbauern (Brinksitzer, Markenkötter), die bisher von den Markgenossen geduldeten, aber nicht rechtlich gesicherten Nutzungsrechte an der Mark verloren. Die herrschaftlichen und genossenschaftlichen Verbände, die nach 1800 fortschreitend aufgelöst wurden, hatten gerade den ökonomisch Schwachen ein Minimum an Einkommenschancen gesichert, die nun verloren gingen.' Dort, wo Geld vorhanden war, suchten die zumeist im Nebenberuf Weberei oder Spinnerei betreibenden Kleinstellenbesitzer die geminderte Leistungskraft ihres Bodenbesitzes durch Kauf von Markenland wieder auszugleichen. Mit steigenden Einnahmen infolge der sich bessernden Agrarkonjunktur seit den dreißiger Jahren wurde der Ausbau des Hofes zur vom Nebenerwerb unabhängigen Vollbauernstelle durch Zukauf von Land für diese Schicht zum verhaltensbestimmenden Ideal. Da die nur Tagelöhnerarbeit verrichtenden Heuerlinge der fruchtbaren Gegenden wie auch die Heuerlinge, die Tagelöhnerarbeit und Weberei verbanden, ihre Einkommensüberschüsse zum Landerwerb nutzten, ging auch von diesem Teil der ländlichen Unterschicht eine erhebliche Nachfrage nach Landparzellen aus. Allein bis 1835 wurden auf angekauften Markenparzellen von durchschnittlich 5,8 Morgen Größe 1 009 neue Etablissements gegründet. Dort jedoch, wo diese Möglichkeiten zur Reduzierung der Armut fehlten, oder Versuche zu ihrer Verringerung scheiterten, blieb als Ausweg nur die Wanderarbeit nach Holland oder - bevor der Besitz ganz aufgezehrt war - die Auswanderung." Neben der steigenden Nachfrage der ländlichen Unterschicht nach Land waren die Erweiterung des Arbeitskräftepotentials, die ansteigende Nachfrage nach Agrarprodukten und die Intensivierung des Marktgeschehens auf lokalen und regionalen Märkten weitere Folgen des Bevölkerungswachstums. Besonders wichtig wurde dabei die Nachfrage der in der aufkommenden Fabrikindustrie und in prosperierenden Verlagsindustrien arbeitenden Bevölkerungsschichten, deren Anteil sowohl innerhalb des Regierungsbezirks Münster als auch innerhalb der umliegenden, sich wesentlich schneller und stärker industrialisierenden, und in entsprechend stärkerem Maße auch auf Einfuhr von Agrarprodukten angewiesenen preußischen Regierungsbezirke Westfalens und Rheinlands ständig anwuchs. Auch in den naheliegenden dichtbevölkerten und stärker industrialisierten Ländern Holland und England nahm der Bedarf an Agrarprodukten zu ; da j edoch die Preise der münsterländischen Agrarprodukte relativ hoch lagen, w a r - im Unterschied zur ostelbischen Agrarwirtschaft- die Exportorientierung hier gering. Vom Weltmarkt ausgehende Einflüsse machten sich stärker in indirekter als in direkter Form bemerkbar. Bevorzugte Absatzgebiete für die mün215

sterländische Agrarwirtschaft (ν. a. Getreide, Vieh, Milchprodukte und Kartoffeln) waren die eng benachbarten, dicht bevölkerten Regionen der Grafschaft Mark und seit den fünfziger Jahren auch das Ruhrgebiet. Infolge der zuvor geschilderten Entwicklungen stiegen seit dem Ende der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts die Getreidepreise kontinuierlich an (Schaubild 1): Zwischen den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts und 1817 hielten Kriegsereignisse und Ernteausfälle infolge von Mißernten die Getreidepreise auf einem hohen Stand. Da die münsterländische Landwirtschaft nur in geringem Maße vom Weltmarkt abhängig war, konnte die Kontinentalsperre keinen nennenswerten Einfluß auf die Getreidepreise gewinnen. Doch wurde der noch immer weitgehend von regionalen Bedingungen abhängige westfälische Agrarmarkt durch die wachsende Integration in den preußischen Staat und den Ausbau der Verkehrswege seit Beginn des 19. Jahrhunderts partiell auch von den Ernteergebnissen und den Absatzbedingungen in anderen preußischen und umliegenden nichtpreußischen Agrarregionen, und damit auch von den Bedingungen des Weltmarktes mit bestimmt. Trotz geringer Exportorientierung und fehlender direkter Bindung an den englischen Getreidemarkt und obwohl von steigenden Emtemengen aufgrund einer Erweiterung und Verbesserung des Getreideanbaus in Westfalen vor 1816/17 nur in sehr engen Grenzen gesprochen werden kann, wurde die westfälische Landwirtschaft z. T. erfaßt von der Agrarkrise der zwanziger Jahre, die durch ein für die einzelnen Agrargebiete noch näher zu untersuchendes Zusammenwirken dreier Faktoren, einer Uberproduktion von Getreide, einem Rückgang des Exports preußischen Getreides nach England aufgrund der Einfuhrbeschränkungen seit 1815 und einer Absatzstockung auf dem Binnenmarkt infolge mangelnder Massenkaufkraft hervorgerufen w u r d e . " Zwischen 1816 und 1824 sanken die Preise stark und erreichten 1824 einen Tiefstand, wie er nominell zuletzt am Ende des 17. Jahrhunderts zu verzeichnen war. Der innerhalb Preußens herrschende Preisdruck auf Agrarprodukte verschärfte sich im Münsterland noch durch die zollfreien Einfuhren aus Holland, während die Produkte der münsterländischen Landwirtschaft durch hohe Zölle vom holländischen Markt femgehalten wurden. Erst 1825/26 erholten sich die Preise wieder, und zwar wegen einiger mittelmäßiger Ernten, der von England ausgehenden Steigerung der Nachfrage, einem Produktionsrückgang vor allem in den ostelbischen Provinzen infolge des Zusammenbruchs einer Vielzahl von Ritter- und Bauerngütern während der Agrarkrise, der Erhöhung der preußischen Getreidezölle und der langsamen Verbesserung der Binnennachfrage. Der Preiseinbruch zwischen 1832 und 1836 ergab sich aus einer Überproduktion an Getreide. Seit Mitte der dreißiger Jahre begann dann ein nur noch von der Teuerungskrise zwischen 1845 und 1847 unterbrochener kontinuierlicher Preisansteig bis in die Mitte der fünfziger Jahre. Der sich daran anschließende Preisrückgang war in Westfalen weniger stark als in den ostelbischen Gebieten - dort wirkte sich die schwindende Differenz zwischen preußischen und englischen Getreidepreisen negativ auf den Export aus,' weil damals die Industrialisierung des Ruhrgebiets vehement einsetzte. Die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts merklich steigenden Getreidepreise weckten das Interesse der Bauern und in Grenzen auch das der Leiter des geistlichen Staates an einer Ausweitung der agrarischen Produktion. Physiokratische Gedanken

216

Schaubild 1: Getreidepreise 1770-1865 (fünfjährig gleitende Durchschnitte)" RT/Malter dmstr.Malter = 5,2 Beri.Scheffel ) 16

12} 10 β ь h

Hafer

16 14 12 10

8 6

A

Roggen

Weizen

-I7?0

ΘΟ

90

1800

10

20

50

40

50

60

?0 Zelt

217

aufnehmend, entwarf der Minister v. Fürstenberg, der in seiner Wirtschaftspolitik noch stark am merkantilistischen Konzept einer Steigerung der exportorientierten gewerblichen Produktion interessiert war, schon 1763 auch ein Programm zur Verbesserung der münsterschen Landwirtschaft. " A m 16. 9.1763 wurde eine Markenteilungsordnung erlassen. Das Ziel war, den Gemeinden Gelegenheit zu verschaffen, durch Verkauf der ihnen zufallenden Markenanteile ihre Schulden aus dem Siebenjährigen Krieg zu tilgen. Die Markengenossen stellten sich aber gegen alle Teilungspläne und ließen nur den verstärktefi Verkauf von Markenzuschlägen zu. Folge davon war eine neue Siedlungsbewegung: Auf ca. 30000 Morgen Markenland entstanden zwischen 1763 und 1769 zahlreiche kleine Neubauernstellen. ^^ In der Frage der Markenteilung kollidierten fortschrittliche und traditionale Vorstellungen von der Landwirtschaft. Für die kleinen und mittleren Bauern waren die Marken von größter Bedeutung für die Viehhaltung- das Vieh fand hier während des größten Teils des Jahres sein Futter - und als Düngerreservoir. Da zu dieser Zeit das Vieh nicht genügend Dünger für das zu bebauende Ackerland lieferte, wurde die oberste Schicht des Markenbodens (Plaggen) als Dünger dem Ackerboden beigegeben. Für die Plaggendüngung von einem Teil Ackerland mußten fünf Teile Markenland zur Verfügung stehen. Konsequenz aus diesem Verfahren waren die das Münsterland auszeichnenden großen, mit der Zeit in starkem Maße zu Heiden herabgesunkenen Markenflächen, die im Niederstift bis zu zwei Drittel, im Oberstift ca. die Hälfte bis ein Drittel des Bodens ausmachten. Für den Bauern mußte die Aufteilung der Markengründe deshalb nicht nur eine Gefährdung seines Viebestandes, sondern möglicherweise ebenfalls eine notwendig werdende Einschränkung seiner Anbauflächen bedeuten. Agrarreformer der Zeit, auf die sich v. Fürstenberg und der münstersche Professor v. Bruchhausen mit seiner an die Bauern gerichteten Aufklärungsschrift stützten, intendierten aber gerade das Gegenteil: Ausweitung der Anbauflächen und vermehrte Getreideproduktion. Der Zirkel, nach dem der Viehbestand das Düngervolumen und dieses wiederum die Anbaufläche bestimmte, der Viebestand aber seinerseits durch die zur Verfügung stehenden Futtermöglichkeiten eng begrenzt war, sollte nach ihrem Konzept durch ein Programm zur Steigerung des Futtermittelvolumens gesprengt werden. Beseitigung der Brache und Einführung einer den Anbau von Futtergewächsen einschließenden Fruchtwechselwirtschaft sollten eine ganzjährige kontinuierliche Stallfütterung und eine Erweiterung des Viebestandes erlauben. Die Marken wurden dadurch von Weide- und Düngeranforderungen freigesetzt, so daß ihre Aufteilung und Kultivierung möglich wurde. Das bessere Markenland konnte über die Zwischenstation der Weide durch künstliche Bewässerung in Wiese umgewandelt, das Vieh und die Anbauflächen damit weiter vermehrt werden.^® Weniger brauchbares Markenland ließ sich als Weideland verwenden; kostspieliger, aber auch einträglicher war eine Aufforstung dieser Landstücke mit der schnell wachsenden Kiefer. Von diesem Meliorisationsprogramm wurde unter den Bedingungen des adliggeistlichen Staates nur wenig realisiert; doch betonte der Graf Merveldt 1795 bei der Diskussion um die Verteilung einer Sondersteuer, daß „das mehrere Aufblühen der Eigenbehörigen, die bessere Cultur ihrer Gründe, der Zuwachs ihrer Höfe durch An218

kämpfung, Zuschläge etc." notorisch sei.^^ Erst mit dem Übergang Münsterlands an Frankreich begannen die Markenteilungen nach dem Gemeinheitsteilungsgesetz von 1821 wurden sie durch eine besondere preußische Behörde, die Generalkommission, fortgesetzt. Die Ergebnisse der landwirtschaftlichen Innovationen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich jenseits der erheblichen Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzfläche an zwei Indikatoren, der Entwicklung der Flächennutzung und der Viehhaltung zwischen 1810 und 1861, besonders deudich ablesen:^^ Tabelle!: Entwicklung der Flächennutzung zwischen 1810 und 1861 im Münsterland (in % der Gesamtfläche)

1810 1828 1861

Ackerland

Wiesen

Weiden

Holzungen

47,2 36,9 42,0

4,6 5,7 7,0

5,2 10,9 29,5

6,7 15,0 18,3

Heide u. Moor Verschiedenes

_

36,1 29,9 0,2

1,6 3,0

ТлЬеИеЗ: Entwicklung des Viebestands zwischen 1810und 1861 im Münsterland (auf der Grundlage von vier Kreisen des Reg.Bez.Münster) Viehart

Pferde u. Fohlen Bullen u. Ochsen Kühe Jungvieh Schafe Böcke u. Ziegen Schweine

1810

1843

1861

Zuwachsvon 1 0 0 % (1810) auf.... % ( 1 8 6 1 )

6335 580 14418 6264 8731 1172 8559

22406

26323 3301 58671 34865 46156 7427 48722

415,5 569,1 406,9 556,6 528,6 633,7 569,2

86822 53789 -

39879

Während Heideland und Moorgegenden zunehmend reduziert wurden, nahm der prozentuale Anteil von Wiesen, Weiden und Holzungen stark zu ; die Ausweitung des Ackerlandes folgte den Erfolgen im Weiden- und Wiesenbau sowie in der Viehhaltung.

2. Wandlung der bäuerlich-grundherrlichen Rechtsbeziehungen Die ansteigenden Preise verbesserten die Ertragslage der Bauerngüter, verschärften jedoch den Verteilungskampf zwischen Bauern und Grundherren, die das grundherrliche Verhältnis zur Abschöpfung eines Teils des gesteigerten bäuerlichen Einkommens zu nutzen suchten. Der Streit, der sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zunehmend intensivierte und die grundherrlich-bäuerlichen Bindungen weiter bela219

stete, betraf sowohl die Höhe der ungewissen GefäUe, die der Grundherr zu erhöhen suchte, als auch die real zu leistenden Dienste, die für den Bauern weniger belastend als lästig waren, da sie gerade in der auch für sein Gut arbeitsintensiven Zeit besonders unnachgiebig eingefordert wurden. Daneben gab es Konflikte zwischen den Grundherren und ihren Bauern bzw. Kleinstellenbesitzern als Zeitpächtern von Hovesaatsparzellen und aufgeteilten, im Dreißigjährigen Krieg wüst gewordenen Erben; denn hier nutzte der Grandherr die höheren Getreidepreise zur Erhöhung der Zeitpacht. Wegen überhöhter Sterbfallforderangen, Verschuldung der Bauern ohne Konsens des Grandherrn, z.B. durch Auszahlung zu hoher Brautschätze und Erbabfindungen, Entziehung von Nachlaßgegenständen, Dienstverweigerangen, Verweigerang von Pachtzahlungen etc.^^ kam es häufig zu Prozessen zwischen Bauern und Grandherrn und ebenfalls häufig sprachen die mit bürgerlichen Richtern besetzten weltlichen Gerichte, vor allem der Regierangs- und Hofrat, zugunsten der Bauern Recht.^^ Eine erste Reaktion der adligen Grandherren auf diese Konflikte war die von den Vorderständen initiierte rechdiche Fixierang des grandherrlich-bäuerlichen Rechtsverhältnisses in der Eigentumsordnung von 1770. Diese Eigentumsordnung, die nur subsidiär galt, wenn keine konkreten Verträge zwischen Grandherrn und Bauern über den Streitpunkt vorlagen, sollte den gegebenen Zustand feststellen und größere Rechtssicherheit gewährleisten, schützte aber zunächst einmal den Adel vor einer Minderang seiner Besitzrechte durch Bauern und Gerichte.^® Ob sie in gleichem Maße aber auch den Bauern schützte, ist nicht so sicher. Zwar waren nach dem Erlaß dieser Gesetze den Versuchen der Grandherrn, bei Anstieg der Getreidepreise auf direktem oder indirektem Wege Abgabensteigerangen durchzusetzen, noch engere Grenzen gesetzt als bisher; doch sprechen zwei Sachverhalte zumindest partiell auch für eine Verschlechterang der Lage des Bauern. Zum einen: Die Eigentumsordnung fixierte nur einen Normalzustand des in der Realität sehr stark variierenden Verhältnisses zwischen Grandherrn und Eigenbehörigen, so daß die Bauern, die unter günstigeren Bedingungen lebten als sie die Eigentumsordnung voraussetzte, mit einer Verschlechterang ihrer Situation rechnen mußten. Für die Eigenbehörigen in einer ungünstigeren Lage als der von der Eigentumsordnung vorausgesetzten bestand dagegen die Hoffnung auf eine langsame Verbesserang ihrer Lebensumstände. Zum anderen: Vor 1770 wurde in Streitfällen, bei denen ein schriftlicher Vertrag fehlte, in der Regel auf die Minden-Ravensbergische Eigentumsordnung zurückgegriffen; die nun geltende münstersche Eigentumsordnung erhob aber deutlich strengere Verhältnisse zum Normalzustand als die erstere. So ist eine Verschlechterang der bäuerlichen Lage durch die Eigentumsordnung von 1770 wahrscheinlicher als eine Verbesserang. Erst der Erlaß einer Erbpachtordnung im Jahre 1783, die auf eine Initiative Fürstenbergs zurückging, war staatliche Wohlfahrtspolitik in Anlehnung an das preußische Modell, die darauf abzielte, die unrentable Arbeit persönlich unfreier Bauern sowie die die Leistungsbereitschaft der Bauern stark einschränkenden ungewissen GefäUe zu beseitigen. Das Eigenbehörigkeitsverhältnis sollte in ein Erbpachtsverhältnis umgewandelt werden. Die eigenbehörigen Bauern des Domkapitels wurden in großer Zahl zu Erbpächtern. Doch scheiterte die Reform am Widerstand der adligen Grandherrn, die in ihrem überwiegenden Teil noch kein Verständnis für die ökonomischen 220

Vorteile einer solchen Maßnahme aufbrachten und zudem nicht an einer Einschränkung ihrer Herrschaftsbefugnisse interessiert waren; zum Teil ging der Widerstand auch von den Bauern aus, die den Verlust ihres Anrechts am Hof und der Fürsorgeverpflichtungen des Grundherrn fürchteten.^' Nach 1807 und 1815 wurden von Frankreich bzw. von Preußen durch die Gesetzgebung zur Regulierung der grundherrlich-bäuerlichen Verhältnisse und zur Markenteilung die herrschaftliche und genossenschaftliche Organisation der traditional gebundenen Landwirtschaft zugunsten der Realisierung eines freien ländlichen Güter- und Arbeitsmarktes aufgelöst.

3. Arbeitsverfassung und Besitzorganisation Wegen der seit 1770 wieder stärker fortschreitenden Geldumwandlung der Dienste^® gingen die Grundherrn mehr und mehr dazu über, ihre zumeist wenig umfangreiche Eigenwirtschaft mit Gesinde, in der Nähe wohnenden Hovesaatsköttern und in den Hauptarbeitszeiten noch zusätzlich verpflichteten Tagelöhnern zu betreiben. Beschaffung solcher Arbeitskräfte war angesichts einer stetig anwachsenden unter- und kleinbäuerlichen Schicht kein großes Problem, wenn auch ein Großteil dieser ländlichen Unterschicht gerade in den Hauptarbeitszeiten nach Holland abwanderte und so für zeitweilige Engpässe auf dem internen Arbeitsmarkt sorgte.^' Mit den preußischen Agrargesetzen für die Provinz Westfalen seit 1821 wurden die Dienste bis auf wenige Ausnahmen in Geld umgewandelt und im Laufe des Vormärz zu 3 9 % (Spanndienste) bzw. zu 25 % (Handdienste) abgelöst. Seit der Franzosenzeit war der Gesindezwangdienst aufgehoben. Der adlige Rittergutsbesitzer reduzierte nun die Zahl des nun kostspieligen Gesindes auf ein Mindestmaß und bearbeitete seine Eigenwirtschaft vorwiegend mit Tagelöhnern, deren Bezahlung allerdings flüssiges Geld erforderte. Diese unmittelbar von außen erzwungene Tendenz zur Reduktion des adligen Hauses traf sich mit einer etwas älteren, in die gleiche Richtung wirkenden Intention des Grundherrn: Die realen und die antizipierten Einkommenseinbußen während der Kriegszeiten um 1800, die Eingliederung des adlig-geistlichen Staates in Staaten mit einer fortgeschrittenen Bürokratie, die aus einem fiskalischen Interesse heraus die ökonomischen Privilegien des Adels besonders schnell beseitigt hatte, und die finanziellen Engpässe, die für den Adel daraus entstanden, daß neben Einkommenseinbußen und Steuerbelastungen auch noch die Kreditaufkündigungen vieler Gläubiger traten, hatten als erste Reaktion auf der Seite des adligen Grundherrn das Interesse an Einsparungen aller unnützen Ausgaben geweckt. Das läßt sich z.B. am Umfang der adligen Häuser verfolgen. 1675 wohnten auf dem Hause Hülshoff 105 Personen, 1772 waren es 22 auf dem Gut und 14 im Stadtpalais, 1820 insgesamt nur noch 27. Die Einsparungen betrafen vor allem die Alten, Gebrechlichen, Waisen und Hausarmen sowie das Hauspersonal, das 1820, nach Wegfall des Gesindezwangdienstes, nicht nur verpflegt, sondern auch bezahlt werden mußte.^" Der Grundherr, der sich aus der politischen Sphäre auf Eigenwirtschaft, Haus und Familie zurückgezogen hatte, fand in der Reorganisation seines landwirtschaftlichen 221

Betriebes eine neue, sinnvolle Aufgabe. Schon seine ersten Versuche, sich über die ökonomische Lage seiner Grundherrschaft zu informieren, die ersten Prüfungen der Bücher und Rechnungen, zeigten ihm in den meisten Fällen die Folgen seiner bisher nur sporadischen Einmischung in die ökonomischen Belange der Grundherrschaft: Einen im Schlendrian geführten Betrieb. Folge solcher Prüfungsergebnisse war ein zunehmend größer werdendes Mißtrauen gegenüber dem einst nahezu autonom schaltenden und waltenden Rentmeister, der fortan stärker kontrolliert und enger an die Weisungen des Grundherrn gebunden wurde. Vorwiegendes Mittel der Kontrolle waren die neu eingeführten monatlichen Rechnungen, die nach ebenfalls neu eingerichteten Kassen, in denen erstmals Betrieb, adliger Haushalt und Stadtwohnung sowie die Privatkasse des Grundherrn und seiner Frau als getrennt erschienen. Sie waren von Rentmeistern oder neu eingestellten Gutssekretären zu erstellen. Die Einsparungen innerhalb des Betriebes betrafen vor allem die vielen Nebenbetriebe, deren geringer Nutzen sich aus den neuen, auf Rechenhaftigkeit und Rentabilitätsdenken aufgebauten Kontrollen des Grundherrn ergab.®' Als die Gesindezwangdienste aufgehoben wurden, löste die Mehrzahl der Grundherren die meisten Nebenbetriebe, Mühlen, Brauereien, Brennereien, Bäckereien, Sattlereien etc. völlig auf und kauften die dort hergestellten Produkte fortan auf dem Markt. Nebenbetriebe, die erhalten blieben - das gilt vor allem für Brennereien - suchte man strenger als bisher über einen umfassenden Betriebsplan auf die Wirtschaftsvorgänge in den anderen grundherrlichen Bereichen zu beziehen. Auch das Haus wurde strengen Konsumund Rentabilitätskontrollen unterzogen. Die von den Stammherrn erlassenen Hausordnungen wandelten sich in ihrem Inhalt; die einst dominierenden moralischen Ausführungen traten nun deudich hinter die ökonomischen Anleitungen zurück.®^ Neben der aus steigender Marktorientierung, Umstellung auf Tagelöhnerarbeit und ungewohnter Steuerbelastung sich ergebenden intensivierten Orientierung an Geldeinkommen hat in starkem Maße auch die Bürokratie des französischen und preußischen Staates diese ,Bürokratisierung' der Grundherrschaft erzwungen. Die Beamten forderten als Grundlage der Besteuerung genaue Nachweise der Grundbesitz-, Vermögens- und Einkommensverhältnisse. Wollte der Grundherr einer auf Schätzung beruhenden hohen Besteuerung entgehen, so mußte er sich um lückenlosen Nachweis einer möglichst drückenden ökonomischen Gesamtlage des Besitzes seiner Familie bemühen; auch die Konflikte mit den Bauern erforderten - sollten sie vor Gericht erfolgreich sein - eine genaue Übersicht über die eigenen Archivbestände. Die Rückstände und Schulden der Bauern sowie ausstehende Kapitalien verschiedenster Art konnten nur durch Eintragung in die Hypothekenbücher gesichert werden; dazu mußten sie aber erst einmal bekannt und in Zusammenstellungen leicht zugänglich sein. Bei Erbfällen, besonders bei Vormundschaftsfällen, und Fideikommißbestätigungen bzw. -neugründungen mußten detalliert aufgeschlüsselte Inventare und Gesamtrechnungen den kritisch prüfenden Behörden eingereicht werden. Auch die aus der Ablösungsgesetzgebung folgende schritt- und teilweise Aufhebung der bäuerlichen Verpflichtungen belastete das Rittergut mit neuen Verwaltungsaufgaben. Doch läßt sich dieser Zwang zur Bürokratisierung des Gutsbetriebs auch als eine Art staatlich verordnete Lernverpflichtung auffassen; denn die staatlichen Anforderungen 222

machten die gutswirtschaftlichen Verhältnisse durchschaubar und unterstützten die parallel verlaufenden Versuche einer Neuordnung, die zunächst auf eine möglichst sparsame Wirtschaftsführung ausgerichtet waren, seit dem Ende der zwanziger Jahre aber die sichere Grundlage bildeten für eine Entschuldung des Besitzes, eine expansive Erwerbspolitik und für die Wandlung des größten Teils der Stammherrn, die Kameralwissenschaft studiert hatten und aktive Mitglieder der landwirtschaftlichen Vereine wurden, zu innovativen, den Gutsbetrieb in starkem Maße nach Prinzipien der rationellen Landwirtschaft selbst leitenden Landwirten. Der Übergang zu Meliorationen und rationeller Landwirtschaft steigerte den Bedarf an Arbeitskräften. Hier profitierte der Adel zunächst von der im Vormärz ständig anwachsenden ländlichen Unterschicht, die für ihn ein sicheres Reservoir billiger Arbeitskräfte darstellte. Nach 1850 - inzwischen war auch der Bauer zu arbeitsintensiven Bewirtschaftsungsweisen und Meliorationsmaßnahmen fortgeschritten - stellte sich, infolge der im Ruhrgebiet schnell expandierenden Schwerindustrie, eine Bauer und Adel in gleicher Weise treffende Schrumpfung des Arbeitskräfteangebots und damit einhergehend eine Steigerung der Landarbeiterlöhne ein. Der Adel suchte diese Probleme dadurch zu bewältigen, daß er die Bildung einer Schicht durch Parzellenbesitz seßhafter Landarbeiter begünstigte, die von ihm in den dreißiger und vierziger Jahren vertretene restriktive Ansiedlungspolitik langsam aufgab.®" Die Abwanderung der Landarbeiter in die Industrie konnte auf diese Weise gebremst werden; doch der Lohndruck, der von der angrenzenden Industrieregion ausging, blieb bestehen.

4 . Wandlungen innerhalb des adligen Grundbesitzes Die durchschnittliche Größe der Hovesaaten des Adels wurde 1831 vom Freiherrn v. Stein mit 200-400 Morgen angegeben.®^ Ein Vergleich dieser Angabe mit der Differenzierung der ehemals landtagsfähigen Rittergüter nach ihrer Steuerleistung zeigt, daß mit dieser Durchschnittsangabe sehr wahrscheinlich die Rittergüter mit einem Grundsteuersatz von 100-200 R T erfaßt wurden. Ordnet man das von v. Stein mit 4 ООО Morgen als besonders groß gekennzeichnete Gut Nordkirchen den 3 Rittergütern des Regierungsbezirks Münster mit einem Steueraufkommen über 1 ООО R T zu, so muß es zu dieser Zeit - abweichend von v. Steins Darstellung - eine erhebliche Zahl von Hovesaaten mit einer Größe zwischen 1 ООО und 2 ООО Morgen gegeben haben. Die großen ehemals nicht landtagsfähigen Grundbesitzungen, von denen der Adel ca. 21 % besaß, hatten einen durchschnittlichen Steuersatz von ca. 100-150 RT^®, was in den Kategorien v. Steins einem Grundbesitz ca. 300 Morgen entsprach. Der ehemals stiftsfähige Adel war im Regierungsbezirk Münster zwar größter Grundbesitzer; doch waren die Hovesaaten vieler der ehemaligen Rittergüter entweder gleichgroß oder sogar kleiner als die großen Bauerngüter, und da es im Regierungsbezirk eine breite Schicht von Bauern mit Höfen mittlerer Größe (ca. 75-150 Morgen) gab, sprechen alle Indizien dafür, daß der Adel - wie Hüffer aufgrund nicht näher spezifizierter Quellen für die Zeit um 1826 angab - nachdem die Bauern freie Eigentümer geworden 223

waren - in der Tat nur 6-8 % des Grundeigentums im Regierungsbezirk besaß.'' Der Grundbesitz des Adels war zum überwiegenden Teil schon vor 1800 fideikommissarisch gebunden. Ein geringerer Teil wurde erst nach 1800 Fideikommiß: Schaubild 2: Fideikommißgründungen der untersuchten Adelsfamilien'*

1600

1650

1700

1TS0

Die Jahre zwischen 1807 und 1848 bilden einen Zeitabschnitt, in der die vor 1807 gestifteten Fideikommisse aufgehoben oder in ihrer Qualität umstritten waren:" doch hat diese Unsicherheit - entgegen den lautstarken Prophezeigungen der Stammherren während des gesamten Vormärz, daß der Verlust der Fideikommiß-Bindung den Ruin des Familienbesitzes zur Folge haben werde - nicht zu einer stärkeren Mobilisierung des Rittergutsbesitzes geführt. Die großen Rittergüter blieben auch im 19. Jahrhundert in der Hand des Adels, wenn auch einige zwischen den einzelnen Adelsfamilien wechselten. Für das bürgerliche Kapital wurden die Rittergüter im Regierungsbezirk Münster kein Anlageobjekt; ein freier Bodenmarkt hat sich auf dieser Ebene des Grundbesitzes nicht entwickelt. Dieser Sachverhalt wird an der folgenden Tabelle deudich, die sich auf 131 Rittergüter bezieht, die 1826 aufgrund ihres über 75 RT/Jahr liegenden Steuersatzes als neue Rittergüter das Wahlrecht zum zweiten Stand des Provinziallandtags zugesprochen erhielten:^" Tabelle 4: Mobilität der alten und neuen Rittergüter im Regierungsbezirk Münster 1770-1875

alter Adel alter Adel Bürgerl. u. Nobil. Institutionen

224

1770 absolut % 123 3 5

93,9 2,3 3,8

1825 absolut % 116 13 2

58,5 9,9 1,5

1846 absolut % 119 10 2

90,8 7,6 1,5

1855 absolut % 119 10 2

90,8 7,6 1,5

1875 absolut % 121 8 2

92,4 6,1 1,5

Insgesamt fanden innerhalb dieses Rittergutsbesitzes 43 Wechsel durch Kauf und Verkauf statt, woran 28 Rittergüter (21,4 %) beteiligt waren. 20 Rittergüter (15,3 %) wechselten nur einmal ; 5^weimal, 3 dreimal und eines viermal. 26mal wechselten Rittergüter zwischen Angehörigen des ehemals stiftsfähigen Adels ; elfmal zwischen Adel und Beamten, einmal zwischen einem Adligen und einem Kaufmann; 5 Rittergüter wechselten zwischen Bürgerlichen und Nobilitierten.'*^ Der stiftsfähige Adel hatte 1875 den Besitzstand von 1770 nahezu wieder erreicht; gegenüber dem Stand von 1825 waren 5 Rittergüter zurückgewonnen. Ein Vergleich von 29 verstreut in den Archiven aufgefundenen Angaben über die Hovesaatsgröße einzelner Rittergüter zwichen 1800 und 1830 mit den Besitzgrößenangaben in den um 1880/90 aufgestellten Statistiken zeigt, daß der Adel den Umfang der Hovesaaten im Durchschnitt zwischen 1815/30 und 1880/90 nahezu verdreifacht hat und daß die größte Besitzerweiterung zwischen 1830 und 1860 stattfand."·^ Beide Sachverhalte, Stabihsierung im Rittergutsbesitz und dessen erhebliche umfangmäßige Erweiterung verweisen auf eine planmäßige Besitzwahrungs-Ankaufspolitik des Adels, für die mehrere Ursachen verantwortlich waren. Durch die französische und preußische Agrargesetzgebung und die darauf folgenden Ablösungsvorgänge verlor der Adel, dessen Haupteinkommensquelle bei geringer Eigenwirtschaft die Abgaben der Bauern waren, gegen Entschädigung den größten Teil seines Grundbesitzes, das Bauernland, als dessen Eigentümer er sich fühlte.''^ Seine größte Sorge während des Vormärz galt dem Ausgleich dieses Landverlustes, zu dem der Stammherr zumeist schon durch Familienstiftungen sowie fideikommissarische und testamentarische Bestimmungn verpflichtet war bzw. neu verpflichtet wurde, wie z . B . August v. Korff, dessen Vater 1827 in seinem Testament verordnete: Sollten vormals Eigenbehörige sich loskaufen, so soll der Kaufpreis zum Ankauf von Grundstücken, oder Ablage von Kapitalschulden, überhaupt so verwendet werden, daß durch solchen Loskauf die Substanz des Vermögens nicht deteriorirt wird.""

Zunächst war der Adel aus Herrschaftsinteressen und weil er - in Analogie zum Verfahren in den ostelbischen Provinzen die Ablösung in Land voraussetzend - die hoffnungslose Zersplitterung seines Grundbesitzes in eine Vielzahl von Landstücken, die, entsprechend der Streulage seiner Bauerngüter, über mehrere Kreise, zum Teil sogar über den ganzen Regierungsbezirk verteilt lagen, fürchtete gegen jegliche Ablösung. Doch als die Ablösung unausweichlich schien, sprach er sich dennoch entschieden, wenn auch letztlich ohne Erfolg, für die Landablösung aus, weil er die Ablösungskapitalien ohnehin wieder in Landbesitz anlegen mußte und eine Ausweitung der von Bauerngüter umgebenen Eigenwirtschaften nur in engen Grenzen möglich schien. Doch gab es über die fideikommissarischen und testamentarischen Verpflichtungen hinaus noch zwei weitere, wirksame Motive, die den Adel zum Landkauf drängten: Zum einen hatten 38 % der ehemals landtagsfähigen Rittergüter im Regierungsbezirk Münster 1826 ihre Rittergutsqualität aufgrund eines zu niedrigen Steuersatzes eingebüßt; durch Zukauf von Land bis zu einer Steuerleistung von 75 RT war es aber möglich, dem Gut diese verlorengegangene Qualität zurückzugewinnen. Zum anderen setzten die preußischen Gesetze bei Gründung eines Fideikommisses, die Verhält225 15

Reif, A d e l

nisse in den ostelbischen Provinzen als Maßstab setzend, ein reines Einkommen des Rittergutes von 2500 Talern voraus. Fideikommißgründungen waren nur durch die Erweiterung des Gutsbesitzes möglich, zumal aus dem 18. Jahrhundert überkommene Verschuldung und fortschreitende Ablösung das Einkommen der Güter zusätzlich minderten. Da Geldablösung als Normalform der Ablösung durchgesetzt wurde, eine vom Staat gelenkte Besitzumschichtung großen Ausmaßes zugunsten der Grundherren in den preußischen Westprovinzen ausblieb, stand der Adel unter dem dauernden Zwang, Land zu kaufen."® Die religiöse Barriere und das Interesse an der Erweiterung des eigenen Fideikommiß hielten ihn vom Landkauf in anderen Provinzen ab. Erst als der westfälische Gütermarkt in den fünfziger Jahren immer enger wurde, die Preise immer höher stiegen, erwarb er auch im Rheinland und im katholischen ÖsterreichUngarn Bodenbesitz.'*^ Doch muß festgehalten werden, daß der münstersche Adel, im Unterschied zu seinen Standesgenossen in den anderen Regierungsbezirken Westfalens und zu den Standesherren, erst seit Beginn der dreißiger Jahre, als die Bauern abzulösen begannen, dann aber mit außerordentlicher Heftigkeit kontinuierlich Land aufkaufte. An der ersten großen Grundbesitzmobilisierung im Münsterland hatte er keinen Anteil; denn das aus Eigenwirtschaften von Klöstern, Stiftern und Rittergütern sowie in Zeitpacht vergebenen Parzellen und Bauernhöfen zusammengesetzte Säkularisations- und Domänengut, das beim Übergang des Fürstbistums an Preußen und Frankreich verkauft wurde, erwarben im Münsterland vor allem die Handwerk und Gewerbe treibenden Bewohner der Städte und Wigbolde, die in ihrer Mehrzahl an Parzellenbesitz in der Nähe ihres Wohnsitzes interessiert waren."® Die vermögenden Stadtbürger, zum größten Teil Beamte und Kaufleute, kauften ebenfalls solche Parzellen, Eigenwirtschaften von nahe der Stadt gelegenen Rittergütern und Zeitpachtkolonate. Die anderen Zeitpachtkolonate wurden von ihren Pächtern erworben. Aufs Ganze gesehen war das große Domänen- und Säkularisationsgut zumindest in den Regierungsbezirken Arnsberg und Münster bis zum Ende der zwanziger Jahre nur schwer zu verkaufen."® Im Regierungsbezirk Münster hatten z . B . die Eigenwirtschaften der ehemaligen Klöster oder Stifter Vinnenberg, Freckenhorst, Rengering, Marienfeld, Liesborn, Leeden sowie die Güter Sassenberg, Havichhorst und Enniger um 1825 noch keine Käufer gefunden.^® Eine breite Schicht bürgerlicher Großpächter gab es nicht, der Adel kaufte nicht. Neben den im Adel noch in den vierziger Jahren intensiv diskutierten religiösen und traditional-rechtlichen Vorbehaken haben Kapitalmangel infolge der Konflikte mit den Bauern und der Kriegsauswirkungen, Kreditaufkündigungen der das Säkularisationsgut kaufenden reichen Bürger, neue steuerliche Belastungen, Einkommensverluste infolge der französischen Gesetzgebung und der Agrarkrise der zwanziger Jahre, aber auch ein zunächst die Kaufintentionen zurückdrängendes Interesse an Schuldentilgung zu dieser Abstinenz gegenüber dem Säkularisations- und Domänengut beigetragen. Nur außerordendich reiche Familien wie die v. Landsberg-Velen und v. Merveldt im Münsterland oder die v. Fürstenberg im Arnsbergischen kauften schon seit der Franzosenzeit neue Güter hinzu : doch mieden der Freiherr v. Landsberg-Velen und der Graf Merveldt im Unterschied zu v. Fürstenberg und einem Teil des Paderborner und sauerländischen Adels den Kauf der 226

preisgünstigen Säkularisations- und Domänengüter, obwohl die Staatsschuldscheine, deren Kauf von den französischen Behörden erzwungen worden war und die nach 1815 nur noch 30 % ihres Nennwertes besaßen, auf den Kaufpreis voll angerechnet wurden. ^^ Seit dem Ende der zwanziger Jahre - nachdem die Agrarpreise wieder angestiegen waren und eine neue Stammherrngeneration den Familienbesitz übernommen hatte betrieb der Adel dann eine systematische Besitzerweiterungspolitik, die auch durch den kurzzeitigen Preiseinbruch zwischen 1832 und 1836 nicht mehr unterbrochen wurde. Auf dem Provinziallandtag kämpfte er für gesetzliche Maßnahmen gegen die sogenannten ,,Güterschlächter", die Bauerngüter aufkauften, parzellierten und an Kleinstellenbesitzer sowie heimgewerbetreibende Heuerlinge verkauften, die in ihrem ,Landhunger' bereit waren, außerordentlich hohe Preise zu zahlen." Dem selben Ziel, die von den Angehörigen der ländlichen Unterschicht ausgehende Nachfrage nach Landparzellen einzudämmen, diente auch sein Kampf gegen die Ansiedlungsfreiheit auf dem Lande und für das - trotz aller Versuche, dieses Gesetz für die ganze Provinz verbindlich zu machen - 1836 nur für Paderborn, wo die Verschuldung des Bauern besonders kritisch war, durchgesetzte Verbot an Juden, Land zu erwerben. Auch das Bemühen um eine gleiche Erbteilung ausschließendes Sondererbrecht für die bäuerliche Bevölkerung galt zu einem Teil diesem Ziel; denn dort wo Realteilung vorkam, suchten die Bauernsöhne in der Regel durch Kauf ihren Landanteil zu erweitern. Während so der Adel einerseits - unter dem Vorwand, dem Bauern und dem Staat schädliche Auswüchse des liberalisierten Bodenmarkts zu bekämpfen - über politische Maßnahmen der Nachfrage nach Land und damit den Landpreisen Grenzen zu setzen suchte, hat er selbst die Vorteile des freien Bodenmarktes genutzt, um in erheblichem Umfang, und nahezu um jeden Preis, durch Verschuldung und Kreditmangel der Bauern mobilisiertes Grundeigentum zu erwerben. Zunächst beschritt er den in seiner Situation einfachsten Weg und kaufte hochverschuldete, vom Konkurs bedrohte Bauerngüter auf, obwohl dieses Verhalten aufs Heftigste mit dem von ihm gleichzeitig vertretenen politischen Ziel der Erhaltung eines breiten, ökonomisch gefestigten Bauernstandes kollidierte. Überaus häufig kamen dabei die Subhastationsanträge vom Abgabenrückstände einfordernden Grundherrn selbst. Da die Grundherrn seit 1825 bei Konkursen ein Vorkaufsrecht vor Kaufwilligen nichtbäuerlichen Standes besaßen und die Nachfrage nach Landparzellen durch seine Gesetzesinitiativen stark eingeschränkt war, hatte der Adel zeitweise ein Angebotsmonopol. Die Bauern wurden allerdings in der Regel als Zeitpächter auf dem Gut belassen, so daß die reale Besitzverschiebung nicht unmittelbar, sondern nur an der langsamen Verbreiterung der Zeitpächterschicht erkennbar war. Eine 1835/36 vom Regierungsvizepräsidenten Vahlkampf veranlaßte Erhebung ergab, daß der Adel innerhalb des Regierungsbezirkes Münster schon 49 Bauernhöfe in Zeitpachthöfe verwandelt hatte: 16 davon hatte allein Graf Galen erworben. Darüber hinaus war der Adel an der Zerstückelung von 200 weiteren Bauerngütern mit beteiligt.^^ Vom wirtschaftsliberalen Standpunkt aus gesehen w a r - und so argumentierte auch ein Teil der Provinzialbeamten - gegen diese Entwicklung nichts einzuwenden.^ Die von den liberalen Provin227

ziallandtagsabgeordneten Hüffer, Biederlack, Harkort u.a. gegen den Adel erhobenen Vorwürfe richteten sich deshalb auch vorwiegend gegen den Widerspruch zwischen Handeln und politischen Aussagen zur Notwendigkeit des Bauernschutzes, gegen die Immobilisierung des Bodens durch Vereinigung der angekauften Bauerngüter mit den adeligen Fideikommissen und gegen das Verfahren, durch welches der Besitzwechsel häufig erzwungen wurde.'' Trotz scharfer Angriffe gegen dieses .Bauernlegen' auf dem Provinziallandtag 1836/37, setzte der Adel seine Ankaufspolitik mit unverminderter Intensität fort. Eine zweite, vom Oberlandesgericht Münster und den Untergerichten durchgeführte Untersuchung über das „Verfahren des Westphälischen Adels beim Ankauf der Bauerngüter" im Jahre 1844 ergab, daß die adligen Grundherren „unter der Hand sowohl als bei öffentlichen Subhastationen nicht allein Bauernhöfe, sondern jedes Grundstück, was nur käuflich ist", ankauften. Der Bericht des Land- und Stadtgerichts Oelde betonte zudem das deudiche Bemühen des Adels um Abwehr konkurrierender Kauf Interessenten: Bei allen öffentlichen Verkäufen von Grundgütern ist in der Regel der Meistbietende ein Adlicher: je größer die Besitzung, desto weniger Concurrenz hat der Adel zu befürchten; von ihm gingen daher die früheren Klagen über Parzellierung der Bauernhöfe aus; durch ihn und die Einwirkung der adlichen Landräthe auf die Gemeinde-Vorstände wird die Errichtung neuer Etablissements erschwert.®'

Durch Verkauf von Parzellen könne der Bauer gesunden; diese Möglichkeit sei ihm aber mit der Einschränkung der Ansiedlungsfreiheit genommen. Bis 1835 hatten sich schon 1026 Familien durch Ankauf einer Markenparzelle von durchschnittlich 5,8 Morgen Größe eine neue Existenz zu schaffen gesucht.'^ Parzellierungsverbot, Ansiedlungsgesetzgebung und bäuerhche Erbfolgeordnung verhinderten nach 1835, daß diese Siedlungsbewegung sich ausweitete. Die Kosten dieser adligen Besitzerweiterungspolitik trugen die Bauern. Deren Verschuldung stieg zumindest bis Mitte der dreißiger Jahre an, und zwar wegen der Rückstände und Prozeßkosten aus der Zeit der Kriege und der Wirren um die Abschaffung der Eigenbehörigkeit, wegen der Agrarkrise der zwanziger und der Preiseinbrüche zu Beginn der dreißiger Jahre, wegen der stark gestiegenen staatlichen und kommunalen Steuerlast unter französischer und preußischer Herrschaft bei nur geringfügig reduzierten Abgabelasten an den ehemaligen Grundherrn, und wegen einer Vielzahl von Folgekosten aus der Agrarreform, z . B . für die Katastervermessung, die Gemeinheitsteilung, die Ablösung von Servituten, die Abfindung der Kinder etc. Gleichzeitig wurden sie aber durch die fortschreitende Umwandlung der Abgaben in feste Geldbeträge und die Geldablösung der Dienste und Abgaben von der staatlichen Bürokratie (Generalkommission), aber auch von den geldbedürftigen ehemaligen Grundherrn immer stärker in geldwirtschafdiche Verhältnisse gedrängt, ohne daß der Staat ihnen, wegen der damals sehr kritischen Finanzlage, mit umfassenden Maßnahmen zur Sicherung ihres Kredits zu Hilfe kam oder hohe Einnahmen aus Parzellenverkäufen sie entlasteten. Die Paderborner Tilgungskasse von 1836 blieb eine Ausnahme. Die Folge waren die zahlreichen Verkäufe von Markenland und eine Vielzahl von Konkursen, die den Besitzerweiterungsinteressen des Adels entgegenkamen. 228

Obwohl sich die Einkommenslage der Bauern durch die steigenden Getreidepreise seit der Mitte der dreißiger Jahre deutlich besserte, ist der Adel bis zu Beginn der sechziger Jahre in diesen Aufkäufen zügig vorangeschritten. Clemens II. Carl v. Twickel erwarb allein in den Jahren 1845/46 fünf Kolonate; bei Bertha v. Nagel-Vornholz waren es zwischen 1839 und 1856 25; die Familie v. Merveldt brachte es zwischen 1834 und 1862 auf 24 Kolonate; schon 1844 wurde die Zahl der von dem Grafen Galen aufgekauften Bauernhöfe auf 30 geschätzt. Insgesamt dürfte der Adel bis 1860 ca. 300 Bauerngüter seinem Besitz zugeführt haben. Von den 562 durch Parzellierung aufgelösten Bauerngütern mit einem Gesamtumfang von 55 491 Morgen dürfte er ebenfalls den größten Teil aufgekauft haben.®® Daß es während des Vormärz zu keinem .Bauernlegen' in noch größerem Ausmaß und zu noch stärkeren Spannungen zwischen Bauern und Adel kam, ist vor allem auf die im Münsterland noch 1815 außerordentlich umfangreichen Markenflächen zurückzuführen, die nach 1821, v. a. im fruchtbaren südlichen Münsterland schnell fortschreitend, geteilt wurden. Schon 1835 war im Regierungsbezirk Münster ein großer Teil der Marken aufgeteilt. Die Bauern, denen im Vormärz lange Zeit das Kapital für die kostspielige Kultivierung der heruntergewirtschafteten Markengründe fehlte, kultivierten erst seit den vierziger Jahren Markengründe; vorher neigten sie stärker zu deren Verkauf, um Schulden oder Abgabenrückstände zu tilgen. D i e Markenstücke, die dem Adel bei der Teilung zufielen, waren so unterschiedlich wie die Größe der verschiedenen Marken und die Zahl der Markenberechtigten. Im Kreis Steinfurt, für den der Markenteilungsvorgang genau untersucht ist, überwogen kleinere die großen Marken, und die Anzahl der Berechtigten war außerordendich hoch. Hier erhielten die zumeist als Markenrichter und Erbexen, so nannte sich die erste Klasse der Markenberechtigten, vorrangig behandelten adligen Grundherren Markenstücke zwischen 5 und 100 Morgen; die Anteile der großen Bauern waren nur wenig geringer.®' Andererseits ist aus Einzelfällen bekannt, daß bei Marken, deren N u t z u n g herrschaftlich und nicht genossenschaftlich geregelt war, dem Adel erheblich größere Anteile zufielen. So gewann zwischen 1830 und 1840 das H a u s Stovern des Freiherrn v. Twickel durch Markenteilung einen Landzuwachs von 1300 Morgen, dem der Besitzer durch Kauf noch einmal 1 ООО Morgen Markenland hinzufügte.®" Die adligen Grundherren erwarben von den Bauern meist unmittelbar nach der Markenteilung deren Anteile, und zwar umso mehr, je stärker die Kritik der ö f f e n d i c h keit an dem von ihnen betriebenen Aufkauf der Bauerngüter wurde. Insgesamt gesehen verfuhr der Adel bei seiner Ankaufspolitik zweigleisig: Er suchte durch Bauern- und Markenland seine Eigenwirtschaft zu vergrößern; doch die von seinen Gegnern befürchtete Ausbildung von Latifundien hat e r - schon wegen der begrenzten Möglichkeiten, die der Kredit- und der Gütermarkt boten, aber auch weil ihm dazu die Geldmittel fehlten und eine kritische Öffentlichkeit über seine Ankaufspolitik wachte - nicht ernsthaft angestrebt, wie überhaupt das Motiv des Ausgleichs verlorengegangenen Landbesitzes die Ankaufspolitik mehr bestimmte als das der Besitz- und Gewinnsteigerung. Neben einer vergrößerten, z . T . weithin verpachteten Eigenwirtschaft suchte er gleichzeitig eine Vielzahl von Zeitpächtern zu gewinnen. D i e Umwandlung der einst abhängigen Bauern in Zeitpächter war ein Kompromiß 229

zwischen seinen ökonomischen und politischen Motiven. Die einstige Rentengrandherrschaft sollte in eine Vielzahl von Pachtbeziehungen zu großen und mittleren Pächtern umgewandelt werden. Die Ankaufs- und Arrondierungsbemühungen zielten deshalb zum einen auf eine Vergrößerung der Eigenwirtschaft, zum anderen auf die Bildung größerer und mittlerer Zeitpachthöfe; auf die einträglichere Parzellarverpachtung der aufgekauften Bauernhöfe griffen nur relativ arme Adelsfamilien zurück.®' Geldablösung und Markenteilungen haben dabei eine größere Besitzumschichtung zugunsten des Adels, der auf Landerwerb innerhalb der Provinz Westfalen fixiert blieb, verhindert. In den fünfziger Jahren, als die Ablösungskapitalien infolge der Einrichtung einer Rentenbank plötzlich in großem Umfange anfielen, kam es noch einmal zu einer erheblichen Steigerung der Landkäufe; seit den sechziger Jahren ließ das Kaufinteresse dann langsam nach und der Adel konzentrierte sich nun zunehmend stärker auf die Kultivierung der Markenländereien durch künstliche Düngung, Wiesenbau und Aufforstung.®^ Da nach 1850 auch die großen und mittleren Bauern darin eine Hauptaufgabe ihres Betriebes sahen, kam es auf diesem Gebiet zu einer Interessenidentität mit dem Adel, die durch das Erstarken des gemeinsamen Gegners, der für die Steigerung des Zinssatzes infolge hoher Profite, Knappheit der für die Meliorationen erforderlichen Kredite, Abwanderung der Landarbeiter, fehlende Schutzzölle etc. verantwordichen Industrie, seit den sechziger Jahren sukzessiv umfassender und enger wurde.

5. Einkommen aus Grundbesitz und Ämtern Das Gesamteinkommen der Güter wuchs, wie aus den folgenden für drei Rittergüter der Familie v. Droste-Senden bzw. 6 Rittergüter der Familie v. Landsberg-Velen geltenden Schaubild hervorgeht, nach 1770/80 kontinuierlich (Schaubild 3):®^ Der Anteil des Geldeinkommens am Gesamteinkommen stieg nach 1815 steil an, weil die bäuerlichen Natural- und Pachtabgaben zunächst freiwillig, dann durch die Vermittlung der Generalkommission in langwierigen Verhandlungen sukzessiv in feste Geldbeträge umgewandelt w u r d e n . D i e Nebenbetriebe, die vor 1800 vorwiegend für den Hausgebrauch produzierten, wurden in der Krisenzeit um 1800 zum größten Teil aufgelöst. Erst in den zwanziger Jahren eröffneten einige der weniger vermögenden Adelsfamilien, vor allem die v. Ascheberg und v. Heyden, auf ihren Gütern wieder Brennereien, die auf der Grundlage von Getreide und Kartoffeln - beide Naturalien wurden aus der Eigenwirtschaft bezogen - größere Mengen Branntweins für den Markt produzierten. Für diese Familien wurde die Branntweinbrennerei schnell zu einem gleichwertigen Einkommensfaktor neben der Landwirtschaft. Die meisten der anderen Familien lehnten aber dieses einträgliche Gewerbe als kaufmännisch, händlerisch und nicht standesgemäß ab.®^ Das Standesdenken setzte dem Gewinnmotiv weiter enge Grenzen, und zwar engere als im 18. Jahrhundert, weil man sich im Vormärz von einem neu aufkommenden, reichen Wirtschaftsbürgertum zu distanzieren suchte. 230

Schaubild 3: Gesamteinkommen münsterländischer Rittergüter 1770-1860 RT 1B000

-16000 -14000 12000

10000

8000 6000

4000· ¡

2000·

Angaben 1 fehlen I

in Geld u m g e r e c h n e t e s G e s a m t e i n k o m m e n der D r o s r e - S e n d e n s c h e n Ríttengút-er 1770 -18TO 16000

16000

14000

ESn

12000

lOOl ΘΟΟΟ. 6000

4000

in G e l d u m g e r e c h n e t e s G e s a m t e i n k o m m e n d e r Landsberg-Velensdien Rittergüter I 7 i 0 - 1 8 ? 0

2000

1770

80

90

1800

10

20

30

40

1Θ50

60

70 Z e i t

Im Zeitraum von 1808 bis 1828 unterscheidet sich aber die Einkommensentwicklung der Droste-Sendenschen Rittergüter deutlich von der der Familie v. Landsberg-Velen. Bei der Familie v. Droste-Senden setzen die Aufzeichnungen über das Einkommen um 1808 aus; hier werden die Dienst- und Abgabenverweigerungen der Bauern infolge der unklaren französischen Gesetze über die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Kriegswirren der Anlaß gewesen sein; erst 1827 wurden die Aufzeichnungen fortgesetzt und zwar auf einer um ca. 20 % niedrigeren Ebene als zwischen 1800 und 1808. Für die Verluste waren mit großer, durch die gleichgerichtete Einkommensentwicklung der Landsberg-Velenschen Güter bekräftigter Sicherheit Preiseinbrüche der zwanziger Jahre, eventuell aber auch die Einkommensverluste infolge der französischen Agrargesetzgebung verantwortlich. Diese Vermutung wird allerdings von der Einnahmeentwicklung des Landsberg-Velenschen Rittergutskomplexes zwischen 1808 und 1814 nicht bestätigt. Dagegen wurde vom Adel 1848 ein Einkommensverlust infolge der französischen und preußischen Agrargesetzgebung von ca. 33 % behauptet.®® Diese Angabe scheint zu hoch zu greifen; denn in der Einkommensentwicklung der Landsberg-Velenschen Rittergüter hat die Agrargesetzgebung zwichen 1808 und 1811 keine deutlichen Spuren hinterlassen. Andererseits sind Verluste aufgrund der Gesetzgebung aus anderen Quellen nachzuweisen; denn durch die französischen Gesetze wurden nicht nur die Eingriffs- und Konsensrechte der Grundherren, sondern auch die aus dem Leibeigentum fließenden Abgaben, vor al231

lem der Gesindezwangdienst, der Freikauf und der Sterbfall beseitigt; ebenso auch die zumeist wenig bedeutenden Banngerechtigkeiten und eine Anzahl kleinster Ausgaben, die steuerähnlichen Charakter besaßen.®^ Im sechzigjährigen Durchschnitt machten diese Angaben innerhalb des Landsberg-Velenschen Rittergutskomplexes ca. 6 % des Gesamteinkommens aus. Größer waren wahrscheinlich nur die Verluste derjenigen Familien, die Patrimonialgerichte und Herrlichkeiten besaßen, da hier in ihrem Umfang allerdings nur schwer abschätzbare Verwaltungseinnahmen verloren gingen. Weitere, kurzzeitig schwerwiegendere Verluste ergaben sich für die Grundherren aus den unklaren Bestimmungen der bergischen und französischen Agrargesetze von 1808/09 bzw. 1811, die das Obereigentum des Grundherrn gegen Entschädigung, die persönliche Abhängigkeit des grundherrlichen Bauern, entschädigungslos aufhoben. Ein Teil der Bauern glaubte 1808, alle Abgaben seien entschädigungslos abgeschafft und stellten ihre Leistungen an den Grundherrn völlig ein. Schon 1808 kam es in zahlreichen Fällen, 1811 dann aber allgemein zu einer Verweigerung der Dienste bzw. der Zahlung des Dienstgeldes, da die Bauern diese - energisch unterstützt von bürgerlichen Juristen und Publizisten, v. a. vom Herausgeber des „Westphälischen Anzeigers" Mallinckrodt - als aus der persönlichen Unfreiheit fließend interpretierten, während die Grundherrn, die die Beweispflicht hatten, die Dienste als sachliche, auf dem Gute haftende Verpflichtung auffaßten. Domänenverwaltung und Domkapitel verzichteten auf die Dienste bis zur allgemeinen Klärung des Streitfalles. Der Adel ging jedoch - wenn auch zögernd, denn ein bisweilen durchaus vorkommender Urteilsspruch zugunsten der Bauern hatte in der Regel die Folge, daß auch die vorher noch zahlungswilligen Bauern ihre Leistungen fortan einstellten - in zahlreichen kostspieligen Prozessen gegen die verweigernden Bauern vor.®® Die Gerichte urteilten zwar zumeist zu Gunsten der Grundherrn, denn der französische Staat war ebenfalls Grundherr und konnte wegen der Kriegslasten und der Dotation des neuen napoleonischen Dienstadels mit Domänengut eine Schmälerung seiner Einkünfte nicht zulassen. Doch waren in der Mehrzahl der Fälle noch nicht alle Instanzen durchlaufen, als das französische System zusammenbrach oder aber die Bauern widersetzten sich gemeinsam und mit Gewalt den Versuchen der Behörden, Exekutionen durchzuführen. Mit dem Übergang Münsterlands an Preußen wurden 1814/15 alle schwebenden Prozesse bis zu einer allgemeinen Entscheidung durch Gesetze sistiert. Doch kam es bald zu neuen Prozessen und auch die publizisitischen Auseinandersetzungen flammten bald wieder auf. Dort wo der Adel in den Prozessen erfolgreich gewesen war, ließ er die Rückstände an Diensten, Dienstgeld und Abgaben unter der Rubrik „Rückstände" als Schuld des Bauern ins Hypothekenbuch eintragen. Die Dienstverweigerungen, die zum Teil auch nach 1816 fortdauerten, brachten letztlich den münsterschen Grundherren keine nennenswerten Verluste, weil das erste preußische Ablösungsgesetz am 25. 9. 1820 die Dienstpflicht allgemein als dingliche Last deklarierte und den Bauern im ehemaligen Königreich Frankreich, also auch dem größten Teil der münsterschen Bauern, die Zahlung sämtlicher Rückstände auferlegte.®' Einen spürbaren zeitweiligen Verlust erlitt der Adel durch die im Gesetz von 1811 festgelegte Bestimmung, der Bauer sei befugt, von seinen Prästationen ein Fünftel zu232

rückzubehalten. Der berechtigte Grundherr, der seine Steuerprivilegien verloren hatte, sollte- so wurde argumentiert - damit seinen Anteil am Reinertrag des Bauern, der erst für seinen gesamten Ertrag Steuer zahle und dann die Abgaben an den Grundherrn leiste, versteuern. Diese Regelung w u r d e - von v. Stein als ,,bedeutender N u t zen" für den Grundherrn beurteilt^" - schon am 24. 7. 1814 suspendiert, dann durch das Gesetz von 1820 wieder kurzfristig eingeführt, mit der Suspension dieses Gesetzes aber am 18. 9. 1822 wieder rückgängig gemacht und durch die folgenden Ablösungsgesetze vom 25. 4. 1825 und 13. 7. 1829 endgültig aufgehoben.'^ Alle diese Verluste der Grundherren zusammengefaßt, läßt sich feststellen, daß der vom Adel angegebene Einkommensverlust von 33 % nur für die Zeit zwischen 1811 und 1814 Wahrscheinlichkeit besitzt und zwar nur für die Grundherren, die zugleich ihre Patrimonialgerichtsbarkeiten und Herrlichkeiten verloren; und diese Grundherren erlitten solche Verluste zudem nur dort, wo die Bauern sich strikt an den vom Gesetz erlaubten ^/s-Abzug hielten, was im Fall der Landsberg-Velenschen Rittergüter wenig wahrscheinlich ist. Im übrigen ist für die Zeit nach 1808 ein durchschnittlicher Einkommensverlust zwischen 10 %, bei einfachen Grundherren, und 15 %, bei Grundherrschaften mit Patrimonialgerichtsbarkeit oder Herrlichkeit, anzunehmen. Die französischen und preußischen Agrargesetze lassen sich aber nicht nur unter dem Aspekt des Einkommensverlustes, sondern auch unter dem des Einkommenszuwachses thematisieren ; denn dem Adel fielen im Vormärz, als das Kapital allgemein knapp war, größere Geldmengen aus den Ablösungszahlungen der Bauern zu. Die Ablösegelder kamen vor 1850 allerdings nur zum Teil und in nennenswertem Umfang erst seit Beginn der dreißiger Jahre ein. Die französische Ablösungsgesetzgebung hatte dagegen nur geringen Erfolg; die Zahl der Bauern, die damals ihre H ö f e von grundherrlichen Lasten befreiten, blieb sehr gering. Die Gründe für dieses Verhalten sind noch wenig erforscht. Die Verschuldung der Bauern war 1808 wahrscheinlich noch nicht so drückend, daß sie als Erklärungsgrund ausreicht. Geldknappheit durch Kriegslasten und starke Besteuerung sowie die Antizipation schlechterer Zeiten haben wohl ebenso einer Ablösungsbewegung entgegengestanden, wie die ungünstige Kreditlage, da das geldverleihende Bürgertum zu dieser Zeit in großem Ausmaße Säkularisations- und Domänengut kaufte und die Stiftungen entweder aufgehoben waren oder zur Anlage eines Teils ihrer Gelder in Staatsanleihen gezwungen wurden. Die relativ kurze Zeit französischer Herrschaft, die weit verbreitete Rechtsunsicherheit, das Fehlen einer die Ablösung durchführenden Verwaltung und Uneinigkeit der beteiligten Parteien, begünstigt durch die ungenauen gesetzlichen Bestimmungen, kommen als zusätzliche Gründe hinzu. Nach Erlaß der preußischen Agrargesetze verhinderte die Agrarkrise der zwanziger Jahre ein schnelles Fortschreiten der Ablösung, zum einen weil sich die Verschuldung der Bauern steigerte, zum anderen, weil der Ablösungsbetrag nach den GetreideDurchschnittspreisen der letzten vierzehn Jahre festgesetzt wurde. Selbst die ablösungswilligen Bauern warteten deshalb bis zu Beginn der dreißiger Jahre, um die niedrigen Preise während der Agrarkrise zu ihren Gunsten zu nutzen.'^ Weitere Hinderungsgründe lagen in den zur Ablösung führenden Formalitäten. Das Gesetz von 1820 sah die Ablösung einzelner Abgaben in kleineren Raten vor. Der 233

Adel protestierte heftig gegen diese Zersplitterung, Mobilisierung und Entwertung seines Vemögens; ein Ersatz des Verlorengegangenen durch Landkäufe werde ihm so unmöglich gemacht. Er wünschte, da ihm schon die Ablösung in Land faktisch verweigert werde, gleich über das gesamte Ablösungskapital für alle Abgaben verfügen zu können. Außerdem forderte er auch für sich das Provokationsrecht, welches das Gesetz nur dem Bauern zugestanden hatte.^^ Diese Lösung hätte den Bauern stark verschuldet, die Zahl der Konkurse erhöht und insofern den gleichen Effekt gehabt wie die Landablösung - denn hier hätte der mittlere und kleine Bauer Land zukaufen oder kultivieren, sich infolgedessen stark verschulden müssen - ; zudem hätte der Adel eine noch schärfere Ankaufspolitik betrieben, so daß noch mehr Bauern ,gelegt' worden wären. Die endgültige Ablösung im Gesetz von 1829 gewährte beiden Parteien das Provokationsrecht und sah vor, daß der gesamte Ablösungsbetrag in vier Raten abgetragen werden mußte;'' der jeweils Provozierte hatte das Wahlrecht über die Art der Abfindung. Die Ablösung von Teillasten war erlaubt; auch die Geldrentenablösung war möglich, wurde aber in der Praxis selten gewählt. Der Adel hatte beide Lösungen abgelehnt. Wünschte der Grundherr bei Provokation des Bauern eine Landabfindung, so konnte der auf Ablösung antragende Bauer dieser nur ausweichen, wenn er den gesamten Ablösungsbetrag auf einmal zahlte. Hier liegt ein Grund, warum die Ablösungsbewegung vor 1848 überhaupt stagnierte; denn der Bauer fürchtete eine solche Geldbelastung und der Adel zeigte im großen und ganzen vor 1850 keine große Neigung zur Provokation, zumal in solchem Fall ein verringerter Ablösesatz galt. Erst in den vierziger Jahren - als die relativ hohen Getreidepreise der dreißiger Jahre den Ablösungssatz bestimmten - ist es zum erstenmal zahlenmäßig zu nennenswerten Provokationen der adligen Grundherrn gekommen. Die Bauern lösten vorwiegend kleinere Abgaben ab. Ein weiterer Hinderungsgrund war mit der Regelung der Dienstablösung gegeben; auch hier nahm der Adel eine harte Haltung ein, die v. Stein als ,,überspanntes pekuniäres Interesse"'® scharf tadelte; denn die Vertreter des Adels auf dem Provinziallandtag forderten mit Erfolg die Ablösung der Dienste nach den gegenwärtig geltenden Tagelohnsätzen. Dazu schrieb v. Stein am 8. 2.1829 an August Ferdinand v. Merveldt: Ich wünsche sehr, H e r r v. Ketteier oder Landsberg gingen selbst nach Berlin, um das Interesse der Gutsherren zu vertreten; [durch] Aufhebung der Dienste nach dem wahren Preise der v o m Pflichtigen zu leistenden Arbeit, ist die Aufhebung an eine Bedingung gebunden, deren Erfüllung unmöglich ist. D e r vierspännige Wochendienst kann ohne Übertreibung, wenn ich ihn nach dem Preis eines gemieteten Dienstes [anschlage], auf 104 Taler gerechnet werden. Der Berechtigte erhält 13, 14, 2 0 , 25 Taler dafür, er würde also 75 Taler gewinnen!! Die Verteidigung und Begünstigung eines solchen Antrags übernehme ich n i c h t . ' '

Bis ca. 1850 waren im Regierungsbezirk Münster zwar die Dienste zu 88 % (Spanndienste) bzw. 81 % (Handdienste), die Entschädigungssätze für die Ablösung der anderen Abgaben zu ca. 61 % festgestellt, d.h. als Geldbetrag fixiert; doch real waren erst 25 % der Handdienste, 39 % der Spanndienste und nur 16 % der Auseinandersetzungen über die Abgaben abgeschlossen, waren erst ca. 600000 bis 800000 Tir. in die Verfügung der Grundherren gelangt.'® Als seit dem 2. 3. 1850 die Ablösung über die 234

vom Staat neu eingerichtete Rentenbank abgewickelt wurde - in der Revolutionszeit waren die Ablösungsbedingungen zu Ungunsten des Grundherrn verändert, und zwar auf den zwanzigfachen (bei Provokation des Bauern) bzw. den achtzehnfachen Betrag des jährlich zu leistenden Wertes (bei Provokation des Adels) herabgesetzt worden - flössen dem Adel in den fünfziger Jahren plötzlich und in großem Umfange Ablösungskapitalien z u 7 ' Die Landkäufe des Adels seit Beginn der dreißiger Jahre wurden schon zu einem erheblichen Teil über Ablösungskapitalien finanziert, die vor allem Mitte der dreißiger und Mitte der vierziger Jahre anfielen. Aber Ferdinand Anton V. Merveldt z . B . kaufte zwischen 1834 und 1852 ca. 2000 Morgen Land für ca. 45 ООО Tir. ; an Ablösungskapitalien waren bis dahin ja doch erst ca. 25 ООО Tir. eingekommen. Bertha v. Nagel erwarb zwischen 1839 und 1876 Land im Werte von 77000 Tir. ; insgesamt verbesserte sie die Substanz der Nageischen Güter um I I I ООО Tir. ; an Ablösungskapitalien waren in dieser Zeit nur 45 ООО Tir. eingekommen, davon 39000 Tir. in der Zeit zwischen 1853 und 1856, in der sie zwar mit einem Kolonat, 3 Kotten und 13 Grundstücken verschiedenster Qualität relativ viel, aber doch nur einen Bruchteil der insgesamt erworbenen Grundstücke ankaufte. Die Landkäufe vor 1850 wurden neben den Ablösungskapitalien durch die seit Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre - von einer erneuten Krise 1832/36 unterbrochen - wieder steigenden Gutserträge, Kredite bei den verschiedenen Privatbanken in Münster, vor allem aber durch Holzverkäufe finanziert.®" Seit dem ersten, 1808 erschienen Ablösungsgesetz hatten Adel und Bauern mit großer Hartnäckigkeit und Ausdauer um das Recht am Kolonatsholz gekämpft. Der Adel, der zunächst zwei Drittel dieses Holzes für sich gefordert hatte, bekam durch das Gesetz von 1829 schließlich ein Drittel davon zugesprochen,®' ohne diesen Holzanteil hätte er seine Landkäufe einschränken oder aber eine neue Verschuldung in Kauf nehmen müssen. Ankaufspolitik und Anfall der Ablösungsgelder fielen zeitlich nur partiell, vor allem in der Zeit zwischen 1850 und 1860 zusammen. Ein größeres Maß an Synchronität bestand zwischen dem Anfall der Ablösungskapitalien, der Verengung des Kapitalmarktes für die Landwirtschaft und dem Ubergang zur Kultivierung der Markengründe. Die kostspieligen Aufforstungen der Markengründe seit Mitte der fünfziger Jahre waren dem Adel, der hier einen deutlichen Vorsprung vor den Bauern gewann, nur durch die plötzlich verfügbaren Ablösungskapitalien möglich ; die kapitalintensive Forstwirtschaft auf den Markengründen kam für den Bauern erst gar nicht in Betracht. Aber gerade das schnell wachsende Kiefernholz wurde für die adligen Gutsbesitzer, die hier von der seit 1850 schnell expandierenden, naheliegenden Eisen- und Bergbauindustrie profitierten, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem hervorragenden Einkommensfaktor. Während das Einkommen des Adels aus Grundbesitz nur kurzzeitig, im wesentlichen zwischen 1811 und 1814, stark zurückging, spätestens aber seit Beginn der dreißiger Jahre wieder gleichmäßig anstieg, waren die Einkommenseinbußen auf der Ämterebene im 19. Jahrhundert auch nicht annähernd wieder auszugleichen. Die wenigen Landratsstellen, die von Adelssöhnen angestrebt und nur zum Teil erreicht wurden, brachten diesen bei gestiegenen Lebenshaltungskosten ein Gehalt von ca. 800 bis 1 ООО Tir. Die Gehälter der Offiziere im preußischen Heer unterhalb des Majorsrangs waren außerordendich bescheiden; sie lagen deudich unter dem Einkommen eines 235

Landrats. Die durch die Säkularisation stark geminderten Einkünfte der Kirche ließen ebenfalls hohe Gehälter für Geistliche nicht mehr zu. Hofämter waren als Einkommensquellen ganz verloren. Besonders für die nachgeborenen Söhne hatte der Ämterverlust erhebliche negative Folgen, da sie ihre Lebenshaltung stark einschränken mußten. An Familiengründung war erst - ein standesgemäßer Lebensstil vorausgesetzt- bei einem nahezu unerreichbar hohen Gehalt von 2000 Tir. pro Jahr zu denken.®^ Für den Familienbesitz war der Ämterverlust gleichbedeutend mit Verlusten an stets flüssigen Geldmitteln einerseits, an Zuwachs durch die hohen Nachlaßvermögen der nicht heiratenden Familienangehörigen andererseits. Weitaus stärker als vorher war die Adelsfamilie nach 1803 auf ihr Einkommen aus dem Grundbesitz verwiesen und gerade hier schienen die französischen und preußischen Agrargesetze neue empfindliche Einbußen zu briñgen. Der Verlust der Ämtereinkommen intensivierte das Bestreben des Adels, die Minderung seines Einkommens aus dem Grundbesitz so gering wie möglich zu halten und möglichst bald auch durch Ankauf von Land wieder auszugleichen.

6. Ausgabenstruktur und ökonomische Gesamtlage Der Siebenjährige Krieg brachte vielen Bauern und damit auch den adligen Grundherren Einnahmeverluste. Zudem wurde der Adel zwischen 1756 und 1763 zu einer Vielzahl hoher, durch Kriegslasten notwendig werdender Sondersteuern, sogenannter Kopf- oder Personen- und freie Gründe-Schatzungen herangezogen, die zum Teil nur über Kredite bezahlt werden konnten, so daß seine Verschuldung erheblich zunahm.®^ Doch erst neue Kriegslasten und Kreditaufkündigungen während der Kriegszeiten der neunziger Jahre und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die Erfahrung, daß man nicht mehr so leicht wie im geistlichen Staat Moratorien gegen solche Kreditaufkündigungen erwirken konnte, und schließlich Einnahmeverluste der verschiedensten Art hoben die Gefahren, die in einer starken Verschuldung des Familienbesitzes lagen, deutlich ins Bewußtsein. Seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts betrieben die adligen Grundherrn, die sich zunehmend stärker auf Grundherrschaft, Haus und Familie zurückzogen, nicht nur eine zum Teil rigorose Sparpolitik, sie bemühten sich auch um eine kontinuierlich fortschreitende Entschuldung ihrer Güter. Daß dieser Prozeß nur langsam voranschritt, lag zum einen an einer Vielzahl von direkten und indirekten ordentlichen und außerordentlichen Steuern, die der Adel unter französischer und preußischer Herrschaft zu zahlen hatte; neben den Grund- und Klassensteuern waren das vor allem die Hypotheken-, Fideikommiß- und Katastergebühren sowie der auf 1 % vom Reinertrag festgesetzte, von 1809 rückwirkend zu zahlende Allodifikationszins für die Lehnsgüter.®·* Dazu kamen die dem Adel besonders verhaßten Kommunalabgaben. Zum anderen haben die während der Agrarkrise der zwanziger Jahre sinkenden Einnahmen den Entschuldungsprozeß verlangsamt. Einige Güter, darunter solche, deren Besitzer, wie z. B. der Landrat v. Oer zu Nottbeck, trotz starker Verschuldung, angeregt durch die Diskussion neuer Anbaume236

thoden im landwirtschaftlichen Verein zu Münster und in Zeitschriften, schon früh umfassende Meliorationsprojekte in Angriff genommen hatten, gerieten in dieser Zeit in Konkurs.®^ Doch als am Anfang der dreißiger Jahre die jungen Stammherren mit ihrer Landkaufpolitik begannen, konnten sie sich auf die von ihren Vätern weitgehend entschuldeten Rittergüter stützen. In deudichem Unterschied zur Entwicklung in den ostelbischen Provinzen geriet im Regierungsbezirk Münster zwischen 1835 und 1864 nicht ein einziges der zum Provinziallandtag wahlberechtigten Rittergüter in Konkurs.®® Hierfür ist zum einen die relativ geringe Größe der Eigenwirtschaft und das vom katholischen westfälischen Adel aufgebaute Zeitpachtsystem verantwortlich. Der von Agrarkonjunktur und Arbeitsverfassung ausgehende Druck - Marktrisiko, Kapitalbedarf für Inventar, Löhne, Saatgut etc. - war bei den größeren, geschlossenen ostelbischen Gütern deudich höher als in Westfalen. Als zweiter Grund für diesen Unterschied ist daneben aber das durch familiale und ständische Normen stark begrenzte, der Sicherung des Grundbesitzes Priorität einräumende Gewinnstreben des katholischen westfälischen Adels von erhebhcher Wichtigkeit gewesen. Die Familien- und Erblasten blieben im 19. Jahrhundert auf ihrem niedrigen Stand, obwohl den Familien die einstigen gut dotierten Versorgungsmöglichkeiten für die nachgeborenen Söhne und die nicht heiratenden Töchter genommen waren. Wenn auch gegenüber der Zeit vor 1800 wesentlich reduziert, bildeten die Aufwendungen für die Ausbildung der Söhne unter den Bedingungen stark verringerten Einkommens eine äußerst belastende Ausgabe. Selbst bei Verzicht auf Hofmeister und Diener und sparsamster standesgemäßer Lebensführung an der Universität kostete ein Studienjahr - wie Franz v. Droste-Vischering seiner Schwester Dina 1824 vorrechnete®^ mindestens 600 Tir. Das weniger kostspielige Vorstudium an der Universität Münster war nach deren Auflösung 1818 nicht mehr möglich. Da meist mehrere Söhne der Familie und nun alle mindestens drei Jahre lang studierten, zudem die Gewohnheit einer, wenn auch in Route und Lebensstil, und damit auch in den Kosten veränderten Reise zu Abschluß des Studiums nicht aufgegeben wurde, mußte, selbst bei einer nur kleinen Reise, mit mindestens 3 000-4 ООО Tir. für die Ausbildung eines Sohnes gerechnet werden, dessen Berufskarriere überdies noch sehr unsicher war, und dessen Gehalt zumindest in den ersten Jahren seiner Anstellung noch dringend der Stützung durch die Familie bedurfte. Der Prestigekonsum war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, bis zu dem die Normen einer standesgemäßen adligen Lebensführung ungebrochen galten, weiter die wichtigste Quelle der Verschuldung. Nach 1800 wurde er - in starkem Maße funktionslos geworden - infolge der sich durchsetzenden Sparpolitik zunächst drastisch eingeschränkt. In dem Maße, in dem der Adel seit den dreißiger Jahren seine politischen Ziele über den Hof, vor allem über den Kronprinzen durchzusetzen versuchte, steigerte sich jedoch der adlige Prestigekonsum wieder außerordentlich; da er jedoch auf die wenigen Besuche von Familien des Königshauses in der Provinz beschränkt blieb, konnte er sich nicht zu einer neuen Quelle der Verschuldung entwickeln. Einen anderen, vom ökonomischen Standpunkt aus irrationalen, standesspezifischen Konsumfaktor bildeten die Mittel, die der Adel für karitative und religiöse Zwecke ausgab. Zwischen 1800 und 1850 flössen diese Mittel weniger reichlich als im 18. Jahr237

hundert; nur wenige Familien waren in dieser Zeit wie die v. Merveldt und v. Nagel bereit, erhebliche Mittel für eine Stiftung zugunsten verwahrloster Jugendlicher, für den Bau eines Kranken- und Armenhauses oder einer Kirche auszugeben. Nach 1850 stiegen aber gerade diese Ausgaben wieder erheblich an; nahezu jede Familie strebte nun dahin, eine solche Stiftung oder Anstalt zu fundieren. Nach 1830 wurden die verfügbaren Geldmittel, Erträge, Ablösungskapitalien und erreichbare Kredite - vor allem die münsterschen Privatbanken und die noch bestehenden Stiftungen, zum Teil auch wieder das reiche münstersche Bürgertum waren hier die in ihren Mitteln allerdings begrenzten Geldgeber- in den Zukauf von Grundstücken und Bauernhöfen investiert.®® Erst in zweiter Linie konzentrierte man sich auf Wiesenbau, künstliche Entwässerung und Aufforstung der Heiden. Das blieb auch zunächst so, als nach 1850 der Großteil der Ablösungskapitalien anfiel. Zwischen 1850 und 1860 wurde der Landbesitz noch einmal erheblich durch Zukauf vergrößert.*' Nach 1860 kehrte sich das Verhältnis aber um : Nun wurde zunehmend mehr Kapital in Meliorationsmaßnahmen als in Landkäufe investiert. Da nicht mehr alle eingehenden Ablösungskapitalien im Land anzulegen waren, investierte der Adel, der vorher nur sporadisch in Industrieunternehmungen, z.B. im Eisenbahnbau und in Eisenwerken Geld angelegt hatte, nun auch häufiger größere Summen in den Bergbau. Daneben wurden aber weiterhin - wie aus dem 18. Jahrhundert gewohnt - überschüssige Kapitalien in Staatspapieren angelegt. Um 1860 war die ökonomische Lage des Adels deudich günstiger als um 1770; das erkannte auch ein Zeitgenosse, der 1861 schrieb: Der westfälische Adel ist im allgemeinen begütert, zu einem großen Teil sogar, namentlich in den katholischen Landen sehr reich. Er hat es verstanden, durch eine weise Sparsamkeit, durch eine verständige Bewirtschaftung seiner herrlichen Güter, ja selbst durch die Beteiligung an der aufblühenden Industrie . . . in den letzten Jahrzehnten seine Einkünfte bedeutend zu vergrößern und sich gesicherte Zustände zu s c h a f f e n . "

7. Zusammenfassung Bevölkerungswachstum, verbesserte Absatz- und Gewinnchancen, steigende Marktund Geldorientierung sowie Tendenzen zur Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzfläche und zur Erhöhung der Bodenproduktivität verschärften am Ende des 18. Jahrhunderts den Verteilungskampf zwischen adligen Grundherren und Bauern, führten zu Spannungen, die der geistliche Adelsstaat durch Rechtskodifikation, Frankreich und Preußen durch Auflösung der grundherrlichen Verfassung und Durchsetzung des Individualeigentums am Boden aufzuheben suchten. Aufhebung des Obereigentums am Bauernland, fortschreitende Ablösung der Dienste und Verlust der einträglichen Ämter verwiesen den Adel auf die Eigenwirtschaft als sichere, und die nach dem Entschädigungsgrundsatz abzulösenden Abgaben, Dienste und Servitutsrechte als relativ unsichere Einkommensgrundlage. Während er die Eigen238

Wirtschaft nach Rentabilitätsgesichtspunkten organisierte und selbst bewirtschaftete, die Arbeitsverfassung auf freie Lohnarbeit umstellte, den Besitz langsam entschuldete, hat der Adel in der Ablösungsfrage, ohne große Rücksicht auf die Bauern, nach anfänglichem Widerstand gegen Jegliche Form von Ablösung, versucht, die staatlich verordnete Pflicht der Bauern zu Abgaben und Ablösungszahlungen optimal zu seinen Gunsten zu nutzen, und zwar um Geld für Entschuldung und Landkauf zu gewinnen. Während er durch Fideikommißbildung, standesinterne Hilfsmaßnahmen und Kontrolle notwendiger Verkäufe verhinderte, daß die Rittergüter Ware auf einem freien Bodenmarkt wurden - die Besitzstabilität erhöhte sich sogar im Laufe des 19. Jahrhunderts - und darüber hinaus durchsetzte, daß durch politische Maßnahmen die Nachfrage, insbesondere der ländlichen Unterschicht, nach Land und eine bürgerlich-kapitalisitsche Bodenspekulation ausblieben, hat er selbst die Vorteile des freien Bodenmarkts seit den dreißiger Jahren für eine planmäßige Ankaufs- und Besitzerweiterungspolitik auf Kosten von Bauern- und Markenland genutzt, die herkömmliche agrarische Besitzstruktur verändert, seine Eigenwirtschaft erheblich erweitert, die Schicht der an ihn gebundenen bäuerlichen Zeitpächter erheblich verbreitert, den durch Geldablösung verursachten Landverlust wieder ausgeglichen. Einer radikalen Anwendung kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Prinzipien zur Erweiterung des Grundbesitzes setzten weiterwirkende ständisch-patriarchalische Normen und das standespolitische Konzept der notwendigen Erhaltung eines konservativen Bauernstands als Gegengewicht zum Liberalismus aber deutliche Grenzen. Selbständige mittlere und große Bauern bestimmten weiterhin die ländliche Besitzstruktur. Ablösungskonflikte und Bauernlegen steigerten zwar die Spannungen zwischen Adel und Bauern erheblich, doch Vorbildfunktionen als selbstwirtschaftender Landwirt und Loyalitätsbeziehungen zum nur wenig harten adligen Großverpächter - das Gewinnsteigerungsmotiv blieb bei diesem Adel, trotz der Übernahme verschiedener Elemente agrarkapitalistischen Wirtschaftsverhaltens, an familien- und standespolitische Ziele, insbesondere an hoforientierten Prestigekonsum, adlige Caritas und patriarchalische Fürsorge gebunden - sicherten, daß die paternalistischen Beziehungen zum ehemaligen Grundherrn sich nicht völlig auflösten. Der Verlust der Ämtereinnahmen traf den Adel, insbesondere die nachgeborenen Söhne und nicht heiratenden Töchter schwer; denn die Abfindungslasten blieben, wie die Familienlasten insgesamt, nahezu konstant. Dagegen waren die Verluste aufgrund der Bauernregulierung - von zeitlich begrenzten spürbaren Einnahmeeinbußen einmal abgesehen - relativ gering. Im Ganzen sind die Einnahmen aus dem Bodenbesitz seit 1830 - trotz der erheblichen Steuerlasten und obwohl weiterhin die gewerblichen Qualitäten der Eigenwirtschaft gering blieben - kontinuierUch gestiegen, und die gesicherte ökonomische Lage des Adels bildete eine wesentliche Grundlage für die Wiedererringung seiner Führungsposition seit den fünfziger Jahren. Nach 1860 wurden der Übergang zur Melioration und Kultivierung des angekauften Bodens, die Entschärfung der Ablösungskonflikte durch die Einrichtung der Rentenbank und die negativen Auswirkungen des fortschreitenden Industrialisierungsprozesses auf die Landwirtschaft Grundlage für die vom Adel seit langem erhoffte Harmonie zwischen 239

Adel und Bauern auf der Basis gemeinsamer agrarischer Interessen, und zugleich wurde die landwirtschafdiche Vorbildfunktion des Adels durch den Kreditmangel des Bauern bei gleichzeitigem Anfall der Ablösungskapitalien beim Adel auch für die weitere Zukunft gesichert.

D . Verhaltens- und

Bewußtseinswandel

1. Familienstruktur im Wandel

1.1. Wirksamkeit der Familienordnung

vor und nach 1770

Die Famihenordnung im münsterländischen Adel läßt sich als Kalkül zur Bewältigung bestimmter Familien-Umwelt-Probleme auffassen. Ihre grundlegende Funktion, Erhaltung des Grund- und Ämterbesitzes als Basis weiterer Privilegierung und des „splendor familiae" insgesamt ist in den Formeln der Familienurkunden festgehalten. Die aus dem familienpolitischen Konzept abgeleiteten Verhaltensnormen sind schon dargestellt worden. In der Folge sollen durch eine quantifizierende Analyse zwei Fragen beantwortet werden: 1. Haben sich alle Familienmitglieder den ihnen familienpolitisch zugeschriebenen Verhaltensanforderungen unterworfen? 2. In welchem Maße hat sich das familienpolitische Kalkül unter den Bedingungen mäßigen (bis 1770) und stärkeren sozialen Wandels (nach 1770) bewährt? Die zweite Frage zielt auf Funktions- und Wirkungsverluste der adligen Familie im Übergang vom altständischen geistlichen Wahlstaat zum modernen preußischen Staat. Diese können zwar an Hand von Zahlen als wahrscheinlich nachgewiesen und dargestellt werden; da aber ein Großteil familiärer Wirklichkeits- und Wirkungsbereiche, z . B . die Grundlagen und die Intensität der Familiensolidarität, durch Zahlen nicht oder nur äußerst unvollständig erfaßbar sind, müssen die Ergebnisse der quantifizierenden Analyse von Elementen der Familienstruktur notwendig in eine auf qualitativem Quellenmaterial beruhende Darstellung der Familienstruktur des münsterländischen Adels integriert werden. Erst dann wird es möglich sein, zu entscheiden, ob die mit den quantitativen Methoden festgestellten Wirkungsverluste der Familienordnung auch reale Verluste waren oder durch andere, quantitativ nicht erfaßbare neue bzw. modifizierte Mechanismen ersetzt wurden. Zunächst soll die Wirksamkeit der Heiratsordnung überprüft werden. Deren Fundament war die regionale, vom Auswahlkriterium der Stiftsfähigkeit geleitete Beschränkung des Heiratskreises. Dabei ist es sinnvoll, nach Heiraten der Stammherrn und der nachgeborenen Söhne zu unterscheiden; denn letztere unterlagen, falls sie heirateten, nicht oder zumindest nicht direkt dem in Familienordnungen ausgesprochenen Zwang zur Wahl einer Partnerin aus dem stiftsfähigen Adel. Ein indirekter Zwang, mit ihrer Wahl innerhalb des Heiratskreises zu bleiben, wird für sie davon 240

ausgegangen sein, daß andernfalls ihre Nachkommen von den im Stand gesicherten Ämtern und Pfründen und von der durch Todesfall etc. möglichen Nachfolge in die Stammherrnposition wegen ihrer nicht stiftsfähigen Abkunft ausgeschlossen wurden. Es ergibt sich folgendes Bild: Tabelle 1: Eheliche Partnerwahl - der regionale Heiratskreis Es heiraten

Zahl der Heiraten (I.Ehe)

Heiratsdatum

1720-69' 1770-1819 1820-69

Stammnachmsges. herm geborene Söhne

25 36 43

2

15 55

27 51 98

bürgerlich in nichtstiftsf. in westf. stiftsf. in mstld. stiftsf. Adel Adel Adel nachStammnach StammnachStammStammnachherm geborene herrn geborene herm geborene herm geborene Söhne Söhne Söhne Söhne

12

14 11

9

11

24

0 6 12

1

3 19

1 6

24

Die Stammherrn heirateten nur in der Umbruchsphase von 1770 bis 1819 in erster Ehe bürgerlich ( 1 7 % ) sonst zumindest adlig. Von 1720 bis 1769 und von 1820 bis 1869 liegt der Anteil der aus dem Heiratskreis, dem westfälischen stiftsfähigen Adel, gewählten Ehepartnerinnen bei 80 % und darüber; in der Umbruchsphase von 1770-1819 dagegen nur bei 60 %. In dieser Phase wurde die Geschlossenheit des Heiratskreises also zeitweise partiell aufgelöst, so daß sich die Heiratschancen der Töchter noch mehr verschlechterten. Im Zeitraum von 1720 bis 1769 wählten drei von fünf münsterländischen Stammherrn ihre Ehepartnerinnen aus den Familien des münsterländischen Adels. In der Zeit von 1820 bis 1869 hat sich diese Tendenz umgekehrt. Jetzt wählten zwei von drei Stammherrn ihre Partnerinnen aus dem stiftsfähigen Adel der weiteren westfälischen Gegenden jenseits des Münsterlandes. Vom engeren, münsterländischen Heiratskreis tritt man nun verstärkt in den weiteren westfälischen über. Die Gründe dafür, warum der Heiratskreis zu eng wurde, lassen sich anhand der quantifizierenden Analyse nicht aufweisen.^ Die heiratenden nachgeborenen Söhne wählten ihre Frauen dagegen nur selten aus dem münsterländischen stiftsfähigen Adel.® Ein relativ geringer Teil - 40 % in der Zeit zwischen 1770 und 1819 und 22 % zwischen 1820 und 1869 - fand seine Partnerinnen im weiteren westfälischen stiftsfähigen Adel. Weitaus am häufigsten aber heirateten sie Frauen aus dem nichtstiftsfähigen niederen Adel oder aus dem Bürgertum. Die Tendenz zu Heiraten mit Frauen minderer Adelsqualität und der starke Anstieg des Anteils von Ehen mit Bürgerlichen auf 45 % in der dritten Phase von 1820 bis 1869 ist vor allem mit der langsam zunehmenden Berufsmobilität der nachgeborenen Söhne zu erklären. Doch kommt als weitere Erklärung hinzu, daß die Väter des stiftsfähigen münsterländischen und westfälischen Adels auch im 19. Jahrhundert noch Eheschließungen ihrer Töchter mit gering ausgestatteten nachgeborenen Söhnen der eigenen Bezugsgruppe negativ gegenüberstanden und sie direkt oder indirekt zu verhindern suchten. In dieser Haltung scheint der münsterländische stiftsfähige Adel konsequenter gewesen zu sein als seine Standesgenossen in den anderen westfälischen Regionen. 241 16

Reif, Adel

Insgesamt ist festzustellen, daß sich hinsichtlich der Erstehen der Stammherrn das Prinzip des regionalen, auf Stiftsfähigkeit aufgebauten Heiratskreises in der ersten und dritten Phase bewährte (nur 16 bzw 19 % abweichende Heiraten), daß aber in der Zeit zwischen 1770 und 1819 ein deutlich höherer Anteil an abweichenden Heiraten der Stammherrn (31 %) nachweisbar ist, d. h. eine in der zweiten Phase aufkommende Tendenz zu flexiblerer Partnerwahl wurde in der dritten Phase wieder zurückgedrängt. Die nachgeborenen Söhne, die nicht Domherrn wurden, heirateten, wenn sie, z. B. durch ein hohes Ämtereinkommen, die ihnen in der Regel zugemutete Ehelosigkeit aufgeben konnten, in starkem Maße nichtstiftsfähige Adlige oder Bürgerliche, so daß ihre Nachkommen aus dem Anrechtssystem der Familie und des Standes zum größten Teil herausfielen. Die Spannung erzeugenden Wirkungen solcher Heiraten, im Sinne einer Erhöhung des Drucks auf die monopolisierten Stellen, wurde auf diese Weise gemildert. Eine Änderung des Heiratsverhaltens ist hier insofern festzustellen, als zwischen 1770 und 1819 noch 53 % der heiratenden nachgeborenen Söhne ihre Frauen aus dem westfälischen stiftsfähigen Adel wählten, in der dritten Phase (1820-1869) aber nur noch 24 %. Die Ausnahmestellung der Phase zwischen 1770 und 1819 läßt sich auch an der Heiratsquote der Kinder insgesamt ablesen: Tabelle 2: Anteil der heiratenden Kinder an der Gesamtkinderzahl Heiratsdacum

1720-1769 1770-1819 1820-1869

Zahl der Kinder über 20 Jahre

III 214 368

davon heiraten absolut %

45 122 188

41 57 51

Zahl der Söhne über 20 Jahre

56 103 205

davon heiraten % absolut

27 61 110

48 59 54

Zahl der Töchter über 20 Jahre

55 III 164

davon heiraten absolut %

18 61 78

33 55 46

Ungefähr die Hälfte der Söhne und ein Drittel der Töchter heirateten in der Zeit zwischen 1720 und 1769. Berücksichtigt man, daß die Stammherrn auf jeden Fall heiraten mußten, dann lag die Heiratsquote der Schwestern höher als die der nachgeborenen Söhne.^ Ab 1770 stieg der Anteil der heiratenden Kinder an der Gesamtkinderzahl dann auffällig an. Diese verstärkte Tendenz zur Heirat wurde in der 1819 beginnenden dritten Phase - allerdings nur unwesentlich - gedämpft, und zwar so, daß ungefähr die Hälfte der Söhne und auch der Töchter heirateten, die andere Hälfte aber weiterhin ehelos blieb. Von der Seite eines fehlenden Angebots an heiratswilligen und fähigen Töchtern war der Heiratskreis also niemals bedroht; denn bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus heiratete jeweils die Hälfte der Kinder nicht. Dabei ist zu beachten, daß die nachgeborenen Söhne in dieser Zeit in wesentlich geringerem Maße als vor 1803 Geistliche wurden: trotz des Wegfalls dieses im Ancien Régime so effektiven Mechanismus zur Verhinderung von Heiraten nachgeborener Söhne, verblieb aber weiterhin die Hälfte aller Söhne ehelos.® Schon dieser hohe Anteil nicht heiratender Kinder unterschied auch im 19. Jahrhundert die Familienstruktur des Adels weiterhin deutlich von denen anderer Berufsgruppen und Schichten, einschließlich der bäuerlichen. 242

Eine wichtige Aufgabe der Stammherrnehe war die Sorge für generative Kontinuität der adhgen Famihe. In einer Zeit hoher KindersterbUchkeit konnte das am besten durch hohe Kinderzahlen geschehen. Infolgedessen ist auch eine hohe durchschnittliche Kinderzahl pro Famihe zu erwarten: Tabelle 3: Kinderzahl der Stammherrn-Ehen' (nur Kinder, die das 20. Lebensjahr erreicht haben) Anzahl der Kinder 0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

Zahl der über Ehen 10 10 insgesamt

Zahl der 2 Ehen mit 1 X Kindern 6

2 1 2

1 4 2

2 3 8 10 4 7

3 4 6

4 1 5

3 2 6

1 2 5

1 4 8

0 3 4

Gebunsdatum zwischen 1720-69 1770-1819 1820-69

6 6 9

28 46 64

Bemerkenswert ist zunächst einmal die außerordentlich große Streubreite in der Kinderzahl. Hierzu haben verschiedene Ursachen beigetragen. Die wichtigste war wohl die im 18. Jahrhundert noch immer erhebliche Kindersterblichkeit. Sie lag in den Familien des münsterländischen Adels bei durchschnittlich 25 bis 35 % (auf der Basis von 23 Ehen) in der Zeit zwischen 1720 und 1769. Für die Phase von 1770 bis 1819 ist keine nennenswerte Veränderung festzustellen (auf der Basis von 28 Ehen).' Erst für den Zeitraum von 1820-1869 läßt sich eine spürbare Minderung der Kindersterblichkeit, die jetzt nur noch 15 bis 20 % beträgt, nachweisen (auf der Basis von 49 Ehen). Diese Entwicklung der Kindersterblichkeit - hinzu kommen noch schätzungsweise 5 bis 8 % Sterblichkeit der Kinder und Jugendlichen bis zu ihrem 20. Lebensjahr® schlägt sich in Tabelle 3 insofern nieder, als der Schweφunkt der Familiengrößen sich von 1720 bis 1869 in Richtung höherer Kinderzahlen verlagert. Das berechtigt zu der Vermutung, daß die Stammherren in ihrer Mehrzahl wohl eine möglichst große Kinderzahl anstrebten und daß eine höhere Kinderzahl in den Stammherrnehen zumeist wohl nur durch Kindersterblichkeit und zeitweise oder endgültig eintretende Unfruchtbarkeit der Frau verhindert wurden.' Die Aussage über eine gleichbleibende Tendenz zu hoher Kinderzahlen in den Stammherrnehen läßt sich aber in Grenzen noch korrigieren, wenn man einige andere Determinanten generativen Verhaltens untersucht: Tabelle 4: Heiratsalter der Stammherrnfrauen (1. Ehe) 10

Heiratsdatum 1720-1769 1770-1819 1820-1869

bis 21 21-24 25 37 18

19 16 33

Heiratsalter 25-29 30-34 11 10 17

3 11

35-39

40

Ehen

durchschn. Heirats alter

2 5

1 3

55 69 87

19 23 26

243

Auffallend ist zunächst der Anteil der Frauen mit relativ hohem Heiratsalter auch in der ersten Phase von 1720-1769." Das durchschnittliche Heiratsalter verlagerte sich aber darüber hinaus noch deudich in den beiden folgenden Phasen: Die Stammherrnfrauen heirateten zunehmend später. Vor allem in der dritten Phase von 1820-1869 verstärkte sich die Tendenz zu höherem Heiratsalter noch einmal erheblich. Dieser Sachverhalt, d. h. sowohl das an sich schon hohe Heiratsalter wie auch dessen Anstieg seit 1770, läßt sich als ein indirekter Mechanismus zur Geburtenbeschränkung deuten, der deshalb so wirkungsvoll war, weil, wie auch damals bekannt, die altersspezifische Fruchtbarkeit der Frau gerade in den Jahren zwischen 20 und 24 außerordentlich hoch war; d. h. in dieser Zeit gebar eine verheiratete Frau durchschnittlich mehr Kinder als in jeder der folgenden gleichgroßen Zeitabschnitte ihrer Fruchtbarkeitsphase. Eine Verschiebung des durchschnittlichen Heiratsalters der Frau um zwei Jahre aus diesem Bereich heraus mußte eine relativ sichere ,Ersparnis' von zwei Kindern bedeuten. ^^ O b die Intention, die Geburten zu beschränken, allein f ü r die Erhöhung des Heiratsalters verantwordich war, oder ob andere Motive hinzukommen, muß an anderer Stelle weiter erörtert werden. Die zweite traditionale Möglichkeit zur Geburtenbeschränkung war die, die Fruchtbarkeitsphase der Frau nicht voll zu nutzen. Hier zeigt sich folgendes Verhalten: Tabelle 5; Alter der Stammherrnfrauen bei der Geburt ihres letzten Kindes (nur solche Frauen, die mindestens 45 Jahre geworden s i n d ) "

Alter der Frau Heiratsdatum 1720-1769 1770-1819 1820-1869

20-29

30-34

35-39

40-41

45-49

Zahl der Ehen insgesamt

4 7 4

3 4 8

8 6 17

6 8 15

2 3 5

23 28 49

Bemerkenswert an dieser Tabelle ist die realtiv große Zahl der Frauen, die in frühen Ehejahren unfruchtbar wurden oder mit dem Gatten keinen sexuellen Verkehr mehr hatten; als solche lassen sich mit genügend großer Sicherheit Frauen ansehen, die vor dem 35. Lebensjahr aufhörten, Kinder zu g e b ä r e n d a s ist knapp ein Drittel der gesamten Ehefrauen. In den drei darauffolgenden Altersphasen ist zwischen 1720 und 1869 keine nennenswerte Veränderung im generativen Verhalten festzustellen. Die Zahlen zeigen, daß ungefähr in einem Drittel der Ehe bewußt, bei einem Alter der Frau von 35 bis 39 Jahren, die Zeugung von Kindern eingestellt wurde; die dem Mann gegebenen und vom Stand zumindest stillschweigend geduldeten Möglichkeiten zu außerehelicher sexueller Betätigung haben dieses Verhalten stabilisiert. Bei einem weiteren guten Drittel der Ehen (vgl. die Fälle in den Altersabschnitten von 40 bis 49 Jahren) wurde dagegen die Fruchtbarkeitsphase der Ehefrau voll ausgeschöpft. Die Vermutung, die bei der Feststellung einer Tendenz zur Heraufsetzung des Heiratsalters der Frauen seit 1770 geäußert wurde, daß nämlich seit 1770 im münsterländischen 244

Adel eine Tendenz zur Herabsetzung der Kinderzahlen über den Mechanismus des Heiratsalters bestand, läßt sich durch eine Untersuchung des Ausmaßes, in dem die Fruchtbarkeitsphase der Ehefrau zur Zeugung von Kindern genutzt wurde, also nur insofern nicht bestätigen, als diese schon bei einem bedeutenden Teil der Familien seit Beginn des 18. Jahrhunderts nicht mehr voll ausgeschöpft worden war. Untersucht man nun diese Ehen, so zeigt sich deutlich, daß es solche sind, in denen mehr Söhne als Töchter geboren waren (74 %); d. h. wenn die generative Kontinuität durch die Geburt mehrerer Söhne gesichert war, verzichteten diese Familien auf weitere Kinder. Es gab wohl - so läßt sich vermuten - zwei Weisen generativen Verhaltens im münsterländischen Adel. Die eine war gekennzeichnet durch frühes Heiratsalter der Frau und volle Ausschöpfung der Fruchtbarkeitsphase; die Folge war eine hohe durchschnittliche Kinderzahl. Die andere dagegen tendierte zu höherem Heiratsalter und stellte die Zeugung von Kindern ein, wenn die Ehefrau die Altersphase von 35 bis 39 Jahren erreicht und vorwiegend Söhne geboren hatte; hier herrschten dann mittlere Kinderzahlen vor. Da die Kindersterblichkeit sich auf beide Gruppen gleichmäßig auswirkte, kommt es zu den beiden Schwerpunkten in der Tabelle 3 : Bei Kinderzahlen um 8 bis 10 und um 4 bis Obwohl also um 1770 die Heraufsetzung des Heiratsalters und die Nichtausschöpfung der vollen Fruchtbarkeitsphase der Frau als Maßnahmen zur Verringerung der Kinderzahl bekannt waren, ist doch bei der nach 1820 stark zurückgegangenen Kleinkindersterblichkeit noch zu fragen, warum die Zahl der Familien mit 10 und mehr Kindern nicht stärker angestiegen ist als in der Tabelle 3 erkennbar wird. Die Frage läßt sich beantworten, wenn man die Geburtenabstände untersucht. Im Zeitraum von 1720 bis 1819 betrug der durchschnittliche Abstand zwischen zwei Geburten ca. 1,5 Jahre (Minimum 1,0; Maximum 1,8; auf der Grundlage von 51 Ehen). Dieser Abstand wurde ab 1820 deutlich größer; er lag nämlich zwischen 1820 und 1849 im Durchschnitt bei 2,1 Jahren (Minimum = 1,7; Maximum = 2,5; auf der Grundlage von 49 Ehen).*' Die Ursache für diese Erhöhung des Geburtenabstandes liegt darin, daß wie aus den Quellen nachweisbar - die Frauen des münsterländischen Adels im Anfang des 19. Jahrhunderts dazu übergingen, ihre Kinder selbst zu stillen. Das Selbststillen aber hatte, zumindest zeitweise, kontrazeptive Wirkungen.*^ Das heraufgesetzte Heiratsalter der Frau sowie deren Ubergang zum Selbststillen haben einem, aufgrund der stark verringerten Kindersterblichkeit möglichen erheblichen Anwachsen der das Erwachsenenalter erreichenden Kinderzahl entgegen gewirkt, diesen Anstieg aber nicht völlig verhindern können. Im Zeitraum von 1820 bis 1869 stieg die durchschnittliche Kinderzahl pro Familie erkennbar an (vgl. Tabelle 3). Die bewußte Einschränkung ehelicher Fruchtbarkeit wurde von der Gegentendenz, der Reduktion der Kindersterblichkeit, übertroffen. Weitere Formen bewußter Geburtenkontrolle sind für die Stammherrnehen nicht wahrscheinlich zu machen.*® Das traditionale generative Verhalten der Stammherrn, die der Gefahr des Aussterbens ihrer Familie, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ständig gegeben war, durch die Zeugung einer möglichst hohen Zahl von Kindern zu begegnen suchten, hat sich unter den neuen Bedingungen stark verringerter Kindersterblichkeit nur langsam und über indirekte Mechanismen - erhöhtes Heiratsalter und Ubergang der Frau zum Selbststillen - ge245

ändert. Ein Teil der Stammherren regulierte die Kinderzahl darüber hinaus durch die Nichtausnutzung der vollen Fruchtbarkeitsphase der Frau. Seit jeher waren im münsterländischen Adel die Kinder ein erheblicher Kostenfaktor für den Stammherrn; da im 19. Jahrhundert mehr Kinder das Erwachsenenalter erreichten als vorher, erhöhten sich auch die Belastungen des Familienbesitzes durch Ausbildungs- und Ausstattungsleistungen. Doch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts suchte man dem Problem der erhöhten Kinderzahlen eher instinktiv, durch Anwendung traditionaler Mittel der Geburtenbeschränkung, als durch bewußte Familienplanung zu begegnen. Für die im 19. Jahrhundert heiratenden nachgeborenen Söhne stellte sich das Problem der Kinder als Kostenfaktor noch in wesenthch stärkerem Maße, da ihre finanziellen Mittel im Vergleich zu denen des Stammherrn äußerst beschränkt waren. Deshalb mußten sie die Kinderzahl über die Ausbildung eines neuen, stärker planenden generativen Verhaltens zu steuern versuchen. Daß ihnen das weitgehend gelungen ist, zeigt folgende Tabelle: Tabelle 6: Kinderzahl der Ehen nachgeborener Söhne Anzahl der Kinder Heiratsdatum 1770-1819^° 1820-1869

Zahl der Ehen mit X Kindern

0

1

2

3

4

5

6

7

Zahl der Ehen insgesamt

3 7

2 11

4 6

1 14

2

1 1

1

1

11 43

Während die Stammherrnfamilie in ihrer stärker geburtenkontrollierenden Variante 4 bis 5, in der weniger kontrollierenden 8 bis 10 Kinder umfaßte, lag die Kinderzahl in den Ehen der nachgeborenen Söhne deutlich niedriger bei 1 bis 3 Kindern; von der hohen Anzahl kinderloser Ehen ist vermutlich zumindest ein Teil ebenfalls auf bewußten Kinderverzicht zurückzuführen. Die Frage nach der Ursache für die Unterschiede gegenüber der Familiengröße der Stammherrn verweist zunächst auf eine Untersuchung der Ehefrauen nachgeborener Söhne: Tabelle 7: Heiratsalter der Frauen nachgeborener Söhne (1. Ehe)^'

Heiratsdatum 1770-1819 1820-1869

bis 21

21-24

4 4

3 11

Heiratsalter 25-29 30-34 2 13

2 10

35-39

40

_

_

3

2

Im Vergleich zu den Stammherrnfrauen werden Übereinstimmungen und Unterschiede sichtbar: einerseits auch hier ansteigendes Heiratsalter, andererseits aber der Unterschied, daß die Frauen der nachgeborenen Söhne deudich in höherem Alter heirateten als die der Stammherrn. Bei einer relativen Gleichheit der Verhältnisse im Bereich der Ehefrauen über 35 Jahre sind vor allem die Unterschiede im mittleren Be246

reich (25-34 Jahre) erheblich: Über die Hälfte der nachgeborenen Söhne heiratete Frauen, die über 25 Jahre alt waren; dagegen wählten die Stammherren nur zu weniger als einem Drittel Frauen dieses Alters. Das ist zum einen darauf zurückzuführen, daß die nachgeborenen Söhne zum Zeitpunkt der Eheschließung selbst älter waren als die Stammherren und zum Teil den Altersunterschied in ihre Überlegungen zur ehelichen Partnerwahl einbezogen, zum anderen aber auch darauf, daß auf diese Weise die Kinderzahl ihrer Ehe niedrig gehalten werden konnte.^^ Für sie war Kinderlosigkeit, da sie nicht unter dem Postulat der Stammerhaltung standen, keine so große Gefahr. Eine von den Stammherrnehen abweichende Entwicklung der Geburtenabstände ist nicht festzustellen, wohl aber ein früheres Aussetzen der Kinderzeugung als in den Stammherrnehen: Tabelle 8: Alter der Frauen nachgeborener Söhne bei der Geburt ihres letzten Kindes (nur Frauen, die über 45 Jahre alt geworden sind)

Heiratsdatum

20-29

30-34

Alter der Frau 35-39

3 4

1 11

1 9

1770-1819 1820-1869

40-44

45-49

_

_

3

3

Der Anteil der Frauen, die in der Altersphase von 30 bis 40 Jahren ihr letztes Kind gebaren, war bei den Ehen nachgeborener Söhne mehr als doppelt so hoch wie bei den Stammherrn; dagegen kehrt sich das Verhältnis in der Altersphase von 40 bis 44 Jahren um: Hier beträgt der Anteil bei den nachgeborenen Söhnen nur weniger als ein Drittel von dem der Stammherrnehen. Für die anderen Altersbereiche sind dagegen keine signifikanten Unterschiede festzustellen. Entlastet vom Zwang, eine Hauptlinie vor dem Aussterben zu bewahren und aufgrund der ungünstigeren Vermögenslage das Kind stärker als Kostenfaktor empfindend, praktizierten die verheirateten nachgeborenen Söhne in wesentlich umfassenderem Maße als die Stammherren eine planvolle Geburtenbeschränkung. Das Heiratsalter des ältesten Sohnes wurde von anderen Überlegungen als dem der Geburtensteuerung bestimmt. Für die zukünftigen Stammherrn waren vor allem Fragen der ökonomischen Belastung des Familienbesitzes, der sozialen Kontrolle des zukünftigen Stammherrn durch die Eltern, die steigende Lebenserwartung der Väter und - nach 1770 zunehmend - auch Probleme der individuellen Partnerwahl, die sich aus einer veränderten Eheauffassung ergaben, bestimmend:^® Tabelle 9: Heiratsalter der Stammherrn (1. Ehe)

Heiratsdatum 1720-1769 1770-1819 1820-1869

bis 21

21-24

1 0 0

4 14 5

Heiratsalter 25-29 30-34 17 15 23

3 4 15

35-39

40

durchschnittl. Heiratsalter

0 5 8

0 2 4

26 28 32

247

Das Heiratsalter der Stammherrn lag deutlich über dem ihrer Frauen.^'' Auch sie heirateten seit der zweiten Phase, besonders aber nach 1820, zunehmend später. In der Umbruchsphase zwischen 1770 und 1819 stiegen die an sich unerwünschten frühen Heiraten vor der mit 25 Jahren erreichten Großjährigkeit stark an; zugleich nahmen aber auch die Heiraten in relativ späten Altersabschnitten zu. Nach 1820 gingen die sehr frühen Heiraten, die auch in der ersten Phase bis 1769 selten vorkamen, wieder zurück, während die Heiraten in höheren Altersbereichen weiter stark zunahmen.^^ Unter dem Gesichtspunkt sozialer Kontrolle ist aus diesen Zahlen ein relativ stabiles, den Intentionen der Familienordnung und der Väter gemäßes Heiratsverhalten, nämlich hohes und weiter steigendes Heiratsalter in allen drei Phasen, zu konstatieren. Nur zwischen 1770 und 1819, also in der Ubergangsphase, wurde dieses Verhalten teilweise aufgegeben. Ein damals stark anwachsendes Bedürfnis der zukünftigen Stammherrn nach Selbständigkeit führte bei vielen von ihnen zu einer früheren Heirat und der Etablierung auf einem Nebengut. Unter ökonomischen Gesichtspunkten läßt sich die Tendenz zu höherem Heiratsalter auf Einkommens- und Vermögenseinbußen der Umbruchszeit und auf anwachsende Familienlasten infolge der nun zahlreicher heiratenden Töchter und nachgeborenen Söhne zurückführen. Zuletzt haben dann auch individuelle Bedürfnisse der Stammherren, vor allem größere Ansprüche an die ihnen gemäße Ehepartnerin und die Durchsetzung einer längeren Verlobungszeit, die Tendenz zu höherem Heiratsalter mit beeinflußt. Die beiden letztgenannten Faktoren können auch als zusätzliche Ursachen für die in gleicher Richtung verlaufende Entwicklung des Heiratsalters der Stammherrnfrauen angeführt werden.^® Bei den nachgeborenen Söhnen zeigt sich eine ähnliche Entwicklung, nur daß bei ihnen das Heiratsalter im Durchschnitt wesentlich höher lag als bei ihrem älteren Bruder. Aber auch hier findet sich ein von den Intentionen der Familienväter abweichendes Heiratsverhalten in der Phase zwischen 1770 und 1819, das dann in der darauff olgenden Phase, ab 1820, wieder zurückgedrängt wurde; insgesamt aber ist eine Verschiebung des Heiratsalters in höhere Altersbereiche nachweisbar: Tabelle 10: Heiratsalter der nachgeborenen Söhne (1. Ehe) Heiratsdatum

1770-1819" 1820-1869

bis 21

21-24

25-29

30-34

35-39

40

durchschnittl. Heiratsalter

1

7 1

5 13

3 19

3 15

4 10

30 37

Die Heiratskontrolle der Familienhäupter über ihre nachgeborenen Söhne verlor zwischen 1770 und 1819 deutlich an Wirkung. Doch stabilisierte sich die Lage nach 1820 wieder. Der hohe Anteil der Zweitsöhne, die nach 1820 erst nach ihrem 30. Lebensjahr heirateten, zeigt an, wie schwer es unter den Bedingungen des preußischen Staates einem Nachgeborenen fiel, sich eine standesgemäße, zur Heirat berechtigende Position zu erkämpfen.^® Die Frage nach Stabilität und Kontinuität von Ehe und Familie im münsterländischen Adel soll im folgenden anhand eines typologisierten Familienzyklus beantwor248

tet werden.^' Dazu ist zunächst auf die Ergebnisse der Tabellen 3 und 6 zurückzugreifen. Die Stammherrnehen umfaßten zum einen Teil 4 bis 5, zum anderen Teil 8 bis 10 Kinder, die über 20 Jahre alt wurden. Das heißt, der erste Familientyp umfaßte 6 bis 7, der zweite 10 bis 12 Familienangehörige. Die Familie der nachgeborenen Söhne bestand dagegen nur aus 2 bis 5 Personen. Im Vergleich zu den Frauen nachgeborener Söhne heirateten die Stammherrnfrauen früher und nutzten ihre Fruchtbarkeitsphase stärker aus; die Schweφunkte für die Geburt des letzten Kindes lagen bei 35 bis 44 Jahren (Stammherrnfrauen) und bei 30 bis 39 Jahren (Frauen nachgeborener Söhne). Die Kindersterblichkeit mit eingerechnet, läßt sich über die altersmäßige Verteilung der Kinder in einer Stammherrnfamilie folgendes aussagen: In einem Alter der Frau von ungefähr 23/25 bis 40 Jahren existierten Kleinkinder in der Familie. Der Ehemann war am Ende dieses Zeitabschnitts ungefähr 45 Jahr alt. Selbst wenn die Frau das 50. Lebensjahr erreicht hatte, waren noch Kinder verschiedener Altersgruppen im Hause, und erst in ihrem 60. bis 65. Lebensjahr wurde das letzte Kinde großjährig. Da die Kinder zumeist schon vor ihrer Großjährigkeit das Haus verließen, konnte für die Frau mit 55 bis 60 Jahren die Phase des Ehelebens ohne Kinder beginnen. Der Mann war zu dieser Zeit dann 58 bis 65 Jahre alt. Das bedeutet: Die Familie durchlief eine lange Phase, in der Kinder im Hause waren; an diese Schloß sich dann - wenn sie überhaupt erreicht wurde - eine relativ kurze Phase des Zusammenlebens des Ehepaares ohne Kinder an. In den Ehen der nachgeborenen Söhne lauten die Vergleichszahlen: 24 bis 27 Jahre als Zeitpunkt des ersten Kindes; bis zum 35. Lebensjahr der Frau waren Kleinkinder, bis zum 50. Lebensjahr Kinder verschiedenen Alters im Haus, aber mit dem wichtigen Unterschied, daß diese hinsichtlich ihres Alters entweder dicht zusammenlagen oder einander in sehr großen Abständen folgten. Der Fall des Ehelebens ohne Kinder trat hier zumeist mit 50 bis 55 Jahren bei der Frau, mit 54 bis 59 Jahren beim Mann ein. Diese Familienzyklen konnten aber durch den Tod eines Elternteils durchbrochen werden. In welchem Maße das geschah, läßt sich anhand der folgenden Lebenserwartungstabellen ablesen: Tabelle 11: Lebenserwartung der Männer"*

Erreichtes Alter

1720--1769 Zahl %0

geboren zwischen: 1770--1819 Zahl %o

1820--1869 Zahl %o

15-19

1

12

6

48

3

30

20-29

4

47

4

32

3

30

30-39

5

59

9

73

12

120

40-49

5

59

15

121

11

110

50-59

25

294

14

113

15

150

60-69

22

258

33

266

20

200

70-79

18

212

28

226

23

230

über 80

5

59

15

121

13

130

85

1000

124

1000

100

1000

insgesamt

249

Von 1000, die das 15. Lebensjahr erreichten und geboren wurden zwischen: wurden X

1720-1769

1770-1819

1820-1869

Uber 20

980

952

970

30

941

920

940

40

882

847

820

50

823

726

710

60

529

613

560

70

271

347

360

80

59

121

130

Jahre ah

Das Durchschnittsalter der Männer lag in der Zeitphase von 1720 bis 1769 bei 59,8 Jahren (auf der Basis von 85 Fällen), 1770 bis 1819 bei 62,2 Jahren (124 Fälle) und 1820-1869 bei61,8 Jahren(108 Fälle). Ausdiesen Zahlen ist eine leichte Steigerung der Lebenserwartung der Männer zwischen 1720 und 1869 abzuleiten. Auffallend ist, daß in der ersten Phase (1720-1769) die Sterblichkeit bis zum Alter von 50 Jahren wesentlich geringer war als in den zwei folgenden Phasen.^' Erst in den Altersklassen vom 50. Lebensjahr an wandelte sich diese Tendenz im weiteren Verlauf der Zeit; Männer, die dieses Alter erreichten, hatten, je später desto mehr, die Möglichkeit, ein hohes Alter zu erreichen. Von der historischen Demographie wird ein allgemeines Absinken der Sterblichkeitsrate für das 18. Jahrhundert angenommen. Die Sterblichkeitsrate sinkt in Frankreich und in den westlichen Ländern Europas entscheidend in der Zeitphase vom Ende des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Nach den oben vorgestellten Zahlen muß die wesentliche Verbesserung der Lebenserwartung der Männer im münsterländischen Adel auch vor 1720 vermutet werden. Hinsichtlich seiner Lebenserwartung unterschied sich der Adel von anderen Bevölkerungsschichten im wesentlichen durch drei Umstände: Durch erhöhte Berufsrisiken, da er, seiner ursprünglichen Bestimmung gemäß, häufig an militärischen Auseinandersetzungen teilnahm; durch seine Freisetzung von Nahrungssorgen und durch die Verfügung über günstige medizinische Versorgungsmöglichkeiten. Von diesen drei Faktoren hat sich der erste am Ende des 17. Jahrhunderts entscheidend gewandelt, da in diese Zeit der bisher an militärischen Laufbahnen orientierte Anteil nachgeborener Söhne des münsterländischen Adels sich stärker den Domkapiteln zuwandte; auf diesen Wandel in der Ämterorientierung wird wohl eine Verbesserung der Lebenserwartung am Ende des 17. Jahrhunderts gefolgt sein. Inwieweit verbesserte Hygiene und medizinische Versorgung die Lebenserwartung des Adels beeinflußt haben, ließ sich anhand der zu dieser Untersuchung herangezogenen Quellen nicht klären.^^ Ähnliche Verhältnisse und Tendenzen wie bei den Männern finden sich bei den verheirateten Frauen (vgl. Tabelle 12) Das Durchschnittsalter der verheirateten Frauen lag für den Zeitraum von 1720 bis 1769 bei 57,1 Jahren (auf der Basis von 26 Fällen), zwischen 1770 und 1819 bei 57,2 Jahren (60 Fälle) und in der Phase von 1820 bis 1869 bei 61,3 Jahren (35 Fälle); also 250

Tabelle 12: Lebenserwartung der verheirateten Frauen^' geboren zwischen; Erreichtes Alter

15-19 20-29 30-39 40-49 50-59 60-69 70-79 80-90 insgesamt

wurden X Jahre ak über 20 30 40 50 60 70 80

Zahl

1820--1869

1770--1819

1720--1769 %0

Zahl

%o

Zahl

%o

1 0 6 4 1 8 6 0

38 0 231 154 38 308 231 0

0 7 8 6 6 14 13 6

0 117 133 100 100 233 217 100

0 1 4 4 5 8 9 4

0 29 114 114 143 228 258 114

26

1000

60

1000

35

1000

Von 1000, die das 15. Lebensjahr erreichten und geboren wurden zwischen: 1720-1769 1770-1819 1820-1869

962 962 731 577 539 231 0

1000 833 750 650 550 317 100

1000 971 857 743 600 372 114

hier in den ersten beiden Phasen eine geringe, in der dritten Phase eine relativ starke Steigerung der Lebenserwartung. Deren Gründe Hegen einmal in einer der Entwicklung bei den Männern analogen allgemeinen Steigerang der Lebenserwartung in den späteren Altersphasen und, für die dritte Phase, in der verringerten MüttersterbUchkeit; denn gerade die Lebenserwartung der Frauen im Altersbereich zwischen 30 und 40 Jahren hat sich hier erheblich verbessert. Frauen, die die Geburtenphase überlebten, hatten eine zunehmend günstigere Lebenserwartung.'·* Verbindet man diese Daten zur Lebenserwartung mit dem oben dargestellten Familienzyklus der Stammherrnehen, so läßt sich folgender grober Orientierangsrahmen aufstellen: Trotz einer relativ hohen durchschnittlichen Ehedauer kamen unvollständige Familien, d. h. Familien, in denen ein Elternteil starb bevor alle Kinder großjährig waren, recht häufig vor (ungefähr 40 bis 45 %); denn nur 53 bis 61 % der Frauen und Männer überlebten das 60. Lebensjahr und erst mit 60 bis 65 Jahren konnte die Mutter, mit 63 bis 70 Jahren der Vater, sicher sein, keine minderjährigen Kinder mehr zu haben. Die Phase des Ehelebens ohne Kinder haben dagegen recht viele Ehepaare (je nach Untersuchungsabschnitt 50 bis 65%) erreicht.^' In 2 6 % (1820-1869) bis 42 % (1720-1769) der Ehen starb die Mutter, bevor ihr letzte Kind 10 Jahre alt war. 251

в eim Vater liegt der entsprechende Durchschnittswert für den Zeitraum von 1720 bis 1869 bei 30 bis 35%. Ein Mittel, den Verlust eines Ehegatten durch Todesfall zu ersetzen und die Familie .komplett' zu erhalten, war die Wiederverheiratung:'® Tabelle 13: Wiederverheiratung des Witwer Datum der I.Heirat

1720-1769 1770-1819 1820-1869

Zahl der Witwer unter 50 Jahre

über 50 Jahre

4 16 12

11 6 15

davon heiraten wieder unter 50 über 50 Jahre Jahre 3 13 12

4 0 1

Abstand zwischen Tod der 1. Frau und Wiederverheiratung (in Jahren) 0,55 1,44 3,40

Starb die Ehefrau, wenn der Mann noch keine 50 Jahre alt war, so erfolgte nahezu in allen Fällen eine Wiederverheiratung der Witwer, so daß die durch den Tod der Gattin verwaisten Kleinkinder eine neue Mutter erhielten, Stiefmütter kamen infolgedessen recht häufig vor. Durch die Wiederverheiratung wurde darüber hinaus ein Bruch in der arbeitsteilig organisierten Güteradministration, der durch den Tod der Hausfrau entstehen konnte, verhindert. Eine Gefährdung dieses Substitutionsmechanismus ist aber darin zu sehen, daß die Abstände zwischen den Wiederverheiratungen ab 1770, verstärkt aber seit 1820 zunehmen. Der Grund hierzu liegt vorwiegend in einem neuen Trauerverhalten, das seinerseits wiederum auf eine neue Eheauffassung zurückzuführen ist.'' Die Heiratsmöglichkeiten waren bei verwitweten Stammherrn an sich außerordentlich groß, weil es im münsterländischen Adel im gesamten Untersuchungszeitraum wesentlich mehr heiratswillige Frauen als Männer mit der Möglichkeit oder Erlaubnis zur Heirat gab.'® Die Abnahme der Wiederverheiratungsquote solcher Stammherrn, die in einem Alter über 50 Jahren Witwer wurden, hat zum einen ökonomische Gründe, denn man scheute zunehmend die durch Wiederverheiratung verdoppelten Heiratskosten innerhalb einer Generation. Dazu brachte es Spannungen mit sich, wenn der Vater den ältesten Sohn und zukünftigen Stammherrn, der zum Teil noch die Abfindungen für seine Geschwister zu zahlen hatte, zusätzlich mit der Versorgung neuer Stiefgeschwister und einer wahrscheinlich noch relativ jungen Witwe belastete. Bei Wiederverheiratung noch in hohem Alter war es sogar möglich, daß bei kurz hintereinander folgendem Tod des Vaters und des auf dem Nebenhaus wohnenden verheirateten zukünftigen Stammherrn das Gut neben den Geschwisterabfindungen mit zwei Witwenversorgungen zur gleichen Zeit belastet wurde. Deshalb tendierten die Familienväter, wenn sie nach ihrem 50. Lebensjahr noch eine Wiederverheiratung erstrebten, zu einer - in der Tabelle 13 nicht erfaßten - Ehe zur linken Hand mit bürgerlichen Frauen.'' Die Wiederverehelichungsquote der Frauen, die vor dem Erreichen des 50. Lebensjahres Witwe wurden, war und blieb gering. Waren sie zu dem Zeitpunkt, als ihre 252

Tabelle 14: Wiederverheiratung der Witwen

Datum der I.Heirat 1720-1769 1770-1819 1820-1869

Zahl der Witwen unter 50 über 50 Jahre Jahre 5 13 13

2 9 16

davon heiraten wieder unter 50 über 50 Jahre Jahre 2 2 1

0 0 0

Witwenschaft eintrat, schon über 50 Jahre alt, so unterblieb die Wiederverheiratung völlig, z u m einen, weil ein wesentliches Ziel der Ehe, die Kinderzeugung, nicht mehr möglich war; zum anderen, weil die Konkurrenz der Vielzahl junger unverheirateter Frauen die Heiratschancen älterer heiratswilliger Witwen sehr minderte. Man kann also davon ausgehen, daß im Gegensatz zu Gewohnheiten in früheren Jahrhunderten, als die Zahl der heiratenden nachgeborenen Söhne noch größer war, die Witwen im 18. und 19. Jahrhundert nur selten wieder heirateten. Stiefväter kamen infolgedessen nur äußerst selten vor. Die Witwe blieb bei ihren zumeist noch minderjährigen Kindern, übernahm deren Vormundschaft und verwaltete die Rittergüter der Familie bis zur Großjährigkeit ihres ältesten Sohnes ; dann bezog sie - wenn dieser heiratete - ihren Witwensitz auf einem ländlichen G u t oder in der Stadt.·*" Längere Zeit unvollständige Familien waren also, wenn sie vorkamen, in der Regel solche ohne Väter. N o c h zwei weitere Strukturelemente der münsterländischen Adelsfamilie im 18. und 19. Jahrhundert sind f ü r den Fortgang der Untersuchung wichtig. Z u m einen interessiert, wie lange der älteste Sohn und zukünftige Stammherr, der entweder verheiratet auf dem Nebenhaus, oder unverheiratet auf dem G u t des Vaters lebte, auf den T o d des Vaters warten mußte. Das Heiratsalter der jungen Stammherrn lag zwischen 26 und 32 Jahren, der Vater war zu dieser Zeit doppelt so alt, also 52 bis 64 Jahre. In diesem Alter waren ungefähr 30 bis 50 % der Väter verstorben; etwa ein Drittel der zukünftigen Stammherrn hatte dann noch 10 Jahre, ein Zehntel über 20 Jahre auf seine Selbständigkeit zu warten, die sie mit 36 bis 42 beziehungsweise mit 46 bis 52 Jahren erreichten. Dieser Sachverhalt ist von Bedeutung sowohl zur Bestimmung des Konfliktpotentials innerhalb der Familie - wenn auch die Nebenhauslösung hier mildernd wirkte - als auch zur Erhellung des Maßes an Selbständigkeitsbewußtsein selbst älterer Stammherrnsöhne. Über ein Drittel derselben verblieben außerordentlich lange in einem Status der Abhängigkeit von ihrem Vater; eine wichtige Determinante f ü r die Erfahrung der ab 1770 sich anbahnenden Krise der Familie und f ü r die Form, in der sie bewältigt wurde. Ein weiterer wesentlicher Faktor zur Bestimmung von Bedingungen, unter denen der soziale Wandel ab 1770 in den Adelsfamilien und im münsterländischen Adel insgesamt aufgenommen und verarbeitet wurde, ist mit der Altersstruktur gegeben. Die 15 bis 29jährigen innerhalb des Standes lassen sich als der zu flexibler Anpassung an sich wandelnde Verhältnisse am ehesten fähige, aber auch am leichtesten zu Protest und abweichendem Verhalten tendierende Teil des Adels auffassen; die 40 bis 90jährigen dagegen als der solche Anpassung eher ablehnende, mit der Familienordnung in 253

Tabelle 15: Altersstruktur des miinsterländischen Adels 1770 und 1830

Alter d. Personen 0-14 15-19 20-29 30-39 40-49 50-59 60-69 70-79 80-89

1770: Zahl der Personen m w Σ

1830: Zahl der Personen m w Σ

29 13 24 17 13 15 2 2 1

31 16 8 8 9 13 0 0 0

60 29 32 25 22 28 2 2 1

39 18 35 38 28 25 22 9 7

31 13 39 25 23 25 6 2 0

70 31 74 63 51 50 28 11 7

29,9 14,5 15,9 12,4 10,9 13,9 1.0 1,0 0,5

18,2 8,1 19,1 16,4 13,2 13,0 7,3 2,9 1,8

116

85

201

221

164

385

100,0

100,0

Prozentuale Zusammensetzg. 1770 1830

stärkerem Maße konforme Teil. Um 1770, am Ausgangspunkt der Untersuchung, lag der Anteil der 15 bis 29jährigen bei 30,3 % der 40 bis 90jährigen bei 26,4 %. Dieses Verhältnis kehrte sich in der Übergangszeit bis 1830 um: Nun standen 27,3 % junge 38,3 % älteren Personen gegenüber. Die älteren Familienmitglieder waren also nicht nur im Besitz einer Vielzahl von ökonomischen und sozialen Sanktionsmöglichkeiten, sondern gewannen im Laufe der Übergangszeit bis 1830 auch zahlenmäßig ein Übergewicht über die jungen. Die Intensität sozialer Kontrollen im Interesse der Familienordnung hat sich also nach 1770, insoweit sie von der Zahl älterer Personen innerhalb des Standes abhing, noch erhöht. Das Heiratsverhalten des Adels wurde in der Familienordnung mit allgemein ökonomischen Intentionen, vor allem solchen zur Reduzierung der Erb- und Heiratslasten verbunden. In welchem Ausmaß sich der eng begrenzte und tendenziell abgeschlossene Heiratsmarkt als Mittel dazu bewährt hat, wird erkennbar, wenn man die Entwicklung der Brautschatz- und Wittumshöhen verfolgt (Schaubild 1 und 2): Für den englischen Adel, der einen relativ offenen, auch Teile des reichen Bürgertums einschließenden Heiratskreis bevorzugute, der auch nur in wesentlich schwächerem Maße als der münsterländische Adel Heiratsverbote für Töchter und nachgeborene Söhne kannte, wurde nachgewiesen, daß Brautschatzhöhe und Witwenrente dem Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage gehorchten: Im 17. Jahrhundert, als die Durchsetzung des Fideikommißprinzips die Zahl der zur Heirat berechtigten Männer drastisch einschränkte, hat ein Überangebot an heiratswilligen Frauen die von den Vätern zu zahlenden Brautschätze in extreme Höhen getrieben, während die vom Ehemann zu zahlenden, im Ehevertrag festgehaltenen Witwenrenten (Wittümer) auf ein Minimum absanken."'^ Die Männer mit Heiratserlaubnis, ihres gesteigerten Markwertes sich bewußt, kalkulierten dementsprechend zunehmend stärker die Ehepartnerwahl unter dem Aspekt finanziellen Erfolgs. Das auf den Erwerb hoher Brautschätze gerichtete Gewinnmotiv bestimmte in starkem Maße ihr Heiratsverhalten. Schaubild 1 zeigt nun im Gegensatz dazu die Entwicklung zu einem geschlossenen 254

Braut^chatzhohe m RT I ^ (ю ao-jahreedundischni+ten) 7000

Schaubild

1: Entwicklung der Brautschätze inn münsterländischen Adel (in Zwanzigjahresdurchschnitten)·* '

6000

5000

4000

3000

2000

1000

i^60 80 1500 20 1440

40

60

80

1600 20

W

60

80

1700 2.0

40

60

80 1800 20

W

—I— 60

80

1900

Jahr

Heiratsmarkt, für den der Angebot-Nachfrage-Mechanismus ausgeschaltet ist und das Gewinnmotiv nur in geringem Maße die Ehepartnerwahl bestimmt. Nach einer Phase niedriger Brautschätze im, ökonomisch gesehen, für den Adel kritischen 14. Jahrhundert, stiegen diese - ungefähr parallel zur Agrarkonjunktur - an, erreichten dann - nur unwesentlich beeinflußt von den Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges - um die Mitte des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt, um dann gleichmäßig-synchron mit der Durchsetzung des Fideikommißprinzips und den verstärkten Abschließungstendenzen im münsterländischen Adel - auf einen Durchschnittswert von 3 ООО bis 4 ООО Reichstaler abzusinken."® Erst nach 1800 stiegen die Brautschätze dann wieder leicht an. Die Entwicklung der Brautschätze entspricht voU der Intention der Familienordnung und der Familienhäupter, die Heiratsausgaben für die Kinder möglichst gering zu halten. Wäre der Angebot-Nachfrage-Mechanismus für diesen adligen Heiratsmarkt bestimmend gewesen, so entspräche der im Schaubild 1 dargestellten Kurve ein knappes Angebot an heiratsfähigen Frauen bei einem Uberangebot an heiratswilligen Männern. Gerade das Gegenteil war aber im 18. Jahrhundert im münsterländischen Adel der Fall. Sowohl das Ansteigen der Brautschätze im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, wie dann auch deren Absinken in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und im 18. Jahrhundert wurde von ein und derselben Heiratssituation begleitet: Einem Überschuß an heiratswilligen Frauen und einem Mangel an Männern mit der Möglichkeit zu heiraten. Die Tendenzwende in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und die Ablösung der Brautschätze von der Konjunktur - Ende des 17. Jahrhunderts entwickelten sich die Brautschätze sogar deudich in einer der Agrarkonjunktur entgegengesetzten Tendenz - ging im wesentlichen auf die Regelung des Heiratsverhaltens der Kinder durch die Familienväter zurück.''"' Diese Deutung kann durch eine Betrachtung der Entwicklung des Wittums noch erhärtet werden: Die Witwenversorgung - soweit sie damals schon in Geld reguliert und nicht in Form der Leibzucht, d. h. durch ein zur lebenslänglichen Nutzung übertragenes Nebengut inklusive verschiedener Zugaben geleistet wurde - stieg seit der Mitte des 17. Jahrhunderts an und behielt diese aufsteigende Tendenz im 18. Jahrhundert, in dessen erster Hälfte die Stadtversorgung der Witwen sich durchzusetzen begann, und auch im 19. Jahrhundert bei. Ein Überangebot an heiratswilligen Frauen, wie es real im münsterländischen Adel immer bestand, hätte nach dem Marktmechanismus den Brautschatz steigern, das Wittum aber herabdrücken müssen."® Mit diesem Angebot Nachfrage-Mechanismus ist eventuell der relativ niedrige Stand der Witwenversorgung vor der Mitte des 17. Jahrhunderts zu erklären. Doch das Ansteigen der Witwenrente während und nach der Abschließungsphase des Adels um 1700 hat andere Gründe. Zwei Entwicklungen wirkten hier zusammen: Die Steigerung der Agrarpreise und - damit verbunden - die steigenden Lebenshaltungskosten in den Städten, in denen die Witwen zunehmend Wohnung nahmen. Die Abfindungen der nachgeborenen Söhne und der nicht heiratenden Töchter entwickelten sich den Brautschätzen analog. Die Abfindungen der nicht heiratenden Töchter wurden in engster Anlehnung an die Brautschatzhöhe festgelegt und unterlagen damit deren Bedingungen. Die nachgeborenen Söhne erhielten in den ersten zwei 256

Schaubild 2: Entwicklung der Wittümer im münsterländischen Adel (in Zwanzigjahresdurchschnitten) Wi'ttumshóhe Γη RT 2400 (Γη 20-3ahr«sdufKiischnrtten) 2200 •

2000

1 8 0 0 •-

1600-

1адо·· 1200·· 1000

eoo 600

'fOO 200

1/1

60

mo

80

1500

20

40

60

80

1600

20

40

60

80

1700

20

40

60

80

1800

20

40

60

80

1900

3ahr

Dritteln des 17. Jahrhunderts - der Übergangszeit vom Güterteilungs- zum Fideikommißprinzip - wesentlich höhere Abfindungen als die Töchter. Die Beträge näherten sich aber während des 18. Jahrhunderts - die sicheren und gut dotierten Dompräbenden ließen es zu·*® - den Brautschätzen und den Abfindungen der nicht heiratenden Töchter an. Nach 1800, als die Versorgungsmöglichkeiten des Pfründenstaates wegfielen, stiegen die Abfindungen für die nachgeborenen Söhne, trotz aller Bemühungen der Familienhäupter, diese weiterhin niedrig zu halten, wieder an. Die quantitative Analyse hat aufgezeigt, daß im großen und ganzen die Intention der Familienordnungen, die ökonomischen Belastungen des Familiengutes durch den Aufbau eines Heirats- und Erbsystems niedrig und kalkulierbar zu halten, im 18. Jahrhundert realisiert worden ist. Lediglich die ansteigenden Witwenversorgungskosten liefen dem Plan entgegen. Daß die Witwer auf Wiederheirat verzichteten, wenn sie über 50 Jahre alt waren oder Ehen zur linken Hand eingingen, zeigt an, daß man diesen Kosten auszuweichen, sie zumindest möglichst niedrig zu halten suchte."^ Da die Lebenserwartung der Männer in den meisten Altersphasen über der der Frauen oder nur geringfügig darunter lag, wird sich die Belastung der Güter durch die Witwenversorgung, soweit sie die Erst-Ehen der Stammherrn betraf, nicht in erwägenswerten Ausmaßen verändert haben. Es lag nahe, daß die Stammherrn eine Familienordnung, die sich dermaßen gut bewährt hatte, weiterhin aufrechtzuerhalten suchten und sich selbst in der Umbruchszeit und während der Reorganisationsbemühungen im Vormärz, als diese nicht mehr so stark wie im Ancien Régime durch den Staat abgestützt wurde, eng an das alte Modell hielten. Erste das Familienvermögen tatsächlich belastende, unkalkulierte Entwicklungen gingen am Ende des 18. Jahrhunderts allerdings von den Abfindungen und Brautschätzen aus. Zum einen heirateten zwischen 1770 und 1819 mehr nachgeborene Söhne als in den Phasen zuvor, und zwar zu einem erheblichen Teil, bevor sie ein zur Familiengründung ausreichendes regelmäßiges Einkommen erlangt hatten. Hier war dann häufig über die Abfindungen hinaus finanzielle Unterstützung erforderlich. Zum anderen überstieg auch die Zahl der heiratenden Schwestern zu dieser Zeit das bisher gewohnte Maß (vgl. Tabelle 2). Dann bewirkte die nach 1800 sich verringernde Kindersterblichkeit, daß - trotz verschiedener Gegenmaßnahmen zur Kontrolle der Geburten - die durchschnittliche Familiengröße im münsterländischen Adel anstieg, so daß - obwohl nach 1819 die frühe Heirat nachgeborener Söhne wieder selten und der gewohnte Anteil von 50 % unverheirateter Töchter wieder hergestellt wurde dennoch, wegen der angestiegenen absoluten Zahl der zu versorgenden heiratenden Schwestern, die Belastung durch Brautschätze stieg."*® Auch der Aufwand an Ausbildungs- und Abfindungskosten für die Söhne erhöhte sich aus derselben Ursache. Da aber die Brautschätze der Töchter im 18. Jahrhundert selten ein Jahreseinkommen, die Abfindung der Söhne selten mehr als zwei Jahreseinkommen eines durchschnittlichen Rittergutes überstiegen, war - selbst bei mehreren Söhnen - nach 1770 zwar eine stärkere zeitweise Verschuldung, aber keine ernste Besitzgefährdung von dieser Ausgabenseite her zu b e f ü r c h t e n , d e n n die meisten Familien besaßen zwei oder mehr Rittergüter. Allerdings konnte es, wenn mehrere Schwestern kurz hintereinander heirateten, zu einer plötzlichen Geldknappheit und zu intensivierter Erfahrung einer 258

langfristig gesehen und für sich allein genommen - im Grunde unproblematischen Verschuldung kommen. Dort, wo ein gefährlich hoher Verschuldungsgrad des Familienbesitzes nachzuweisen ist, sind hierfür vorwiegend andere Ursachen maßgeblich gewesen.'" Die Gefahr des Aussterbens wurde nach 1820, mit wachsender durchschnittlicher Kinderzahl, vor allem aber mit der wachsenden Zahl von Nebenliniengründungen durch nachgeborene Söhne, weitgehend gebannt. Eine Vielzahl nachgeborener Söhne wartete geradezu darauf, durch Heirat einer Erbin eine Nebenlinie ihrer Familie zu gründen oder über den Mechanismus der Adoption durch Ehe, d. h. durch Übernahme des Namens und Wappens der Frau, nach der Heirat den Fortbestand einer anderen Familie zu gewährleisten. Aber auch zur Sicherung der Kontinuität der Hauptlinie blieben sie im 19. Jahrhundert weiterhin wichtig. Allein zwischen 1820 und 1869 ging die Hauptlinie von sechs Familien wegen Unfruchtbarkeit der Stammherrnehe auf die Linie eines nachgeborenen Sohnes über. Das wesentlichste, die weitere Untersuchung leitende Ergebnis der quantitativen Analyse von Familienstruktur, Altersaufbau und Heiratslasten des Adels besteht aber darin, daß seit 1770 die den einzelnen Familienmitgliedern von der Familienordnung vorgeschriebenen Verhaltensformen zunehmend negiert, manchmal völlig aufgegeben wurden. Verletzungen der Familienordnung kamen immer häufiger v o r . ' ' Viele zukünftige Stammherrn heirateten, gemessen an bisherigen Gewohnheiten, zu früh; dazu wählten sie immer häufiger ihre Partnerinnen aus westfälischen Regionen jenseits des Münsterlandes, wenn auch zumeist weiterhin Frauen aus stiftsmäßigem Adel. Besonders auffallend ist aber die Negation des bisher akzeptierten Zustandes der Ehelosigkeit durch die nachgeborenen Söhne und die Töchter.'^ Zwar wurde diese Entwicklung bei den Töchtern später zum Teil wieder zurückgedrängt; bei den Söhnen aber erhielt sich in starkem Maße der Trend zur Gründung einer eigenen Familie. Dadurch entstanden im 19. Jahrhundert eine Vielzahl von Nebenlinien, da viele Söhne, wenn auch erst in relativ hohem Alter, auf der Grundlage von Berufseinkommen und Abfindungskapital ein Rittergut erwerben konnten; es bildete sich aber auch eine Anzahl adliger Familien ohne nennenswerten Grundbesitz. Insgesamt weitete sich der ursprüngliche Landstand des 18. Jahrhunderts durch diese Entwicklung stark aus; jedoch fielen die Nachkommen nachgeborener Söhne wegen der zumeist mangelhaften Adelsqualität ihrer Mutter in erheblichem Maße aus dem Anrechtssystem der Hauptlinie mit seinen strengen Ahnenklauseln heraus. Die sich während des 19. Jahrhunderts durchhaltende Tendenz nachgeborener Söhne zur Gründung eigener Familien barg aber latent die Gefahr, daß diese, nachdem sie das Gebot des Heiratsverzichtes negiert hatten, auch das des Erbverzichts angriffen; zumal dann, wenn ihnen der Staat dabei starken Rückhalt bot. Es gilt in der Folge, die quantitative Analyse von Elementen der Familienstruktur des münsterländischen Adels für die Zeit von 1770 bis 1869, in der das Heiratssystem zeitweise erkennbar in Unordnung geriet, durch die Analyse umfassenden qualitativen Quellenmaterials zu kontrollieren und zu ergänzen, um auf diese Weise die bisher thematisierten Sachverhalte und Prozesse, über die hier gemachten Aussagen, Andeutungen und Vermutungen hinaus, sowohl in ihrer Art, wie in ihren spezifischen Auswirkungen zu erfassen und zu verfolgen. 259

1.2 Statusveränderungen

und abweichendes

Verhalten

nach

1770

a) Funktions- und Autontätsverlust des Vaters O\e Stellung des Vaters veränderte sich infolge des seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts intensivierten gesamtgesellschaftlichen Wandels am stärksten; denn der adlige Familienvater war als Hausherr für die Verbindung zur Außenwelt verantwortlich. Das geminderte Ansehen des Adels als Stand wirkte sich zuerst auf sein Prestige aus. Unterscheidet man im Prozeß des Abbaus väterlicher Autorität langfristige Entwicklungen, die um 1770 schon .unterwegs' waren und sich ab 1770 nur beschleunigten, und solche Entwicklungen, die mit dem Übergang an Preußen bzw. an die französischen Teilstaaten neu eingeleitet wurden, so ist unter dem erstgenannten Gesichtspunkt vor allem auf die unter den Bedingungen des adUg-geistlichen Wahlstaates allerdings nur sehr langsam fortschreitende ,Entstaatlichung' der Partikulargewalten zugunsten der politischen, auf eine weisungsgebundene Beamtenschaft gestützten Zentrale hinzuweisen.^' Im Fürstbistum Münster sind solche allerdings in engen Grenzen verbleibende Erfolge der vom Landesherrn ausgehenden Zentralisierungsbemühungen erst am Ende des 18. Jahrhunderts nachzuweisen. Aber mit der Auflösung der altständischen Korpora und der Grundherrschaft durch die französische bzw. preußische Gesetzgebung verloren die Stammherren dann innerhalb weniger Jahre ihre herrschaftlich fundierten, bisher weitgehend autonom ausgeübten Schutzund Ordnungsaufgaben auf der Ebene des Gesamtstaates und ihrer bäuerlichen Umgebung, und damit eine große Zahl vor- und leitbildhaft ausgeübter Funktionen. Auch die Hausherrschaft als kleinste Einheit des altständisch organisierten Staates war schon vor 1770 durch staatliche Gesindeordnungen zum ersten Mal eingeschränkt worden.®" Doch blieb der Vater in der Regel in Familienfragen weiterhin autonom. Im ökonomischen Bereich hatte der Hausvater einst umfassend und autonom die Versorgung des Hauses gesichert. Durch die fortschreitende Umstellung der Grundherrschaft von Natural- auf Geldwirtschaft, stärkere Marktabhängigkeit des adligen Hauses im Konsumbereich und Schrumpfung selbständiger ökonomischer Aktivitäten (z. B. Lagerung, Weiterverarbeitung, Produktion in vielfältigen Nebenbetrieben) wurde diese Leistung während des 17. und 18. Jahrhunderts einerseits in ihrer Vielfalt zunehmend eingeschränkt, andrerseits immer weniger in konkreten Alltagssituationen erfahrbar.®® Auch die zumindest während der französischen Zeit stark fühlbaren Einnahmerückgänge und Versorgungsschwierigkeiten, wie auch die seit 1770 zunehmenden Dienst- und Zahlungsverweigerungen der Bauern schadeten seinem Ansehen innerhalb der Familie. Mit der Säkularisation gingen dann die zahlreichen bisher von den Vätern verteilten Pfründen zur Versorgung nachgeborener Söhne und unverheirateter Töchter verloren. Mit der Eingliederung in den französischen bzw. preußischen Staat wurde das Münsterland zu einer staatlichen Region unter vielen, so daß der Kontakt des adligen Hausherrn zum König und dessen Haus, und damit die Möglichkeiten des Ämtererwerbs durch Konnexionen, wegen der Entfernung zur Zentrale, der Religionsverschiedenheit und der vom geistlichen Staat unterschiedenen ,politischen Kultur' in 260

Berlin bzw. Paris, sehr geschwächt wurde. Der vom Vater verwaltete und verteilte Machtreichtum, den die Familie im Laufe ihrer Geschichte konstituiert hatte, wurde dadurch stark reduziert. Die repräsentativen Familientraditionen standen in keinem tieferen Bezug zur Tradition des preußischen Staates. Jeder der zahlreichen Konflikte zwischen der weitgehend entmachteten altadeligen Bezugsgruppe und dem König bzw. der staatlichen Bürokratie mußte den Kindern die zwischen dem König als obersten Hausvater und dem adligen Familienvater im Münsterland bestehenden grundlegenden Auffassungsunterschiede stärker ins Bewußtsein bringen. Das Alter der Familie, bis 1803 wichtigstes Wert-, Wahrheits- und Selektionskriterium, am eindrücklichsten symbolisiert durch das Familienarchiv als Hort der beurkundeten Privilegien und Nachweise geltender, weil ,herkömmlicher' Grundsätze sozialer Ordnung, verlor durch Säkularisation und Eingliederung in den modernen preußischen bzw. französischen Staat in erheblichem Maße an Wert. Die Ahnentafeln, früher wirksames Machtmittel des Stammherrn im Kampf um die Sicherung von Lebenschancen für seine Familienmitglieder, hatten kaum noch Bedeutung. Gleichzeitig stieg die Anzahl der von Staat und Gesellschaft bereitgestellten alternativen Selbstverwirklichungschancen, zumindest für die Söhne, durch zahlenmäßige Erweiterung und Ausdifferenzierung von gut bezahlten Berufspositionen. Der Erwerb solcher Positionen war fortschreitend stärker an einen sachlich-abstrakten, person-unabhängigen Leistungsmaßstab gebunden, insofern durch rationales Kalkül und individuelle Leistung erreichbar; dagegen vom wohlwollend vermittelnden Vater in starkem Maße unabhängig, von der Finanzierung eines Studiums einmal abgesehen.®® Das so lange erfolgreich von den Stammherrn praktizierte Besitzwahrungssystem auf der Basis des Erbverzichts der nachfolgenden Söhne und der Töchter drohte mit der Aufhebung des Lehnsverbandes und der Fideikommisse in französischer Zeit und der ,Auslieferung' an die eheliche Gütergemeinschaft und das bürgerliche Erbrecht mit seiner Konstruktion des Pflichtteils für nicht in den Besitz einrückende Kinder zu zerfallen. Durch die unter französischer Herrschaft eingeführte Zivilehe gingen die seit der Gegenreformation dem Hausherrn von der katholischen Kirche bereitgestellten Heiratskontrollen verloren.'^ Aber auch in den engsten Kreis der Hausherrschaft, in die internen Beziehungen der Familienmitglieder zueinander, eine bisher ausschließlich vom Vater herrschaftlich bestimmte Sphäre, drang der Staat in französischer und preußischer Zeit ein. Zwar suchte vor allem der preußische Staat die Hausherrschaft zu erhalten, aber er inteφretierte sie im Allgemeinen Landrecht als eine vom Staat, der die Oberaufsicht behielt, delegierte Funktion, so daß ihm Eingriffe und Kontrollen möglich wurden; dabei ist es charakteristisch für die gespaltene Konzeption des preußischen Allgemeinen Landrechts, daß dort einerseits, z.B. durch poUtische und familiäre Heiratskontrollen, die Macht des Vaters in traditionaler Weise abgesichert, andererseits aber an einigen wichtigen Stellen die Unterstützung der väterlichen Macht durch den Staat zugunsten der freien Wahl der Kinder wieder aufgehoben wurde. Dadurch gewannen die Kinder Möglichkeiten, den ihnen von den Vätern zugeschriebenen Verhaltenserwartungen, d.h. für den münsterländischen Adel vor allem dem Erb-, Heirats- und Вerufwahlverzicht, auszuweichen. 261

Wichtigster Rückhalt im Konflikt der Kinder mit der durch väterliche Sanktionsmittel gestützten Familiendisziplin wurde das Vormundschaftsgericht und das Pupillenkollegium, eine Verwaltungsinstanz innerhalb der .Regierungen'. Eine tendenziell liberale Rechtssprechung und eine nach denselben Prinzipien kontrollierende Verwaltung konnte mit Rekurs auf die allgemein aufklärerischen Textpassagen im Allgemeinen Landrecht eine vom Konsensrecht des Vaters weitgehend freigesetzte Ehepartner- oder Berufwahl gewährleisten. Die Kinder hatten nach dem Allgemeinen Landrecht vom 14. Lebensjahr an das Recht, bei Gericht gegen die Berufsbestimmung des Vaters zu protestieren. Dieses hatte dann nach Neigung und Fähigkeit des Kindes sowie Stand und Vermögen des Vaters zu entscheiden; außerdem stand Kindern vom 14. Lebensjahr an die freie Religionswahl zu.®' Schon vor Erlaß des Allgemeinen Landrechts hatten die preußischen Gerichte die Entwicklung zu einer freien Ehepartnerwahl begünstigt, das Konsensrecht der Eltern und Vormünder eingeengt, wie z. B. ein Prozeß vor Gerichten der Grafschaft Mark kurz nach 1750 zeigt. Eine Großmutter v. Q u a d t - b e i Vollwaisen, wie in diesem Falle, trat an die Stelle des elterlichen das großelterliche Konsensrecht - hatte ihrer Enkelin den Heiratskonsens verweigert, und zwar wegen Religionsverschiedenheit der Braudeute. Das Mündel hatte sich aber dennoch mit einem Freiherrn v. d. Recke verlobt und den Wohnsitz der Tante verlassen. Die Großmutter ging vor Gericht; aber alle Instanzen gaben gegen ihren Antrag den Konsens zu dieser Heirat. Im Urteil des Appellationsgerichtes Kleve vom 24. 7. 1752 hieß es, im Landrecht sei es denen Eltern ausdrücklich anbefohlen, darauf bedacht zu sein, die Kinder, wan sie ihr rechtmäßiges mannbares Alter erreichet, ehelich zu versorgen und durch unnötige Verzögerung nicht zu unzulässigen, heimlichen und sündlichen Ehegelübden zu veranlassen.^"

Ein Heiratsverzicht, wie er im Münsterland zur selben Zeit noch dem Großteil der Kinder von den Familienvätern auferlegt wurde, war auf der Grundlage solcher familienrechtlicher Normen nicht mehr erzwingbar. Die Beteiligung der Eltern an der ehelichen Partnerwahl wurde hier auf einen Punkt, auf die Erteilung des Konsenses kurz vor der Verlobung eingeschränkt; fehlende Übereinstimmung der Religion, des neben der Ahnenzahl wichtigsten Selektionskriteriums in den Erb- und Ehebestimmungen der Familienordnung, wurde als Konsensverweigerungsgrund vom Vormundschaftsgericht völlig übergangen. Mit dem Allgemeinen Landrecht, der Einrichtung des Vormundschaftsgerichts und des Pupillenkollegiums gewann die preußische Beamtenschaft neue und wirksamere Instrumente in ihrem Kampf gegen das Konsensrecht der Familienhäupter. Der partiellen Entmachtung der Hausväter folgt die der Familienväter.®^ Schließlich war auch eine Beeinflussung der verzichtenden Kinder des Adels durch Kontakte mit gleichaltrigen, alternative Verhaltensmöglichkeiten realisierenden Freunden und Bekannten aus reichen bürgerlichen Familien, nicht zu verhindern. Die vor allem im Bürgertum diskutierten und vertretenen Ideen der Individualisierung, Emanzipation und Demokratisierung standen in krassem Gegensatz zu der auf Hierarchie und Verzicht als Grundprinzipien aufgebauten adligen Familienordnung. Neben die Wirkungsminderung der väterlichen Gewalt durch Einwirkungen von außen trat so noch die Gefahr ihrer Auflösung von innen. 262

b) Steigendes Prestige der Frau Das Ansehen der adligen Frau hat sich im Gegensatz zu dem des Mannes langsam aber kontinuierlich gesteigert, sowohl aufgrund von Entwicldungen, deren Ursachen weit zurückreichten, als auch solchen, die erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzten. Der Hinweis auf zwei charakteristische Phänomene soll diese Aussage unterstreichen, bevor einige dieser Entwicklung zugrunde liegenden Ursachen angeführt werden. Die verheiratete Frau im münsterländischen Adel besaß spätestens seit dem Ende des 17. Jahrhunderts die freie Disposition über ihr Brautschatz- und Erbvermögen; ein solcher Vorbehalt war akzeptierte Gewohnheit, wenn auch nicht notwendig Bestandteil eines jeden Ehevertrages. Im Gegensatz dazu scheinen für verheiratete Frauen anderer Stände und Schichten, orientiert man sich an den damaligen modernen Rechtskodifikationen des Allgemeinen Landrechts und des Code Civil, freie Disposition und vermögensrechtlicher Schutz noch um 1800 nicht selbstverständlich gewesen zu sein.®^ Ein anderer Nachweis für die schon früh aufgewertete Stellung der Frau wird später ausführlich thematisiert und soll deshalb hier nur kurz angeführt werden: Ein Teil der Väter war schon um 1770 bereit, ihren Töchtern innerhalb der Grenzen des stiftsfähigen Adels die freie Partnerwahl zuzugestehen.®' Zunächst einmal erfolgte eine relative Aufwertung der Frau parallel zur Einschränkung der hausherrlichen Gewalt durch den zentralistisch-bürokratischen Staat. Doch haben noch verschiedene andere langfristige Entwicklungen hierzu beigetragen. Schon lange gegeben, aber hinsichtlich der Aufwertung der Frau lange Zeit wirkungslos, war die hervorragende geistige und religiöse Leistung der - allerdings unverheirateten - Frau in führenden kirchlichen Positionen; hier sind für Westfalen vor allem die Äbtissinnen der Klöster und adligen Damenstifter zu nennen, die als Leiterinnen einer klösterhchen oder stiftischen Grundherrschaft dem adligen Grundherrn durchaus gleichwertige Aufgaben erfüllten. Die Möglichkeiten der Ansehenssteigerung, die mit einer Äbtissinnenposition gegeben waren, werden z . B . erkennbar, wenn es in der Leichenpredigt der Äbtissin des Stifts Minden, einer Freiin v. Oer, im Jahre 1670 heißt: Unser liebster Heiland trug eine Lehnskrone, nach welcher er als oberster Lehnsherr die Regenten auf Erden bestätigt zu Lehnsmännern ihrer Reiche; desgleichen Lehnskrone hatte auch die H o c h würdige, Hochansehnliche Frau Äbtissin von der Gnadenhand dieses obersten Lehnsherrn mit Zierde und Macht empfangen, da sie ist geworden eine Haushälterin, welche die von G o t t empfangenen Güter ausgetan, daß sie wohl verwaltet wurden. Indem Adel und Uradel, Patrizier, Bürger und andere mehr von ihr zu Lehen gegangen und von dem hochadligen Stiftshaupte die Bestätigung ihrer Güter und Besitztümer [haben] empfangen müssen . . . Natalis comes schreibt: daß nicht allein die Männer, sondern auch das Frauenzimmer und Kinder bei solchem Wettlauf [um ein G o t t wohlgefälliges Leben, H . R . ] sich haben finden l a s s e n . "

Seit dem Rückzug des Adels vom Ritter- und Militärdienst mußte diese Leistung stärker als bisher ins Gewicht fallen, zumal die adligen Stiftsäbtissinnen - im Unterschied zu den Äbtissinnen der Klöster - mit dem Übergang des Adels zum Hof- und Stadtleben seit dem Ende des 17. bzw. Anfang des 18. Jahrhunderts an den neuen Formen höfischer- und städtisch-adliger Gesellschaft repräsentierend teilnahmen. Mit dem 263

Übergang zum Hof- und Stadtleben trat auch die adlige Hausfrau und Gutsherrin für einige Monate des Jahres aus ihrer ländlichen Isolation an die Öffentlichkeit. Sie gestaltete neben und mit ihrem Ehemann Feste und vielfältige andere gesellschaftliche Ereignisse im adligen Stadtpalais und repräsentierte neben ihrem Ehegatten Familie und Stand bei Hofe; das erforderte in zunehmendem Maße geistig-seelische Qualitäten. Das Hofleben mit seinem steigenden Anspruch auf eine repräsentative adlig-höfische Lebensführung, eine Funktion, welche die Frau als Trägerin von Prestigekonsum besonders gut zu erfüllen vermochte, hat seit der Mitte des 17. Jahrhunderts das Ansehen der adligen Frau erheblich gesteigert. Und als sich gemäß dem anwachsenden Bedürfnis der oberen Stände nach geistigen Formen der Gesellschaft während des 18. Jahrhunderts zunehmend Salons und Zirkel bildeten, hat die Frau als Mittelpunkt dieser geselligen Kreise ihr Prestige noch einmal erheblich erhöhen bzw. festigen können. Im Fürstbistum Münster wirkten sich alle zuvor erwähnten, an Frankreich orientierten und von dort angeregten Entwicklungen aus; aber mit charakteristischen Einschränkungen und Abschwächungen: Ein Hofleben gab es im Münsterland nur, wenn der Kurfürst sich zeitweise in seiner münsterschen Residenz oder seinen Jagdschlössern aufhielt. Salons und diskutierende Zirkel hat es wohl gegeben, aber sie blieben selten; zum Teil bildeten sie sich unter der Leitung nichteinheimischer gebildeter Adelsdamen.®® Da dieser Adel, obwohl er das höfische Bildungsideal übernahm, in Grundhaltung wie in Lebensstil in erheblichem Maße ständischer Landadel blieb, blieb auch die verheiratete Frau einen Großteil des Jahres weiterhin an Gut, bäuerliche Umgebung, Haus und Familie gebunden; damit waren ihren Möglichkeiten enge Grenzen gesetzt, sich gemäß dem neuen Leitbild der durch umfassende geistige und charakterliche Qualitäten ausgezeichneten adligen Dame weiterzuentwickeln. Die Frau im münsterländischen Adel zeichnete sich am Ende des 18. Jahrhunderts infolgedessen keineswegs durch besondere Formkultur und seelische Verfeinerung aus.*^ Doch erwarb sie noch auf einem anderen Gebiet die Anerkennung des Mannes: Zunehmend häufiger verzichteten im 18. Jahrhundert auch sehr junge Witwen auf Wiederheirat, übten die Vormundschaft über ihre Kinder bis zu deren Volljährigkeit aus und übernahmen die Aufgaben des verstorbenen Mannes in der Administration der Grundherrschaft und Eigenwirtschaft. Zum Teil waren sie dabei außerordentlich erfolgreich, entschuldeten die Güter, erweiterten sie, führten Meliorationen durch etc. ; solche Leistungen erwirkten weit unmittelbarer die Anerkennung der Männer des münsterländischen Adels als die Erfolge beim Stadt- und Hofleben.*® Auf einer anderen Ebene trug die Gesetzgebung der Kirchen zu einer erhöhten Wertschätzung der Frau bei, indem sie nämlich durch die Verschärfung ihrer Keuschheitspostulate auch die Sexualität des Mannes zunehmend an die Ehe zu binden suchte.®' Waren bis ins 16. Jahrhundert morganatische Ehen, bis zur Gegenreformation .natürliche' Kinder von Adligen noch weithin alltägliche Erscheinungen, selbst für Domherren, so läßt sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts eine Änderung des sexuellen Verhaltens in der von der Kirche erwünschten Richtung nachweisen.^® Die von den Eltern und Freunden arrangierten Ehen, belastet mit dem kirchlichen Verbot außerehelicher Sexualität des Mannes, gerieten nun aber häufig unter Span264

nungen mit der im Sinn der Familienordnung disfunktionalen Folge der Kinderlosigkeit oder einer zu geringen Kinderzahl; hier lag eine ernste Gefahr für die Kontinuität der adligen Familie. Diese Erkenntnis führte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dann zu einer sukzessiven Änderung der Auffassung von der arrangierten Ehe, indem nun stärker als bisher auf gegenseitige Neigung zwischen den Ehepartnern als Vorbedingung der Ehe gesehen wurde. Dennoch hat sich die Stellung der adligen Frau in Westfalen bis 1770, vergleicht man sie mit den zum Teil hoch angesehenen, ihren Männern selbstbewußt gegenübertretenden Frauen des Hofadels in den Residenzen, nur in engen Grenzen verbessert. Dieser Sachverhalt läßt sich z. B. am Fall der Mechthild v. Galen, geborene v. Twikkel, belegen. Ihre Ehe war unglücklich; wahrscheinlich weil sie dem Gatten mehrere Töchter, aber keinen zukünftigen Stammherrn geboren hatte.^^ Ihr Mann, der sich eine adlige Geliebte ins Haus nahm, tyrannisierte seine Frau derart, daß die Verwandten ihren baldigen Tod befürchten mußten. In einem Brief vom 17. 2. 1781 aus Münster berichtete Jobst Edmund v. Twickel, Domherr zu Münster und Hildesheim, seinem Neffen Clemens August über die Ehe seiner Nichte Mechthild: Ich bin for vorriege Tage bey der frau Mutter gewesen, da finde ich alles Weinen, die Mutter, Therese und Victoria, sie konnten mir nit genug sagen, wie der Erbcammerherr die Megede tyrannisiert in betreff der jungen frailen von Westerhold, sie sagten die Liebe Megede schaprimirte sich die Sehrung auf den Leib; man darf in solgen Fellen kein Rathgeber seyn; allein weilen der Galen darauf gesetzet, ihr zu tot zu haben so wer besser, das er jarlich so vieil auszahlte, und sie solges in Vergnügen versehe als ihr zarte Jahre in solgen taglichen Q u a l v e r k u r t z t e . "

Mechthild v. Galen starb auch einige Jahre später. Bruder und Onkel griffen in diesen Konflikt bewußt nicht ein, weil sie die hausherrliche Gewalt Galens, in die Mechthild durch ihre Heirat eingetreten war, nicht verletzen wollten. Die Schwestern protestierten bei ihrem Bruder und trösteten die unglückliche Schwester, konnten aber selbst nicht unmittelbar helfen. Als ein junger Offizier in eine Art Seelenverwandtschaft zu der unglücklichen Ehefrau trat, wurde sie von ihrem Mann des Ehebruchs bezichtigt und die adligen Herren in Münster, vor allen die dem Eheverzicht unterworfenen Domherrn, ihr Onkel mit an der Spitze, demütigten sie durch ein bösartiges gesellschaftliches Intrigenspiel, das auf diese Verbindung Bezug nahm.'·* Mechthild klagte in vielen Briefen an ihren Bruder, wagte es aber nicht öffentlich gegen die ungerechtfertigte Herabsetzung als Ehefrau, den formellen Ehebruch des Mannes und die fortgesetzten Demütigungen zu protestieren, und auch unter den verheirateten Frauen des einheimischen Adels fand sich keine, welche bereit war, die abwertende und beleidigende Behandlung einer der ihren offen zu verurteilen, die Würde der adligen Ehefrau aktiv zu verteidigen.

c) Die Bildung familieninterner

und familienübergreifender

Vertrauenskreise

Methodische Vorbemerkung: In den folgenden Kapiteln wird die Familie unter veränderter Perspektive betrachtet. Die Abschnitte a) und b) thematisierten Funktionsverluste und -Verlagerungen der Adelsfamilie als Folge gesamtgesellschaftlichen Wandels 265

und die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Auswirkungen auf das Ansehen des Mannes bzw. der Frau. In den anschließenden Abschnitten und Kapiteln wird die Reaktion der Familie auf diesen Funktionswandel, die strukturelle Veränderung herkömmlicher familieninterner Interaktionsmuster und die Entwicklung neuer Einstellung bzw. Verhaltensformen im Familienbereich thematisiert. Die leitende Fragestellung dabei lautet: Auf welche Weise ist, wie die quantitative Analyse gezeigt hat, es den an Traditionswahrung interessierten älteren Standes- und Familienangehörigen, vor allem den Familienvätern, gelungen, eine völlige Abkehr der Kinder von den Normen und Verhaltensanforderungen der herkömmlichen Familienordnung zu verhindern? Die folgende Darstellung des Familiengeschehens unterstellt, daß der Prozeß, durch den die Kinder für die Familienordnung ,gerettet' wurden, in zwei deutlich voneinander unterscheidbaren Phasen ablief. In der ersten Phase häuften sich die Auflösungserscheinungen; in der zweiten bewirkten die Reorganisationsbemühungen auf der Familienebene die Fortdauer der Familiensolidarität mit neuen Mitteln. Nach diesem typologisierten zweistufigen Prozeß gliedert sich auch die anschließende Darstellung. Doch in der Realität der untersuchten ca. 30 Familien sind die Phasen der Auflösung und der Reorganisation zeitlich nicht so deutlich voneinander zu trennen wie im unterstellten Ablaufmodell, und zwar allein schon deshalb, weil nicht alle Familien stets in derselben Phase ihres Familienzyklus standen, da z . B . nicht in allen Familien zur gleichen Zeit ein zukünftiger Stammherr heiratete, Kinder zeugte etc. Jede Familie machte zwar gleiche Erfahrungen, z . B . die Erfahrung abnehmender Verzichtsbereitschaft bei den Kindern, aber nicht jede Familie machte diese Erfahrung im selben Jahr, nicht einmal im selben Jahrzehnt. Aufgrund dieser Tatsache ist für die folgende Darstellung eine breite Zeitphase vorausgesetzt, in der sich Auflösungs- und Integrationsprozeß überschnitten. Mit anderen Worten: Desorganisationserscheinungen, wie z. B . Verletzungen der Erbdisziplin, können auf den folgenden Seiten noch an Beispielen aus der Zeit um 1830, die sich verstärkende Integrationsfähigkeit der Familie schon an Hand von Erscheinungen aus den Jahren um 1800 illustriert oder belegt werden. Eine zweite leitende Vorstellung, nach der sich die folgenden Ausführungen zu den internen Familienprozessen im münsterländischen Adel richten, ist die der Trennung zwischen dem Produktionszusammenhang einer bestimmten Lebensform und deren Rezeptionsgeschichte. Die meisten der im folgenden angesprochenen Verhaltensweisen und Lebensformen, wie Innerlichkeit, Freundschaft, personorientierte, individuell-emotional gebundene eheliche Partnerwahl, Familie als privater Sympathiezusammenhang, Vereine etc. sind von bestimmten Gruppen des Bürgertums, in England wohl auch des niederen Adels, in spezifischen historischen Konstellationen und Lebenssituationen entwickelt worden. Das schließt aber die Übernahme durch einen altständisch orientierten Adel nicht aus; diese fordert m. E. zwar formal ähnliche, d. h. für unseren Problemzusammenhang als ,kritisch' und belastend erfahrene U m weltveränderungen und Lebenssituationen und, damit verbunden, das gesteigerte Interesse der Eltern an einer Verpflichtung der Kinder auf die Familienziele, kann aber dann unter völlig anderen konkreten Zielen von den Rezipierenden verwertet werden.''® Eine Erklärung der Übernahme solcher Lebensformen allein durch Vorgänge 266

kultureller Diffusion, im Sinne bloßer äußerlicher Übernahme verwendet, bleibt unbefriedigend. Allerdings sind bei dem hier verwendeten Verfahren bloß äußerlich bleibende Imitationsvorgänge von der ernsthaften Rezeption ursprünglich .bürgerlicher' Verhaltensweisen, die aufgrund konkreter, neu entstandener Bedürfnisse des Adels zustande kamen, zu unterscheiden. Doch das wichtigere Problem stellt sich damit dann nur noch klarer; denn „der Hinweis auf das Kopieren überlieferter Formen [ist] gewöhnlich unbefriedigend. Warum wird dann überhaupt kopiert?" (Tenbmckf^ Da die Lebenssituation der bürgerlichen Schichten, die solche neuen Verhaltens- und Lebensformen entwickelten, sich von der des Adels, der diese teilweise rezipierte, in vielem unterschied, muß konsequent untersucht werden, ob die übernommenen Lebensformen mit den in der adligen Familienordnung ausgesprochenen Intentionen in allen Bereichen übereinstimmten oder nicht, bzw. ob infolge der Übernahme langfristige, nicht kalkulierbare Wirkungen aufgetreten sind, die den Familienzielen entgegenstanden, so daß die neuen Verhaltensweisen zum Teil wieder rückgängig gemacht werden mußten, oder ob in der Tat eine ,Verbürgerlichung' des Adels stattfand. Anders ausgedrückt: es kommt darauf an, im folgenden nicht nur die Übernahme bürgerlicher Einstellungs- und Verhaltensweisen zu verfolgen, sondern auch die Funktion und die Grenzen solcher Übernahmen genau herauszuarbeiten. In dem Maße, in dem sich am Ende des 18. Jahrhunderts auch in der bisher so weitgehend gegen Wandel gesicherten Adelsregion des Münsterlands die Erfahrung zum Teil erheblicher Differenzen zwischen Weltauffassung, Verhaltensweisen und Werten des regionalen Adelsstandes einerseits den Zielen relevanter Personen bzw. durch den Prozeß der sozialen Differenzierung neu aufkommender Schichten andererseits ausbreitete, ist in der Wahrnehmung des Adels auch eine stärkere Ausgliederung des Standes, der Familie und des einzelnen aus einer zunehmend als widerständig, ,anders' und fremd erfahrenen Umwelt nachzuweisen. Die Erfahrung der gestörten, zum Teil verweigerten Möglichkeit zur Selbstverwirklichung gemäß den durch Erziehung erworbenen Erwartungen und Verhaltensweisen, die Infragestellung von Vorrechten, die bisher selbstverständlicher ,Besitz' der Familie oder des Standes waren, z.B. die Dominanz auf den Landtagen gegenüber dem städtischen Bürgertum, die Anrechte auf einen bestimmten Anteil staatlicher Ämter, auf die bevorzugte Behandlung bei Gericht, bei öffentlicher Repräsentation, an den Universitäten und in vielen anderen alltäglichen Lebensbereichen, wirkte sich in einer ersten Phase vor allem auf die aufwachsenden männlichen Adligen desorientierend aus.'® Als eine erste Reaktion auf diese Verhaltensverunsicherung hier als Ausgangspunkt einer zunehmenden Gefährdung der kollektiv definierten, solidarisch getragenen und in jeder Generation durch Inanspruchnahme aller Familienmitglieder wieder neu realisierten Familienziele interpretiert - entwickelte sich bei den jungen Adligen ein intensiviertes inneres Erleben und eine Tendenz zum Aufbau gefühlsbestimmter,,persönlicher' Beziehungen.'' Ein Trend zur Ausbildung individueller Ausdrucksweisen und - in engen Grenzen - Verhaltensformen wird bemerkbar, der durchaus aus der damaligen adligen Lebenssituation zu erklären ist und nicht in der äußerlich-modischen Übernahme bestimmter bürgerlicher Verhaltensweisen aufgeht. Der Aufbau eines gleichermaßen von der nicht adelsmäßigen Umwelt wie von den Familien- und 267

Standesnormen partiell distanzierten Innenraums fand seinen ersten, noch schwachen Ausdruck in der Ironisierung und teilweisen Auflösung eingeübter Briefformeln und im Bemühen, in Absetzung von traditional vorgegebenen Formen und Bedeutungen, in den Briefen eine den eigenen Intentionen und Bedürfnissen gemäßere Sprache zu entwickeln.®" Besonders in den Briefen an Gleichaltrige aus der konfliktreichen Sphäre der Universität wird die neue Sprache faßbar; der Versuch eine gefühlsechtere, weniger traditionale Briefsprache zu finden, führte zu einer Zweiteilung des Briefes nach dem Alterskriterium. Während in Briefen an die Eltern traditonaler Stil und hergebrachte Formeln erhalten blieben, verwandte man in der Korrespondenz mit den gleichaltrigen Geschwistern und Freunden eine neue Sprache; das erforderte aber eine Änderung der herkömmlichen Funktion des Briefes, der von einer im Grunde allen Familienmitgliedern und selbst Verwandten offen zugänglichen ,Zeitung' nun zum Ort eines die Mehrzahl oder sogar, alle Familiemitglieder ausgrenzenden, vertraulichen Zwiegesprächs w u r d e . A u f derselben Ebene liegt, daß sich die Tagebücher von erweiterten Kalendern oder Notizheften zum Ort individueller Selbstaussprache und Selbstreflexion weiterentwickelten.®^ Die neue Sozialform der aus dem übrigen Familienverband partiell ausgegrenzten Zweierbeziehung trat, soweit in den Briefen erfaßbar, zunächst dominant als indivi•duell-emotionaler Vertrauenskreis zwischen Bruder und Schwester oder zwischen gleichaltrigen Freunden bzw. Freundinnen auf.®^ Freundschaft erhielt jetzt insofern eine neue Bedeutung, als sie über den alten Sinn der von Altersstufen unabhängigen solidarischen Unterstützung auf Gegenseitigkeit hinausging, die mehr von gemeinsam angestrebten sachlichen Zielen als vom Gedanken der persönlichen Bindung zwischen den Freunden bestimmt war; die neue Freundschaft als der engste Kreis gegenseitigen uneingeschränkten Vertrauens definiert, wurde auf Gleichaltrige reduziert und mit einem gewissen abwehrenden, zum Teil schon abschätzigen Affekt gegen die Älteren verbunden.®" Hier war eine Entwicklung angelegt, die über geschwisterliche Zweierbindungen, Freundschaftsgruppen und Freundschaftsbünde zur Ausbildung eines übergreifenden, aggressiven Generationsgefühls und auch, bei ungestörter Entwicklung, zum ersten Mal in der Geschichte des münsterländischen Adels, zu einem ernsten Generationenkonflikt hätte führen können.®® Die in den letzten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts geborenen Adelssöhne erfuhren den Umbruch in besonderem Maße. In ihrer Erziehung an älteren Vorbildern orientiert, mußten sie deren radikale Infragestellung und Wirkungsminderung erleben. Von Familie und Stand erworbene Zukunftsperspektiven hinsichtlich Berufswahl, Lebensstil, Prestige etc. lösten sich für die an Domherrnstellen und weitgehend arbeitsfreien, gut dotierten Ämtern ausgerichteten nachgeborenen Söhne gleichsam vor ihren Augen auf. Bei ihnen findet sich infolgedessen auch am ausgeprägtesten das Gefühl der Vereinzelung und Orientierungsunsicherheit, das diese Altersgruppen zu einer weitgehend homogenen Einheit formte; denn eine auch nur annähernd ähnliche alternative Versorgungsmöglichkeit war unter den neuen Bedingungen nicht erkennbar. Aber auch die zukünftigen Stammherrn standen vor der Aufgabe, sich - auf vorläufig noch unbekannten Wegen - unter weitgehender Wahrung der eigenen altad268

Ilgen Selbsteinschätzung in den ungeliebten modernen Staat zu integrieren; dabei war ihnen, wie sie bald erkennen mußten, das Erbe der Väter aus der Zeit des Pfründenstaats mit seinen „Mastanstalten"®* oft eine erhebliche Last. Der Weg, den die Adelssöhne dieser Generation gingen, war entsprechend hart und bedurfte der Freundschaft aus mehreren Gründen; denn der Freund und befreundete Altersgruppen an der Universität bildeten die väterferne, durch Vertrauen und gleiche Probleme gesicherte Sphäre, in der man einen lästigen Teil des in der Familie erworbenen Verhaltens- und Werteballasts abwerfen und das Mindestmaß an neuen, für den antizipierten Weg in den modernen Staat unentbehrlichen Verhaltensorientierungen erwerben konnte, das für den Erwerb eines vollen sozialen Status unter den neuen Bedingungen unumgänglich war. Die dazu notwendige expressive Solidarität lieferte die Freundschaft anstelle der Familie. Die Erinnerung an die gemeinsam mit gleichaltrigen Freunden erlebte glückliche Zeit an der Universität als einem Ort des bewußt selbständigen Lebens jenseits der väterlichen Kontrolle,'^ vor dem Eintritt in eine weithin ungewisse, aber mit Gewißheit anstrengende und dornenreiche Berufslaufbahn im protestantischen, leistungsorientierten preußischen Staat, wurde zum festen Bestandteil des Selbstverständnisses dieser durch neue, unerwartete Erlebnisse, Erfahrungen und Zukunftsperspektiven geprägten Altersgruppe des münsterländischen Adels. Entsprechend häufig findet man - auch noch in späteren Jahren - in den Briefen dieser Generation auf die Universität und Freundschaftserlebnisse gerichtete Erinnerungsappelle. Im 1824 einsetzenden Tagebuch Ferdinands C. H . v. Galen, eines nachgeborenen Sohnes, ist dieses Selbstverständnis in allen Einzelheiten festgehalten:®® Die Erinnerung an die Universitätszeit in Heidelberg, wo er die beiden angenehmsten Jahre seines Lebens verlebte, seine partiell liberalen politischen Auffassungen als Korpsstudent, die Abwertung seiner Berufskollegen und der ihn umgebenden Menschen als egoistisch, gefühlskalt und dumm; die romantische Liebe in Absetzung von allen sachlich-familienpolitisch bestimmten Motiven ehelicher Partnerwahl, der Frauenkult, die Ubersteigerung und Stilisierung des ,Leidens' an einer solchen, - wegen des von der Familie erzwungenen Heiratsverzichts - unerreichbar fern, unerfüllt, unglücklich bleibenden Liebe; der Gefühlsrausch beim Zusammenbruch der Phantasiekonstruktionen nach Sturm- und Drang-Manier, das religiös aufgewertete Naturerlebnis als Gegenpol zur ,verkehrten' Welt; Aufbruchsstimmung, Einsamkeitskult, Musikrausch, Lyrikproduktion, Lektüre der Dichter des Freundschaftskults (Petrarca, Klopstock, Schiller) und Theaterbesuche als Ersatzerlebnisse. Dazu, entsprechend der inneren Unsicherheit und Desorientierung, die Vorliebe für katastrophenähnliche Naturereignisse, vor allem Gewitter; der Wunsch nach totaler Selbstverwirklichung im Heldentod als Alternative zur gescheiterten Selbstverwirklichung im seelisch-geistigen Liebesverhältnis und in der Berufssphäre; die Orientierung am Wunder als Entscheidungshilfe, der Freund als Ort der gefühlvollen und rückhaltlos offenen Selbstaussprache, als letzte Einheit völligen Übereinstimmens und Verstehens, als Vertrauter im Protest gegen die fremde, gleichgültige, sinnentleerte Berufswelt, die vorwiegend mit Hilfe von Theatermetaphern beschrieben wird, als Begleiter 269

auf der Flucht in Schwermut, Melancholie, Schwärmerei und idealistische Phantasieund Wunschwelten.®' Galens Erfahrungs- und Verhaltensweisen sind nur insofern weniger repräsentativ für die münsterländischen Adelssöhne, als er einerseits seine Erfahrungen - aufgrund einer langen, umfassenden Ausbildung - überaus einseitig in den Versatzstücken literarischer Vorbilder der Empfindsamkeit, des Sturm und Drang und der Klassik artikulierte; andererseits durch seinen Beruf als Diplomat zumeist im Ausland weilte und infolge hoher Mobilität den Einflüssen gleichaltriger Adliger aus anderen Ländern in stärkerem Maße ausgesetzt war, als seine Standesgenossen.Dominant wirksame Grundlage seines Protestverhaltens waren aber Erfahrungen, die er mit seinen münsterländischen Altersgenossen gemeinsam hatte: die den nachgeborenen adligen Söhnen auch noch 1803 weiterhin auferlegte harte Erb- und Heiratsverzichtsdisziplin und die in verschiedensten Sublimationsformen sich artikulierende Aggression, wegen des ihm damit gesetzten und zugemuteten neuen Berufs- und Lebenswegs. Solche engen Beziehungen der Kinder zu einzelnen Geschwistern oder Freunden bedrohten als intra- bzw. extrafamiliale Vertrauenskreise auf einer ersten Ebene die bisherige adlige Familienordnung, da sie sich zum einen der Kontrolle des Familienvaters und der meisten anderen Familienmitglieder entzogen und zum anderen von der Familiennorm abweichende neue Verhaltensorientierungen bilden und stabilisieren konnten. Die Freunde, besonders die der Familie fremden und bürgerlichen, waren somit eine ernste Gefahr für die Kontinuität der vom Vater geforderten und kontrollierten, in der Familienordnung festgelegten Verzichtsdisziplin der Adelssöhne. Die Freundschaft bildete insofern, im Gegensatz zur adligen Familie, einen Verbindungsbereich, der, wie später Schule und Vereine, die Übernahme neuer, im modernen preußischen Staat relevanter Verhaltensweisen ermöglichen, zugleich aber auch von den Familienvätern nicht erwünschte Orientierungen vermitteln konnte. d) Fortschreitende Negation der Verzichtsanforderungen. Als Folge der fortschreitenden Wirkungsminderung der stiftsadligen Familie verstärkten sich vom Ende des 18. Jahrhunderts an die Fälle bewußter Verletzung der Familiendisziplin durch einzelne Familienmitglieder, und zwar in den verschiedensten Bereichen des familiären Verzichtssystems. Konflikte mit dem Vater bzw. Stammherrn ergaben sich aus der Tendenz der Söhne zu individueller,,bürgerlicher' Berufswahl in Absetzung von den familienpolitisch vorgeschriebenen standesgemäßen L e b e n s w e g e n . V o r allem aber verschärften sich die innerfamilialen Konflikte dadurch, daß zunehmend nachgeborene Söhne und auch Töchter den von ihnen erwarteten Heiratsverzicht negierten, den Heiratskonsens der Eltern erzwangen oder gar ignorierten. Am häufigsten ist dieses Verhalten für die nachgeborenen Söhne nachzuweisen. Immer häufiger kam es unter Bedingungen, die man wohl ,abenteuerlich' nennen kann, zu individuell bestimmten, von sachUch-familienpolitischen Zielen und familiärer Einflußnahme ganz oder weitgehend freien E h e b i n d u n g e n . Z u m Teil schienen die jungen nachgeborenen Adelssöhne dabei auf die romantische Liebe zu einem bürgerlichen Mädchen geradezu fixiert gewesen zu sein. In den Verteidigungsbriefen des Hofgerichtsassessors Levin Paul v. Elverfeldt 270

Z.B., der 1790 trotz aller verzweifelter Gegenbemühungen seiner Familie, ein Bauernmädchen heiratete, finden sich zahlreiche, auf Rousseau verweisende Sätze: Es ist aber so unstreitig wahr, daß ich ohne sie nicht leben kann und daß ich ohne sie unglücklich bin . . . was nützt mir K r ö n ' u n d Zepter, wenn ich sonst unglücklich bin . . . jeder Handleistung, die Sie vollziehen, mir das Mädchen zu rauben, ist eine gewisse Steinsetzung an das Fundament meines Unglücks, fürwahr und bei G o t t , ich kann und werde sie nicht verlassen . . . ; [sie ist] . . . ein unschuldiges Mädchen, voll der herrlichsten Eigenschaften, ganz ohne Verderben, ganz N a t u r , ein Mädchen, an der ich so ganz hänge, ohne welche ich nicht leben kann.

In einem Brief an die Verwandten berichtete ein Regierungsrat F u n k an die Verwandten: Schon vor geraumer Zeit verlautete, daß der . . . von Elverfeldt mit einer Bäurenmagd zu Engelen ein Liebesverhältnis unterhalte und selbiges zu heiraten willens sei. A n diesen letzten U m stand glaubten aber so wenig ich als die mehrsten anderen Eingesessenen, indem man dergleichen Bekanntschaften von ihm schon gewohnt war, welche sich sämtlich nach dem Verlauf einiger Zeit zerschlagen hatten.'^

O f t setzten sich die Söhne gegen den schwächer werdenden Widerstand ihrer Familie durch. Aber auch die Töchter suchten ihre Heiratsintentionen, allerdings - wegen ihrer ungleich schwächeren Position gegenüber den Eltern - vorwiegend durch Anwendung von List und Überredung durchzusetzen.'" Selbst die ältesten Söhne und zukünftigen Stammherrn wurden, wenn auch in wesentlich schwächerem Maße als ihre jüngeren Brüder, in dieser Zeit,unruhig' und suchten eine frühe Etablierung in selbständiger Position und die Erlaubnis zur Heirat durchzusetzen; vor allem dann, wenn mehrere Rittergüter in der Hand der Familie w a r e n . " Eine besondere Variante im Prozeß der Auflösung familiär geforderter Heiratsdisziplin, zugleich eine indirekte Verstärkung der von den jüngeren Söhnen ausgehenden Tendenzen zu Heirat und freier Partnerwahl, findet sich in den, seit den neunziger Jahren häufiger auftretenden und sehr heftig diskutierten Domherrnheiraten. So schrieb z . B . Louis v. Twickel am 16. Juni 1822 an seinen Vater: Karl Ascheberg (ehemaliger Domherr in Münster, H . R . ) ist durch den Amorpfeil wieder ganz jung geworden. Er ist so verliebt wie ein Kater. Bringt den ganzen Tag bei seiner Braut zu . . . Auch der Domherr Schorlemer hat Heiratslust . . . bekommen. N u r fehlt die Dispens, und wie man sagt, sollen keine Aussichten sein, sie zu erhalten.'*

Nicht die Tatsache, daß Domherrn heirateten, war das Neue, sondern daß sie die familiär zugeschriebene Verhaltensnorm, die ihnen Heirat nur bei Kinderlosigkeit oder bei frühem T o d des noch unverheirateten Stammherrn erlaubte, zugunsten eigenen individuellen Glücksverlangens negierten. Hier lag auch das für die Aufrechterhaltung der Familiendisziplin gefährliche Vorbildhafte, das auf die verzichtenden nachgeborenen Söhne und Töchter ausstrahlen mußte, vor allem deshalb, weil die Domherrn vorwiegend bürgerlich heirateten. D a s allgemein gesteigerte Verlangen nach Gründung einer eigenen Familie, dessen Ursachen mit denen der stärkeren Orientierung an Freunden weitgehend identisch waren, blieb auch den Angehörigen des über die einzelnen Familien hinaus betroffenen Standes nicht verborgen. Annette v. Droste Hülshoff, selbst unter dem Verzicht auf eine Ehe leidend, zeitweise auch bereit, eine Ehe mit einem Bürgerlichen zu wa271

gen, wie viele ihrer Altersgenossinnen - nur im ironisch distanzierten Gestus von ihnen unterschieden - die Vorgänge auf dem standesspezifisch gebundenen regionalen Heiratsmarkt mit großer Aufmerksamkeit und in Breite verfolgend, schrieb in einem ihrer Briefe 1837: Es ist sonderbar, daß fast niemand dem Bilde einer eigenen Familie, einer selbständigen H ä u s lichkeit widerstehen kann! Ich glaube fast, von den guten Geistlichen würde fast die Hälfte rückwärts gegangen sein, wenn ihnen, eh sie ihren Vorsatz ausgeführt, plötzlich ein Vermögen oder Amt zugefallen wäre, worauf sie sich eine Häuslichkeit hätten bauen k ö n n e n . "

Damit erahnte sie auf jeden Fall mehr von der außerordentlichen Wichtigkeit und neuen Bedeutung der Familie für den Adel der Umbruchsituation seit Ende des 18. Jahrhunderts als eine Generation vor ihr der Fürstbischof von Paderborn, Franz Egon V. Fürstenberg, der, als er die Anfänge dieser Entwicklung wahrnahm, die verstärkte Tendenz junger Adelssöhne zur Ehe nur als Symptom eines plötzlich eruptiv sich verstärkenden Sexualtriebs zu deuten vermochte.'® Auch der Erbverzicht, der zweite Pfeiler des in der Familienordnung festgelegten familiären Verzichtssystems, unterlag einem fortschreitenden, eng mit der Auflösung der Heiratsdisziplin verbundenen Erosionsprozeß. Wer heiraten wollte, brauchte dazu Geld, zumal wenn eine Berufsposition fehlte - wie bei den nachgeborenen adligen Söhnen zumeist der Fall - oder aber der Beruf lange Zeit nur wenig einbrachte. Es lag nahe, zur Lösung des Problems eine erhöhte Abfindung zu fordern oder sogar einen Teil des Familienvermögens, das zwar weiterhin in Eheverträgen und Testamenten als unteilbar und vom Stammherrn nur verwaltet definiert blieb; doch waren die auf Besitzwahrung angelegten Prinzipien des Erbstammguts, Majorats oder Fideikommiß rechtlich zunehmend schwächer gesichert. Erste Anzeichen für steigende Unzufriedenheit mit den Abfindungen finden sich schon am Ende des 18. Jahrhunderts bei den Töchtern, und zwar auf beiden Ebenen der sie betreffenden Abfindungsarten, der Rente für die Stiftsdame und des Brautschatzes. Die Stiftsdamen, denen durch die Familienordnung - in Relation zu ihrem geringen Nutzen für das Familiensystem und den ihnen weitgehend fehlenden alternativen Subsistenzmöglichkeiten - das größte Maß an Verzichtsleistung zugemutet wurde, artikulierten ihren Protest über die zu geringen Abfindungen und ihre reduzierte Existenz direkt oder indirekt; dabei scheint es am Ende des 18. Jahrhunderts bisweilen in den Stiftern gleichsam zu Absprachen zwischen den Stiftsdamen gekommen zu sein, bei ihren Brüdern und Stammherrn eine Erhöhung ihrer Abfindungen zu fordern. Am 4 . 3 . 1769 meldete der Rentmeister Löhers dem Stammherrn Adolph v. Nagel nach Wien: D i e gge Fräulein Schwester plaget mich auch continuirlich und ist mit ihrem jährlichen Q u a n t o nicht zufrieden. Die wird zu Borchorst instruirt und aufgewiegelt und wird es nicht besser machen als die gottselige Fräulein [die verstorbene Schwester, auch eine Stiftsdame, H . R . ] , deren letztere absurde Willensmeinung viele Verdrießlichkeiten verursachet; so gar die gge Frau A b b a , so das Beste des Hauses mit befördern solte, ist für den Efting portiert, und solte demselben den ganzen kindlichen Anteil wohl z u e i g n e n . "

Da die Stammherrn zur gleichen Zeit, bei allmählichem Anstieg ihrer Einnahmen, aber zum Teil erheblicher Verschuldung der Güter und steigender Belastung durch 272

Brautschätze infolge der wachsenden Zahl von Heiraten der Schwestern und Töchter, bemüht waren, die Abfindungen auf keinen Fall höher, wenn möglich, niedriger als bisher festzusetzen, kam es gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer häufiger zu offenen Konflikten bzw. Prozessen und fortschreitender Entfremdung zwischen Schwestern bzw. Töchtern und dem Stammherrn. Dabei hatte die verheiratete Schwester die Unterstützung ihrer Familie und konnte im Extremfall sogar prozessieren. Die Stiftsdame stand dagegen allein, wagte nicht den Prozeß, konnte ihn auch nicht finanzieren; so griff sie zu dem einzigen ihr noch verbleibenden Mittel des Widerspruchs: ihren wenn auch meist geringen Möglichkeiten als Testatorin. Sie negierte auf verschiedene "Weise die Gewohnheit, daß ihr Vermögen an die Familie, d.h. an den Stammherrn zurückzufallen hatte. Entweder vererbte sie ihr ganzes Vermögen einem nachgeborenen Sohn bzw. Bruder oder einer unverheirateten Schwester bzw. Tochter des Stammherrn und verwies so indirekt auf die als ungerecht empfundene, ungleiche Zuteilung von Lebenschancen aufgrund der Familienordnung. Oder sie hinterließ dem Stammherrn hohe Schulden, die dieser aus Familienrücksichten dann zu tragen hatte. In extremen Konfliktfällen aber vermachte sie ihr Vermögen, in einer völligen Abkehr von der Familie, in freier Wahl einem Vertrauten, zumeist einem bürgerlichen Geistlichen des S t i f t s . Ä h n l i c h e Tendenzen sind auch den Testamenten der gegenüber den Stiftsdamen besser gestellten Mütter und Witwen zu entnehmen. In einem ihrem Testament von 1836 später beigehefteten Brief erläuterte Rosine v. Korff ihrem Sohn August, warum sie zunächst ihn, dann aber in einem Kodizill ihre Tochter Sophie als Haupterbin eingesetzt habe: Ich habe gleichsam durch einen Codicill eine hergebrachte Ungerechtigkeit hiesiger Familien wieder gutmachen wollen, so viel es in meinen Kräften steht; denn es ist gewiß eine große, daß eine Tochter, die sich nicht verheiratet, nach dem Tode ihrer Eltern ohne jede Aussteuer abgefunden ist, zumal wo ihr Kindesteil und Zulage so klein ist, daß sie nur ein sehr notdürftiges Auskommen finden wird.'"^

Die Rückgabe des Stiftsdamen- und Witwenvermögens an den Stammherrn wurde vom ,natürlichen* zum relativ seltenen Verhalten. Der Angriff der wesentlich besser als die Schwestern und Mütter versorgten nachgeborenen Söhne auf die Familienordnung begann, soweit erkennbar, erst mit dem Übergang des Fürstbistums Münster an Preußen bzw. Frankreich; dann setzte er aber unmittelbar und in erheblichem Ausmaß ein. So hieß es z. B . lapidar in einem Promemoria der Witwe Antonetta v. Nagel an das Pupillenkollegium der Regierung zu Münster 1805: In den Ehepakten einer adligen Familie, die vor dem Revolutionskrieg angefertigt worden, sind die Quoten, welche die in der Ehe erzeugt werdenden und abzufindenden Kinder aus den Gütern haben sollen, bestimmt . . . Bei Einführung der französischen Gesetze waren die abzufindenden Söhne mit der für sie in den Ehepakten bestimmten Summe unzufrieden. Und es ist ihnen auch eine zu ihrer Zufriedenheit höhere Abfindungssumme bewilligt und angenommen. Hierdurch scheint doch, daß die abzufindenden Söhne die elterlichen Ehepakten als ungültig erklän haben.

Aber nicht nur die Abfindungshöhe innerhalb der zumeist in dieser Hinsicht offenen Formulierungen der Familienordnung, auch andere wesentliche Anordnungen, z. B . 273 18

Reif, Adel

die Fideikommiß-Qualität der Familiengüter oder die Erbfolgebestimmungen wurden nun von nachgeborenen Söhnen angegriffen und für nicht rechtlich abgesichert erldärt. Verschärfend wirkte sich dabei aus, daß die nachgeborenen Söhne zumeist besser ausgebildet, häufig intelligenter, vor allem aber, wegen ihrer stärkeren Orientierung an staatlichen Positionen, oft juristisch informierter waren als ihre Brüder oder Väter, die Stammherrn. Und das neue Recht sprach zumeist gegen die Stammherrn/®^ Die zentrale Lenkung aller Familienmitglieder durch den Stammherrn nach einem für alle geltenden, arbeitsteilig konzipierten Familienplan geriet in Gefahr, und zwar durch Verweigerungsverhalten der nah beim Stammherrn wohnenden, zum Verzicht auf ein Erbe, Heirat und selbständige, freie Berufwahl bestimmten nächsten Familienmitglieder. Die seit jeher problematische Lenkung und Kontrolle der in entferntere Regionen abwandernden männlichen Verwandten kam als Verstärkung des Problems noch hinzu. Am Beispiel Clemens v. Merveldt (1815-1885) lassen sich die Auflösung der Verzichtsdisziplin und die nur mangelhaft durchgreifenden Sanktionsmöglichkeiten des Stammherrn noch einmal zusammenfassend darstellen. Als erster Sohn der zweiten Ehe seines Vaters August Ferdinand v. Merveldt 1815 geboren, war er gerade achtzehn Jahre, als sein Vater 1834 starb. Der als Familienchef nachfolgende älteste Sohn erster Ehe Ferdinand Anton v. Merveldt war zu dieser Zeit schon 45 Jahre alt. Clemens Mutter starb 1842. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Dietrich zur Militärlaufbahn bestimmt, avancierte er bis 1842 zum Premierleutnant, nahm aber dann plötzlich seinen Abschied und heiratete mit 27 Jahren (1843 oder 1844), gegen den Willen und Widerstand des Stammherrn Ferdinand Anton, des Stiefbruders Carl und aller Geschwister eine ältere, protestantische und wohl auch moralisch zweifelhafte Gräfin Bismarck-Schönhausen und ließ sich als Rentner in Münster nieder. Da er aus einer der reichsten Adelsfamilien des Münsterlandes stammte, besaß er ein recht beachtliches Renteneinkommen aus Abfindungskapital, Vermögen seiner Mutter und der von seinem Vater gegründeten Familienstiftung. Auf eine Pension aus dem Militärdienst hatte er noch keinen Anspruch. Doch bald schon befand er sich in Geldschwierigkeiten. Am 23. 9.1846 schrieb er seinem ältesten Stiefbruder und Stammherrn der Familie v. Merveldt, man habe ihm bereits von mehreren Seiten mitgeteilt, er sei eigentlich der rechtmäßige Nachfolger in den Merveldtschen Familienbesitz, und zwar weil die erste Frau des Vaters, eine Österreicherin aus dem Geschlecht v. Pergen, nicht die in der Familienordnung vorgeschriebenen sechzehn adligen Ahnen in der obersten Reihe besessen habe, also nicht stiftsfähig gewesen sei. Da seine Mutter, eine geborene v. Twickel, dagegen eindeutig stiftsfähig gewesen sei, kämen nur deren Kinder, und als deren Altester er, für die Nachfolge in das Merveldtsche Familienfideikommiß in Frage. Obwohl Ferdinand Anton sich während der Jahre 1846 und 1847 bemühte, durch Nachforschungen im Münsterland und in Wien die nötigen Beweise über die Stiftsfähigkeit seiner verstorbenen Mutter beizubringen, blieben Zweifel, die Clemens, jede Prozeßabsicht leugnend, durch zeitweilig wiederkehrende Hinweise auf seine engen Kontakte zu einem in Erbprozessen sehr erfolgreichen Paderborner Anwalt wachzu274

halten wußte. Indem er immer wieder seine Verbindungen zu dem Paderborner Anwalt Mantell erwähnte, gelang es ihm, seine Geschwister, v. a. den Stammherrn Ferdinand Anton, zu verunsichern. Der letztere schrieb rückblickend am 20.11. 1847 an seine Geschwister in einem Promemoria: Mein ganzes Gefühl war im Kampf geteilt zwischen Geldverlegenheit (Clemens Bruder Dietrich hatte sich gerade seine Abfindung auszahlen lassen, H . R.), Familienverlegenheit, Ärger über Advokateneinfluß . . . Angst vor Mantells entschiedenem Glück in allen Sachen.""

Erst am Ende des Jahres 1847 lenkte er ein und unterwarf sich in der umstrittenen Sukzessionsfrage einem Schiedsgericht aus drei Standesgenossen, die nach eingehender Prüfung dann feststellten, daß Theresia v. Pergen „gut deutsch, adlich und stiftsfähig" gewesen war.^"' Am 2. 1. 1848 akzeptierte Clemens diesen Schiedsspruch. In der Zwischenzeit war es ihm aber gelungen, vom Stammherrn Ferdinand Anton, der duch den eventuell drohenden Prozeß stark verunsichert und zu Kompromissen gestimmt war, unter Anrechnung seines Abfindungskapitals ein großes Bauerngut zu ungefähr der Hälfte des Werts zu erlangen, zu dem er es einige Monate später wieder verkaufte. Von diesem Geld und weiterhin unterstützt von Ferdinand Antons, .unerschöpflichsten und unermüdlichsten Freigebigkeiten" kaufte er sich das Gut Heddinghausen bei Paderborn, betätigte sich dort innovativ als Landwirt, geriet in den fünfziger Jahren in Konkurs und forderte von seinem Zweitältesten Stiefbruder und neuen Stammherrn Carl sowie von seinen Schwestern wieder finanzielle Unterstütz u n g . D i e Aufforderung Carls, in eine andere Region abzuwandern, wies er entschieden zurück; im Gegenteil, er reizte den Stammherrn noch, indem er als Mitglied des Kuratoriums der Merveldtschen Familienstiftung dessen Verwaltungstätigkeit strenger kontrollierte. Er lebte zeitweise von seiner Frau getrennt und heiratete 1860 ein zweites Mal, und nun sogar bürgerlich."^ Als dauernder Stein des Anstoßes von den Standesgenossen abgewertet, aber trotz des Konkurses selbstbewußt bleibend, lebte er mit seinen fünfzehn Kindern, von der Möglichkeit, zusätzliche Unterstützung vom Stammherrn zu erhalten, völlig ausgeschlossen, als Amtmann in Salzkotten. Sein Versuch, aus dem familienpolitisch festgelegten Verzichtssystem und der ihm im Gegensatz zum Stammherrn auferlegten relativ beengten Existenz auszubrechen, war damit gescheitert; vor allem aber deshalb, weil er sich bei seinen landwirtschafdichen Innovationen, die nach Meinung von Fachleuten durchaus sinnvoll und erfolgreich waren, zu stark verschuldet hatte. ' " Doch es war ihm als ein nachgeborener und nach dem Maßstab des Merveldtschen Familieneinkommens armer Zweitsohn lange Zeit gelungen, von seinen verheirateten Schwestern unterstützt und mit den seiner Lage adäquaten Mitteln der List und der Drohung, die ihm von der Familienordnung auferlegte Heirats- und Erbverzichtsdisziplin zu negieren und das Famihensystem durch einen gezielten Angriff wenigstens zeitweise ins Wanken zu bringen. Insofern war ein im münsterländischen Adel wohl sehr erfolgreicher,Abweichler'. Der Fall Clemens v. Merveldt wurde in den Kreisen des Adels natürlich aufmerksam verfolgt und diskutiert, vor allem deshalb, weil er möglicherweise ein erfolgreiches Verhaltensmodell hätte liefern können für einen Konflikt, dessen Ursache und 275

Konstellation in allen Familien dieses Adels in gleicher Weise gegeben war; denn in jeder Adelsfamilie wuchs seit dem Ende des alten Staates das Problem der nicht verheirateten, schlecht versorgten Söhne und Töchter, der späteren ,Onkel' und .Tanten'. Die nachgeborenen Söhne waren in der Umbruchzeit in einer doppelt schwierigen Lage. Einerseits blieben sie wie bisher vom Gütereinkommen weitgehend ausgeschlossen, konnten aber - bei Verlust ihrer Versorgungsstellen in den Domkapiteln von der ihnen zugesprochenen Abfindungssumme nicht leben; andererseits aber schreckten sie vor dem entbehrungsreichen Weg in den preußischen Militär- und Staatsdienst zurück. Zum Teil gelang es ihnen nicht, die dazu erforderliche Qualifikation nachzuweisen; zum Teil scheiterten sie früh in der für sie neuen Berufswelt. Und so lebten diese ,Onkel', auf ständige Unterstützung durch den Stammherrn angewiesen und meist ohne kontinuierliche Beschäftigung, zwischen den Gütern des Stammherrn, ihrer verheirateten Schwestern, einer kleinen eigenen Stadtwohnung und der Wohnung der Mutter im Stadtpalais der Familie hin und her pendelnd, den intensivierten Formen der adligen Vereinsgeselligkeit, dem Lotteriespiel und vor allem der Jagd hingegeben, die am ehesten geeignet schien, ihr durch Berufslosigkeit geschwächtes Selbstgefühl zu stabilisieren. Wie wichtig die Jagd für diese in ihrem Status stark verunsicherten, nachgeborenen Söhne, aber auch für den Adel im Vormärz insgesamt war, wird deutlich aus einer Tagebucheintragung Ferdinands v. Galen im Jahre 1826: September war ich stets auf dem Lande und die Jagd war meine gewöhnlichste und liebste Beschäftigung. Das Herumtreiben in Gottes freier Natur, mit dem Gewehr auf der Schulter, gibt dem Leben einen höheren Reiz. Man fühlt sich unabhängiger und freier im Genuß dieses männlichen Vergnügens. Glück oder Unglück ruht in unserem Rohr. Wir selbst führen den Donnerkeil, der über das Geschick, wenn auch nur eines Tieres, entscheiden soll. Von keiner leeren Gesellschaftsformel eingezwängt, sind wir mit unserer Manneskraft allein auf der Jagd. Sie kömmt mir vor wie das Überbleibsel schönerer Zeiten, das noch nicht von der erbärmlichen Aufklärung unseres Jahrhunderts verlacht und zerstört worden ist."^

Aus der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts aufgebauten emotional-,gemüdichen' Lebenssphäre der Stammherrnfamilie ausgeschlossen - von einzelnen großen Familienfesten und der ihnen immer noch, und vielleicht verstärkt, angetragenen Patenfunktion einmal abgesehen - mußten sich diese Onkel zunehmend stärker als Belastung der Familie verstehen. Zur Konkretisierung dieses Problems der weitgehend funktionslosen Onkel, das für den münsterländischen Adel im 19. Jahrhundert von größter Bedeutung war, sei noch einer der nicht seltenen Extremfälle geschildert. Der Leidensweg des Max v. Kerckerinck-Stapel läßt sich anhand der Briefe Annettes v. Droste-Hülshoff rekonstruieren. Am 23. 1. 1843 schrieb sie an ihre Cousine Pauline v. Droste-Hülshoff: Weißt Du schon, daß . . . Max seit einem halben Jahr in Neuyork ist? Er meinte, dort müßte ihm durchaus auf eine oder die andere Weise das Glück entgegenkommen; hier wollte es nicht gehen, weder mit dem gelehrten Examen, noch mit der militärischen Karriere, der seine Gesundheit nicht gewachsen war. So war er nicht zu halten und schon vor meiner Ankunft fort. Es geht ihm aber nicht besondes, er hat sich in den Ansiedlungen angekauft, scheint aber ein Grausen vor dem abgeschiedenen Leben zu haben, hat seinen erkauften Boden einem anderen Ansiedler verpachtet und wohnt selbst in New-York. Daß er unter diesen Umständen keine Seide spin-

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nen kann, begreift sich, und offenbar hält nur Scham, inkonsequent zu erscheinen, ihn zurück. Seine Briefe lassen gewaltig die Ohren hängen. Max hatte sich mit einem Mädchen, die Annette ,Settchen' nannte, vor seiner Abreise nach Amerika verlobt, wollte sich in Amerika eine sichere Existenz aufbauen, und dann seine Verlobte nachkommen lassen. Doch hielt es die Familie für besser, die Verlobung im Münsterland nicht bekannt werden zu lassen. Als Max zurückkommen wollte, riet seine Familie ab. Annette schrieb an ihre Schwester am 19. 2. 1843: Du weißt doch, daß Max Stapel nach Amerika gegangen ist? Johannes hat im die 1 ООО R T von Tante Phinas Erbschaft dazu ausbezahlt; er ist Ansiedler geworden, sitzt mitten in den Kolonien und schreibt, Wild, Korn und Holz wären im Überfluß vorhanden, aber sonst wäre es ein trübseliges Leben, und wenn die Seinigen es wünschten, wollte er wieder zurückkommen. Sie haben ihm aber geantwortet, wenn er satt zu Essen hätte, sollte er ja bleiben wo er wäre. Max kam aber dennoch im Juli 1843 zurück. Nach der Rückkehr aus Amerika verschlechterte sich sein psychischer Zustand jedoch zusehends. Hierzu noch einige Auszüge aus drei Briefen Annettes v. Droste-Hülshoff. A m 3 0 . 1 0 . 1 8 4 4 berichtet sie: Hier trafen wir gottlob alle Verwandten wohl, nur in Stapel alle sehr niedergeschlagen Maxens wegen, der gleich bei seiner Zurückkunft von Amerika sich wunderlich zerstreut, argwöhnisch etc. gezeigt hatte; dann nach einiger Zeit allerlei Gestalten zu sehen behauptet und endlich so komplett verrückt geworden ist, daß man ihn in die Anstalt zu Stadtberge hat bringen müssen . . .Eristdurchausnichtbösartig, sondern furchtsam aber sehr traurig, glaubt sich von allen Menschen verfolgt. Mit fortschreitender Krankheit wurden die Ursachen des Wirklichkeitsverlustes, der erzwungene Erb- und Heiratsverzicht, zusehends deutlicher; in einem Brief Annettes vom 3. 1. 1845 heißt es: Max Stapel ist noch immer in Stadtberge und keine Hoffnung zu seiner Heilung. Er hat jetzt ganz hochmütige Gedanken, meint, der ganze westphälische Adel sei seines Ranges entsetzt (wahrscheinhch hat er von den Geschichten wegen der Freiherrntitel gehört) außer ihm, er sei jetzt der einzige Adlige, alle Güter gehörten ihm und deshalb halte man ihn gefangen, damit er dies nicht könne geltend machen. Den Endpunkt dieser Entwicklung hat Annette in einem Brief vom 27. 10. 1845 festgehalten: Max ist's aber leider noch beim alten und die Hoffnung auf Besserung kaum noch vorhanden. Der arme Schelm wird sein Leben wohl in Stadtberge beschliessen müssen, da der Haß und die daraus entstehende Wut gegen seine Verwandten (von denen er meint, daß sie ihn um die Güter betrogen haben) schwerlich je seine Rückkehr nach Stapel erlauben werden. Wahn und Selbstmord waren die extremen Möglichkeiten, durch welche die Onkel, die aus Verzichtssituation und Statuslosigkeit entstehenden inneren Spannungen zu bewältigen suchten. In einer ähnlichen Lage wie die nachgeborenen Söhne befanden sich die unverheirateten Schwestern in der Lebensphase der ,Tanten'. Ihre Zukunftsperspektive war insofern noch hoffnungsloser, als sie gar keine Möglichkeit einer öffentlichen oder beruflichen Tätigkeit hatten. In drastischen Worten beschrieb Annette v. Droste-Hüls277

hoff in ihrem Brief an Elise Rüdiger vom 4. 9. 1843 die Zweiteilung in den Lebenschancen der Töchter: Was ist aus meinen Jugendfreundinnen geworden? Die eine Hälfte ist ganz in Hauswirtschaft, Mann und Kindern aufgegangen, die andere jetzt grämliche alte Jungfern, an denen weder Götter noch Menschen Freude haben können, und in denen nicht mehr Poesie ist, wie in einer getrockneten Pflaume."'

Die Familienväter suchten über testamentarische Bestimmungen im Vormärz die Lebensumstände ihrer nicht heiratenden Töchter durch Gewährung eines lebenslänglichen Wohnrechts auf dem Gut des ältesten Bruders und Stammherrn zu verbessern. Im günstigsten Fall wurden ihnen dann dort einige Funktionen der Hausherrin übertragen, z. B. in der Wirtschaft oder bei der Erziehung ihrer Neffen und Nichten.^^^ Zumeist aber war das Verhältnis zwischen den mit dem Gutsbetrieb und seinen Gewohnheiten von Kind auf vertrauten, aber nur geduldeten Tanten und der ungefähr gleichaltrigen neuen Hausherrin bald sehr gespannt und entwickelte sich zu einer Belastung des auf Harmonie angewiesenen Familienlebens des Stammherrn, so daß man auf die im väterlichen Testament als Ersatzlösung angebotene Geldlösung zurückgriff."« Die Lage der so in die Stadt abgedrängten Tanten wurde dadurch auf doppelte Weise verschlimmert; denn einerseits verloren sie die letzten Möglichkeiten zu einer beschränkten, aber doch gleichmäßigen und sinnvollen Beschäftigung, die sie jetzt nur noch zeitweise fanden, z. В. in der Pflege der verwitweten Mutter oder erkrankter Verwandter auf umliegenden Gütern. Andererseits aber mußten sie zugleich durch die ,Auslieferung' an die Öffentlichkeit der Stadt ihr Dasein als Jungfer in gesteigertem Maße empfinden, da hier ihre Status - und Funktionslosigkeit stärker hervortrat und im alltäglichen Erleben häufiger bestätigt wurde als auf dem Gut mit seinem begrenzten, zum Teil aus weisungsabhängigen Personen bestehenden Lebenskreis, oder etwa im Damenstift, wo eine Uminterpretation der sich zunehmend reduzierenden Lebenserwartungen in eine Art klösterlicher Frömmigkeit und damit der Erwerb eines von der Bezugsgruppe anerkannten Minimalstatus möglich war. In der Stadt aber gab es kein Entrinnen mehr vor der Fremd- und Selbstinterpretation als heirats willige, aber in diesem Bemühen gescheiterte Frau.^^® Als einziger Ausweg blieb nach der Aufhebung der Damenstifter seit 1803 der Eintritt in einen Orden: damit erwarben sie einen gesellschaftlich geachteten, vor allem aber familiär hoch bewerteten vollen Status. Diese Praxis, die sich auch aus anderen Gründen langsam durchsetzte, konnte das Problem mildern, aber nicht lösen. Das Selbstbild des individuellen Scheiterns blieb bei den unverheirateten Frauen, soweit sie nicht Nonne wurden, durchgängig erhalten; das vom Stand aufgebaute Heiratssystem, das die Zahl der heiratenden Männer stark einschränkte, wurde nicht als allgemeine Ursache der eigenen Misere erkannt und angegriffen. Da die damalige Welt der nach Selbständigkeit verlangenden adligen Frau noch keine berufliche Alternative bot, war die Gefährdung des Familiensystems von der Seite der,Tanten' weniger zu erwarten als von der der,Onkel', da deren Selbstbild sich eher von den Vorstellungen des Scheiterns aus eigener Unfähigkeit lösen konnte, wodurch eine grundlegende Kritik der Familienordnung erst möglich wurde. 278

1.3 Erste Stabilisierungsbemühungen

auf der

Familienebene

Die an Zahl und Intensität seit 1770 deutlich zunehmenden Konflikte innerhalb der Familie, die für die hergebrachte, kollektiv orientierte Familienordnung vor allem deshalb so gefährlich waren, weil ihnen Individualisierungsprozesse innerhalb der in unterschiedlichem Maße zu Verzicht aufgeforderten jungen Söhne und Töchter zugrunde lagen, provozierten schon bald erste Reaktionen der auf Bewahrung und Verteidigung des alten Familiensystems verpflichteten Familienhäupter. Aber seit der Mitte der neunziger Jahre verstärkten sich die den alten, die Familienhäupter stütztenden geistlichen Staat auflösenden Wandlungsprozesse, und damit das Maß und die Intensität der Mißerfolge und enttäuschten Erwartungen im Alltagsleben derart, daß sich - spätestens ab 1803 deudich spürbar - zunächst unbewußt, aber bald reflektiert, die Erkennntnis ausbreitete, innerhalb eines, vom Adel nicht umzukehrenden; vielleicht zu bremsenden und zu modifizierenden, umfassenden, die eigene Region weit umgreifenden Wandlungsprozesses zu stehen. Die Erfahrungen der Franzosenzeit in Westfalen wirkten hier beschleunigend. Man erkannte die sich fortwährend steigerende Distanz zwischen den Anforderungen und Normen der adligen Familien und des Adelsstandes auf der einen, gesamtgesellschafdich relevanter und erfolgreicher, von konkurrierenden neuen Eliten vertretener Verhaltensweisen auf der anderen Seite und sah mehr oder weniger klar in dieser Entwicklung die Ursache für das von der Familiennorm abweichende Verhalten der zum Verzicht bestimmten Familienmitglieder. Der Wirkungsverlust der adligen Familie im preußischen und französischen Staat und die damit einhergehende Entmachtung der Familienhäupter, die ihre politischen Funktionen ganz, ihre piazierenden und ökonomischen Funktionen zu einem erheblichen Teil einbüßten und damit auch in starkem Maße ihre Kontroll- und Disziplinierungsmöglichkeiten, bestimmte die Art und Weise der Reaktion: Man intensivierte die Aktivität der Familie in den ihr verbliebenen Funktionsbereichen. Das Ausmaß, in dem sich der münsterländische Adel nun auf sein Familienleben konzentrierte, zeigt an, wie stark der Übergang ins 19. Jahrhundert als Kontinuitätsbruch erfahren wurde. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte man die Angriffe durch konkurrierende, neu aufkommende Sozialgruppen, z.B. der bürgerlichen Beamten, noch weitgehend als unwesentlich betrachtet und ignoriert. Auf ähnliche Weise bewältigte man die Anfeindungen des Adels in den aufklärerischen bürgerlichen Journalen. So konnte man sich nun nicht mehr verhalten. Das Interesse, im preußischen oder französischen Staat in der Zentrale mitzuarbeiten, zu versuchen, so auf die neue Politik - trotz der zu erwartenden starken Steigerung der alltäglichen Mißerfolgserlebnisse - möglichst schnell einen blockierenden oder sogar umorientierenden Einfluß zu gewinnen, ist in der Zeit verstärkten Umbruchs um 1803, zumal in der Franzosenzeit, zuerst recht stark gewesen, hat dann aber, spätestens ab 1810/11, erheblich nachgelassen. Der größte Teil der Stammherrn zog sich auf seine Güter und in seine Familie zurück, die von ihm bevorzugte Reaktion auf die Umbruchserfahrungen war der Rückzug in die Privatheit. ^^^ Begleitet wurde diese Rückzugstendenz von der Ausbildung einer dualistischen Weltsicht. Das Leben außerhalb der Familie und der regionalen Adelsgruppe wurde 279

als fremd, ohne Orientierang und fortschreitend unerträglicher werdend interpretiert und damit von der gesicherten, harmonischen und sinnerfüllten Welt der Familie abgesetzt. Seinen adäquaten Ausdruck fand dieser Gedanke im Ideal des ,Still-Lebens' und im deutlich intensivierten Ausbau der Familiensphäre zu einem erholsamen, emotional bestimmten, sehr eng begrenzten Intimbereich.'" Die nicht bluts- und gefühlsmäßig eng verbundenen Bewohner des Hauses, z. B. das Gesinde, Hausbediente und Rentmeister, wurden - mit Ausnahme des Hofmeisters - noch stärker als bisher aus dem engsten familialen Vertrauenskreis ausgegliedert; die Einstellung von Hauspersonal jeder Art, von der Haushälterin bis zum Hofmeister wurde zum Problem. In einem Kodizill zum Testament vom 16. 12. 1847 teilte Bertha v. Nagel ihrem Sohn und zukünftigen Stammherrn ihre von Mißtrauen bestimmte Auffassung zu Hauspersonal und Bedienten mit: Clemens bitte ich insbesondere, dem Tun und Lassen seiner Untergebenen fleißig nachzuforschen, es ist unglaublich, welches Unrecht im Namen einer Herrschaft geschehen kann . . . Mancher Familienruin ist hierdurch herbeigeführt w o r d e n . " '

Besuche auf dem Landgut suchte man so weit wie möglich auf Familienmitglieder und die nächsten adligen Nachbarn einzuschränken. Bei der Aufstellung eines Haushaltsplans 1788 projektierte der Freiherr v. Landsberg-Velen drei Personen Besuch pro Tag; die erwarteten Personen waren vor allem ,,Herrschaften mit ihren Domestiquen". Auf das Jahr umgerechnet ergaben sich so tausend Besucher allein für das Haus Velen. Eine damit vergleichbare Besucherliste des Hauses Velen für das Jahr 1829 weist dagegen nur 224 Besucher im Jahr auf; von diesen 224 Besuchern war ein großer Teil noch aus eindeutig dienstlichen Gründen nach Velen gekommen. Ansonsten blieben die Familienmitglieder unter sich; nur selten kamen adlige Nachbarn zu Besuch, z. B. die Familie v. Merveldt, der Pastor v. Heyden oder die Famihe v. Oer. Nur zur Jagdzeit wurden Standesgenossen von weiter entfernt liegenden Gütern erwartet. Insgesamt hatte sich die Zahl der offiziellen Besucher im Vergleich zu 1788 also radikal reduziert. Der Wohnkomfort stieg, die Wohnung gewann eine gemütliche Note. Gemeinsam erlebte, alltägUche Situationen und Tätigkeiten, z . B . dieTeeund Kaffeestunden, die Lektüre von Büchern und Briefen, das gemeinsame Musizieren etc. erhielten einen ähnlichen Gefühlswert. Zwar war es schon im Ancien Régime durchaus üblich, daß Familien musizierten; doch zumeist besaßen solche Musikabende einen gleichsam öffentlichen Charakter. Sie waren stark nach außen ausgerichtet, auf Selbstdarstellung der Familie als einer Gemeinschaft von dilettierenden Kunstliebhabern. Nach 1800 wurden aber diese Hausmusikabende immer stärker zu privaten Unterhaltungen der Familie, die nur in geringem Maße durch andere Verwandte oder Bekannte, z . B . befreundete Musiker wie die Rombergs oder Schindler bei der Familie v. Landsberg-Velen, erweitert war."'' Die Mutter wurde nun völlig zum Mittelpunkt dieses ,kleinen Kreises', den man auch bei Familienfesten nicht wesentlich erweiterte. Entsprechend der hohen Bewertung des Häuslichen änderten sich auch die Leitbilder für die Ausbildung der Töchter. Berta v. Nagel ermahnte 1847 ihre Schwester, die für den Fall ihres Todes zur Erzieherin ihrer noch minderjährigen Kinder bestimmt war, sie möge die Töchter 280

„mehr . . . für ein stilles häusliches Leben zu bilden [suchen] als zum Glänzen in der Welt."^^' Insgesamt stieg die Beteiligung, Orientierung und emotionale Bindung der aufwachsenden Söhne und Töchter am Familienleben. Die neuen Erfahrungen bei dieser Wende in die Familie artikulierten sich auch deutiich in den Aussagen der В eteiligten; die drei folgenden Zitate sollen das noch einmal verdeutiichen. Ferdinand v. Galen betonte 1830 in seinem Tagebuch: Daß ich nirgends zufriedener, nirgends so glücHich als im Kreise der Meinigen bin, brauche ich mir selbst nicht zu wiederholen. Kein Bedürfnis ist so tief in mir gewurzelt, als das der Anhänglichkeit an meine Familie. Gelingt mir etwas, steige ich höher in Rang und Achtung bei den Menschen, so denke ich zunächst an die Freude, die ich den Meinigen machen werde. Alle meine Wünsche vereinigen sich in dem, sie glücklich zu sehen.

Und schon 1827 hatte er betont: Kein Bild hat für mich soviel Anziehendes, als das einer glücklichen Familie.'^"

Berta V. Nagel geb. v. Merveldt schärfte ihren Kindern 1847 in einem Testament ein: In der Weh findet man wenig, ja gar keine wahren Freunde, man wird dessen oft erst später gewahr, selbst da, wo man es am wenigsten erwartet. . . . In einem Haus, in einer Famihe . . . worin der Friede wohnt, weilt gern der liebe Gott.'^'

Und im Gründungsstatut des ,,Vereins zu Ehren der hl. Familie" von 1862 heißt es: Da von der Einrichtung des Familienlebens das Glück und die Wohlfahrt der einzelnen Personen sowohl, wie auch der ganzen Familie abhängt . . . so bildet sich dieser Verein unter dem Schutz der heiligen Familie zur Hebung des christlichen Familienlebens.''^

Die Zitate erfassen den Prozeß des Reflexivwerdens der Familienerfahrung, den Weg von der Familienmentalität der Umbruchszeit zur Familienideologie der Reaktionszeit. ^^^ Bevor die in den obigen Zitaten erfaßte .Familienlösung' der Umbruchszeit auf ihre Leistung hinsichdich der Erhaltung der Familienordnung und der Orientierung der Familienmitglieder befragt wird, ist noch auf drei damit verbundene familien- und standesinterne Entwicklungen besonders einzugehen: Die weitere Aufwertung der Frau, die Wandlung der Vaterrolle und die partielle Endastung der Adelsfamilie von gesellschaftlichen Verpflichtungen. Schon früh hatten einzelne hellsichtige Mitglieder des katholischen westfälischen Adels, z . B . derMinisterv. Fürstenberg, die Gefährdung des eigenen Standes und des geistlichen Staates insgesamt erkannt. Sein umfassendes, auf Stabilisierung des Adels durch Anpassung ausgerichtetes Reformkonzept betonte die nun gesteigerte Bedeutung häuslicher Sozialisation und forderte die Erziehung der Kinder durch die Mutter, eine Aufgabe, die bisher weitgehend an Hofmeister und Gouvernanten delegiert worden war. In dem Maß, in dem sich dieses Prinzip in den Familien des Adels durchsetzte, wurde auch die Notwendigkeit einer intensiveren und umfassenderen Ausbildung der Töchter und zukünftigen Ehefrauen anerkannt. Auch die fortschreitende Intensivierung religiöser Erfahrungen als eine andere Reaktion des Adels auf den gesteigerten Wandel erhöhte das Ansehen der Frau,^^ da sie, zumindest zunächst, zu dieser Leistung durch Sozialisation und Lebensstil besser vorbereitet war als der lange Zeit vorwiegend politisch und ökonomisch orientierte Ehemann. Schließlich kommt 281

noch hinzu, daß seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts das Bedürfnis der Väter und Söhne nach emotionaler Stabilisierung zunächst unmerklich, seit den neunziger Jahren dann stärker zunahm; und die Pflege des emotionalen Bereichs war seit jeher, wenn auch wesentlich schwächer, weil weniger notwendig, ausgeübt, eine Aufgabe der Frau. Diese familieninternen Prozesse stärkten weiter die Tendenz zur Aufwertung der adligen Frau. Die Familienväter und Stammherrn, deren Stellung am stärksten durch den Umbruch betroffen waren, orientierten sich zum Teil schon seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts sukzessiv um und erweiterten ihre Aktivitäten auf dem Gebiet der Güterorganisation und -Verwaltung. Recht sarkastisch, und, wie es oft der Fall war, wenn die adlige Frau als Vormünderin die Funktionen des Mannes übernahm, auch in übertriebener Form, hat wohl Dinette ν. Plettenberg-Lenhausen 1807 in dem Briefwechsel mit ihrem Bruder Franz v. Droste-Vischering den Rückzug des Adels von den politischen Wirren auf seine Ökonomie charakterisiert; am 28. Juli 1807 schrieb sie: . . . und Gott alles empfohlen, auch das neue Königreich Westphalen. Ich für meinen Teil wünsche im politischen Fache nicht das allergeringste mehr - nur viel in unsere Beutels, wenn es Gottes Wille, um (mit) Hülfe des Allmächtigen es alsdenn gut anzuwenden.

Doch der teilweise Rückzug aus dem Politischen zugunsten der Wahrnehmung ökonomischer Funktionen bewahrte die Familienväter als Leiter der Grundherrschaft nicht vor den sich steigernden alltäglichen Enttäuschungen und Mißerfolgserlebnissen, z . B . im Umgang mit den Verwaltungsinstanzen, den Dienste verweigernden Bauern oder den selbstbewußter werdenden Honoratioren ihrer Gemeinde. Das Bedürfnis nach affektiver Unterstützung im Familienkreis blieb so weiterhin erhalten, und da andererseits zugleich die Familiensolidarität der Kinder erkennbar nachließ, unterstützten die Väter und Stammherrn aktiv die Wendung zur Familie, gaben einen Teil ihrer autoritär-patriarchalischen Einstellungen und Verhaltensweisen auf zu Gunsten eines tendenziell stärker gleichberechtigten Verhältnisses zur Frau und zum Teil sogar zu den Kindern. Zugleich aber stärkten sie ihre Position durch Wiederaufnahme der religiösen Funktionen des Hausvaters, durch Beschäftigung mit den alltäglichen, konkreten Problemen der Kindererziehung und durch die unter ihrer Leitung gestalteten familienbezogenen Mußestunden, z . B . die Pflege der Hausmusik, gemeinsame Lektüre und Gesellschaftsspiele. Die Bedeutungssteigerung der Frau läßt sich nicht zuletzt daran ablesen, daß der aus sehr unterschiedlichen Gründen - wirksamste Verein des Adels im 19. Jahrhundert im Jahre 1800 als „Adliger Damenclub" gegründet w u r d e . D i e um 1800 gegründeten geselligen Vereine des Adels sind aber noch unter einem anderen Aspekt außerordentlich wichtig: Die städtische Geselligkeit des Standes, die bisher weitgehend von den Stadtpalais der Adelsfamilien getragen wurde, verlagerte sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf die neu gegründeten Vereine. Diese Entlastung der Adelsfamilie von einem erheblichen Teil ihrer repräsentativen Aufgaben begünstigte deren Umorientierung auf neue und die intensivierte Wahrnehmung ihr verbliebener alter Funktionen. Es entstand ein familialer Freiraum für solche Interaktionen, bei 282

denen selbst die in ihren Normen und Verhaltensweisen relativ homogenen StandesmitgUeder hätten stören können/^® Emotionale Entlastung, Umformung traditional vorgegebener Verhaltensorientierungen und Erarbeitung eines neuenSiwwj der Familie konnten zunächst nur im engsten Familienkreis stattfinden, und selbst hier war es nötig, zunächst einmal die schon vorhandenen vertraulichen Zweier-Beziehungen zwischen Geschwistern bzw. die die Familie übergreifenden Freundschaftsbeziehungen abzubauen oder auf die ganze Familie zu erweitern, so daß diese als grundlegende Vertrauensbasis gelten konnte.

1.4 Folgen des Rückzugs

auf die

Familie

Die .Familienlösung' als Reaktion auf den verstärkten Wandel rückte die Ehefrau und Mutter als Zentrum des emotional bestimmten Familiengeschehens in bisher noch nicht dagewesenem Maße in den Vordergrund. Das läßt sich vor allem an den neuen Voraussetzungen ehelicher Partnerwahl und deren Grundlage, der neuen Eheauffassung, aufweisen. Den neuen Anforderungen an das Familienleben gemäß, wurde in das Bild der zukünftigen Ehepartnerin von den heiratenden Adelssöhnen eine derartige Vielfalt von differenzierten Verhaltenserwartungen aufgenommen, daß manche Braut, trotz der ungünstigen Heiratschancen der adligen Töchter und obwohl ihr das abschreckende Schicksal der unverheirateten Tanten täglich vor Augen stand, im Gefühl überlastet zu sein, ihr Zustimmung hinauszögerte oder gar verweigerte. Noch mehr als der Freund wurde die Braut und zukünftige Ehefrau von den Adelssöhnen zur Idealfigur stilisiert. Die Eheverbindung sollte völlige Harmonie der Auffassungen, dauernde Einheit der Gemütsstimmung und rückhaldoses, durch nichts gefährdetes Vertrauen ermöglichen und so der grundlegende Fixpunkt gegenüber den verwirrenden Wandlungen der Außenwelt sein. Im vom Bürgertum übernommenen Begriff der ,edlen und veredelnden Weiblichkeit' vereinigten sich vor allem die Vorstellungen von Wahrhaftigkeit, Festigkeit des Charakters, Tiefe des Gefühls, Phantasie, Bescheidenheit, Heiterkeit, tiefer Religiosität, und nicht zuletzt auch umfassender Bildung. Wie zur gleichen Zeit das Kind, wurde auch die Frau mit den Attributen der Reinheit und ungekünstelten Natürlichkeit ausgestattet. In Entsprechung zu dieser Idealkonstruktion wurden weibliche Untugenden scharf verurteilt, vor allem Klatschsucht, Unausgeglichenheit, und Gemeinheit. Gemäß der so veränderten Auffassung von der Ehe als einer auf komplexen Voraussetzungen beruhenden Zweierbeziehung, als engstem Schutzkreis gegenüber einer belastenden feindlichen Außenwelt, wurde jede Fremdbestimmung bei der ehelichen Partnerwahl nun, zum Teil mit äußerster Empfindlichkeit, zurückgewiesen. So schrieb Sophie v. Fürstenberg an ihren Bräutigam Clemens v. Oer am 23. 3. 1829: . . . denn frei und ohne die geringste Beredung hat mein H e r z unter vielen anderen Dich gewählt und diese Wahl ward geleitet durch eine auf wahre Achtung gegründete Liebe; ohne eine solche Neigung würde ich Dich nie gewählt haben, und deshalb ist sie aber auch wahrhaft und fest. Doch dies alles war Fügung der gütigen Vorsehung.*'"' 283

Fragt man nach der Realitätshaltigkeit eines solchen vom deutschen Bildungsbürgertum übernommenen Frauen- und Eheideals, so wird man auf eine Untersuchung des konkreten Heiratsverhaltens verwiesen. Dabei zeigt sich zunächst einmal, daß Eheanbahnung und Partnerwahl in der Tat komplizierter wurden. Erfolglose Werbungen und Absagen, vor 1800 als aufsehenerregende Ereignisse erfahren, gehörten seit den zwanziger und dreißiger Jahren zur alltäglichen Erfahrung, und das war bei dem eng begrenzten regionalen Heiratskreis und dem schmalen Angebot von heiratsfähigen zukünftigen Stammherrn eine Entwicklung, die auf die Dauer die vom ehemaligen Stand weiterhin aufrecht erhaltenen Heiratsschranken in Frage stellen mußte. Aber wichtiger noch als die steigende Zahl erfolgloser Werbungen war deren neue Bewertung; denn die nun geforderte romantische Liebe als Voraussetzung einer Ehe ließ sich nicht beliebig und binnen kurzer Zeit von der einen auf die andere Partnerin ü b e r t r a g e n . D i e Belastung des traditional vorgegebenen Heiratsmarktes durch diese neue Ehekonzeption wird indirekt sichtbar in der Neigung vieler Familien, die Phase des Kennenlernens potentieller Ehepartner den Augen der regionalen Bezugsgruppe zu entziehen. Auf diese Weise entwickelte sich vor allem der sommerliche Aufenthalt in einem Badeort zu einem neuen Heiratsmarkt. Auch der Funktionsverlust von Verwandten, ,Freunden' und Eltern bei der Eheanbahnung hat sich zumindest zeitweise deudich bemerkbar gemacht. ,,Ehen werden im Himmel geschlossen"; ein solcher, um 1830 viel gebrauchter Satz fingierte zwar ein Maß von freier Partnerwahl, wie es in diesem Adel nicht bestand, artikulierte aber die Erfahrung, daß die rational geplante, unter Beteiligung aller Familienmitglieder nach herkömmlichen Kriterien - z . B . familienpolitische Notwendigkeiten, Prestige und Reichtum des Brautvaters, Qualitäten der Braut als Hausfrau und Gebärerin von Kindern - arrangierte Eheschließung stark zurückgedrängt und durch andere Verfahren ersetzt worden war. Auch der Wiederverheiratungsmechanismus, im Ancien Régime der Fall, an dem am klarsten die sachlich-familienpolitischen Bestimmungsgründe ehelicher Partnerwahl zutage traten, verlor nun, als eine Art sukzessiver Polygamie erkannt und negativ bewertet, sehr an Wirksamkeit. Der in solchen Fällen häufig auftretende große Altersunterschied wurde nun, in Erkenntnis und Anerkennung der nach Generationenlage nun deudich differierenden Erfahrungen, Zukunftsperspektiven und Auffassungen, als Hindernis für das von der Ehe geforderte Zusammenstimmen der Ehepartner und für die als notwendig erachtete starke Position der Frau in der Ehe angesehen. Auch die einst gewohnt schnelle Wiederverheiratung beleidigte nun die Angehörigen der verstorbenen Frau.'·*^ Schon diese, nach Maßgabe des in der Familienordnung genormten Heiratsverhaltens potentiell disfunktionalen Wirkungen sprechen für die verhaltensorientierende Kraft der neuen Eheauffassung; doch kann deren Wirksamkeit noch an Wandlungen in weiteren Verhaltensbereichen deudich gemacht werden. Eine große Zahl von Briefund Tagebuchstellen betonte den Eigenwert und die Würde der Frau in direkter Absetzung von den ihr sachlich-familienpolitisch zugeschriebenen Funktionen."' Für die Verinnigung der ehelichen Ich-Du-Beziehung sprechen die Gefühlssprache in den Briefen von Eheleuten, der sich schnell ausbreitende Treuekult und die immer stärker 284

sich durchsetzende Ablehnung der Wiederverheiratung, und zwar aus Gründen ehelicher Treue über den Tod hinaus. Besonders aufschlußreich sind Formulierungen in Totenbriefen, in denen die eheliche Verbindung als,,einziger Lebenssinn", „einziges irdisches Glück" etc. bezeichnet wird.^·*^ Das Trauerverhalten des hinterbliebenen Ehepartners wurde, in offenbarem Gegensatz zu früher, darauf ausgerichtet, das Vergessen zu verhindern, und zwar durch stetige Erneuerung des Trennungsschmerzes."® Aber auch an Testamentsbestimmungen, durch die der Frau - in Durchbrechung traditionaler Familienbestimmungen - der lebenslängliche Nießbrauch des gesamten Familienbesitzes vor dem Sohn eingeräumt oder sogar der gesamte Besitz übertragen wurde, läßt sich die reale Wirksamkeit der neuen Eheauffassung nachweisen.'^' Neben die neue Bedeutung der Frau als Ehepartnerin trat als weiteres Ergebnis innerfamilialer Wandlungen seit 1770 die verstärkte Hinwendung der Eltern zu ihren Kindern, die zwar in dieser Zeit nicht,entdeckt', wohl aber mit einer Vielzahl von neuen Erwartungen und Bedeutungen besetzt wurden, die auch das Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind weitgehend neu gestalteten. Die Kinder gewannen größeren Anteil am familiären Geschehen; in einigen Fällen treten sie sogar in den Mittelpunkt und formten dadurch Lebensrhythmus und Lebensstil der Familie stark um. Insgesamt läßt sich, vor allem nach 1800, eine Tendenz zu intensivierten Eltern-Kind-Kontakten, zu gemeinsamer Lektüre, Spiel und verschiedenen erholsamen Unternehmungen nachweisen. Berichte über häusliches, kindzentriertes Geschehen bekamen in den Briefen einen zunehmend wichtigeren Stellenwert; die Eltern förderten nun das Spiel als ihres Erachtens nun wichtigste kindgemäße Form der Interaktion; oft kam es dabei zum Mitspiel der Eltern. Wie am Kinderfest Weihnachten gespielt wurde, ist einem farbigen Bericht der Annette v. Droste-Hülshoff an ihre Mutter vom 5. 1. 1841 zu entnehmen: Mäxchen bekam viele Spielsachen, worunter ein Kasten mit Klötzchen zum Bauen und zwei Kinderflinten jetzt eine lächerlich wichtige Rolle spielen. Denk dir, jeden Abend wird ein großes Schloß gebaut, was dann Heinrich, Max und Werner à la tete mit den Flinten niederschießen. Es geht sehr langsam, da die Klötzchen so schwer sind,daß jedes 20mal muß getroffen werden, ehe es nur auf die Seite rückt; dann ein lautes Geschrei: ,Er hat sich bewegt! Er hat sich bewegt!' oder ,Er hat sich rundum gedreht!' Ich muß zuweilen vor Lachen aus dem Zimmer gehen, wenn ich meinen soliden Bruder so triumphieren höre, als wenn er wenigstens eine Sau geschossen hätte. Aber Werner ist wie toll darauf; er kommt abends eine halbe Stunde früher herunter, um das Schloß recht kunstgerecht mit aufzustellen zu helfen und damit es ja gleich nach Tisch angehen kann. Ich wollte du sähest ihn mit seiner Kinderflinte, rot vor Hast um den Kopf - es ist unbeschreiblich lächerlich. Line meint, das Pläsier würde den ganzen Winter vorhalten.

Spielzeuge, zum Teil schon frei von unmittelbar auf die zukünftige Erwachsenenrolle bezogenen Erziehungsabsichten, wurden in weitaus stärkerem Maße als zuvor Bestandteil der neu eingerichteten Kinderstuben. Die Kleidung der Kinder löste sich von Status- und Rollenvorstellungen der Erwachsenen, wurde gesünder und bequemer, setzte frei zur spontanen Bewegung im Spiel. Auch auf den bisher Repräsentationsintentionen vorbehaltenen Portraits erschienen nun Kinder als Spielende, wobei nicht die familial festgelegte Rolle, sondern die Individualität des Kindes stärker betont war.^'^ Hohe Feste, vor allem das Weihnachtsfest, wurden zu einem ,Fest der Kinder' 285

uminterpretiert; der Umfang der Kindergeschenke scheint ständig gestiegen zu sein.^'^ Auch an der Entwicklung einer eigenen, auf die vermutete Auffassungsgabe der Kinder bezogenen Sprache läßt sich die verstärkte Zuwendung zum Kind erkennen. Vor allem aber zeigen der Schmerz bei eventuell notwendig werdenden zeitweisen Trennungen von den Kindern und die Formen des Trauerns um frühverstorbene Kinder den erstaunlichen Wandel, der sich in der Einstellung zum Kind, selbst zum Kleinkind, in dieser Zeit vollzogen hat.^®* Die Intention, eine relativ autonome, eigenen Gesetzen gehorchende Kinderwelt aus der Erwachsenenwelt auszugrenzen, die sich in der Betonung des Spiels und der .Freisetzung' der Kinderkleidung von Rollenzwängen der Erwachsenenwelt artikulierte, führte auf einer anderen Ebene zur Anerkennung, zumindest aber Duldung, nun als spezifisch kindgemäß aufgefaßten Verhaltensweisen wie Emotionalität, Lebhaftigkeit und Übermut. Auch das Bemühen um eine dem Kind verständliche und seinem vermuteten Entwicklungsstand gemäßen Lektüre zeigt, daß man bestimmte von der Erwachsenenwelt ausgehende Einflüsse vom Kinde fernzuhalten suchte.^®® Kindererziehung wurde zunehmend stärker als schwierig und problematisch empfunden und dementsprechend stieg die Neigung, Rat und Information bei .Spezialisten', den mehr oder weniger theoretisch-wissenschaftlich oder praktisch mit Erziehungsproblemen befaßten bürgerlichen Pädagogen, einzuholen. Mit der Tendenz zur relativen Trennung von Erwachsenen- und Kinderwelt stellte sich für den Stand auch das Problem, den Übergang des Kindes vom einen zum anderen Lebensstadium neu zu bestimmen. Dieses Thema wurde z. В. bei den Diskussionen um das Mindestalter zur Wahlberechtigung im neu zu gründenden Damenstift sehr ausführlich behandelt. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der münsterländische Adel in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Vorstellungen von einer - in Grenzen - notwendigen eigenständigen, ,kindgemäßen' Welterfahrung entwickelte und praktizierte. Fragt man nach den Motiven, die solchem Verhalten zugrunde lagen, so sind verschiedene Äußerungen in den Briefen erhellend. Zunächst fällt auf, daß analog zum Idealbild der Frau auch das Kind mit Attributen der Reinheit, Unschuld und Natürlichkeit ausgestattet wurde. Einen hohen Gefühlswert gewann die Vorstellung einer im Spiel „sorglosen Jugend". Besonders auffällig ist aber letztlich die intensive, besorgte Beobachtung der Kinder, die Interpretation selbst des kleinsten Entwicklungsfortschritts unter dem Aspekt ihrer Zukunftschancen und die Hervorhebung solidarischer Verhaltensweisen zwischen den Kindern."^ Hierher gehören weiterhin: die Betonung der ,,schweren Sorge", die mit der Aufgabe der Kindererziehung den Eltern auferlegt war; die steigende Beschäftigung beider Elternteile mit der Kindererziehung und deren Problemen und die anwachsenden Schwierigkeiten bei Auswahl und Kontrolle des Kinderpflege- und Erziehungspersonals. Diese Äußerungen und Verhaltensweisen erlauben, die veränderte Stellung des Kindes in der Familie ebenfalls auf die intensivierte Erfahrung des Wandels und der Auflösung familiärer Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen zurückzuführ e n . * " Einerseits hatte man das Bedürfnis nach Entlastung von einer als orientierungslos definierten Welt außerhalb der Familie und nach Erholung und Stabilisie286

rung in einem durch intensive emotionale Bindungen vor Disharmonie gesicherten Familienkreis; und die intensivierten Beziehungen zu den Kindern spielten dabei eine wichtige Rolle. Auf der anderen Seite aber antizipierte man, soweit es die verunsicherten Zukunftsvorstellungen zuließen, den Lebensweg der Kinder, und da schien vor allem sicher, daß die Heranwachsenden in starkem Maße psychischen Belastungen durch Mißerfolgserlebnisse verschiedenster Art, dazu Verführungen und Anfechtungen, vom familial definierten Verhalten abzuweichen, sowie hohen Leistungsanforderungen ausgesetzt sein würden. Aus diesem Grunde gewährte man den Kindern eine sorgenlose Zeit vor dem Eintritt in das wesentlich härter und schwieriger gewordene Erwachsenenleben und suchte ihr familiensolidarisches Verhalten über den Aufbau intensiver, dauerhafter emotionaler Bindungen zwischen den Familienangehörigen neu zu fundieren und zu sichern.'*" Begünstigt wurde die Rezeption und Durchsetzung des .Kindheits'-Konzepts von den Wirkungsverlusten des Vaters und dem Verlust der in Familie und Stand gesicherten Ämter. Beide Vorgänge hatten erhebliche Konsequenzen für Form und Inhalt häuslicher Sozialisation; denn: nur in geringem Maße konnten die Väter und Onkel noch geeignetes Verhaltensvorbild für imitierendes Lernen der Kinder sein; die meisten ihrer gewohnten Verhaltensweisen waren für ein Bestehen in der neuen Zeit nicht geeignet. Da sich die Situationen des zukünftigen Lebens nicht mehr in eine Zahl von überschaubaren Fällen, die in der hergebrachten Wertordnung aufgingen, kategorisieren ließen, bedurften die Aufwachsenden, sollten sie in der neuen Umgebung bestehen, einer abstrakteren, emotional gefestigten, im Innern verankerten, familial gebundenen Grundorientierung, die ein flexibles und in Grenzen sogar selbständiges Handeln in der Außenwelt ermöglichte. Insofern verbinden sich im Kindheitskonzept des münsterländischen Adels Einfühlung, Realitätsanalyse und Disziplinierungsintentionen.*" Nicht nur das aufwachsende Kind, auch schon das Kleinkind wurde Gegenstand elterlicher Liebe und Fürsorge.'*^ Wichtigster Indikator für die intensivere Beziehung zum Kleinkind ist, daß die Mütter seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dazu übergingen, ihre Kinder selbst zu stillen. Die älteren Formen des Stillens durch Ammen oder das Füttern des Kindes mit Brei, Kuhmilch etc. blieben daneben aber noch bestehen, vor allem deshalb, weil der Übergang der adeligen Frauen zum Selbststillen oft mit Schwierigkeiten verbunden war.'®^ Einerseits stellte sich häufig nur langsam Milch ein, andererseits mußten die Mütter in vielen Fällen erst einen Kampf um ihr ,,heiligstes Mutterrecht" gegen die der neuen Methode mißtrauisch gegenüberstehenden, gesundheitliche Schäden für das Kind befürchtenden Verwandten bestehen. Am Fall der Sophie V. Oer, geb. v. Fürstenberg wird dieser bisweilen notwendig werdende Kampf der jungen Mutter um ihr ,,Mutterrecht" in einem Briefwechsel deutlich. Am 28. 6. 1830 schrieb sie ihrem Mann Clemens: Seit vorgestern ist die Amme von Havixbeck hier; hat aber erst seit gestern Mittag ihr Amt angetreten, indem [ihre] . . . Milch wenig Unterschied mit meiner so außerordentlich г^егги/еиея und bös seyn sollenden Milch hatte; . . . zugleich vermehrt sich meine Milch tagtäglich, und nach des strengen Dr. Busch' eigenem Urteil verbessert sich auch so, daß er mir heute morgen sagte, ich könne vielleicht doch noch dazu kommen, mein Kind selbst zu stillen, was mich überglücklich machen würde. Täglich flehe ich darum zu Gott und zur Heiligen Jungfrau . . . und so lebe ich nun noch immer der süßen H o f f n u n g des Selbststillens. Wenn dieses nun ohnbeschadet

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des Kindes, denn sonst verlange ichs gewiss nicht - geschehen kann - dann wirst du, mein herzensbester Clemens, mir doch gewiß nicht hierin entgegen seyn? Sobald du das wärest . . .würdest du mich . . . grenzenlos unglücklich machen. Aus verschiedenen Gründen habe ich einige Ursache zu glauben, daß planmäßig - nicht von dir- sondern von anderen Seiten - darauf gearbeitet worden ist, daß ich nicht selbst stillen soll. Ich tue, als merkte ich nichts, fahre in meiner Lebensweise so fort, bin vergnügt und werde mir mit deiner Hülfe, worauf ich fest rechne, mein Mutterrecht nicht nehmen l a s s e n . ' "

Insgesamt scheint das Selbststillen im münsterländischen Adel während des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts allgemein geworden zu sein. Unmittelbare Folge war eine engere emotionale Bindung der Mutter schon an das Kleinkind.'®® Auf die Einflüsse der Mütter ist es auch im wesentlichen zurückzuführen, daß das damals sich stark verbessernde Angebot kindermedizinischer Fürsorge, z . B . die Möglichkeit, Kinder zu impfen, von diesem Adel schon vor der Wende zum 19. Jahrhundert akzeptiert wurde. Die Ausweitung der familieninternen und familienübergreifenden Vertrauenskreise, der Geschwister- und Freundschaftsbeziehungen, auf die ganze Familie, erfolgte über die Mutter, die das Vertrauen und die Liebe der Kinder in weitaus höherem Maße besaß als der Vater. Die Intensivierung der Mutter-Kind-Bindungen läßt sich im ersten Teil der Umbruchsphase darüber hinaus auch als Reflex verstärkter Konflikte zwischen dem Vater und den zum Verzicht aufgeforderten Söhnen und Töchtern deuten. Im zweiten Teil der Umbruchsphase, nach seinem Rückzug in die Familie, wurden dann auch die emotionalen Bindungen zum Vater enger. Seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts sind besonders innige und vertrauensvolle Mutter-Kind-, vor allem Mutter-Sohn-Bindungen in großer Zahl nachzuweisen. Die liebevolle, gute, zärtliche Mutter gewann in den Erinnerungsreflexionen der in der Umbrachzeit Geborenen einen sicheren Platz. So suchte der Diplomat Ferdinand v. Galen während seiner langen Abwesenheit aus dem Münsterland immer wieder die Erinnerung an seine Mutter; am 18. 6. 1825 heißt es z . B . in seinem Tagebuch: Sonderbar ist es, daß mich oft, auch in der angenehmsten Gesellschaft eine große Sehnsucht anwandelte, allein zu sein. Ich legte mich in einem abgelegenen Teil des Gartens ins Gras, sah in die Wolken, die der Wind in schnellem Lauf am Himmel jagte und dachte an meine Mutter . . . wie gern, wie oft denke ich an sie.

In einer Eintragung vom 22. 12. 1825 erwähnt er, daß er das Bild seiner Mutter kopieren lasse, um es immer bei sich tragen zu können. In vielen Korrespondenzen zwischen Müttern und ihren erwachsenen Söhnen fällt auf, daß das alte, distanzierende Respektsverhältnis nahezu völlig zugunsten einer besorgten, fürsorgenden, um Schutz bemühten Haltung des Sohnes und der Rolle einer auf Befehle verzichtenden Mutter als vertrauter Ratgeberin aufgelöst erscheint. Der Tod einer Mutter wurde nun als „unersetzlicher Verlust" e r f a h r e n . F ü r MutterTochter-Bindungen gleicher Intensität finden sich ungleich weniger Hinweise; doch mag das an der geringeren Mobilität der Töchter und den damit verbundenen beschränkteren Möglichkeiten zur Korrespondenz liegen."® Dagegen blieb die Vater-Bindung der Kinder, trotz unübersehbarer vom Vater ausgehender Bemühungen um Annäherang, wesentlich schwächer emotional fundiert als 288

die zur Mutter; am ehesten scheint sich eine engere Bindung hier auf der Vater-Tochter-Ebene durchgesetzt zu haben. Der Vater bheb auch in dieser Zeit Vertreter der Familienordnung und Träger der famihalen Kontroll- und Disziplinargewalt; einer Intensivierung emotionaler Beziehungen waren von dieser Aufgabe her Grenzen gesetzt. Er repräsentierte das Heirats- und Erbverzichtssystem der Familie und des Standes, er strafte bei abweichendem Verhalten und entschied weitgehend über den Lebensweg der nachgeborenen Söhne. Bei den Geschwisterbeziehungen dominierte hinsichdich des Grads der Gefühlsbindung das Bruder-Schwester-Verhältnis, das als eine der ersten emotional intensivierten innerfamiliären Zweierbeziehungen schon seit 1770 überaus häufig nachzuweisen ist.'^' Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verlor dieser Vertrauenskreis aber zunehmend seine den Familienordnungsnormen entgegengesetzten Orientierungen; eine Stufung nach dem Kriterium Stammherr-Schwester bzw. nachgeborener SohnSchwester, die man aufgrund einer ähnhchen Verzichtssituation der Letztgenannten hätte erwarten können, läßt sich anhand der Quellen nicht eindeutig feststellen. Der Prozeß der Intensivierung emotionaler Beziehungen betraf, trotz aller Abstufungen im Grad der Gefühlsbindungen, vor allem die unmittelbaren Angehörigen der adligen Kernfamilie; in weiter außen liegenden Verwandtschaftskreisen drangen die veränderten Personenbeziehungen nur in sehr abgeschwächtem Maße vor. An drei Indikatoren des Alltagslebens soll die gesteigerte Intensität der Gefühlsbindung im engeren Kreis der Adelsfamilie noch einmal zusammenfassend deudich gemacht werden: Da ist zunächst auf den veränderten Gebrauch der Vornamen hinzuweisen. In einer ersten Phase erscheinen die Kindernamen zu Niedlichkeitsformen abgewandelt, z.B. Mecherle statt Mechthilde; dann, um 1800, finden sich neben den Kosenamen auch Spitznamen für Kinder, die sich vom eigentlichen Namen völlig abkehrten und wohl in bestimmten gemeinsamen Familienerlebnissen ihren Ursprung hatten, so daß die Erinnerung daran über den Spitznamen festgehalten wurde. ^^^ Die .Privatisierung' der Eltern-Kind-Beziehungen und die Anerkennung der Individualität des Kindes, die sich in einem solchen Verhalten, Namen gegenüber, ausdrückt, wird erst recht deudich, wenn bedacht wird, daß im Ancien Régime die Namengebung nach einem umfassenden Programm erfolgte, das sich auf bestimmte Familientraditionen stützte und den Lebensweg sowie die Erziehung des Kindes weithin festlegte. Die Spitznahmen aus der Kinderzeit wurden auch im Erwachsenenalter beibehalten. Später breitete sich diese Gewohnheit in einer Art,Spitznamenkult' im gesamten münsterländischen Adel aus und gewann eine wichtige Funktion bei der Konstituierung des ehemaligen Adelsstandes als streng begrenzter Sympathiegruppe. Max v. Korff hielt die Spitznamen in seinen ,,Aufzeichnungen aus meinem Leben" in den fünfziger Jahren für ,,eine Eigentümlichkeit, die wohl dem münsterländischen Adel ankleben muß, da auch fast alle meine Bekannten einen Spitznahmen tragen". Als weiteres Mittel zum Aufbau und zur Stabilisierung der emotionalen Familienbindungen wären die in ihrer Bedeutung im 19. Jahrhundert außerordentlich aufgewerteten Familienfeste des Adels, vor allem die religiös bestimmten, wie Taufe, Kommunion, Firmung, aber auch Hochzeit und Namenstag zu nennen. Sehr früh ar289 19

Reif, Adel

tikulierte sich hier das Bedürfnis, sich gegenseitig zu beschenken. Doch bedurfte es dazu bald auch nicht mehr des Anlasses von Familienfesten; Erinnerungsgeschenke und kleine Aufmerksamkeiten wurden zu jeder Zeit des Alltagslebens ausgetauscht. Mit den Erinnerungsgaben ist schon eine weitere Ebene alltäglichen Verhaltens angesprochen, auf der die emotionale Intensivierung erkennbar wird: das Trauerverhalten beim Tod von Familienmitgliedern. Hier sind Äußerungen zum Tod von Familienmitgliedern, und zwar nicht auf der schon thematisierten Ebene individueller Gefühlsäußerung anhand von Briefen und Tagebüchern, sondern auf der der Aussage von Totenbriefen besonders aufschlußreich. Diese waren aufgrund ihrer lange Zeit ungebrochenen Tradition bis zum Ende des 18. Jahrhundert stark verformelt. Nun entwickelte sich aber seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine auffallend abweichende, erst ab 1840/50 wieder zur alten, verdinglichten und bedeutungsarmen Sprache zurückkehrende Variante, die hier kurz dargestellt werden soll.^^® Zunächst einmal kann man, wie an den Familienbildern, viele der bisher dargestellten, die internen Familienbeziehungen betreffenden Veränderungen auch hier erkennen. Die Gefühlssprache durchbricht die alte Verformelung und produziert eine außerordentlich große Vielfalt von Ausdrucksformen der Trauer; nur wenige ältere Textelemente widerstehen der Auflösungsbewegung und bleiben erhalten; die Tendenz zur Ausdruckssprache kulminiert in einer neuen Form von Totenbriefen, die man gleichsam als kleine Sterbelegenden bezeichnen kann. Die Intention, dem gesteigerten Trauerempfinden eine adäquate Ausdrucksform zu verleihen, führte hier zur genauen Schilderung des Todesvorganges; aber in der Art, daß durch Einarbeitung von religiösen Vorstellungsinhalten und Gebetselementen in den Text und eine äußerst detaillierte, alle Hoffnungen und Ängste dieser letzten Stunde noch einmal aktualisierende Schilderung, in der sich der Schreiber gleichsam im Niederschreiben zu intensiviertem Nach- und Neuerleben und zur weiteren Mitteilung emotional bewegender Details immer neu inspirierte, der reale Sterbevorgang so immens überhöht wurde, daß er als authentischer Bericht über ein kleines Wunder erschien, von den noch unter dem Eindruck dieses Ereignisses stehenden Beteiligten erzählt. Verstärkte Erfahrung von Wandel und Konflikt, erweiterte Innerlichkeit und Gefühlssensibilität, intensivierte, emotional fundierte Familienbeziehungen und verstärktes religiöses Erleben aber auch ein gewisses Bedürfnis nach Propagierung vorbildlichen, adUgen Sterbeverhaltens haben zu dieser übersteigerten und nach der Mitte des 19. Jahrhunderts auch wieder zurückgenommenen Form eines Totenbriefs geführt."® Noch eine weitere Folge der Privatisierung und Emotionalisierung der Adelsfamilie ist an den Totenbriefen abzulesen: seit 1840/50 verdrängte ein emotional bestimmter Familienbegriff den lehnsrechdich und agnatisch begründeten. In den von Stammherrn herausgegebenen, den Tod eines Familienangehörigen anzeigenden Totenbriefen wurden nun die nach älteren Vorstellungen an sich nicht mehr zur Familie gehörigen Schwestern und später auch deren Familie mit aufgenommen, so daß sich die Unterschriftenketten immer stärker ausweiteten. Begünstigt durch die Auflösung des Lehnsystems und der adligen Hausherrschaft erfolgte so über die verheiratete Schwester eine emotional fundierte Erweiterung der Familienvorstellung.

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1.5 Leistungen der Adelsfamilie in der Phase des Umbruchs Sucht man, vor einer zusammenfassenden Darstellung der Auswirkungen des bisher dargestellten Familiengeschehens innerhalb des münsterländischen Adels, nach indirekt oder direkt wertenden Aussagen der Beteiligten über ihre Familienerfahrungen, so fällt als erstes eine vom Ende des 18. Jahrhunderts bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus sich durchhaltende religiöse Überhöhung des Familiengedankens auf. Der Kreis um die Fürstin Gallitzin und v. Fürstenberg erhielt schon früh den Namen ,,familia sacra", und 1862, in einer Zeit also, in der von einer verstärkten Gefährdung des katholischen westfälischen Adels wie um 1800 nicht mehr gesprochen werden konnte, gründeten westfälische adelige Damen einen ,,Verein zur Ehren der Heiligen Familie", dessen Statuten mit folgenden Sätzen beginnen: D a von der Einrichtung des Familienlebens das Glück und die Wohlfahrt der einzelnen Personen sowohl, wie auch der ganzen Familie abhängt, und da dadurch auf das W o h l vieler anderer eingewirkt wird; da ferner durch ein gemeinschaftliches Band mancherlei erreicht wird, was sonst kaum erreichbar ist, so bildet sich dieser Verein unter dem Schutze der Heiligen Familie zur Hebung des christlichen Familienlebens. Die geeigneten Mittel dazu sind die eigene innere Vervollkommnung und Bekämpfung des frivolen Weltgeistes in sich und dem ganzen häuslichen Kreise."'

Hier sollten also als negativ angesehene Entwicklungen in der Umwelt, die zunächst noch ungenannt blieben, dem Adel aber - zumindest nach seiner subjektiven Einschätzung - gefährlich werden konnten, dadurch bekämpft werden, daß man sie in Hinsicht auf den Familienkreis reflektierte und aus der erkannten Gefährdung Berechtigung und Richtung erzieherischer disziplinierender und formierender Maßnahmen gegenüber den eigenen Kindern und - soweit damals noch möglich - dem Hauspersonal ableitete. Erst von der so gefestigten Familie aus wurde eine bessernde Einwirkung des Adels auf die Umwelt erwartet. Hiermit waren wichtige Erinnerungen an das Familiengeschehen der Umbruchzeit wieder aktualisiert: zunächst galt es, die Solidarität der Kinder mit der Familienordnung zu sichern; erst wenn man ihrer weitgehend sicher war, konnten die negativen Entwicklungen außerhalb der Familie bekämpft werden. Auf die Erfahrung des Adels in der Umbruchzeit, der religiösen Metaphorik entkleidet, angewendet, bedeutete der Kampf des einzelnen gegen den ,, frivolen Weltgeist" in sich selbst vor allem die Anerkennung der ihm von der Familie auferlegten Verzichtsleistungen und die Unterdrückung seines Bedürfnisses nach individueller Selbstverwirklichung in einer an Alternativen reichen, viele , Verführungen' bietenden Welt. Dem Kampf gegen den ,,frivolen Weltgeist" in der Welt führte er dann solidarisch mit seiner Familie und seiner adligen Bezugsgruppe, dem ehemaligen Stand, zur Sicherung von Herkommen, alter Sitte und altem Recht. Aber noch zwei andere Passagen dieser Einleitung des Vereinsstatus bargen Erinnerungen an das Familiengeschehen um 1800: die herausgehobene Bedeutung der Mutter für die damaligen Familienprozesse und die Wichtigkeit der Religion als Mittel der emotionalen Intensivierung von Familienbeziehungen. Die damalige Verbindung und spezifische Fernwirkung dieser beiden Faktoren artikulierte sich in einer Aussage des Bischofs Wilhelm v. Ketteier 1848: 291

Die größte Wohltat, die Gott einem Menschen in der Natur zuwenden kann, ist ohne Zweifel das Geschenk einer wahrhaft christlichen Mutter . . . Wenn die Mutter schon lange im Grabe ruht, der Sohn aber von den Stürmen des Lebens ergriffen hin- und hergeworfen wird und nahe daran ist, Glauben und Sitte einzubüßen, dem ewigen Verderben anheim zu fallen, so wird die fromme edle Gestalt seiner christlichen Mutter ihm noch erscheinen und ihn mit wunderbarer Gewalt auf die Bahn des Glaubens und der Tugend zurückführen . . . Wer die Tugend einmal in so verklärten Bildern geschaut, der kann ohne Widerwillen und Verachtung selbst dann das Laster nicht betrachten, wenn er selbst davon ergriffen i s t . " '

Ketteier war es, der von sich selbst einmal sagte, daß er ,,Durch das reinste Familienleben in die Welt e i n g e f ü h r t " w o r d e n sei. Im folgenden sollen nun die in den vorhergegangenen Abschnitten dargestellten innerfamilialen Prozesse noch einmal zusammenfassend nach ihrer Leistung für die Erhaltung der Familienordnung und ihrer Bedeutung für die einzelnen Familienangehörigen befragt werden. Die Gliederung der Antwort folgt dem zeitlichen Verlauf der Problemlösung auf der Familienebene. Damit soll den Handelnden nicht eine bewußte Konzeption pauschal unterstellt werden; der Grad, in dem den Beteiligten dieser Prozeß bewußt war, variierte außerordentlich stark; vieles lief vermittelt und weitgehend ,naturwüchsig' ab: 1. Der Rückzug in das Refugium der Privatheit entlastete vor allem den Vater und Stammherrn als Repräsentanten der Familie und ihrer politischen, ökonomischen und sozialen, auf Alter,,Leistung* im alten Sinne und Herkommen gegründeten Ansprüche, in wesentlich schwächerem Maße auch die anderen, in der außerhäuslichen Welt tätigen männlichen Familienmitglieder von der fortschreitend sich verstärkenden und als demütigend empfundenen Erfahrung einer wachsenden Unvereinbarkeit von Adelsnorm und Umwelt. Er bot den Familienhäuptern die Möglichkeit, sich auf ein, wenn auch stark reduziertes, aber durch Intensivierung bisher delegierter Funktionen ausweitbares Tätigkeitsfeld zurückzuziehen; sie beschäftigten sich nun stärker mit der Eigenwirtschaft und erweiterten ihren Aufgabenbereich als Familienväter. 2. Der Aufbau intensivierter Gefühlsbeziehungen im Familienkreis std¿¿/í5¿erte das gefährdete Selbstbild des Familienvaters. Über emotional und religiös fundierte Erfolgserlebnisse im engsten Familienkreis versicherte er sich seiner Familie als solidarischer Handlungsbasis. Die gemeinsamen religiösen und musischen Aktivitäten im Familienkreis waren in einer ersten Phase nach 1770 das Medium, über die das vorher an Entwicklung und Artikulation von Gefühlen wenig interessierte Familienhaupt die emotionalen Bindungen zu seinen Angehörigen verstärkte. Die Entwicklung der sich aus Stand und weiterer Verwandtschaft stärker ausdifferenzierenden Kernfamilie des Stammherrn zur emotional gefestigten, unter dem Postulat der Harmonie stehenden grundlegenden Vertrauensbasis ermöglichte die zur Polarisierung fortschreitende Einteilung der Wirklichkeit in eine desorientierte und entartete gefährliche Außenwelt, deren Ansprüchen man nicht zu folgen bereit war, und eine,wahre', an den alten Orientierungen festhaltende, allein ,Glück' ermöglichende F a m i l i e n s p h ä r e . E i n bisher weitgehend vernachlässigter Teilbereich der Praxis adliger Familienhäupter gewann so eine neue entscheidende Bedeutung. Die von den Vätern unterstützte Emotionalisierung der Familienbeziehungen dynamisierte zwar in Grenzen das bisher so feste, hierarchisch strukturierte Rollenver292

ständnis der Familienangehörigen in Richtung einer stärkeren Betonung der Gleichwertigkeit aller Familienmitglieder, so daß Spannungen zu den dem Wandel gleichsam entzogenen gestuften Verzichtsanforderungen der Familienordnung in der Phase des Übergangs der Kinder zum Erwachsenstatuts nicht zu vermeiden waren. Doch die intensivierten Familienbindungen waren in der Regel stark genug, diese Spannungen zu überwinden. 3. Die Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehungen leistete den wohl wichtigsten Beitrag zur Erhaltung der Familienordnung: Die innerfamilialen und familienübergreifenden Vertrauenskreise zwischen Geschwistern oder Freunden wurden wieder aufgelöst bzw. auf die Familie erweitert. Die von den Eltern kontrollierte Familie wurde zum grundlegenden Vertrauenskreis, gegen den sich letztlich auch die Freundschaft nicht durchsetzen k o n n t e . E i n dritter Ort möglicher, von den Eltern unbeeinflußter Orientierung war die Ehe. Die Ehegattenwahl der Kinder wurde im Vormärz zunehmend an den regional und standesspezifisch definierten Heiratskreis zurückgebunden. In den meisten Ehen bestätigten sich infolgedessen wieder zwei nah verwandte Familientraditionen in der Beibehaltung hergebrachter Normen. Sich aus der Familie ausgrenzende Geschwisterbindung, Freundschaft und Ehe, drei Sozialformen, die eine Orientierung an den im preußischen Staat relevanten, allgemeinen Normen hätten erleichtern, die partikularen, altständisch und regional bestimmten Einstellungs- und Verhaltensmuster hätten auflösen können, wurden sukzessiv durch die Familie als grundlegenden Vertrauenskreis ersetzt bzw. durch fortdauernde elterliche Kontrolle an der Entfaltung innovativer Wirkungen gehindert. Wesentliche Grundlage dieser neuen Leistungsfähigkeit der Familie, durch welche die Fortdauer der alten Familienordnung auch unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts gesichert wurde, war ein neues Kontrollmittel, welches den durch den Wandel geschwächten Sanktions- und Kontrollmöglichkeiten der Eltern zu Hilfe kam. Die von der Familienordnung geförderte Verzichtsdisziplin, unter den Bedingungen des Umbruchs von den Kindern verstärkt als Belastung empfunden, wurde in der Folge jenseits der traditionellen Mittel durch die psychisch äußerst wirksame Strafe des angedrohten elterlichen und geschwisterlichen Liebesentzugs gesichert.'®^ Dieses neue Sanktionsmittel und die Tatsache, daß die Interaktionen zwischen Eltern und Kindern nun in dem für Außenstehende, selbst für Standesgenossen, weitgehend unsichtbaren Raum der privatisierten Adelsfamilie stattfanden, waren Grundlagen einer neuen, flexibleren Erziehung, die einen im Innern emotional-religiös verankerten, auf wenigen grundlegenden, aber weiterhin unverwechselbar ,adligen' Prinzipien aufbauenden festen Verhaltenskern erzeugte, der im Erwachsenenalter ein den Familienund Standesnormen gemäßes, nun aber stärker selbstkontrolliertes Handeln, vor allem im Umgang mit den vielfältig sich bekämpfenden Interessengruppen und Klassen im Vormärz und nach der Revolution von 1848, zuließ. Die infolge der verstärkten Erfahrung des Wandels bei den aufwachsenden Kindern einsetzenden Individualisierungsprozesse wurden von den Eltern, die ihr Verhalten zu den Kindern innerhalb der Familie ebenfalls in Grenzen individueller gestalteten, gleichsam umgelenkt und zur Stützung der an kollektiven Zielen ausgerichteten Familienordnung genutzt. Positive Randbedingungen dieses Erziehungsprozesses waren einerseits die den El293

tern bis zu Beginn der zwanziger Jahre fehlenden konkreten und festen Berufs- und Lebenswegvorsteliungen für die Kinder; andererseits die durch äußere Entwicklung erzwungene Freisetzung der nun stets präsenten und interaktionsbereiten Eltern für ihre Kinder, sowie die in den damaligen Adelsfamilien meist vorhandene große Zahl von Kindern verschiedenen Alters.'®^ Auch die schon seit langem im Adel durchgesetzte Ausgliederung der in der Regel stärker an ältere Traditionsformen gebundenen Großmutter aus dem engeren Familiengeschehen mag hier günstig gewirkt haben. 4. Der Rückzug des Adels auf die Familie war in keiner Phase des hier thematisierten Zeitraums in der Intention absolut und vollkommen resignativ. Eine solche Haltung konnte sich bei einer bis 1803 nahezu ungeschwächt politisch aktiven Elite nicht durchsetzen/®® Die starke Verlagerung der väterlichen Aktivitäten auf die Familie in der Umbruchzeit hatte zugleich, wie gezeigt, auch einen kinderorientierten Schwerpunkt, der zu einem erheblichen Teil von außenweit- und zukunftsbezogenen Reflexionen bestimmt war. An die Phasen der Entlastung und psychischen Stabilisierung der Familienväter und der Sicherung der Kinder für die Familienziele durch verstärkte emotionale Bindungen, Entzug emotionaler Zuwendung als neues Disziplinierungsmittel und effektivere, weil flexiblere Wertevermittlung und Verhaltensprägung Schloß sich deshalb seit Mitte der zwanziger Jahre eine dritte an, in welcher der Vater wieder begann, seine Söhne zum Engagement in der neuen Umgebung zu motivieren. Es fällt auf, daß die Eltern, vor allem aber der Vater, seit Beginn der zwanziger Jahre zunehmend stärker das fleißige Lernen und Studieren, den Eintritt der Söhne in einen tätigen und nützlichen Beruf und das Fortkommen in einer neuen staatlichen oder kirchlichen Berufskarriere betonten und belohnten, obwohl sie selbst sich den Anstrengungen des Fußfassens im neuen Staat durch Leistung nach dessen Regeln nicht mehr aussetzten. Wohl kaum etwas wünschten die Väter und mit ihnen Familie und Stand in den zwanziger Jahren und Anfang der dreißiger Jahre so sehr wie den Berufserfolg der Söhne im neuen Staat; doch der wollte sich nicht einstellen.^'® 5. Trotz dieser Bemühungen des Adels, über die Söhne im neuen Staat Fuß zu fassen, blieb aber innerhalb des ehemaligen Standes das Bewußtsein erhalten, daß der preußische Staat, vor allem die staatliche Bürokratie, Normen folgte, die mit den eigenen unvereinbar waren. Am deudichsten waren diese Unterschiede zur Zeit des zweiten Übergangs Münsterlands an Preußen in der Religion. Die traditionell enge Bindung des Adels an die katholische Kirche hat sich trotz der Positionsverluste in diesem Bereich nicht abgeschwächt, sondern im Laufe des Vormärz sogar zunehmend intensiviert, und zwar deshalb, weil die Inhalte der kathoUschen Religion seit jeher, und jetzt verstärkt genutzt, den Forderungen der Familienordnung nach Verzicht und Selbstverleugnung entgegenkam, geeignete Entlastungserklärungen anbot, und damit die weiterhin an Gehorsam orientierte Erziehung stützte. Die in der Umbruchzeit in der Familie und zeitlich verschoben auch im Stand ablaufenden Sinnbildungs- und Uminterpretationsprozesse blieben eng an die Vorstellungsinhalte der katholischen Religion gebunden. Da diese gegenüber Neuinterpretationen elastisch, auch in Entsprechung zu den neuen Erfahrungen intensivierbar waren, ließen sich die dualistische Inteφretation der Welt und die intensivierten Ge294

fühlserlebnisse in der Familie durchaus adäquat im Medium der Religion ausdrücken. Zwar wurde in Lebenslagen und Altersphasen mit größerer Empfänglichkeit für Gefühlserlebnisse auch auf die vom deutschen Bildungsbürgertum entwickelte Gefühlssprache und deren Denkinhalte zurückgegriffen; zumeist aber - und spätestens nachdem der einzelne .erwachsen' geworden war - reichte zur Artikulation der neuen Erfahrungen und Bedürfnisse die Sprache der katholischen Religion und der Kirche aus.^'i Die Religionsvorstellungen waren eng an die Erfahrung der Umbruchzeit und die dort neu fundierten Verhaltensorientierungen gebunden und infolgedessen sehr stark emotional besetzt. Dieser Vorgang hatte neben der Nah- auch eine Fern Wirkung: Religionsvorstellungen - die Minderheitensituation der katholischen Kirche im preußischen Staat schien der eigenen Lage zu entsprechen - ermöglichten dem Adel über die orientierende und motivierende Idee des Dienstes an einem wertvollen Gut, über die Forderung nach einem durch die Tat als wahr zu erweisenden, christlichen' Verhalten die Rückkehr zum politischen Handeln in Staat und Gesellschaft, stützten die sich abschwächende Vorstellung des kollektiven Familienwillens und damit die Position des Stammherrn durch eine neue Sinngebung des in der Familienordnung verankerten Verzichts und entbanden vor allem bei den nachgeborenen Söhnen und Töchtern ein außerordendiches hohes Maß an Bereitschaft zur Selbstaufopferung."^ Am Lebenslauf des Ferdinand Carl Hubert v. Galen sollen die Leistungen des Familiengeschehens der Umbruchzeit für die Orientierung der Kinder nun noch einmal konkretisiert werden. Grundlage dazu sind Äußerungen aus seinen beiden Tagebüchern, deren Titel mit ,,Mein Leben in der Politik" (bis 1834) und ,,Mein Leben in der Religion" eine Zweiteilung andeuten, die auch charakteristisch für die Geschichte des katholischen westfälischen Adels im preußischen Staat ist. Ferdinand v. Galen wurde am 7. 1. 1803 geboren. Da er früh seine Mutter verlor und sein Vater vier Jahre später in dritter Ehe eine Bürgerliche heiratete, wuchs er ab 1810 bei einem Vormund auf, in der Familie v. Ketteier auf Schloß Harkotten; insofern stimmte seine Familienerfahrung mit der des späteren Bischofs überein. An sein keineswegs dominant der wissenschaftlichen Arbeit gewidmetes Studium in Heidelberg und Göttingen - das informelle Lernen während der geselligen Zusammenkünfte, Zerstreuungen und Reisen in einer gemäßigt liberal orientierten. Bürgerliche und Adlige umfassenden Freundschaftsgruppe war ihm in seiner späteren Erinnerung zumindest ebenso wichtig - Schloß sich, und erst hier trennten sich seine Wege von denen des älteren Bruders Mathias; eine Karriere als Diplomat in preußischen Diensten an. An Heirat konnte er nicht denken; Abfindung und ein bescheidenes Anfangsgehalt reichten für die standesgemäße Lebensführung einer Familie nach den Maßstäben des katholischen westfälischen Adels nicht aus. So erfuhr er zum ersten Mal die Härte des ihm von der Familienordnung auferlegten Verzichts, als ihm sein ältester Bruder am 12.8.1824 mitteilte, er gedenke, das Mädchen, welches Ferdinand liebte, zu heiraten. In einer gefühlvoll-überschwenglichen ,Werther'-Sprache stilisierte er sich damals noch zum großmütig Verzichtenden um: 295

12. BriefvonM[athias]und A[nnav. Ketteler], Sie sind glücklich, und sind verlobt. IhrGlück ist zum Teil mein Werk, ich bin glücklich mit ihnen. Gott segne sie! Ich habe gesiegt über mich, ihr Dank versüßt mir meinen Sieg. Mir ward so schönes Loos nicht beschieden. Träume sind meine Seeligkeit. Die,Träume' fand er vor allem in der absoluten, von allen Realitätsrücksichten befreiten romantischen Liebe. In der ,,reinen Harmonie zweier zartfühlender Herzen"^'® suchte er die ihm real verwehrte Selbstverwirklichung. Doch der zweite Eingriff des in der Familienordnung festgelegten Realitätsprinzips in seine Traumwelt ließ nicht lange auf sich warten. Die Eintragung vom 4. 7. 1825 lautete: 4. Brief von Mathies mit der Anzeige meiner Großjährigkeitserklärung und zugleich mit der Bitte eines förmlichen Verzichts auf alle unbeweglichen Güter unserer Familie. 5. Schrieb ich an Mathies und schickte ihm die gewünschte Erklärung. Schicksal, du bist hart; aber Gott, du bist gütig!''® Hier tauchte zum ersten Mal das Motiv der religiösen Entlastung auf; doch das Verhalten V. Galens wurde zunächst weiterhin von weltlich orientierten Ersatzhandlungen bestimmt, die nach dem Vorbild und in den Formen der bürgerlichen Gefühlskultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts abliefen. Da diese Erlebnisform schon oben in seinen wesentlichen Elementen zusammengefaßt worden ist,^'^ werden hier nur zwei Entwicklungstendenzen herausgehoben. Da ist zum einen die mit fortschreitender Erfahrung des Verzichts, z. B. mit jeder der zahlreichen, an der Realität scheiternden romantischen Lieben, gesteigerte Klage, die bis hart an die Grenze einer Ablehnung der Familienordnung heranreicht. Dazu einige Beispiele in zeitlicher Reihenfolge. A m 8. 9. 1825 reflektierte v. Galen in seinem Tagebuch: Welch edles Vergnügen ist das Reiten. Wieviel Freude würde mir ein schönes eigenes Pferd machen, aber auch das verwehren mir die Umstände. Ich hab viel vom Schicksal zu fordern; denn es versagte mir vieles. Als ein von ihm angebetetes Mädchen fortreiste, schrieb er ebenfalls im September 1825: Soll ich wünschen, sie bald wiederzusehen, um den herzzerreißenden Schmerz des Bewußtseins, sie nie besitzen zu können, wieder doppelt zu empfinden . . . Ihr Besitz ist ebenso unmöglich. Was dann? Der Mensch denkt, Gott lenkt. Während eines Besuchs in Münster wird ihm seine isolierte Stellung innerhalb der Familie und der Gruppe bewußt (Oktober 1826): Doch kann ich nicht leugnen, ich entbehrte in der Unterhaltung die Vielseitigkeit, die den Conservationston der höheren gebildeten Welt charakterisiert. Gegenstände von reinem Lokalinteresse, Forstkulmr, Landbau, die leider nur wenig den interessieren können, der nie eine Hufe Landes wird sein nennen dürfen. Nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub reflektierte er wiederholt seine Aussichten zu heiraten: Mir schwindelt der Kopf beinahe, wenn ich daran denke, wie unendlich glücklich ich an Kattys Seite durchs Leben gehen könnte . . . Blüten, an denen ich vorübergehen muß; denn sie sind nicht für mich geschaffen. Und warum? Gott wollte es so! . . . Ich bin kein Schwärmer. Ja selbst, ich finde zuweilen so wenig in dem, was uns bleibt, daß ich mißmutig das Unwandelbare 296

werde, was sich nicht ersticken läßt und dessen Keim sich nie zur Blume entfahen iiann . . . Ich bin ein Mensch, kein schlechter, doch zuweilen recht schwach. Aber die Liebe fesselt mich an Gott; denn er ist die Liebe.

Mit der reichen Erbin Marie v. Plettenberg schien sich dann eine reale Möglichkeit zur Heirat zu bieten. Da aber hierin seine Pläne mit denen seines „Bruders" Wilderich v. Ketteier, ebenfalls ein nachgeborener Sohn, kollidierten, verzichtete er ein weiteres Mal.^"^ Als Diplomat am Hof von St. Petersburg verliebte er sich wieder und schmiedete Heiratspläne: Aber als aus meinen Zeilen es mir klar wurde, daß ich kein Stück Brot ihr zu bieten hätte, daß ich an einem fremden Hofe um Unterstützung betteln müsse, um Hoffnungen auszusprechen da zerriß ich den Zettel und verschlang meinen Gram.^"^

Die Konsequenz aus den kumulierten Entsagungserlebnissen: Die Aufkündigung der von ihm geforderten Verzichtsdisziplin und der Perspektivenwechsel, der hinter dem Verzicht fordernden anonymen ,,Schicksal" das ungleichgewichtige, ,ungerechte' und insofern aufhebbare Erbsystem der Familie als Ursache der eigenen Misere hätte hervortreten lassen, schien im Februar 1832 nahe bevorzustehen; denn er schrieb: Ich habe kürzlich so herrliche Stellen in des unsterblichen Schillers Briefwechsel über Unabhängigkeit und freies Walten des Geistes gelesen, warum zerreiße ich nicht meine Fesseln und suche noch in stiller Häuslichkeit irgendwo das Glück zu finden, das bald mir seine goldenen Pforten schließen wird.^®^

Doch der Bruch mit der Familie erfolgte nicht, obwohl v. Galen in einer Tagebuchreflexion im Juni desselben Jahres sein Dilemma nahezu auf den Begriff brachte. Als eine neue Liebe .drohte', ermahnte er sich selbst: Hüte dich vor deinen alten Grillen! Es scheint mir oft, so wie im Innern meiner Seele, so bin ich auch . . . in meinen äußeren Verhältnissen zum Dualismus verdammt . . . Mein Glaube an ihre Neigung darf nicht wieder erwachen. Hier wie dort wartet meiner nur Entsagung. Ich will sie männlich tragen - aber mein armes Leben wird doch täglich ärmer.^"^

Mit der Analyse wurde die Entscheidung/иг weitere Entsagung verbunden, d. h. für die im Innern durch emotionale Bindungen und intensivierte Religiosität verankerten Familienziele und gegen das individuelle Glücksverlangen. Dem Konflikt im Innern entsprach der Dualismus im Äußeren: Die geliebte und liebende Frau existierte, aber seine aus familienpolitischen Gründen beschränkten Vermögensumstände ließen eine Heirat nicht zu. Die Misere der nachgeborenen Söhne im münsterländischen Adel nach der ,Familienlösung' wird am Beispiel v. Galens sichtbar: In wesentlich stärkerem Maße Individuum als ihre Vorgänger am Ende des 18. Jahrhunderts, die gefühlsbetonten Familienbindungen, hier durch die Abwesenheit von der Heimat verstärkt, entbehrend, suchten sie als Ersatz die emotional bestimmte, harmonische Zweierbeziehung, neben der Freundschaft vor allem die Liebe zu einer idealisierten Frau, und erstrebten eine schnelle Familiengründung. Individualisierung hieß aber nicht nur Fähigkeit zu vertiefter persönlicher Bindung, sondern auch zu verstärktem Leiden an dem von der Familienordnung gesetzten Erb- und Heiratsverzicht. Andererseits waren aber die alten Familienziele über die neuen emotionalen Bindungen zu Eltern und Geschwistern sowie über das intensivierte religiöse Erleben wesentlich fester als am 297

Ende des 18. Jahrhunderts im Innern des einzelnen fundiert, wirkten dort als kontrollierende Instanz, wie die Selbstansprache zu Beginn des Zitats z e i g t . D i e Folge war das von V. Galen thematisierte Grundgefühl der Zerrissenheit, des .Dualismus'. Die Schlußformel kündigt die resignative Wendung der folgenden Jahre an. Diese Wendung mußte aber durch eine neue Selbstinterpretation vorbereitet und gestützt werden. Zur Erhellung dieses Prozesses ist auf eine weitere Sinn-Ebene des Tagebuchs hinzuweisen: Die Selbstinterpretation v. Galens in den Vorstellungsinhalten der Religion. Es war kein Zufall, daß die kritische Stelle des Tagebuchs, das Schwanken zwischen Selbstbestimmung und Familiendisziplin, an eine Schillerlektüre anknüpfte. Die von v. Galen bis dahin gegenüber der religiösen Sprache bevorzugten Sätze und Vorstellungsinhalte der bürgerlichen Gefühlskultur begünstigten die Artikulation des jugendlichen Protestes gegen den auferlegten Verzicht, boten darüber hinaus aber auch Verhaltensmuster als Lösungsversuche an, die in ihrer Konsequenz auf fortschreitende Individualisierung ausgerichtet waren und auch in dieser Richtung w i r k t e n . E i n e resignative Wendung vom Protest zur Unterordnung unter Familien- und Standesziele ließ sich mit solchen Vorstellungen und Verhaltensmustern nicht abstützen. Zwar waren auch in die an literarischen Vorbildern orientierten bürgerlichen Verhaltensmuster jugendlichen Protests in starkem Maße quasi - religiöse Vorstellungen eingeflossen, z . B . in die Konzeption der absoluten Liebe, der Naturmystik oder in die vielen Verhaltensmodelle, die in verweltlicher Form das aus dem religiösen Wunderglauben stammende Motiv der plötzlichen Erlösung, z. B . im Heldentod, variierten. Aber alle diese Vorstellungen bewahrten - zumindest in einem Rest - noch das Motiv der individuellen Selbstverwirklichung, der ausgleichenden Versöhnung des einzelnen mit seiner Umgebung. Deshalb setzte v. Galen auf seinem Weg zur endgültigen Unterwerfung unter die Familienordnung in der Folge zunehmend stärker die Sprache und die Vorstellungswelt der katholischen Religion, die er nie ganz aufgegeben hatte, an die Stelle der bisher bevorzugten Gefühlssprache. Die Bewältigung des inneren Zwistes bedurfte der Selbstrechtfertigung nach innen und außen. Hier waren Anlässe für den Verhaltenswandel zu ,konstruieren'. Die Revolution von 1830, der Gedanke einer Gefährdung des Adels durch weitere vom ,Liberalismus' getragene Revolutionen, und die seit dem ,Kölner Ereignis' in erhöhtem Maße gefährdet erscheinende Lage der katholischen Kirche in Preußen boten Möglichkeiten einer verstärkten Sinngebung des eigenen Verzichts. Gleichzeitig gaben diese Erfahrungen v. Galen den Anlaß, die Reste der aus der Studienzeit noch überkommenen liberalen Vorstellungen aufzugeben, zu deren Bestärkung schon seine berufliche Umgebung wenig Gelegenheit geboten hatte. Restabilisierte Orientierung auf die Familie und modifizierte politische Einstellung waren zwei Ergebnisse desselben Prozesses. Mit den Kölner Wirren begann v. Galens ,,Leben in der Religion", das zugleich ein Leben für bewußt adlig-konservative Politik wurde. Die Revolution von 1830 als Anlaß zur Umorientierung hatte er zum ersten Mal im Oktober 1830 im Zusammenhang mit dem Heiratsverzicht thematisiert: Beim Eintritt ins Mannesalter wird die Sehnsucht nach isolierter Herrschaft, nach dem Besitz einer eigenen Familie unendlich lebhaft . . . D o c h damals, und auch jetzt noch, dachte ich weniger ans Heiraten denn je. Der Revolutionssturm hat mich von dem Fieber geheilt.^"'

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O b w o h l noch keineswegs so .geheilt', wie er damals wahrhaben wollte,^®' war die spätere Entscheidung zu Gunsten der Familiendisziplin und der Religion hiermit doch schon vorbereitet. Als Galen 1835 dreiunddreißigjährig, nachdem er durch B e förderung eine finanziell gesicherte Stellung gewonnen hatte, heiratete, schilderte er seine Liebe zu der zukünftigen Ehefrau, die er natürlich aus dem ehemals stiftsfähigen katholisch-westfälischen Adel gewählt hatte, nur noch in schwachen Anklängen nach dem Vorbild der romantischen Liebe, wie noch zuletzt 1832 in Petersburg; stärker wog in der Darstellung das religiöse M o m e n t , denn er schrieb: Der liebe Gott erbarmte sich gnädig meiner und führte mich aus dem Labyrinth verwickelter Bedürfnisse des Herzens und des Kopfes in den Hafen häuslichen Glückes.^^ Die Bindung v. Galens an seine Familie und an die regionale Adelsgruppe blieb erhalten; er wurde als Familienvater und zeitweiliger Rittergutsbesitzer vollwertiges Mitglied des katholischen westfälischen Adels. H a r t errungener Verzicht und von Familie und Bezugsgruppe positiv bewertete Leistung im preußischen Staatsdienst hatten ihn in den Stand versetzt, das Problem der nachgeborenen Söhne - wenn auch erst nach langen Jahren - für sich zu lösen. Das aber gelang im katholischen-westfälischen Adel nur wenigen.

1.6 Grenzen der familieninternen

Wandlungsprozesse

Schon die Tatsache, daß die emotionalisierte und privatisierte Familie eine Lebensform darstellt, die zuerst von bestimmten Schichten des Bürgertums unter spezifischen von den Verhältnissen im Adel abweichenden Lebensbedingungen und damit korrelierenden Werthaltungen entwickelt worden ist, legt die Vermutung nahe, daß die Übertragung auf den in seinen sozialen und ökonomischen Grundlagen v o m B ü r gertum stark unterschiedenen Adel auf diesen mit der Zeit nicht ohne störende, den Intentionen der Familienordnung entgegengerichtete Auswirkungen bleiben konnte. Deshalb ist im folgenden nach Grenzen der bisher beschriebenen Prozesse innerfamilialen Wandels zu fragen. A m Verhalten Ferdinands v. Galen wurden Grenzen der durch die ,Familienlösung' des münsterländischen Adels inzendierten Individualisierungsprozesse

sicht-

bar. W a r auch der R ü c k z u g in die privatisierte und emotionalisierte Kernfamiliensphäre der Situation des Adels unter den Bedingungen des U m b r u c h s angemessen, waren wohl auch nur so die Kinder für die Zielsetzung der Familienordnung zu ,retten', so war andererseits aber nicht daran zu zweifeln, daß mit fortschreitender Dauer das neue Familienverhalten der ihm wesentlich zugrunde liegenden Intention, die adlige Familienordnung zu erhalten, entgegenarbeiten mußte. Die intensivierten e m o tionalen Bindungen begünstigten langfristig die Auflösung der hierarchisch gestuften Aufgabenverteilung innerhalb der Familie, förderten - wenn auch über Religion und Feindbilder an die Familie zurückgebunden - eine Individualisierung, die auf lange Sicht die Orientierung an den nur kollektiv zu realisierenden Familienzielen und die Bereitschaft zum Verzicht auf Verwirklichung eigener Bedürfnisse hätte aufheben

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Ein Sachverhalt hat die alte adlige Familienordnung auch in der Phase stärkster Privatheit im Bewußtsein der Familienmitglieder stets präsent gehalten: Rückzug in die Familie hieß beim münsterländischen Adel nicht Rückzug von den Gütern. Die adlige Familie war selbst in der Phase stärkster Abschließung kein vor Realitätseinwirkungen in starkem Maße abgeschirmter, von Produktionsfunktionen entlasteter Raum, wie z.B. die privatisierte bürgerliche Kernfamilie, in der Berufs- und Wohnsphäre, Arbeit und Freizeit völlig voneinander getrennt waren.^^^ Eine von Realitätsbezügen losgelöste Übersteigerung des Gefühlsmoments in der Familie war schon deshalb unmöglich, weil die Eltern ihre ökonomischen Funktionen auch in der Phase gesteigerter Privatheit voll ausübten. Eine Rückkehr der Famihenväter zu stärkerer Wirksamkeit in der Öffentlichkeit war aber an zwei wichtige Voraussetzungen gebunden: Zum einen mußten die innerfamiliären Beziehungen so weit geordnet und gefestigt sein, daß für die Familienordnung keine unmittelbare Gefährdung mehr bestand. Zum anderen mußte die Außenwelt sich zumindest soweit verändern, daß leicht modifizierte, neu interpretierte Ziele der Familie und des Standes in ihr durchsetzbar erschienen. Seit den zwanziger Jahren, zunächst ausgelöst durch Ablösungsgesetze und Provinziallandtagspläne, dann aber in dem Maße, in dem erkennbar wurde, daß zumindest dem vermögenden Adel im preußischen Staat eine politisch und ökonomisch hervorgehobene Stellung zukommen sollte, verstärkte sich wieder die politische Aktivität des münsterländischen Adels, um in den dreißiger Jahren einen ersten Höhepunkt zu erreichen. Da die intendierte Integration als Führungsschicht in den neuen Staat aber nur sehr bedingt gelang, die innerfamiliären Verzichtsprobleme zugleich - wenn auch religiös-emotional überdeckt - weiterwirkten, wurde die Familie als Rückzugspunkt nicht überflüssig. Doch zeigten sich auf der Familienebene mit fortschreitender Eingewöhnung des Adels im preußischen Staat doch zunehmend deutlicher die Grenzen, die durch das wiedererstarkte, an Besitzwahrung und Verzicht orientierte Familiensystem den innerfamiliären Emotionalisierungs- und Individualisierungsprozessen gesetzt waren. Oit Stellung des Vaters in der Familie stärkte sich parallel zu den reaktionären Tendenzen im preußischen Staat seit den zwanziger Jahren. Er wurde wieder eindeutig dominant gegenüber allen Familienmitgliedern. Das von ihm vertretene ungleichgewichtige Verzichtssystem der Familienordnung schwächte die in der Umbruchzeit freigesetzten Tendenzen zur Bewertung der Familienmitglieder nach vorwiegend persönlichen, vor allem geistig-seelischen Qualitäten bzw. nach dem Grad der emotionalen Bindung zu Geschwistern oder Eltern. Stellung in der Geburtenfolge und Geschlecht blieben die zugeschriebenen, entscheidenden Kriterien für die von der Familie zu vergebenden Lebenschancen.^^^ Dementsprechend erhob sich der zukünftige Stammherr bald wieder stärker über seine Geschwister, wenn auch zumeist Mitgefühl und Hilfsbereitschaft auf der einen, Solidarität auf der anderen Seite ärgste Spannungen und Ungerechtigkeiten milderten. Eine Tendenz zu stärkerer Gleichberechtigung der Brüder, die auf der Ebene der Besitzordnung in Ansätzen nachzuweisen ist, z. B. dort, wo nachgeborenen Brüdern die Verwaltung und bedingte Nutznießung der Nebengüter übertragen wurde, hat sich nicht allgemein durchgesetzt. Zumeist monopo300

lisierte der Stammherr die Güter in seiner Hand und verwies die nachgeborenen Brüder auf schmale Abfindungen und Berufseinkommen.^" Die Ehevorstellungen, auch die der Stammherrn, blieben am hohen Wert von Ehefrau und Mutter, an individueller Wahl und Gattenliebe orientiert. Romantische Liebe war weiterhin notwendige Vorbedingung der Ehe, wurde aber nicht mehr so stark betont, wie in der Umbruchsphase. Gemäß den Heiratsbestimmungen der Familienordnung war der heiratsfähige älteste Sohn gehalten, sollten die Erb- und Unterhaltsansprüche an das Familiengut nicht reduziert werden oder gar verlorengehen, seine Braut aus dem Kreis der stiftsfähigen Familien zu wählen. Innerhalb dieser Grenzen haben die Eltern dem Sohn aber allgemein freie Wahl zugestanden und auf ihr Konsens- oder gar Vetorecht verzichtet. Zwar blieb das Moment des Vermögens, vor allem bei den aufgrund des Überangebots an heiratsfähigen und heiratswilligen Frauen sehr zahlreichen Beobachtern des regionalen Heiratsmarktes, auch jetzt noch häufig bei der Ehegattenwahl mitbedacht; die ökonomisch vorteilhafte Ehe zur Sanierung des eigenen Güterbesitzes war auch nach den zwanziger Jahren nichts absolut Außergewöhnliches. Als Hauptmotiv, oder als eines von mehreren gleichberechtigten Motiven konnte sich die Rücksicht auf Vermögensverhältnisse bei der ehelichen Gattenwahl aber nicht mehr durchsetzen; im Gegenteil, Vermögensrücksichten wurden zunehmend negativer beurteilt. Aufschlußreich für den Wandel der Ehevorstellungen ist in dieser Hinsicht ein Brief des Domherrn Franz v. Droste-Vischering an seine Schwester Dinette ν. PlettenbergLenhausen vom 18. 9. 1825; dort hieß es: Wenn Gott gäbe, daß eine der drei Töchter von Fürstenberg für Josef [von Plettenberg-Lenhausen, H . R.] paí5te, was dann ihm zuteil würde, so würde ich mich sehr freuen. Sie sollen wohlerzogen und gebildet und gut gesinnet sein. Man spricht jetzt davon, daß die Erbschaft [des verstorbenen Fürstbischofs von Hildesheim und Paderborn Franz v. Fürstenberg, des Onkels der betreffenden 3 Töchter, H . R.] 3 Mill, betrage. Ich halte dieses für ^/3 übertrieben; doch kann es sein, und würde nach den Gesetzen bloß auf diese Erbschaft, wenn auch der sehr schwächliche Sohn Erben bekäme, den Töchtern '/5 oder 600 ООО Reichstaler, jeder 200 ООО ohne weiteres verbleiben. Inwiefern damit mit Joseph gesprochen werden kann, muß die liebe Mama wissen, da es ein viel zu delikater Punkt ist, um von jedem anderen nur von weitem berührt zu werden. Ich habe nur durch zwei ganz unschuldige Fragen: Ob er nicht gehört habe, daß Fürstenberg nach Hildesheim sei? Und ob die Schwestern denn nicht mehr in Korrespondenz mit den Töchtern seien? - mich zu überzeugen geglaubt, daß er noch gar nicht den mindesten Gedanken daran gehabt habe. Daß sehr bald Werber sich finden werden, daran ist nicht zu zweifeln. Nagel, Oer, dessen Schwester in diesen Sommer zu Neheim war, und der die Töchter so wohl gefallen haben: Und manche anderen. Ich hatte gehofft, daß sie nach Lippstadt kommen würden und dort vielleicht wenigstens einige erste Bekanntschaften machen zu können, die sonst unter allen vorhandenen Umständen schwer ist. Gott wolle Dich und ihn und alles leiten, die Sache ist sehr zart.^'*

In diesem Brief wird eine dem 18. Jahrhundert verhaftete Einstellung zur Eheanbahnung sichtbar; aber an der Vorsicht, mit der Franz v. Droste-Vischering empfiehlt, die Sache zu behandeln, wird deudich, daß ökonomische Motive als Grundlage einer Ehegattenwahl zu dieser Zeit nur noch sehr indirekt und verschleiert in Bemühungen um die Anbahnung einer Ehe einfließen konnten, während es früher der erste und selbstverständliche Schritt war, dem Vater der Braut, bevor die ersten Kontakte zwi301

sehen den zukünftigen Brautleuten stattfanden, àtnStatus Bonorum des Bräutigams einzureichen. Sämtliche an der Eheschließung interessierten Familienmitglieder waren zufriedengestellt, wenn neue Vorstellungen der Ehegattenwähl und ältere Vermögensmaßstäbe zugleich erfüllt wurden. Aber oft wählten junge, reiche Stammherrn auch Töchter aus relativ unvermögenden Adelsfamilien. Dort wo die Adelsfamilie nur ein Rittergut besaß, blieb das Heiratsdatum des ältesten Sohnes weiterhin an den Tod des Vaters gebunden. Es lag hier dementsprechend hoch. So schrieb z.B. August v. Korff, der erst mit dreißig Jahren heiratete, 1846 in sein Tagebuch, auf seine ersten Heiratspläne zurückblickend: U n d da mein Vater noch lebte und ich an Heiraten noch nicht denken konnte [er heiratet mit 3 0 Jahren, H . R . ] , so war ich, obwohl kein Feind von hübschen jungen Damen, doch wenig bemüht, mich ihnen zu nähern.

Und 1873 hieß es im Tagebuch seines ältesten Sohnes Max: Welche schönen Pläne ließen sich vielleicht verwirklichen, welche glückliche Zukunft dürfte man sich ausmalen, wenn unser Vermögen so groß wäre, um die Etablierung eines zweiten Hausstandes zu ermöglichen; doch es geht jetzt mal nicht! U n d vielleicht ist es auch besser so. Was später vielleicht möglich wird, das steht in Gottes H a n d . ^ "

Das individuelle Glücksverlangen des Sohnes hatte hier wie bisher seine Grenzen in den Bestimmungen der Familienordnung und hergebrachter Gewohnheit, die im Interesse einer geringen Güterbelastung und zur Vermeidung von Konflikten zwischen junger und alter Hausherrin die Nutzung des Gutes durch zwei Familien nicht zulipß. Es kam dem Vater - trotz ähnlicher Verzichtserfahrungen in seiner Jugend - nicht in den Sinn, zu Gunsten des Glücks seines ältesten Sohnes das Gut zu Lebzeiten abzutreten und einen bescheidenen Alterssitz zu beziehen. Das relativ hohe Ansehen der Ehefrau blieb im 19. Jahrhundert in starkem Maße bestehen.^^^ In der Gutswirtschaft blieb die bisherige eheliche Arbeitsteilung erhalten. Die Frau war Vorsteherin des Hauses und Erzieherin der Kinder; zudem nahm sie gesellige, karitative und, z.B. bei Königsbesuchen und Bischofswahlen, repräsentative Funktionen im Rahmen der Familie und des Standes wahr. Sie verstand es, sich entsprechend ihrer gesteigerten Bedeutung, und verbesserten Bildung in ihrem Bereich selbstbewußt d a r z u s t e l l e n . D o c h waren auch ihrer Aufwertung Grenzen gesetzt: Die Familienordnung bevorzugte die männliche Linie. Die Frau wurde, wie bisher, in einem Zustand ,,natürlicher Abhängigkeit"^^^ gesehen, d. h. schutzbedürftig, da ohne familienunabhängige Selbsterhaltungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeit. Letztlich schwächte das alte Heiratssystem wie von jeher die Position der Frau, indem es ein Uberangebot an heiratswilligen Frauen schuf. Eine Tochter wurde zwar nur selten durch den Machtspruch des Stammherrn, aber indirekt ebenso wirkungsvoll durch die begrenzte Zahl der Söhne mit Heiratserlaubnis in der Wahrnehmung ihrer Heiratschance beschränkt. Besonders deutlich wurde die Dominanz der Familienziele gegenüber der Anerkennung des Eigenwerts der Frau als Person und den Vorstellungen einer auf individuellen, geistig-seelischen Bindungen beruhenden Ehe, wenn die Ehegattin ihre Hauptaufgabe im Sinne der Familienordnung, die Sicherung der Familienkontinuität, 302

nicht erfüllte: bei kinderloser Ehe des Stammherrn. Solche Ehen erschienen trotz vieler Bemühungen um individuelle Sinngebung und aller herangezogenen religiösen Hilfskonstruktionen letzdich als sinnlos. Die Ehe zwischen Ferdinand Anton v. Merveldt und Sophie, geb. v. Ketteier, mag das veranschaulichen: Am 28.12.1821, nachdem Sophie ein totes Töchterchen geboren hatte, schrieb Bernhardine v. Plettenberg-Lenhausen an ihren Bruder Franz v. Droste-Vischering: Sie selbst ist übrigens sehr wohl, sehr religiös gefaßt, weint aber freilich mitunter viel über die Entbehrung der so lebhaft gewünschten großen Freude . . . Ferdinand M. hat sein armes Frauchen beinahe gar nicht verlassen, war äußerst affectiert und erbaut über ihre Geduld, Standhaftigkeit religiöse und vernünftige Äußerungen."^

Sieben Jahre später hieß es in Ferdinand v. Galens Tagebuch, er habe die Nachricht von Sophie, daß ,,nach jahrelangem Kummer endlich Gott ihr Flehen erhört und sie mit der Aussicht, Mutter zu werden, beglückt habe".^^ Doch kam es auch hier wieder zu einer Fehlgeburt. Dann wurde ein Mädchen geboren; es starb aber früh. Obwohl Ferdinand Anton fest zu seiner Frau hielt und ihr, um sie am selbstquälerischen Rückzug auf ihren Schmerz zu lindern, Planung und Bau einer Kapelle und eines Krankenhauses übertrug, blieb die Kinderlosigkeit eine Belastung dieser ansonsten außerordentlich harmonischen Ehe und stellte letztlich den Lebenssinn der Eheleute in Frage; denn 1834 schrieb Ferdinand v. Galen in seinem Tagebuch: Ich . . . traf am 4. . . . in Münster ein. Ich eilte zu Sophie und kann den Schmerz . . . nicht beschreiben, als sie bei meinem Anblick laut aufschrie und sich schluchzend in meine A r m e stürzte. Die arme, arme Schwester hat so viel, so namenlos gelitten . . . Ihr H a u s steht verödet, ihr Mann verzehrt sich, wie sie, in G r a m , ohne für den Verlust des Kindes in ihrer Liebe allein Ersatz zu suchen und zu finden.^^®

Auch die Versuche des Bruders und Bischofs, die kinderlose Ehe durch religiös-karitative und bildungsmäßige Sinngebungen zu rechtfertigen, vermochten nicht, die eng an Kinderzeugung gebundenen Ehevorstellungen Sophies und Ferdinand Antons zu erweitern.^^® Dem Kind wurde in der Umbruchszeit zwar ein von der Erwachsenenwelt abgegrenzter Freiraum gewährt, doch blieben in wichtigen Bereichen Kinder- und Erwachsenenwelt vom frühen Kindesalter an in starkem Maße ungetrennt. Das Gehorsamspostulat behielt auch im neuen Erziehungskonzept des Adels einen zentralen Stellenwert.^^' Die Pflicht des Kindes zum Gehorsam gegenüber den Eltern wurde weiterhin früh gefordert, stark betont und im äußersten Fall auch erzwungen. Die häusliche Erziehung des Kindes zielte auf festere psychische Verankerung der Familienziele im Kinde. Eine tendenzielle Freisetzung des Kindes von Vorstellungen der Erwachsenenwelt mit dem Ziel, die Entwicklung individueller Anlagen und Bedürfnisse zu ermöglichen, war nicht intendiert. Die Kinder sollten gerade nicht in Stand gesetzt werden, in Distanz zur Familienordnung, deren Berechtigung in selbständigem Urteil zu prüfen. Das erwünschte Erziehungsziel war die vorbehaltlose Anerkennung elterlicher Verzichtsforderungen. Noch in zwei weiteren Bereichen gab es keine Trennung von Erwachsenenwelt und Kinderwelt. Zum einen wurde das Kind in der Sphäre der Religion und des Todes in 303

der Umbruchzeit und in starkem Maße auch noch im Vormärz weiterhin als .kleiner Erwachsener' behandelt; für beide Bereiche lassen sich Bemühungen um Vermittlung dieser Inhalte und Erfahrungen in einer vermutet kindgemäßen Form oder gar deren Ausschluß aus der Kinderwelt nicht nachweisen. Zum anderen galt das Postulat der eigenen Kinderwelt auch nicht bei der Gestaltung spezifisch adliger Geselligkeit, z . B . bei der Jagd, an der die Söhne wie bisher, schon als Zehnjährige und jünger, z. T. bewaffnet, teilnahmen. Dort, wo die Adelswelt noch ungebrochen fortexistierte, war keine neue Einstellung zum Kind erforderlich.^^®

1.7 Versuche zur Reorganisation der Familienordnung Eingliederung in den preußischen Staat

nach der

Die über emotionale und religiöse Bindungen gestärkte Familiensolidarität konnte Heirats- und Erbdisziplin der nachgeborenen Söhne und der Töchter zwar während einer kritischen Phase innerer und äußerer Anfechtung gewährleisten. Die adligen Familien brachen, von einzelnen Fällen abgesehen, nicht in langwierigen und kostspieligen Prozessen auseinander.^^' Die nachgeborenen Kinder blieben auch unter den Bedingungen des preußischen Staates den in der Familienordnung festgelegten Familienzielen und damit der vom Stammherrn vertretenen familialen Besitz- und Anspruchswahrungspolitik untergeordnet. Aber eine Sicherheit für die Kontinuität der Disziplin war nicht gegeben; nicht zuletzt auch wegen der Grenzen dieses Lösungsversuchs ; denn : Die Problematik, die in dem ungleichgewichtigen Verzichtssystem der Familienordnung steckte, wurde zwar emotional und religiös überdeckt, aber nicht gelöst. Nach dem endgültigen Übergang des Fürstbistums Münster an Preußen 1815, dessen Familienrecht - trotz einiger Modifikationen der durch die Franzosen geschaffenen Verhältnisse - immer noch wesentlich moderner war als das in Münster einst herkömmlich für den Adel geltende Ehe- und Erbrecht, erkannten die Familienhäupter sehr bald die Notwendigkeit, sich die substanziellen Verzichtsbestimmungen der Familienordnung vom Staat als regionales Sonderrecht des Adels bestätigen zu lassen.^^^ Zwar hatte der preußische Staat die von den Franzosen aufgehobenen Fideikommisse wieder hergestellt; es stellte sich aber bald heraus, daß die meisten adligen Güter in Westfalen nach dem .Herkommen' zwar wie Fideikommisse vererbt worden waren, die Gründungsurkunden im Besitze der Familien aber nicht die Rechtsform von Fideikommissen besaßen. Die am römischen Recht geschulten, liberalen preußischen Beamten in der Provinzialbürokratie lehnten deshalb die meisten Anerkennungsgesuche ab.^^^ Nach Auffassung des wenig adelsfreundlichen Paderborner Justizrats Rintelen bestand 1828 unter den jungen preußischen Juristen ein ,,Odium" gegen Fideikommisse und eine starke Identifikation mit dem römischen Pflichtteilrecht. Eine Neugründung von Fideikommissen nach den bestehenden Gesetzen sei für den westfälischen Adel aber höchst gefährlich, weil dabei die Kinder in ihren Pflichtteilen nicht verkürzt werden dürften.^^^ Das heißt: Die Neugründung eines Fideikommiß hätte den zum Verzicht bestimmten Kindern durch offizielle Gerichtsmitteilung das Recht 304

auf ein genau berechnetes Pflichtteil zugesprochen. Ein großer Teil der Familienhäupter unterließ deshalb eine Neueintragung, vertraute zunächst auf die Fortdauer des gewohnten Erbverhaltens und suchte eine vom römischen Pflichtteilrecht unabhängige Erbordnung der Ritterschaft und später seine völlige Autonomie in Erbfragen, die eine zeitweise stark besteuerte, rechtlichen Auflagen unterworfene Fideikommißgründung überflüssig gemacht hätte, durchzusetzen. Dazu berief man sich auf die alten, von Preußen anerkannten Provinziairechte und auf die Bestimmungen des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803.^®^ Eine wichtige Möglichkeit, aktiv auf den Gesetzgebungsprozeß einzuwirken, war durch das Institut der Provinziallandtage seit 1826 gegeben. Hier konzentrierte sich dann auch - von einzelnen weitgehend wirkungslosen Immediateingaben seit 1803 abgesehen - die Aktivität des ehemaligen Standes.^®·* Zwei Problemkreise der Provinziallandtagsverhandlungen sind als Schwerpunkte der Rekonstruktionsbemühungen zu nennen. Zum einen suchte man die in der Säkularisation verlorengegangenen Damenstifter, die Versorgungsanstalten der nicht heiratenden Töchter, durch Neugründung wieder herzustellen.^'® Zum anderen und wichtigeren ging man daran, eine Erbfolgeordnung für die adligen Familien der Provinz Westfalen durchzusetzen. Die Initiative zur Neugründung eines adligen Damenstifts ging 1824 von einem Immediatgesuch des münsterländischen Adels unter der Leitung des Grafen Merveldt aus. Man wünschte, nach dem Vorbild der durch Säkularisation weitgehend aufgehobenen alten adligen Damenstifter unter finanzieller Beteiligung des Staates ein neues katholisch-adliges Stift in den Gebäuden des ehemaligen Damenstifts Freckenhorst zu etablieren.^'® Da die Antwort des Königs recht wohlwollend, auch die des Oberpräsidenten v. Vincke nicht ablehnend war, entwickelte sich rasch eine starke organisatorische Aktivität mit dem Ziel, die zwei von v. Vincke gestellten Bedingungen zu erfüllen: Stiftung von mindestens zehn Familienpräbenden zu je 4000 RT und Ausarbeitung eines vom preußischen Staat zu akzeptierenden Statuts. Auf den Verlust der Verhandlungen, die letzdich scheiterten, kann hier nicht weiter eingegangen werden, doch soll zumindest das Modell skizziert werden, nach dem dieser Versuch einer Rekonstruktion der alten adUgen Familienordnung von der staatlichen Bürokratie zum Scheitern gebracht wurde; vor allem auch deshalb, weil in eben der gleichen Weise mehrere Initiativen des katholischen westfälischen Adels, insbesondere seine Bemühungen um Anerkennung einer eigenen adligen Erbfolgeordnung scheiterten.^'^ Der Konflikt verlief deudich erkennbar in Phasen und begann in der Regel mit der Immediateingabe des alten Adels aus einer der ehemals eigenständigen westfälischen Regionen oder - seit 1826 - der neu formierten, aber vorwiegend aus altem Adel bestehenden Ritterschaft der preußischen Provinz Westfalen. Die Antwort des Königs, sowohl Friedrich Wilhelms III. wie auch ab 1840 Friedrich Wilhelms IV. war zumeist zustimmend, verwies aber das Problem zur konkreteren Bearbeitung an die Ministerial· und Provinzialbürokratie. Dann entzündete sich eine schnell zur Kontroverse fortschreitende Diskussion zwischen Adel und Bürokratie an den Bedingungen von Statuten, die als Voraussetzung aller weiteren staatlichen Maßnahmen von beiden gemeinsam zu erarbeiten waren. Eine Einigung kam in der Folge trotz immer wieder durch Immediateingaben an den König erzwungener neuer Anläufe, auch nach der 305 20

Reif, Adel

Revolution von 1848 nicht zustande. Die extremen gegensätzlichen Ansichten von katholischem westfälischen Adel und preußischer Bürokratie, vor allem der Provinzialbürokratie, ließen einen Kompromiß nicht zu. Die Bemühungen um die Neugründung eines adligen Damenstifts scheiterten vor allem an der Weigerung des Berliner Finanzministeriums, das Projekt finanziell zu unterstützen und an den Forderungen der an der Vorbereitung beteiligten preußischen Beamten nach Oberaufsicht des Königs und der staatlichen Bürokratie über die Verwaltung des Stifts; zuletzt, in den sechziger Jahren, wohl auch an dem Desinteresse des Adels, welches sich aufgrund der vorherigen Mißerfolge ausgebreitet hatte. "Wichtiger als dieser durchaus mit großer Energie und auch Aggressivität geführte, letzdich politische Kampf zwischen zwei,ungleichzeitigen', konkurrierenden Eliten, ist im Rahmen der Frage nach der FamiUenordnung des Adels die Untersuchung der Intentionen, die den verschiedenen Entwürfen eines Statuts für das Damenstift und dem Projekt einer Erbfolgeordnung des Adels zugrunde lagen. Beide Reorganisationsversuche, der erstere völlig, der zweite teilweise, suchten nämlich zur weiteren Stabilisierung der famiUeninternen Verzichtsdisziplin beizutragen, und die Art und Weise, wie sie dieses versuchten, kann Aufschluß darüber geben, wie man die in der Umbruchzeit verstärkt aufgetretenen Verletzungen der Familiendisziplin in der Zukunft auszuschließen suchte. Achtet man auf die Unterschiede zwischen den verschiedenen Entwürfen zur Gründung eines Damenstifts in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts und den am Ende des 18. Jahrhunderts niedergeschriebenen Stiftssatzungen der alten Damenstifter, so sind es vor allem zwei Bereiche, in denen Neuerungen auftreten: Zum einen die Bemühungen um eine sinnvollere Beschäftigung der dort untergebrachten unverheirateten Töchter, zum anderen die starke und eindeutige Macht des Stammherrn über die Besetzung der Stiftsstellen, sowie die Einschränkung der Selbständigkeit der Stiftsdamen im Bereich der Stiftsverwaltung.^^' Neben den aus alten Stiftssatzungen übernommenen Pflichten zu täglichen Andachten und Chorgesang in der sonntäglichen Hauptmesse betonte man weit stärker als bisher die Ausbildungsfunktion des Stiftaufenthaltes, und zwar sowohl in ihren hausfraulichen als auch moralischen und allgemeinbildenden Aspekten. Darüber hinaus sollte den Stiftsdamen in wesentlich erweitertem Maße ein Tätigkeitsfeld in den örtlichen Schulanstalten und der Armenpflege erschlossen werden.^® In allen Entwürfen zur Neugründung wurden die Stiftsstellen von den Stammherrn direkt, und nicht wie vorher üblich, unter Mitwirkung der Stiftsdamen besetzt; dabei hatte er die Wahl zwischen seinen Töchtern als den nächstberechtigten Anwärterinnen. Starb eine Stiftsdame, so sollte die Präbende direkt an den Stammherrn zurückfallen. Ein Handel mit Stiftsstellen oder die Resignation einer Stiftsdame zu Gunsten einer anderen Kandidatin war so, unabhängig vom Willen des Stammherrn, nicht möglich.^^^ Letzdich aber sicherten das neue Institut des Familienrates und umfassende Kontroll- und Anordnungsbefugnisse den Einfluß der Stammherrn auf die Besetzung der Stiftstellen und das Geschehen im Stift. Der Familienrat bestand aus drei, von allen Präbenden stiftenden Stammherrn auf drei Jahre gewählten Vertretern. Ihnen hatte die Äbtissin jährlich über ihre Verwaltung Rechenschaft abzulegen. Sie un306

terstützten die Äbtissin bei Disziplinarschwierigkeiten, bestimmten über die Anlage der Stiftungskapitalien, leiteten die Äbtissinnenwahl etc. Das alte Selbstverwaltungsmodeli, welches der Äbtissin als völlig selbständiger Leiterin der Stiftsökonomie und als Grundherrin ein außerordentlich hohes Prestige und auch dem Stiftskapitel als beratendem Gremium noch eine beachtliche Dignität gesichert hatte, wurde durch die Konstruktion des Familienrates weitgehend aufgelöst. Damit wird das Lösungsmodell erkennbar; es heißt zusammengefaßt: Bemühungen um relative Verbesserung der Lebenssituation der Stiftsdamen, vor allem um bessere Ausbildung, Gelegenheit zu nützlicher Tätigkeit, reduzierte und durch ein erweitertes Dispensrecht gemilderte Anwesenheitspflicht, stärkere Differenzierung der Rechte und Verantwortlichkeiten nach Altersgruppen etc., aber im Gegenzug: Verschärfte Disziplinierungs- und Kontrollmöglichkeiten in der Hand des Stammherrn über Besetzungsrecht, niedrig gehaltenes Einkommen der Stiftsdamen und vor allem den Familienrat. Dieselbe Tendenz zur Ausweitung der Kontroll- und Disziplinierungsmöglichkeiten des Stammherrn und zur Minderung der Selbständigkeit nicht erbender Kinder läßt sich auch in den 1826 einsetzenden Verhandlungen, Briefwechseln und Entwürfen zur Sukzessionsordnung der Ritterschaft in der Provinz Westfalen, verstärkt in den Bemühungen des Stiftsadels um die Zuerkennung der sogenannten .Autonomie', der alleinigen Entscheidungsfreiheit des adligen Stammherrn in Erbsachen seit 1834 erkennen. Der König hatte am 16.1. 1836 dem rheinischen Adel diese Autonomie unter der Voraussetzung gewährt, daß die standesgemäße Versorgung der nachgeborenen Söhne und der Töchter durch eine genossenschaftliche Stiftung sichergesellt würde.^^ Der westfälische Adel - es traten vor allem münsterländische katholische Stammherrn dem vorbereitenden Verein bei - suchte dem rheinischen auf diesem Wege zu folgen. Auf ein von 36 altadligen Mitgliedern der westfälischen Ritterschaft an den König gerichtetes Gesuch aus dem Anfang des Jahres 1837 antwortete der König mit einer Kabinettsordre vom 2 8 . 2 . 1837; die Antwort fiel sehr wohlwollend aus; denn der König gestand den Familienhäuptern innerhalb der westfälischen Ritterschaft zu, durch Eheberedungen oder Verfügungen sowohl unter Lebenden als auf den Todesfall mit Abweichungen vom gemeinen Recht, ohne durch einen Pflichtteil beschränkt zu sein, die Erbfolge unter seinen Kindern, die Bevorzugung eines derselben vor dem anderen, die Aussteuer der übrigen Söhne und Töchter, sowie die Abfindung des überlebenden Ehegatten und überhaupt alles, was auf die Erbfolge in seinem Nachlaß Bezug hat, nach Gutbefinden anzuordnen, doch mit der Maßgabe, daß zugleich die standesgemäße Erziehung, Abfindung und Aussteuer sämtlicher Kinder und für die Versorgung des überlebenden Ehegatten nach den Umständen von ihnen gesorgt werde."^

Doch dann statteten diese 36 Gründungsmitglieder die geforderte Stiftung zur Versorgung der nachgeborenen Söhne und der Töchter mit so extrem geringen Beträgen aus, daß selbst im Kreis der adligen Organisatoren darüber gespottet wurde. In einem Promemoria, welches er für die am Beitritt interessierten westfälischen adligen Stammherrn verfaßte, schrieb Graf Bocholz am 12. Juni 1837: Für die nachgeborenen Söhne und Töchter ist die Stiftung so unbedeutend, daß man dabei um eine Wiederholung des göttlichen Segens bitten möchte, der mit 5 Broten und Fischen 5000 Mann ohne Weiber und Kinder speiste und der noch 12 Körbe voll übrig behielt."^

307

Aber schon die in den Entwürfen zur Sukzessionsordnung auf den Provinziallandtagen von 1826, 1828 und 1830 festgelegten Abfindungsbeträge waren sehr gering und zeigten im Verlauf der weiteren Verhandlungen eine stark sinkende Tendenz, eine Tatsache, die selbst in den Reihen der Stammherrn einen scharfen Kritiker fand: Im Separarvotum des ritterschafdichen Deputierten v. Wrede-Melschede v o m 15. N o vember 1828, das sich gegen die niedrigen Abfindungsquoten und gegen die dadurch bewirkte tendenziell totale Bindung adligen Grundeigentums unter U m g e h u n g formeller Fideikommißgründung aussprach, hieß es: Wird aber, wie im Entwurf, ohne Rücksicht auf die Höhe des Vermögens eine so unbedeutende Abfindung bestimmt, so wird den Abzugütenden, besonders wenn ihrer viele sind, ohne Not eine kümmerliche Existenz bereitet . . . Offenbar hat also der Entwurf dem Vater, welchem die Erhaltung eines glänzenden Namens mehr am Herzen liegt, als die Wohlfahrt seiner anderen Kinder, keine Schranken gesetzt . . . Durch die Aufhebung aller geistlichen Versorgungsanstalten ist die Aushilfe der Familie auf die Abgegüterten um so notwendiger geworden. Eine so kleine Abfindung aber, wie sie der Entwurf bestimmt, scheint wahrlich nicht geeignet, den anderen Kindern eine nur einigermaßen dem Vermögen des Vaters entsprechende Existenz zu verschaffen, und, wenn man bei den Söhnen noch annehmen kann, daß sie sich für das Leben ausrüsten können, so sind die Töchter, wenn sie unverehelicht bleiben, um so hilfloser und bedauernswerter . . . Der Entwurf . . . kann die gesetzliche Abfindung zu einem unbedeutenden Betrage herabsinken lassen, während der Stammhalter ein Bedeutendes zu seiner Competenz behält. Ich beziehe mich dieserhalb auf das . . . angeführte Beispiel, wo die einzelnen nur 262 R T jährlich erhalten, während der Stammhalter ein reines Einkommen von 6 854 R T übrig b e h ä l t . " ' Das System der knappen Abfindungen, das die nachgeborenen Söhne und die Töchter von den .Zugaben' des Stammherrn abhängig machte - die Güter und ihr Inventar wollte man tendenziell als „ S t a m m g u t " insgesamt dem freien Erbgang entziehen; nur das reine jährliche E i n k o m m e n der Güter und das Zeit ihres Lebens Hinzugewonnene stand nach dem Willen der Stammherrn überhaupt zur Diskussion - sollte durch die Konstruktion eines gruppeninternen Schiedsgerichts aus drei von den streitenden gewählten Stammherrn

(!) gestützt werden, die über alle Erbstreitigkeiten - jenseits des

Einflusses der Gerichte - in erster und letzter Instanz entschieden. Welch maßgebliche Rolle das Schiedsgericht in den Bemühungen des Adels um eine Erbordnung spielte, zeigt die Bemerkung des Grafen B o c h o l z in einer Denkschrift v o m 12. Juni 1 8 3 7 : Bei dem schweren Drucke einer verruchten Beamtenbande und ihrem Hasse gegen Adel und altes Recht ist die Verleihung eines Schiedsgerichts von Standesgenossen ein unschätzbares Kleinod, wodurch der westfälische Adel auf ewige Zeiten dem König durch Dankbarkeit verpflichtet bleibt. Allein es muß unabhängig von jeder Einmischung der Bande, somit der Kontrolle des s. g. Staats bleiben. [Und schon am 20. 2. 1831 hatte er in einem Gutachten die Hoffnung ausgesprochen:] Schiedsfreunde, welche durch die Natur, durch das Staats- und Standesinteresse, nicht aber durch ein dickleibiges Corpus juris voller Widersprüche gebunden sind, die nicht die Ziegel auf den Dächern, die Bäume im Walde und die Töpfe in der Küche zu zählen haben, die nicht mehr Gerichtskosten veranlassen als das streitige Objekt etwa 10 mal werth ist, die nicht aus Gerechtigkeit ungerecht seyn müssen, würden die Wunden vernarben lassen, welche die Gerichte aus Gerechtigkeit vielen Familien geschlagen h a b e n . " * A n der Quasi-Enterbung der nachgeborenen Söhne und der Töchter durch die minimalen Abfindungssummen - man forderte in Berlin eine Stiftung v o n mindestens 308

200000 R T - , dem staatsfreien Raum des von den Stammherrn allein bestimmten internen Konfliktaustrags und am Ausschluß jeder Mitwirkungsmöglichkeit der Betroffenen entzündete sich die Kritik der preußischen Beamten, die wohl zum Teil dem ursprünglichen Ziel von Sukzessionsordnung und Autonomie, der vom König mitgetragenen Politk einer Sicherung des neuen Ritterstandes vor Verschuldung, ökonomischem Ruin und Dezimierung, durchaus zustimmten, die extreme Entmachtung und finanzielle Benachteiligung der Mehrzahl aller Kinder und die Immobilisierung des gesamten Bodenbesitzes des Adels - zu dieser Zeit wurden durch erste Statistiken die Ergebnisse der adligen Besitzerweiterungspolitik bekannt - , aber nicht akzeptieren wollten.^^ Es zeigte sich immer deutlicher im Verlauf der Verhandlungen, daß vor allem der münsterländische Adel über des Königs ursprüngliche Intention weit hinaus gehen wollte; er nutzte die mit dem Angebot einer Sukzessionsordnung sich bietende Gelegenheit dazu, den alten Adelsstand wieder neu zu konstituieren und zugleich noch das Problem der extremen Erb- und Heiratsdisziplinierung seiner Kinder zu lösen. Damit hatte er allerdings, wie das spätere Scheitern nahezu aller dieser Pläne zeigt, den Bogen erheblich überspannt. Daß zumindest der münstersche und sauerländische Adel während der Verhandlungen zu einer ritterschaftlichen Sukzessionsordnung, wie schon bei der Konstruktion des Damenstifts, Erb- und Heiratsordnung immer als Zusammenhang sah, ergibt sich aus einem Konflikt innerhalb des Adels auf den ersten Provinziallandtagen. Als nämlich über den Kreis der zum Erbstatut Berechtigten diskutiert wurde, entzweite man sich über die Frage, wieviel Ahnen ein zum Statut beitrittsberechtigter Stammherr haben müsse, wobei vor allem der münstersche und sauerländische Adel für die Beibehaltung bzw. allgemeine Verbindlichkeit von 16 adligen Ahnen, d.h. für das alte Selektionskriterium zur Besetzung von Domkapitel- und Stiftsstellen, energisch eintrat.^® Später, bei den Autonomie-Verhandlungen, wiederholte sich dieser Konflikt als die Begriffe „ehemals bevorrechtigt" und „landtagsfähig" in der königlichen Kabinettsordre interpretiert wurden. Was äußerlich wie ein Anachronismus anmutet, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein durchaus reflektiertes Konzept: Einerseits suchte man auf diese Weise alle alten Standesgenossen, auch solche, die wegen mangelnder Steuerleistung nicht in die neue Ritterschaft aufgenommen worden waren, durch Erbprivilegien zu sichern, durch Ausschluß der wenigen nicht adligen bzw. nicht altadligen Mitglieder des zweiten Standes gleichsam die alte Ritterschaft, zumindest auf der Ebene des Erbrechts, wieder neu zu konstitutieren, die Teilung der neuen Ritterschaft weiter voranzutreiben.^^' Andererseits galt es, durch Erhaltung eines eng begrenzten Heiratsmarktes für die Kinder den Besitz vor zu hohen Belastungen durch Mitgift, Witwenversorgung etc. zu sichern. In einem Brief an Werner V. Droste-Hülshoff vom 25. Mai 1837 faßte v. Bocholz die beiden divergierenden Konzeptionen im westfälischen Adel knapp zusammen, wenn er schrieb: Die Leutchen sagen , wenn wir dem einen Sohne allein unser Vermögen zuwenden, so müssen die übrigen, wenn sie überhaupt heiraten wollen, nach Gelde, nicht aber nach Ahnen sehen". Der Gegensatz hiervon heißt, wir wollen nicht mit Gevatter Schneider und Handschuhmacher verwandt sein, und wenn wir die Vollbürtigkeit nicht festhalten, so bleiben unsere Töchter, die wir nicht mit großen Capitalien aussteuern können, sitzen. Diese beiden Ansichten nun im Statute zu vereinigen, ist ein Ding der Unmöglichkeit.^'"

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Faßt man die wesentlichen Argumente des münsterschen Adels für die Beibehaltung der Ahnenldausel, unter Ausschluß der rein ideologischen, zusammen, so ergibt sich in folgender Weise Konzept und .Feindbild' : Die sechzehn Ahnen waren in der Familienordnung zusammen mit der Religionsklausel Selektionsinstrument zur Erhaltung des gesamten Güterbesitzes in einer bestimmten Gruppe, zur Einschränkung bzw. Kontrolle der Heiraten von nachgeborenen Söhnen und zur Beschränkung der Abfindungs- und Brautschatzhöhe der Töchter, da über diese in der Gruppe ein Konsens bestand;^'^ andererseits wurde auf diese Weise die Heirat wenigstens eines Teils der Töchter sichergestellt, die ansonsten, bei fideikommissarischer Bindung des Besitzes und niedrigen Brautschätzen, keine Freier bekommen hätten.^^^ Eine Heirat selbst der nachgeborenen Söhne nach dem Gelde statt nach Ahnen wurde abgelehnt, aus Aggression gegen die - nach dem modernen Erfolgsmaßstab des Geldeinkommens stärkere Schicht der ,,Merkantilisten" und ,,Capitalisten".^'^ Darüber hinaus suchte man eine Annäherung an das Bürgertum auch wegen der damit verbundenen Gefahr einer Einbeziehung in das bürgerliche Rechtssystem zu verhindern, und nicht zuletzt ging es darum, einer Auflösung der bisher so erfolgreichen Besitzwahrungs- und Verzichtsdisziplin durch bürgerliche, d. h. weniger durch Tradition disziplinierte, flexiblere Verhaltensweisen, vor allem gegenüber dem Grundbesitz, entgegenwirken. Man fürchtete bei einer Heirat der Töchter und nachgeborenen Söhne, die nach der Familienordnung alle potentielle Familienhäupter waren, mit Bürgerlichen das Eindringen der im Bürgertum Westfalens geltenden ehelichen Gütergemeinschaft in den alten Adel.^®' Eine Sicherung des Besitzes im Mannesstamm wäre dadurch auf die Dauer unmöglich gewesen. Auch wären unter dem Prinzip der Gütergemeinschaft Brautschätze und Ausstattungen der Töchter extrem in die Höhe getrieben worden, es sei denn, diese heirateten in niedrigere bürgerliche Schichten, die ihnen in Einstellung und Bildung völlig fremd waren. Die eheliche Gütergemeinschaft stand in völligem Gegensatz zu den Intentionen der adligen Familienordnung. Hier liegt wohl die Ursache, warum auch die wenigen münsterländischen Adligen, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts den Reichtum der Braut als Ersatz für das Fehlen der Ahnen ernsthaft zu akzeptieren gesonnen waren, schnell wieder davon Abstand nahmen und sich in die Kampffront ihrer Standesgenossen gegen bürgerliche Heirat und eheliche Gütergemeinschaft einordneten.^'® Zwar scheiterten die beiden Rekonstruktionsversuche; doch sie hielten den Konflikt mit der Bürokratie lebendig; der sich als nützliches Instrument erwies, im Innern der Familie Solidarität und Kontinuität der Verzichtsdisziplin zu sichern. Neben diesen angestrebten Lösungsversuchen auf politischer Ebene, der Neugründung eines Damenstifts, der Durchsetzung einer privilegierten Erbordnung, des in die Verhandlungen um eine Erbordnung explizit bzw. implizit eingebundenen Kampfes um die Erhaltung des ungeteilten Familienbesitzes und der Abwehr ehelicher Gütergemeinschaft, finden sich aber schon früh Maßnahmen einzelner Familienväter, die ein Bemühen um Besserstellung der nachgeborenen Söhne und nicht heiratenden Töchter erkennen lassen. Ein Beispiel dafür, daß, innerhalb des traditional durch Familienstatuten vorgegebenen Rahmens, der katholische westfälische Adel auch eigene Modelle zur Lösung der durch die neue Lage - die stärker belasteten, in 310

ihrem Einkommen reduzierten Güter, der Fortfall der Versorgungsanstalten und sicheren Ämter, die weiterhin kostspielige Ausbildung etc. - geschaffenen Probleme entwickelt, ist die seit dem Ende der zwanziger Jahre sukzessiv einsetzende Welle von Familienstiftungen für nachgeborene Söhne und unverheiratete T ö c h t e r . D u r c h Zinsen eines Stiftungskaptials wurde das Einkommen dieser Kinder über die geringe Abfindung hinaus merklich angehoben, wobei auffällig ist, daß man durch Einrichtung eines die Stiftung verwaltenden Kuratoriums und Familienrats neben den Stammherrn die Interessenten selbst zur Unterstützung heranzog. Auch die Differenz zwischen den Unterstützungsbeiträgen der Töchter und der Söhne war bei den neuen Stiftungen geringer als in früherer Zeit.^^® Andere Familien suchten durch zusätzliche testamentarische Zuwendungen - vor allem das nicht fideikommissarisch gebundene Vermögen der Mutter wurde dazu benutzt - die ärgsten Ungerechtigkeiten zu mildern. Dabei wurden hauptsächlich die unverheirateten Töchter in den Testamenten der Mütter bedacht;^'' doch die Kehrseite dieser Zuwendungen blieb die durch Testamentsklauseln verschärfte Disziplinierung im Sinne der Familienordnung; denn alle Zuwendungen und Ansprüche gingen verloren, wenn die geforderte Erbverzichts- und Heiratsdisziplin verletzt wurde.^®" So war es keineswegs völlig aus der Luft gegriffen, wenn die Stammherrn des westfälischen Adels im Kampf gegen die Abschaffung der adligen Sondererbrechte in der Revolution 1848 verkündeten: Die Anträge auf Aufhebung des Erbrechts des Adels, welche der Nationalversammlung eingereicht worden sind, besagen aber mit anderen Worten, jedoch in deutlicher Übersetzung nichts anderes als folgendes: Wir wollen zwar nicht wie weiland unsere Gesinnungs-Genossen, die Jakobiner in Paris, Euer H a u p t dem Henker überweisen, Ihr möget auch immerhin Eure N a m e n behalten, weil es so eigentlich kein radikales Mittel, solche zu beseitigen, gibt - aber Ihr sollet Euch, wenn auch nicht unter der Guillotine doch in Eurer H a b e verbluten, zwar nicht plötzlich, denn wir wollen Euch Euern Besitz ja lassen, aber allmählich soll dieses stattfinden, und geschieht solches ganz einfach dadurch, daß wir Euer Erbrecht für ungültig erklären und hiermit der Familie ihr Eigentum entziehen, um solches dem zeitigen Nutznießer einzuräumen. N a c h einigen Erbfällen ist dann der Adel in seinem Besitze vernichtet. D a s G u t wird geteilt oder verschuldet, und fällt dann bald dem Handel und der Speculation anheim. Unseren Familien gegenüber werden wir uns stets verpflichtet halten, deren Eigentumsrechte zu wahren, und wird keine Macht der Erde uns je bewegen, daß wir des Verbrechens, uns mit dem Vermögen unserer Familien zu bereichern, schuldig werden. Unser Erbrecht würde durch die Einstimmigkeit aller Familienmitglieder demnach doch nicht zu Grabe gehen.^®'

Nichtsdestoweniger sind nach der Revolution von 1848 die innerfamilialen Spannungen, die sich aus dem ungleichgewichtigen Erbsystem ergaben, doch wieder außerordentlich angewachsen. Da das Erbordnungsprojekt gescheitert war, konnten offene Konflikte bei jeder Machtminderung des Adels, bei jedem Sozialisationsversagen der adligen Familie manifest werden; das Problem der Versorgung nachgeborener Söhne und unverheirateter Töchter blieb beim katholischen westfälischen Adel auf der Tagesordnung.^®^ Besonders dort, wo Familienstiftungen fehlten, kam es immer wieder zu Familienzwisten und, aus dem Interesse des sich rechdich in einer schwachen Position befindenden Stammherrn an der Vermeidung von Erbprozessen heraus, zu steigender Belastung des Familienbesitzes durch Abfindungen. Dennoch, zumindest so311

lange die Monarchie und der gestufte Zugang zum König als Besitzer von allerdings fortschreitend sich reduzierenden Macht- und Karrierechancen bestand, war die Familienordnung, wenn auch in zunehmendem Maße schwächer, für alle Familienmitglieder .sinnvoll'. Auch unter den Bedingungen der sich durchsetzenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung blieb das adlige Erb- und Heiratsverzichtssystem funktional - wenn auch das Prinzip der Besitzsicherung eindeutig gegenüber dem des weiteren Besitzerwerbs dominierte - vorausgesetzt, der Stammherr ging selbst oder durch die Einstellung fähiger Verwalter zu einer bedingt Wachstums- und marktorientierten Eigenwirtschaft, oder aber, da in Westfalen für den Adel die Möglichkeiten dazu begrenzt waren, zum Zeitpachtsystem über. Nach der Wiederzulassung von Fideikommissen 1851 hat der Adel nach und nach den größeren Teil seines erheblich erweiterten Grundbesitzes fideikommissarisch gebunden. Die Einschränkung des Fideikommißherrn durch den Agnatenkonsens der Familienordnung hat eine wachstumsorientierte Betriebsführung wohl wenig behindert, und durch das System der knappen Abfindungen blieb der weitaus größte Teil des jährlichen Reinertrags in den Händen des S t a m m h e r r n . H i n s i c h d i c h der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb des preußischen Staates wirkte sich allerdings die Familienordnung insofern negativ aus, als das Kapital, welches sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Hand des Stammherrn bildete, zum weitaus überwiegenden Teil wieder in die Landwirtschaft zurückzufließen hatte und dazu regional auf Westfalen und einen Teil des Rheinlandes weithin beschränkt blieb. Andererseits begünstigte das adlige Erbsystem die Kapitalbindung in der Hand des Stammherrn, die Investition in die Landwirtschaft und es setzte zudem Zweitsöhne als potentielle Beamte, Offiziere und Geistliche, aber auch zu keinen anderen Berufen, frei. Der Familie blieben zudem die nachgeborenen Söhne als günstige Kapitalanlage dann verfügbar, wenn es galt, eine reiche adlige Erbin zu heiraten, den Grundbesitz der Familie zu erweitern und zugleich die Rittergüter weiterhin innerhalb der engen Bezugsgruppe zu erhalten.^" Der Verlust, der durch den weitgehenden Verzicht auf die Heirat reicher bürgerlicher Erbinnen entstand, war demgegenüber nicht so gravierend, daß er eine Verhaltensänderung hätte motivieren können. Gefährdet wurde das adlige Erb- und Heiratssystem allerdings durch das noch immer fortdauernd ungelöste Problem der ungleich auf die Familienmitglieder verteilten Verzichtsanforderungen. Bezeichnend für die andauernde Spannung, die das Erbsystem zwischen dem Stammherrn und den nicht erbenden Geschwistern erzeugte, blieb die Frage, die Theobald v. Oer am 19. 6. 1870 an seinen Bruder und Stammherrn Max richtete: Was nun Deine Ansicht ist, in betreff meiner Beschäftigung nach erhaltenem Abschiede [vom Militär, H . R.], davon hast Du in Deinem Briefe nichts geschrieben; daß ich etwas anfangen muß, ist klar, so herumbummeln kann und will ich nicht . . . Nun willst Du mir, wie den Brüdern, anstatt 150 jährlich 200 R T geben, was mir natürlich nur recht sein kann; jetzt ist aber die Frage, wie soll ich damit . . . auskommen, ich glaube, es wird beim besten Willen nicht ge-

hen."'

312

1.8 Zusammenfassung Die quantifizierende Analyse des generativen und des Heiratsverhaltens, der Entwicldung der Brautschätze und der Witwenrenten zeigte bis 1770 ein Verhalten gemäß den Bestimmungen der adligen Familienordnung, dann eine vorübergehende und begrenzt bleibende Tendenz der Familienmitglieder zur Verletzung der Familiennormen, zur Durchbrechung der elterlichen und ständischen Kontrollen, zur Desorganisation des Standes in der Zeit zwischen 1770 und 1820 ; schließlich aber, nach 1820, die erneute Festigung des familialen und ständischen Zusammenhalts und die Rückkehr zu einem Verhalten gemäß den Vorschriften der Familienordnung. Der Heiratskreis blieb weiterhin regional und ständisch begrenzt; nur bei den nachgeborenen Söhnen und den Töchtern zeigte sich eine Tendenz zur Heirat in den älteren Geburts- und Beamtenadel der Region. Trotz intensivierter Geburtenkontrolle wuchs der Stand zahlenmäßig erheblich, und zwar wegen der sinkenden Kindersterblichkeit und der steigenden Zahl heiratender Söhne. Die Folgen waren steigende Familienlasten, eine größere Zahl nachgeborener Söhne bei gleichzeitigem Verlust aller Versorgungsstellen, und damit eine erhebliche Erweiterung latenter Spannungen aus dem Erb- und Heiratsverzicht. Die steigende Lebenserwartung hat dagegen die Familienordnung stabilisiert, da sie die Altersstruktur des Standes zugunsten der Älteren veränderte. Als Ursachen des von der Familienordnung abweichenden Verhaltens zwischen 1770 und 1820 ließen sich Funktions- und Autoritätsverluste des adligen Haus- und Familienvaters, Auflösung der Kontrollmechanismen von Familie und Stand und Bedeutungsverluste der ständisch-kollektiven Normen infolge langfristig wirksamer, bzw. nach 1770 neu einsetzender Wandlungsprozesse identifizieren. Die Ausbildung altersgleicher, stark emotionalisierter, persönlich-vertraulicher Geschwister- und Freundschaftsbeziehungen zwischen jungen Adligen und die Ausbildung eines bestimmten Generationengefühls in der um 1800 aufwachsenden Altersgruppe lassen sich als erste Anzeichen für eine Lockerung der Familiensolidarität durch Individuierungsprozesse verstehen. Ihnen schlossen sich bald massive Negationen des familial vorgeschriebenen Heirats-, Erb- und Вerufswahlverziehts durch nachgeborene Söhne und Töchter an, die den sichtlich härter werdenden und aufgrund der Individuierungsprozesse auch härter erfahrenen Onkel- bzw. Tantenschicksal zu entrinnen, über Ehe, Liebe und Freundschaft auch Endastung von Unsicherheit und Zweifel und neue, familienunabhängige Orientierungen 'suchten. Adelsfeindlicher werdende Außenwelt und interne Desorganisationserscheinungen erzwangen einen Rückzug der Stammherrn auf ihre von Repräsentationsfunktionen entlasteten, tendenziell privatisierten Familien, begünstigten die Ausbildung einer dualistischen, das Familienleben aufwertenden Weltsicht, und führten zu dem Versuch, durch intensivierte sozialisatorische und solidarisierende Aktivitäten die Geltung der bis 1770 sehr bewährten Familienordnung neu zu sichern. Die adelsspezifisch modifizierte Übernahme eines im aufklärerischen Bildungsbürgertum diskutierten und zum Teil wohl auch realisierten Familienmodells, gekennzeichnet durch neue Rollenvorschriften für Mutter, Vater und Kind, neue sozialisationsrelevante Mutter-Kind-Bindungen, ein individuelle Partnerwahl voraussetzendes Frauen- und 313

Eheideal und flexible, tendenziell herrschaftsfreie innerfatniliale Umgangsformen, entlastete von Umweltproblemen, stabilisierte die kollektiv-familiale Identität, überwand die auflösenden Wirkungen der familieninternen und familienübergreifenden altersgleichen Zweierbeziehungen und sicherte die Bereitschaft der nachgeborenen Söhne und der Töchter zu weiterem Verzicht und zum Engagement der Söhne in den Ämterlaufbahnen des preußischen Staates mit ihren ungewohnt harten Disziplinund Leistungsanforderungen. Die spezifisch stiftsadlige Modifikation dieses Familienmodells wird erkennbar an der engen Verschränkung von Emotionalität und Religiosität. Über religiöses Handeln im Familienbereich wurde die Emotionalisierung der Gatten-, Eltern-Kind-, und Geschwisterbeziehungen vorangetrieben; die stark emotionalisierten religiösen Bindungen und Vorstellungen sicherten die Verarbeitung der Negativerfahrungen durch eine kontingente Weltdeutung und motivierten über den Gedanken des Dienstes für die gefährdete Religion und Kirche die Rückkehr des Adels zu politischer Praxis. Emotionale und religiöse Bindungen an die Familie verankerten die Familien- und Standesnormen - trotz intensivierten Leidens am Verzicht auf Selbstverwirklichung - im Innern der Kinder, wirksamer als es vor 1770 die äußeren Kontrollen vermocht hatten. Der quälende Kampf um eine Sinngebung des Selbstverzichts entband zwar bei den Söhnen ein hohes Maß an Aggression; doch richtete diese sich nicht gegen Familie und Stand, sondern auf die Gegner von Adel und Kirche. Nicht alle durch das neue Familienverhalten entbundenen Individuierungs- und Enthierarchisierungsprozesse konnten in die Bahnen der Familien- und Standesziele gelenkt werden. Das Familiengeschehen stand, trotz starker Privatisierung, in der Umbruchszeit weiter unter den Imperativen außengerichteter familien- und standespolitischer Zielsetzungen, und mit der Konsolidierung der Adelsposition seit den zwanziger Jahren wurden den disfunktionalen Wirkungen der Familienlösung in vielfältigen Kompromissen enge Grenzen gesetzt. Seit den zwanziger Jahren versuchten die Stammherrn, die auf psychischem Wege neu stabilisierte Verzichtsdisziplin auch institutionell und rechdich, durch die Errichtung eines Damenstifts und die Durchsetzung der Autonomie des alten Adels in Erbfragen, wieder abzusichern. Wie schon am Ende des 17. Jahrhunderts standen dabei familien- und standespolitische Ziele in engem Zusammenhang. Das alte, auf der Stiftsfähigkeit gegründete, regional begrenzte Heirats-, Erb- und Besitzsicherungssystem sollte, das Bürgertum distanzierend, auch Grundlage des neuen Standes sein. Diese Reorganisationsversuche scheiterten wegen der beabsichtigten harten Verzichtsanforderungen, dem Ausschluß von Justiz und Verwaltung aus der Regelung innerfamilialer Konflikte und der Tendenz zur Bindung des gesamten Grundbesitzes am Widerstand der Bürokratie. Von Familienstiftungen nur wenig gemildert, vom zahlenmäßigen Anwachsen der nachgeborenen Söhne und Töchter einerseits, dem wachsenden Einkommen der Stammherrn aus einem in erheblichem Ausmaß nur gewohnheitsmäßig als unteilbar akzeptierten Grundbesitz andererseits aber deutlich verschärft, blieben die Spannungen aus dem ungleichgewichtigen familialen Verzichtssystem erhalten; die Bindung an Familie und Religion, der Kampf gegen die 314

Feinde des Adels und der Kirche waren so zur Sicherung der famiiialen Solidarität unumgänglich notwendig.

2. Neue Formen der Erziehung und Ausbildung 2.1 Entwicklungen

im preußischen

Schulwesen

nach

1770

Die nach dem Siebenjährigen Krieg deudich intensivierten Bemühungen der höheren Beamtenschaft und der sich mit den Staatszielen identifizierenden diskutierenden Öffentlichkeit, über eine Schulreform zur .inneren Staatsbildung* (Hintze), zur Vereinheitlichung der ,Nation' und zum Aufbau einer leistungsfähigen nationalen Wirtschaft, aber auch zur Bildung einer vom bürokratisch-absolutistischen Staat abgehobenen Gesellschaft rechdich gleicher Staatsbürger beizutragen, waren nicht auf allen Ebenen des Erziehungswesens gleich erfolgreich. In vielem blieb die angestrebte Schulreform Torso. Während in den weniger an Beamtenbildung orientierten Bildungssektoren - nicht zuletzt auch wegen des Widerstands der alten Berufsstände und der Finanzschwäche des Staats - die Idee der Erziehung von Staatsbürgern mit nützlichen, berufsspezifischen Kenntnissen und rational-leistungsorientierten Verhaltensformen nur schwach, die Idee der allgemeinen Menschenbildung nur in kurzen Phasen aufbrechender Reformeuphorie von Staatsbeamten und Öffentlichkeit vertreten wurde, stellten sich konsequenzenreiche Erfolge auf dem Gebiet des höheren Schulwesens ein. Dort gelang die Umwandlung der älteren, zum großen Teil noch an der veralteten lateinischen Bildung orientierten gelehrten Schule in ein einheitliches, verbessertes, auf den Staat und die Beamtenbildung ausgerichtetes Gymnasium. In gleicher Weise erfolgreich wurden auch die Universitäten auf neue Fächer und wissenschaftliche Prinzpien umorientiert. Da man zwischen Gymnasium und Universität als den neuen, vorwiegend auf Beamtenbildung ausgerichteten Erziehungsinstitutionen eine überaus enge Verbindung herstellte, wurden diese, über die ursprünglichen Pläne weit hinausgehend, in einem äußerst engen Sinne ,,Veranstaltungen des Staates". Der auf ,Verstaatlichung', Entkonfessionalisierung, Vereinheitlichung und Verbesserung ausgehende Zugriff der preußischen Staates auf die gelehrten Schulen setzte in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts ein.^ Mittel der Reform wurde die aus dem allgemeinen Verwaltungsbereich ausgegliederte, von der Zentrale bis zur einzelnen Region des Staates reichende Schulverwaltung. Staadiche Schulaufsichtsbehörden erließen für alle die gelehrten Schulen, welche aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit den Status eines staatlichen Gymnasiums zugesprochen bekommen hatten,^ differenzierte und verbindliche Vorschriften über Schulzugang und Verlauf der Schulausbildung und arbeiteten darüber hinaus verbindliche Lehrpläne aus, in denen die neuen, von den staatsbezogenen Reformern für wichtig gehaltenen Fächer inhaltlich festgelegt, nach konkreten Lernzielen bestimmt und in ihrer Relevanz gestuft waren (Stundenzahl, Prüfungsfächer etc.). Das Fach Religion wurde dabei an den Rand des schulischen Interesses gerückt.^ An die Lehrpläne schlossen sich allgemeinverbindliche 315

Prüfungsordnungen an. In ihnen definierte der Staat schulische Leistung nach Maßgabe der von ihm gewünschten Fachausbildung. Durch staatliche Prüfungskommissionen wurde der Einfluß älterer lokaler und regionaler Patronage- und Konnexionsverbände auf die Prüfungen ausgeschaltet."* Die geforderte schuhsche Leistung konnte nun unabhängig vom Herkommen und von der Zugehörigkeit zu einer älteren Solidargemeinschaft erbracht werden. Da die Fachleistung über das Prüfungswesen mit úntmNotensystem verbunden war, wurde das Prinzip der Konkurrenz und damit die individuell erworbene Fähigkeit gegenüber den älteren, kollektiv geprägten Leistungsvorstellungen noch einmal deutlich hervorgehoben. Der Ausschaltung partikularer Interessen und Steigerung der Ausbildungsqualität diente auch der Aufbau eines weltlichen, nach den neuen Leistungskriterien philologisch gebildeten und staatlich gerprüften, vom Staat allein kontrollierten Fachlehrerstandes. ® Eine außerordentliche Bedeutungssteigerung gewann der so staatlich definierte Schulerfolg in der Folge dadurch, daß über den Aufbau eines umfassenden Berechtigungswesens Gymnasien, Universitäten und reformierte, vereinheitlichte Laufbahnen im Staatsdienst eng aufeinander bezogen wurden.® Erst damit konnte über individuelle Fachleistung im Gymnasium und der Universität eine feste soziale Position als Staatsbeamter und ein dieser Position entsprechendes hohes gesellschafdiches Ansehen erreicht werden. Schul- und Universitätserfolg wurden zu einem äußerst wirksamen Status begründenden Faktor, der dazu geeignet war, die ältere Ständegliederung aufzulösen und eine neue soziale Schichtung vorzubereiten, in welcher die neue Bildung ein wichtiges Schichtungskriterium war. Wie in anderen Territorien des Reichs so konnte sich auch in Preußen die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verstärkte Tendenz zu einer umfassenden Schulreform nur über mehrere Anläufe und Stationen durchsetzen. Der Aufbau einer eigenen Schulverwaltung begann 1787 mit der Einrichtung des Oberschulkollegiums. Durch das erste Abituredikt 1788 wurde auf der Ebene staatlicher Stipendienvergabe zum ersten Mal das von den neuen Gymnasien vergebene Abitur mit dem Universitätsstudium verbunden. Nur Abiturienten erhielten staatliche Stipendien. Die entscheidenden Schritte vorwärts gelangen in der preußischen Reformzeit (Humboldt, Süvern u. a.). Durch Einführung einer einheitlichen Fachprüfung für zukünftige Gymnasiallehrer wurde 1810 die Bildung eines neuen weldichen Lehrerstandes abgeschlossen. Zur gleichen Zeit erfolgte der entscheidende Ausbau des Prüfungs- und Berechtigungswesens. Nach differenzierten Kriterien abgenommene Abschlußprüfungen in Gymnasien, Universitäten und staatlichem Vorbereitungsdienst wurden eng auf die zu dieser Zeit ebenfalls neu geordneten Beamtenpositionen in der staatlichen Verwaltungslaufbahn bezogen. OSLS Abituredikt von 1812 setzte in wesentlich umfassenderem Maße als zuvor die Abschlußprüfung am Gymnasium als normale Voraussetzung des Universitätszugangs fest. Eine Sperre der Hochschule für Studierwillige ohne Abitur erschien den Reformern aber noch als eine zu starke Beschneidung der väterlichen Gewalt, bei der bisher allein die Entscheidung über ein Universitätsstudium des Sohnes lag. Dieses Ziel wurde erst mit dem Abituredikt von 1834 erreicht. Doch hat man schon 1812 die Ausnahmen vom Normalfall, dem Studenten mit Abitur, genau bestimmt und für sie den Hochschulzugang erschwert. Die bisher von den Universi316

täten selbst durchgeführten Aufnahmeprüfungen, die nur ein geringes Maß an Kenntnissen voraussetzten, wurden nun von einer aus Beamten der Schulbehörde, Universitäts- und Gymnaisaliehrern zusammengesetzten Kommission abgenommen. Die Leistungsanforderungen stiegen erheblich.' Zwar konnte der angehende Student auch dann studieren, wenn er diese Prüfung nicht bestand; doch ein Ubergang in den Staatsdienst war ihm später nicht mehr möglich, es sei denn er wiederholte die Prüfung. Um zu verhindern, daß Anwärter auf eine Anstellung im höheren Staatsdienst den Prüfungen durch ein Studium an den noch weniger vom neuen Leistungsprinzip bestimmten auswärtigen Universitäten auswichen, wurde festgelegt, daß sie zumindest zu einem Teil an preußischen Universitäten zu studieren hatten. Mit dem Wechsel an eine preußische Universität war dann die neue Hochschulzugangsprüfung abzulegen. Für die Söhne des Adels war die Humboldtsche Reform auch deshalb wichtig, weil damals die adligen Sonderausbildungsbereiche, vor allem die noch in geringer Zahl existierenden Ritterakademien, aufgelöst wurden. Die neue, an Staatszielen und individueller Leistung orientierte allgemeine Bildung ließ keine ständisch begründeten Ausnahmen mehr zu. Doch ist für die spätere Entwicklung von Bedeutung gewesen, daß mit den Kadettenanstalten ein wesentlicher Bereich ständischer Sonderbildung den Vereinheitlichungsbemühungen widerstand.® Dem in seiner Mehrzahl weiterhin an Standeserziehung orientierten Adel, der noch in starkem Maße auf Privaterziehung im väterlichen Hause beharrte und dem staadichen Gymnasium auswich, andererseits aber an den leitenden staatlichen Positionen interessiert blieb, wurde schon durch die neue Hochschulzugangsprüfung von 1812, verstärkt aber durch das Abituredikt von 1834 ,nahegelegt', seine Söhne in die neuen Gymnasien zu schicken. Nach 1834 war das Abitur unumgängliche Voraussetzung für den Eintritt in die höheren staatlichen Verwaltungslaufbahnen. Damit wurde der Adel, selbst wenn er weiterhin über den Umweg der Privaterziehung und des Externenabiturs den Eintritt ins Gymnasium verweigerte, auf die staatlich vorgeschriebene allgemeine Bildung festgelegt.' Die für unsere Untersuchung wesentlichen Ergebnisse der Umwandlung des höheren Erziehungswesens in Preußen lassen sich in der folgenden Weise zusammenfassen: Ein erheblicher Teil von qualitativ ausgezeichneten Lebenschancen, die höheren Positionen des Staatsdienstes, zu denen noch die Lehrerstellen an Gymnasien und Universitäten hinzugezählt werden müssen, wurde der Patronage und den Konnexionen der älteren Verbände entzogen, vor allem dem direkten Einfluß von Familie und Stand. In der Folge steuerten individuelle Schulleistungen der Söhne in stärkerem Maße zur Erlangung einer hohen Beamtenposition und zum zukünftigen Berufserfolg bei als die bisher dominant Status zuweisenden Machtmittel der Väter und des Standes. Das Gymnasium und die von ihm aufgebauten Verhaltensdispositionen begünstigten die von den Vätern unabhängige Berufswahl nach individuellen Maßstäben. An die Stelle der Väter traten die am neuen Erziehungstypus, an Facherziehung und individueller, für das ganze Staatsgebiet verbindlich definierter Fachleistung orientierten, von den Hausvätern unabhängigen, philologisch gebildeten, weltUchen Lehrer und die Beamten der staatlichen Unterrichtsverwaltung in den Prüfungskommissionen. Beide Gruppen setzten sich für eine von familialen und ständischen Rücksich317

ten unabhängige Erziehung nach staatlichen Zielsetzungen ein. Die an den Interessen der Familienordnung ausgerichteten väterlichen Kontrollaufgaben wurden auf diese Weise sehr erschwert. Ein aus Familie, Stand, lokalen und regionalen Bezügen ausdifferenzierter Erziehungssektor, das höhere staatliche Erziehungswesen, allein von einem bürgerlichen Leistungsprinzip bestimmt, wurde zum entfeudalisierenden Verbindungsbereich zwischen einer sich stark nach diesen Leistungskriterien umformenden Gesellschaft und dem von ihr abgehobenen modernen, bürokratisch-absolutistischen Staat. Dem Staat war durch die Verknüpfung von höherer Schulbildung und von ihm vergebener Berechtigung auf die begehrten höheren Beamtenpositionen einerseits die Möglichkeit gegeben, Quanität und Qualität seiner Beamten zu steuern. Andererseits aber konnte er auch durch Delegation weiterer Privilegien - denn das Berechtigungswesen ist durchaus als ein Privileg für eine neue, vorwiegend durch intellektuelle Fähigkeiten ausgezeichnete Elite zu deuten - an die im höheren Erziehungswesen vermittelten Qualifikationen die horizontale und vertikale Mobilität innerhalb des Staatsgebietes, und damit die in der Gesellschaft bestehende Prestigeschichtung unter umfassenden politischen Erwägungen verändern. " In der Diskussion über die weiteren Mittel und Wege der Staats- und Volkswirtschaftsbildung wurde am Ende des 18. Jahrhunderts weiten Teilen der diskutierenden Öffentlichkeit, wenn auch noch nicht jedem an verantwortlicher Stelle Handelnden bewußt, daß das merkantilistisch-kameralisitische Konzept der Einleitung und Steigerung wirtschaftlichen Wachstums die Grenze zwischen Effektivierung der alten Berufsstände und Auflösung der altständischen Ordnung nicht genau bestimmen konnte und nach der Meinung vieler auch nicht sollte. Die Folge dieser Erkenntnis war, daß die Schulreform in weitaus stärkerem Maße als vorher Element politischer, an der Umformung der hergebrachten Sozialstruktur, der Steuerung sozialer Schichtung und der Durchsetzung einer neuen politischen Verfassung interessierter Überlegungen wurde. ^^ In dem Maße, in dem solche weitreichenden Konsequenzen aus der Reform des Erziehungswesens deutlich wurden, mußte sich aber auch das Interesse der verschiedenen von dieser Umformung betroffenen gesellschaftlichen Schichten an der weiteren Gestaltung und Lenkung des neuen Schulwesens verstärken. Aus dieser Perspektive gerät eine andere Konsequenz der Reform des Erziehungswesens in den Blick. Sie diente einerseits einer Entfeudalisierung des Staates, enthielt aber andererseits - zu einseitig im Interesse einzelner Schichten genutzt - in vielfältiger Weise Möglichkeiten zur Ausbildung neuer Formen quasiständischer Privilegierung.

2.2 Schulreform und gesellschaftliche Interessen in Preußen

(1770-1840)

a) Bildungshürgertum Die Kameralisten und die aus den Kämpfen des Landesherrn mit den alten Herrschaftsständen hervorgegangenen Beamten des monarchisch-absolutistischen Staates, deren soziale Position noch wenig gesichert, deren gesellschaftlicher Status in einer 318

noch weitgehend altständisch strukturierten Umgebung noch unbestimmt war, knüpften mit dem von ihnen entwickelten bzw. vertretenen Modernisierungsprogramm an einem wesentlichen Interesse des Staates an, der Behebung seiner Finanznot. Nachdem dieses zum Staatsprogramm geworden war, stellte sich in der Folge zunehmend das Problem, zwischen drei staatsbildenden Faktoren ein labiles, immer wieder durch die weitere Entwicklung gefährdetes Gleichgewicht zu schaffen: Dem Interesse des Monarchen an weiterer politischer, militärischer und ökonomischer Machtsteigerung des Staates, seinem gleichzeitigen Interesse an der Erhaltung einer hierarchisch aufgebauten Sozialstruktur, vor allem der Erhaltung des Adels als Grundlage seiner Macht, und dem Interesse des neuen Beamtenstandes an Sicherung, Festigung und Erweiterung seiner Unabhängigkeit vom Monarchen und seiner sozialen Stellung. Zwei Entwicklungslinien staatlicher Politik sind für das Schulwesen nach 1770 von besonderer Bedeutung gewesen: Da war zum einen die Stärkung des Adels durch die Adelsschutzpolitik Friedrichs II. und die nach dem Siebenjährigen Krieg sich spürbar verbessernde Einkommenslage in der Landwirtschaft. Auf der anderen Seite festigte und verbesserte sich aber auch zunehmend die Position des Beamtentums als einer nicht ständischen, eng staatsbezogenen Führungsschicht. Das deutsche Bildungsbürgertum, dem das Bündnis- und Identifikationsangebot eines mächtigen Wirtschaftsbürgertums, dem man sich anschließen, dessen ökonomische und politische Interessen man artikulieren konnte, ebenso fehlte, wie die Möglichkeit unmittelbarer Artikulation eigener politischer Wünsche, identifizierte sich zunehmend stärker mit dem von den Beamten vertretenen Programm der Modernisierung vom Staate aus, durch das zum einen neue staatliche Positionen geschaffen wurden, in dessen Erziehungsgedanken aber zum anderen auch Möglichkeiten indirekten politischen Handelns angelegt waren. Indem es die Aufklärungsdoktrin, die aus England importiert wurde, in engem Bezug auf die Staatsbedürfnisse umformte und über eine Vielzahl von Zeitschriften, Gesellschaften etc. eine diskutierende Öffentlichkeit herstellte, die die staatliche Reformen vorbereitete und kommentierend begleitete, wurden die Wohlfahrtspolitik des Staates, dessen fortschreitende Bürokratisierung und auch das Prestige der Beamten zunehmend gestärkt. Einerseits wegen der Widerstände, die der Verwirklichung des Reformprogramms von den alten regional und lokal verankerten Herrschafts- und Berufsständen entgegengesetzt wurde, andererseits aber auch wegen der anwachsenden Konkurrenz des über seine wirkungsvollen Konnexionen in die leitenden Verwaltungsämter eindringenden Adels, der auf seinen Ämtervorzügen beharrte, die bürgerlichen Beamten distanzierte und deren Hoffnung auf Integration in eine neue adlig-bürgerliche politische Elite auf der Basis der aufklärerischen allgemeinen Menschenbildung als illusionär ablehnte, gewann die öffentliche Diskussion zunehmend stärker einen antiständischen, vor allem antiadligen Charakter, zumal die Zahl der Studierenden nach einem Rückgang infolge des Siebenjährigen Krieges, seit 1770 wieder wuchs, so daß sich der Druck bürgerlicher und adliger Anwärter auf die Staatsstellen erhöhte. Die Überfüllung^® der Universitäten und die anwachsende Zahl der Beamtenanwärter provozierten eine vom Monarchen und der Beamtenschaft getragene, den Adel 319

zunächst noch wenig tangierende erste Abwehrreaktion gegen die über Universitäten staatliche Positionen anstrebenden mittleren stadtbürgerlichen Schichten: Das Abituredikt von 1788, das die Zuteilung der Universitätsstipendien von der Abschlußprüfung an einer vom Staat kontrollierten, an dessen Zielen ausgerichteten gelehrten Schule, dem zukünftigen staatlichen Gymnasium abhängig machte. Zugleich setzte auch auf breiter Front der organisatorische Auf- und Ausbau des staatsbezogenen höheren Schulwesens ein. Schon am Beginn dieses Prozesses vereinigten sich also staatliches Interesse an qualifizierten Beamten und an der Eindämmung einer die hergebrachte hierarchische Sozialstruktur zu stark gefährdenden Aufstiegsmobilität mit dem Interesse der Beamten, den Andrang auf die staatlichen Ämter in engen Grenzen zu halten.^"* Mit dem Abituredikt von 1788 ist diese Absicherung gegen die aufstiegswillige Konkurrenz aus der breiten stadtbürgerlichen Mittelschicht auch zum ersten Mal gelungen. Uber die Bestimmungen von Lehr- und Prüfungsplänen gelang dasselbe - wie oben gezeigt - auch gegenüber dem Adel. Innerhalb dieser Lehrpläne gewann das Fach Griechisch eine besondere Bedeutung. Geistesgeschichdich betrachtet war die Einführung des Faches eine Konsequenz der sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland durchsetzenden neuhumanistischen Griechenlandorientierung. Eine Rückführung dieser Bewegung auf die ihr zugrunde liegenden Sozialinteressen kann in wenigen Sätzen nicht geleistet werden. Doch sollen einige soziale Grundlagen der Bewegung angeführt werden, und zwar differenziert nach dem Produktions- und Rezeptionszusammenhang dieser Idee. Zunächst diente das neue Griechenlandideal der Absetzung des staatsorientierten, aufgeklärten deutschen Bürgertums von der Vorherrschaft des französischen Bildungsideals und war damit zugleich ein Instrument der Selbstfindung und Selbstbehauptung gegenüber der stark französisch orientierten Adels- und Hofwelt; es sollte die Grundlage für eine neue, ständisch unabhängige Nationalbildung abgeben. Zugleich bot die Griechenlandorientierung - bezeichnenderweise wurde stärker ein fiktives griechisches Menschenbild mit stark aristokratischen Zügen und weniger die politische Verfassung der griechischen Stadtstaaten rezipiert - Möglichkeiten, die eigene Abkehr vom direkten, gegen den bestehenden Staat gerichteten politischen Handeln, das im naturrechdichen Denken der Aufklärung als Konsequenz angelegt war, sowie die Wendung zum Staat zur Bildung einer auch Teile des alten Adels einschließenden staatsbezogenen Bildungselite und zur Erziehung der Nation als politischem Ersatzhandeln zu legitimieren.^^ Entscheidende Beiträge zum neuen Griechenideal gingen schließlich am Ende des 18. Jahrhunderts, als eine Überfüllung der höheren staatlichen Ämter unübersehbar wurde, von der auf den Staat bezogenen, doch außerhalb der staatlichen Positionen stehenden Intelligenz aus, die den scheinbar in Uülitarismus und Realienkult erstarrenden Staat und die Wirklichkeit der Staatsschulen, z.B. der philantropischen Schulen, scharf kritisierte, indem sie beide an der harmonischen Aufklärungskonstruktion einer in Griechenland möglichen Identität von persönlicher Selbstverwirklichung und staatlicher Notwendigkeit maß.^® Seine große Verbreitung gewann das neuhumanistische Griechenideal aber nicht allein durch diese produzierenden Gruppen bzw. den mit diesen Intentionen inner320

lieh übereinstimmenden sozialen Schichten, sondern durch weitere, rezipierende Schichten, für die es eine andere, von seinem Produktionszusammenhang mehr oder weniger abgelöste Funktion erfüllte. Die starke Inanspruchnahme der durch das neue höhere Erziehungswesen geschaffenen Möglichkeiten des Aufstiegs und der daraufhin sich einstellende verstärkte Druck auf die höheren Beamtenpositionen hatten auf der Seite der etablierten Beamtenfamilien zwei Wirkungen. Einerseits wurde das Selbstbewußtsein des sich als Erzieher und Reformer verstehenden höheren Beamten noch mehr gesteigert als bisher; andererseits aber stand man, wie das Abituredikt von 1788 zeigt, am Anfang einer auf Sicherung der errungenen staatlichen Positionen ausgerichteten berufsständischen Politik, die schließlich zum voll ausgebauten, von den Beamten kontrollierten Berechtigungssystem führte. Diese Konstellation begünstigte die Rezeption des Griechenideals. Das Selbstbild des Reformers und Staatslenkers erforderte, verstärkt in der nach 1806 einsetzenden Reformzeit, eine Überlagerung der in der Regel im Alltagsleben ausgeübten bürokratischen Funktionen durch ein neues, ständisch unabhängiges, die individuellen Qualitäten hervorhebendes Persönlichkeitsideal; und auch der Aufbau berufsständischer Barrieren ließ sich gegenüber dem Selbst und gegenüber Außenstehenden wirkungsvoller rechtfertigen, wenn man zur Distanzierung der nachrückenden bürgerlichen Mittelschicht und des aufkommenden, alternative Möglichkeiten realisierenden Wirtschaftsbürgertums, die im neuen Berufsstand aufbewahrten umfassenden, ,kultivierten' Personenqualitäten stärker betonte. Der neuen Facherziehung wurde eine kultivierte Erziehung nachträglich gleichsam übergestülpt." Diese Methode der Distanzierung durch einen auf höhere Bildung und daran geknüpfte neue Privilegien gegründeten kulturellen Machtreichtum machte die auf dieser Grundlage sich entwickelnde und schnell in ihrem Selbstverständnis homogenisierende Schicht der Gebildeten, und in ihr die Elite der höheren Beamten, in einem wesentlichen Punkt formal den alten Ständen, insbesondere dem Adel ähnlich.^" Während so die griechische Sprache in den neuen Schulen gegenüber dem Adel entfeudalisierend, gegenüber dem kirchlichen Anspruch auf Erziehung laisierend wirkte, fungierte sie gegenüber den beiden aufstiegsorientierten bzw. selbstbewußt werdenden Schichten des an Beamtenpositionen interessierten breiteren städtischen Bürgertums bzw. des neuen Wirtschaftsbürgertums als Legitimations- und Distanzierungsideologie einer neuen funktionalen Elite und als wirksames Selektionsinstrument zur weiteren Sicherung einer hohen Selbstrekrutierungsrate des ,gebildeten', höheren Beamtentums.^^ Insofern bestand zwischen dem Griechischen, das in den Lehrplänen der Gymnasien überbetont wurde, während es in der Universitätsausbildung der Beamten - von den zukünftigen Lehrern einmal abgesehen - stärker hinter die utilitaristischen Ausbildungsansprüche zurücktrat, und dem durch die Reform des Erziehungswesens ausgebauten Berechtigungssystem eine enge Analogie. Denn auch im Engagement für das Griechische verbanden sich eine vor allem gegen den unfähigen Adel gerichtete Tendenz zur Erweiterung der Chancengleichheit und das Interesse an der Ausbildung einer neuen privilegierten Sozial- und Berufsgruppe, nicht nur weil an die neue Bildungsschicht zusätzlich staatliche Privilegien vergeben wurden, sondern auch, weil das Berechtigungssystem wie das Griechische den etablierten Beamten ausgezeichnete Möglichkeiten im Kampf um ihre 321 21

Reif, Adel

Selbstbehauptung bot, d. h. im Kampf um eine hohe Selbstrekrutierangsrate unter den Bedingungen anwachsender Konkurrenz Aufstiegswilliger und der Schrumpfung des staatlichen Reservoirs an Beamtenstellen seit 1825. In dieser zweiten Überfüllungsphase wurden dann auch die im Berechtigungswesen angelegten Möglichkeiten zur Steuerung der Aufstiegsmobilität voll zugunsten der etablierten Beamtenfamilien genutzt: Verschärfung der Qualifikationsanforderungen über die Bestimmung von Ausbildungsinhalten (Griechisch) und über die Festlegung des Ausbildungsniveaus, Erhöhung der Ausbildungskosten an den Gymnasien, während die Kosten für das Universitätsstudium vergleichsweise niedrig blieben, und schließlich auch die verlängerten Wartezeiten ohne Gehalt vor der Übernahme in den Staatsdienst haben zum Abbau der auf den höheren Staatsdienst gerichteten Aufstiegsmobilität während des Vormärz in erheblichem Maße beigetragen.^^ Das aufklärerische Programm der allgemeinen Menschenbildung, einst effektiv als Legitimation des Bemühens um ökonomisch-ideologische rationale Leistungssteigerung der Berufsstände, um Lösung des einzelnen aus den hemmenden altständischen Bindungen zugunsten seiner unmittelbaren Orientierung an den Bedürfnissen des Staates, effektiv auch als Durchsetzungsideologie eines auf fortschreitende Bürokratisierung des Staates, Verstärkung seiner Wohlfahrts- und Reformpolitik, Beseitigung des ,unfähigen' Adels aus den leitenden Verwaltungspositionen drängenden Bildungsbürgertums, wurde - nach einer letzten durch die Erfahrung des Zusammenbruchs und negativ auch durch die Schulreformen des französischen Gegners bestimmten Reformphase in dem Maße zurückgenommen, in dem die umfassenden verfassungspolitischen Konsequenzen für den Staat und die statusgefährdenden Konsequenzen für die etablierten Beamtenschichten erkennbar wurden.^' Die Reform des Erziehungswesens blieb kopflastig. Allein auf der Ebene der höheren Schulen, auf dem die Interessen des Staates und der Beamten lange Zeit übereinstimmten, war das Reformbemühen erfolgreich. Eine neue Schule zur Ausbildung der Berufsstände hat man dagegen nur in engen Grenzen durchgesetzt. Die Volksschulausbildung wurde zwar verbessert, blieb aber, gestützt durch die Maßnahmen der Reaktionszeit, weitgehend in den Händen der Kirchen.Andererseits aber hatte die auf fortschreitende Verstaatlichung und Entfeudalisierung ausgerichtete staatliche Schulpolitik in solchem Maße vertikale Mobilität angeregt, daß neue Sozialgruppen wie z . B . die freien Akademiker entstanden, die, im Vormärz stark anwachsend, auf eine Veränderung der gegebenen staatlichen Ordnung hinarbeiteten, und in deren Abwehr schließlich die auch in der Schulreform einst heftig konkurriernden Eliten der Beamten und des Adels in einem Kompromiß zusammenfanden.^'

b) Adel Der Vorsprung an realistischer, staatsbezogener Ausbildung, den der Adel durch Übernahme des Kavaliersideals und Gründung der Ritterakademien gewonnen hatte, ging in dem Maße zugunsten des Bildungsbürgertums verloren, in dem sich das kameralistisch-merkantilistische Programm der Modernisierung vom Staate und seiner 322

durch Fachbildung ausgewiesenen Verwaitungselite aus durchsetzte. Denn das Bildungsideal der Ritterakademien und der adligen Hauserziehung blieb trotz der Aufnahme von Realien eine am Hofdienst, an Personenbeziehungen und umfassenden Personenqualitäten ausgerichtete ¿«tózíí'eríe Erziehung. Die bürgerlichen Fachbeamten begründeten in den neu organisierten Universitäten und Schulen schließlich die ihrem Bildungsideal entsprechenden Ausbildungsinstitute, die ihnen den angestrebten Qualifikationsvorsprung vermittelten, während der weiterhin vorwiegend hoforientierte Adel in den Ritterakademien und, sofern diese fehlten, in Hofmeistererziehung, Universitäts-,Besuch' und Kavalierstour an der beginnenden Bürokratisierung des Staates gleichsam ,vorbeizog' und ausbildungsmäßig in starkem Maße den Anschluß verlor. Hier liegt die Grundlage dafür, daß das diskutierende, an der neuen Facherziehung orientierte Bildungsbürgertum, sich vom Konzept einer integrierten, adligbürgerlichen Funktionselite auf der Basis aufgeklärter allgemeiner Menschenbildung abkehrend, in der von den Zeitschriften getragenen Öffentlichkeit seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstärkt gegen den ungebildeten, nur durch Personenverbindungen sich auszeichnenden Adel in leitenden Beamtenpositionen polemisieren und seine Ersetzung durch Bürger mit,nützlichen' Kenntnissen fordern konnte.^® Kritisch wurde die Lage des auf staatliche Ämter ausgerichteten Adels aber erst, als die sich zu staatlichen Gymnasien entwickelnden gelehrten Schulen zu Fachbildung und auch - nach einem neuen, griechisch geprägten individuellen Persönlichkeitsideal - Personenbildung vermittelnden, auf die Bildung qualifizierter Staatsbeamter ausgerichteten Institutionen wurden, deren Zeugnisse und Abschlußzertifikate über das Berechtigungswesen eng mit den höheren staatlichen Beamtenpositionen und Laufbahnen verknüpft w a r e n . M i t der Reform des höheren Schulwesens hatte der Staat das Bildungsideal einer bestimmten Schicht zur Allgemeinbildung erhoben. Die Bereiche ständischer Sondererziehung wurden aufgehoben, die Privaterziehung im väterlichen Hause erschwert. Der Weg zu den staatlichen Ämtern zwang den Adel zur Abkehr von der Privaterziehung^® und zum Eintritt in das religiös-neutrale, von den Intentionen der Hausväter unabhängige staatliche Gymnasium mit seinen zwei adelsfeindlichen Prinzipien: Der ,entzaubernden' Facherziehung unter den Bedingungen der Konkurrenz und dem am Streben nach individueller Selbstverwirklichung ausgerichteten Programm der Persönlichkeitsbildung. Die Konsequenz eines Durchgangs der adligen Söhne durch die Gymnasien schien Identitäts- und, bei Versagen der Söhne gegenüber den neuen Leistungsanforderungen, langfristig auch Positions- und Prestigeverlust zu bedeuten.^' Die Konsequenzen dieser Entwicklung waren leicht antizipierbar, zumal ein relativer Prestigeverlust durch die Aufwertung des Bildungsbürgertums schon eingetreten war, eine Veränderung, die im Umgang mit den selbstbewußten Söhnen dieser Schicht an den Universitäten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts täglich erfahren wurde.'" Mehrere Wege, auf diese neue Situation zu reagieren, standen dem Adel offen. Die unmittelbare Reaktion war der Rückgriff auf eine hergebrachte Gewohnheit: Man nutzte seine umfassenden Konnexionen, um Dispense von Besuch des Gymnasiums, von der Teilnahme an bestimmten Fächern und von Prüfungen zu erlangen.'' Es war aber auch möglich, eine Uminterpretation des bisherigen Selbstbildungsziels vorzu323

nehmen und in Anerkennung oder Ablehnung der neuen Lage neue Ziele und ihnen entsprechende Handlungs- und Rollenmuster zu entwickeln. Schließlich verblieb als eine dritte Möglichkeit, die sich mit dem Wandel des politischen Klimas in den zwanziger Jahren ergab, der Aufbau neuer ständischer Sondererziehungsbereiche neben dem Gymnasium.®^ In diese für den Adel kritische und noch weithin offene Situation geriet der münsterländische Adel, als er 1814 endgültig ,Preuße' wurde.

2.3 Neue Erziehungspñnzipien Zur .Rettung' des Kindes, zu seiner weiteren Bindung an die Ziele der Familienordnung des münsterländischen Adels unter den veränderten, nun adelsfeindUchen Bedingungen der Außenwelt, hat eine Erziehung nach neuen Prinzipien in entscheidendem Maße beigetragen. Ein Einstellungswandel hinsichdich der hergebrachten Erziehungsprinzipien hatte sich schon seit den siebziger Jahren, als die Auflösung der hergebrachten ständischen Ordnung auch auf der Familienebene einsetzte, in ,Gesprächen' einzelner Familienväter mit dem Fürstenberg-Gallitzin-Kreis, mit auswärtigen, bekannten bürgerlichen Pädagogen, mit pädagogischer Literatur und auch mit interessierten Standesgenossen vorbereitet. In der mit den neunziger Jahren einsetzenden Krisenzeit wurde dieser Umorientierungsprozeß beschleunigt; die nun privatisierte und emotionalisierte Adelsfamilie bot den geeigneten Rahmen für die schrittweise Änderung des Erziehungsverhaltens und die Entwicklung eines neuen Erziehungskonzepts, dessen Ausgangspunkt ein neues Bild vom Kinde war.^^ Da die neuen Vorstellungen vorwiegend in Auseinandersetzung mit den Erziehungsreflexionen und Experimenten bürgerlicher Reformpädagogen gewonnen wurden, empfiehlt es sich, deren Kindvorstellung in ihren grundlegenden Elementen kurz zu skizzieren und über die Abweichungen von dieser Sicht das Bild vom Kinde im münsterländischen Adel nach 1770 zu bestimmen. Die bürgerlichen Pädagogen der Aufklärung antizipierten den Wandel von einer Welt des Mangels und des dominanten Sicherheitsbedürfnisse zu einer Welt der wachsenden Lebensmöglichkeiten in einer offenen Zukunft. Diese Erwartung setzte auf zwei Ebenen eine neue Qualität von Vertrauen voraus : Zum einen Vertrauen in die Möglichkeiten des Kindes, seine spontanen Regungen und einen Teil seiner ,Leidenschaften'.^'* Die Vorstellung von einem tendenziell zum Bösen neigenden Kind, dessen ursprüngliche Neigungen in einer Gehorsams- und Härteerziehung durch Strafen und fortgesetzte Demütigungen zugunsten einer Disposition zum Selbstverzicht zerstört werden mußten, war mit dieser Zukunftserwartung nicht in Einklang zu bringen. Die bewußt betriebene Verbesserung der Welt erforderte einen Menschen mit neuen Fähigkeiten, dessen Sinnlichkeit und Ich-Bewußtsein nicht a priori als Sünde galten, sondern die Grundlage abgaben für neue, positive Eigenschaften, deren Entwicklung durch die bisherige Unterdrükkung der Selbständigkeit des Kindes verhindert worden waren. Zum anderen verdiente aber auch die, Welt' mehr Vertrauen als bisher; sie war für das Kind nicht mehr der Verführer, vor dem es durch Abtrennung und Überwachung geschützt werden mußte, sondern notwendiger Widerstand, dem das Kind sich zuzuwenden hatte, um 324

seine Fähigkeiten entwickeln zu können. In der Beurteilung des Grades, in dem sich die Welt ,für' das Kind, für die Entwicklung seiner Fähigkeiten eignete, unterschieden sich die Meinungen der reformorientierten Pädagogen allerdings erheblich. Hier war Rousseau so pessimistisch, daß e r - in seinem Modellroman,,Emile" - wieder zur Erziehung in einem stark von der Welt abgetrennten Bereich zurückkam. Doch hatte sich bei ihm der Sinn der Abtrennung völlig gewandelt. Diese diente nicht dazu individuelle Neigungen zu zerstören und das Kind im Sinne fester Familien- und Standesziele als zukünftigen Erwachsenen festzulegen, sondern sollte gerade eine offene Entwicklung des Kindes in der Auseinandersetzung allein mit dem ,,Gesetz der Dinge" garantieren.^® Neben Fénelon und Locke wurde vor allem Rousseau für die neue Erziehungskonzeption im münsterländischen Adel bedeutsam. An der rein äußerlichen Analogie zur älteren Erziehung, der Abtrennung, setzte die Rezeption Rousseaus an; das Element der Ausgrenzung des Kindes aus einer als verdorben definierten Umwelt konnte - natürlich mit einer eigenen inhaltlichen Bestimmung des Verdorbenseins - leicht übernommen werden; der so ausgegrenzte Erziehungsraum bestand schon, nämlich in der privatisierten Adelsfamilie. Auch eine partielle Loslösung des Kindes von den Vorstellungsbereichen ,Erbsünde' und ,Teufel' konnte gelingen, weil man gegenüber einer nun durch und durch verdorbenen Umwelt seine Schwäche, sogar seine .Unschuld' betonen konnte. Hierin, und nicht im vom Kind ausgehenden Versprechen einer neuen Zukunft, bestand für den Adel der ,Reiz des Kindes'. Da sich zugleich die feste, von Wiederholung der Vorbilder bestimmte Zukunftsperspektive, und damit zum Teil auch jahrhundertelang tradierte Handlungsmuster aufgelöst hatten, war eine Erziehung als Einübung in nach festen Regeln definierte Situationen und Fälle nicht mehr möglich. Die rigide Gehorsamserziehung wurde dadurch gleichsam von selbst aufgelöst; ebenso verlor das Prinzip der Gedächtnisschulung an Bedeutung. Unterschiede mußten sich aber notwendig dort ergeben, wo die bürgerlichen Pädagogen optimistisch auf die Freisetzung der individuellen Fähigkeiten des Kindes setzten; denn eine Erziehung der Kinder zu Selbständigkeit und individueller Selbstbestimmung hätte die Stabilität der Familienordnung gefährden müssen. Die sentimentale Komponente im Bild des münsterländischen Adels vom ,unschuldigen Kind' darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß unterhalb dieser emotionalen Ebene Mißtrauen gegenüber den ,natürlichen' Neigungen des Kindes und Besorgnis um Kontinuität von FamiUe und Stand weiterhin erhalten blieben.^® Das nach dem Rückzug aus der Welt verbleibende „Gesetz der Dinge", das Rousseau neben den individuellen Bedürfnissen als einzigen Lenker der Entwicklung des Kindes akzeptiert hatte, ließ sich leicht in die Normen von Familienordnung und Stand uminterpretieren. Alle anderen Erkenntnisse der neuen bürgerlichen,,kindzentrierten' Pädagogik konnten dann auf diesen Zweck hin instrumentalisiert werden. Zuerst wurden vom Adel die an einer 'vaneTtn,psychischen Entwicklung des Kindes orientierten Vorstellungen von den Altersphasen des aufwachsenden Menschen übernommen. Von der Erwartung einer relativ offenen, besseren Zukunft und dem Interesse an einem sich selbst bestimmenden,,,hoffnungsvollen" Menschen als deren Gestalter ausgehend, hatten die bürgerlichen Pädagogen das Kind von der Belastung 325

durch sein ehemals schon früh feststehendes Bild als zukünftiger Erwachsener befreit, seinen vermuteten gegenwärtigen Zustand stärker in den Blick gerückt und Sensibilität gegenüber seinen psychischen Bedürfnissen entwickelt. Das Wissen um einen keineswegs einlinig, sondern im Wechsel von Krisen- und Stabilisierungsphasen verlaufenden kindlichen Entwicklungsprozeß und eine - von der körperlichen Entwicklung stark abgelöste - nur langsam fortschreitende Entwicklung der vernünftigen Fähigkeiten des Kindes^'' hatte die Ausbildung eines Konzeptes begünstigt, nach dem das Kind von Erwachsenenormen in starkem Maße freigesetzt und vor belastenden, von der Erwachsenenwelt vermittelten Erfahrungen durch partielle Trennung von Erwachsenen- und Kinderwelt zu schützen war. Zudem sah man es als unumgänglich notwendig an, den Kindheitsstatus zeitlich auszudehnen und die als besonders wichtig betonte emotionale Mutterzuwendung auszuweiten und zu intensivieren.^® Diese neue Altersphasenvorstellung kam den Adelsbedürfnissen entgegen; denn er gewann durch die verlängerte Kindheitsphase, indem er sie voll an die Familie band, eine zusätzliche Zeit der Abtrennung, die er brauchte, um die Familien- und Standesziele auf eine abstraktere, infolgedessen flexiblere, und wegen der nun genaueren Kenntnis der Kinderpsyche auch effektivere Weise im Kind zu verankern. Wurden die neuen Altersphasenvorstellungen hinsichtlich der Kindheit voll rezipiert und im Interesse der Familienordnung instrumentalisiert, so blieb die Altersphase der Pubertät, auf die Rousseau zum ersten Male aufmerksam gemacht hatte, zwar im münsterländischen Adel nicht unbekannt, aber doch in starkem Maße intellektuell unbewältigt. Auf die Pubertätskrisen der Söhne, die sich in einer konflikt- und alternativenreicher gewordenen Umwelt leicht in abweichenden Verhaltensweisen verhärteten, reagierten viele Familienväter, wegen ihrer geschwächten Position, zwar flexibler und nachsichtiger als vor 1770 ; aber eine В ewältigung dieser Erscheinung im Interesse der Erhaltung von Familien- und Standesordnung, wie bei der Kindheitsphase, gelang nicht.®' Unverständnis und ein Gefühl der Machdosigkeit gegenüber diesem Phänomen, das sich ja nicht notwendig in der Form von Aggressivität, sondern auch in vielfältigen anderen Formen äußerte, waren die vorherrschenden Reaktionsweisen.·*® Als leitende aus diesem modifizierten Bild des Kindes abgeleitete Erziehungsprinzipien lassen sich nennen: eine flexiblere Gehorsamserziehung, eine Zurücknahme der Härte gegenüber den Kindern, verschärfte Abtrennung, Überwachung und Lenkung der Kinder, aber Lenkung weniger im Detail, desto intensiver in Hinsicht auf grundlegende Einstellungen. Prinzipien wie Entwicklung der Phantasie und Einübung von Selbsttätigkeit traten zurück hinter das der streng, aber unmerklich von Erwachsenen gelenkten Erfahrungsvermittlung. Als besonders gefahrdrohend wurde der kindliche Innenraum angesehen. Durch die Forderung gegenseitigen Vertrauens, dessen Grundlage die verstärkten Eltern-Kind-, vor allem die Mutter-Kind-Bindungen waren, suchte man diesen zu kontrollieren. Liebesentzug wurde zur wirksamsten Form der Belohnung und Strafe. Statt den eigenen Willen der Kinder zu brechen, suchte man ihn nun zu gewinnen und zu lenken. Bis ins letzte Detail äußeren Verhaltens reichende Selbstkontrolle erschien nicht mehr so dringlich, weil sinnliche Erscheinung und Sinn in vielen Bereichen des Adelslebens nicht mehr übereinstimmten. Gegenüber der Willenserziehung trat das Interesse an der Vermittlung adliger ,con326

duite' und aber auch an Wissenserziehung zurück. Durch Entlastung des Kindes von Lernanforderungen, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht durch Spiel, Erholung, Aufgabe der extremen Gedächtnisschulung und Anwendung neuer Lehrmethoden, z.B. den Prinzipien von Anschaulichkeit und Selbsttätigkeit, suchte man Wissensvermittlung und individuelle Bedürfnisse des Kindes möglichst spannungslos zu vermitteln. Wo die Freude am Lernen dennoch ausblieb, hatte es die Forderung nach Wissensvermittlung oft schwer, sich gegenüber dem Postulat der emotionalen Harmonie und des Familienfriedens durchzusetzen. Das neue Erziehungsverhalten bildete sich inPhasen aus. Am Anfang standen Verunsicherung und ein verstärktes Bedürfnis nach Selbstverständigung in Gesprächen über die eigenen Erziehungsprinzipien. Ausgangspunkt dieser Gespräche war der Fürstenberg-Gallitzin-Kreis, dessen religiöse und philosophische Reflexionen immer wieder auf pädagogische Probleme hinausliefen, die sich aus der Praxis ihrer Mitglieder, vor allem aus der Reform des münsterischen Schulwesens und den eng an Rousseaus „Emile" orientierten Erziehungsexperimenten der Fürstin Gallitzin ergaben.''^ In seinen Bemühungen um eine neue, ,kindgemäßere' Erziehung stand der Kreis in engem Kontakt mit den bekanntesten (adligen und bürgerlichen) pädagogischen Reformern im deutschsprachigen Raum, aber auch mit einigen münsterländischen Adelsfamilien. Außer dem Erbdrosten, dessen Söhne Adolph und Caspar zeitweise im Hause der Gallitzin zusammen mit deren zwei Kindern erzogen wurden, sind vor allem Paul Joseph v. Landsberg-Velen, dessen Onkel, der Domherr Franz Engelbert v. Landsberg, der, Fürstenberg nahestehend, im Kirchspiel Drensteinfurt, in dem sein Rittergut lag, die Schulausbildung der Landbevölkerung reformiert hatte, der Graf August Ferdinand v. Merveldt und wohl auch Clemens August v. Ketteier in engere Verbindung zu dem Kreis von Münster getreten."^ Modellhaft lassen sich die Beeinflussungsvorgänge und die multiplikativen Wirkungen, die von diesem Kreis ausgingen, in einer Diskussion erfassen, die 1795 bis 1797 im Münsterland stattfand."^ Das Interesse an Erziehungsfragen hatte unter den adligen Familienvätern seit der Französischen Revolution stark zugenommen; von einer richtigen Erziehung schien stärker denn je das Seelenheil des Kindes, und das hieß zugleich immer Kontinuität von Familie und Stand abzuhängen. In einem Brief vom 26. 3. 1798 an den Pädagogen Overberg betonte Paul Joseph v. Landsberg-Velen, wie wichtig es ihm sei, „daß das zarte, unverdorbene Herz" seines Sohnes,,zumal bei den jetzigen, ich möchte fast sagen, irreligiösen Zeiten" durch echte Religiosität vor Verführung geschützt werden müßte"; und schon im Vertrag mit dem Hofmeister Bueren vom 6. 1. 1793 hatte er von sich behauptet, er sähe ,,die Erziehung meiner Kinder für mich selbst als eine meiner heiligsten Pflichten" an.·" Unsicherheit über das richtige Erziehungsverhalten und das Bewußtsein der in seiner Zeit gesteigerten Konsequenzen von Erziehungsfehlern waren die Ursachen dafür, daß der Freiherr Paul Joseph V. Landsberg-Velen, aus einem Bedürfnis nach pädagogischer Information und Selbstverständigung mit seinen Standesgenossen heraus, ein Gespräch über Erziehung in Gang setzte."' Anlaß war die Frage, nach welchen Prinzipien die Auswahl des nun erheblich in seiner Position aufgewerteten Hofmeisters für den erstgeborenen, fünfjährigen Sohn v. Landsberg-Velens zu erfolgen hätte. Schon der Briefwechsel mit dem 327

zum Fürstenberg-Gallitzin-Kreis gehörenden Pädagogen Overberg und der Vertrag Paul Josephs mit dem durch Overberg vermittelten Hofmeister Eueren lassen große Unsicherheit über die wesentlichen Erziehungsziele und eine bisher ungewohnte Bereitschaft des Familienvaters zur Selbstkorrektur in Erziehungssachen erkennen: der Hofmeister wurde verpflichtet, bei eigenen Zweifeln oder bei Zweifeln der Eltern Rat zu suchen, nie mit Eigensinn auf eigener Entscheidung zu bestehen, bei Beratschlagungen über solche Gegenstände seine eigenen Gedanken mit Kälte und gelassener Bescheidenheit vorzutragen, den Vorteil, zu überzeugen oder überzeugt zu werden, gleich hoch zu schätzen, jeden Einwurf mit unbefangenem Wunsche, die Wahrheit zu finden, anzuhören . . .;

der Freiherr versprach seinerseits, in allen Fällen die Meinung und Vorschläge des Herrn Eueren und bei Zweifel über ihre Richtigkeit den Rat vertrauter Männer von Einsicht ruhig und mit jeder Bereitwilligkeit für bessere Überzeugung anzuhören und anzunehmen.^'

Schon ein Jahr spater scheint er diesen ,,Rat vertrauter Männer" dann nötig gehabt zu haben; denn er beauftragte einen französischen, von ihm finanziell unterstützten Emigranten, den Abbé Marie, eine Denkschrift über die grundlegenden Prinzipien der Erziehung seines Sohnes zu verfassen. Diese Denkschrift, die er zur Begutachtung der Fürstin Gallitzin und Overberg, einem Calvinisten, dem Hofrat Engels aus Hamm, aber auch, wie es damals häufig vorkam, einer Anzahl von Standesgenossen zuschickte, provozierte eine umfassende, in Briefen und Denkschriften erhaltene offene Diskussion über Erziehungsfragen, in deren Verlauf von den verschiedenen Teilnehmern erstaunlich weit auseinandergehende Ansichten vertreten wurden.·*^ Über eine Vielzahl solcher Erziehungsgespräche hat sich, in engem Zusammenhang mit der Diskussion politischer Zielvorstellungen, das neue, oben in seinen Grundprinzipien beschriebene Erziehungskonzept des münsterländischen Adels ausgebildet.'*® Dessen Realisierung in der alltäglichen Erziehungspraxis soll in der Folge auf einigen, für die spätere Entwicklung des Adels wichtigen Gebieten näher ausgeführt werden. Die Abtrennung der Kinder von nicht zum Stande gehörigen Erwachsenen, aber auch von Gleichaltrigen, blieb erhalten. Nur die Kinder der eigenen Familien spielten miteinander, in der Regel unter der Aufsicht von Erwachsenen. Das Lernen im Umgang mit Gleichaltrigen aus anderem Milieu wurde damit ausgeschlossen.^' Da die Eltern, vor allem die Mutter, sich stärker um die Erziehung der Kinder kümmerten, rückten diese, und mit ihnen der Hofmeister, in stärkerem Maße als bisher in das Familienleben hinein. Die Mutter übernahm einen großen Teil der Wissenserziehung selbst; zugleich war sie Vermittlungsstelle zwischen dem konkreten Erziehungsgeschehen, das auf der Ebene Hofmeister-Kinder stattfand, und dem die grundlegenden Erziehungsziele definierenden, Lernerfolge kontroüierenden Vater, der sich aus dem konkreten Erziehungsgeschehen heraushielt. Erziehung der Kinder wurde zu einem wesentUchen Element im Selbstbild und Selbstbewußtsein der Frau, die einerseits ihren Stundenanteil an der Wissenserziehung ständig erweiterte, andererseits aber auch einen immer größeren Teil des Tages in gemeinsamer Beschäftigung mit ihren Kin328

dem zubrachte und damit die von ihr ausgehenden Sozialisationswirkungen erheblich •

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ЧП

intensivierte. " Die Forderung Rousseaus nach stärkerer Beteiligung der Mutter an der Erziehung der Kinder war das Element der neuen Erziehung, das im münsterländischen Adel am schnellsten durchgesetzt wurde. Es ist darin ein erstes Indiz zu sehen für den Übergang zum neuen Konzept der Willenserziehung, der notwendig wurde, als die Art und die Zahl der vom Kind in der Zukunft zu bewältigenden Entscheidungssituationen nicht mehr vorausplanbar, in Fällen kategorisierbar, und imitativ nach den Handlungsmustern der Vorbilder, lösbar erschienen. Ein familien- und standesbezogenes Verhalten in zukünftigen Entscheidungssituationen ließ sich nur auf eine nach wenigen grundlegenden Orientierungsregeln aufgebauten inneren Uberzeugung sichern. Es galt, den Zugang zum Innern des Kindes zu finden, die Entwicklung seiner Willensgrundlagen zu kontrollieren, diese Grundlagen selbst zu legen. Uneingeschränktes Vertrauen der Kinder war die Voraussetzung für dieses, nun wesendich schwieriger gewordene Erziehungswerk. Die Liebe zur Mutter sollte den Weg zum Innern des Kindes bahnen und offen halten. Die Gräfin Merveldt bestimmte die neue Erziehungsaufgabe um 1800, als sie an ihren Hofmeister schrieb, es gehe um den „edlen Zweck, Menschen zu bilden; welches wirklich gar nicht anders sein kann, als sich ganz, ohne daß sie es merken, zur Seele des Kindes zu machen, bis richtige Begriffe, reine Religion und gute Gewohnheiten im Betragen sich bei ihnen festgesetzt, und eine zweite, bessere Natur geworden s i n d . " ' ' Die vorherrschende alltägliche Erziehungsaufgabe der Mutter bestand im ständigen ,Kampf um das Vertrauen des Kindes. Da bei den Erwachsenen das Mißtrauen gegenüber den Neigungen des Kindes erhalten blieb, erschien uneingeschränktes, totales Vertrauen des Kindes zur Mutter notwendige Voraussetzung für das Gelingen der neuen Erziehung; kein geheimer persönlichster Bereich durfte ihr verschlossen bleiben; alle inneren Vorgänge sollte das Kind der Mutter entdecken.'^ Aufrichtigkeit, völlige Offenheit, wurde als wertvollste Leistung der Kinder betont und entsprechend honoriert; Lüge, Falschheit und Heuchelei erschienen dagegen gleichsam als Katastrophen; ein nicht entdeckter persönlicher Geheimnisraum konnte nach Meinung der Erwachsenen nur verheimlichte Sünde beherbergen.'^ Der Weg zum Innern des Kindes war aber noch mit anderen Schwierigkeiten verbunden; denn Intensivierung von Liebe und Vertrauen auf der Seite des Kindes forderten auch Offenheit und Vertrauen auf der Seite des Erwachsenen; aber gerade das fehlte. Eine Konsequenz - diesen Weg ging die Fürstin Gallitzin - ging dahin, den Widerspruch aufzulösen. Mißtrauen gegen sich selbst zur Grundlage des Menschenbildes schlechthin, auch des Erwachsenen, zu machen, zur Beichte und Selbstbezichtigung gegenüber den Kindern überzugehen.'^ Auf diese Weise wurde aber die Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern tendenziell aufgehoben, ein Verhalten, das im Bereich religiösen Verhaltens gegenüber den Anforderungen der Religion möglich und - wenn man Geistliche und Heilige erziehen wollte - auch sinnvoll war; eine wirksame Vorbereitung auf die durch gestufte Selbstverzichts- und Leistungsanforderungen bestimmte Realität der Adelsfamilie und des Standes war auf diese Weise jedoch nicht zu erreichen. Eine andere, realistischere Möglichkeit bestand darin, das ei329

gene Mißtrauen besser zu verbergen, um das des Kindes nicht aufkommen zu lassen. Die Konsequenz dieses Weges war, da gleichzeitig die Kinder in der Familie stärker .anwesend' wurden, eine erhöhte Selbstkontrolle der Erwachsenen und eine flexiblere Form des Umgangs mit den Kindern. Zwischen Freiheit und Gebundenheit der Kinder war in der Erziehung der richtige Mittelweg zu finden, deshalb schrieb die Gräfin Merveldt an ihren Hofmeister: Was sie [die Erziehung, H. R.] Ihnen natürlich etwas schwer machen kann, ist der scheinbar langsame Gang, das wenige Nachfragen, die Unbesorgtheit, und doch nicht immer gänzliche Zufriedenheit unsererseits, sowie die Art Freiheit und doch Gebundenheit, in der Sie in Ihrem Verhältnisse mit den Kindern leben, - mit einem W o n , diese kleinen und anscheinenden Widersprüche, das wenige Äußere, was zwischen ihnen und uns vorfällt, welches sie über eine Menge Kleinigkeiten in Ungewißheit hält, die ihnen vielleicht unangenehm sein kann, ihren guten Grund aber hat, und gewiß im Ganzen etwas viel Dauerhafteres hervorbringen muß, als ein beständig detailiertes Sprechen . . . [Der Vater äußere seltener seine Meinung], weil er das Ganze leiten muß und weiß, wieviel . . . das zu schaφ Sehen und Bemerken der Details dem Ganzen schadet. - E r läßt also erst eine Weile ungestört handeln, und urteilt dann und hat richtig geprüft, und sieht, wo der Fehler steckt, und wartet aber oft lange noch mit dem Sagen, weil jemehr ohne Sprechen eingesehen wird, je wahrhafter und reiner das Nähern und Verstehen ist.''

Hier wird deutlich, wie die Lenkungsintentionen sich auf eine abstraktere Ebene zurückziehen, sich gleichsam unsichtbar machen. Auf der Ebene konkreten alltäglichen Handelns wurden abweichende Verhaltensweisen in bestimmten Grenzen zugelassen bzw. schonend behandelt. Nicht die unmittelbare Bestrafung, sondern eine langfristige, möglichst unvermerkt stattfindende Einwirkung sollte Fehlverhalten ausmerzen, und zwar durch eine vom Willen des Kindes ausgehende Bewegung.^^ Die Wertevermittlung konnte, langfristig konzipiert, flexibler als bisher verlaufen. Konsequenz in Argumentation und Verhalten wurde zum wichtigsten Gebot für die Erzieher. Korrekturen am Verhalten des Kindes mußten von der ,,Quelle des Übels", d.h. von den Motiven des Kindes und nicht von den äußeren Ergebnissen seines Handelns ausgehen, damit nicht mit dem Falschen auch das Wahre verworfen wurde. Denn das Mißtrauen des Kindes war um jeden Preis zu vermeiden, weil das grundlegende Ziel der Erziehung, die Vereinigung seines Willens auf ,,einen Punkt", die Bedürfnisse von Familie und Stand, leicht gefährdet werden konnte, und zwar durch die weiterhin ausschließlich negativ bewertete Neigung des Kindes zu Ich-bezogenem Handeln, die nun - in Übernahme eines Begriffs Rousseaus - ,Eigenliebe' genannt wurde.''' Der Widerspruch, den die Erziehenden aufzulösen hatten, bestand darin, daß die Willenserziehung eine Beschäftigung mit dem Innern des Kindes erforderlich machte, andererseits aber, nach ihrer weiterhin von Mißtrauen gegenüber den eigenen, ,natürlichen' Anlagen des Kindes bestimmten Auffassung, gerade diese Beschäftigung den Ausgangspunkt für Entwicklung der ,Eigenliebe' darstellen mußte. Dabei wurden negative Eigenschaften wie Weichlichkeit, Stolz und Eigenwilligkeit genannt, doch stand die Angst vor einem an familien- und standesunabhängigen Bedürfnissen orientierten individuell selbstbestimmten Handeln als Grundmotiv im Hintergrund.'® Rousseau, der an der späteren Autonomie des Zöglings interessiert war, hatte innerhalb des kindlichen Willens, um einen Mittelweg zwischen ,,Autorität und 330

Schlendrian" zu finden, zwei Vermögen unterschieden: die von ihm negativ bewertete ,Eigenliebe' und die wertvolle .Selbstliebe'." Er sah also in einem Teil der vom münsterländischen Adel insgesamt verurteilten „Leidenschaften" und Triebe des Kindes nützliche Voraussetzungen für dessen späteres soziales Verhalten. Bestimmte .natürliche' Bedürfnisse und Wünsche des Kindes waren nach Rousseau notwendig, weil sie dazu beitrugen, das Kind zu einem nützlichen Mitglied der zukünftigen, neuen, von Individuen bestimmten Gesellschaft zu machen. Auch die Mehrzahl der aufgeldärten, staatsbezogenen deutschen Pädagogen am Ende des 18. Jahrhunderts haben auf diesen ,nützlichen' Teil der menschlichen Sinnlichkeit großen Wert gelegt. Vom münsterländischen Adel wurde diese Auffassung nicht rezipiert; das wird daran erkennbar, daß der Rousseausche Begriff der ,,Selbstliebe" nicht aufgenommen bzw. durch Uminterpretation aufgelöst wurde.®" Da man weiterhin darauf bestand, daß das,,natürliche" Kind ,,heraus außer sich" mußte, weil seine urpsrünglichen Leidenschaften und Neigungen für die Eltern insgesamt keinen Wert besaßen, mußte das Innere des Kindes - um die Möglichkeit einer weltlich orientierten Selbstbestimmung zu verhindern und dessen weitere Bereitschaft zur Unterwerfung unter außengesetzte Regeln zu sichern - zunächst durch unverdächtige, Mißtrauen ausschließende Inhalte aufgeschlossen und aufgefüllt werden; diese Inhalte lieferte die katholische Religion. Über die Interpretation religiöser Inhalte als dem ,einzigen Gesichtspunkt' konnten dann ,,unvermerkt" die deduktiv abgeleiteten ,,Pflichten" und ,,richtigen moralischen Begriffe" im Interesse von Familie und Stand vermittelt werden.®' Solche moralischen Gesetze begannen in der Regel bei Gott und endeten wieder bei ihm, wie z.B. 1802/03 in einer Erziehungsanleitung des Grafen Merveldt an seine Söhne, in der er ihnen am Gegensatz von ,,recht tun" und ,,wohl tun" erklärte, daß die Ansprüche der Standes- und Familienordnung immer vor den an individuellen Bindungen orientierten Ich-Du-Beziehungen zu stehen hätten: Zuerst soll man jemandem Recht tun, das geht noch vor W o h l tun. W o h l tun ist leichter als Recht tun. - W o h l tun trifft einzelne. Recht tun trifft alle. Erst Recht tun, dann W o h l tun. Letzteres ist angenehmer; dabei ist mehr Anrede f ü r Eigenliebe; es geht geschwinder und man genießet früher und leichter das Wohlgefallen an sich selbst. Drum glaube man nicht, daß mit W o h l tuen alles gut gemacht sei. Erst allem und jedem sein Recht gegeben, und dann mehr, wenn man kann. Aber Gott gibt meistens alles zehn- und hundertfach z u r ü c k . "

Sozialisation von Religionsorientierung und permanente Einübung von religiösem Verhalten in alltäglichen Situationen erschien den Eltern und Verwandten als wichtigste Aufgabe. Sie war auch gut realisierbar, weil auf dem Gebiet der Religion Vorbilderziehung auch nach 1815 ungebrochen möglich war; denn es gab noch eine beachtliche Zahl von adligen Domherrn und vor allem mehrere adlige Bischöfe. Durch Gewöhnung an regelmäßige religiöse Selbsterforschung, zumeist in Gesprächen mit der geliebten Mutter als vertrauter Ratgeberin, bildete und festigte sich im Kinde ein religiös bestimmter, sensibilisierter, inhaltlich mit den grundlegenden Forderungen von Familienordnung und Stand harmonisierter I n n e n r a u m . I n langen Gesprächen über religiös gedeutete Fälle von Fehlverhalten, aber auch durch vielfältige andere Formen der Einwirkung wurde den Kindern die Anfälligkeit der eigenen 331

Seele, die Verführangsmacht der Umwelt und die Notwendigkeit der ständigen Ausrichtung auf Gott ins Bewußtsein gerufen; sie wurden aufgefordert, die Verführungsangebote der Außenwelt als Übungsmöglichkeit für den ,,Selbstkampf" gegen Eigenliebe und daraus entstehende ,,Leidenschaften" zu nutzen." Mit der Zeit verlagerte sich die Gesprächssituation Mutter-Kind ins Innere des Kindes und wirkte dort als Kontrollinstanz. Die Selbstrechtfertigung gegenüber dem nun weniger durch seine Strafgewalt als durch seine Güte allmächtigen Gott wurde zugleich zur Selbstrechtfertigung gegenüber der imaginativ präsenten, geliebten Mutter, weniger des Vaters, der zwar auch als Stellvertreter Gottes galt, aber als Träger des Realitätsprinzips doch in der Regel eine schwächere Vertrauens- und Liebesbindung zum Kind besaß. Das frühere Verfahren der religiösen Selbstrechtfertigung - die Endastung von sündhaften Handlungen durch gute Taten und von Vertretern der Institution Kirche verordnete Bußen - reichte nicht mehr aus, um die Beleidigung der Mutter und Gottes vergessen zu machen, sich ihrer Liebe wieder sicher fühlen zu können. Durch Verinnerlichung der neuen Kontroll- und Sanktionsinstanzen, der Erwartungen einer liebenden Mutter und des gütigen Gottes, wurde der Prozeß der Gewissensentlastung - wie das Beispiel Ferdinands v. Galen gezeigt hat - wesendich schwieriger und langwieriger.®' Die katholische Religion lieferte so den Rahmen und die entscheidende Grundvorstellung - der unendlich mächtige und gütige Gott, vor dem der schwache einzelne nichts ist - mit denen auch die neue, an der Kontinuität der grundlegenden Familienund Standesnormen ausgerichtete Erziehung sinnvoll begründet werden konnte. Die vom Staat ausgehenden, an der Bildung des Staatsbürgers orientierten Erziehungsmaximen konnten dieses nicht leisten. Das Interesse an der Kontinuität der hergebrachten Familien- und Standesordnung bewirkte, daß die Erziehung zum katholischen Christen im münsterländischen Adel vorrangig blieb gegenüber der Erziehung zum Staatsbürger mit nützlichen Kenntnissen.*® Die „ewige Glückseligkeit" wurde weit höher eingeschätzt als die vom Staat betonte zeitliche Glückseligkeit der Allgemeinheit und des Individuums. Die konkreten Vorteile der Erziehung zur Religiosität waren für die Familienväter unübersehbar. Sie perpetuierte die Bereitschaft der Kinder zum Selbstverzicht, indem sie weiterhin Demut statt Selbstvertrauen forderte; sie immunisierte gegen die Argumente der neuen, vom Bürgertum getragenen Wahrheitsinstanz, der Wissenschaft, indem sie das Selbstdenken als ,,Vernunftsstolz" abqualifizierte; sie lieferte Entlastungskonstruktionen und Immunisierungsstrategien gegen die Kritik Andersdenkender und damit die dringend notwendige Verhaltenssicherheit auf der Grundlage von Familien- und Standesnormen.®'' Je stärker die Familienordnung des Adels von äußeren Entwicklungen, vor allem von staatlichen Maßnahmen und von der Kritik des Bürgertums, in Frage gestellt wurde, je mehr man seit Beginn der Reaktionszeit die verlorengegangene Vorrangstellung, trotz starken Widerstands von bürgerlicher Seite, zurückzugewinnen suchte, desto wichtiger wurde die Erziehung der Kinder zur Religion. Die Forderung nach Relativierung der Religion in den Unterrichtsplänen konnte im münsterländischen Adel nur auf Unverständnis stoßen und einer Neuinterpretation der kirchlichen Lehre nach konkurrierenden, z. B. tendenziell demokratischen Gesichtspunkten mußte entschiedener Widerstand entgegengesetzt werden; 332

denn diese hätte den „einen festen Punkt" aufgelöst, nachdem alles Wissen und Verhalten in Harmonie mit den grundlegenden Bedürfnissen der Familienordnung und des Standes bestimmt war.'® Zwei Determinanten des hergebrachten Erziehungsverhaltens haben sich durch den Übergang zur Willenserziehung in besonders starkem Maße gewandelt: die Strafen und die Lernbelastung. Die Notwendigkeit, das Vertrauen des Kindes zu gewinnen, das Bemühen - wegen der aggressiven und mit Verführungsangeboten aufwartenden Außenwelt - Spannungen zwischen den Familienmitgliedern möglichst zu vermeiden, und schließlich auch das neue von Reformpädagogen übernommene Wissen von einer komplizierten und langsamen Entwicklung der kindlichen Psyche führten dazu, daß die Abkehr von herkömmlichen Erziehungsprinzipien in einem Ausmaß stattfand, welches über das, an den eigenen Grundintentionen gemessen, notwendige Maß zum Teil weit hinausging. Die hergebrachten harten körperlichen Strafen, die einst, zumal in jungen Jahren, eines der wichtigsten Erziehungsmittel waren, traten nun stark in den Hintergrund. Die alte über harte Strafen und Furcht des Kindes betriebene Gehorsamserziehung hatte den Willen des Kindes extrem geschwächt; unter den neuen Bedingungen mußten aber Gehorsamsbereitschaft und ein über die neue Erziehung an Familienordnung und Stand gebundener, starker Wille harmonisiert werden. Die Furcht vor кофегИсЬеп Strafen als Lenkungsmittel wurde zum großen Teil durch Liebesentzug und ,moralische', den Ehrgeiz anspornende ,,Kränkungen" ersetzt. Das Prinzip der neuen, auf Autorität und Liebe gegründeten Strenge hieß: ,,schonend für ihre Schwächen, aber nie a b h ä n g e n d . D i e darin angelegte mögliche Fehlentwicklung war eine zu weiche Erziehung durch die Mutter, der das Strafen, wegen der nun außerordentlich engen emotionalen Bindung an die Kinder, häufig zu schwer fiel, und in deren Folge eine auch im Erwachsenenalter bleibende außerordentlich enge Familien- und Heimatbindung. Denn das Elternhaus vermittelte bisweilen nicht einmal das Minimum an progressiv zu steigernden Frustrationen, das nötig war, um das Kind zu einem späteren Leben außerhalb der Familie, in einer konfliktreichen Umwelt, zu befähigen.^" Das Bemühen um eine dem vermuteten intellektuellen Entwicklungsstand des Kindes gemäße Dosierung der Lernbelastung führte zunächst zum Abbau der bisher üblichen hohen Zahl täglicher Lernstunden und damit des täglich vermittelten Stoffes. Der Anteil der Erholungs- und Spielstunden wurde innerhalb des Tagesplans der Kinder stark ausgeweitet. Man suchte sorgfältig Jede Überanstrengung zu vermeid e n . V o m Lehrenden wurde vor allem Geduld gefordert; nichts sollte mit Gewalt beigebracht werden. Die ,,Freude am Lernen" mußte geweckt und erhalten werden.^^ Die neue Methoden der bürgerlichen Erziehung ,,vom Kinde aus" sind, den eigenen Bedürfnissen entsprechend umgeformt, voll rezipiert worden. Um eine innerlich fundierte Lernmotivation zu erzeugen, bemühte man sich, die Lernvorgänge an sinnliche Anschauung und die - von den Erziehenden durch Abschließung von unerwünschten Imitations- und Identifikationsmöglichkeiten gelenkte - eigene Erfahrung des Kindes und dessen ebenfalls kontrollierte und gelenkte,Selbsttätigkeit' zu binden. Der bisherige, rigide reglementierte Lernvorgang, Vortrag - Auswendiglernen — Ab333

fragen - Wiederholung, fiel ebenso fort, wie der mit Lernstunden überlastete Tagesplan. Der Sprachunterricht, vor allem im Lateinischen, begann zwar weiterhin mit der Grammatik; doch suchte man das Lernen der Grammatik so früh wie möglich über Konversations- und Ubungssmnden an Inhalte aus dem Erfahrungsbereich des Kindes zu b i n d e n / ' Die Lerninhalte, z.B. die Lektürestoffe, wurden nun nach dem vermuteten intellektuellen Entwicklungsstand und der individuellen Auffassungskraft des Kindes ausgewählt. Dieses Prinzip war schon in der Diskussion des GallitzinKreises mit dem Abbé Marie deutlich vertreten worden. Gemäß der Ansicht Montaignes hatte Marie vorgeschlagen, dem siebenjährigen Johann Ignaz v. LandsbergVelen die Klassiker der Philosophie, aber auch Horaz, Vergil und Tacitus zu lesen zu geben. Die Antwort des Kreises lautete: Seite 37 wird angeraten, die Kinder gleich v o m Anfange die besten Autoren lesen zu lassen. Hier scheint es nötig, angemerkt zu werden, daß die Autoren, welche an sich die Vortrefflichsten sind, nicht darum gleich als die besten für die Kinder müßten angesehen werden. Was für die Kinder sein soll, muß ihrer Fassungskraft und auch ihrem Geschmacke angemessen sein. Dies ist aber nicht immer der Fall bei den Autoren, die an sich die vortrefflichsten sind.'·*

Und die Orientierung am neuen Konzept der Willenserziehung, die Abkehr vom einstigen Imitationsprinzip, wird deutlich, wenn sie als den besonderen Nachteil der zu frühen Lektüre von Klassikern behaupten, „daß die Kinder sich gewöhnen, etwas als schön zu bewundern, nicht, weil sie es selbst so finden, sondern weil es von anderen bewundert wird". In der Beurteilung der jeweiligen, dem Alter des Kindes entsprechenden Auffassungskraft war man dabei sehr vorsichtig. So wie die Kindheitsphase ausgedehnt wurde, so wurde damals auch das Kind in einem selbst über heutige Vorstellungen hinausgehenden Maße ,,verkindlicht".''® Die primäre Ausrichtung am Vertrauen und am Willen des Kindes, die beide für die Familie gesichert werden mußten, ließ die gezielte Vermittlung von Sachwissen in den Hintergrund treten; die in der Hauserziehung des münsterländischen Adels vermittelte Wissenausbildung war deshalb von recht geringer Qualität. Der durch diese neue Erziehung konstituierte Erscheinungstyp war das weitgehend von Nicht-Standesgenossen isolierte, psychisch komplizierte, umsorgte und von den erwachsenen Erziehern, wenn auch unmerklich, in starkem M a ß e - v o r allem in seiner inneren Entwicklung - kontrollierte und gelenkte Kind. Der dieser Erziehung enisçrtàitnà&PersônlichkeitstypHS war bestimmt von einem durch den unmerklichen Einfluß der Mutter in einem langen, ungestörten Einwirkungsprozeß geprägten Willenskern, der über religiöse Innerlichkeit und intensive emotionale Mutterbindung fest an die Normen von Familie und Stand gebunden und auf den Selbstkampf gegen die immer wiederkehrenden Ich-bezogenen, als sündhaft erkannten individuellen Neigungen gut vorbereitet war.'® Dieser emotional-religiös stabilisierte Verhaltenskern garantierte eine relativ große, auf Immunisierung beruhende Verhaltenssicherheit, die allerdings in starkem Maße der Bestätigung durch Gleichdenkende bedurfte, insbesondere der Bestätigung durch Familien- und Religionsangehörige.Rein äußerlich wurde sogar das bürgerliche Postulat der offenen Weiterentwicklung des Erwachsenen in fortwährender ,Selbsterziehung' akzeptiert. Während aber bei den bürgerlichen Pädagogen damit der Gedanke einer in Konnex 334

mit nie aufhörender, praxisbezogener Erfahrungserweiterung stehenden flexiblen, sich fortwährend modifizierenden Identität festgehalten war, wurde im münsterländischen Adel mit,Selbsterziehung' - unter Voraussetzung einer mit Abschluß der Erziehungsphase stabilen Identität - die nie abschließbare religiöse Vervollkommnung, der fortwährende Kampf gegen die eignen natürlichen, sündhaften Neigungen gekennzeichnet/® Jenseits eines stabilen Willenskerns und eines bestimmten Allgemeinwissens suchte die Erziehung noch weitere, für ein Bestehen unter den neuen Bedingungen für nötig erachtete psychische Grunddispositionen und soziale Techniken zu vermitteln.^' Drei dieser Grundhaltungen sind hier für die späteren Erfahrungen des ehemaligen Standes im preußischen Staat von Wichtigkeit gewesen: die Leistungsmotivation, die Berufsorientierung und die Neigung zur religiös begründeten Caritas. Die Kinder sollten den Wunsch der Eltern nach Statussicherung unter den neuen Bedingungen einlösen. In drei Richtungen erwartete man von ihnen eine besondere standesspezifische Leistung. Zum einen sollten sie durch religöses Bekennertum der Gefährdung von katholischer Kirche und Religion durch den protestantischen Staat und areligiöse, z . B . wissenschaftliche und politische Bewegungen entgegenwirken, auf diese Weise die Position des Adels in der Kirche erhalten und als Vorbild des „Haufens" dazu beitragen, daß der alte Stand wieder als Ordnung sichernde und Orientierung vermittelnde Führungsschicht von Kirche und Staat anerkannt würde.®® Zweitens hat man von ihnen, in Entsprechung zu den Fachleistungsforderungen, die der preußische Staat durch den Aufbau des ,Berechtigungswesens' an die Vergabe leitender Beamtenpositionen knüpfte, gesteigerte und kontinuierUche Bereitschaft zum Lernen und disziplinierten Arbeiten erwartet und jede Neigung dazu belohnt.®^ Überhaupt wurde jetzt sehr stark auf bestimmte positive „Neigungen" als Indizien für die Fähigkeit zur besonderen Leistung in einer der vom preußischen Staat angebotenen höheren Berufslaufbahnen geachtet, besonders auf Indizien für außerordentliche Intelligenz des Kindes.®^ Die höhere Beamtenlaufbahn im preußischen Staat hatte, insbesondere um 1803/15, für die Eltern eine große Attraktion. Daneben, und erfolgreicher wurden die Kinder vor allem auf zwei Berufe hin sozialisiert: den Beruf des Geistlichen und des Offiziers. Diese zukünftigen Berufe waren, wenn auch weitgehend ,unmerklich' für die Kinder, schon vorbestimmt; das wird deutlich, wenn die Gräfin Merveldt um 1800 einerseits die Notwendigkeit praxisbezogenen Wissens betont, andererseits aber den Hofmeister dazu auffordert, die Fiktion einer möglichen freien Berufswahl gegenüber den Kindern aufrechtzuerhalten, und zwar, um deren Mißtrauen und möglichen Widerstand zu verhindern: Bei der Erlernung jeder nützlichen Wissenschaft, die der Graf als Vater bestimmt, müssen die Kinder wissen, und es muß ihnen immer vor Augen gehalten werden, es sei zum Anwenden, zumNützlichsein bestimmt. - Geburt und Umstände machen es ihnen zur Pflicht, einst mehr zu leisten, als viele andere, . . . Es versteht sich aber, daß man sich damit im allgemeinen halten müsse. - Kinder sind geneigt, sich diesen oder jenen Stand als ihren künftigen vorzustellen, und man braucht es auch wohl als Hilfsmittel, aber dieses Mittel ist (besonders in jetzigen Zeiten) nicht passend - ohne irgendeinen Stand zu erwarten, ohne auf irgendeinen zum voraus Gewicht zu legen, gehört zu allen Ständen, die sie in ihren Verstandesjahren ergreifen, Erwerbung nützlicher Kenntnisse, und Entwicklung ihrer Geistes- und Herzenskräfte . . . Aber auch wie schon

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gesagt, keinen Stand verwerfen. - Kinder sind eigensinnig, hängen sich oft gerade deswegen an eine Idee, und solche Eindrücke bleiben länger, als man glaubt. Wer nützliche Kenntnisse und Gewohnheit eines tugendhaften Betragens hat, kann m jedem Stande seinem Nebenmenschen dienen. - Dies ist die beste A n t w o n f ü r K i n d e r . "

Für den Beruf des Geistlichen gab es auch nach 1815 noch lebende,,erfolgreiche Vorbilder" in den adligen Domherren und den Bischöfen als Identifikations- und Imitationsangebot; die stark religiös orientierte Erziehung und die Erwartungen der Verwandten wirkten in dieselbe Richtung. Die Ausrichtung schon des Kindes auf den Militärberuf ist - besonders nach 1820/30 - in vielfältigen Formen greifbar, z. B. in den Spielen der Kinder, ihren Weihnachtswünschen und Geschenken, ihrer Lektüre und ihren Aufsätzen.*^ Schon in der alten Erziehung war die Bereitschaft zu christlicher Caritas vom Kind einzuüben; doch legten die Eltern nach 1815 in verstärktem Maße Wert darauf, die Mitleidsfähigkeit der Kinder zu entwickeln.®® Die Verstärkung karitativer Aktivitäten gehörte nach 1850 zu einem Konzept des Adels, das auf Wiedererlangung der ursprünglichen regionalen Führungsposition durch Religion, Kirche und Caritas ausgerichtet war.®®

2.4 Hauserziehung

durch Privatlehrer

und reformiertes

Curriculum

Das neue Erziehungskonzept forderte, daß die Hauserziehung der Kinder zumindest bis zum 12. bis 14. Lebensjahr beibehalten wurde; denn eine wichtige Grundlage der neuen Erziehung, das enge Vertrauensverhältnis zwischen Eltern, Gouvernante bzw. Hofmeister als Lehrern und dem Kind, war in der Schule nicht herzustellen. Zudem war dort auch der nun in verstärkten Maße negativ bewertete Einfluß der Schulkinder aus bürgerlichen Familien auf die eigenen Kinder nicht zu kontrollieren. Deshalb lehnte der Fürstenberg-Gallitzin-Kreis in seiner Antwort auf die Denkschrift des Abbé Marie eine Schulerziehung für die Kinder des Paul Joseph v. Landsberg-Velen entschieden ab, forderte gleichzeitig aber eine noch genauere Abtrennung der lernenden Kinder vom Hausgeschehen.®' Bis in die Zeit der französischen Herrschaft blieb bei den Adelssöhnen Hauserziehung die Norm. Mit dem zweiten Übergang an Preußen 1814/15, als die zukünftigen Berufskarrieren der nachgeborenen Söhne ohne Berücksichtigung des Berechtigungswesens immer schwerer planbar wurden, löste sich diese Einheitlichkeit auf. Doch blieb auch jetzt noch lange Zeit die Hauserziehung, zum Teil bis zum Übergang an die Universität, zum Teil bis zum Eintritt in die letzten drei Klassen des Preußischen Gymnasiums, vorherrschende Erziehungsform.®® Nach 1770 und verstärkt nach 1789 stellten sich aber zunehmend Probleme hinsichtlich des Hofmeisters ein. Aus der gesteigerten Bedeutung der richtigen Kindererziehung ergab sich als erstes die Schwierigkeit, den richtigen Hofmeister auszuwählen. Als grundlegende Voraussetzung für diese Stellung galt wohl unumstritten das katholische Bekenntnis und eine im Innern fest verankerte Religiosität.®' Da sich aber schon bald die bisher einheitlichen Vorstellungen von katholischer Religiosität infolge aufklärerischer Strömungen innerhalb des Katholizismus aufzulösen begannen, be336

stand eine Hauptaufgabe der Hofmeisterwahl darin, die „echt" Religiösen zu finden. Am 1. 2. 1838 schrieb Clemens August v. Korff an seine Schwägerin: Die Frau v. Nagel-Ittlingen hatte die Gnade, mir zu schreiben; . . . wenn Sie die Güte haben wollten, ihr baldmöglichst zu sagen: der Herr Bock sei wahrscheinlich Hermesianer und der Erbdroste müsse eine Liste von tauglichen Hofmeistersubjekten h a b e n . "

Umfassende Briefwechsel mit Standesgenossen sowie Geistlichen und Pädagogen in ganz Deutschland zeigen an, in welch außerordentlichem Umfang ein Interesse der Eltern an der sorgfältigen Wahl eines Hofmeisters bestand. Negativ läßt sich dieses Interesse auch daran ablesen, daß viele der so ausgewählten Hofmeister wegen fehlender Harmonie mit den Eltern schon bald nach der Einstellung wieder entlassen wurden. Die Schwierigkeit, einen der wenigen,echten' Hofmeister zu finden und zu verpflichten, spricht deutlich aus dem Brief der Dinette ν. Plettenberg-Lenhausen an ihren Bruder Franz vom 25. 3. 1811: Aber jetzt! wo ist ein ordentlicher Mann zu finden; die Kranen, die Ascheberger, auch glaube ich, die Ledeburs - da Herr Rausch im Herbst schon wieder abgeht - suchen alle ohne zu finden ; für Herr Brockmann, Herr Overberg Ihre Empfehlungen habe ich alle Achtung, aber weiß auch, daß sie sich sehr oft irren. Sie kennen die Leute nicht in ihrem gewöhnlichen Verhältnisse, sondern nur bloß durch die wenigen Stunden, die sie bei ihnen zubringen, und während dieser Zeit sind die Leute wie sie sein sollten.'^

Die begehrtesten Hofmeister waren solche, die sich in befreundeten Familien schon über lange Jahre bewährt hatten. Das Mißtrauen der Eltern gegenüber den Erziehungsabsichten der Hofmeister war groß und führte zu manchem Mißverständnis, zumal die Eltern zwar unbemerkt, aber durchaus aufmerksam die Arbeit des Hofmeisters und auch der Fachlehrer kontrollierten.'^ An zweiter Stelle im Kriterienkatalog für die Hofmeisterwahl standen pädagogische Fähigkeiten und die Bereitschaft, sich voll und ganz dem Leben mit den Kindern und ihrer Erziehungsaufgabe zu widmen; denn der Hofmeister sollte die Erziehungsarbeit der Mutter unterstützen. Er mußte dazu wie diese das Vertrauen der Kinder gewinnen; dies gelang ihm jedoch nur, wenn er sein Leben ohne Einschränkung auf das der Kinder bezog. Der Hofmeisterberuf konnte deshalb nicht mehr als mehr oder weniger einträgliche Nebenbeschäftigung betrieben werden, Studium oder Vorbereitung auf einen Beruf ließen sich nun nicht mehr wie früher mit dieser Aufgabe vereinbaren. Nicht die Unterrichtsstunden der Kinder, sondern das Leben für sie und mit ihnen war zur wichtigsten und schwierigsten Aufgabe des Hofmeisters geworden.'^ Erst in dritter Linie interessierten Ausbildung und Kenntnisse des Hofmeisters. Hier gab man sich, vorausgesetzt die beiden erstgenannten Anforderungen schienen voll erfüllt, gern mit mittelmäßigen Leistungen zufrieden. Im 18. Jahrhundert hatte es sich, infolge der spezifischen Patronagemöglichkeiten des münsterländischen Adels und wegen eines vorherrschenden Uberangebotes an Geistlichen gleichsam naturwüchsig ergeben, daß die Hofmeister des Adels zum größten Teil Geistliche aus bürgerlichen oder bäuerlichen Familien der Region waren, die sich nach erfolgreicher Hofmeistertätigkeit mit einer vom adligen Grundherrn zu besetzenden Vikarie oder Pfarre zufrieden gaben. Nun hieß es aber explizit, der neue 337 22

Reif, Adel

Hofmeister müsse Geistlicher sein, und zwar zumindest in mittleren, reiferen Jahren, um die Veränderangsmöglichkeiten auszuschließen, die in der Freundschaft zwischen einem jungen Adligen und einem Gleichaltrigen aus bürgerlichem Stande angelegt waren.'^ Einerseits ergaben sich daraus Vorteile; denn die Geistlichen, die nach 1800 diesen Beruf ergriffen, wählten ihn im Gegensatz zu früher - da nun alternative Berufslaufbahnen gegeben waren, z.B. der Beruf des Lehrers - mehr aus innerer Uberzeugung und weniger aus Versorgungsüberlegungen heraus; eine Tendenz, die den Wünschen der Eltern nach intensiver religiöser Beeinflussung entgegen kam.'® Andererseits ergaben sich aber zunehmend Rekrutierungsprobleme; denn auch in der kirchlichen Sphäre hatten sich die Patronagemöglichkeiten des Adels verringert und dem fähigen Geistlichen standen in starkem Maße kirchliche Positionen auch jenseits des Umwegs über Hofmeisterposten und adlige Patronage offen. Die Folge war, daß fähige geistliche Hofmeister, zumal solche im mittleren Alter, immer knapper wurden.'^ Nach dem Ubergang an Preußen wurde Hauserziehung durch Geistliche noch auf einer weiteren Ebene problematisch: sie bewahrte zwar die Kinder vor dem Einfluß konkurrierender, von den Adelsnormen abweichender Verhaltensweisen der bürgerlichen Schüler und Lehrer an preußischen Gymnasien, aber sie war der Gymnasialbildung durch weldiche Fachlehrer weit unterlegen, so daß mit zunehmendem Ausbau des Berechtigungswesens die Aussichten der Söhne auf eine Karriere in den Spitzenpositionen des preußischen Staatsdienstes immer ungünstiger wurden. Einzelne Familien, die angesichts dieser kritischen Entwicklung versuchten, philologisch ausgebildete weltliche Lehrer zu gewinnen, mußten feststellen, daß die Fähigen sich auf die durch individuelle fachliche Leistungen erreichbaren staatlichen und kirchlichen Lehrerstellen konzentrierten, die neben größerer Selbständigkeit in der Unterrichtsgestaltung auch langfristigere Versorgungsmöglichkeiten boten.'® Durch Rückgriff auf Schulamtspräparanden ließ sich das Problem auch nicht lösen, weil diese auf ihr Studium und staatliche Berufslaufbahnen eng fixiert blieben, deshalb den Unterricht der Zöglinge als Nebenbeschäftigung betrachteten und, sobald es irgend möglich war, in den Schuldienst überwechselten. Angesichts der günstigen vom Staat gebotenen alternativen Berufsmöglichkeiten traten solche Lehrer ihren adligen Auftraggebern gegenüber vielfach sehr selbstbewußt auf, so daß es zu Konflikten und vorzeitiger Lösung des Vertrags kam. Stundenweiser Privatunterricht durch Gymnasiallehrer bot sich als weiterer Ausweg an; doch erforderte dieses Prinzip, sollte es einigermaßen erfolgreich die Ausbildung im Gymnasium ersetzen, eine dauernde Anwesentheit des Zöglings und seiner Familie in der Stadt Münster und damit eine einschneidende Veränderung des hergebrachten adligen Lebensstils.'' Angesichts der Schwierigkeiten, die solche alternativen Modelle der Hauserziehung mit sich brachten, hielt der größte Teil der Familien weiterhin den herkömmlichen Hausunterricht durch geistliche Hofmeister für die relativ beste Lösung des Ausbildungsproblems und nahm den Verlust an Ausbildungsqualität in Kauf. Aus den Kriterien für die Auswahl der Hofmeister wie auch aus den Anweisungen der Eltern wird erkennbar, daß der Hausunterricht weiterhin primär auf,kultivierte' Erziehung, auf Bildung der adligen Standesperson, nicht auf die möglichst effektive 338

Vermittlung von personenunabhängigem Fachwissen ausgerichtet blieb. Doch hatte sich das Persönlichkeitsideal verändert, von dem her das Wissen seine Relevanz erhielt. Nicht mehr der im Umgang mit Menschen verschiedener Stände gewandte, geschmeidige Kavalier war das Ziel, sondern der von den festen Grundsätzen echter und wahrer katholischer Religiosität durchdrungene, in der Lebensführung den Werten von Familie und Stand eng verbundene junge Adelssohn, der, soweit es sich mit diesen Grundprinzipien vereinbaren ließ, auch bereit war, sich durch fachliche Leistung in den preußischen Beamten- und Offizierslaufbahnen auszuzeichnen. " " Einübung äußerer Verhaltensformen und höfische Exerzitien, einst so stark gewichtet, waren demzufolge im Ausbildungskanon nur noch mit einem geringen Stundenanteil vertreten. Die äußeren Erscheinungsformen hatten bei den bürgerlichen und bäuerlichen Schichten der Region, aber auch im Adel selbst, ihren eindeutigen Sinn verloren. ,Kultivation· der adligen Person betraf nun in starkem Maß auch das Innere; doch war das neue adlige Bildungsideal vom bürgerlichen Konzept des , Adels der Seele' weit entfernt, da die ,Seele' des Adligen nicht von bürgerlicher, sozial engagierter ,Tugend' und individueller Bildung, sondern, über Religion und Emotion vermittelt, von traditionalen Familien- und Standesauffassungen erfüllt blieb. Auch erhielt sich in diesem Bildungsideal eine Spannung zwischen kollektiver Bindung und individueller Leistung. Es war für Familie und Stand äußerst schwer, die Leistung, durch welche ein Adelssohn in Zukunft über eine Vielzahl von Prüfungen und Examina eine hohe Beamten- oder Offiziersposition erwarb, wie früher, als adlige Ämter noch an Familie und Stand gebunden waren, auf familien- und standesspezifische Qualitäten zurückzuführen und zu verhindern, daß dieser ein starkes individuelles Selbstbewußtsein und ein von individuellen Bedürfnissen geleitetes Verhalten entwickelte. Man suchte deshalb, den Wissensanteil im Ausbildungskanon von der Seite der Religion und vom adligen Ideal der Selbständigkeit her stark zu relativieren. Von diesen grundlegenden Werten wurde die Auswahl aus den Curricula der reformierten staatlichen Lehranstalten geleitet; nur so weit sich das dort vermittelte Wissen dieser Wertstruktur einfügte, so weit es unmittelbar adelsgemäßes Verhalten stützen konnte, wurde es als brauchbar rezipiert. Bemühungen, die Qualität des zu erwerbenden Wissens genau zu bestimmen, häufen sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in auffälliger Weise. Es sollte auf „den einen Punkt", die Religion, bezogen und praktisch orientiert sein, zum entschiedenen Handeln befähigen. Jede Art von weltlichem Problemwissen galt als unnütz, da es über das Fehlverhalten des Grübelns zu Ich-Betonung, Unentschlossenheit und Handlungsunfähigkeit führte. Fachwissen und analytische Denkformen wurden mehr oder weniger abgelehnt, da sie zu mechanischem Denken und Handeln verleiteten und den .gesunden' Menschenverstand negierten. Auch das Vielwissen, früher weitgehend positiv bewertet, erschien nun als schädHch, da es von Eltern nur noch schwer zu kontrollieren war.^"^ Aus der Dominanz der Willens- vor der Wissenserziehung ergab sich - analog zum Kriterienkatalog für die Auswahl des Hofmeisters - in konsequenter Weise, daß „gute Gesinnungen" höher bewertet wurden als Quantität und Niveau des vermittelten Wissens; eine gewisse Präferenz für intellektuell mittelmäßige, aber in den Grundsätzen feste Charaktere ist unübersehbar. Mit Enthusiasmus formulierte der Erbdroste Adolph v. Droste-Vi339

Schering in einem Brief an seine Tante Dinette ν. Plettenberg-Lenhausen am 18. 9. 1846 dieses Persönlichkeitsideal, wenn er berichtete, daß es mir gerade jetzt sehr schwer wurde, von Heesen wegzugehen, wo der liebe Neffe Max dort ist . . .Denlieben Jungen gewinneich-wenn es möglich wäre-immerlieber;eristso ganz nach meinem Sinn, durchaus nichts Außerordentliches. Ich erfreue mich an seinem gediegenen Sinn, seinen festen Grundsätzen, ernsten Lebensansichten, und wahrer innerlicher Religiosität und unerschütterlichen Glauben - denn Du weißt, ich gebe nichts auf den äußeren Schein, gefälliges Äußeres, prunkenden Verstand und sprudelnden, glänzenden Geist; solche Eigenschaften nehmen augenblicklich ein; aber halten nicht vor; es ist kein Verlaß darauf. Und vorzugsweise heutzutage wird es immer mehr Noth thun, daß es solche entschiedene Menschen gäbe, die feste, unwandelbare religiöse und politische Grundsätze haben, behalten und öffentlich bekennen; dann werden mit der Zeit die Schreier doch den Kürzeren ziehen.'"^

OtTFächerkanon der Knaben veränderte sich gemäß diesem neuen Bildungsideal und den Anforderungen des preußischen Gymnasiums, das dem Adel über das Berechtigungswesen als Vorbild aufgezwungen war. Von den einst stark betonten Exerzitien wurde innerhalb der Hauserziehung nur noch dem Tanz eine gewisse Stundenzahl eingeräumt. Reiten, Fechten, Voltigieren und andere höfische Geschicklichkeitsübungen verloren sehr an Bedeutung und tauchten erst an der Universität o d e r - wenn es noch dazu kam - auf der Kavalierstour wieder im Stundenplan auf. Als neues, den ehemaligen Exerzitien verwandtes Fach kamen Leibensübungen auf; hier zielte die Ausbildung aber nicht auf Einübung von kontrolliertem, geometrisiertem und elegant-zierlichem Bewegungsverhalten, sondern auf Nutzung der vielfältigen natürlichen Bewegungsmöglichkeiten des Körpers im Interesse der Gesundheit und der Fundierung geistiger Leistungsfähigkeit. Das Fach Musik behielt auch im neuen Stundenplan seinen festen Platz.Religionsunterricht stand wie bisher im Zentrum des Ausbildungsplans, er wurde aber erweitert durch Übungen in Psychologie und,Seelenlehre'. Innerhalb der Sprachen verlor Latein seine bisher dominierende Vorherrschaft; Französisch blieb in seiner Bedeutung erhalten; die Verluste des Lateinischen kamen der neuen Sprache, dem Griechischen zugute. Das Interesse der Eltern an englischer Sprache blieb schwach;^°^ auch das Italienische wurde fortschreitend weniger gelernt. Übungen in deutscher Sprache und deutschem Stil erschienen in den neuen Stundeplänen mit verdoppelter Stundenzahl und innerhalb der Wissensfächer wuchs das Stundenkontingent der Naturwissenschaften stark an.^® In ebenso starkem Maße wie bei den Knaben veränderten sich Bildungsideal und Unterrichtsinhalte der Mädchen. Zwar blieb weiterhin die adlige Hausfrau und Dame das Ziel der Mädchenbildung, doch trat auch in ihrer Erziehung der höfisch-formbetonte Aspekt stärker zurück. Gleichzeitig gewann die adlige Hausfrau als Zentrum der privatisierten, emotionalisierten Familie, als Mutter und Lehrerin der Kinder, wichtige Aufgabenbereiche hinzu, die eine verbesserte Ausbildung erforderten. Auf Standesebene kristallisierte sich das Bemühen um eine bessere Ausbildung der Mädchen zuerst in einem von Franz v. Fürstenberg und einem Teil seiner Standesgenossen initiierten Versuch, die Residenzzeiten in den Damenstiftern des Münsterlands zu verkürzen. In einem Promemoria von zu dieser Frage betonte Fürstenberg, daß nahezu alle Mädchen des münsterländischen Adels in diesen Damenstiftern zu finden seien; 340

daher sind diese Stifter als die wahre Pflanzschule der adligen Hausmütter anzusehen . . . die Bildung des weiblichen Geschlechts trägt hauptsächlich zur Verbesserung der Sitthchkeit im Staate bei. Es wird daher gesorget werden müssen, daß die jungen Mädchen von Adel gebildet werden mögen; daß sie dieses in den Stiftern nicht werden, noch können, ist . . . erwiesen; es müssen also Vorkehrungen getroffen werden, damit sie die Erziehung außerhalb derselben erhalten mögen.^'"

Uber die Frage, in welcher Form die neue Mädchenerziehung statthaben sollte, ließ sich im Ritterstand aber keine Einigung erzielen. Fürstenberg sprach sich gegen Hauserziehung der Mädchen aus, plädierte vielmehr für die Gründung einer Erziehungsanstalt für adlige Mädchen in Münster. Im Resümee seiner Diskussion mit den Standesgenossen heißt es aber: 1. müßte kein Zwang sein, daß die Residenzfräulein die Jahre im Institut zubringen solle, sondern es müsse denen Eltern freibleiben, ihnen die Erziehung zu Hause geben zu können, oder sie auch nach ausländischen ö r t e r n und Klöstern zu schicken und zwar aus dem Grund, daß ein noch so gutes Institut ins Verderben geraten könnte und alsdann dieser Zwang der Erziehung äußerst nachteilig sein dürfte.

Erst recht konnte - wegen der starken Kontrollinteressen der Eltern - der Vorschlag nicht durchgesetzt werden , ,in den Klöstern, die sich wirklich mit Erziehung beschäftigen, die Residenzfräulein zu erziehen . . . dahin wollten aber die anderen nicht einstimmen aus dem Grunde, weil die Vielheit der Lehrlinge nicht so gut übersehen und unterrichtet werden konnte, und eine dem Adel anständige feine Lebensart da wahrscheinlich nicht beibehalten würde."^'^ Das Institut in Münster kam nicht zustande, ebensowenig eine Verkürzung der Residenzzeit. Hinsichtlich der Wissenfächer hat sich der Stundenplan der Töchter zunehmend an den der Söhne angeglichen. Doch blieben die Sprachen Latein und Griechisch den Mädchen erspart. Neben Religion und Handarbeiten nahmen die kultiviert-geselligen Fächer, insbesondere die Konversation in französischer Sprache und Musik, einen größeren Stundenanteil als andere Fächer ein. Unter der Voraussetzung eines im großen und ganzen identischen Fächerkanons und Stundenplans in den Adelsfamilien lassen sich zusammenfassend eine Reihe von Gründen dafür angeben, warum die den Knaben in der Hauserziehung vermittelten wissensmäßigen und intellektuellen Qualifikationen deutlich unter dem Niveau liegen mußten, auf dem das preußische Gymnasium arbeitete. Da sind zunächst die Qualitätsminderungen, die sich aus der Dominanz der Willens- vor der Wissenserziehung ergaben: Das überängstliche Bemühen, eine Überlastung des Kindes durch zu hohe Lernanforderungen zu vermeiden, um Freude am Lernen und Vertrauen zu den Eltern zu erhalten. Derselben Intention ist es zuzuschreiben, daß die Zahl der Erholungs- und Spielstunden sowie der unterrichtsfreien Tage stark anstieg. Auch die Wahl eines geisdichen, hinsichtlich seiner Wissensqualitäten nur mittelmäßigen, dem philosophisch gebildeten weltlichen Fachlehrer des preußischen Gymnasiums weit nachstehenden, zudem häufig wechselnden Hofmeisters gehört in diesen Umkreis. Schließlich haben auch die starke Selektion des zu vermittelnden Wissens nach religiösen sowie familien- und standesspezifischen Werten und die Abwertung von Wissensbereichen und intellektuellen Qualifikationen, die für den Berufserfolg in Beam341

tenlaufbahnen wichtig waren, als gefährlich, unpraktisch, einseitig oder unnütz die Qualität der adligen Hauserziehung gemindert. Auch aus organisatorischen Unterschieden zwischen Haus- und Schulerziehung sind Wirkungseinbußen der ersteren abzuleisten. Adlige Hauserziehung war in der Regel keine Einzelerziehung; der Hofmeister unterrichtete im allgemeinen zwei oder sogar mehrere Kinder verschiedenen Alters.^^^ Einerseits wurden dadurch zwar besser als in der Schule die Möglichkeiten imitativen Lernens des Jüngeren vom Älteren genutzt, andererseits wurde aber das Niveau, auf dem der Unterricht stattfand, eher vom jüngeren als vom älteren Zögling bestimmt, so daß man langsamer als in den im Wissensstand einheitlichen Schulklassen fortschritt. Von größter Bedeutung war aber, daß die Hauserziehung vom Lebensstil der Adelsfamilie abhängig blieb : Der saisonabhängige Stadt-Land-Wechsel, der Aufenthalt auf den verschiedenen Rittergütern der Familie, die Vielzahl der Besuche, Feste und geselligen Veranstaltungen, an denen die Kinder teilnahmen, nicht zuletzt auch die nun häufiger werdenden Reisen ins Bad, heßen einen regelmäßigen, der Schulwirklichkeit vergleichbaren Unterricht der Kinder nicht z u . " " Eine starke Lernmotivation und strenge Lerndisziplin konnten durch diese Art der Hauserziehung nicht aufgebaut werden. 2.5 Gymnasium,

Jesuiteninternat

und Ritterakademie

Bedburg

Parallel zum Fortschreiten der Schulreformen in den großen protestantischen Territorien des Reiches, vor allem in Preußen, verstärkte sich die Kritik der diskutierenden aufgeklärten Öffentlichkeit an den Erziehungseinrichtungen der katholischen Staaten, besonders an den Jesuitengymnasien. Durch das Festhalten an der lateinischen Welt, so argumentierte 1787 der aufgeklärte kurkölnische Minister Franz Wilhelm v. Spiegel verhinderten die Jesuiten die Erziehung zum nützlichen Staatsbürger: an jene Wissenschaften, die den Verstand aufklären . . . auf die Art, wie der Mensch zur wahren Erkenntnis (des) Guten und der hieraus entstehenden Notwendigkeit, der Erfüllung seiner Pflichten kommen kann, wurde nicht gedacht."®

Feindschaft gegen die aufgeklärte Philosophie, die neuen empirischen Wissenschaften, die vom absolutistischen Staat und dessen Beamten ausgehenden gesellschaftlichen und schulischen Neuerangen insgesamt und Bindung des einzelnen Zöglings an religiöse Ziele derart, daß seine im Interesse des Staats als notwendig erachtete Freisetzung zu individueller Entwicklung, Entscheidung und Selbstverantwortung gegenüber allgemeinverbindlichen staatlichen Normen verhindert werde, so lauteten die grandlegenden Vorwürfe, aus denen man ableitete, daß ein an der Ausübung von Selbstverzicht ausgerichteter geisthcher Orden zur Leitung eines staatlichen Schulwesens ungeeignet sei. Eine wesentliche Ursache für die Unbrauchbarkeit der Jesuitenerziehung war nach Meinung des Ministers Franz Wilhelm v. Spiegel ihr Desinteresse an dem für Zögling und Staat gleich wichtigen Ziel, auf eine richtige, individuellen Anlagen gemäße Berafswahl vorzubereiten: Dadurch wären sie brauchbare Bürger des Staates geworden, indem sie eine ihren Anlagen angemessene geistige Bildung erhalten hätten. Im Gegensatz wurden sie aber in die Jesuitenschulen 342

geschickt, nur im Latein geübt, und weil sie an dieser toten Sprache keinen Geschmack fanden, lernten sie nichts und wurden wahre Idioten.

Infolge solcher Kritik und der erfolgreichen Schulreformen in protestantischen Staaten gerieten die katholischen Länder unter einen Legitimationszwang, der schließlich, zumeist ausgelöst durch die Aufhebung des Jesuitenordens 1773, zu einer Vielzahl von Schulreformen innerhalb der katholischen Territorien des Reiches im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts führte."® Besonders auf die geistlichen Staaten konzentrierte sich die Aufklärungskritik. Der Vorwurf, auf allen Gebieten rückständig und zur Reform aus eigener Kraft unfähig zu sein, und die Herausforderung durch die Schulreformen in den umliegenden preußischen Gebieten wurden im Fürstbistum Münster schon 1762, lange vor der Aufhebung des Jesuitenordens 1773, aufgenommen und in eine Reform des münsterischen Erziehungswesens eingebracht, die von Franz V. Fürstenberg geleitet und in starkem Maße auch konzipiert w u r d e . A b e r anders als in Preußen war das Hauptziel der Schulreform nicht Steigerung staatlicher Macht durch effektive Verwaltungsorganisation und staatlich eingeleitetes wirtschaftliches Wachstum, sondern Erhaltung, Sicherung und Legitimation des geistlichen Staates und seiner vom Adel bestimmten Sozialstruktur gegen Angriffe von außen und innen. Verstaatlichung des Schulwesens konnte hier nicht Verweltlichung bedeuten. Die mit ständischen Kategorien harmonisierte Interpretation der,ewigen Glückseligkeit' des Schülers blieb unangefochtene Grundlage jeglicher Erziehung. Es konnte in der Reform nur versucht werden, die hergebrachten Forderungen der adlig-ständisch interpretierten Religionsinhalte mit den neuen, praktisch-weltlichen Zielen, ewige mit zeitlicher Wohlfahrt zu vermitteln. In Zusammenarbeit mit den Jesuiten, in Kontakt mit den bekanntesten Schulreformern seiner Zeit und durch intensive Lektüre der zeitgenössischen pädagogischen Schriften umfassend informiert, versuchte Fürstenberg, die Rückständigkeit des münsterschen Schulwesens zu beseitigen. Vor allem hinsichtlich des von ihm entworfenen Fächerkanons war die Umwandlung des münsterschen Jesuitengymnasiums in ein katholisches Gymnasium auf der Höhe der Zeit. Mathematik stand nun an hervorgehobener Stelle; die deutsche Sprache wurde auf Kosten des Griechischen akzentuiert; das Latein blieb zwar weiterhin stark betont, doch wurden als neue bzw. erneuerte Fächer Geschichte, Geographie, Naturlehre und Poetik gefordert. Über die Fächer Religion, Sittenlehre, Psychologie und Logik sollte das neue, ,reale' Verstandeswissen integriert und mit dem religiös-emotional bestimmten Verhaltenskern des Zöglings verbunden werden. „Richtigkeit" von Denken um Empfinden sollte das Ergebnis der Ausbildung sein. Schon wegen des Mangels an geeigneten Lehrern blieb die Reform Torso und bis 1803 hatte sich der auf die humanistisch-gelehrte Jesuitenbildung zurückgehende Anteil der Fächer wieder so gestärkt, daß er den Charakter des Gymnasiums bestimmte. Wesentliche Unterschiede zur preußischen Gymnasialreform ergaben sich aus der Grundintention Fürstenbergs, die ständische Sozialstruktur durch eine im weltlichen Wissen erweiterte Erziehung nach festen Religionskriterien zu stabilisieren:"® Lehrer des Gymnasiums blieben Geisdiche, die katholische Münsterländer oder Westfalen sein mußten. Da sie über kirchliche und adlige Pfründen bezahlt wurden, blieben sie 343

in starkem Maße an das adlige Patronagesystem rückgebunden. Die Schulaufsicht lag bei einem rein adlig besetzten Kuratorium. Die von Religionsvorstellungen geleitete Erziehung der Person zu sittlichem Verhalten blieb gegenüber dem Ziel der Vermittlung von Sach- und Fachwissen dominant; sie betonte nicht so sehr die Freisetzung des einzelnen gemäß seiner individuellen Neigungen und die Fachleistungen, sondern dessen positive Bindung an Religion und geistlichen Staat. Dieses Gymnasium war in vielem noch nicht Zuteiler für Lebenschancen nach dem Kriterium individueller Fachleistung, wie sie in einer Rede der aufgeklärte kurkölnische Minister Franz Wilhelm V. Spiegel 1787, an die Studenten der Universität Bonn gerichtet, entworfen hatte: Sie treten ins Gymnasium, um sich zum Dienst des Staates . . . fähig zu machen. Der Dienst des S u a t s aber erfordert in allen seinen Fächern brauchbare Bürger . . . ; wie ruhig, wie zufrieden kann der Jüngling seiner Versorgung entgegensehen, der, einstmals ein fleißig befundener, sich den Fürsten darstellen darf. D a s Zeugnis seines geprüften Fleißes und seine Geschicktheit bahnt ihm jetzt dort den Weg hin, wohin er sonst nur durch demütig hergeholte Empfehlungen gelangen konnte.

Auch der Minister v. Fürstenberg hatte ein solches Bild vom Gymnasium als Möglichkeit, über individuelle Leistung eine Berufsposition zu gewinnen, gezeichnet, als er an Klopstock am 2. 8. 1775 schrieb: ,,Unser philosophischer Plan ist, viele Menschen, und zu Gelehrten diejenige zu bilden, welche dazu berufen s i n d . " ' ^ '

Doch die Praxis bei der Besetzung der Lehrerstellen, die prinipiellen Äußerungen seiner Standesgenossen und deren Erziehungsstrategien, z . B . seines Bruders und Summherrn, zeigen, daß dieser Plan nicht realisiert wurde und hinsichtlich der Adelssöhne auch nicht reaUsiert werden sollte. Die Grenzen der Fürstenbergschen Reform des Erziehungswesens werden auch daran deudich, daß der Adel dem neueren Gymnasium weiterhin fernblieb und seine Söhne nach der Hauserziehung zumeist unmittelbar an die Universität schickte. Im Gegenteil, Indizien und Aussagen von Standesgenossen sprechen dafür, daß nach 1770 kaum noch Adelssöhne auf dem Gymnasium waren. Das Gymnasium Fürstenbergs hatte innerhalb seines Volksschule, Gymnasium und Universität umfassenden Reformwerks eben vor allem die Funktion, eine breite Schicht zukünftiger geistlicher Erzieher aus dem einheimischen Bürger- und Bauernstand zu rekrutieren, die die Kontinuität des geistUchen Staates durch Erziehung der Bevölkerung zur Religion sichern sollte, eine Aufgabe, die seit Ausbruch der Französischen Revolution von Fürstenberg als besonders dringlich immer wieder betont wurde. Darüber hinaus sollte über das Gymnasium und die angeschlossene Universität der geistliche Adelsstaat mit loyalen, leitenden Beamten, Juristen und fähigen Ärzten - ebenfalls aus der heimischen Region - versorgt werden, die von dem an ausländischen Universitäten unter Professoren und Studenten herrschenden .modernistischen' Gedankengut unbeeinflußt waren.^^® Fürstenbergs Reform des Erziehungswesens war ständisch, regional und religiös eng begrenzt. Mit dem Ubergang an Preußen 1814/15 wurde das münstersche Gymnasium einem 344

religiös neutralen, laisierten und verstaatlichten überregionalen Schulsystem eingegliedert, welches zudem unter stark abweichenden grundlegenden Zielsetzungen stand. Der Adel im Domkapitel und Ritterschaft hatte nach 1803 seine staatlichen Kompetenzen verloren, und damit auch seine Kontrolle über das von Fürstenberg aufgebaute, langfristig geplante münstersche Erziehungssystem. Da er seine Position in der Kirche zum Teil beibehielt, suchte er seinen Einfluß auf das Erziehungswesen über die kirchliche Schulaufsicht zu sichern, für deren Erhaltung er sich energisch einsetzte. Eine Trennung von Staat und Kirche im Erziehungswesen erschien den meisten Adligen völUg unannehmbar; die Säkularisierung des Bildungswesens wurde als Prinzip der Französischen Revolution entschieden bekämpft. Es galt, die gewohnte, religiöse Welterklärung gegenüber der drohenden weltlich-wissenschaftlichen und staatsbezogenen zu verteidigen. Gegen diesen Widerstand setzte die preußische Schulverwaltung die Umformung des münsterschen katholischen Gymnasiums in ein preußisches Gymnasium mit Anschluß an das Berechtigungswesen durch. Damit wurde die weltliche Bildungskonzeption des preußischen Gymnasiums auch für das münstersche Gymnasium verbindUch. Die entscheidenden Neuerungen waren, neben der gesteigerten Bedeutung naturwissenschaftlicher Fächer, vor allem der geringe Stundenanteil des Fachs Religion, die überragende Bedeutung des in Münster vernachlässigten Griechischen und eine an weltlich-staatlichen Zielen orientierte, die Ausbildung von Individualität fordernde, allgemeine Sittenlehre. Innerhalb der Regierungen wurden die an überregionaler Einheit des Schulwesens interessierten, zentralisierten staatlichen Schulverwaltungsbehörden eingerichtet, desgleichen die im Berechtigungssystem so wichtigen, von lokalen und regionalen Patronageverbänden unabhängigen, weldich besetzten Prüfungskommissionen, zu der man Geistliche nur als Deputierte des Staates zuzog. Da die bisherigen geistlichen Lehrer des Gymnasiums und Geistliche insgesamt den Anforderungen des neuen, philologisch geprägten Fächerkanons nicht genügten, fähige Fachlehrer jedoch noch in erheblichem Maße fehlten, vollzog sich der Aufbau der infolge des Schülerandrangs bis 1830 stark erweiterten weltlichen, unabhängigen, philologisch gebildeten Lehrerschicht langsam, aber nahezu spannungslos.*'® Einige regionale Spezifika haben im Zusammenwirken mit gesamtpreußischen schulpolitischen Entwicklungen die Erfahrungen des Adels mit diesem neuen preußischen Gymnasium bestimmt, das zu besuchen er gezwungen war, wollte er nicht alle Aussicht auf leitende Positionen in Verwaltung und Militär verlieren: Die Regierung Münster und das Provinzialschulkollegium waren vorwiegend mit altpreußischen Beamten besetzt, die auch in der Reaktionszeit ihre liberalen Einstellungen beibehielten. Diese schickten ihre Söhne in das Gymnasium Münster, das seiner neuen Form nach den Normen und Sozialinteressen des preußischen Bildungsbürgertums, insbesondere der alten preußischen Beamtenfamilien, entsprach. Gerade waren ja im Interesse dieser Schicht die Bildungsanforderungen für das Abitur auf einen außerordentlich hohen Stand angehoben worden. Die Anziehungskraft, die das Berechtigungswesen auf alle aufstiegsorientierten Schichten ausübte, und die Tatsache, daß die preußische Verwaltung, wenn auch weniger intensiv als im gymnasialen Bereich, das niedere Schulwesen ausbaute und effektivierte, hat, neben der hohen Zahl der Beamtenfami345

lien in der Verwaltungszentrale Münster, dazu beigetragen, daß die Schülerzahl des Gymnasiums Münster, des einzigen Gymnasiums im Regierungsbezirk, extrem wuchs. 1814 hatte das Gymnasium 200 Schüler, zwölf Jahre später über 500; bis 1829 sank die Zahl, da die Progymnasien Coesfeld und Recklinghausen zu Gymnasien aufgewertet worden waren, nur unwesentlich, und zwar auf 4 4 4 . P a r a l l e l zu diesem Andrang auf das Gymnasium wuchs die Überfüllung staatlicher Positionen, verschärften sich die Prüfungsanforderungen für Beamtenanwärter, verlängerten sich die Wartezeiten der Referendare vor Erwerb einer vollen Stelle. Der Konkurrenzkampf um die Beamtenpositionen bestimmte auch das soziale Klima im Gymnasium. Hinzu kam, daß das liberale preußische Beamtentum im münsterländischen Adel noch immer die unaufgeklärten Parasiten des alten geistlichen Staats sahen, eine Ansicht, die sie mehrfach direkt ausgesprochen und vor allem in ihrem adelsfeindlichen Verwaltungshandeln immer wieder deutlich gemacht haben. Der Adel beugte sich nach 1803 dem Zwang, der vom Berechtigungswesen ausging. Zunächst trat nach 1803 eine große Zahl von Adelssöhnen, allerdings zumeist erst im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren, in die 3. bis 5. Klasse des Gymnasiums Münster ein. Die Hauserziehung wurde also so weit wie möglich ausgedehnt. Doch die Konsequenz war, daß die Söhne, da die Hauserziehung sehr mangelhaft blieb und die Kinder sich an den adligen Lebensstil und Lebensrhythmus gewöhnt hatten, für den Gymnasialbesuch, zumal in einer ihrem Alter entsprechenden Klasse, nur wenig vorbereitet waren. Zumeist bereitete die Aufnahmeprüfung schon außerordendiche Schwierigkeiten.'^^ Infolgedessen wurde die Zahl der Adelssöhne im Gymnasium bald wieder geringer und auch die schon eingetretenen verließen es wieder in den frühen zwanziger Jahren, wie die folgende Tabelle zeigt: Tabelle 1: Münsterländische Adelssöhne am Gymnasium Münster 1 7 9 0 - 1 8 6 9 " з Zeitabschnitt Zahl der adligen Schulabgänger

1790-99 1800-09 1810-19 1820-29 1830-39 1840-49 1850-59 1860-69 10

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Nach Mitte der zwanziger Jahre nutzten nur noch wenige Adelsfamilien das Ausbildungsangebot des münsterschen Gymnasiums. Die meisten Adelssöhne blieben dem preußischen Gymnasium fern. Der Grund für dieses Verhalten lag darin, daß die Eltern zunehmend die negativen Auswirkungen der Gymnasialerziehung auf ihre Söhne erkannten. Die erste grundlegende Gefahr für die Familien- und Standesinteressen lag darin, daß der adlige Gymnasiast aus der von Familie und Stand gestalteten und kontrollierten Alltagswelt in erheblichem Maße herausgetrennt, den Einwirkungen seiner Bezugspersonen und Vorbilder, vor allem des Vaters, entzogen, in einen künstlichen Erziehungsraum mit ebensolchen Ordnungen eingegliedert wurde und einen wichtigen Lebensabschnitt jenseits der elterlichen Kontrolle zubrachte. Das dort vermittelte Wissen und Verhalten hatte, wenn überhaupt, nur äußerst lockere Bezüge zur Praxis der Familie und des Standes. Gerade in einer Zeit, in der sich Fälle auflösender Ver346

zichtsdisziplin häuften, mußte dieser Zwang zur Aufgabe der Privaterziehung und zum Eintritt in die familienferne städtische Schule schmerzhaft empfunden werden. Durch eine eben noch vertretbare Ausdehnung des Hausunterrichts suchten die Eltern diesem Übel entgegenzuwirken."·* Die Gefahr, daß die Kinder im Gymnasium zu ,,abstrakten Menschen" ausgebildet wurden, erschien besonders groß in einer Zeit, in der die dem Adel widrigen äußeren Verhältnisse eine enge Solidarität von Familien- und Standesmitgliedern zu erfordern schienen. So exzerpierte Bertha v. Nagel zu Beginn der vierziger Jahre folgende Passage aus den Historisch-Politischen Blättern: Wer im Leben selbst erzogen wird, der wird in der Sittlichkeit der bestehenden Verhältnisse erzogen und nimmt deren positiven Gehalt in sich auf: Schulen hingegen erzeugen eine dem wirkUchen Leben fremde und oft feindselige Bildung . . . Die Kinder aber, die man als reine, abstrakte Menschen in den Schulen erzieht, werden dadurch systematisch dahin geführt, daß sie ebenso ihre Befriedigung nicht mit dem wirklichen Leben, aus dem sie herausgerissen sind, sondern im besonderen Vergnügen s u c h e n . " '

Eine Erweiterung des Weltbezugs der Adelssöhne über Famihe und Stand hinaus, ihre Orientierung an allgemeineren staatlichen und gesellschaftlichen Normen wurde abgelehnt; wieder mußten Egoismus, Verschwendungssucht und Verarmung, als unausweichliche Konsequenzen solcher gefährlichen Horizonterweiterung interpretiert, zur Abschreckung herhalten. Als weitere Gefahr, neben der ,Abstraktion' des Kindes von Familie und Stand, erkannte man bald, daß die dem Curriculum des Gymnasiums zugrunde liegenden, das Verhalten der neuen Gymnasiallehrer leitenden Normen mit den adligen Familien- und Standesinteressen unvereinbar waren, insbesondere die Forderung nach individueller Entwicklung des einzelnen gemäß seinen Anlagen, das Ideal einer standesunabhängigen, alle Individuen vereinenden allgemeinen Menschenbildung und das umfassende Ziel, das religiös-neutrale, Stand und Region transzendierende Programm der Nationalstaatsbildung und staatlichen Machtsteigerung. Während in der Hauserziehung der Lehrer als der für die religiösstandesspezifische Formung des kindlichen Willens Verantwortliche sorgfältig ausgesucht und überwacht wurde, vermittelten die zu Angehörigen eines staatlichen Berufsstands avancierten weltlichen Fachlehrer am Gymnasium ein von religiöser und ständischer Deutung unabhängiges, vielfältiges Fachwissen und den Adelsnormen zum Teil schroff entgegenstehende staatsbürgerliche, liberale und religiös indifferente Verhaltensorientierungen. Am 14. 10. 1844 übertrug Bertha v. Nagel, die ihren Sohn nicht ins Gymnasium gab, sondern durch Hofmeister und Fachlehrer auf das Externenabitur vorbereiten ließ, aus einer vom katholischen Standpunkt aus geschriebenen Geschichte der Bildungsanstalten in ihr „Souvenierbuch": Die söldnerische Handwerkerkaste der Erzieher unserer Jugend, welche ihre Wechselbänke in Eurem Heiligtume aufgeschlagen haben, muß aus ihm herausgetrieben . . . werden. Sie sind es ja, welche die Jugend durch ihre Grundsätze veφestet, eine ganze Generation vergiftet und für Staat und Kirche vernichtet haben.

Und der Zusammenhang von arehgiöser Erziehung und Revolution folgte auf dem Fuße; denn am selben Tage exzerpierte sie aus den Historisch-Politischen Blättern: 347

Die Kunst der Erziehung ist der deutschen Schule . . . völlig abhanden gekommen. Wir haben nur noch einen Unterricht, keine Erziehung mehr. Die Mutter aller Revolution ist eine Regierung, welche alles Leben in sich absorbiert, und die Grenzen der weltlichen Macht überschreitet . . . Der Unterricht an den Schulen wird nur zu oft gerade so charakterlos, so unzusammenhängend, so buntschecking und unangemessen wie das Benehmen und Verhalten der Lehrerl"'

Die Lehrer, die nach Meinung der Fürstin Gallitzin 1793 „die Gesundheit der Seele [der Kinder] zu besorgen"^^^ hatten, waren im preußischen Gymnasium entweder ,,charakterlos", d.h. nur an der Vermittlung von Fachwissen orientiert, oder gar ,,Verführer", die anstelle der einst einheitlich über Religion integrierten Normen der ständischen Gesellschaft im persönlichen Verhalten eine Vielfalt von Wertorientierungen repräsentierten, damit die Söhne von den eindeutigen FamiUen- und Standesnamen ablenkten, durch Pluralität der Verhaltensweisen desoriertierten und häufig auch direkt im adelsfeindlichen Sinne beeinflußten.^^® Weitere unerwünschte, von den Eltern nicht voll kontrollierbare Einwirkungen auf die Söhne gingen von den in der Schule zahlenmäßig überwiegenden, wie ihre Väter zumeist liberalen und protestantischen Beamtensöhnen aus. Freundschaften zwischen ihnen und den Adelssöhnen hätte die Familien- und Standesorientierungen der letzteren auflösen k ö n n e n . " ' Doch kam es nur äußerst selten dazu; denn Konflikte zwischen den Angehörigen dieser zwei konkurrierenden Eliten, auf politischer Ebene schon seit der preußischen Besitznahme eine alltägliche Erfahrung, konnten auch im Schulbereich nicht ausbleiben, zumal in den zwanziger Jahren, angesichts des steigenden Andrangs auf die Beamtenpositionen, der Zusammenhang zwischen Schulerfolg und späterer sozialer Stellung immer stärker bewußt und die Konkurrenzsituation zunehmend verschärft wurde. Jenseits des Einflusses der weltlichen, vielfach protestantischen Fachlehrer machte sich die in Preußen geltende Trennung von Kirche und Staat im Gymnasialwesen vor allem in der partikularen Stellung des Religionsunterrichts innerhalb des Fächerkanons bemerkbar. Zwei Stunden pro Woche waren der Religion vorbehalten; erst auf eine Intervention des Kölner Erzbischofs v. Spiegel wurde das Fach Religion unter die Prüfungsfächer a u f g e n o m m e n . D e r spürbare Mangel an religiöser Unterweisung war wohl der schwerwiegendste Grund für die Entscheidung der Eltern, ihre Söhne nicht ins münstersche Gymnasium zu schicken; derm gerade über eine intensivierte Religiosität suchte der Adel dieser Zeit, Familien- und Standessolidarität, insbesondere die weitere Verzichtsdisziplin der Adelssöhne, zu sichern. Der Freiherr v. Wrede, der seinen Sohn 1829, trotz staatlichen Verbots, bei den Jesuiten im Ausland erziehen ließ und in Berlin um eine Ausnahmegenehmigung dazu bat, formulierte eine im Adel weitverbreitete Kritik am Gymnasium als er in einem Brief vom 5. 5. 1829 an seinen Freund und Stammherrn Clemens v. Oer schrieb: Es kommt bei Sökeland [Direktor des Gymnasiums Coesfeld, H. R.] darauf an, ob er zu jenen gehört, die allein im Vielwissen das Glück des Menschen in der Welt zu finden glauben. Meine Überzeugung ist diese: Je mehr der Mensch wissen soll, je mehr muß er auf Gott gerichtet werden, damit nicht sein Wissen ihm und anderen zum Verderben gereicht - und das ist es, was heutigen Tages allen unseren Lehranstalten fehlt. Die Kirche hat keinen Einfluß auf die Lehrer, auf die Schüler, auf die Schulbücher etc. - unsere jungen Herrn verlassen zwar mit manchen schönen Kenntnissen die Gymnasien; das ist aber auch alles, und darauf bilden sie sich recht viel ein - daß

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der Gymnasiast klüger wie sein Vater und wir anderen, die vor 15-20 Jahren ihre Bildung erhalten haben, versteht sich jetzt von selbst; daß er aber ein g:uter Mensch geworden, der Gott und den Nächsten liebt, der recht thut, auch dann, wenn es zu seinem Nachtheil gereicht, dessen Sach überall sein Gott ist, dem er Altäre baut, das ist nicht mehr zu erwarten - Nur von solchen Erziehungs- und Lehranstalten, wo das Christenthum in der Theorie und Praxis Hauptsache bleibt und alle Wissenschaften dieseswegen kultiviert werden - [wäre eine solche Erziehung zu erwanen]."^

Das von V. Wrede neben der mangelnden Religionserziehung angesprochene Vielwissen war in der Tat ein Kennzeichen der preußischen Gymnasialausbildung in den zwanziger und dreißiger Jahren."*^ Die Leistungsbewertung der Fachlehrer richtete sich nach den im Fachunterricht und in schriftlichen Arbeiten nachgewiesenen intellektuellen Fähigkeiten und nicht nach umfassenden persönlichen Qualitäten der Schüler. Dabei kam es, wegen der mangelhaften Hauserziehung der Adelssöhne und wegen des hohen Stellenwerts des Griechischen - der von den Bürgerlichen Schulreformen und -Verwaltern aufgebauten Selektionsbarriere - , das sowohl in der Kavaliersausbildung des Vaters als auch in der des geisdichen Hofmeisters keine nennenswerte Rolle gespielt hatte, häufig zu einem Leistungsversagen der Adelssöhne, das vom Adel als Widerspruch zu seinem Selbstverständnis als alter und auch neuer Führungsschicht erfahren wurde.^^ Gegenüber dieser Negativbilanz fielen zwei weitere Gründe, die nach Meinung der Eltern ebenfalls gegen den Gymnasialbesuch adliger Söhne sprachen, zwar weniger, aber dennoch wirksam ins Gewicht. Zum einen erwarben die Söhne, wie v. Wrede andeutete, hier ein Wissen, das das der Väter überstieg; diese konnten ihren Kindern nur in geringem Maße konkret bei dem Bemühen helfen, im gymnasialen Bereich zu bestehen. Zum anderen erforderte der Gymnasialbesuch, sollte wenigstens ein Minimum an elterlicher Kontrolle gewahrt bleiben, die langfristige Anwesenheit der Eltern in der Stadt. Nur ein Teil der Eltern hat sich zu diesem Opfer durchringen können."^ Die Erfahrungen seiner Generation mit dem Gymnasium, die Mißerfolgserlebnisse mit den konfliktbereiten Beamtensöhnen und den weldichen Fachlehrern, die zum weitgehenden Rückzug des Adels aus dem preußischen Gymnasium geführt hatten, faßte Max Friedrich v. Westerholt 1852, als sein Enkel Max ins Gymnasium eintrat, in einem Brief an seinen Sohn Fritz in dem Urteil über den Gymnasialbesuch von Adelsiöhnen zusammen: Es muß nun einmal seyn, diese öffentlichen Erziehungen liegen im Geist der Zeit, und mögen eben deshalb unausweichlich seyn, aber gar zu leicht leidet der Familiensinn . . . darunter. Max ist indessen schon sehr vernünftig und ist es Sorge des Vorstandes, ihn soviel möglich von denen Subjekten zu entfernen, die rohe Gesinnungen oder Gleichgültigkeit gegen ihre Eltern oder Geschwister äußern."'

Mangelnde Kontrolle der Söhne bei gleichzeitig ansteigendem Verführungsangebot, das war das Dilemma, welches für die an Kontinuität der Verzichtsdisziplin interessierten, in ihrer Autorität geschwächten Familienväter mit dem Gymnasialbesuch der Söhne gegeben war. Andererseits ließ sich aber nicht übersehen, daß das Gymnasium den jungen Adelssöhnen Wissens- und auch Verhaltensqualifikationen, vor allem die 349

Bereitschaft zu disziplinierter, regelmäßiger und intensiver, an sachlichen Problemen orientierter Leistung vermittelte, die für den Erfolg in den höheren Beamtenpositionen unumgänglich erforderlich waren. Gerade das leistete die Hofmeistererziehung nicht. Bei der mangelhaften Qualität der Hauserziehung war die Uberwindung der Abiturbarriere vor dem Universitätszugang durch ein Externenabitur von vornherein ziemlich aussichtslos. Annette v. Droste-Hülshoff schilderte einen solchen Idäglich endenden Versuch im Brief vom 24. 1. 1837 aus Bonn an ihre Schwester: Max Stapel [v. Kerckerinck-Stapel, 21 Jahre alt H . R . ] ist hier; sie haben ihn auf gut .Stapelisch' in die Welt hineingeschickt, ohne sein Examen gemacht zu haben; denn, da sie nicht zweifelten, nur Kabale könne einem solchen Genie in Münster entgegengetreten sein; so sollte er es hier so glänzend machen, ist aber so unwissend gefunden worden, daß man ihn gar nicht zum Examen gelassen hat. So sitzt er nun hier und nimmt, statt Student zu sein, Privatunterricht, was er in Münster ebensogut mit geringen Kosten gekonnt hätte, und hofft vielleicht in einigen Monaten besseres Glück zu haben. Seine Lehrer haben aber wenig H o f f n u n g , obgleich er fleißig sein soll . . . aber allzu vernachlässigt.''"

Der unmittelbare Ausweg aus diesem Dilemma, die Dispensation von der Abiturpriifung, wurde zwar noch gesucht, aber mit zunehmend geringerem Erfolg. Mit Beginn der zwanziger Jahre gewann dann eine andere Lösung an Gewicht, der Besuch von Jesuiteninternaten im Ausland; denn die Jesuiten hatten nach ihrer Rekonstituierung im Jahre 1814 in Brigg (Schweiz), 1827 in Freiburg (Schweiz) und dann auch in Lüttich u. a. Internate errichtet; diese wurden in der Folge vom katholischen westfälischen und rheinischen Adel stark b e s u c h t . D i e Ausbildung durch Jesuiten, im 18. Jahrhundert zunehmend zugunsten der Hofmeistererziehung aufgegeben, erschien nun, nach den negativen Erfahrungen mit dem preußischen Gymnasium, als rettende Alternative. Sie vermittelte den Söhnen eine einheitliche, ganz auf die katholische Religion ausgerichtete, liberal-aufklärerische Gedanken verwerfende, Demut und Selbstverzicht hoch bewertende Gesinnung und garantierte dasjenige umfassende Maß an Abtrennung von Verführern, Überwachung und lenkender Einwirkung, das die Eltern am preußischen Gymnasium, aber auch zum Teil an anderen Internaten schmerzlich vermißt hatten. Die Vorteile der Jesuitenerziehung lagen für die adUgen Väter deutlich bei der Willensformung der Kinder, die den familien- und standesspezifischen Werten entsprach, nicht so sehr bei der Qualität des weiterhin in starkem Maße praxisfernen Unterricht; denn darin waren die kaum reformierten Jesuitenschulen, noch stärker als im 18. Jahrhundert, methodisch und sachlich dem neuen preußischen Gymnasium unterlegen.'^^ Vor allem die griechische Sprache und die Naturwissenschaften wurden von den Jesuiten weiterhin vernachlässigt zugunsten der dominierenden Latinität und rhetorischer Übungen. Da ihre Ausbildung nicht am Fächerkanon des preußischen Gymnasiums ausgerichtet war, waren die Jesuiteninternate vom Adel nur als Vorstufe für das Externenabitur zu nutzen, und es konnte, einerseits wegen der mangelhaften Jesuitenausbildung, andererseits wegen der negativen Einstellung der Schulbehörden gegenüber solcher Mißachtung des preußischen Gymnasiums, nicht ausbleiben, daß an diesem Punkt Probleme auf die Adelssöhne warteten. Am 13. 5. 1830 berichtete v. Stein an seine Tochter: 350

Les Spée Ketteier etc. qui avaient envoyé leurs enfants chez les jésuites es Suisse en sont bien fâchés c o m m e ils sont retournés complètement ignorants et ont dû recommencer par les classes inférieurs dans les gymnases de Münster et Düsseldorf.

Seit 1827 wurde der Weg des Adels in auswärtige Jesuiteninternate vom Staat durch Kabinettsbefehl als „tadelhaft und gemeinschädlich" charakterisiert und dadurch stark erschwert, daß den Absolventen der Vorzug des einjährigen Militärdienstes entzogen und eine Benachteiligung gegenüber Absolventen einheimischer Lehranstalten bei Anstellungsgesuchen für den öffendichen Dienst angedroht wurde.''" Ein weiterer Nachteil, der für die Adelsfamilie mit dem Besuch von Jesuiteninternaten verbunden war, lag in der langjährigen Abwesenheit der Söhne von zu Hause; denn jährliche Ferienreisen nach Westfalen waren in einer Zeit unsicheren und sinkenden Renteneinkommens für die Familien oft nicht zu bezahlen. Andererseits aber waren diese Söhne in einer Phase emotional stark intensivierten Familienlebens aufgewachsen, so daß der Trennungsschmerz Eltern wie Söhne sehr belastete."' Hier liegen die Ursachen dafür, warum die Jesuiteninternate für den münsterländischen Adel nicht die überlegene Alternative zum preußischen Gymnasium wurde. Wie stark aber diese Alternative dennoch war, zeigt die Tatsache, daß ein Teil der Adelsfamilien seine Söhne weiterhin, trotz der Prüfungsmißerfolge, staadicher Sanktionen und psychischer Belastungen in Jesuiteninternate schickte und 1848 planten münsterländische Adelsfamilien gar, ein Jesuiteninternat im Münsterland zu errichten."® Schon kurz nach dem staatlichen Erlaß gegen Jesuiteninternate wurden im westfälischen und rheinischen Adel Pläne zur Gründung von Internaten für katholische adlige Zöglinge neben den preußischen städtischen Gymnasien diskutiert. Sie sollten, von Geistlichen geleitet, die religiöse Lenkung, Abschirmung von bürgerlichen bzw. protestantischen Gleichaltrigen und Kontrolle der adligen Gymnasiasten jenseits der Schulzeit sicherstellen und zudem durch zusätzlichen Unterricht und Silentien deren fachliche Leistungen verbessern helfen."' Dieser Versuch, die Vorteile des preußischen Gymnasiums mit denen der Jesuiteninternate zu vermitteln, scheiterte in seiner ersten Form, weil die staatlichen Schulbehörden und die Regierung in Berlin die finanzielle Unterstützung eines solchen religiös-partikularen Projekts ablehnten, und aus demselben Grunde kam auch der Plan nicht zustande, über eine Stiftung adliger und katholischer Familienhäupter ein solches Internat zu finanzieren. Erst mit dem Thronwechsel 1840 wurde der Weg für ein solches Internat frei, indem das am Ende des 18. Jahrhunderts aufgelöste Galensche Konvikt für verarmte, den geisdichen Stand anstrebende Adlige als adliges Internat neben dem münsterischen Gymnasium wieder eröffnet wurde. Doch hatte sich aus den früheren Diskussionen um ein katholisches Internat neben dem preußischen Gymnasium innerhalb des rheinischen und westfälischen Adels ein neues Projekt ergeben, die Gründung eines abgeschlossenen, bis zum Abiturabschluß führenden Erziehungsinstituts für den katholischen Adel in der Form des Internats. Das Abiturientengesetz von 1834, das den Zugang zur Universität und zur höheren Beamtenlaufbahn endgültig und prinzipiell an die Abiturprüfung des preußischen Gymnasium band, hatte das Interesse des Adels für ein solches Institut, das im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Erlangung des adligen Sondererbrechts, der 351

Autonomie, diskutiert wurde, noch einmal in starkem Maße gesteigert. Die Errichtung von privaten Lehranstalten war nach dem Allgemeinen Landrecht möglich ; doch stand der Rückgriff auf ein jahrhundertealtes, von den preußischen Schulreformern nach 1800 für überwunden und überholt angesehenes Vorbild, die Standeserziehung in den Ritterakademien, in krassem Gegensatz zu einer allgemein an individuellen und staatlichen Glücksmaximen ausgerichteten, integrativen Konzeption der Gymnasialbildung. Entsprechend heftig wurde dieser Plan in der Öffentlichkeit angegriffen. Deshalb erlangte die Rheinische Ritterbürtige Genossenschaft auch erst nach dem Regierungsantritt des bisherigen Kronprinzen 1841 die Erlaubnis zur Gründung der schon lange geplanten Ritterakademie Bedburg, die nur katholische Adelssöhne, neben den Söhnen der Stifterfamilien vor allem solche aus dem stiftsfähigen westfälisch-katholischen Adel, aufnahm und 1842 ihren Unterrichtsbetrieb eröffnete. Die Ritterakademie Bedburg definierte ihre grundlegenden Erziehungsziele zunächst in unmittelbarer Kritik an der Hauserziehung und der für die Adelssöhne so negativen Gymnasialausbildung. Sie tadelte am Gymnasium den geringen Stellenwert der Religion innerhalb des Fächerkanons, die von der Religion losgelöste einseitige Fachausbildung, die mangelnde Kontrolle der Zöglinge während und vor allem nach dem Unterricht, da so der Verführung durch Gleichaltrige Vorschub geleistet werde, und die in den Städten sich bietenden Anreize zur Sünde. Das Internat wurde auf einem von der Adelsgenossenschaft angekauften Schloß, also in stadtferner ländlicher Idylle errichtet. Wie bei den Jesuiten wurden Abtrennung der Zöglinge von Verführern, dauernde Überwachung und tägliche religiöse Übungen als zentrale Erziehungsprinzipien betont. Im Gegensatz zum nur,,Unterricht" bietenden preußischen Gymnasium sollte die Ritterakademie wie einst eine umfassende adlige Standeserziehung leisten, in der das Fachwissen nur als wichtiges dienendes Element der kultivierten adligen Personen integriert war. Den Standesangehörigen sollte das neue Wissen so vermittelt werden, daß alte, unverzichtbare Familien- und Standesnormen ungefährdet blieben und die Zöglinge sich dennoch erfolgreich in neuen Berufslaufbahnen und unter veränderten politischen Verhältnissen in Führungspositionen erhalten konnten.'" Dieser Konzeption gemäß lehnte man eine einseitige Konzentration allein auf unmittelbar nützliches Fachwissen ab. Den informellen Kontakten, der sozialisierenden Wirkung der Personenbeziehungen im Internat, wurde große Bedeutung beigemessen. Der Umgang mit gleichaltrigen Standesgenossen, den in der Umgebung auf ihren Schlössern wohnenden adligen Familienvätern und anderen ausgewählten Vorbildern sollte dem in einer großen Familie, in die der Zögling nun schon mit sieben Jahren eintrat, gleichen. Auf religiöser Grundlage sollten die im Innern der Zöglinge zu verankernden Gesinnungen nach einem nur wenig modifizierten Führungs- und Repräsentationsfunktionen stark betonenden aristokratischen Leitbild geformt werden: Für den Adel, der wegen seiner Stellung durch Geburt und Besitztum imstande ist, durch gutes oder übles Beispiel günstig oder nachteilig zu wirken, der bestimmt ist, in den höheren Kreisen der Gesellschaft zu wirken, und für höhere Stellen im Staate fähig zu sein, der ferner berufen ist, dem wandelbaren und dem materiellen Interesse gegenüber das Bestehende, das Prinzip der Nationalität und der Ehre, und was diesem Prinzip auch in der äußeren Erscheinung Würde und

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Anstand gibt, in sich zu pflegen und geltend zu machen, dessen Bestehen zugleich durch den Verband besonderer innerer Familieneinrichtungen und durch eine ihnen entsprechende Standes· und Familiengesinnung bedingt ist, bedarf einer Erziehung, welche außer der allgemeinen Bestimmung aller Menschen auch die besondere seiner Verhältnisse und der Anforderungen an ihn e n t s p r i c h t . " '

Nach außen galt es, den eigenen Stand durch Verdienst nach den neuen gesellschaftlich relevanten Leistungskriterien zu rechtfertigen, neue Repräsentationsfunktionen zu übernehmen und als Bollwerk gegen umstürzlerische Bewegungen König und Vaterland in Treue zu dienen. Nach innen waren vor allem Besitz und Glanz der Familie zu wahren; das hieß für den katholischen westfälischen wie für den rheinischen Adel vor allem Anerkennung der gesetzlich nicht mehr hinreichend abgesicherten Familienordnung, generelle Verzichtsbereitschaft der Söhne im Interesse der Familie. Man soll sie zugleich auf die inneren Einrichtungen und Verhältnisse ihres Standes hinführen, auf die materiellen Bedingungen der Famihenerhaltung durch Primogenitureinrichtungen zum Zweck der Erhaltung der Familien, sowie auf deren rechtlichen Ursprung. Sie sollen auch hierin eine weise Ordnung erkennen und ehren lernen, und die Gesinnungen dadurch empfangen, die jener Ordnung und den Grundsätzen ihres Standes e n t s p r e c h e n . " '

Den Zöglingen war zu vermitteln,, ,daß sie, vorübergehende Nutznießer und Vertreter der Familien, die Pflicht und Verantwortung übernommen hätten, die Familie, das Haus, den Besitz, den Namen, die Ehre nicht jeder Willkür hinzuopfern, sondern darüber zu wachen und diese heilig zu bewahren", vor allem gegen ,,eine an alle Kinder gleichmäßige Erbteilung und Parzellierung . . ., dem notwendigen Tode ihrer Familie, zu kämpfen"."'' Ziele der Schule, der Familie und des Standes waren identisch: Jeder Stand hat seine Gefahren. Dieselben in der Erziehung zu beachten ist eine Sache, die sich von selbst versteht, und die jeder Vater und jede Mutter stets vor Augen h a t . " '

Im Begriff der adligen Ehre vereinigten sich den alten und neuen Aufgaben gemäß Werte wie Leistungsbereitschaft, Königstreue, unbedingter adliger Gehorsam gegenüber Autoritäten, Standhaftigkeit, Entbehrungsbereitschaft, Achtung vor den anderen Ständen, Heiterkeit, Redlichkeit, Mäßigung, Demut und vor allem die Fähigkeit zum Selbstverzicht. Die Zöglinge müssen für den Reiz alles moralisch Schönen erwärmt werden und für Uneigennützigkeit, Mildtätigkeit, Selbstüberwindung, durch Vorführung großer Beispiele aus der G e schichte, durch ausgesuchte Stellen aus der Literatur oder anderen Werken der Kunst und Darstellung, welche edle Gesinnungen und Gefühle erwecken.'®'

Nicht allein auf die Religion, wie in der Übergangsphase, sondern auf Religion und „Recht" sollte nun alles Wissen hin vereinigt werden. Die Standesinteressen traten, bisher hinter den allgemeinen religiösen Zielsetzungen verborgen, nun wieder deutlicher hervor: Jeder Stand ist also das Organ besonderer Kräfte und Interessen, die er zu wahren und zu pflegen hat, wodurch er selbst lebt und gedeiht, die auf seine Lebensweise, seine Lebenszwecke, Verrichtungen, Neigungen und Ansichten, sowie auf seine äußere Erscheinung entschiedenen Einfluß ausüben und zugleich den Maßstab dafür geben, was gerade für ihn passend und ange-

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Reif, A d e l

Neben der Verpflichmng der Söhne, die Qualitäten des Standes durch Leistung in den neuen Berufen und durch Realisierung adliger Tugenden neu zu begründen bzw. zu beweisen, erschien, gleich stark betont, die rückwärts gerichtete Unterstellung spezifischer, anderer Menschen nicht zugänglicher Standeseigenschaften. Als eine solche wurde in den Programmen des Instituts mehrfach die innerlich fundierte Höflichkeit, die ,,feine Sitte der höheren Stände" hervorgehoben. Durch „Wohlerzogenheit im äußeren Benehmen" sei der Adel prädestiniert, in der höheren Gesellschaft zu wirken, ,,das Prinzip der Nationalität und der Ehre" zu repräsentieren;^^^ hieran zeigt sich besonders deutlich die Orientierung an Hof und Thron als wiedererstarkten politischen Machtzentren. Entsprechend waren dem Stundenplan, über das Bildungsangebot des preußischen Gymnasiums hinausgehend, noch weitere, auf Standesbildung zielende Fächer angegliedert; z . B . wurden neben dem neuen Sportunterricht, als Reste der adligen Exerzitien des alten Kavaliersideals, Tanzen, Reiten und Fechten gel e h r t . E i n anderes, ebenfalls bürgerlich-individualistische Vorstellungen der Zeit negierendes, standesspezifisches Interesse galt der normierten Schönschrift; eine Stunde der Woche war der Kalligraphie gewidmet. Höfliche Umgangsformen und rhetorische Fähigkeiten suchte man dagegen durch alltäglichen Umgang und auf den Schulfesten einzuüben. Mit Gründung der Ritterakademie Bedburg wurde auch die Auseinandersetzung des katholischen westfälischen Adels mit dem modernen preußischen Gymnasium beendet. Durch dieses Institut, das die Fachbildung des preußischen Gymnasiums und die Vorteile der adligen Hauserziehung vereinigte, konnte er sich dem Zwang entziehen, seine Söhne in ein auf Entfeudalisierung durch allgemeine Menschenbildung ausgerichtetes Schulsystem zu schicken, ohne zugleich den Zugang zu leitenden Beamtenpositionen durch einen hoffnungslosen Leistungsrückstand zu verlieren. Er vermied die drohende soziale Einebnung, die Auflösung seiner lokalen und regionalen Grundorientierungen, zum Teil auch seine Integration in den von weltlichen Zielen bestimmten zentralisierten Staatsverband und gewann einen Spielraum zur Neudefinition seiner Führungsposition als regionaler Adel im neuen Staat. Der Adel wollte in diesen Staat; aber nicht unter den von preußischen Beamten und Bildungsbürgertum diktierten, seine Selbstaufgabe als alter Stand fordernden Bedingungen. Begünstigt durch die politische Reaktion gelang es ihm denn auch nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV., durch Rückgriff auf eine ältere, damals schon weitgehend untergegangene adlige Erziehungsinstitution und unter Nutzung der schon im Allgemeinen Landrecht anerkannten Möglichkeit zur Gründung von Privatschulen das altständische Prinzip im preußischen Staat auf einer wichtigen Ebene, der Erziehung, neu abzusichern."^ Mit dieser Gründung endeten für den münsterländischen Adel die bis dahin so überaus häufigen Fälle schulischen und beruflichen Mißerfolgs; kontinuierlich wuchsen nun die Adelssöhne von der Ritterakademie aus in die neuen staatlichen Berufslaufbahnen hinein. Die Zahl der Zöglinge sank nach 1848 auf ein Minimum, weil der Adel, wegen der zunehmenden Spannungen zwischen rheinischen Autonomen und dem Bürgertum Unruhen befürchtend, seine Söhne aus der Ritterakademie Bedburg zurückzog und sie zum Teil wieder ins städtische Gymnasium schickte; doch in den fünfziger Jahrn er354

Schaubild

1: Zahl der Zöglinge auf der Ritterakadernie Bedburg^

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N sйГй//е/, weniger entgegen ; denn es entstanden in dieser Zeit drei weitere rein adlige Vereine, und zwar der ,, Verein katholischer Edelleute" (1857ff.), der erst 1869 an die öffendichkeit trat, der,,Verein zu Ehren der heiligen Familie" (1862 f.), in dem sich die Adelsfrauen organisierten, und der ,,Verein rheinisch-westfälischer Devotionsritter des Malteserordens" (1858ff.). Die in Statuten und programmatischen Vorträgen festgelegten grundlegenden Zielsetzungen dieser Vereine stimmten weitgehend überein, sieht man von den unterschiedlichen Schwerpunkten der geplanten Vereinsaktivitäten zunächst einmal ab.'® Der Adel als Stand sollte nach innen und außen neu begründet werden; das politische Klima der Reaktionszeit schien eine solche Wiederbelebung zuzulassen, sogar zu fördern; dabei wollte man sich aber nicht, wie im Ancien Régime, auf rechtlich abgesicherte Vorzüge stützen, sondern vor allem auf eine qualitativ hervorgehobene, im Innern verankerte, Angehörige anderen Standes weit übertreffende christliche Gesinnung und ein dieser Gesinnung entsprechendes uneigennütziges, zu Opfern jederzeit geneigtes Handeln. Durch positive Religiosität, vorbildlich christliches Leben in Familie und Gesellschaft, als Verteidiger der Kirche gegen Angriffe seitens des Staates, des Liberalismus und später auch des Sozialismus, vor allem aber als Helfer und Anwalt der Armen sollte er als ,,Adel der Gesinnung" seiner Isolation gegenüber anderen Schichten und seiner Verdrängung aus der Öffentlichkeit auf breiter Front entgegenwirken, in der Bevölkerung zu neuem Ansehen gelangen und seine verlorengegangene Position als regionale Führungsschicht wiedergewinnen." Das aus einer Neuinterpretation der alten adligen Verpflichtungsideen erworbene Selbstbild gewann seine institutionelle Kristallisation in Adelsvereinen, für die man durch Gnade des Königs korporative Rechte zu erlangen hoffte. Obwohl in Berlin, vor allem in den Ministerien, diese Entwicklung zur Rekonstitution altständischer Sonderinteressen und zu einer neuen Art,,Staat im Staate" mit Mißtrauen beobachtet und auf dem Verwaltungswege so weit wie möglich gehemmt wurde, dehnte diese adlige Vereinsbewegung ihre Aktivitäten und ihre Mitgliederbasis zunehmend aus, so daß sie schließlich einen Großteil des katholischen deutschen Adels erfaßte.""" Die Religion übernahm in dieser adligen Vereinsbewegung, die Familie, Kirche und Gesellschaft als ihre Arbeitsgebiete nannte, gleichzeitig verschiedene Aufgaben. Zunächst half sie, die Familie und Stand weiterhin gefährdenden Individuierungs- und Auflösungsprozesse einzubinden, die Familiensolidarität durch christliche Erziehung und die Idee einer bedrängten, zu verteidigenden Kirche zu festigen; und auch auf der Ebene des Standes, der sich in verschiedene ökonomische und politische Interessen426

gruppierungen aufzulösen drohte, vermochte am ehesten ein über Religion und Kirche konstruiertes Selbstbild akzeptiert zu werden und integrierend zu wirken. In den von Max V. Oer formulierten „Motiven" zum Statut des Malteserordens aus den sechziger Jahren heißt es: Nach Inhalt dieses Statuts . . . soll diese adlige Genossenschaft, indem sie aus der Subjektivität des S u n d e s und der V e r f o l g u n g egoistischer und spezifischer Standes-Interessen heraustritt, und dem Dienste der K i r c h e und der A r m e n sich weiht, sich selbst v e r v o l l k o m m n e n , und dadurch die w a h r e Standesehre und somit den Stand selbst heben und regenerieren . . . M a n w i r d hier vielleicht einreden, daß bei der Divergenz der politischen Ansichten in der Genossenschaft selbst ein solches A u f t r e t e n [ d . h . ein gemeinsames, H . R . ] derselben bedenklich oder gar u n möglich sei. Hierauf sei erwidert, daß die Politik gemäß dem Geist und dem ausdrücklichen G e b o t des O r d e n s der Genossenschaft ga«z/erw bleiben muß, und daß diese gerade dadurch den richtigen C o m p a ß f ü r ihre Tätigkeit besitzt . . . Glaubensverteidigung und H i l f e der A r m e n .

Durch Verpflichtung zum religiösen Lebenswandel und dessen standesinterne Kontrolle sollte in einem organisierten Akt der Selbsterziehung einer Gruppe die gefährdete Standessolidarität wieder gefestigt werden. Erneute Homogenisierung in Stand und Familie war Voraussetzung für den Erfolg des nach außen gerichteten Teils des Plans einer ständischen Erneuerung des Adels; denn mit dem Verfall des ehemaligen Standes von innen her mußten zugleich auch die von außen kommenden politischen Maßnahmen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die ihn schon so weit aufgelöst hatten, bekämpft werden. Hier konnte die religiöse Zielsetzung helfen, die in Preußen seit dem 11.3. 1850 geltende Vereinsgesetzgebung zu unterlaufen, die Vereine, welche politische Gegenstände zu erörtern bezweckten, einer scharfen Überwachung unterwarf und ihnen verbot, mit anderen Vereinen Kontakt aufzunehmen. Vor allem aber bot die Religion selbst, infolge der Minderheitensituation der katholischen Kirche in Preußen und der adelsfreundlichen Haltung des Papstes sowie der römischen Kurie ingesamt, fortgesetzt die Möglichkeit zu demonstrativen, die regionale Führungsstellung des Adels repräsentierenden Aktionen im gesellschaftlichen Bereich, im Alltag durch chrisdichen Lebenswandel und aktive Caritas, in politischen Konfliktsituationen bei Angriffen des Staates auf die Kirche. Die stärkste Bestätigung erfuhr dieses neukonstruierte und in Vereinen stabilisierte Selbstbild des Adels dann auch im Kulturkampf, in dem der katholische westfälische Adel sich außerordendich stark gegen den preußischen Staat engagierte; damals schrieb Max v. Korff, kurz nachdem die adligen Damen wegen ihrer Adresse an den Bischof verurteilt worden waren, in sein Tagebuch: Das G e f ü h l der F r e u d e w i r d dadurch gesteigert, daß unser Stand, der A d e l , den ersten A n s t o ß gegeben hat, und unter dem A d e l w i e d e r u m gebührt seinen edlen Frauen und Töchtern der R u h m e s k r a n z , den A n f a n g gemacht zu haben . . . U n d so sehen w i r denn das unerhörte Schauspiel, daß seit einigen W o c h e n fast allwöchentlich z w e i bis drei D a m e n nach Burgsteinfurt beschieden werden, um sich v o r dem dortigen mit der F ü h r u n g des Prozesses betrauten Kreisgericht zu v e r a n t w o r t e n . . . G e w ö h n l i c h w e r d e n diese Deputationen v o n den jedesmal in der G e m e i n d e w o h n e n d e n Adligen geführt. Ein schönes Zeugnis, daß das seit 1 8 4 8 erschütterte Verhältnis zwischen den G u t s h e r r n und der bäuerlichen Bevölkerung zu dem früheren V e r trauen und der alten Anhänglichkeit zurückkehrt.

Während der „ Verein zu Ehren der heiligen Familie", ein sich aus dem Adligen Da427

тепЫиЬ mit spezieller religiöser Zielsetzung ausdifferenzierender Verein adliger Frauen, sich vorwiegend darauf konzentrierte, für christliche Erziehung und christlichen Lebenswandel in Familie und Haus, aber auch in der Region zu sorgen und die adligen Malteserritter ihr Hauptaugenmerk auf demonstrative Caritas, vor allem in Kriegszeiten richteten, hat sich d e r , , Verein katholischer Edelleute" von vornherein stärker als ein Verein mit ökonomischen und politischen Zielsetzungen verstanden, die sich aber, wie 1848 der ,,Schutzverein" bewiesen hatte, durchaus als Engagement für die Wahrung christlicher Traditionen in einer Zeit der Auflösung interpretieren ließen."^ Zwar wurde auch hier der Neubildung des Standes große Aufmerksamkeit zugewandt, doch wurde daneben gleich stark betont, daß großer Grundbesitz, Fideikommisse und ein durch enge Heiratsverbindungen und gesellschaftliche Kontakte seit langem homogener Lebenskreis unverzichtbare Voraussetzungen dieser , ,vor Gott berechtigten Stellung des Adels" (Wilhelm v. Ketteier) seien, daß einerseits der Adel sich nicht isolieren dürfe, sondern den Kontakt zum Bürger und zum ,,Landvolk" über die Vereine suchen müsse, um die einstige Führungspostion zurückzugewinnen, daß er dabei aber stets das rechte Maß zwischen Nähe und Distanz zu wahren habe. In einem Promemoria aus den sechziger Jahren über die Ziele des Vereins katholischer Edelleute heißt es dazu: Selbstredend darf ein Bestreben und eine Tätigkeit: ,Nach Kräften allen alles zu sein', niemals in eine Form des Verkehrs ausarten, welche die dem eigenen Stande und der Stellung des Adels gebührenden Rücksichten außer Augen läßt, und die mit aller Hingabe zu verbindende angemessene Haltung vernachlässigt. Eine sehr zutreffende Gelegenheit zum Verkehr bietet die Landwirtschaft, das eigentliche Element des Landmannes. Merkt er auf diesem Gebiete Kenntnisse, Interesse oder gar Autorität, so wird er sich angezogen fühlen und dieselbe Autorität auf anderen Gebieten leichter anerkennen. Teilnahme an den landwirtschaftlichen Vereinen, Verbesserungen und Versuche in der eigenen Wirtschaft werden Mittel sein, diesen Zweck zu erreichen . . . In den Städten kann die Teilnahme an mancherlei Vereinen zur Ausübung der Wohltätigkeit, wie zur Hebung von Kunst und Wissenschaft, namentlich Spezialgeschichte, auch ein dem Individuellen entsprechender geselliger Verkehr die chinesische Mauer durchbrechen helfen, welche sich zwischen Adel und. Bürgertum aufgetürmt hat und die Einwirkungen des ersteren auf das letztere wiederherstellen."**

Im selben Verein wurden als weitere Pflichten des Adels auch der hinsichtUch seiner Erfolgsaussichten allerdings sehr skeptisch eingeschätzte Versuch, den Staat,christlich' zu beeinflussen, und die aktive Beteiligung an der Regierung des Landes in Gemeinde, Kreis, Provinz und Staatszentrale g e n a n n t . D e r Verein sollte Integrationspunkt der verschiedensten anderen adligen Vereinsaktivitäten sein; eine Beteiligung am katholischen Vereinsleben jenseits des ,,Vereins katholischer Edelleute" wurde den Mitgliedern in den Statuten zur PfUcht gemacht. Hier sollten die Erfahrungen in den anderen Vereinen, deren Entwicklungstendenzen, Entscheidungen und Pläne besprochen, die Haltung der adligen Mitglieder in den· wichtigsten Fragen koordiniert werden; eigene Wünsche des durch den Verein neu organisierten ehemaligen Standes konnten von dieser Zentrale aus in die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche eingebracht werden. Zugleich warnte man vor dem ,,selbstsüchtigen Verfolgen eigener Interessen" in den anderen Vereinen, vor allem dort, wo , ,die eigenen Interessen konkurrierten". 428

Es nimmt nicht wunder, wenn dieser Verein, der bald nicht nur Mitgheder aus katholischem Adel Preußens, sondern aus dem ganzen alten Reich umfaßte^"^ und auch die Standesherren integrierte, neben religiösen Themen im weitesten Sinne auch ökonomische und politische Fragen von großer Reichweite erörterte; Themen wie ,Förderung des Grundbesitzes', zum Teil speziell des Großgrundbesitzes durch neue Institutionen oder staatliche Maßnahmen, z.B. Kreditinstitute, Steuerminderungen oder ein neues Hypothekengesetz; die ,,Verteidigung sinnvoller und die Abtretung überholter Adelsvorrechte"; das ,,politische Verhalten der Mitglieder bei den Wahlen", vor allem die Verteilung und Annahme von Kandidaturen, oder die ,,Entwicklung der Schulpolitik in Preußen" gehörten sehr bald zum Standardprogramm der Vereinsversammlungen. Insofern ist es berechtigt, das Engagement des Adels in der katholischen Fraktion und später dann im Zentrum als eine Ausdifferenzierung des politischen Interesses des Adels aus zwei Vereinsbewegungen, den ständisch unabhängigen, kirchlich-politischen Piusvereinen und dem adlig-exklusiven ,,Verein der katholischen Edelleute" aufzufassen.

4.3

Zusammenfassung

Für die Selbstbehauptung des kathohschen westfälischen Adels als regionaler Führungsschicht ist das Vereinswesen von ausschlaggebender Bedeutung gewesen. Schon das Engagement in den vielfältigen und wechselnden Zielsetzungen verpflichteten geselligen Vereinen zeigt eine Zweipoligkeit, die für die Vereinsaktivitäten dieses Adels insgesamt charakteristisch wurde, die Spannung zwischen adliger Exklusivität und einer stark schwankenden Bereitschaft zur Öffnung gegenüber anderen Sozialgruppen. Während die exklusiven Adelsvereine überwiegend standesspezifische Funktionen übernähmen, z.B. zur Sicherung und kontrollierten geringfügigen Ausweitung des Heirats- und Geselligkeitskreises auf standesherrliche und einheimische nichtsstiftsfähige adlige Familien beitrugen oder eine Art adliges Nebenparlament zum Provinziallandtag bildeten, hatte die Teilnahme an geseUigen Vereinen mit ständeübergreifender Mitgliedschaft vor 1848 in mehr oder weniger starkem Maße die Funktion, die Bildung einer neuen staatsbezogenen Oberschicht vorzubereiten. Der Adlige Klub und die in ihrer ersten Phase von Fürstenberg beeinflußte Freimaurerloge zielten dabei eher auf eine Integration fähiger bürgerlicher Beamter und Geistlicher in die adlige Führungselite des geisdichen Staates; die anderen relativ offenen Vereine waren dagegen dem Gedanken der Integration einer mehr oder weniger breiten adlig-bürgerlichen Funktionselite der sich durchsetzenden bürgerlichen Gesellschaft verpflichtet. Die Vereinsteilnahme zeigt, wie sich das Verhältnis des Adels zum höheren Bürgertum entwickelte. Die um 1800 nachweisbare Bereitschaft zu umfassenden Kontakten mit dem Bürgertum wurde nach 1820 sukzessiv durch eine Tendenz zu fortschreitender Distanzierung wieder abgebaut. Die Abkehr vom reichen, liberalen, politisch bewußten Wirtschaftsbürgertum setzte - wie die Mitgliederstruktur des Civilklubs, der Loge und der ,,Gesellschaft zur Harmonie" ausweist - um 1820 ein, und spätestens 1837 scheiterte auch der Versuch des Adels, sich in die oberste Schicht der bürokrati429

sehen und militärischen Funktionsehte des preußischen Staates zu integrieren. Seit Mitte der dreißiger Jahre war der Adel in den geselhgen Vereinen unter sich und erst im katholischen „ K a s i n o " von 1864 kam es, allerdings unter völlig veränderten Vorzeichen, auf der Grundlage gemeinsamer katholischer Religiosität wieder zu umfassenderen geselligen Kontakten mit dem Bürgertum. Die Kontaktaufnahme zu den Bauern über das Vereinswesen war erfolgreicher, wies eine größere Kontinuität auf, folgte aber auch anderen Zielsetzungen. Hier gelang es dem Adel - in den landwirtschaftlichen Vereinen noch neben den Provinzialbeamten, im Pferdezuchtverein aber in eindeutig führender Stellung - durch Aktivierung des ihm trotz aller Konflikte noch verbliebenen patriarchalischen Führungspotentials die Bauern der Region im Sinne der vom Staat gewünschten Verbesserung der Agrarstruktur zu lenken, ihnen die neuen ,,rationellen" Verhaltens- und Wirtschaftsweisen zu vermitteln, sich der staatlichen Zentrale als regionale Führungsschicht zu empfehlen. Die Revolution von 1848 brachte den Adel mit dem ,,Schutzverein", der im wesentlichen die engen ökonomischen und politischen reaktionären Interessen der ehemaligen Feudalherren vertrat, in eine Sackgasse, die den Konflikt mit den Bauern zu verschärfen und zu verfestigen drohte. Gleichzeitig erwies die aus dem Kampf zwischen Kirche und Staat hervorgegangene katholische Vereinsbewegung, in der adlige Geistliche und Laien an führender Stelle mitwirkten, die außerordentliche Integrationskraft der Religion und die damit gegebenen Möglichkeiten, konservative Politik zu betreiben, ohne gleichzeitig die Klassengegensätze innerhalb der Region weiter zu verschärfen. Seit den fünfziger Jahren wurde der Adel in den von staatlichen Zielsetzungen unabhängigen, ihnen zum Teil bewußt entgegengerichteten katholischen und Bauernvereinen zum Kristallisationspunkt vielfältiger, diffus bleibender regionaler, katholischer und agrarischer Interessen. Es kam im katholischen Westfalen nicht zu einem einlinigen und eindeutigen Prozeß der Interessendifferenzierung, dem die Vereinsentwicklung dann folgt. Das zeigt sich besonders eindringlich an der seit Ende der fünfziger Jahre verstärkten Zweigleisigkeit der adligen Vereinsaktivitäten. Es gab zwar intensive und umfassende gesellige Kontakte zwischen Adel und Bürgertum in den verschiedenen katholischen Vereinen - und das während der Vereinsaktivitäten des Vormärz gewonnene Organisationswissen sowie die im tendenziell gleichberechtigten Umgang mit bürgerlichen Vereinsmitgliedern erworbenen neuen Verhaltensformen kamen dem Adel hier z u g u t e - doch die soziale Distanz zwischen beiden Sozialgruppen wurde dadurch keineswegs aufgehoben. Es gab spätestens seit Ende der dreißiger Jahre kein Konzept mehr, sich über Vereinsaktivitäten in eine bürgerliche Oberschicht zu integrieren; und der Adel betonte zwar seine Zugehörigkeit zum Berufsstand der Bauern, doch sein Verhältnis zum Bauern blieb geprägt von dem für patriarchalische Beziehungen charakteristischen spannungsvollen Wechselspiel von Distanz und vertraulicher Nähe. Die neuen Adelsvereine suchten gerade das in einem neuen Selbstbild und Verhaltensmodell sich kristallisierende Sonderbewußtsein des Adels institutionell weiter abzusichern. Sie dienten der inneren Erneuerung des Standes durch Gesinnungsbildung in einem organisierten Akt der Selbsterziehung und der verbesserten Organisation des politischen und quasi-politischen Handelns im Vereins-, Verbands- und Parteiwesen, durch das 430

die eigenen ständisch-konservativen Ziele durchgesetzt werden sollten, nicht zuletzt auch der überregionalen Solidarisierung des deutschen katholischen Adels. Alle Adligen, die sich an den ständisch ungebundenen Vereinen beteiligten, waren zugleich aktive Mitglieder in den alten und neuen exklusiven Adelsvereinen. Der katholische westfälische Adel integrierte sich als ehemals stiftsfähiger Adel in die bürgerliche Gesellschaft. Nachdem der direkte Weg zur Korporation vom Staat versperrt worden war, gelang es seit dem Ende der fünfziger Jahre über das Vereinswesen, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eine quasi-korporative Organisation zu gewinnen und sich zugleich noch in der ständeübergreifenden Vereinsbewegung eine Führungsrolle zu sichern. Eine ständisch-korporative Tradition nutzte die Vereinsform und überlagerte die freie bürgerliche Assoziation.

5. Zeiterfahrung - Religion und Caritas - Selbstbild a)

Zeiterfahrung

Auf die Angriffe gegen seine privilegierte Position, auf die aufklärerische Kritik an Adel und geistlichem Staat sowie auf erste Widerstände seitens der grundherrlichen Bauern hat der Adel vor 1789 noch mit offenem Unmut reagiert. Er sah in den Angreifern nur einzelne Ruhestörer und dementsprechend suchte er sie offen und hart zu bestrafen. Auf die Kritik des der Aufklärung verpflichteten Freiherrn v. Münster am münsterschen Militär in Schlözers ,,Staatsanzeigen" reagierte das Offizierskorps 1783/84 nahezu einhellig mit dem Abbruch der gesellschaftlichen Kontakte, man forderte die Lösung des Problems durch ein Duell und als v. Münster diese Lösung als unsinnig ablehnte, wurde er zur Strafe von Bedienten des kommandierenden Generals auf dem Wege zum Kurfürsten überfallen und nahezu zu Tode geprügelt. ^ Eine diskutierende Auseinandersetzung mit aufklärerischen Ideen fand nur im eng geschlossenen Kreis um v. Fürstenberg und die Fürstin Gallitzin statt. Die Gewißheit, einem Staatswesen mit einer .glücklichen' Verfassung anzugehören, in dem auch die anderen Bevölkerungsschichten ,gut leben' konnten, vermittelte dem stiftsfähigen Adel ein Gefühl der Sicherheit, das sich in dieser ersten Konfliktphase als Selbstgerechtigkeit artikulierte. Erst mit den Ereignissen in Frankreich nach 1789, der Auflösung der alten Kirche und des Adels und der Hinrichtung des Königs, begann eine allgemeine Verunsicherung Platz zu greifen, die sich mit steigenden Erfolgen der Revolutionstruppen, insbesondere der Enteignung des linksrheinischen Adels, zum Bewußtsein einer akuten Geiährdung der eigenen Position verdichtete. Besonders die geistUchen adligen Emigranten, die in großer Zahl im Fürstbistum aufgenommen wurden, hielten dieses Bewußtsein in den neunziger Jahren stets präsent; der Adel mußte nun in seiner unmittelbaren Umgebung erleben, daß Angehörige bekannter adliger Familien Frankreichs froh sein mußten, in subalternen Bedingungen, sogar bei bürgerlichen Familien, ihren Unterhalt zu verdienen. Das Obere hatte sich, allen sichtbar, nach unten verkehrt. Doch auch hier fand diese Erfahrung nicht in offener Diskussion zwi431

sehen Standesgenossen oder gar zwischen Adel und Bürgertum über die falschen oder mangelhaften Prinzipien der Französischen Revolution ihren A u d r u c k , sondern eher in indirekten Aktionen, in einer flexiblen H a l t u n g hinsichtlich der Steuerfragen auf dem Landtag, in einer verstärkten Verurteilung und Verfolgung der Freimaurer und der angeblich ebenfalls in Münster tagenden Illuminaten, in einer überängstlichen Reaktion anlässlich einzelner U n r u h e n auf dem L a n d e , in einer scharfen B e k ä m p f u n g vermuteter Anhänger der Revolution unter den Beamten des Kurfürsten und in einer demonstrativen Unterstützung der Emigranten.^ Seit 1795 verdichteten sich z w a r die Gerüchte über eine bevorstehende Säkularisation der geistlichen Staaten, doch erst u m 1800 w u r d e aus der Säkularisationsfurcht die Gewißheit, daß auch Münster zu den unmittelbar gefährdeten Stiftern zählte. E b e n s o stark wie die Erschütterung über die A u f l ö s u n g des geisdichen Staates war die über dessen Zerstückelung. D e r Adel sah sich von Kaiser und Reich verraten; die vortreffliche Verfassung des geisdichen Staates war gewaltsam, ohne Berücksichtigung des Willens der berufenen Landesvertreter aufgehoben. D a s Fürstbistum Münster und sein Adel erlitt R a u b , U n t e r d r ü c k u n g , , , k r ä n k e n d e H e r a b s e t z u n g " und D e m ü t i gung.® In den folgenden Jahren summierten sich die Erfahrungen des Verlusts hergebrachter Rechte, V o r z ü g e und Einkommenschancen und der Enttäuschung als gerecht empfundener Erwartungen, s o , daß die E m p ö r u n g sich in Resignation verwandelte. Z u r ü c k g e z o g e n auf den Familiengütern lebend, wenn auch in K o n t a k t mit ihren D o m h e r r e n in der Stadt Münster, erwarteten die Adelsfamilien die außenpolitischen und innenpolitischen H i o b s b o t s c h a f t e n , die zumeist in engem Zusammenhang miteinander standen; denn jede kriegerische Entscheidung konnte neue Landesaufteilungen und in deren G e f o l g e neue Gesetze, von denen nur Schlechtes zu erwarten schien, mit sich bringen. A m 8 . 1 . 1809 faßte Dina ν . Plettenberg-Lenhausen in einem Brief an ihren Bruder Franz v. Droste-Vischering die L a g e des Adels in die Sätze: Wenn Österreichs letztes Zappeln nicht hilft, so wird noch manches unter diese Rubrik (die Rubrik Verluste des Adels, H. R.) geschoben werden müssen, die folgende Rubrik heißt dann, Ergebung im Leiden,/йг die Generation, die nächste Generation wächst damit auf, und wird weniger entbehren. D e r mehrfache Wechsel der Landesherrn steigerte die Verwirrung und Verunsicherung extrem. E n d e 1810 klagte F r a n z v. Droste-Vischering seiner Schwester D i n a : Münster und so viele, viele andere Länder und Menschen sind nun auf's neue, ich möchte sagen, von einem der ärgsten Donnerschläge getroffen - mit Frankreich vereinigt . . . Ich kann nicht mehr schreiben - beste Syster, alles läuft durcheinander und mir im Kopf nicht besser. D o c h die Verwirrungen steigerten sich täglich mehr, so daß einzelne Adlige, wie z . B . F r a n z V. Droste-Vischering 1813, schließlich auf sämdiche Zeitungslektüre verzichteten und erklärten: Von Politik will ich nichts mehr sehen und hören. Gott sey alles in die Hände geworfen."* D i e A u f l ö s u n g der Herrschaftsstellung des Adels durch die G e s e t z g e b u n g p r o v o zierte eine neue Erfahrung: Massive Angriffe v o n der Seite der Bürger und Bauern, deren selbstbewußtes, z u m Teil verletzendes Auftreten gegenüber dem Adel. Dina ν. 432

Plettenberg-Lenhausen vermeinte 1811 in einer Zeit zu leben, „ w o alles zusammen stimmt, um Ihn, ich möchte sagen, herabzuwürdigen - wo alles sich befleißigt, aus Furcht dem Adligen zuviel Höflichkeit zu beweisen, einen plumpen äußerst unangenehmen groben Thon anzunehmen".® Verunsicherung, Enttäuschung, Demütigung führten zum Rückzug des Adels in die Familie und zu einer Haltung der religiösen Ergebung gegenüber allem Kommenden. Nach 1815 änderte sich dieses Bild zunächst nur wenig; die Erfahrungen der Freiheitskriege brachten - von einer kurzen Euphorie abgesehen - keine festere Identifikation mit Preußen, die erhoffte Wiederherstellung des alten Staates blieb aus; die Kontakte zum neuen protestantischen Herrscherhaus waren schwach; Reformgesetzgebung und Auflösung des alten schritten weiter fort; die Angriffe gegen den Adel hielten an. Dieser verharrte, von einigen Petitionen, Verteidigungsschriften und empörten Klagen abgesehen, weitgehend in politischer Passivität und Resignation. Die Erfahrung verdichtete sich, daß man anscheinend in einer Welt lebte, die zerfallen in egoistische einzelne und Gruppen, die stets neue, nicht einlösbare Versprechen auf die Zukunft abgaben und ständig Veränderungen erzwangen - der alten, .herkömmlichen' Ordnung durchweg feindlich gesonnen war und sie aufzulösen suchte. Überall erschienen die Gemüter in ,,Gärung", die ,,falsche Aufgeklärtheit" hatte in allen Schichten Begierde nach Neuerungen geweckt. Unter der ,,Besserungs- und Neuerungssucht" der Beamten, den allgemeinen ,,Stürmen der Dissipations- und Mobilisationssucht",® unter Irrtum und Verzerrung hinsichdich der Beurteilung alter Zustände, mußte der alte Adel, zu einer stark isolierten Minderheit geworden, zugrunde gehen. Der Graf August Ferdinand Merveldtfaßte seine Zeiterfahrung am 24. 1. 1822 in einem Brief an v. Stein in die Worte zusammen: Der Adel ist decrasiert. Wir sind die Einzigen, die noch etwas auf sich halten. Wer uns nicht hasset, will uns wohl leben lassen. Keiner will uns aber oben wissen . . . keiner fürchtet uns. Wir haben keine Verbündete.'

Nur schwer konnte sich der Adel bei solcher Einstellung zu politischer Aktivität durchringen; erst durch die neue Verluste und Konflikte ankündigende Ablösungsordnung 1821 und das Gesetz über die Provinzialstände 1823/24, welches den alten Adel zu vernichten schien, beteiligte er sich wieder unter Vermittlung v. Steins stärker an politischen Tagesfragen. Doch schon der erste Provinziallandtag behandelte mit der Ablösungsgesetzgebung und der Landgemeindeordnung zwei Themen, an denen die Gegensätze zwischen dem Adel und den ,Bürgern' im 3. und 4. Stand sich weiter verhärteten. Der soziale Wandel, der seit dem ersten Übergang an Preußen 1803 mit den Gesetzen zur Auflösung der altständischen Ordnung eingeleitet worden war, blieb im Adel unverstanden; eine sich nach Interessen neu gruppierende Gesellschaft mit ihren Konflikten und die Auflösung der alten patriarchalisch-feudalen Beziehungen konnten nur als Zerfall verstanden werden. Noch stärker als die ökonomischen Verluste wurde dabei der unverdiente Ansehensverlust, die Kränkung, die Geringschätzung als negativ erfahren. August Ferdinand v. Merveldt schrieb nach einem KonfUkt bei Verhandlungen in Berlin über die Ablösungsgesetze am 24. 1. 1822 an seinen Freund v. Stein: 433 28

Reif, Adel

Was in Westphalen seit A u f l ö s u n g der Reichsverfassung geschehen ist, ist F o l g e eines unsichtbaren höheren I m p u l s e s , in welche ich am liebsten die versühnende H a n d G o t t e s erkenne und mit Wehmut k ü s s e . . . D e r w e g g e w o r f e n e Theil [bei der A b s t i m m u n g über die A b l ö s u n g s f r a gen war der A d e l überstimmt w o r d e n , H . R . ] blutet im G e f ü h l der verletzten Gerechtigkeit u n d an der erfahrenen G e r i n g s c h ä t z u n g zugleich, u n d das Wiederkauen bringt keinen B a l s a m ! S o lange man über eine F r a g e in thesi streitet, k o m m t man nicht z u s a m m e n , besonders wenn der eine Theil gegen alles R e c h t seit 20 J a h r e n in Verlust u n d im D r u c k steht u n d die Verluste nicht f ü r alle gut zu übertragen sind - ein B ü n d e l Pfeile, der nicht gebrochen werden konnte, wird mit Zeit u n d Weile im einzelnen gebrochen!®

Am Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre fand dann ein Generationswechsel statt. Die älteren Stammherrn der Familien v. Merveldt, v. Korff, v. Ketteier, v. Droste-Hülshoff, v. Twickel und v. Korff-Schmiesing starben in dieser Zeit oder traten die Güterverwaltung und ihre Ansprüche auf die Deputiertenstellen im Provinziallandtag vorzeitig an ihre ältesten Söhne ab. Während die noch altständisch geprägten Väter nach dem Revolutionsjahr 1830, gleichsam aufs neue gelähmt, der Melancholie verfielen oder einen allgemeinen Krieg, eine heraufkommende Götterdämmerung erwarteten,® nahmen die ältesten Söhne, zumindest deren politisch aktive Vertreter auf dem Provinziallandtag, um Legitimation gegenüber den unruhig gewordenen, nicht mehr in selbstverständlicher Weise Verzicht leistenden Brüdern bemüht, die neue Situation an und verfochten in den dreißiger Jahren - gestützt auf das zunehmende Entgegenkommen Berlins auch gegenüber dem heimischen und westfälischen Adel - eine aggressive, zum Teil auf kurzschlüssiges ,erlösendes' Zurückschlagen zielende Politik der Anspruchswahrung, der Verteidigung des guten Hergebrachten gegen den „Geist des Aufruhrs und der Irreligion", gingen dabei jedoch politischen Grundsatzerörterungen aus dem Weg. Ferdinand C. H . v. Galen charakterisierte diese Wende, auf das Ereignis von 1830 fixiert, in seinen Erinnerungen mit den Sätzen: Wir Kinder v o m A n f a n g dieses Jahrhunderts fielen 1830, als die Revolution in Frankreich wiederum offenen Sieg gewann entweder ihr u n d ihren Prinzipien anheim, oder traten in heftigen G e g e n s a t z zu ihr. Ich gehörte zu letzteren.

Die dreißiger Jahre waren die Jahre der schärfsten Konflikte auf den westfälischen Provinziallandtagen des Vormärz. Eine zunehmende Distanz des Adels zu den Vertretern des 3. und 4. Standes, aber auch zur Bevölkerung der Stadt- und Landgemeinden insgesamt war die Folge. Ferdinand C. H . v. Galen schilderte in seinem Tagebuch die Lage, die er, zum Urlaub nach Westfalen zurückkommend, im Oktober 1834 vorfand: D e r L a n d t a g versammelte sich damals, alle F r e u n d e und J u g e n d g e f ä h r t e n trafen in Münster z u s a m m e n ; ich fand mehr Tätigkeit, Rüstigkeit u n d Entschlossenheit in unseren Standes- und G e s i n n u n g s g e n o s s e n als vor drei Jahren. D i e politischen Elemente waren sich schroffer entgegengetreten, aber jedes hatte an A u s b i l d u n g u n d E n t w i c k l u n g gewonnen. Mathis [v. G a l e n , H . R . ] leuchtete z u meiner großen F r e u d e wieder vorn in den Reihen der Vertheidiger des Rechts u n d der Wahrheit. F a s t alle Mitglieder des Adels folgten derselben F a h n e , die Regierung dagegen in ihrer unbegreiflichen V e r b l e n d u n g , Schloß sich meist der Gegenparthei a n . ' '

Das Kölner Ereignis Ende 1837 brachte hierin eine zweifache Wende. Einerseits die zeitweise Abkehr von Preußen und einer auf Kronprinz und preußische Ministerien 434

gestützten Politik der Adelsrestauration auf Kosten des dritten und vierten Standes, andererseits eine Wiederannäherung an die katholische ländliche und städtische Bevölkerung. Der Kölner Kirchenstreit und die Konflikte in seinem Gefolge vermittelten dem Adel die Einsicht in die vorhandenen Möglichkeiten einer neuen Integration der auf den Provinziallandtagen zerstrittenen Parteien über das Medium der Religion. In den vierziger Jahren fand zwar partiell eine Rückkehr zur Politik der dreißiger Jahre statt, doch blieben die Konflikte mit dem dritten und vierten Stand zahlenmäßig geringer und zudem verloren sie sehr an Heftigkeit. Die Erfahrungen des Kölner Ereignisses, die wiederentdeckte Gemeinsamkeit der Religion, gaben dem Adel neue Sicherheit; vor allem gewann er wieder großes Vertrauen in den antirevolutionären, .biederen' Sinn der westfälischen Bauern. So konnte Annette v. Droste-Hülshoff 1845 beruhigt feststellen: Gottlob ist unser Westfalen noch um 100 Jahre zurück. Möge es nie nacheilen auf dem Wege des Verderbens und mögen andere Länder auf ihrem Kreislauf bald wieder bei ihm eintreffen. "

1848 stellte sich dann aber endgültig heraus, daß diese Hoffnung auf Wiederkehr der alten Harmonie verfehlt gewesen w a r ; " neue Angriffe gegen den Adel, weitere Verluste an Vorrechten und Einkommen sowie Demütigungen und Entbehrungen wurden wieder zur Regel. Doch war der Rückzug in die Privatheit, auf die Familie, auf die Zeitklage über eine verkehrte Welt im Unterschied zur Zeit um 1800 diesmal keineswegs allgemein. Es gab nun auch kaum Probleme familieninterner Disziplin; der Adel reagierte auf die Revolution 1848 vorwiegend auf der Ebene des ehemaligen Standes, nicht so sehr auf der Ebene der Familie. Trotz des Wissens um die durch die revolutionäre Bewegung schwankenden Zustände, die Gefährdung des Adels und des Throns, kämpfte der katholische westfälische Adel von Beginn der Revolution an gegen die Maßnahmen und Pläne der demokratischen und konstitutionellen Parteien im Frankfurter und Berliner Parlament. Doch reichte diese Erfahrung einer erneuten Gefährdung, einer erneuten Isolierung von der ländlichen und städtischen Bevölkerung dazu aus, daß er sich fortan mehr auf integrierende Möglichkeiten seines Verhaltens, auf seine Vorbildrolle als innovativer Landwirt für den Bauern und auf seine religiöse Aufgabe als Vorbild an Religiosität, Verteidiger der Kirche und Hautträger religiöser Caritas besann und eine Wiederannäherung der Standpunkte anstrebte."*

b) Religion

und

Caritas

Das zentrale Medium, innerhalb dessen der Adel nach 1770 seine Zeiterfahrungen zu bewältigen suchte, war die katholische Religion und deren Vorstellungsinhalte. Sein religiöses Handeln war nicht nur Realisierung subjektiver Religiosität, sondern auch soziales und politisches Handeln; er reagierte in den Formen einer von ihm in erheblichem Maße selbst entwickelten spezifischen Religiosität auf neue soziale Erfahrungen, auf Anfechtungen von außen ebenso wie auf Auflösungserscheinungen innerhalb des Standes, in den einzelnen Adelsfamilien. Durch Aktualisierung und Umformung der im Stand gesicherten, bzw. von der Kirche angebotenen religiösen Tradi435

tionen, in weitgehender Übereinstimmung mit der Haltung und Politik der weiterhin personell eng mit ihm verbundenen, um ihre,Freiheit' kämpfenden katholischen Kirche, stellte er sich den Problemen im gesellschaftlichen und politischen Bereich. Dieser Haltung entsprechend lassen sich bestimmte religiöse Konflikte innerhalb des Adels, aber auch solche zwischen Adel und anderen gesellschaftlichen Gruppen vorausgesetzt, daß auch andere Schichten ihre Interessen im Medium der Religion artikulierten - als soziale und politische Konflikte auffassen. Auf der anderen Seite war es aber auch möglich - wenn der Zusammenhang zwischen zugrunde liegendem Interesse und religiöser Artikulationsform den Beteiligten, oder Teilen von ihnen, unklar blieb - daß auf der Ebene von Religion und Kirche Harmonie zwischen dem Adel und anderen Schichten, deren Interessenlagen von denen des Adels deutlich unterschieden, hergestellt wurde. In Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden politischen und sozialen Realität und in engem Zusammenhang mit Entwicklungen in der katholischen Kirche Westfalens und Rheinlands bildeten sich beim Adel bestimmte Formen religiösen Verhaltens aus, die sich durch Wiederholung im Alltagsleben zu einem spezifischen, normativ werdenden Religionsstil dieser Gruppe verdichteten. Die Religiosität des Adels nach 1770 läßt sich dementsprechend in ihren Erscheinungsformen und prozessualen Veränderungen beschreiben und auf ihre Funktionen hinsichtlich der Bewältigung der Adelskrise befragen. In der Zeit vor 1770 waren stiftsfähiger Adel und katholische Kirche nahezu identisch. Spätestens am Ende des 17. Jahrhunderts war die Einheit der Religion im geistlichen Staat wieder hergestellt. Eine Tradition der Religionstoleranz, eine Trennung von Religion und Politik, wie sie sich aus Gründen innerstaatlicher Friedensbemühungen und merkantilistischer Opportunität im preußischen absolutistischen Staat ausgebildet hatte, fehlte hier völlig. Der Adel verband mit dieser Herstellung religiöser Einheit am Ende des 17. Jahrhunderts die Erinnerung an seinen Wiederaufstieg gegenüber dem reichen und selbstbewußten Stadtbürgertum. Die Deutung der Religionsvorstellungen durch adlige und bürgerliche Geistliche war in den geistlichen Staaten Westfalens einheitlich und stabilisierte, wie an zahlreichen Leichenpredigten erkennbar wird, eine götdiche Weltordnung, in der der stiftsfähige Adel die unangefochtene Führungsschicht darstellte. Religiöse Vorstellungen und politische Ordnung standen hier noch in engem Zusammenhang; religiös begründete Normen orientierten das Alltagsgeschehen und gaben ihm Sinn. Die katholische Religion bot, wegen ihrer starken Orientierung am Sinnenhaften, an der Identität von äußerer Erscheinung und innerem Geschehen, dem auch auf ökonomischem Gebiet starken Adel vielfältige Möglichkeiten zur Kumulation religiösen Machtreichtums. Religiosität des einzelnen Menschen war noch gültig im Sinnenhaften darstellbar; sie äußerte sich im Mitvollzug bei heiligen Handlungen, in denen in der Regel individuell-religiöse Bedürfnisse und familien- bzw. standespolitische Funktionen untrennbar verschmolzen. Eine Trennung des rehgiösen Geschehens in einen Innen- und einen Außenvorgang hatte sich weder beim Adel noch bei der ländlichen Bevölkerung durchgesetzt. ^^ Die Teilnahme am äußeren rituell-religiösen Vorgang konnte den einzelnen äußerst stark entlasten und zugleich Familie, Stand und ständische Ordnung wirkungsvoll legitimieren und der Adel achtete sehr daraf, keinen Anlaß zur ri436

tuellen Selbstdarstellung seiner Religiosität, zur Aktualisierung religiösen Machtreichtums, zur Legitimation seiner hervorgehobenen Stellung vorbeigehen zu lassen. Als z. B. die aus Frankreich vertriebenen Trappisten 1795, vom Erbdrosten mit einem Stück Wald in der Nähe seines Wohnsitzes Darfeld beschenkt, mit dem Bau eines neuen Klosters begannen, spielte sich das folgende religiöse Ritual ab: D i e Mönche fällten zunächst die Bäume. A u s dem ersten wurde ein mächtiges Kreuz gezimmert. Der Erbdroste und seine drei geistlichen Brüder ließen es sich nicht nehmen, dasselbe auf ihren Schultern zur bestimmten Stätte hinzutragen. Caspar, der kurz zuvor Weihbischof zu Münster geworden, weihte es denn feierlich ein. N u n wurde das Kreuz in die H ö h e gehoben, an seine Stelle gesetzt und befestigt, und Alle beugten ihr Knie zur frommen Verehrung desselben.'»

Andere Formen alltäglicher religiöser Entlastung boten sich mit Kirchensitz und Familiengrab in der Patronatskirche - die Nähe der dort begrabenen Heiligen und der dort aufbewahrten Reliquien strahlte auf die Familienangehörigen aus - und im Memorien- und Stiftungswesen der katholischen Kirche. In den Testamenten des Adels nehmen genaueste Bestimmungen zu diesen Gegenständen sehr breiten Raum ein. Nach Lehre der Kirche trugen sie zum Nachlaß der Sünden oder zur Vermehrung der Glorie des Verstorbenen bei und es galt: ,,Je angesehener, reicher und mächtiger ein Verstorbener war, umso mehr Priester, Mönche und Arme in seinem Gefolge . . . [es herrschte] Vertrauen auf den Beistand von Priestern, Mönchen und Armen als Verteilern des spirituellen Schatzes der Kirche. Der Besitz dieser unermesslichen Reichtümer des Himmels und der Erde" festigte die Position des Adels an der Spitze der ständischen Hierarchie, entlastete ihn aber auch von allzu starken Zweifeln hinsichtlich der Qualität seiner Religiosität. Mit der Übernahme der neuen höfischen Funktionen, die erhöhte Repräsentationsanforderungen stellten, wurden die traditionalen Formen adligen religiösen Machtreichtums zum Teil, z . B . beim Totenkult, erheblich gesteigert und zugleich derart mit der Symbolwelt der weltlich-höfischen Kultur verschmolzen, daß der Ausdruck von Religiosität immer stärker hinter die Funktion, aldig-höfischer Macht zu repräsentieren, zurücktrat. Mit zunehmender Anfrechmng von außen und der Erfahrung einer beginnenden inneren Auflösung von Familie und Stand, schließlich auch mit der um sich greifenden Unsicherheit infolge der Revolutionswirren in Frankreich, entwickelte sich im Adel, zunächst im Kreis von Münster, von dort aber sukzessiv sich unter den Familien des Standes ausbreitend, eine neue Qualität religiösen Verhaltens, eine ,reine', vom Politischen und der äußeren Welt insgesamt stark abgekehrte, innenorientierte und -fundierte, emotional aufgeladene ,private' Religiosität,^® die wichtige Funktionen bei der Ausbildung eines neuen Familien- und Erziehungsverhaltens übernahm und zur Festigung von Familien- und Standessolidarität entscheidend beitrug. Aber auch neue nach außen gerichtete Sinnbildungen, vor allem die Erklärung der Außenwelt und die Definition der neuen Aufgabe des Adels in einer sich wandelnden Welt, wurden, vom Kreis Fürstenbergs und der Fürstin Gallitzin ausgehend, über die neu fundierte, philosophisch psychologisch und pädagogisch informierte Religiosität erarbeitet. Die weltzugewandte, fortschrittsgläubige Philosophie der Aufklärung ist schon im Kreis von Münster sehr früh in ihren welterklärenden 437

Möglichkeiten entschieden abgelehnt und vom Standpunkt der mystisch-emotionalen Offenbarangsreligion aus bekämpft worden. Entscheidend für das religiöse Verhalten des Adels war die grundlegende Prämisse seines erneuerten religiösen Weltbildes: Die Auflösung der ständischen Ordnung und die Gefährdung der katholischen Kirche in Frankreich wie im Reich wurde als Folge zunehmender Areligiosität interpretiert. Französische Revolution, Gesetzgebung der preußischen Reformbürokratie und die sich verschärfenden Interessengegensätze und sozialen Probleme des Vormärz galten als Folge eines alle Bevölkerungsschichten umfassenden Prozesses der Entchristlichung. Als wesentliches Gegenmittel galt, den Verfall der Religiosität aufzuhalten und für deren allgemeine Erneuerung zu sorgen. Eine komplexe, schwer durchschaubare Welt wurde wiederum auf den einfachen und fixen Nenner religiöser Normen, die zugleich Adelsnormen waren, gebracht. Kurz nach 1830 bezeichnete Ferdinand C. H . V. Galen als seine Lebensaufgabe den ,,Kampf für den Glauben und das Recht . . ., für mich, als Katholiken, ist der Glaube von Gott gegeben und unfehlbar festgestellt. Das Recht ist aber, zwar nicht in seinem von Gott gegebenen Prinzip, jedoch wohl in seiner tatsächlichen Verwirklichung auf Erden, wandelbar. Während der Glaube absolut feststeht, unterliegt das Recht den Veränderungen . . . Wer im Lichte der ewig unveränderlichen Sonne des Glaubens wandelt als Katholik, der kann Recht von Unrecht immer u n t e r s c h e i d e n . U n d kurz darauf zeigt sich die Anwendung dieses Prinzips, wenn er schreibt: ,,Ich haßte das Prinzip der Volkssouveränität als Gegensatz zu der von Gott gegebenen Ordnung der Dinge." Noch nach 1848 galt dem Adel die katholische Religion als einziger fester, orientierender Punkt im Wandel ringsum; denn 1860 schrieb der Erbdroste in seiner Autobiographie: Der einzig sichere und allein zuverlässige Maßstab, nach welchem die sich in der Welt vollziehenden Tatsachen bemessen werden können, ist der der christlichen Moral, sind die 10 Gebote Gottes. Hierin liegt das Gesetz, das - von der einzigen Wahrheit offenbart - den Menschen gegeben ist, um danach zu leben, jedem einzelnen sowohl als auch jeder Vereinigung . . . Nach diesem Grundsatz ist eine jede politische Aktion Recht oder Unrecht, je nachdem sie mit den Grundzügen der christlichen Moral übereinstimmt oder nicht; denn Recht kann nur Recht sein, was auf Anordnungen Gottes beruht. D a s Recht ist ein Ausfluß des göttlichen Willens.^^

Die katholische Religion sicherte so aufs neue die Homogenität und das Sonderbewußtsein des Standes, Ueferte ihm akzeptable Erklärungen der Außen- und Innenvorgänge und stabilisierte Familie und Stand durch eine neue Zielsetzung: Rückgewinnung der Religiosität im Innern und Verbreitung „wahrer Religiosität", d. h. der eigenen, religiösen Welterklärung nach außen durch vorbildhafte, bekennende, kämpferische religiöse Aktivitäten. Glaubenserneuerung nach den religiösen Vorstellungen des Adels wurde zum politischen, antirevolutionären Konzept. Der Gedanke des Dienstes an einem wertvollen Gut, der Verteidigung von bedrängter katholischer Religion und Kirche erlaubte eine Rückkehr zur Praxis, in der die politischen Interessen des Adels an der Erhaltung seiner Rolle als Führungsschicht voll aufgehoben waren. Die neu aufkommenden stärker wissenschaftlichen Welterklärungen und dem Fortschrittsgedanken verpflichteten politischen Strömungen, Liberalismus, Sozialismus, 438

aber auch die Idee des modernen bürokratisch absolutistischen Staates, konnten als Verfall und Tendenz zur Areligiosität bekämpft werden. Die aufklärerischen Gedanken der Toleranz und der Gemeinsamkeit aller christlichen Relgionen, im Kreis von Münster zur Zeit seiner Gründung noch präsent, fanden in diesem Konzept nur noch wenig Raum. Pluralisierung der Religionsvorstellungen wurde, das zeigt der Kampf gegen rationalistisch-theologische Tendenzen innerhalb der katholischen Kirche, aber auch die Auseinandersetzung mit dem Protestantismus, als Irrweg und Anormalität ebenso abgelehnt wie die Pluralisierung der Gesellschaft nach Interessen. Die häufigen Vergleiche des Vormärz mit den Zeiten der Reformation enthielten unausgesprochen die Hoffnung auf eine Wiederholung der für den Adel positiven Entwicklungen der Gegenreformation.^^ Der Ausbildung einer neuen Religiosität im Adel lief nach 1803 eine Erneuerungsbewegung in der katholischen Geistlichkeit insgesamt parallel. Beide Prozesse haben sich in Westfalen eng miteinander verknüpft, da der Adel, trotz des Verlustes nahezu aller Domherrnstellen, sich noch mehrere Jahrzehnte lang einen bedeutenden Einfluß in den Spitzenpositionen der Kirche erhielt und seit den dreißiger Jahren über seine Kapläne und Ordensgeistlichen neues Ansehen von der Basis aus gewann. Wie der Adel so hatte auch die katholische Adelskirche des Reichs durch Säkularisation und Agrarreformen Herrschafts- und Machtpositionen verloren, so daß sich auch die Geistlichkeit nach 1803 organisatorisch und in ihrem Selbstbewußtsein auf neue Grundlagen zu stellen hatte. Auch sie entwickelte, allerdings, unter dem erheblichen Einfluß von Adelsvertretern und einer starken Schicht feudal-ständisch orientierter bürgerlicher Geistlicher, entlastet von älteren, weltlich-politischen und ökonomischen Aufgaben, zu ihrer Regeneration ein Programm religiöser Erneuerung durch verinnerlichte Religiosität, Seelsorge, aktive Caritas, Bekämpfung der Areligiosität und des religösen Indifferentismus im ,Volk' in gegenrevolutionärer Absicht.^ Einerseits waren die Gegner innerhalb der katholischen Kirche selbst zu finden. Seit den ersten Konflikten zwischen den aufgeklärten Domherrn v. Spiegel mit ihren Anhängern und der Fürstenbergschen .Partei' im Domkapitel und auf dem Landtag kämpfte der Adel - zunächst sein .besserer', von der ,familia sacra' beeinflußter Teil, später der einheimische stiftsfähige Adel insgesamt und ein wachsender Anteil der Geistlichkeit - für die auf dem Prinzip der Erbsünde aufbauende wahre, geoffenbarte Religion und gegen die Selbstliebe, Überheblichkeit und Dünkel begünstigenden ,,Irrlehren" der rationalistischen Theologie mit ihren Bemühungen um eine objektive Glaubenslehre. Man fürchtete, die Verwandlung der Theologie in Vernunftphilosophie, die Toleranz, die Tendenz zur Annäherung der Kirchen und zum Interkonfessionalismus, den Machtverlust der Geistlichkeit durch nachlassende Religiosität und Kirchlichkeit der Gläubigen. Der Konflikt verschärfte sich nach 1803, weil die preußischen Reformbeamten unter Nutzung ihrer staatskirchlichen Kompetenzen versuchten, eine von der rationalisitischen Theologie geprägte katholische Geistlichkeit aufzubauen. Die Provinzialbürokratie unter v. Vincke suchte über staatskirchliche Eingriffe die katholische Kirche ebenso von ihren altständischen Orientierungen zu befreien, wie es ihr mit Hilfe des Berechtigungswesens in der Verwaltung gelungen war.^' Der 439

Konflikt entzündete sich an der Ausbildung der Theologen und die Hauptkampfinstrumente waren das Universitätskuratorium und das Generalvikariat, das für die Anstellung von Theologen wie auch für deren im Hinblick auf die als dringen notwendig erachtete Intensivierung der Religiosität des Volkes so außerordentlich wichtig gewordene Ausbildung verantwortlich war. Die der rationalistischen Theologie verpflichteten Professoren Wecklein, Sammelmann und Hermes, unter Vermittlung Ferdinand Augusts v. Spiegel und des Oberpräsidenten v. Vincke nach Münster geholt, wurden über das Generalvikariat von ihren Lehrstühlen verdrängt. Die Universität Bonn, Ende des 18. Jahrhunderts von ihrem Gründer Franz Wilhem v. Spiegel als aufgeklärte Gegengründung zur traditional katholischen Universität Köln aufgefaßt und zu dieser Orientierung mit der Wiedereinrichtung durch den preußischen Staat 1818 zurückkehrend, hat man, vor allem als Ausbildungsstätte für Theologenhier lehrte Hermes - , energisch bekämpft, zum Teil diffamiert; ebenso die Orden der Minoriten und Benediktiner, die auch der rationalistischen Theologie zuneigten. Dieser Kampf umd die Formung eines neuen Klerus waren im Grunde nur wenig verdeckte politische Richtungskämpfe, ausgetragen auf dem Gebiet der Religion; denn ohne Zweifel hätte sich eine von Hermes geprägte Geistlichkeit eher mit den Reformzielen der preußischen Bürokratie vermitteln lassen als die streng kirchliche, den Vorstellungen des Adels gemäße. Es war der Kampf um das die Kirche und damit auch seine Gläubigen bestimmende relilgiöse Weltdeutungsmuster, ein Konflikt um Lenkungsressourcen zur Schaffung von Massenloyalitäten zur Durchsetzung äußerst unterschiedlicher politischer Ziele.^® Der ständische Adel setzte sich in diesem Konflikt durch, behielt seinen Einfluß auf die Geistlichen und sicherte über das nach dem Ausscheiden Fürstenbergs mit Clemens August V. Droste-Vischering besetzte Generalvikariat das Fortwirken der,,Religion der Väter" in der Amtskirche. Nach dem Konkordat 1823 wurde bei der Vergabe der Bischofsstühle von Berlin sogar eine Entwicklung zugelassen und zum Teil bewußt unterstützt, die den ehemaligen Adel der Reichskirche auch in der neuen katholischen Kirche des Rheinlands und Westfalens führend machte. Später, nach der Abwehr des mit staatskirchlichen Mitteln gestützten Anspruchs der rationalen Theologie, wurde in ähnlicher Weise der französische Einfluß von Anhängern des französisch inspirierten Modells einer liberal-demokratischen Kirche (Lamennais, Monzalembert) und der ebenfalls liberal-demokratisch-orientierten Deutsch-Katholiken auf die geltenden orthodoxen Religionsvorstellungen ausgeschaltet.^^ Die katholische Religion erschien dem Adel als Fixpunkt der hergebrachten Weltorientierung im Wandel ringsum. An ihr, an der weiterhin hierarchisch strukturierten Kirche, und an der Stellung des Papstes, als der einzigen sicheren Autorität im Chaos der Irrtümer, war die allgemeine Auflösung trotz aller materiellen Verluste scheinbar spurlos vorübergegangen. Nachdem der Kaiser sein Amt niedergelegt hatte und die Identifikation mit dem protestantischen Monarchen nicht gelang, band der Adel seine Hoffnungen auf Wiederherstellung einer ständischen Gesellschaft an Papst und Kirche als den letzten Autoritäten der alten hierarchischen Welt. Inwieweit infolge der vielfachen Herrschaftswechsel, der Säkularisationsmaßnahmen und des zeitweilig erheblichen Einflusses rationalistischer Geistlicher und auf440

Härerischer Beamter die kirchliche Bindung der Gläubigen im katholischen Westfalen wirklich nachgelassen hat, ist noch weitgehend unerforscht. Sicher ist aber, daß in der Umbruchszeit insbesondere die ländlichen Schichten ihre Verunsicherung und N o t verstärkt über magisch-religiöse Vorstellungsinhalte und Kultformen, die nur zum Teil über kirchliche Institutionen integriert wurden, zu bewältigen suchten. Die von Adel und Geistlichkeit durchgesetzte strengkirchliche Bewegung mit dem Ziel einer Rückbindung des ,,Volkes", insbesondere der ländlichen Schichten, an Kirche und orthodox-mystische Religion durch religiöse Erweckung knüpfte bewußt an diese rückwärts orientierten Bedürfnisse der unaufgeklärten, ,,abergläubischen" Volksfrömmigkeit an und aktualisierte die traditionalen, sinnliche und magische Elemente stark betonenden Kultformen der katholischen Kirche: Bruderschaftswesen, Wallfahrten, Prozessionen, Wunderglauben. Intensivierte Pfarrseelsorge, seit den vierziger Jahren dann Exerzitien nach dem Vorbild der Jesuiten und Volksmissionen - vor 1848 von den Franziskanern, danach von den wiederzugelassenen Jesuiten durchgeführt - ergänzten das Programm, dem sich auch ein Teil des gebildeten Bürgertums nach anfängUcher Kritik anschloß. In den Volksmissionen der fünfziger Jahre haben die Jesuiten dann durch einen neuen Predigtstil, der die intensivierte Relgiosität der Bevölkerung eng an Vorschriften für das Verhalten im Alltag und in politischen Fragen zu binden suchte, die Sammlung der Gläubigen in der Kirche durch ,,Volksaufklärung" zumindest im ländlichen Bereich zu einem gewissen Abschluß gebracht.^® Die spezifischen Formen der Religiosität, die der Adel nach 1770 ausbildete, lassen sich in diesem Zusammenhang einerseits als Formen religiöser Bewältigung seiner Zeiterfahrung und seiner Familien- und Standesprobleme, andererseits aber auch als Vorformen des Religionsstils der von ihm stark geprägten streng kirchlichen Bewegung auffassen. Der Kreis von Münster ,entdeckte' neue verehrungswürdige Adelsheilige, die mittelalterlichen Mystiker, vor allem Thomas v. Kempen, und die Gründer karitativer, weltzugewandter Orden und Bewegungen, wie z. B. Franz von Sales, Vincenz von Paul und Carl von Borromeus, drei Heilige, die ihrem Orden eine auch im Sinne der Aufklärungskritik ,nützliche' Arbeit auferlegt hatten. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts richtete man seine Aufmerksamkeit auf Konversionen vom sich selbst als fortschrittlich einschätzenden Protestantismus zur alten, noch stark mittelalterlichen katholischen Kirche, Fälle, die in einer Zeit zunehmender Aufklärungskritik und aufkommender Romantik immer häufiger vorkamen. Die in ihrer Zeit heftig umstrittenen Konversionen der Fürstin Gallitzin (1785) und des Grafen Stolberg (1800) wurden für den Kreis von Münster und den von diesem Kreis in seiner Religiosität geprägten katholischen westfälischen Adels zur Bestätigung seiner Weltdeutung. In Biographien über Mitglieder des Kreises im Stil von Hagiographien wurde das vorbildliche Leben der Konvertiten, aber auch anderer Mitglieder des Kreises propagandistisch verwertet.^' Schon bald wurde der Kreis weithin als ,Urzelle' einer konservativen religiösen Erneuerung angesehen. Die steigenden psychischen Belastungen durch Revolutionskriege, Säkularisation, Auflösung der ständischen Verfassung und des alten Reichs sowie durch die französische und preußische Reformgesetzgebung absorbierten viel von der neuen kämpferischen Religiosität. Die Religionssicherheit wurde starken Belastungen ausgesetzt; 441

denn lange Zeit war Gott nur in der für den Adel wenig gewohnten Rolle des Strafenden erfahrbar. Eine weit verbreitete Reaktion war, in aiten Prophezeiungen über die Zukunft, vor allem in solchen über zukünftige, vom Westen ausgehende Kriege, Umstürze und das Ende der Welt, Orientierung zu suchen. Der Vater der Annette v. Droste-Hülshoff sammelte zwischen 1800 und 1806 solche chiliastischen Prophezeiungen in einem Buch, das er „Liber mirabilis" nannte; dieses w u r d e - wie damals üblich - in Abschriften oder Exzerpten an Verwandte oder in der Nachbarschaft wohnende Adelsfamilien verteilt. Annette v. Droste-Hülshoff sagte von diesem Buch: Dies ist sein Schutz und Orakel, bei dem er anfragt, wenn es in den Welthändeln konfus aussieht, und was nicht damit übereinstimmt, wird vorläufig mit Kopfschütteln abgefertigt.'"

Mit zunehmender Intensität der Auflösungs- und Entfremdungserfahrungen wuchs auch der Wunsch, durch ein Zeichen Gottes aus der Verunsicherung und Zukunftsangst ,erlöst' zu werden. Dina ν. Plettenberg-Lenhausen stimmte den Ahnungen ihres Bruders Franz zu, als sie am 20. 3. 1811 schrieb: Auch ich, lieber guter Bruder, schlage mich schon lange mit einer unüberwindlichen Ahndung herum, daß bald etwas ganz besonderes geschehen würde. Es nagt manchmal ordentlich, habe mich auch desfalls schon oft ins Examen genommen und glaube, daß es bloß in dem auch ganz unwiderstehlichen Wunsch liegt, der Allmächtige möge seinen Schutz und Seegen - auffallend zu erkennen geben, und wäre es auch durch eine wunderbare Bekehrung.

Ein Jahr später erhielt sie dieses Zeichen; denn seit 1812 erschienen am Körper der ehemaligen Nonne Anna Katharina Emmerich in Dülmen die Wundmale Christi. Das Wunder hat man aber nicht nur zur religiösen Selbstversicherung erhofft, es sollte auch in den ,,Tagen des Unglaubens" die indifferenten und die noch schwankenden Gläubigen zur Besinnung rufen und der ,,falschen Aufgeklärtheit" ein Ende bereiten.^^ Es wurde in dieser Funktion vom katholischen westfälischen Adel zunehmend auch als Propagandamittel zur Verbreitung und Festigung der Religiosität im , Volke' und als Kampfmittel gegen die auf Veränderung abzielenden sozialen Klassen und Schichten genutzt. Die verstärkte Sehnsucht nach einem die dünkelhaften, arroganten, selbstbewußten aufklärerischen gesellschaftlichen Kräfte widerlegenden, Kontingenz der konservativen Weltdeutung herstellenden Wunder schärfte die Aufmerksamkeit für Wunderberichte. Im Jahre 1821, zur Zeit des scharfen Konflikts zwischen dem Generalvikar Clemens August v. Droste-Vischering und dem Oberpräsidenten V. Vincke über die universitäre Ausbildung der Theologen, trat in Süddeutschland der Fürst von Hohenlohe wunderwirkend auf und auch dieses .Zeichen' löste auf der Ebene des Standes eine große Zahl intern solidarisierender Aktivitäten aus.^' Auch die Beweiskraft dieses Wunders wurde gegen die Gegner im gesellschaftlichen Bereich und gegen den die Kirche bedrängenden preußischen Staat zugleich gewendet.'" Dem Wunder verwandte Funktionenn der Selbstbestätigung und Demonstration wahrer Religiosität nach außen übernahmen die in Sterbeanzeigen und Totenbriefen geschilderten 5íer¿ejze«en. Neben der extremen Emotionalität, dem stärker empfundenen Schmerz über den Verlust des Sterbenden, der Rückschlüsse auf die gesteigerte Bedeutung emotionaler Familienbindungen zuläßt, ist die umfassende Schilderung des qualvollen, aber ,heiter' und gleichsam stoisch gefaßt ertragenen Sterbevor442

gangs an den Sterbeanzeigen auffallend. Es handelt sich bei diesen Schilderungen um die Wiederaufnahme einer alten Literaturtradition. Die „ars moriendi", die Kunst richtig zu sterben, wurde in zahlreichen im 15. und 16. Jahrhundert erschienenen Büchern ausführlich behandelt und gelehrt. Dabei wurde der äußere Verlauf des Sterbeakts als entscheidendes Kriterium für den Zugang zum ewigen Leben gewertet. Im Sterbezimmer vollzog sich im Kreis der Familie, auch der Kinder, der Verwandten und Freunde, das Sterben nach einem festgelegten Ritual. Bei Anwesenheit des bis zuletzt Versuchungen anbietenden Teufels auf der einen, Gottes und seiner Engel auf der anderen Seite des Bettes wurde der Modus des Sterbens zu einer Art vorweggenommenem Jüngstem Gericht. Im Sterbevorgang summierte sich das Leben des Sterbenden zu einem Urteil über Rettung oder Verderben : „Sein Verhalten beim Aufblitzen dieses flüchtigen Momentes tilgt mit einem Schlag Sünden seines ganzen Lebens, wenn er der Versuchung widersteht [z. B. sein Herz an nichtige Dinge zu hängen oder zu klagen H . R.] und macht alle guten Taten zunichte, wenn er ihr nachgibt. Die letzte Prüfung hat das Jüngste Gericht ersetzt."^' Mit dieser Bedeutung des Sterbeakts war die Möglichkeit gegeben, durch Sterbeschilderungen einen schwerwiegenden Beweis für die Richtigkeit der religiösen Überzeugung des Gestorbenen zu gewinnen und propagandistisch zu verbreiten; denn zumindest in der ländlichen Bevölkerung war die traditionelle Deutung des Sterbemoments noch präsent.®® Von der Mitte der zwanziger Jahre bis 1837 trat die religiös-politische Artikulationsform hinter die politischen Tageskämpfe auf dem Provinziallandtag zurück. Auch ließ der Druck des Staates auf die katholische Kirche seit dem Konkordat deutlich nach. Doch blieb diese Tradition in einzelnen, der Kirche besonders eng verbundenen Familien und Personen erhalten, z. В. in der Familie v. Droste-Vischering, aus der in dieser Zeit zwei Bischöfe hervorgingen, und bei den nachgeborenen Söhnen und nicht heiratenden Töchtern, die als Ordensgeistliche, Kapläne oder Pfarrer auf einer für den Adel neuen, unteren Ebene der kirchlichen Hierarchie, in engem Kontakt zur Bevölkerung, tätig wurden. Die Stammherrn dagegen neigten in der Mehrzahl, aufgrund ihrer mit staatlicher Hilfe erfolgreichen Politik auf den Provinziallandtagen, zunehmend zu einer gemäßigten Haltung gegenüber Preußen und bemühten sich, die religiös-kirchlichen Differenzen nicht unnötig zu betonen; sie hatten ihre Erfolge aber mit einer zunehmenden Verhärtung der Gegensätze auf dem Provinziallandtag erkauft. Zudem häuften sich die Angriffe gegen den Adel aus der Bevölkerung. In dieser Situation provozierte der Kölner Erzbischof Clemens August v. DrosteVischering wegen der Mischehenfrage den Konflikt zwischen katholischer Kirche und preußischem Staat. Das ,Kölner Ereignis' von 1837 führte innerhalb des Adels wieder zu einer eindeutigen Dominanz der religiös-politischen Tradition gegenüber der offen politischen. Er nahm nahezu geschlossen eine feindliche Haltung gegenüber Preußen ein und seine Empörung wußte er geschickt durch Anlegen von Trauerkleidung und Einstellung aller gesellschafdichen Veranstaltungen zu demonstrieren. Die Stoßrichtung der von Clemens August v. Droste-Vischering intendierten und initiierten Bewegung kennzeichnete Ferdinand C. H . v. Galen in seiner Autobiographie: 443

An den Worten Clemens Augusts: Gelobt sei Jesus Christus! Mir geschieht Gewalt! fanden zum ersten Mal seit der Reformation die Fluth der Verneinung, die Schaumblase des Indifferentismus und der Hochmuth des omnipotenten Staats eine felsenfeste Schranke .. Eine Schranke, welche die Gewässer dieser dreifachen Giftquelle, die sich im Gießbach der Revolution vereinigen, nie mehr zerstören können.^'

Uberdeckten in der Argumentation des Bischofs religiöse Argumente noch die politischen Motive, so kamen im Antrag des Grafen Westphalen auf dem Provinziallandtag 1841, der im wesentlichen nur vom münsterländischen Adel unterstützt wurde, offen politische, aus altständischen Quellen fließende und gegen den „omnipotenten" modernen Staat gerichtete Motive zum Ausdruck. Nach dieser Entgleisung - der Antrag schien in einzelnen seiner Passagen die Legitimität der preußischen Monarchie in Frage zu stellen - lenkte die politische Aktivität des Adels wieder stärker in religiöskirchliche Bahnen zurück. Höhepunkt de Politik einer Aufweckung der Indifferenten, aber auch Ansatzpunkt einer langfristigen Politik der Sammlung und Lenkung der katholischen Bevölkerung, wurde eine Wallfahrt, die Trierer Rockfahrt von 1844, in der sich das Motiv des offen kämpferischen Religionsbekenntnisses, der Selbstversicherung in einer Zeit starken Wandels, und eine die Überlegenheit der katholischen Religion demonstrierende Wunderbereitschaft verbanden. Es ist belegt „daß besonders der katholische Adel Westfalens in der Zeit der Rockausstellung nach Trier gefahren ist."^® Die Hauptattraktion der Wallfahrt war das Wunder an einer Nichte des Bischofs Clemens August v. Droste-Vischering. Eine neuere Untersuchung der Trierer Wallfahrt kommt zu dem Ergebnis: Die Trierer Wallfahrt stellt sich somit in sozial-geschichtlicher Sicht als eine Massenbewegung der unteren Gesellschaftsschichten dar, die vom katholischen Klerus und Adel inszeniert und begleitet wurde. Entgegen der Einheitsideologie kirchlicher Wallfahrtspropagandisten war das Bürgertum dagegen so gut wie überhaupt nicht daran beteiligt. Es stand vielmehr dem ,engen Bündnis' zwischen ,ultramontaner Geistlichkeit' und hohem Adel, das in der Wallfahrt zutage trat, ablehnend gegenüber.^'

Die politischen Intentionen des Adels gingen dahin, die .Irrlehren' des Liberalismus, konkretisiert im Provinzialbeamtentum und in den Abgeordneten des dritten und vierten Standes, die den Adel auf dem Provinziallandtag und in der gesamten Provinz zunehmend isoliert, vor allem die bäuerlichen Bevölkerung .verführt' hatten, zu widerlegen. Er wollte den Kontakt zu den breiten, vor allem den bäuerlichen Bevölkerungsschichten über gemeinsame Religion und gemeinsamen Kampf für die durch bürokratisch-absolutistischen Staat und liberale Bewegung gefährdete Kirche wiederherstellen. Die verstärkte Wendung zur Religion und Kirche hatte Erfolg; denn die Isolierung, in der sich der Adel bis 1837 befand, löste sich danach fortschreitend auf. Auch auf dem Provinziallandtag verloren die Meinungsgegensätze zwischen Adel und anderen Ständen an Schärfe und die Spaimung zwischen der Berliner Zentrale und der katholischen Kirche lösten sich in der Regierungszeit des konservativen Friedrich Wilhelm IV. relativ schnell wieder auf. Der ,Erfolg' war auch an den Angriffen liberaler und sozialistischer politischer Gruppierungen gegen die Rockfahrt abzulesen; zu Recht befürchteten diese, daß die Religionsintensivierung den Prozeß der Bildung eines po444

litischen Bewußtseins innerhalb der mittleren und unteren Bevölkerungsschichten aufhielt. Und in der Tat war dann auch die katholische Fraktion im Frankfurter und Berliner Parlament die sicherste Stütze der Konservativen. Der Spott über den Wunderglauben der weiterhin rückständigen Katholiken, der aus diesen Kreisen kam, unterstützte nur noch die religiös vermittelte Wende der ländlichen und städtischen Mittel- und Unterschichten im katholischen Westfalen ins konservative Lager.·*" Eine Gefährdung der Adelsbemühungen schien freilich von einer Entwicklung innerhalb der katholischen Kirche, der Entstehung der bürgerlich-liberalen Deutsch-Katholiken auszugehen, ,,die in dogmatisch-ideologischer Hinsicht und durch ihren anfänglichen Massencharakter die aufsehendste Antwort auf die Trier Wallfahrtbewegung" war.^^ Doch konnte diese politisch fortschrittliche religiöse Bewegung von ihren Führern nicht zu einer dauerhaften organisierten Gruppierung innerhalb des Katholizismus ausgebaut werden. Nach 1848 haben dann die Wiederaufnahme staatskirchlicher Bestrebungen (v. Raumersche Erlasse 1852) und die nach 1859 zunehmend offenere Kirchenfeindlichkeit des erstarkenden Liberalismus den Druck auf die katholische Kirche verschärft, das konservative Bündnis von Adel und Geistlichkeit gestärkt und die Loyalität der westfälischen Gläubigen mit ihrer bedrängten Kirche und dem Adel ihrer Region, der diese Kirche verteidigte, noch einmal erheblich gefestigt. In der ständischen Gesellschaft war „Freigebigkeit für die Dürftigen""^ eine der wichtigsten, in jeder Erziehungskonzeption berücksichtigten, in jeder Art von adligem Tugendspiegel besonders betonten adligen, aber auch allgemein religiösen Verhaltensnormen. Jedes adlige Haus besaß eine bestimmte Anzahl zu regelmäßigen und unregelmäßigen Armenspeisungen, z.B. im Anschluß an Seelmessen und Jahrgedächtnisse, erscheinender Hausarmen; oft gehörte zu einem Adelssitz auch ein festes Armen- und Krankenhaus. Dasselbe gilt von den einzelnen kirchlichen Institutionen, z.B. den Klöstern und Stiftern. Jedes Testament eines adligen Familienangehörigen, dessen Durchführung dem Stammherrn oder einer kirchlichen Institution oblag, enthielt umfassende Bestimmungen über Stiftungen oder Schenkungen zugunsten der Armen. Diese Armen waren ein notwendiger und anerkannter Bestandteil der ständischen Gesellschaft, denen auch eine gewisse Ehre zukam, wie aus Annette v. Droste-Hülshoffs Erzählung ,,Bei uns zu Lande" hervorgeht: Bettler in dem Sinne, wie andernwärts gibts hier keine, aber arme Leute, alte oder schwache Personen, denen wöchentlich und öfter eine Kost so gut wie den Dienstboten gereicht wird; ich sehe sie täglich zu dreien oder mehreren auf der steinernen Flurtreppe, ärmlich, aber ehrbar und keinen vorübergehen, ohne sie zu grüßen·*^.

Diese Armen, das wird in einer solchen Einstellung erkennbar, hatten in der ständischen Gesellschaft eine wichtige Funktion. Sie boten den Reichen und Vermögenden Gelegenheit zur aktiven Caritas, ermöglichten es ihnen, ,,mit irdischen Gütern sich Schätze für die Ewigkeit zu sammeln."'*'* In diesem symbiotischen Verhältnis zwischen Armut und Reichtum erhielt sich in Resten die Reichstumslehre des Thomas von Aquin, nach der umfangreiches Eigentum nicht dem Genuß einzelner vorbehaltenes Individualeigentum war, sondern nur ein zur Verwaltung von Gott als oberstem Eigentümer übertragenes Gut mit der Verpflichtung, dieses zugunsten des eigenen Seelenheils zu nutzen; eine Möglichkeit dazu war àìeLinderung der Armut, nicht de445

ren Aufhebung. Der Reiche hatte die Verpflichtung zur Caritas, der Arme ein Anrecht darauf und zugleich die Verpflichtung, seine Armut geduldig zu ertragen; denn sein Leiden gaben ihm ebenso die Gewißheit eines Nachlasses seiner Sünden wie dem Reichen seine frommen und karitativen Werke. Diese Konstruktion integrierte die Armen in die bestehende Gesellschaft, stabilisierte die hierarchische Ständeordnung. In der Realität führte sie dazu, daß - bei regelmäßiger Caritas und Teilnahme an den religiösen Veranstaltungen der Kirche - keine Spannung zwischen der Verpflichtung zur Caritas und dem erheblichen Prestigekonsum des Adels mehr auftrat. Die ersten Ansätze zur Neubelebung dieser Verpflichtung des Adels, einem der wichtigsten Träger des Reichtums in der ständischen Gesellschaft, zur aktiven Caritas finden sich im ,Kreis von Münster'. Die neuen , Adelsheiligen', die der,Kreis' wiederentdeckte, waren Gründer vom im Sinne der Aufklärung nützlichen Orden oder hatten sich durch hervorragende karitative Leistungen ausgezeichnet. Sie wirkten als Vorbilder, z.B. für Clemens August v. Droste-Vischering, der als Domherr 1812 bei einer Typhus-Epidemie im Lazarett zu Münster beispielhafte praktische Arbeit leistete und wenig später die Kongregation der Clemensschwestern gründete, eine Vereinigung von Frauen, die sich, ohne Gelübde, dem Dienst in Krankenhäusern, Altersheimen und karitativen Institutionen widmeten."' Nach 1803 kam es in der katholischen Kirche im Rahmen der einsetzenden ,Erneuerung' der katholischen Kirche auch zu einer Neubesinnung auf karitative Aufgaben, zum Teil auch gerade deshalb, weil viele der für diese Ziele bestimmten Einrichtungen, z.B. die Armenhäuser der Klöster und die Armenstiftungen, durch die Säkularisation verloren gegangen waren."^ Eine Vielzahl dem Dienst im Kranken-, Armen- und Waisenhäusern verpflichteter Orden wurde während des Vormärz, parallel zu der ansteigenden Not der ländlichen und städtischen Unterschichten, gegründet. In ihnen fand ein zunehmend anwachsender Teil der Adelstöchter ein neues Tätigkeitsfeld; auch die nachgeborenen Söhne, die Geistliche wurden, gingen in Orden oder wählten Pfarren, in denen sie die anwachsende Armut am wirkungsvollsten bekämpfen konnten. Der spätere Bischof Wilhelm v. Ketteier wünschte sich ausdrücklich die ärmste Gemeinde im Münsterland. Auf das Anwachsen der Not reagierte der Adel zunächst mit seinen herkömmlichen Mitteln der Armenpflege: Armenspeisungen, Schenkungen, Armenstiftungen, Ausweitung der Zahl der Hausarmen. Dazu kamen die Fürsorgeverpflichtungen des Grundherrn, Kirchen- und Schulpatrons, denen der Adel nachkam, auf denen der Bauer aber zum Teil auch ausdrücklich bestand, obwohl die grundherrlichen Bindungen in der Franzosenzeit aufgehoben, die Patronatsrechte eingeschränkt worden waren."® Es gab im wesentlichen drei Motive für die fortwährenden und im Vormärz nicht selten noch erheblich gesteigerten karitativen Aufwendungen des Adels, die ökonomisch, vom Profitsteigerungsmotiv her betrachtet, unsinnig waren. Zunächst vermochte man durch Aktualisierung einer traditionalen Verhaltensweise verlorengegangenes Ansehen zu ersetzen; dann war durch Leistungen auf diesem Gebiet wie bei der Religiosität insgesamt, eine deutliche Distanzierung vom aufgekommenen Geldbürgertum möglich und schließlich verbanden sich mit der adligen Caritas auch gegenrevolutionäre Motive; denn die große Not der Unterschichten - und damit diffe446

renzierte sich während des Vormärz die Analyse der Französischen Revolution, die um 1800,nur den Abfall des französischen Volkes von der Religion sah - schien ein wesentlicher Grund dafür zu sein, daß diese sich der Religion gegenüber indifferent, liberalen und sozialistischen Gedanken gegenüber zum Teil aufgeschlossen verhielten und ihre Armut nicht mehr als gottgegeben und demütig zu ertragende ansahen. Beseitigung des Elends und Festigung der Religiosität sollten die Verführbarkeit der Unterschichten auflösen. In einem Bittbrief an seine Standesgenossen vom 1 1 . 2 . 1 8 5 0 es ging um Unterstützung einer Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder - schrieb der Graf Bocholz: In voller Berücksichtigung des hohen Ausspruches, daß die Geisteskrankheit, welche den richtigen Blick so vieler Menschen trübt, nur durch die Lehren und Heilmittel unserer heiligen Religion dauernd beseitigt werden könne - , daß also die richtig geleitete Erziehung verwahrloster Kinder von größter Wichtigkeit ist, erkläre ich mich gerne bereit, für diesen Zweck zu wirken."'

Die Gesinnungsreform auf selten des Adels, seine gesteigerte Bereitschaft zu religiöser Lebensführung und Caritas, sollte die Gesinnungsreform der Armen, deren Bereitschaft zu geduldigem Ertragen ihrer Armut, bewirken und die soziale Frage lösen. Grundlage dieses Konzepts blieb die herkömmliche Interpretation der katholischen Kirche über das Verhältnis von Reich und Arm. Die Armen blieben jedoch, in Übereinstimmung mit der hergebrachten katholischen Lehre von der Armut, Objekt der von der Kirche geforderten Bereitschaft zur guten Tat. Hilfe durch milde Gaben dokumentierte wie bisher in symbolischer Form eine Gemeinschaft der Leidenden, die im Ergebnis für die Armen darauf hinauslief, ihre Armut hinzunehmen. Dieses Vorstellungsmodell wurde aber zur Erklärung der Realität unbrauchbar, war auch für die Verarmten selbst nicht mehr akzeptierbar, wenn Armut hart arbeitender Menschen zum Massenphänomen wurde. Die ältere religiöse Erklärung von Armut als Folge eines individuellen Schicksalschlags war dann ebensowenig brauchbar wie die jüngere merkantilistische, die Armut als Folge des Müßiggangs auffaßte. Und nach der Lehre der katholischen Kirche mußte die außerordentlich große Not der Pauperisierten Zeichen für deren gegenüber dem Adel bevorzugte Stellung im Jenseits sein. Dieses Ungleichgewicht provozierte die Erinnerung an die harten Urteile, denen im Neuen Testament der Reichtum ausgesetzt war. In Wilhelm v. Kettelers Brief vom 5. 6. 1842 an seine Schwester Sophie v. Merveldt, deren Ehemann enorme Summen für karitative Zwecke ausgab, hieß es: Wenn nur der übrige Adel überhaupt ein Beispiel an Ferdinand nehmen wollte, wie er die großen, ihm anvertrauten Güter für den Nutzen der armen Seele anwenden kann . . . Im Uebrigen ist dies aber noch ein entsetzlich fauler Punkt . . . Es lastet immer auf dem Reichsein ein schrecklicher Ausspruch des Herrn . . . Und in der Tat, wie selten möge der Wille und der Gedanke Gottes über die Verwendung unserer Güter mit der Wirklichkeit zusammentreffen, und dieser Wille ist es doch, nach dem einst unsere Handlungen gerichtet werden. Für die Zeit aber hast Du . . . einen Schmerz, der Dich den Armen gleich und noch unter sie gestellt hat [den Schmerz über den Tod des einzigen Kindes, H . R . ] ; und dafür sei Gott hoch gelobt; denn Du stehst nicht mehr unter dem Fluche jenes Ausspruches.'"

Wilhelm v. Ketteier sprach hier zwei Grenzen der adligen Caritas im Vormärz an. Zum einen waren die meisten Adligen nicht bereit, wie ihr Standesgenosse Ferdinand 447

Anton V. Merveldt, ihre karitativen Aufwendungen immer weiter, parallel zur stark ansteigenden N o t der Unterschichten zu steigern, zumal in dieser Zeit die notwendig gewordene Erweiterung und Arrondierung des Gutsbetriebs hoher Geldmittel bedurfte. Zum anderen waren sie auch nicht dazu zu bewegen, ihren von ihm kritisierten ,standesgemäßen' Prestigekonsum bei Besuch von Mitgliedern des Königshauses etc. zu reduzieren; denn von diesen Personenbeziehungen erhoffte man sich weitere privatrechtliche und politische Vorteile für den Adel, der auf dem Provinziallandtag in der Minderheit war.^^ Schon an ihren eigenen Familien mußten v. Ketteier und mit ihm die religiös und karitativ besonders stark engagierten Söhne und Töchter des Adels erfahren, daß eine Steigerung individueller karitativer Aufwendungen nicht beliebig weiterzuführen war.®^ Sollte dennoch eine Entlastung des reichen Adels vom „schrecklichen Ausspruch des H e r r n " stattfinden, so war, neben adliger Frömmigkeit und Caritas, nach weiteren Möglichkeiten zur Linderung der N o t zu suchen. Durch eine chrisdiche Gesinnungsreform und eine gesteigerte Opferbereitschaft der Besitzenden allein schien diese Aufgabe nicht lösbar zu sein. Das Ergebnis dieser Suche war ein zunehmend intensiviertes Engagement des Adels in Vereinen, die in enger Anlehnung an die Kirche die gegenwärtige und künftige N o t durch ,Hilfe zur Selbsthilfe' zu überwinden suchten. Statt N o t lediglich zu lindern, sollte nun zukünftige N o t verhindert und gegenwärtige beseitigt werden. Mit Adligen an vorderster Stelle, der Bruder des Bischofs und spätere Vorsitzende des Vereins katholischer Edelleute Wilderich v. Ketteier zeichnete sich dabei besonders aus, wurden in Münster in den vierziger Jahren ein Handwerksverein zur Finanzierung einer Krankenkasse für Handwerker und Tagelöhner, sowie ein Bürgerverein, der Darlehen an in N o t geratene kleine Handwerkerbetriebe vergab, gegründet. Darüber hinaus rief man eine Anzahl von offenen Spendenvereinen ins Leben, deren Aufgabe es war, weitere Institutionen dieser Art zu gründen und unverschuldet in N o t Geratene nicht nur finanziell zu unterstützen, sondern durch Unterweisung und Arbeitsunterricht, z.B. in Spinn- und Webschulen, wieder in die Gesellschaft zu reintegrieren. Diese Tendenz zu einer planerischen Sozialfürsorge und einer auf sozialökonomischer Analyse beruhenden Erklärung von Massenarmut wurde nach 1848 vom Adel fortgesetzt und mündete über die Zwischenstation des Schorlemerschen Bauernvereins schließlich, als auch die assoziative Selbsthilfe gegenüber den sozialen Problemen nicht mehr auszureichen schien, in die Sozialpolitik. Ein Neffe des Bischofs v. Ketteier, der Graf Galen, stellte 1877 im Abgeordnetenhaus den ersten sozialpolitischen Antrag, der von seinen münsterschen Standesgenossen, v. Landsberg-Velen, v. Schorlemer und v. Heeremann mit unterzeichnet war.'^ Seit dem Ende der fünfziger Jahre wurden aber gleichzeitig noch einmal die karitativen Aufwendungen des Adels erheblich gesteigert; Grundlage hierzu boten die nun reichlicher fließenden Ablösungsgelder. Ein großer Teil der Adelsfamilien ließ nun auch, wie die Familien v. Merveldt, v. Nagel und der spätere Bischof v. Ketteier schon vor 1848, Kranken- und Waisenhäuser in den ihren Wohnsitzen benachbarten Orten errichten. Auch über Testamente und Stiftungen flössen weiterhin erhebliche Geldmittel karitativen, vor allem kirchlich-karitativen Institutionen zu. Aktive Caritas, soziale Fürsorge und schließlich auch das sozialpolitische Engagement haben erheb448

lieh dazu beigetragen, daß der Adel vor 1848 die Kontakte zu den unteren und mittleren ländlichen bzw. städtischen Bevölkerungsschichten nicht verlor und eine in seiner Politik auf den Provinziallandtag angelegte Tendenz zur Isolation von den Bürgern der Stadt- und Landgemeinden nicht voll zur Wirkung kam. 1848 niußte er erkennen, wie gefährdet dennoch sein Ansehen sowohl in der städtischen als auch in der ländlichen Bevölkerung der Provinz war; spätestens seit Ende der fünfziger Jahre hat er deshalb die in seinen karitativ-sozialfürsorgerischen Traditionen angelegten integrierenden und legitimierenden Möglichkeiten in erheblich stärkerem Maße als vorher genutzt.®^

c)

Selbstbild

In der ständisch-höfischen Gesellschaft des Fürstbistums wurde das Selbstverständnis des Adels, der zur ständischen Mitherrschaft und zur Übernahme von Herrschaftsfunktionen in Region und Residenz überhaupt ausgezeichnet befähigte Stand zu sein, in einer Vielzahl von Alltagserfahrungen immer wieder bestätigt.®^ Es galt die allgemein akzeptierte Vorstellung eines in ,Blut' und Alter als geheimen, diffus bleibenden Kräften eingebundenen qualitativen Substrats, das seinen Trägern, den einzelnen Adelsfamilien und dem Adelsstand, hervorragende politische und ethisch-religiöse Fähigkeiten verlieh. Diese Vorstellung erzeugte über Traditionsbildung und den Mechanismus der self-fulfilling prophecy immer wieder dem Adelselbstbild entsprechende Verhaltensweisen und Leistungen der Standesmitglieder. In der Geistlichkeit mit ihrer umfassenden psychischen Gewalt über die Bevölkerung besaß der im geistlichen Stand herrschende Adel noch zusätzliche, besonders wirksame Propagandisten; so heißt es z. B. in der Leichenpredigt des Ferdinand v. Plettenberg-Nordkirchen von 1737: Wir müssen glauben, daß die Edele Gebuhn größere Bewegungen zu den Tugenden verursache, und daß in Heroischen Geschlechtern größere Krafft sey, als in den gemeinen; dan mit dem Adelichen Geblüt ist gemeiniglich der Adel des Gemühts vereinigt, und ist ihnen zur Tugend und löblichen Thaten eine große Antreibung, ja ein süßer Zwang die Tugend, und die herrliche Thaten der Anaten . . . Hohe Chargen, Ämbter und Bedienungen müssen vor anderen dem hohen Adel anvertrauet werden, dan sie von Natur geschickter darzu seynd.'®

Die Konsequenz dieser permanenten bestätigenden Erfahrungen und des Mangels an Anfechtungen war ein äußerst stark ausgeprägtes Überlegenheitsbewußtsein des Adels gegenüber den Angehörigen der anderen Stände. Als die Regierung vom Hofe aus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fortschreitend zugunsten der staatlichen Bürokratie an Bedeutung verlor, hat das das Selbstverständnis und Prestige des stiftsfähigen Adels nur wenig beeinflußt, weil er sich in starkem Maße durch seine Leistung als Herrschaftsstand und sein glänzendes,,hofloses Residenzleben" in Münster definieren konnte. Der Wandel seit 1770 hat dieses Selbstbild dann zunehmend belastet, irritiert. Auf die von außen an den geistlichen Staat herangetragene Adelskritik reagierten nur aber einzelne hellsichtige Adlige; und der Kreis von Münster, der für das Selbstverständnis des münsterländischen Adels entscheidend werden sollte, hat 449 29

Reif, Adel

das bürgerliche Konzept des Tugend- und Leistungsadels rezipiert und in das ständische Adelsideal integriert, ohne die Vorstellung eines werthaften spezifisch adligen Substrats aufzugeben. Nach 1815 hat der münsterländische stiftsfähige Adel zwar, gestützt auf das Verfassungsversprechen des Königs und Artikel 13 der Bundesakte, noch einige Jahre an der Fiktion einer möglichen Wiederherstellung des alten Adelsstandes durch die neuen Provinzialgesetze festgehalten, hatte die von seinen Anschauungen zum Teil außerordendich stark abweichenden Verfassungspläne seiner Umgebung negiert. Aber schon mit dem endgültigen Verlust der Hoffnung auf Wiederherstellung des alten Staats, mit dem zweiten Übergang an Preußen 1815, spätestens aber seit dem Erlaß der Gesetze zum Provinziallandtag seit den zwanziger Jahren, entstand für ihn das Problem, angesichts des Verlusts seiner Herrschaftsposition und der meisten seiner Privilegien eine neue Konzeption politischen Handelns und ein diesem Konzept entsprechendes neues Selbstbild zu entwicklen, über das eine Integration in den politisch und gesellschaftlich-moderner strukturierten preußischen Staat, in dem der Stiftsfähigkeit des Adels nur noch private, nicht aber politisch notwendige Bedeutung zukam, angestrebt werden konnte. Die zukünftige Lösung konnte bei einer Definition des Adels vom Staate oder von der Gesellschaft aus liegen oder aber versuchen, beide Bereiche auf neue Weise zu vermitteln. Es war für den Adel, der im 18. Jahrhundert einer strengen, die standesgemäße Subsistenz der Familienangehörigen sichernden Familienordnung gefolgt war und auch entschlossen war, diese um jeden Preis beizubehalten, keine Frage, daß die an das Alter der Adelsfamilie gebundene Vorstellung eines höherwertigen altadligen Substrats nicht aufgegeben werden durfte. Deshalb hat er die vom altpreußischen Adel verfolgte Konzeption eines vom Staat her definierten reinen Funktions- und Verdienstadels entschieden abgelehnt; er folgte aber auch nicht den Adelsplänen des Freiherrn vom Stein und weigerte sich, den am englischen Adel orientierten Gedanken einer Erweiterung oder Reduktion des alten Adels nach den Kriterien des Grundbesitzes oder des ,Verdienstes' auch nur in Erwägung zu ziehen. Andererseits lag diesem Adel viel daran, seine bis 1803 ungebrochene Tradition als politische Führungsschicht seiner Region auch unter den Bedingungen des preußischen Staates fortzusetzen. Es war für ihn ausgeschlossen, romantisch rückwärts gerichtet, das Landleben idyllisierend, sich in dichten englischen Parks versteckend, ein der Kunst und kulturellen Aktivitäten gewidmetes Rentnerleben zu führen, wie z. B. viele seiner süddeutschen und österreichischen S t a n d e s g e n o s s e n . E r wollte auch nicht vornehm politisch abseits stehen, wie es der stets zu politischer Aktivität drängende Freiherr vom Stein in den zwanziger Jahren bisweilen vermutete. Es war aber sein Wunsch, als anerkannt politisch und ethisch höherwertige Führungsschicht, tätig zu werden. Von diesem Standpunkt aus lehnte der Adel die Reduktion seiner Existenberechtigung auf Dienstfunktionen zugunsten des Landesherrn oder des Staates ebenso scharf ab wie die vom Bürgertum vertretene Konzeption des Naturrechtes, der allgemeinen Menschenrechte und der Volkssouveränität. Sein Recht blieb das alte, der Substratsvorstellung entsprechende, durch die Inhalte der katholischen Religion am besten zu rechtfertigende Privilegienrecht und unter Freiheit verstand er wie bisher ständische Freiheiten. 450

Ein hoher Grad interner Geschlossenheit der den politisch handelnden Stand bildenden Familienhäupter - auf der Ebene der Familie gab es dagegen während des Vormärz noch erhebliche Disziplinierungsprobleme- und ein stark ausgeprägtes Bewußtsein, durch die Aufhebung des alten Staates großes Unrecht erlitten zu haben, erlaubten dem alten katholisch-westfälischen Adel, starken und dauerhaften Widerstand gegen die Zumutungen des reformierenden preußischen Staates zu entwikkeln.^' In einem ersten Schritt suchte er seine altständische Identität intern dadurch abzusichern, daß er sich als eine,Familie' innerhalb des neuen Ritterstandes begriff.®' Doch mit nun tendenziell ,privaten' Organisationselementen wie gemeinsame Erinnerung und Gesinnung, enge Heiratsbeziehungen und exklusive Geselligkeit in Vereinen ließ sich der alte Adel auf Dauer nicht gegen Auflösung und Verlust seiner Identität schützen. Deshalb strebte man im Verein mit dem rheinischen Adel, bekämpft von der Provinzialbeamtenschaft und vom Bürgertum, soweit es liberal orientiert war, energisch weitere rechdich gesicherte Vorzüge an, sobald sich in Berlin ein Entgegenkommen gegenüber solchen Wünschen zeigte. Die Autonomie in der Regelung von Erbschaftsangelegenheiten sollte nur ein die Familienordnung, die wichtigste Grundlage des alten Standes, absichernder erster Schritt sein. Nicht die von Schule, Universität, Beruf und bürgerlich-adligen Vereinen - bei aller Distanz, die der Adel sich in diesen Bereichen auferlegte - vermittelte Erfahrung der Möglichkeit eines gleichberechtigten Umgangs mit den oberen Schichten des Bürgertums, sondern die Familienerfahrung der Umbruchszeit, die auf Distanzierung und Wahrung altständischer Identität eingeschworene ,Familienlösung' bestimmte das Handeln des Adels auf politischer Ebene. Einerseits wurde über die Substratsvorstellung die herkömmliche Familienordnung und der alte Adelsstand abgesichert, andererseits war es aber auch, unter Verarbeitung der konservativen Adelsreformpläne der Zeit, die vorwiegend über den Freiherrn v. Stein vermittelt wurden, möglich, eine Aufgabe des Adels im preußischen Staat zu konstruieren, auf der die Politik einer Wiederherstellung des alten Adels aufgebaut werden konnte. Man übernahm, aber eingeschränkt auf den alten Adel, die durch v. Stein modifizierte Vorstellung Montesquieus vom Adel als dem Mittler zwischen Volk und Thron. Danach sollte der alte grundbesitzende Adel als Träger der Prinzipien der Tradition und höheren Sittlichkeit einerseits den Staat vor deqi Neuerungsgeist der Mittelschicht, des neuen gefährlichen,,abstrakten' Theorien anhängenden Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums, und der Habsucht des .Pöbels' schützen, andererseits aber auch das Volk vor der Willkür des absoluten Monarchen und der landfremden, die .herkömmliche' Ordnung häufig gering achtenden Bürokratie des absolutistischen Staates. Die Berechtigung zur Übernahme dieser Aufgabe wurde aus der besonderen, ererbten Gesinnung des Geburtsadels abgeleitet, seiner Fähigkeit, jederzeit auf individuelle Bedürfnisbefriedigung und augenblicklichen Lebensgenuß verzichten, uneigennützig handeln und unabhängig urteilen zu können. Diese ererbten Eigenschaften und nicht der große Grundbesitz allein machten den alten Adel, wie es der Führer der rheinischen Autonomen, der Freiherr v. Mirbach, formulierte, zum .natürlichen' Vertreter des Allgemeinwohls: Es gibt Familien, unter den die Erhabenheit der Gesinnung und der Handlungen erblich ist. in deren edlem Geschlecht große Tugenden vom Enkel bis zum Urahnherrn aufbewahrt werden 451

solche Geschlechter sind die Säulen des Staates. Das allgemeine Wohl zu fördern, ist das würdigste Streben des edlen Mannes.'" Bis Ende der zwanziger, Beginn der dreißiger Jahre besaß diese Konzeption für den katholischen westfälischen Adel einen Anschein von Realität; denn der Adel verteidigte die katholische Kirche entschieden gegen staatskirchliche Eingriffe der preußischen Verwaltung und wandte sich gegen Beamtenwillkür in der Kataster- und Steuerfrage. In Wirklichkeit ging es hier aber weniger um den Schutz der Verwalteten insgesamt als um den Kampf zweier konkurrierender Eliten um die Führung in der Landesverwaltung; denn die liberale Provinzialbürokratie, die sich selbst ebenfalls als Stand des Allgemeinwohls, als Vermittlerin zwischen Monarchie und Bevölkerung sah,®^ hatte auf der Ebene der Regierungen die adlig-ständischen Verwaltungstraditionen völlig ausgeschaltet und auf der Ebene des Kreises stark eingeschränkt. Der Oberpräsident v. Vincke unterstellte dem Adel 1833 einen Plan, der darauf hinauslaufe, die Diener des Königs dem Landesherrn verdächtig zu machen und der Regierung das Vertrauen der Untertanen zu rauben . . . [deshalb werde] der religiöse Zwiespalt genährt, darum über Steuerdruck geschrien, darum das Volk durch Rede und Schrift bearbeitet, Unterschriften gesammelt und erschlichen, des Königs Majestät mit Denunziationen unter verfälschter Unterschrift ehrenwerter Personen behelligt und darum die Staatsverwaltung und die einzelnen Beamten mit den giftigsten Schmähungen verfolgt." Dieser Plan hatte jedoch deshalb keinen Erfolg, weil der Adel daneben auf den Provinziallandtagen eine eng auf Wahrung der Standesinteressen gerichtete Politik vertrat; dadurch enthüllte sich das Konzept des Adels als eines Verteidigers des Gemeinwohl den Deputierten des dritten und vierten Standes auf dem Provinziallandtag als partikularen Interessen verpflichtete Ideologie, so daß die Gegensätze während der Sitzungen immer schroffer aufeinander prallten. Annette v. Droste-Hülshoff faßte das Ergebnis ihrer Beobachtungen über die Landtagsverhandlungen in den dreißiger Jahren zusammen, als sie am 20. 7. 1841 über ihre Standesgenossen schrieb: Es ist traurig, daß so sehr viel Verstand und Geistesunabhängigkeit dazu gehört, das Allgemeine aufzufassen, und die ehrlichsten Leute, die sich nicht mit Milhonen bestechen ließen, doch ihr zerbrochenes Töpfchen immer für den Hauptschaden halten. Gutsbesitzer-Kaufmann-Städter : Jeder stimmt für sein Interesse. So machen sie sich einander kaputt und das Resultat ist, daß alle mit gleich langer Nase abziehen." Einerseits die Erfahrung zunehmender Konflikte mit dem dritten und vierten Stand, seiner Isolation auf dem Provinziallandtag und des Anwachsens adelsfeindlicher politischer Orientierungen in der münsterländischen Bevölkerung, andererseits die 1830er Revolutionen, und die Erfolge, die sich durch Umgehung des Provinziallandtags, durch persönliche Kontakte in Berlin erzielen ließen (Kreistagsordnung, Besetzung der Landratsämter, Disziplinierung der Provinzialbeamten, Besetzung der Bischofsstühle etc. haben bewirkt, daß die neue Generation der Stammherrn seit Anfang der dreißiger Jahre die Mittlerkonzeption aufgab. Aus den ,,Mittlern zwischen Volk und Monarchen", den „Säulen des Staates" wurde nun der extreme Verfechter des Legitimitätsgedankens gegen alle „Mächte der Bewegung", die „Mauer vor dem T h r o n " . Die Sicherung und Bewahrung persönlicher Verbindungen nach Berlin, vor allem zum Kronprinzen, wurde nun zum primären Ziel der politischen Aktivitäten. 452

Die Fahrten nach Berlin wurden regelmäßiger, der Prestigekonsum bei Besuchen von Mitgliedern des Königshauses in der Provinz steigerte sich außerordentlich.®* Die Schwierigkeiten, die dieser Identifikationsbewegung mit der Tendenz zur Hofpartei aber deutlich entgegenstanden, lagen in der Religion und in den starken ständischen, Selbständigkeit noch bewertenden Traditionen begründet. Die außerordentliche Bedeutung der katholischen Religion und Kirche für Weltorientierung und Verhaltensstabilisierung des Adels ließ deren Relativierung zugunsten einer stärkeren Identifikation mit Preußen nicht zu. Alte Reichstraditionen und die Orientierung an Ämtern im österreichischen Heer kam bei vielen Familien als weiteres Hindernis hinzu. Das neue Adelskonzept ging deshalb dahin, durch Weckung und Lenkung der Religiosität der Bevölkerung in konservativem Sinne das Selbstbild als relativ autonomer Schützer des Throns und damit die Protektion aus Berlin gegenüber dem Monarchen zu rechtfertigen.®^ In den Autonomieverhandlungen tauchen die Versprechen, für die Wahrung christlichen Glaubens im Stand und in der Provinz zu kämpfen und den Thron zu schützen immer in enger Verbindung auf. Aber zugleich war der Adel auch fernerhin - analog zur Situation vor dem Konkordat von 1823 - nicht bereit, Eingriffe in die Autonomie der katholischen Kirche zuzulassen, da er damit die Grundlage seiner Weltorientierung, seine Rechtsvorstellungen, die im Familienbereich durchgesetzten Verhaltensorientierungen, aber auch eine wichtige Grundlage relativ autonomen Handelns gefährdet hätte. Religion und Kirche waren die sichere und sichernde Basis, von welcher aus der Geburtsadel seine führende Stellung auch im preußischen Staate bewahren wollte. Eingriffe dieses Staates, dem man gerade erst zu trauen begann, in kirchliche Kompetenzbereiche, mußten- in Erinnerung an die adelsfeindlichen Reformen des preußischen Staates nach 1803 bzw. 1815 und im Bewußtsein einer noch weiterhin adelsfeindlichen Provinzialbeamtenschaft - das Mißtrauen dieses Adels und die Furcht vor einer ,Protestantisierung' aufs neue wecken. Die Schärfe des Konflikts von 1837 darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Adel auch weiterhin am Konzept einer engen Verbindung zum Monarchen, zum Hof und zur Ministerialbürokratie in Berlin festhielt. Das verstärkte Bemühen um eine religiöse Aufweckung des Volkes, vor allem aber die Trierer Rockfahrt von 1844 sollten dem Monarchen die Nützlichkeit von Adel und konservativer Geisdichkeit als Führern einer antirevolutionären katholischen Bevölkerung noch einmal verdeutlichen.®® Und die Kirchenfreiheit, für die man kämpfte, meinte nicht Freiheit der Kirche vom Staat, Trennung von Staat und Kirche im liberalen Sinne, sondern ein arbeitsteiliges partnerschaftliches Verhältnis, in der eine von der Staatsspitze relativ unabhängige Kirche in Harmonie mit staatlichen Grundzielen, in Seelsorge, Fürsorge und Erziehung staatserhaltend, integrierend tätig wurde.®^ Aber das Kölner Ereignis von 1837 hatte dem Adel noch eine weitere Erfahrung vermittelt: Die in den breiteren Bevölkerungsschichten noch immer bestehende Anerkennung seiner Rolle als Führungsschicht bei einer Gefährdung der Kirche durch den Staat, bei einer Vertretung der religiösen Interessen der Bevölkerung gegenüber dem Staat. In seinem Roman ,Die Ritterbürtigen' läßt der durch seine Freundschaft mit Annette v. Droste-Hülshoff in die internen Adelsangelegenheiten eingeweihte Levin Schücking einen jungen Adligen während einer Diskussion sagen: 453

Wie hat nicht unser Einfluß sich gehoben, seitdem wir in dem kölnischen Zerwürfnisse männlich und nachdrucksvoll die populäre Meinung dieses Landes vertraten?^®

Das Wissen um die außerordentliche Integrationskraft der Religion in Phasen der Bedrängnis von Religion und Kirche war dem Großteil des Adels in den Kämpfen der zwanziger und dreißiger Jahren auf dem Provinziallandtag verloren gegangen. Seit 1837 bestand und wuchs neben der älteren deshalb eine neue Konzeption, die aus der Orientierung an starrer Verteidigung bzw. Wiedererlangung alter Rechte mit Hilfe des Monarchen und damit aus der selbstverschuldeten Isolation herausführen sollte." Nach 1848 setzte der Adel zunächst seine H o f f n u n g auf eine reaktionäre Wende zurück zu den Zuständen vor der Revolution und geriet damit in große Nähe zur überkonfessionell-konservativen Bewegung, die die Regierung Manteuffel/v. Westphalen trug. 1853 schieden die westfälischen Adligen aus der in ihren Grundorientierungen in starkem Maße ebenfalls konservativen Katholischen Fraktion der zweiten Kammer, des späteren preußischen Abgeordnetenhauses, aus, weil die anderen katholischen Abgeordneten - an der Erhaltung der Kirchenfreiheit, und das hieß zugleich an Vereinigungsfreiheit, Pressefreiheit etc. interessiert - zusammen mit den Liberalen, aber keineswegs in Übereinstimmung mit deren grundlegenden Prinzipien, die Verfassung verteidigten. 1859 wurden die Liberalen regierende Partei. Ihre nun deutlich hervortretenden kirchenfeindlichen Prinzipien, bisher durch das Defensivbündnis mit den katholischen Abgeordneten nur verdeckt, führten die Katholische Fraktion und die Konservativen, die in der Mehrzahl der politischen Fragen wesentlich besser übereinstimmten, zunehmend enger zusammen. Mit dem Konflikt um die Heeresreform erstarkte der Liberalismus, verlor der größte Teil der Abgeordneten der katholischen Fraktion, die in diesem Konflikt zu keinem einheitlichen Votum gelangen konnte, in der Wahl von 1862 sein Mandat. Auf der Ebene der Region hatte sich seit dem Ende der fünfziger Jahre, über Aktivitäten in karitativen und religiösen Vereinen, auf Katholikentagen und anderen Versammlungen der katholischen Laienbewegung, aber auch in den reinen Adelsvereinen die Rückkehr des katholischen westfälischen Adels zu umfassender politischer Aktivität vorbereitet. Voraussetzung dieser Wende waren die neuen staatskirchlichen Bestrebungen des preußischen Staats nach 1848, die die Hoffnung auf ein konservatives Bündnis von katholischer Kirche und preußischer Monarchie endgültig als illusionär erwiesen, Bismarcks Bündnis mit den Liberalen und seine aggressive Politik gegen Österreich, der konkreter werdende Interessengegensatz zwischen Industrie und Landwirtschaft und nicht zuletzt auch die langsame Entspannung des Verhältnisses zu den Bauern durch den Abschluß der Besitzerweiterungs- und Arrondierungspolitik Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre und die endgültige Regulierung der Ablösungsfrage über die Konflikte reduzierende Einrichtung der Rentenbank (1850). Mitdem nach 1850 verstärkten Übergang zum inneren Ausbau der erweiterten, arrondierten Eigenwirtschaft, zur Melioration des noch unfruchtbaren Landes und zur Intensivierung der Land- und Viehwirtschaft insgesamt bildeten sich bald eine Vielzahl gemeinsamer, vor allem gegen die Industrie gerichteter Interessen mit den Bauern aus. Durch seine Vereinsaktivitäten als Führer der katholischen Laien und patriarchali454

scher Lenker der Bauern legitimiert, der Loyalität großer Teile der katholischen Bevölkerung, insbesondere aber der Bauern schon relativ sicher, initiierte der katholische westfälische Adel in führender Stellung, zusammen mit Vertretern der Geisdichkeit und des höheren katholischen Beamtentums der Region über die sogenannten ,,Soester Konferenzen" (1864-66), nach der Auflösung der Katholischen Fraktion, die Gründung einer katholisch-konservativen Partei, des späteren Zentrums, und definierte sich damit endgültig über Funktionen und Loyalitätsbeziehungen im gesellschafdichen Bereich.^" Das neue Selbstbild zeichnete einen durch Uneigennützigkeit, Opferbereitschaft und vorbildhafte Religiosität sich vor allen anderen Sozialgruppen auszeichnenden Adel, der sich als ein Teil - durch patriarchalisch-vorbildhafte Verhaltensweisen enge gesellschaftliche Verflechtung und spezifische Großgrundbesitzerinteressen deutlich von seiner Umgebung abgehoben - des konservativen Berufsstands der katholischen Bauern verstand, sich zunehmend mehr in katholischen und Bauernvereinen organisierte, und auf der Grundlage katholischer Ethik und berufständischer Gesellschaftsvorstellungen, in harter Abwehr des Liberalismus und staatlicher Bevormundung, sich stärker für die sozialen und politischen Probleme seiner Zeit und seiner Region als für die Erhaltung seiner Privilegien, die er nun zum Teil sogar aufzugeben bereit war, interessierte. Das Schwergewicht in der ursprünglichen Mittlerposition verlagerte sich nunmehr eindeutig in den gesellschaftlichen Bereich.^^ Das Konzept der geschlossenen politischen und sozialen Elite- denn von der adligen Substratsvorstellung und seinen sozial distanzierenden, politisch hierarchisierenden Konsequenzen ging der Adel, wie auch die weiter beibehaltene Zweigleisigkeit der Vereinsaktivitäten zeigt, auch jetzt nicht ab - wurde nun nicht mehr durch die Protektion des Königs sondern durch die Kirche, die Geistlichkeit und Massenbasis der katholischen Bevölkerung, insbesondere der Bauern, abgestützt. Die verstärkte Hinwendung des Adels zur Kirche intensivierte auch den Zug der Adelssöhne- und töchter in die kirchlichen Positionen. Der Freiherr v. Schorlemer sah 1866 in dieser von der engen Berlin-Orientierung abrückenden Tendenz die endgültige Konsolidierung der ausgezeichneten Stellung des alten Adels in der neuen Gesellschaft: M i t g u t e r H o f f n u n g d a r f d e r k a t h o l i s c h e A d e l i n d i e Z u k u n f t b l i c k e n , wenn er sieht, wie . . . Söhne seiner Familien in den Welt- und Ordensklerus eintreten, seine Töchter ein behagliches Leben in dem Dienst der Armen und Preßhaften vertauschen. Hier ein Bischof, mächtig in Wort und Tat . . . gegen die zügellosen Feinde der katholischen Kirche Deutschlands mutig ankämpfend, d o n ein Landpfarrer, der als der Erstgeborene auf das Erbe der Väter verzichtete, um als Erbteil den Herrn zu wählen und als einfacher Priester in demütiger Stellung dem HimmelSeelen zu g e w i n n e n . "

Entsprechend der neuen Rolle des Adels wurde nun die Unabhängigkeit seiner Gesinnung und seines Charakters zum häufig betonten Grundwert, ebenso seine Bindung an Haus, Land und landwirtschafdichen Betrieb." Der Typ des eifrigen Hofgängers blieb in diesem Adel selten. Bei Besuchen des Königs in der Provinz repräsentierte der Adel auf seinen luxuriösen Festen in erster Linie sich selbst als Führungsschicht der Region. Schorlemer ging 1866 sogar so weit, das Konzept eines Hofadels und den Versuch, den Adel durch Krone und Regierung zu stützen, als .krankhaft' zu 455

kennzeichnen. Der Adel sollte in ,Volk' und Kirche seine wesentlichen Stützen, in christlich sozialer Aktivität und vorbildhafter, selbst geführter Landwirtschaft seine wichtigsten Aufgaben haben. Der Erfolg des Konzepts läßt sich aus einem rückwärtsund einem vorwärtsschauenden Urteil zweier münsterscher Adliger ablesen. Am 3.4. 1880 hieß es in einer Rede Ferdinands v. Galens vor dem Verein katholischer Edelleute: Bei der Grundlegung unserer Vereinigung . . . war der Adelsstand verhaßt . . . Man drängte uns aus dem sozialen Leben. Von den anderen Ständen waren wir getrennt. Aber wir hatten bewahrt unseren Glauben, sittliches Leben und christliche Tradition sowie Unabhängigkeit des Charakters. Diese Schätze enthielten eine gewaltige Kraft in sich."*

Und in einer Rede vor demselben Vereine 1874 über ,,Die politische Lage und die Wahlen" verwies Max v. Oer, die gegenwärtige Stellung des Adels thematisierend, stolz auf die starke Position des katholischen Adels Bayerns, Schlesiens, Westfalens und Rheinlands im Reichstag, trotz der für diese Institution geltenden direkten Volkswahl, und resümierte: So darf man wirklich sagen : Der Adel besitzt das Vertrauen des Volkes in einem Maße, wie nie zuvor; und kein Stand kann im Verhältnis seiner Zahl auch nur annähernd sich mit ihm messen.

Aber das Element des Adels sei nicht nur in großen Köφerschaften stark vertreten: Wir finden dasselbe in Kreisen, Gemeinden, bei katholischen und landwirtschaftlichen Versammlungen. Die Ursache dieser Erscheinung, m. H . ! ist ja nicht schwer zu finden. Seit der Adel anfing, sich zu erinnern, daß er in seiner Provinz Pflichten zu erfüllen habe, als der Adel seine Uneigennützigkeit dokumentierte, ergoß sich alsbald Gottes reicher Segen über ihn und das Volk hob ihn auf den Schild, schneller und entschiedener, als man es nach den Jahren der Revolution von 48 für möglich gehalten haben sollte."

E. Zusammenfassung und Ausblick Schon früh, und zunächst im Familien- und Erziehungsbereich, reagierte der stiftsfähige Adel auf die nach 1770 sich immer deutlicher abzeichnende Adelskrise. Die Einbußen an familialer und ständischer Kontroll- und Sanktionsgewalt wurden durch Erhöhung der innerfamilialen Kohäsion und den intensivierten erzieherischen Zugriff auf die Psyche der Kinder ausgeglichen. Die Verzichtsdisziplin blieb erhalten, das Besitzsicherungs- und Heiratssystem war nun durch selbständige Zustimmung der Beteiligten gesichert. Die Aktivierung familialer Ressourcen, die adelsspezifische Anverwandlung des bürgerlichen Familien- und Erziehungsmodells, schufen eine Grundlage für die Selbsterhaltung als Führungsschicht im preußischen Staat. Die dem Entschädigungsprinzip folgende französische und preußische Agrarpolitik begünstigte' 4en adligen Berechtigten, verhinderte krasse Verluste im Grundbesitz, stützte eine trotz aller Widerstände erfolgreiche Rationalisierungs-, Landankaufs- und Besitzkonsolidierungspolitik, die Verknüpfung von selbstbewirtschaftetem eigenem 456

Betrieb und Zeitveqjachtung angekaufter bzw. neu eingerichteter Bauerngüter, sicherten die fortdauernde ökonomische Stärke dieses Adels, waren aber auch Grundlage seiner den Verlust der älteren Mitherrschaftsansprüchen teilweise kompensierenden erneuten Privilegierung als alter Adel und dominierender Teil des neuen Stands der Rittergutsbesitzer; eine Entwicklung, die von BerUn aus immer stärker gefördert wurde. Letzlich einflußlos blieb aber diese Förderung auf der letzten wichtigen Ebene der bis 1770 außerordendich bewährten familial-ständischen Organisation, der Ebene der Ämter; denn der vom preußischen Staat ausgehende Anpassungsdruck war hier weder zu unterlaufen, noch löste er sich mit der konservativen Wende seit den zwanziger Jahren von selbst auf. Hier waren die Verluste an Einfluß, Prestige und Einkommen äußerst schmerzhaft. Die nachgeborenen Söhne scheiterten mehr oder weniger krass an inneren und äußeren Barrieren vor dem Weg in die neuen staatlichen Berufe. Damit blieb die Wiederherstellung der Familienordnung an einer entscheidenden Stelle inkomplett. Die nach 1770 zahlenmäßig stetig wachsende Gruppe der nachgeborenen Söhne, die zumeist ihren Verzicht auf Erbe und Heirat erst über einen schwierigen, durch familiale und religiöse Bindungen entscheidend beeinflußten inneren Kampf akzeptiert hatten, konnten die Erwartung von Familie und Standesgenossen nicht erfüllen, gewannen das Odium des Scheiterns zu ihrer bisherigen Last hinzu, wenn sie nicht, wie ein Teil es dann tat, den Beruf des Geisdichen ergriffen, und, sich fest an das Programm der kirchlichen Erneuerung bindend, auf der untersten Ebene kirchlicher Organisation aktiv wurden. Eine sich wieder verstärkende Distanz zum preußischen Staat, ein anhaltender Konflikt mit der Provinzialbürokratie, eine festere Bindung an die katholische Kirche und eine große Zahl freigesetzter, aggressiver, das institutionell und rechtlich wenig abgesicherte familiale Verzichtsprinzip latent in Frage stellender nachgeborener Söhne waren die wichtigsten Konsequenzen der unvollständig bleibenden Wiederherstellung der älteren Familien- und Standesorganisation. Die zweite harte Barriere vor der Identifikation mit dem preußischen Staat war dessen staatskirchliche Tendenz. Orthodox-mystische Religionsvorstellungen und eine darauf gegründete ständisch-konservative Weltdeutung waren seit der Umbruchszeit die Basis der erneuerten Adelsorganisation, Grundlage familialen, erzieherischen, standessolidarischen und aktiv-standespolitischen Verhaltens. Die Verzichtsdisziplin ruhte auf diesem Fundament und die H o f f n u n g des Standes, sich als weltliche und geistliche Führungsschicht einer konservativ-staatstragenden katholischen Kirche in relativer Selbständigkeit mit der peußischen Staatsführung zu vermitteln. In einem engagierten, hartnäckigen Abwehrkampf hatte das Bündnis von Adel und konservativer, von ihren adUgen MitgUedern stark geprägten Geistlichkeit die orthodox-konservative religiöse Weltdeutung gegen aufklärerische und liberale Kräfte im Klerus und der katholischen Laienbewegung verteidigt, und hinter den staatskirchlichen Eingriffen - so wurde aus Erfahrung nicht zu Unrecht befürchtet - stand ebenfalls die Zielsetzung, den ständisch-konservativen Sozialgruppen das religiöse Weltdeutungsmonopol und die damit gegebenen politischen Lenkungsmöglichkeiten zugunsten liberaler und bürokratisch-zentralistischer Orientierungen zu entreißen. Ein Angriff auf die gegebene Kirche war so ein Angriff auf den Adel und entsprechend 457

scharf waren die Abwehrreaktionen des Standes und die weitere Distanzierung von der Staatsführung. Drei distanzierende Negativerfahrungen - die Verluste der Umbruchszeit um 1800, das Scheitern der Söhne in den neuen staatlichen Berufen und die Bedrohung der eigenen kirchlich-religiösen Machtpostion durch staatskirchliche Eingriffe - konnten durch die einzig verbleibende positive Integrationsklammer mit der Staatsführung, die vom Hof, insbesondere vom Kronprinzen ausgehende reaktionären Adelsschutzpolitik des Vormärz, nicht ausgeglichen werden; und zwar deshalb, weil sich dem Adel in den landwirtschaftlichen bzw. katholischen Vereinen und in der katholischen Kirche mit ihrer effektiven überregionalen Organisation relativ unerwartete umfassende Möglichkeiten des quasi-politischen Handelns als Führungsschicht eröffneten. Kölner Kirchenstreit und Vereinsaktivitäten erwiesen die außerordendiche Organisationspotenz der katholischen Religion und die Möglichkeit zur Solidarisierung mit breiten Teilen der ländlichen und städtischen Bevölkerung der Region auf konservativer, gegen modernen Staat und liberale Bewegung bzw. industriekapitalistische Tendenzen gerichteter Grundlage. Statt sich als Vermittler staatlicher Ziele an die patriarchalisch gelenkte ländliche Bevölkerung oder als Führer der konservativen, den Thron schützenden katholischen Gläubigen mit dem preußischen Staat zu vermitteln, distanzierte sich der katholische westfälische Adel vom Staat und definierte sich als von staatlichen Bindungen relativ unabhängige, traditional-paternalistisch und kirchlich-sozialpolitisch legitimierte regionale, agrarische und kirchliche Führungsschicht, die, gestützt auf eine über Organisationsformen der Gesellschaft - expandierendes Vereins-, Verbands- und Parteiwesen und erneuerte katholische Kirche - gewonnene Massenloyalität, in den Parlamenten sowie gegenüber Hof und staatlicher Bürokratie diffus über die katholische Religion integrierte antimoderne, antiliberale und antikapitalistische Sozialinteressen vertrat. Die Minderheiten- und Defensivsituation der katholischen Kirche in Preußen erhöhte die Organisationskapazität der katholischen Religion außerordentlich, weil durch sie die religiöse Haltung unmittelbar politisiert wurde und auch der politische Bruch um 1800 kam dem Bemühen des Adels um Wiedererringung der ,.ererbten" Führungsrolle der Väter entgegen, da sich regionale Protestpotentiale durch romantisierende Rückblicke auf die Zeit der milden adlig-geistlichen Herrschaft des Krummstabs leicht in konservative Politik ummünzen ließen. Die Verzichtsanforderungen der Stammherrn an nachgeborene Söhne und Töchter ließen sich über die zweifache Gegnerschaft zu protestantisch-bürokratischem Staat und areligiöser liberaler Bewegung neu stabilisieren. Nur die erst nach 1851 entschärften Ablösungskonflikte waren ein lange störendes Erbe der Feudalzeit. Konfessionelle Frontstellung, vielfältige Spannungen infolge der Uberlagerung und Modernisierung durch den preußischen Staat, ein staatlich geduldetes sozialpolitisches Vakuum bei sich verschärfenden sozialen Problemen, die stärkere Orientierung der Staatszentrale am ostelbischen Preußen und die notwendige Intensivierung und Verbesserung der Landwirtschaft bei schnell fortschreitender Industrialisierung führten zur kirchlich gelenkten Sammlung und Solidarisierung der vom Einfluß des Liberalismus endgültig befreiten Bauern, der ihre Krisenerfahrungen vorwiegend religiös bewältigenden ländlichen und städtischen 458

Unterschichten und dem industriefeindlichen gebildeten und gewerblich-mittelständischen Bürgertum auf der Grundlage katholischer Religion unter Führung des alten konservativen Adels, und zwar, ohne daß dieser gezwungen war, seine ständischen Orientierungen aufzugeben. Eine Minderheit, der ständisch entmachtete Adel, nutzte eine Minderheitensituation, die der Katholiken in Preußen, um seine schon erheblich aufgelöste Führungsposition neu zu fundieren. Entscheidend für diese Integration als geschlossene, ständisch gebundene soziale und politische Elite in die bürgerliche Gesellschaft waren auf der Seite des Adels das Interesse an der Erhaltung seiner Stellung als Führungsschicht der Region, und zwar auf der weiterbestehenden Grundlage der bewährten Familienordnung, die hohe identitätsstiftende Kraft, die der Religion als Mittel der Verzichtsstabilisierung, Medium der Weltorientierung und Möglichkeit der Neulegitimation seit der Umbruchszeit zukam und das ökonomisch-politische Interesse des durch erstarkende liberale Bewegung und schnelle Industrialisierung in Preußen gefährdeten Großgrundbesitzers. Das Interesse an Erhaltung der patriarchalischen Führangsposition stand dabei zumindest gleichgewichtig neben dem ökonomischen Interesse; das wurde noch wesentlich später an den großen Schwierigkeiten dieses Adels deudich, sich vom Zentrum zu lösen und den Konservativen anzuschließen. Wichtige äußere Rahmenbedingungen waren die vom preußischen Staat ausgehenden Integrationshemmnisse - die Barrieren vor den neuen staatlichen Berufen und die staatskirchlichen Tendenzen - und die Schwäche des im vorwiegend agrarischen katholischen Westfalen zwar aggressiven, zeitweilig erfolgreichen, aber nie umfassend einflußreichen liberalen Bürgertums. Die Folge des vom Adel gewählten Anpassungsweges war eine Spaltung der konservativen Bewegung. Während sich im Osten die Konservativen eng an Zentrale und Monarchie anlehnten, haben sie sich im Westen an die vom Staat distanzierte katholische Kirche und das Prinzip des Regionalismus gebunden. Der zunächst gefährdete, dann in starkem Maße entmachtete stiftsfähige Adel nutzte seit dem 18. Jahrhundert seinen Bildungsvorsprung, z.B. zur adelsgemäßen Anverwandlung bürgerlicher Familien- und Erziehungsprinzipien, von Staatseinfluß unabhängigeFreirá'Mwe, z.B. die neben den entfeudalisierenden preußischen Gymnasien zugelassenen Sondererziehungsbereiche oder die ständischen Zielsetzungen dienstbar gemachten Vereine, umfassende, staatliche Stützung und spezifische Umweltkonstellationen, z. B. die Minderheitensituation der katholischen Kirche in Preußen, um sich unter weitgehender Erhaltung seiner ständischen Verhaltensorientierungen in die bürgerliche Gesellschaft Westfalens zu integrieren. Die in Familie, Hauserziehung, ständischen und religiösen Sondererziehungsbereichen und Adelsvereinen erworbenen und gefestigten ständischen Orientierungen waren wesendich wirksamer als die tendenziell verbürgerlichende Prägung durch die zum Teil bewußt, zum Teil wider eigenen Willen stark eingeschränkten ständeübergreifenden und überregionalen Kontakte und Identifikationsangebote durch Freundschaften, Ehebindungen, Schul- und Universitätsbesuch und Berufstätigkeit. Mit dem Weg ins Zentrum und in die katholische Bauernvereinsbewegung setzte sich der katholische westfälische Adel aber in weitaus stärkerem Maße als der ostelbische Adel der in der ländli459

chen und industriellen Bevölkerang Westfalens herrschenden Meinungsvielfalt aus, und langfristig waren unter diesem Druck die neuokkupierten, aber nicht institutionell dem Adel zugeschriebenen Funktionen nicht als spezifisch adlige Aufgaben legitimierbar. Eine Abkehr von altständisch-adligen Substratsvorstellungen und dem darauf begründeten Überlegenheitsgefühl war deshalb - wollte er nicht in seinem politischen Einfluß zurückgedrängt werden - mit der Zeit unvermeidbar, wenn auch nur langsam und schrittweise durchzuführen, und die patriarchalische Bindung zum Bauern hat sich bis in unser Jahrhundert erhalten; insofern war er nur schwer demokratisierbar. Auch fiel es ihm schwer, sich, wie es später v. Schorlemer gelang, als Vertreter der ökonomischen Interessen des großen Grundbesitzes, als erster Bauer zu begreifen. Aber er hat durch die neue Konzeption, wenn auch weiter in gegenrevolutionärer Absicht, mit der Zeit gelernt, auch die von den eigenen Interessen abweichenden Bedürfnisse anderer, vor allem bäuerlicher, traditional-mittelständischer und unterer Bevölkerungsschichten Westfalens zu erkennen, anzuerkennen und - unter Uberwindung des Mißtrauens gegen diesen weiterhin patriarchalisch vornehmen Adel auch politisch im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag mitzuvertreten.^'

460

Abkürzungsverzeichnis AfK AfS AHR ALR BKDW CC DAM DK V. D . - H . EABP EHR FG Fs Fstntm Geh. Rat GG GGA Grhzgtm GS GWU HdSW Hist. Jb. HZ Jb. JbGMO JEH Jhdt JIH JSH Jbw KDK KZSS Landschaftsverband Mskr. Mstr. o. A. o. G. 0. J. OLG o. O. OP PP Prot. Reg. Reg.Bez.

Archiv für Kulturgeschichte Archiv für Sozialgeschichte American Historical Review Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen Code Civil Diözesanarchiv Münster Domkapitel V. Droste-Hülshoff Erzbischöfliche Akademische Bibliothek Paderborn Economic History Review Familiengeschichte Festschrift Fürstentum Geheimer Rat Geschichte und Gesellschaft Göttingische gelehrte Anzeigen Großherzogtum Gesetzessammlung Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Handwörterbuch der Sozialwissenschaft Historisches Jahrbuch Historische Zeitschrift Jahrbuch Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands Journal of Economic History Jahrhundert Journal of Interdisciplinary History Journal of Social History Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Kriegs- und Domänenkammer Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Archiv des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe Manuskript Münster ohne Angabe ohne Gehalt ohne Jahr Oberlandesgericht ohne Ort Oberpräsidium Past & Present Protokoll Regierung Regierungsbezirk 461

Rez. RhVjbU RT SDG SOWI STAD STAM STR и UAM U B , Handschr. UBM Vol. VSWG WA WF WG WZ ZAA ZfG ZfP zit. Ztschr.

462

Rezension Rheinische Vierteljahresbiätter Reichs tal er Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft Sozialwissenschaftliche Informationen Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf Staatsarchiv Münster Stadtarchiv Recklinghausen Urkunde Universitätsarchiv Münster UniversitätsbibUothek Münster, Handschriftenabteilung Universitätsbibliothek Münster Band Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte WestfäUsches Adelsblatt Westfälische Forschungen Wirtschaft und Gesellschaft Westfähsche Zeitschrift Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Pädagogik zitiert Zeitschrift

Tabellarischer Anhang

Tabelle 1: Gehälter im Fürstbistum Münster, Großherzogtum Berg, Königreich Frankreich und Preußen a) Militär 1689: Oberst - monatliche Gage Oberstleutnant - monatliche Gage Oberstwachtmeister - monatUche Gage Rittmeister - monatliche Gage Kapitänleutnant - monatliche Gage Kapitänleutnant - monatliche Gage Kornet - monatliche Gage

100 60 53 46 46 33 24

RT. RT. RT. RT. RT. RT. RT.

Nach: Völker, S. 79. 1804: Infantrie Charakter Generalleutnant und Gouverneur General-Major Obrist und Commandant Obrist Obrist-Leutnant Major Capitain Hauptmann Platz-Major Leutnant Fähnridi

Dienstjahre

Name

Gehalt (RT)

46 43 41 45 41 39 32 32 33 26 8

V. Wenge O.A. O.A. O.A. V. Korff V. Schonebeck O.A. O.A. O.A. V. Droste O.A.

4140 1272 1154 990 780 708 666 666 558 180 138

36 39 40 40 34 20 11

V. Nagel O.A. O.A. O.A. O.A. O.A. O.A.

Cavallerie General-Major Obrist-Leutnant Major Rittmeister Leutnant Comet u. Quartiermeister Cornet

990 780 708 666 324 318 270

Nach: Sustentations-Etat des secularisierten Hochstifts Münster; Archiv Haus Diepenbrock, Akten XV, Nr. 8.

463

h) Kirche Geistlichkeit des Domkapitels Münster ca. 1805 Domdechant Dompropst Domscholaster Domkantor Vicedominus einfache, voll berechtigte Domherren

6556 RT. 4249 RT. 2306 RT. 2480 RT. 1 727 RT. 1214 RT.

Im Vergleich dazu erhielten bürgerliche Geistliche am Domkapitel im Durchschnitt 223 RT; das höchste Einkommen eines solchen Geistlichen betrug 575 RT. Nach: Müller, Domkapitel, S. 58ff. Stiftsdamen des Stifts Borghorst 1803 Pröpstin 3 Stiftsdamen je übrige Stiftsdamen

611 RT. 366 RT. 320 RT.

Nach: Weining, S. 340.

c) Verwaltung Fürstbistum Münster, adlige Beamte 1802 Name V. Fürstenberg V. Korff-Schmising V. Twickel V. Westerholt V. Wrede V. Ascheberg V. Landsberg

Amt

Gehalt (RT)

Geh. Conferenzrat Oberhofmarschall und Geh. Rat Oberküchenmeister Oberstallmeister Präsident des Geh. Rats Geh. Kriegsrat und Landrat Präs. d. Hofkammer u. Geh. Rat

3481 1937 1000 1000 1224 700 1145

Fürstbistum Münster, bürgerliche Beamte 1802 Name Druffel Sprickmann Zurmühlen Scheffer-Boichorst Forkenbeck Münstermann

Amt

Gehalt (RT)

Geh. Rat und Kreisdirectorialrac Reg.- und Hofrat Official und Vicekan:iler des Geh. Rats Amtsverwalter und Geh. Rat Geh. u. Reg.-Rat und Kriegs- und Domänenrat Kriegs- und Hofrat und Geh. und Geh. Kriegssecretär

2311 1600 1696 1596 1272 1185

Nach: Salarien- und Emolumenten-Tabelle 1802, Fürstbistum Münster, Geh. Rat, 518 u. 519.

464

Preußen, Reg.Bez. Münster 1815 Name V. Vincke V. Schlechtendahl Krause V. Korff V. Druffel Lehmann Scheffer Werner

Amt

Gehalt (RT)

Oberpräsident Direktor Staatsrat Geh. Reg.-Rat Geh. Reg.-Rat Reg.-Rat Reg.-Rat Reg.-Sekretär

6000 3000 2 700 1300 1300 1800 1000 800

Nach: Archiv v. Landsberg-Velen, Nachlaß Ignaz v. L.-V., N r . 10 073.

Ämterhäufung im Fürstbistum Münster 1719 Ämter und Gehalt

Name Ferd. V. Plettenberg

als Obristkämmerer 1000 RT.

als Geh. Rat als Kriegsrat noch o. G. noch 0. G.

Dietr. B. V. Merveldt

als Obristmarschall 500 RT.

als Geh. Rat als Kriegsrat noch o. G. noch o. G.

Einkünfte als Drost zu Wolbeck

Matthias v. d. Reck

alsObriststallmeister 3000 RT.

als Geh. Rat als Kriegsrat 500 RT. 400 RT.

Einkünfte als Drost zu Werne

V. Droste zu Vischering

als Obristjägermeister 200 RT.

Steph. V. Kerckering

als Obristküchenmstr. 400 RT.

Wilh. H . V. WolffMetternich

Dompropst

als Geh. Rat als Kriegsrat 500 RT. 300 RT.

Domscholaster

als Geh. Rat als Kriegsrat 500 RT. noch 0. G.

Ferd. Bened. v. Galen Dietr. O . v . Korff-Schmising

Vicedominus als Geh. Rat als Kriegsrat 300 RT. 500 RT.

Nikol. H . V. Ketteier

Domkapitular u. Generalvikar (O.A.)

als Geh. Rat als Kriegsrat noch o. G. noch o. G.

Domkapitular

als Geh. Rat als Kriegsrat noch o. G. 500 RT.

Jobst M.V.Twickel

als Hof- u. Reg.-Rat 400 RT.

als Hof- u. Reg.-Rat noch o. G.

als Hofrichter 300 RT.

als Hof- u. Reg.-Rat noch 0. G.

465 30 Reii, Adel

Amter und Gehalt

Name Chr. B. V. Raesfeld!

E. V. Cochenheim

Obrist der Garde

als Geh. Rat als Kriegsrat noch o. G. noch o. G.

Vicekanzler als Geh. Rat 500 RT. d. Regierung

als Kriegsrat 300 RT.

B. V. Dücker

als Geh. Rat 500 RT.

als Kriegsrat noch O.G.

Math. V. Ascheberg

als Geh. Rat als Kriegsrat als H o f - und noch o. G. 300 RT. Reg.-Rat. 400 RT.

Karl V. Galen

als Geh. Rat 500 RT.

Fr. A. V. Landsberg

Generalleutnant

Nach: Keinemann, Stellung, S. 255f.

466

als Kriegsrat noch o. G.

Einkünfte als Drost zu Dülmen

Gehälter in der landesherrlichen Zentralverwaltung des Fürstbistums Münster (1802) Stiftsf ihiger Adel

Zahl 11 3 7 1 2

6 1 5

ΣΑ

24

14

ΣΒ

ON VI

Insgesamt

9 18 2 9 12

5295 -

50

18950-21 -

0-0

5713 5734 5673568 2367-

8 15 4 8 8

2842 2836 785 1640 1040

4

43

8145-25-4

32389 - 18 -

8

14 - 4 8 - 10 0- 0 21 - 6 4 - 8

- 3 -9 - 19 - 0 - 2 -7 - 0-0 - 0 -0

108069770 1952 6353 3407-

0 27 2 21 4

- 1 - 10 - 7 - 6 - 8

-

-

-

38

17708 -

0-

1

30

1971 - 1 7 - 0

19679 - 17 -

1

-

-

-

38

17708 -

0-

1

30

1971 - 1 7 - 0

19679 - 17 -

1

3

1357 - 18 - 8

9

1900 - 18 - 8

3258 700 -

9 - 4 0- 0

1357 - 18 -

8

9

1900 - 18 - 9

3958-

9 - 4

1342 492 11006468 266 -

14 - 7 14 - 0 0 - 0 2- 4 18 - 8

1 1

1

ΣΟ

2

1

ΣΟ

2350- 0 - 0 1200- 0 - 0 600- 0 - 0 1145- 0 - 0

2

Bischöfl. Behörden: Generalvicariat Weihbischof

Hofbeamte: Jagdofficianten Fischereiofficianten Oberhofmarschallamt Oberhofmarschall u. Bediente Kämmerer

Siibalterne Beamte

davoii o. Gehalt Σ d. Gehälter in RT. Zahl Σ d. Gehälter in RT. Zahl Σ d. Gehälter in RT. Σ d. Gehälter in RT.

Geh. Rat Reg.- und Hofrat Geh. Kriegsrat Hofkammer Medizinalkollegium

Geistl. u. weltl. Hofgericht, Landpfennigkammer u. a. Zentralbehörden

höhe:re Beamte (Bürgerl., N.

Schaubild 1: Einkommensfaktoren der v. Landsberg-Velenschen Rittergüter 1600-1830 (fünfjährig gleitende Durchschnitte; y-Achse logarithmisch verkürzt)

AOO 300

Nach: Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 15707-15749, Renteibücher.

M a l z

200

100 50

1ÎOO

1750

1Θ00

1650

1700

1750

1800

-1650

-1700

-1750

1800

1650

'

'

H a f z r

G e r s t e

здо 300

zoo 100 50

1600

Roggen

10

20

30

40

1650

60

?0

ΘΟ

?0

Malter

Rubsamen

J\ Erbsen

\A SD

Ir

I/

1700

10

20

30

40

1V50

60

70

80

90

1800

10

20

30 Z e i t

ä

1 8 6

Bohnen

hìMf

A.

Weizen

3

i\J

2

14

1600

10

20

30

40

1650

60

70

80

•J V r 90

1700

10

20

30

40

1750

60

70

80

90

1800

10

20

30 Z e i t

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Enten bzw. Gänse

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40 • 30-

s/

25 20 ·



V

35 •

-β—β—о—

15

/

I

J \

10 •

5

Anzahl Hühner bzw.Eier 1 1000 • У00 800 WO 600 500 400 300 · 200 100

1610

20

50

40

50

60

70

80

90

1700

10

20

30

40

50

60

70

80

90

1800

10

20

30

40

ZC

RT 18000 16000 14000 12000 10000 8000

6eld

6000 4000 2000

1600

,^ΛΙΗΑΙΙ. 10

20

30

40

1650

60

70

80

90

1700

10

20

30

40

1750

60

70

80

90

1800

10

20

30

Zeit

Tabelle 2a: Bevölkerangswachstum im Gebiet des Oberstifts Münster Zusammenstellung nach statistischen Angaben bei Reekers, S. 168 f. Jahr

Bevölke- Bevölke- Fläche d. Bev.rung rungs- Oberstifts dichte wachsinkin^ (Bev./ km') nim

1795 1818 1849 1858

244300 285167 329081 350677

100 116,7 134,7 143,5

6200 -

5987

40 48 57,4 59

Bev. i. d. Sädten Zahl %d. Bev.

37954 43853 52657 -

Bev.wachstumi. Städten

15,5 100 15,4 115,5 16,0 138,7 -

-

Bev. in d. Städten und Wigboiden Zahl %d. Bev.

Bev. auf d. Lande Zahl %d. d. Bev.

23,6 186621 76,4 24,8 214455 75,2

57679 70712 -

-

-

-

-

-

-

-

Tabelle 2b: Anzahl der Webstühle nach ausgewählten Provinzen - 1816 Provinz

Preußen Schlesien Sachsen Westfalen Reg.-Bez. Münster

Bevölkerung

1457255 1942063 1197053 1066270 350518

Anzahl der Anzahl der Zusammen gewerbsmäßig als NebenbeStühle gehenden schäftigung Stühle tätig. Stühle 735 16245 6338 6664 2382

64831 11529 9364 20541 10719

1 Stuhl kommt auf ... Personen

65566 27774 15702 27205 13101

22,2 69,9 76,2 39,2 26,8

Nach: Biller, S. 59.

Tabelle 3: Leinenwebstühleim Gebiet des ehem. Oberstifts Münster 1816 Auf 1000 Einwohner Leinen- WebLeinen- Webinsweb- stühle im web- Stühle im gesamt stühle Neben- stühle NebenEinwohner erwerb erwerb

Ämter 1975 Ahaus

Städte u. Wigbolde Land Insgesamt

8395 37483 45878

40 4 44

382 2503 2885

5 0 1

46 67 63

51 67 64

Horstmar

Städte u. Wigbolde Land Insgesamt

6165 46599 52764

101 340 441

315 2000 2315

16 7 8

51 43 44

67 50 52

Rheine

Städte u. Wigbolde Land Insgesamt

3150 16801 19951

4 211 215

1 370 371

1 13 11

0 22 19

1 35 30

Sassenberg Städte u. Wigbolde Land Insgesamt

7562 12079 19641

293 7 300

130 127 257

39 1 15

17 11 13

56 12 28 473

Auf 1000 Einwohner LeinenLeinenWebWebinswebstühle im web- stühle im gesamt Nebenstühle stühle NebenEinwohner erwerb erwerb

Ämter 1975 Werne

Städte u. Wigbolde Land Insgesamt

4029 19586 23615

48 114 162

84 320 404

12 6 7

21 16 17

33 22 24

Dülmen

Städte u. Wigbolde Land Insgesamt

3592 8122 11714

42 80 122

_

12 10 10

7 5

12 17 15

Bocholt u. Städte u. Wigbolde Werth Land Insgesamt

4232 10286 14518

31 19 50

7 2 3

13 10

7 15 13

Stromberg Städte u. Wigbolde Land Insgesamt

1381 17955 19336

125 125

27 93 120

7 6

20 5 6

20 12 12

Wolbeck

Städte u. Wigbolde Land Insgesamt

24228 41615 65843

217 306 523

164 164

9 7 8

4 2

9 11 10

Städte u. Wigbolde Land Insgesamt

62734 210526 273260

776 1206 1982

939 5769 6708

12 6 7

15 27 25

27 33 32

Oberstift Münster

-

54 54

_ 138 138



-

.

Nach: Reekers, S. 172.

Tabelle 4: Webstuhldichte in den münsterschen Kreisen um 1819 Kreis

Bevölkerungsdichte

Webstuhldichte

55,7 52,9 51,8 50,9 50,2 46,5 45,8 44,5 43,8 34,2

29,8 14,7 22,7 17,6 68,5 29,8 33,3 93,9 44,3 57,2

Borken Tecklenburg Warendorf Ahaus Recklinghausen Steinfurt Coesfeld Beckum Lüdinghausen Münster (Webstuhldichte = 1 Webstuhl auf χ Personen) (Bevölkerungsdichte = χ Personen auf 1 km^) Nach: Biller, S. 65. 474

Tabelle

5: Bevölkerangswachstum in zwei Kreisen mit extrem unterschiedlicher Websmhldichte

Kreis

Bevölkerung

Bevölkerung/km^

Webstühle auf 1000 Personen (1816)

1795

1818

1858

64 24

27956 25 890

34-241 30343

40823 38835

Ahaus Werne

Wachstum

1795 1818 1858 1795 1818 1858 41 37

50 44

60 56

122 117

100 100

146 150

Nach: Reekers, S. 172 u. 168.

Tabelle

6: Entwicklung der Armut in Westfalen im 19. Jahrhundert Wegen Armut von der Klassensteuer befreite Personen 1830 über 11 unter 16 Jahre alt

Regierungsbezirke Minden Münster Arnsberg Provinz Westfalen

4161 10570 6540 21271

3246 7848 5200 16294

1840 über 11 unter 16 Jahre alt 7820 7697 7777 23294

5 728 5094 6 741 17563

1850 über 1 unter 16 Jahre alt 13 730 6133 10468 30331

11518 4034 8628 24180

1860 über 1 unter 16 Jahre ah 10812 9426 9856 30094

7316 4856 6960 19132

Nach: Meitzen, Bd. III, S. 435.

Tabelle Regierungsbezirke

7: Markenteilungen und Ansiedlungen bis 1835

Größe des Kultiviert wurden davon geteilten Objekts zu Garten zu Wiesen zu Weiden (Morgen) u. Acker- (Morgen) (Morgen) land (Morgen)

Münster Minden Arnsberg

405458 69449 44 735

34345 8719'/2 14917V2

7604 5624'/2 5017

IOO58V2 9905V2 4187

zu Holzungen

25747 1518 11220

Kultivierte Vlorgen im ganzen

77754V2 25767'/2

35341V2

Anzahl der neuen Anzahl der infolge der Zu jedem neuen Etablissements darauf Etablissement gehört an Teilung ansässig Grundstücken ungefähr gewordenen Familien (Morgen) Münster Minden Arnsberg

1009 449 584

5,8 14,6 2,8

1026 576 594

Nach: Keimer, S. 125. 475

Tabelle 8: Der ehemals nicht-landtagsfähige Großgrundbesitz (über 100 R T Grundsteuer) in Westfalen nach Regierungsbezirken 1824 Zahl der Güter über 100 RT. Grundsteuer

davon in adligem Besitz

Adelsanteil in%

Münster Minden Arnsberg

158 43 143

19 9 25

12,03 20,93 17,48

22443 6703 24973

4752 2558 8081

21,17 38,16 32,36

Gesamt-Provinz

344

52

15,12

54119

15391

28,44

Regierungsbezirke

Steuerdavon der Anteil des aufkommen Anteil der Adels der Güter Güter in in% adligem Besitz

Quellen für die Tabellen 8; 10; 14; 15; 17: STAM, Obeφräsidium B, Nr. 392 u. 5413; Archiv V. Korff-Harkotten IE, 14. Bd.

476

Tabelle 9: Mobilität der Rittergüter zwischen 1835 und 1864 nach Regierungsbezirken und Provinzen Vererbungen Regierungsbezirk

φ. M

Freiwillige Verkäufe

Zahl der Rittergüter

1835 bis 1844

1845 bis 1854

1855 1835 bis insgesamt bis 1864 1844

Königsberg Stettin Cöslin Posen Breslau Ratibor Magdeburg Halberstadt Münster Paderborn Hamm Arnsberg

1034 717 1085 978 1417 766 348 191 136 108 193 53

226 266 296 328 380 154 97 60 30 23 53 17

191 211 162 263 289 141 77 57 39 27 50 11

200 144 193 212 267 106 59 36 38 22 51 16

682 621 651 803 936 401 233 153 107 72 154 44

498 281 588 448 643 437 65 40 4 17 32 6

419 225 481 373 687 480 118 48 4 11 17 2

499 240 484 355 659 463 99 59 5 4 12 5

Provinzen Kurmark Neumark Ostpreußen Pommern Posen Schlesien Sachsen Westfalen

1036 816 1707 1802 1548 3085 1287 490

233 168 386 562 443 747 383 123

227 165 342 373 412 612 303 127

222 161 314 337 330 545 261 127

682 494 1042 1272 1185 1904 947 377

284 397 823 869 667 1523 356 57

267 315 715 706 598 1638 421 34

276 377 797 724 551 1616 367 26

Quelle: Rodbertus, Anhang.

1845 bis 1854

1855 bis insgesamt 1864

Notwendige Subhastationen 1835 bis 1844

1845 bis 1854

1416 746 1553 1176 1989 1380 282 147 13 32 61 11

28 25 46 105 86 61 12 5

20 11 37 51 45 47 9 3

15 4 37 76 26 42 3 6

-

-

-

-

3 2 2

2

2 1

827 1089 2335 2299 1816 4777 1144 117

26 32 48 71 179 188 36 7

-

1 24 20 39 48 137 116 22 3

Hauptsumme alle Besitzveränderungen

1855 bis insgesamt 1864 überhaupt

-

12 21 34 41 126 103 11 3

63 40 120 232 157 150 24 14

%

7 3 3

2096 1407 2324 2211 3082 1931 539 314 120 III 218 58

202 196 214 226 217 252 154 164 88 102 112 109

62 73 121 160 442 107 69 13

1571 1656 3498 3 731 3443 7088 2160 507

151 202 204 207 222 229 167 103

Tabelle 10: Erweiterang der Eigenwirtschaft des Adels zwischen 1830/35 u. 1880/90 Name des Ritterguts Cappeln Marek Surenburg Herzford Wilbrig Beri Borg Welpendorf Langelage Nevinghoff Osthoff Ahlen Huxdieck Westerwinkel Horn Ernte Angelmodde Wolbeck Böingsen Lembeck Ostendorf Freckenhorst Lohburg Harkotten I Harkotten II Hoetmar Vornholz Langen Köbbing

1830/35 86,5 119,1 226,3 154 137

Größe in ha 1880/90

Zuwachs von 100% auf .... %

216 257 528 467 190

249,7 215,8 233,3 303,2 138,7

100

556

556,0

462 64 13,5

472 116 224

102,2 181,3 165,9

4000

7031

175,8

177 185 157 88 306 108 100

415 407 303 313 830 450 122

234 220 193 356 271 417 122

29 Rittergüter - durchschnittlicher Zuwachs von 100% auf 255,63 %

478

Tabelle 11: Zwischen 1816 und 1859 aufgehobene bzw. neugegründete Bauernhöfe Durch freie Teilbarkeit des Grundes u. Bodens sind mithin hat sich die von 1816 bis Ende 1859 spannfähige bäuerl. Nahrung Zahl d. spf. Nahrung Kreise im Regieningsbez. Münster

eingegangen Zahl Flächeninhalt

Ahaus Beckum Borken Coesfeld Lüdinghausen Münster Recklinghausen Steinfurt Tecklenburg Warendorf

40 67 48 55 35 32 116 23 112 34

4706 11436 4470 4997 3998 3059 7406 1983 9673 3763

3,22 53 8,28 8 4,03 23 4,16 55 2,99 34 2,19 62 6,26 172 2,18 24 8,05 86 4,24 42

3124 1196 1478 2614 2097 4526 5840 1996 4963 3894

4,26 0,98 1,93 4,16 2,90 4,26 9,28 2,27 6,17 5,24

insgesamt

562

55491

4,57 559

31728

4,54

%

neuentstanden Zahl Flächeninhalt

ververmehrt mindert

%

13 -

_ 59 25

% 1,04 7,29 2,09

-

_

_

-

1

0,08 2,06 3,02 0,09 1,86 0,99

30 56 1 -

8

-

26 -

108 III wengr. 3 -

_ 0,02

Nach: Meitzen, Bd. IV, S. 322.

Tabelle 12: EntwicHung der Ablösungen Reg.-Bez.

Münster

Zahl der zu Zeit der Ablösungen Abgaben Verpflichteten

die Berechtigten haben an Kapital erhalten (Mark)

aufgehobene Dienste Spann- 1 HandDiensttage

1821-1849 1850-1911

3166 41827

2607093 13241772

17870 27827

18287 54990

insgesamt

44993

15848865

45697

73 277

Nach: Pfeffer v. Salomon, S. 363.

479

Tabelle 13: Resultate der Ablösungen bis 1899 im Regierangsbezirk Münster Ablösungen Bei den Ablösungen sind bis zum Jahr

Zahl d. an Diensten Dienst- u. aufgehoben AbgabeSpann- Handpflichtigen, dienste dienste welche ab(Tage) (Tage) gelöst haben

1848 1850 1860 1870 1880 1890 1899

3434 236 636 71 775 156 389

17543 1749 561 145 68 41 5

18052 4063 2845 132 38 34 87

folgende Entschädigungen festgestellt: Kapital

Geldrente Roggenrente (Nschà 50 Ltr)

2530395 370455 341862 34425 147 848 31 87

857

67581 576 1425 3 2048 20875 49323

Land in Hectaren 1000

34405

-

46 -

17 757 694

Nach: Haselhoff u. Breme, S. 71.

Tabelle 14: Die Gliederang der ehemals landtagsfähigen Rittergüter nach ihrer Grundsteuerleistung 1824 Steuerbetrag

Zahl der Güter im Reg.-Bez. Münster

Minden

Arnsberg

Prozentuale Verteilung der Güter im Reg.-Bez. Münster Minden Arnsberg

10 20 40 60 75

20 11 16 16 12

1 7 15 22 15

6 9 33 38 22

9,65 4,82 7,02 7,02 5,26

0,68 4,79 10,27 15,07 10,27

2,07 3,10 11,38 13,10 7,59

Zwischenergebnis I

77

60

108

33,77

41,08

37,24

80 100

15 19

22 14

32 21

6,58 8,33

15,07 9,59

11,03 7,24

Zwischenergebnis II

99

81

139

43,42

55,48

47,93

1 0 0 - 200 2 0 0 - 300 3 0 0 - 500 500-1000 1000 ohne Angaben

64 30 22 9 3

44 6 8

81 37 28 5 0

28,07 13,16 10,09 3,95 1,32

30,14

27,93 12,76 9,66 1,72 0

010204060-

6080-

Insgesamt

480

-

228

1 0 6 146

-

290

-

100,00

4,11 5,48 0,68 0 4,11 100,00

-

100,00

Tabelle

l i : Die Gliederung des ehemals nicht-landtagsfähigen Großgrundbesitzes

(über 100 RT Grundsteuer) in Westfalen nach Regierungsbezirken und Grundsteuerleistung 1824 Steuerbetrag

Reg.-Bez. Reg.-Bez. Reg.-Bez. Prozentuale Verteilung der Güter Münster Minden Arnsberg auf die verschiedenen Besitzkategorien Reg.-Bez. Reg.-Bez. Reg.-Bez. Münster Minden Arnsberg

1 0 0 - 120 1 2 0 - 140 1 4 0 - 160 1 6 0 - 180 1 8 0 - 200 2 0 0 - 250 2 5 0 - 300 3 0 0 - 400 4 0 0 - 500 500-1000 1000

Tabelle

80 43 11 7 5 6 3 1 1 0 1

24 6 6 0 1 1 1 3 0 1 0

62 29 15 7 5 13 2 3 2 3 2

50,63 27,22 6,96 4,43 3,16 3,80 1,90 0,63 0,63 0 0,63

55,81 13,95 13,95 0 2,33 2,33 2,33 6,98 0 2,33 0

43,36 20,28 10,49 4,90 3,50 9,09 1,40 2,10 1,40 2,10 1,40

158

43

143

100,00

100,00

100,00

16: Entwicklung des Viehbestands in vier ausgewählten Kreisen zwischen 1 8 1 0 und 1861

Viehart Pferde u. Fohlen Bullen u. Ochsen Kühe Jungvieh Schafe Böcke u. Ziegen Schweine

Münster Coesfeld Tecklenburg Beckum 1810 1843 1861 1810 1843 1861 1810 1843 1861 1810 1843 1861 289

6570

7873 1944

5568

6754 1344

3682

4450 2758

6586

7246

7 752 143 890 85 922 345 737 567 22073 13081 3442 18511 12782 3670 21123 17674 6739 25115 15234 5 10373 1493 8250 1413 6554 3353 9688 13261 7478 1149 14569 13618 3609 9349 5017 3973 16610 20043 173 618

2295 255 9449 11452 1994

1454 85 1522 659 9418 11342 2076 11897 14849 3871

2156 9115 11079

Nach: STAM, FOT 361/1; Gladen, S. 15; Meitzen, Bd. IV, S. 86-89 u. König, S. 50)

481 31

Reif, Adel

Tabelle 17: Die 15 höchstbesteuerten adligen Großgrandbesitzer in Westfalen 1824 Familie

Zahl der Güter Grundsteuersumme Zahl d. Güter Münster Minden Arnsberg Σ Westfalen Σ Westfalen Σ Westfalen lUiein- Σ Westfalen u. Rhein- provinz u. Rheinprovinz provinz

V. Fürstenberg-Herdringen

6

V. Droste-Vischering

1

31

38

6808

6958

2

40

16

1

17

4113

4113



17

V. Plettenberg-Nordkirchen

6

1

7

3495

3495

-

V. Landsberg-Velen

6

7

13

3355

3355

10 9

10 12 13

3334 3121 3210

3334 3170 3402

V. Elverfeldt V. Bocholz V. Merveldt

-

13

3

-

7 13

-

1 2

10 13 15

Bemerkungen

eingerechnet sind für 145 RT. Streubesitz im Reg.-Bez. Arnsberg, Kr. Eslohe (d. Linie Fürstenbg-Neheim i. d. Rhprov. zahlt 4691 RT. Grundsteuer) eingerechnet für 211 RT. Streubesitz i. Kr. Lüdinghausen u. Herrschaft Mietingen in Schwaben dazu d. Standesherrschaft Gemen (250 RT.), angekauft 1822, u. Eisenwerke etc., eingerechnet ist f. 730 RT. Streubesitz im Reg.-Bez. Mstr, Kr. Coesfeld

ind. Mühle zu Bocholt, Kr. Borken, 291 RT.

V. Plettenberg-Lenhausen

11

V. Galen

V. Westerholt-Gysenberg V. Boeselager

00

Ы

2550

2482

2482

11

10

12

2382

2875

16

4

7

2193

3050

12

2169 1791

2169 1791

1637 1568

1637 1568

V. Romberg V. Westphalen

V. Landsberg-Steinfurt V. Beverförde-Werries

2550

3 9

6 12

6 12

eingerechnet f. 169 R T . Streubesitz im Reg.-Bez. Mstr, Kr. Beckum eingerechnet f. 61 R T . Streubesitz im Reg.-Bez. Amsbg, Kr. Soest eingerechnet Gut Heven, Reg.Bez. Amsbg, Kr. Hamm, 29 RT. noch 5 größere Güter m. 857 RT. Grundsteuer i. d. Rheinprov., um Bonn u. Bergwerke u. weiterer nicht-preuß. Grd.besitz, z. B. Herrschaft Rixdorf, Herzogt. Holstein; Erb i. Rheingau; u. weiterer Besitz in den an Westfalen angrenzenden Ländern. eingerechnet d. Gut Werries Reg.-Bez. Arnsberg, Kr. Hamm, 38 RT.

φ. 00

Tabelle 18: Übersicht über die Vereine, an denen münsterländische bzw. westfälische Adlige beteiligt waren A. Gesellige Vereine II. Vereine mit ständisch unabhängiger Mitgliedschaft I. rein adlige Vereine 1. Civilklub (»Gesellschaft«); (gegr. 1775, besteht noch heute) 1. Adliger Klub (gegr. 1782; aufgehoben 1810; Gründer: Frz. v. Fürstenberg, Domherr u. Exminister) 2. Loge zu den drei Balken (Freimaurer), (gegr.: 1778, 2. Rauchklub (gegr.: Ende d. 90er Jahre d. 18. Jhdts; bestand noch besteht noch heute) Anfangd. 40erJahred. 19.Jhdts; Gründer: Gl. Aug. v. Korff, Dhrr.) 3. Schützenwällerklub (»Zwei-Löwen-Club«), (gegr.: 1796, 3. Adliger Billardklub (gegr. : 1799, besteht noch heute) besteht noch heute) 4. Gesellschaft zur Harmonie (Warendorf), (gegr.: 1810, 4. Adliger Damenklub (gegr. : 1800, besteht noch heute) besteht noch heute) 5. Gesellschaft oder Deutscher Verein (gegr. : 1817 ; 1846/48 aufgelöst) B. Vereine mit spez. Zielen I. Vertretung rein stdespol. Interessen

II. Idw. und Gl-undbesitzer-Interessen 1. rein adlige Vereine

1803 Versuch der aufgehobenen Ritterschaft, als »Verein« weiter zu existieren, wird verboten

2. std. unabhängige Vereine

III. religiöse, кгiritative, kirchenpol. IV. kulturelle Interessen Int eressen (std. unabhängig) 1. rein adlige 2. std. unabhängige Vereine Vereine

1819-Ldw. Verein zu Münster

1836-Mstr. Verein zur Befördg. d. Pferdezucht

1800 ff-Musikverein Münster 1820-Histor. Verein Westfalens 1830-Westf. Kunstverein

1836 ff-ldw. Kreisvereine 1837-Genossenschaft des rhein.-ritter1838-Verein f. biirtigen Adels (eine ähnliche 1848-Piusverein, Vollblut- 1848-Verein zum Schutze Genoss, f. d. westf. Adel scheiBonifatiusv. zucht d. Eigentums u. zur 1857ff-Vertert zur gleichen Zeit; weitere einkath. Förderung d. Wohl(1844 erfolglose Versuche) Edelstands aller Volksaufgelöst) leute Idassen (1852 auf(1869 gelöst) an die 1863 ff-Westf. Bauernvereine Öffentlichkeit 1864-kath. Casino tretend) »Eintracht« 1863-Verein z. Ehren der hl. Familie 1865-Malteserorden

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Schauhild 2: Preußische Offiziere und Beamte im „Adligen Damenclub"

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Münzen und Maße 1. Münzen 1 RT (Reichstaler) 1 Schilling oder 1 RT 1 GGr

28 Schillinge 12 Pfennige 24 GGr (Gute Groschen) 12 Pfennige

2. 1 mstr. Malter

ca. 12 mstr. Scheffel = 285 Liter

3. 1 mstr. Morgen ca. 4 Morgen

Getreidemaße

Flächenmaße

= 180 Quadratruten = 1ha

Angaben nach: Verdenhalven; STAM, Archivalische Subsidien, Nr. 23; Scotti, Bd. 2, S. 131 ff. u. 373.

491

Anmerkungen I. Einleitung 1 Vgl. dazu und zum folgenden die von v. Preradovich zusammengestellten Daten über die Besetzung staatlicher Spitzenpositionen in Preußen. 2 Eine Analyse des Diplomatischen Korps, der Domäne des Adels (1918 noch 60 % alter Adel!), zwischen 1815 und 1918 ergibt folgende Aufteilung: Kurmark (30), Pommern (16), Ostpreußen (14), Schlesien (20), Sachsen (25), Rheinland (9), Westfalen (4). Von den vier Westfalen kam nur einer aus den 1815 an Preußen gefallenen katholischen Territorien (vgl. v. Preradovich, S. 88-99). Ähnliche Zahlen ergeben sich für den Militär- und Verwaltungsbereich (vgl. ebd., S. 135-153 u. S. 108-123). 3 In diesem Zusammenhang sind v. a. die brillanten Studien Hans Rosenbergs (vgl. Literaturverzeichnis) von außerordentlichem Einfluß gewesen. 4 Vgl. Kocka, Sozialgeschichte, S. 34 ff. 5 Für die Untersuchung des Adels haben insbesondere die Forschungen von Stone und Forster (vgl. Literaturverzeichnis) über den englischen bzw. französischen Adel die Bedeutung von gesellschaftlichen Teilbereichen wie Familie, Erziehung etc. für die Erhellung adliger Lebensformen deutlich gemacht. Allgemeine methodische Überlegungen zu Ergiebigkeit dieser Bereiche für die historische Forschung finden sich bei Nipperdey, Dimension, S. 242 u. a.; Kocka, Sozialgeschichte, S. 35f. u. S. 40. 6 Vgl. zu diesem methodischen Vorgehen Kocka, Theorien, S. 13 ff. 7 Zum folgenden vgl. Eisenstadt, S. 27ff. u. J . Schumpeter, Die sozialen Klassen im ethnisch homogenen Milieu, in: ders., Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953, S. 147-213. 8 Zur histoire serielle vgl. R . Reichardt, Bevölkerung und Gesellschaft Frankreichs im 18. Jahrhundert: Neue Wege und Ergebnisse der sozialhistorischen Forschung 1950-1976, in: Ztschr. f. Hist. Forschung, Bd. 4, 1977, S. 154-221, v.a. S. 155-158. 9 Vgl. Hartlieb v. Wallthor, Selbstverwaltupg, S. 8 f . und die Karte von Wrede. 10 V. Oer, Verfassungen, S. 104; zum folgenden vgl. ebd., S. 94. 11 Die folgenden Ausführungen gründen auf Wehler, S. 5 f f . ; Weber, W G , S. 683ff und Brinkmann, S. 24. 12 Zu den im folgenden dargestellten Prozessen und ihren Grenzen vgl. Mager, S. 5 f . ; v. Kruedener, S. 2 6 f f . ; G . Oestreich, Strukturprobleme des Absolutismus, in: V S W G , Bd. 55, 1968/69, S. 329^347, v.a. S. 331-337; K. O . v. Aretin (Hg.), Der aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974; C . Tilly (Hg.), The Formation of National Sutes in Western Europe, Princeton 1975; H . H . Hofmann (Hg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates, Köln 1967; D . Gerhard (Hg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1969; K. Polanyi, The Great Transformation, Wien 1977; I. Bog, Der Merkantilismus in Deutschland, in: Jahrbücher f. Nationalök. u. Statistik, Bd. 173, 1961, S. 125-145; H . Kellenbenz, Probleme der Merkantilismusforschung, in: 12. Intern. Historikerkongreß, Rapporte IV, Wien 1965, S. 171-190; M. Barkhausen, Staatliche Wirtschaftslenkung und freies Unternehmertum im westdeutschen und im nord- und südniederländischen Raum bei der Entstehung der neuzeitlichen Industrie im 18. Jahrhundert, in: V S W G , Bd. 4 5 , 1 9 5 8 , S. 168-241, v. a. S. 169f. u. S. 235-241. 13 Vgl. Gonze, Spannungsfeld, S. 210. 14 Vgl. Habermas. S . 4 8 f . ; Bues, S. 15-17; Brunschwig, S. 4 6 - 5 5 und Gerteis, v. a. S. 128ff. Zur Zusammensetzung dieser gebildeten politisch-literarischen Öffentlichkeit vgl. Vierhaus, Deutschland, S. 226 ff. 15 Es gelang in der Folgezeit diesen „unständischen Bürgerbegriff gleichsam von der Mitte 492

Anmerkungen

zu Seite

16-33

her nach allen Seiten auszubreiten und zur Allgemeinbezeichnung für das vollberechtigte unabhängige Mitglied der Staatsgesellschaft zu erheben". (Vierhaus, Deutschland, S. 228). Vgl. hierzu auch M. Riedel, Bürger, in: Geschichd. Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. O. Brunner u.a., Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 672-725; ders.. Bürgerliche Gesellschaft, ebd., Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 719-800; P. Weihnacht, ,,Staatsbürger". Zur Geschichte und Kritik eines politischen Begriffs, in: Der Staat, Bd. 8,1969, S. 41-63, sowie Vierhaus, Deutschland, S. 243ff. 16 Vgl. Schneider, S. 64; Habermas, S. 38-41 und Vierhaus, Bewußtsein, S. 191. 17 Vgl. Epstein, S. 218-220; Bues, S. 12-15; Koselleck, Kritik, S. 41 ff. und Schneider, S. 191. 18 Vgl. hierzu und zum folgenden Rosenberg, Bureaucracy, ν.a. S. 175f.; Vierhaus, Deutschland, S. 257ff.;Hintze, Beamtenstand, S. 90ff.; ders., Beamtenstaat, S. 352ff. sowie J . Gillis, Aristocracy and Bureaucracy in Nineteenth Century Prussia, in: PP, Bd. 41, 1968, S. 105-129. 19 Vgl. Büsch, S. 168; Hintze, Beamtenstand, S. 103ff. 20 Vgl. Vierhaus, Deutschland, S. 179; zur „Verstaatlichung" des Rechtsbereichs, der Bildung auch den Herrscher einbeziehender rechtsstaatlicher Vorstellungen in der Beamtenschaft und zur sich durchsetzenden Unabhängigkeit der Rechtspflege vgl. H . Conrad, Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts, Köln 1962. 21 Vgl. zum folgenden die Untersuchungen von Gonze, Spannungsfeld und Koselleck, Preußen. - Die auf den Vormärz bezogenen Verlaufstypologien werden eng auf die preußische Entwicklung bezogen, da das Fürstbistum Münster seit 1814/15 zu Preußen gehörte. 22 Koselleck, Preußen, S. 345; die Städteordnung war mithin die einzige politische Reform jenseits der Angst. Die Einrichtung der Provinzialstände und der Erlaß der Kreisordnung bedeuteten endgültig das Ende der Reformorientierung der Bürokratie (vgl. v. Unruh, S. 28 f.). 23 Vgl. Hartlieb v. Wallthor, Selbstverwaltung, S. 118 f. ; zur weiteren restriktiven und adelsfreundlichen Provinziallandtagsgesetzgebung vgl. Rauer, v. a. S. 65-71 u. S. 163. 24 Vgl. Koselleck, Preußen, S. 520ff.; Obenaus, Immediatkommission, S. 425-431 u. S. 437 f. sowie H . Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1969, S. 208-211 u. S. 221. 25 Vgl. Brunner, Landleben, S. 328ff.; Berdahl, S. 311-315 und Neumann, Stufen, S. 65 ff. 26 Vgl. hierzu und zum folgenden Brunner, Haus, S. 50ff.; Schwägler, S. 152; Koselleck, Preußen, S. 62 ff. ; Dörner, S. 20-29 sowie die Untersuchungen von Hoffmann,,,Hausväterliteratur", und Richarz. 27 Vgl. zum folgenden Tyrell, S. 397f. u. S. 401 f.; Hausen, S. 370-374 u. S. 383-387, Weber-Kellermann, S. 74ff. 28 Zum Begriff und zu den folgenden Ausführungen vgl. die Untersuchung von H. Schissler, Preußische Agargesellschaft im Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse von 1763-1847, Göttingen 1978; weiterhin: Abel, Geschichte, S. 251ff.; ders., Agrarkrisen, S. 182ff.; Hintze, Reformbestrebungen, S. 421 ff. ; Lütge, Auswirkungen, S. 194 u. S. 220-222 sowiedie Arbeiten von H. H . Müller, v. a. ders., Bauern, Pächter und Adel im alten Preußen, in: J b W 1966/1, S. 159-177. 29 Vgl. Abel, Massenarmut, S. 35ff. ; v. Krockow, S. 25 sowie P. Laslett, Familie und Industrialisierung: Eine ,,starke Theorie", in: W. Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Famihe in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1977, S. 13-31. 30 Vgl. Brunschwig, S. 187-207 sowie R. Endres, Das Armenproblem im Zeitalter des Absolutismus, in: Jb. f. Fränkische Landesforschung, Bd. 34/35,1974/75, S. 1003-1020; E. Francois, Unterschichten und Armut in rheinischen Residenzstädten des 18. Jahrhunderts, in: VSWG, Bd. 62, 1975, S. 433-464. 31 Zum Bevölkerungswachstum seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vgl. Wrigley, Bevölkerungsstruktur, S. 151-156; Medick, Bevölkerungsentwicklung, S. 34f. sowie J . Habak-

493

Anmerkungen

zu Seite

33-35

kuk, Bevölkerangsproblem und Wirtschaftswachstum Europas im späten 18. und 19. Jahrhunden, in: R. Braun u.a. (Hg.), Gesellschaft in der industriellen Revolution, Köln 1973, S. 207-218. 32 Zur verstärkten Erosion des dörflichen Sozialgefüges im Vormärz, vgl. Koselleck, Preußen, S. 487ff. ; Lütge, Auswirkungen, S. 218ff., E. W. Bucholz, Ländliche Bevölkerung an der Schwelle des Industriezeitalters. Der Raum Braunschweig als Beispiel, Stuttgart 1966 sowie die scharfsinnige Analyse von J . Mooser. 33 Vgl. hierzu Abel, Massenarmut, S. 69ff. u. W. Fischer, Soziale Unterschichten im Zeitalter der Frühindustrialisierung, in : ders., Winschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 265 f.

II. A. Der Adel ah

Stand

1 V. Oer, S. 99f., vgl. auch Rothen, II, S. 256; Theuerkauf, Adel, S. 155: „Ständische und territoriale Verfestigungen liefen . . . parallel." Als Ausgangspunkt der ständischen Verfassung wird das Landesprivileg von 1570, ,,das Grundgesetz des Fürstbistums Münster" betrachtet (Theuerkauf, Land, S. 189). Den Zusammenhang zwischen Einrichtung einer ständischen Mitregierung und dem Geldbedürfnis des Landesherrn, der sich am Ausbau des Steuerwesens sowie am Auf- und Ausbau einer umfassenden Finanzverwaltung erkennen läßt, thematisien Kirchhoff, Schätzungen, S. 133; zur Regierung des Landes durch vom Fürsten aus den Ständen ausgewählte „Landräte" neben den herkömmlichen ,,Hofräten" als einer unmittelbaren Vorform der ständischen Verfassung vgl. Kirchhoff, Landräte, S. 181 f. und 189. Das erste nachweisbare Landesprivileg, das ein Bischof der Ritterschaft gewährte, datiert vom Jahre 1309; ab 1426 wurden Landesprivilegien von den antretenden Bischöfen beschworen (Theuerkauf, Land, S. 89). 2 Nach Olfers, S. 60, wurde 1577 das erste Verzeichnis der im Land gelegenen adligen Häuser und ihrer Besitzer aufgestellt. 3 Vgl. dazu unten, Kap. II. C. 3.1; auch Werner v. Droste-Hülshoff sah darin 1837 in erster Linie eine Reaktion des Adels auf den steigenden Reichtum des Stadtbürgertums (vgl. Archiv v. Droste-Hülshoff, Mappe: Successionsordnung der Ritterschaft). In der Ritterschaft wurde die Sechzehnerprobe wahrscheinlich zum erstenmal 1640 eingeführt; 1652 hat man die Bestimmung dann noch einmal erneuert (v. Oer, S. 101). Die Entwicklung in den anderen westfälischen und nichtwestfälischen Domkapiteln verlief zeitlich und in der inhaltlichen Tendenz ähnlich (vgl. v. Klocke, Münstersches Domkapitel, S. 282; Tack, S. 5 und Keinemann, Domkapitel, S. 31). 4 Durch die Verlagerung der Selektionsbarriere auf die Ritterschaft wurde das Ritterbuch, welches die sämtlichen von der Ritterschaft anerkannten Wappen und Stammbäume enthielt, zum wichtigsten Bestandteil des ritterschafdichen Archivs. Es war Ausdruck und Garant der Autonomie des stiftsfähigen Adels hinsichtlich der Bestimmung dessen, was Adel nach seiner Meinung war. Adelsattestate von Kaiser und Papst konnten die Adelsprobe vor der Ritterschaft nicht ersetzen und wurden des öfteren als unzureichend verworfen (v. Twickel, Domkapitel, S. 94; V. Oer, S. 102). Wäre dieses Buch in die Hände eines neuen Landesherrn gekommen, hätte dieser das Abschließungssystem durch einen verdeckten ,Pairschub', d. h. dadurch, daß er Nobilitierte als Angehörige alter Adelsfamilien ausgab, zerstören können. Deshalb suchte man 1794 auch zuerst das Archiv zu retten und weigerte sich noch 1826 beharrlich gegenüber den Preußen, das Archiv der Ritterschaft an die Regierung auszuliefern (vgl. STAM, Fstntm Mstr., Prot., Sitzung vom 27. Juli 1794; Archiv v. Korff-Harkotten lEc, 12. Bd.). 5 Vgl. Keinemann, Domkapitel, 5, S. 38 ; eine Schilderung dieser Prozesse findet siçh im Brief des Werner v. Droste-Hülshoff an den Grafen Bocholz vom Juni 1837 (vgl. Archiv v. DrosteHülshoff, Mappe: Successionsordnung der Ritterschaft). Der Motor des Abschließungsprozesses war wohl das Bistum Mainz. Dieses hatte 1654-56, obwohl Kaiser und Kurie nicht zugestimmt hatten, kraft eigenen Rechts und über Verfahrenskniffe den Kreis der Anwärter auf

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Anmerkungen

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reichsunmittelbare Ritter eingeschränkt (Veit, S. 9). 1736 bzw. 1737 erhiehen zwei westfälische Adlige, der münsteraner Domherr Franz Arnold v. d. Reck-Steinfurt und Clemens August v. Plettenberg-Lenhausen Mainzer Dompräbenden übertragen; doch wurden sie vom Domkapitel mit dem Bemerken abgewiesen, ihre Wappen seien in Mainz unbekannt. Trotz eines kaiserlichen Dekrets vom selben Jahre zu ihren Gunsten wurden sie nicht aufgenommen, so daß die Empörung beim niederrheinischen und westfälischen Adel sehr groß war. 1749 vereinigten sich die Domkapitel Münster, Paderborn und Hildesheim sowie die Ritterschaft des Fürstbistums Münster, die Ausschließenden, die von der oberrheinischen, fränkischen und schwäbischen Reichsritterschaft beherrschten südlichen Bistümer, ihrerseits auszuschließen (Keinemann, Domkapitel, S. 41; Tack, S. 24-27; Vierhaus, Deutschland, S. 69). 6 Zum sogenannten Erbmännerstreit vgl. die Streitschriften der Parteien im Verzeichnis gedruckter Quellen sowie Wigand, v. a. S. 167ff.; Keinemann, Domkapitel, S. 31 ff. ; Theuerkauf, Adel, S. 169f. und Philippi, Standesverhältnisse, S. 8. Schon ein erstes Urteil durch das päpstliche Gericht 1573 gab v. Schenking Recht, wurde aber vom Domkapitel negiert; 1597 kam es zu einer Gegenklage gegen die Erbmänner wegen übler Nachrede. 1559 hatten die Erbmänner versucht, auf dem Landtag zu erscheinen, wurden aber strikt abgewiesen. 1685 entschied das Reichskammergericht zugunsten der Erbmänner. Das Domkapitel ging aber in die Revision. Es entstand Streit darüber, ob diese Revision aufschiebende Wirkung habe oder nicht. Inzwischen ereignete sich ein zweiter Erbmännerfall, da Jacob Johann v. d. Tinnen 1689 vom Papst eine Präbende erhielt und ebenfalls vom Domkapitel abgewiesen wurde. 1709 bestätigte der Kaiser das Reichskammergerichtsurteil von 1685; doch weigerte sich das Domkapitel auch jetzt noch, die Erbmänner aufzunehmen. 1714 wies der Kaiser den Fürstbischof Franz Arnold v. Wolff-Metternich an, dem Urteil ohne Verzug Folge zu leisten. Daraufhin kam es seit 1717 zur Aufschwörung von Erbmännern in die Ritterschaft, seit 1729 zu deren Eintritt in die Domkapitel. 7 Vgl. Tack, S. 24 f. Die Intention, Nobilitierte abzuwehren, wird an ihrer ausdrücklichen Erwähnung in den Bestimmungen über den Ahnennachweis erkennbar; im Bericht Werners v. Droste-Hülshoff von 1837 heißt es: ,,Die in dem Summbaum enthaltenen Wappen waren dann gut, wenn sich kein Nobilitirter darunter befand, es mußten mithin alle in der obersten Reihe befindlichen bereits adlig geboren seyn . . . " (vgl. Archiv v. Droste-Hülshoff, Mappe: Successionsordnung der Ritterschaft). 8 Erst 1782 bzw. 1784 genehmigte Kaiser Joseph II. die Sechzehn-Ahnen-Klausel. Anlaß für die Bitte des Domkapitels und der Ritterschaft war der 1781 erfolgte Versuch eines Mitglieds der alten westfälischen Adelsfamilie v. Herding, mit einer Ahnentafel von 8 Ahnen zur Ritterschaft aufgeschworen zu werden. Der Reichshofrat hatte 1781, im Prozeß v. Herding gegen die münstersche Ritterschaft, ersterem Recht gegeben (Olfers, S. 63; Kuhna, S. 100-104; STAM, Mstrsche Ritterschaft, N r . 75). 9 Zur neuen Form der Ahnenprobe vgl. v. Klocke, Moser, S. 9ff., und Tack, S. 14f. In Paderborn wurden im 18. Jahrhundert im Durchschnitt 50 % der eingereichten Ahnentafeln beanstandet. Da die Kosten für die Ahnenprobe vom Bewerber zu tragen waren, entwickelte die neue Form der Ahnenprobe schon aus finanziellen Gründen selektierende Wirkungen, und zwar vor allem für aus'w^rtige Bewerber bzw. Bewerber, die in ihren Ahnentafeln auswärtige Familien aufwiesen; denn die langwährenden Korrespondenzen mit weit entfernt liegenden Stiftern, Kapiteln, Ritterschaften sowie die Erlangung von Attestaten für solche Familien, die in den Wappenbüchern der Stifter etc. nicht aufgeführt waren, konnten sehr teuer werden. Von hier aus wird verständhch, daß die Familien, hatten sie eine solche Barriere einmal überwunden, die Zeichen ihres Anspruches, die geprüften und anerkannten Wappen ihrer Ahnen in repräsentativer Absicht, z . B . auf ihren Grabmälern, öffentlich ausstellten (Tack, S. 27-29). 10 In die Ritterschaft mußten 1717 die Erbmännerfamilien v. Kerckerinck-Borg, v. Kerckerinck-Stapel, v. Droste-Hülshoff und v. d. Tinnen, 1719 die Erbmännerfamilie v. Clevorn aufgenommen werden; bis ins Domkapitel drangen im 18. Jahrhundert die Familien v. DrosteHülshoff (1729ff.), V. Kercerinck-Stapel (1756ff.) und v. Kercerkinck-Borg (1740ff.) vor. In 495

Anmerkungen

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ähnlicher Weise wie die Erb manner im Fürstbistum Münster mußten auch die Erbmänner in den anderen geistlichen Fürstentümern und auch die sogenannten Werler Erbsälzer in der Grafschaft Mark um die Anerkennung ihrer Ebenbürtigkeit als landtagsfähige Ritter kämpfen; insofern betraf das Reichskammergerichtsurteil über die Erbmänner nicht nur die Verhältnisse in Münster, sondern in allen anderen geistlichen und z.T. auch weltlichen Staaten Westfalens. 11 Archiv V. Koff-Harkotten IFh2, 27. Bd., Bericht vom Juni 1817; in ähnlich selbstbewußter Form schilderte auch Clemens August v. Kerckerinck-Borg 1780 in seinem Bericht über das Fürstbistum Münster die beschränkende Wirkung der ständischen Verfassung (Erler, Denkschrift, S. 419f.); auch der spätere Bürgermeister von Münster Hüffer war der Meinung, daß der Fürstbischof im alten Staat ,,sehr beschränkt" gewesen sei (Steffens, Hüffer, S. 49). 12 Vgl. V. Oer, S. 603; in der Erwiderung eines namentlich nicht genannten Verteidigers der alten münsterschen Verfassung, die von einem preußischen Beamten 1803/04 in einer Denkschrift als Herrschaftsform einer,,schändlichen Oligarchie" bezeichnet worden war, hieß es zur Rechtfertigung dieser Sichtweise: ,,Die Landstände sind berechtigt, das einzuwilligen, was das Volk selbst einwiUigen würde, wenn es sein Vonheil einsehen und durch sich selbst handeln könnte." (Archiv v. Oer E 1352). 13 Kuhna, S. 97. 14 Vgl. Hofmann, S. 127f.; zur Dominanz des Domkapitels gegenüber Ritterschaft und Städten vgl. Kochendörffer, Stein, S. 146, Hartheb v. Wallthor, Selbstverwaltung, S. 319, Anm. 126; Clemens August v. Kerckerinck-Borg beklagte in seinem Bericht von 1780 auch die Dominanz des Domkapitels und wünschte zum Machtausgleich zwischen erstem und zweitem Stand die Einrichtung eines ständischen Ausschusses (Erler, Denkschrift, S. 425). 15 Denkschrift eines ungenannten Verfassers um 1800 über die ständische Verfassung im Fürstbistum Münster (Archiv v. Korff-Harkotten lEc, 12. Bd.). Durch die Gewohnheit jährlicher Bewilligung der Steuern kam es notwendig zu periodischen Landtagen. Die Periodizität des gesamten Landtags war notwendig, weil die Ritterschaft während dieser Zeit ihre internen Angelegenheiten, vor allem die Aufschwörung erledigte. Schon diese Gewohnheit verhinderte eine Reduktion der Landtage auf ständig tagende Ausschüsse, wie sie sich in anderen Reichsterritorien durchgesetzt hat. 16 Aus der Hofkammer wurden v. a. die Kosten für den Hofstaat und die landesherrlichen Beamten bestritten (Kuhna, S. 117; Jacobs, S. 3). Die Kammereinnahmen, um 1800 ca. 25 000 RT/Jahr, waren relativ niedrig und wurden jährlich durch ein Subsidium, das vom Landesherrn jeweils zu erbitten war, ergänzt. Der kirchliche Besitz des Staates war im Fürstbistum vier- bis fünfmal größer als der weltliche (Steffens, Hüffer, S. 49; Lahrkamp, Münster, S. 209). 17 Vgl. Völker, S. 8 u. 97, Bading, S. 5f. und Archiv v. Korff-Harkotten lEC, 12. Bd.; vgl. auch Dehio, S. 20: ,,Nach Galens Tod erfolgte das große ständische Rétablissement." 18 Zur Mitsprache in außenpolitischen Fragen vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 64f. u. 73; Völker, S. 7ff. u. 42 f., Dehio, S. 11 und Kuhna, S. 97; die Mitsprache der Stände auf dem Gebiet der Außenpolitik wurde von den Fürstbischöfen in der Praxis weitgehend abgewiesen (Völker, S. 31); gleichwohl haben die Stände immer wieder gegen diese Verletzung der ständischen Verfassung protestiert; so erklärte z . B . das Domkapitel am 11. 11. 1741, in Protest gegen die Aufnahme französischer Truppen ins Münsterland durch den Kurfürst Clemens August, man habe schon unter ,,nie erhörte Bedrohungen einer Erhöhung der inländischen Miliz . . . über die Kräfte deren armen Untertanen" hinaus zugestimmt: nun sei auch noch die Einquartierung eines französischen Corps ,,ohne unser Vorwissen und Belieben" verfügt worden. Dagegen werde betont, ,,daß ein zeitlicher Fürst und Landesherr . . . bisher immer gehalten gewesen [sei] . . . ohne deren Landstände und besonders des Domkapitels Bewilligung keinen Krieg, Fehde noch Verbündnis mit jemand anfangen, eingehen oder machen solle". (Archiv v. Korff-Harkotten lEd, 13. Bd.) Das Indigenat war schon im 16. Jahrhundert einmal durchgesetzt gewesen (vgl. Kirchhoff, Landräte, S. 187), mußte aber im Verlauf der weiteren Jahrhunderte mehrmals verteidigt werden. 496

Anmerkungen zu Seite 39-41 19 Von den um 1803/04 vom Adel zusammengestellten Privilegien stammen die meisten aus der Zeit zwischen 1650 und 1719, als Standesgenossen Fürstbischöfe waren (vgl. Archiv v. Korff-Harkotten l E c , 12. Bd.). 20 So hatten die Besitzer der Herrlichkeit Harkotten, v. Korff und v. Ketteier, das Anrecht auf ein sechswöchiges Trauergeläut mit allen Glocken, für den Fall, daß sie oder ihre Ehefrauen starben (Archiv v. Korff-Harkonen, IFi, 29. Bd., Brief des August v. Korff an den Bürgermeister Wessel der Gemeinde Füchtorf vom 13. 7.1841). Die Patrimonialgerichtsbarkeit umschloß auch die Kriminalgerichtsbarkeit; doch mußten bei Erkenntnis der Todesstrafe vor der Exekution Universitätsgutachten eingeholt werden. 21 Zu diesem Privileg, das allein zwischen 1697 und 1713 fünfmal bestätigt wurde, vgl. Archiv V. Korff-Harkotten l E c , 12. Bd. Doch machte der Adel auch für sich von diesem Vorrecht nicht immer Gebrauch, so daß darüber am Ende des 18. Jahrhunderts einige Unklarheiten bestanden (vgl. Kochendörffer, Territorialentwicklung, S. 106; Wüllner, S. 7). 22 Vgl. Ohde, S. 3 9 - 4 3 ; Symann, S. 22 und 32ff. 23 Die Untertanen der adligen Grundherrschaft hatten während der Jagdzeit für die Beköstigung der Jagenden zu sorgen. Den Bauern wurde zeitweise verboten, das Wild mit Trommeln oder anderen lärmerzeugenden Geräten aus ihren Feldern zu verjagen; ihre Hunde mußten sie durch Verstümmelung oder durch ein Tragholz für das Wild unschädlich machen. Den Nichtjagdberechtigten war die Haltung von Jagdhunden verboten. Gegen die Hunde der Bauern, mit denen diese ihre Felder zu schützen suchten, richteten sich die meisten die Jagd betreffenden Edikte (vgl. Scotti, I und I I ; Völker, S. 112-114). Zur Entwicklung des Jagdrechts vgl. Dobelmann, St. Mauritz, S. 87; die Rittergutspächter waren wie die Vorderstände seit dem Edikt vom 2 5 . 4 . 1 7 8 6 von Untergerichten exement; weitereFreiheiten, z. B. das Jagdrecht, hatten ihnen die Stände aber nicht zugestanden (STAM, Fstntm Mstr., Edikte, N r . 2370 und S T A M , Mstrsche Ritterschaft, N r . I I I ) . 24 Vgl. Archiv V. Korff-Harkotten l E c , 12 Bd. Zum Degenprivileg vgl. Schücking, S. 9; wiederholt wurde Studenten, niederen Beamten und Handwerkern das Degentragen verboten (vgl. Scotti I, Edikte vom 22. 1 2 . 1 7 1 6 ; 13. 5. und 18. 5. 1720 u.a.). Ein adliges Duellrecht hat sich im katholischen Fürstbistum Münster auch gewohnheitsrechtlich nicht durchsetzen können. Duelle wurden zum erstenmal am 19. 7. 1658 von Christoph Bernhard v. Galen in scharfer Form verboten; im 18. Jahrhundert mußte dieses Verbot nur noch einmal, nämlich am 25. 9. 1742, erneuert werden (vgl. Scotti I). 25 A m 2 4 . 5. 1764 erging auf Antrag der Landständeein Edikt gegen zu großen Kleiderluxus; den Mitgliedern des Bürgerstandes, welche nicht in landesherrlichen, domkapitularischen oder ritterschaftlichen Ämtern standen, auch nicht Mitglied des Stadtrates zu Münster oder sonst graduiert waren, vor allem aber dem niedrigen Bürgertum, den Bauern und den Dienstboten wurde das Tragen von ,,Prachtkleidern" verboten; am 29. 8. 1791 wurden diese ,,in Nichtbeachtung gerathene Vorschriften" wieder suspendiert. A m 8 . 5. 1775 versuchte eine neue Trauerordnung, den Kostenaufwand bei Trauerfällen, vor allem den Kleidungsaufwand einzugrenzen, indem man Trauerdauer, Wert und Farbe der Stoffe genau festlegte (Scotti II). 26 Die Steuerfreiheit des Adels, einst sinnvolle Gegenleistung für Kriegsdienst sowie Beratung und Unterstützung des Fürstbischofs, hatte sich nach 1648, mit der Einrichtung eines stehenden Heeres in diesem geistlichen Staat, endgültig in ein Privileg verwandelt. Schon im 16. Jahrhunden waren Landaufgebot und Lehnsaufgebot, die vor allem vom Adel getragen wurden, nicht mehr ernst zu nehmende Verteidigungsfaktoren (vgl. Philippi, Jahre, S. 44; Hömberg, Entstehung, S. 2 4 8 f . ; Theuerkauf, Adel, S. 171). Zwar wurden sie im 16. Jahrhundert noch ,,mehrmals" aufgeboten, z. B. im Spanisch-Niederländischen Krieg; im 18. Jahrhundert hatten diese Aufgebote jedoch endgültig alle Bedeutung verloren (Theuerkauf, Lehnswesen, S. 22). Im 17. und 18. Jahrhundert war die Steuerfreiheit des Adels allerdings durch eine Vielzahl außerordentlicher Kopf Schätzungen, zuletzt im Siebenjährigen Krieg, stark durchlöchert worden. 27 Archiv V. Westerholt-Westerholt, Nr. 38, I I : Zum Beginn dieser Politik einer fortschrei-

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Reif, Adel

Anmerkungen

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42-4S

tenden Adelsregeneration unter Christoph Bernhard v. Galen um 1650 vgl. Kohl, S. 28-30. Sie blieb, wie schon die Familienpolitik des katholisch gebliebenen stiftsfähigen Adels, seit dem 16. Jahrhundert eng mit gegenreformatorischen Motiven verknüpft (vgl. dazu Richtering, Fürstenberg. F G III, S. 52). 28 Mummenhoff, S. 250-253 datiert den Durchbruch des Barock im Münsterland auf die Zeit nach 1680 (vgl. auch Kerckerinck, Kulturbilder, S. 793 f. ; Rensing, S. 237). Stadtwohnungen des Adels gab es schon im späten Mittelalter (v. Klocke, Fürstenberg, F G II, S. 3); doch ging der Adel nach 1700 erstmals zu einem intensiven saisonalen Staddeben über. Zunächst kauften die Familien zu Beginn des 18. Jahrhunderts zum Teil die repräsentativen Höfe der Erbmänner (Kirchhoff, Erbmänner, S. 5); dann errichteten sie selbst neue Adelspalais; Rensing, S. 239 spricht in diesem Zusammenhang von einer weiteren ,,Verstädterung des Adels". 29 ,,Wer als der eigentliche Adel eines Landes anzusehen, hängt von der Verfassung des Letzteren ab, im ehemaligen Hochstift Münster ward nur der Ritterbürtige dafür angesehen." (Revidierter Entwurf des Provinzial-Rechts . . ., § 32). 30 Vgl. Vierhaus, Deutschland, S. 69 und Hanschmidt, S. 46. Bis zum Ende des Ancien Régime hat der stiftsfähige westfälische Adel allein in Münster und Paderborn fünfzehn (Münster: 6; Paderborn: 9) Fürstbischöfe gestellt. Auch als Deutschordensritter sind im 16. Jahrhundert einige Angehörige der westfälischen Adelsfamilien in den Fürstenstand aufgestiegen, nämlich J . V. d. Recke (1549-1551); H . v . Galen (1551-57); W. v. Fürstenberg (1557-59) und G. ν. Ketteier ( 1559-62); Gotthard v. Ketteier wurde nach dem Fall des Ordensstaates 1562 weltlicher Herzog von Kurland (v. Klocke, Land, S. 791; Geisberg/Tücking, S. 124-132). 31 Über die Familie v. Merveldt schrieb Hüffer: ,,Die Herrlichkeit Lembeck, dem Grafen v. Merveldt gehörig, bestand aus sieben Dörfern und hatte ein paar Stunden im Durchmesser. Der Graf übte die Polizeigewalt, hatte die hohe und niedere Gerichtsbarkeit, große Grundherrschaft und ausschließliche Jagd. Verordnungen wurden in seinem Namen von den Kanzeln verlesen und begannen mit ,,Wir, August" usw. Unverkennbar war seit Jahren das Streben der Familie dahin gegangen, sich eine Art Landeshoheit zu erwerben." (Steffens, Hüffer, S. 44). 32 Nach einer Kopfsteuerliste in Münsterische Chronik, S. 5ff. Die Zahlen gelten für das gesamte Fürstbistum Münster. Die 1703 von einer durch Fürstbischof, Domkapitel und Ritterschaft ernannten Kommission aufgestellte Liste der landtagsfähig anerkannten Güter nannte für das Oberstift 60 Häuser mit zweifelsfrei anerkannter Landtagsfähigkeit (vgl. Behnes, S. 683-700 und STAM, Mstrsche Ritterschaft Nr. 54 und 99). Davon waren 29 kleinere Rittergüter, sogenannte Burglehen oder Burgmannshöfe, die einst als landesherrliche Verteidigungsburgen am Rande der Städte angelegt worden waren. Nienborg besaß davon 15, Horstmaar 6, sowie Dülmen und Stromberg j e 4 . Der Umfang des dazugehörigen Landbesitzes war zumeist sehr gering., 33 So bot z. B. der Graf Schmising dem Freiherrn v. Nagel 1753 das Haus Masthof zum Verkauf an; da dieser es nicht kaufen wollte, sich auch kein anderer adliger Käufer fand, behielt v. Schmising das Rittergut weiterhin (vgl. Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 131). 34 Den Reichsgrafentitel erlangten die Familien v. Velen 1641, v. Westerholt 1700, v. Plettenberg-Nordkirchen 1724 und V. Merveldt 1726. Den Reichsfreiherrntitel besaßen zum einen die vorgenannten Familien vor ihrer Erhebung in den Reichsgrafenstand, zum anderen die Familien V. Kerckerinck-Borg und v. Kerckerinck-Stapel seit 1710, die Familie v. Twickel seit 1708. 35 Theuerkauf, Adel, S. 159 f. ; derselbe Prozeß der Distanzierung ist auch an den Patenschaften erkennbar; für adlige Kinder wurden seit dem 16. Jahrhundert zunehmend nur noch Adlige als Paten gewählt. Zu den Gründen der vorher recht geringen Distanz zwischen Bauern und Adel vgl. Homberg, Entstehung, S. 248-250. 36 Zit. nach Wigand, S. 167 und 171. 37 Vgl. dazu Theuerkauf, Adel, S. 173; Kohl, S. 27. In der Architektur übernahm das münstersche höhere Bürgertum nach 1680 den vom Adel geprägten Baustil (Mummenhoff, S. 248); seine Söhne schickte es auf die Kavalierstour und erzog sie insgesamt nach dem Bildungsideal des Adels (vgl. dazu Kap. II. C. 3.6). 498

Anmerkungen

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46-48

38 Hartlieb v. Wallthor, Selbstverwaltung, S. 51 ; Hüffer sprach in seinen Erinnerungen vom ,,mäßigen, zum Teil auch bedeutenden Wohlstand" dieser Familien (Steffens, Hüffer, S. 50). Um ein Amt für ein Familienmitglied zu erwerben, wurden alle zur Verfügung stehenden Konnexionen und Patronagebeziehungen aktiviert; Empfehlungsbriefe wurden gesammelt und über persönliche Besuche suchte man Fürsprecher zu gewinnen. Wurde eine Stelle frei, dann setzte ein Wettrennen um die Positionen und ein Wettkampf zwischen den Familien ein; zum Teil wurden die Ämter auch vom Vorgänger erkauft (zu diesem Kampf um ,,Nahrungen" vgl. auch Knemeyer, S. 120 und Archiv v. Korff-Harkotten I F h l , 26. Bd.). Die Gehälter, die solche Beamte in Spitzenpositionen erreichen konnten, waren bei erfolgreicher Ämterkumulation außerordentlich hoch und reichten an das Einkommen eines Domherrn und auch manchen Rittergutes heran (vgl. Anhang, Tab. 1, c, S. 464). 39 In Paderborn war allein diese Gruppe stärker als der stiftsfähige Adel; 27 aufgeschworene Familien standen 33 nichtaufgeschworenen gegenüber (Jacobs, Landstände, S. 62, Anm. 45). 40 Den Begriff verwendet Rothert III, S. 315; zur Nobilitiertenschichtin anderen Territorien des Reichs. Vgl. Hofmann, S. 141 ff. 41 Vgl. Philippi, S. 37; v. Oer, Verfassungen, S. 108; Haas-Tenckhoff, Militär, S. 148; Steffens, Hüffer, S. 50 und Hartlieb v. Wallthor, Selbstverwaltung, S. 18; diese wohlhabende Bürgerschicht brachte einen erheblichen Teil ihrer Kinder in der Geistlichkeit, vor allem in den reichen Benediktiner- und Zisterzienserklöstern, bei Beginen und in den Kollegiatskirchen unter. 42 Vgl. dazu Lahrkamp, Münster, S. 484ff., Kochendörffer, Denkschriften, S. 110 und die vom Luxusgewerbe bestimmte Zusammensetzung der am Ende des 18. Jahrhunderts gegründeten „Industriegesellschaft" zu Münster (STAM, Nachlaß Druffel, Nr. 225). 43 Am deutlichsten läßt sich diese Schicht im Bistum Paderborn erkennen (vgl. Mooser, S. 48 ff.). Da die Familien in der Regel mehrere Rittergüter besaßen, kam es in Paderborn regelmäßig, in Münster seltener vor, daß sie die Hovesaaten der Häuser, die sie nicht bewohnten, verpachteten. Doch waren im Münsterschen diese Hovesaaten zumeist kaum größer als die der umliegenden Bauerngüter und wurden häufig noch in Parzellen verpachtet, so daß von einer Schicht bürgerlicher oder bäuerlicher Großpächter hier nicht gesprochen werden kann. 44 Es gab im Fürstbistum Münster ein 41 adlige Domkapitulare umfassendes Domkapitel mit insgesamt 73 Vikarien, Kanonikaten und anderen geistlichen Bedienungen. Daneben standen neun Kollegiatstifte, die ähnlich organisiert waren, neun Damenstifte, die ebenfalls eine große Zahl von Vikarien beschäftigten, sowie zahlreiche Klöster und geistliche Stiftungen mit Vikarstellen; dazu kamen noch die Pfarrer- und Vikarstellen in den einzelnen städtischen und ländlichen Kirchengemeinden. Veit, S. 180, schätzt für Mainz am Ende des 18. Jahrhunderts eine Zahl von 170 Kanonikern und 250 Vikaren; in der Stadt Münster lebten 1802 insgesamt 533 Welt- und Ordensgeistliche, das waren ca. 4 % der Bevölkerung (Lahrkamp, Münster, S. 348-350). Ein Damenstift beschäftigte im Durchschnitt auch zwölf bis fünfzehn Vikare und einen Pfarrer; ähnlich lagen die Verhältnisse in den reichen Klöstern. In den reichen Prämonstratenserklöstern, so stellte der Emigrant Abbé Baston mit außerordentlicher Verwunderung fest, zelebrierten die adligen Pfründenbesitzer nur sonntags, während sie bürgerliche Priester werktags die Messe lesen ließen. Mehrfach fühlte er sich dabei gemüßigt, seinen französischen Lesern zu versichern, daß er hier keine Märchen erzähle (Baston, S. 114f.). 45 In der Stadt Münster hatten sich die aus der städtischen Oberschicht stammenden Besitzer der Pfründen in den gutdorierten Kollegiatsstiftern als sogenannter ,,clerus secundarius intraneus" als eine Art Oberschicht des clerus secundarius, von den übrigen Geistlichen abgespalten und beanspruchten, diese wiederum gegenüber dem Domkapitel zu vertreten. Auch an einem solchen Distanzierungsvorgang wird das Selbstverständnis dieser Schicht als einer zweiten Elite unterhalb des stiftsfähigen Adels deutlich (vgl. Hanschmidt, S. 105f.; Philippi, S. 37). 46 Vgl. V. Oer, Verfassungen, S. 109f.; STAM, Fstntm Mstr., Edikte, Nr. 223. 47 Steffens, Hüffer, S. 44; ein Gleiches widerfuhr kurz darauf auch dem Maler Rinklake; daß Maler und Pfarrer diese Behandlung als verletzend empfanden und sich demonstrativ zurückzo-

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Anmerkungen

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gen, war ein Indiz für das Aufkommen eines neuen Selbstbewußtseins des Bürgertums auch im Fürstbistum; man zählte das Jahr 1783. 48 Diese soziale Distanz zwischen Stiftsadel und gebildetem Bürgertum erhellt auch daraus, daß bis ins 17. Jahrhundert hinein die unehelichen Kinder eines Domherrn begehrte Heiratsobjekte waren, da sich über diese Heiraten vor allem für Juristen vielfältige Patronage- und damit Aufstiegsmöglichkeiten ergaben (vgl. Knemeyer, S. 124). 49 Vgl. zu solchen in unterwürfigem Ton vorgetragenen Ämterbemühungen z. B. den undatierten, zwischen 1760 und 1770 geschriebenen Brief des Rentmeisters und Juristen Hallmann, der das Gografiat zu Herzfeld anstrebte, an Hermann Adolph v. Nagel (Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 131). Auch die Frauen des Adels beteiligten sich an diesem Patronagesystem. Theresia V. Droste-Senden schrieb z. B. am 22. 4. 1784 an ihren Bruder Clemens II. August v. Twickel: ,,Fürstenberg [der für die Anstellung der Geistlichen verantwortliche Generalvikar, H . R.] hat aus meiner Recomandation sich bewegen lassen, den Kaplan zu Senden [zu] dem Pastore von da zu machen . . . habe ich alles angewendet, für ihn die pastorat zu erwerben." (Archiv v. Twikkel-Havixbeck IG, 239 i.). Zur Überbesetzung der Positionen im Rechtsbereich und zur Advokatenschwemme in Münster während der letzten zwei Drittel des 18. Jahrhunderts vgl. Knemeyer, S. 39 u. 126. Auch Justus Gruner fiel an Münster im Jahre 1802 neben der großen Zahl von Geistlichen, die er als Aufklärer besonders unwillig vermerkte, auch die Überzahl der Advokaten auf (Gruner, S. 56). 50 Archiv V. Droste-Hülshoff, Nachträge, Paket 33. Die Beurteilung des stiftsfähigen westfälischen Adels als besonders stolz war am Ende des 18. Jahrhunderts allgemein verbreitet. Hüffer (Steffens, Hüffer, S. 49) nannte den Adel äußerst hochmütig; der Emigrant Abbé Baston widmete in seinen Erinnerungen über Westfalen dem Adelsstolz ein eigenes Kapitel (Baston, S. 104 ff.). Als Franz V. Fürstenberg 1775 Klopstock nach Münster holen wollte, äußerte dieser vor allem Besorgnis über den Stolz des dortigen Adels (Moritz, S. 21). 51 Archiv V. Droste-Hülshoff, Nachträge, Paket 33. 52 Umgekehrt hatten auch münstersche Familien Rittergutsbesitz in den umliegenden Territorien und besaßen deren Standschaft; hier lag der Grund für eine vom Adel in selbstverständlicher Weise in Anspruch genommene Freizügigkeit bei der Wahl des Dienstortes, die den Preußen später außergewöhnlich erschien (vgl. Keinemann, Freizügigkeit, S. 108). Zur Herkunft der Domkapitulare vgl. die Analyse des Domkapitels Münster bis zum Ende des 18. Jahrhunderts unten, Kap. II. C. 3, S. 156ff. 53 Protestanten in der Ritterschaft waren im 18. Jahrhundert die v. Bodelschwingh-Sandfort, V. Dumpstorff, eine Linie der Familie v. Elverfeldt, sowie die Familien v. Hammerstein, v. Diepenbrock, v. Romberg, v. Wylich und v. d. Bussche. 54 Die Erinnerung an den Erbmännerstreit war institutionell am stärksten durch die Stiftung V. d. Tinnen und die zu ihrem ümkreis gehörige Erbmännervikarie gesichert. 1688 durch ein Testament gegründet und Anfang des 18. Jahrhunderts erheblich erweitert, sollten ihre Erträge, 1816 waren es 5220 RT/Jahr, in erster Linie armen Angehörigen von Erbmännerfamilien zukommen. Verwandtschaft mit Erbmännerfamilien über weibliche Linien, wie sie den alten Stiftsadel auszeichnete, sollte hinter der Verwandtschaft über den Mannesstamm zurückstehen. Hier lag ein Ansatzpunkt für gleichmäßig wiederkehrende Spannungen, wie der große Prozeß Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts zwischen den Familien v. Kerckerinck-Stapel und v. Droste-Hülshoff gegen die Familie v. Ketteier eindrucksvoll zeigt (vgl. Archiv v. Droste-Hülshoff, Akte 166 u. 167). 55 Tabelle 1 beruht auf den Familien- und Personendaten in v. Klocke, Landesherren, S. 59ff., Keinemann, Domkapitel, S. 222ff. und eigenen prosopographischen Forschungen. Tabelle 2 beruht auf den Personenangaben bei Haas-Tenckhoff, Militär, S. 142 ff. und eigenen prosopographischen Forschungen. Es wurden die Militärkarrieren der Adelssöhne in den Heeren des Fürstbistums Münster, des Kaisers und der größeren katholischen Territorien des Reiches erfaßt.

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Anmerkungen

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ÍJ-Í8

56 Das Absinken der Familie v. Raesfeldt ist auf einen großen Konkurs zurückzuführen. Die V. Münster verlagerten im 18. Jahrhunden ihren Besitzschweφunkt aus dem Münsterland hinaus. Die V. Twickel, die aus dem holländisch-münsterländischen Grenzbereich kamen, sind erst seit Beginn des 17. Jahrhunderts im Münsterland fest ansässig. Die v. Droste-Hülshoff, v. Kerckerinck-Borg und v. Kerckerinck-Stapel gehörten zu den Erbmännerfamilien und konnten erst nach Abschluß des Erbmännerprozesses zu Beginn des 18. Jahrhunderts ins Domkapitel gelangen ; die Familie v. Herding hat wie die Familie v. Schonebeck durch Mißheirat die Stiftsfähigkeit verloren, die v. Schonebeck schon vor, die v. Herding während des 18. Jahrhunderts. 57 Dompröbste, Dechanten im Domkapitel, Generalvikare und Äbtissinnen von Damenstiftern. 58 Geheime Räte, Regierungs- und Hofräte, Kriegsräte und Hofkammerpräsidenten. 59 Erbmarschall, Erbdroste, Erbkämmerer, Obristmarschall, Obristmarschall, Obriststallmeister, Obristküchenmeister und Kämmerer. 60 X bedeutet: Das Drostenamt war gleichsam in der Familie erblich geworden. Die Ämter Werne, Bocholt und Dülmen wechselten noch relativ häufig unter verschiedenen Familien. 61 Grundlage dieser Tabelle ist die in Mstrsche Chronik, S. 5ff. u. 73 ff abgedruckte Kopfsteuertabelle von 1760. Dabei wird angenommen, daß Steuersatz und Einkommen aus Grundvermögen bei den Familienhäuptern im großen und ganzen korrelieren. Datenreihen zum Einkommen aller Adelsfamilien aus der Grundherrschaft sind nicht vorhanden. Einzelne Angaben dazu folgen in Kap. II. B. 2. 62 Das Einkommen aus Grundbesitz wurde zu 40 %, der Ämtererfolg zu 35 %, die Herrschaft mit 25 % in Anrechnung gebracht. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, daß der Umfang des Grundbesitzes nicht nur Grundlage, sondern in noch stärkerem Maße Folge von Ämtererfolg und Herrschaft war, somit werden diese letztgenannten beiden Faktoren zum Teil schon von ihm erfaßt. Darüber hinaus war der Grundbesitz das Bleibende, während die Erinnerung an den Ämtererfolg von Familienangehörigen etwas verblaßte. Die Herrschaft wurde nur zu 25 % gesetzt, weil die hier erfaßten Unterschiede in der lokalen Herrschaft für das Selbstverständnis des Adels weniger wichtig waren als die Herrschaftsmöglichkeiten als Landstand und als Mitglied des Domkapitels. In der Schichtung nach Ämtererfolg wurden Fürstbischöfe mit 5, hohe kirchliche Dignitäten, Verwaltungs- und Hofämter mit 3, Domherrnstellen, erbliche Drostenstellen und hohe Offiziersstellen (Major und höher) mit 2 Punkten, einfache Drosten- und Offiziersstellen mit 1 Punkt bewertet. In der Schichtung nach Herrschaft erhielten die Grundherrschaften einen, die Patrimonialgerichte zwei und die Herrlichkeiten drei Punkte. Alle diese Bewertungen sind, jenseits der oben angefühnen systematisierten Rechtfertigungen, letztlich in einer Vielzahl von zumeist indirekten Aussagen der Adligen selbst und in einer durch Quellenarbeit gewonnenen Vorstellung der adligen Verhaltensstruktur gegründet. Zur Aufstellung der Tabelle 10 erhielt zunächst jede der 25 Familien diejenige Punktzahl zwischen 1 und 25, die ihrer Position in der jeweiligen Einzelschichtung entsprach (Pos. 1:25 Punkte; Pos. 2:24 Punkte etc.); dann wurde diese Punktzahl zu 40 %, 35 7o bzw. 25 % in Anrechnung gebracht und addiert. 63 Am Anfang des 18. Jahrhunderts in der stiftsfähigen Linie erloschen, und deshalb in den später folgenden quantifizierenden Detailanalysen zur Familien- und Erziehungsstruktur nicht berücksichtigt. 64 Wie wichtig die Dompräbenden im Vergleich zu erfolgreichen Militärkarrieren für eine gehobene Position in der Prestigeskala waren, wird an der Position zweier im Militär erfolgreichen Familien, den v. Wenge und v. Schonebeck, in den niedrigen Kategorien III und IV erkennbar. 65 Vgl. dazu S. 208ff. 66 Zusammengestellt nach STAM, Fstntm Mstr. Landesarchiv, Nr. 490, 2; STAM, Mstrsche Ritterschaft, Nr. 54; v. Spießen, Stammtafeln der münsterschen Ritterschaft und der 1703/04 aufgestellten ,.Matricula deren im hiesigen Hochstift und Fürstentum Münster in jeglichem Amt sich befindenden adliger Häuser . . . " (Archiv v. Kerckerinck-Stapel; eine ähnliche Liste bei 501

Anmerkungen

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S8-61

Behnes, S. 648). Die in Klammern gesetzte Zahl der zweiten Spalte bezeichnet die Mitglieder der Ritterschaft mit auswärtigem Besitzschwerpunkt. 67 Unter den 27 im 19. Jahrhundert noch blühenden münsterländischen Familien finden sich zwei, die am Ende des 18. Jahrhunderts durch Spaltung aus einer Familie entstanden sind (v. Landsberg-Velen und v. Landsberg-Drensteinfurt) sowie sechs Familien, die entweder durch direkte Adoption oder über das Verfahren der Adoption durch Heirat bestehen blieben; es sind dies die Familien v. Beverförde-Elverfeldt, v. Westerholt-Boenen, v. Kerckerinck-Stapel, v. Landsberg-Velen, v. Nagel-Dornick und v. Droste-Nesselrode-Reichenstein. v. Klocke, Landesherren, S. 71 ff., der ledighch eine Schrumpfung von 100 Familien (seit der Mitte des 15. Jahrhunderts) auf 63 Familien (um 1800) für die gesamte Ritterschaft konstatiert, vernachlässigt die vielen neugegründeten und wieder aussterbenden Nebenlinien. Zur Größe des Lehnsaufgebotes vgl. auch Theuerkauf, Land, S. 38f. u. 53, sowie Theuerkauf, Lehnswesen, S. 17. 68 Die Gefährdung des Standes durch eine zu geringe Zahl daran beteiligter Familien war am Ende des 18. Jahrhunderts in den Ritterschaften der Grafschaft Mark und Paderborns noch wesentlich stärker als im Fürstbistum Münster. In der Grafschaft Mark gab es im 15. Jahrhundert noch 100, im 18. Jahrhundert nur noch 27 und 1805-06 nur noch 14 Familien, die den Ritterstand ausmachten (vgl. v. Klocke, Landesherren, S. 71-73). Die Paderborner Ritterschaft bestand Mitte des 15. Jahrhunderts aus 47, 1802 nur noch aus 27 Familien (Hartlieb v. Wallthor, Selbstverwaltung, S. 19).

II. B. ökonomische

Grundlagen

des

Adelsstandes

1 Vgl. zum folgenden die Münstersche Eigentumsordnung von 1770, gedruckt bei Schlüter, S. 257ff.; dazu Knops, S. 7ff.; Welter, S. 25ff. und Scharpwinkel, S. 61ff. 2 Die Gründe, die zu einer Entsetzung der Eigenbehörigen von ihren Gütern berechtigten, waren in der Eigentumsordnung von 1770 genau beschrieben und festgesetzt; vgl. Schlüter, S. 301 f. 3 Zum Rechtsgrund der Dienste vgl. Knops, S. 2 6 f . ; zu ihrem Umfang vgl. Kiessing, S. 2 u. Keimer, S. 91 ; auch auf den im folgenden genauer untersuchten Gütern der Familien v. Landsberg-Velen und V. Droste-Senden herrschte die Lösung von einem Diensttag pro Woche vor (STAM, Archiv V. Landsberg-Velen, Nr. 15707-15749 und STAM, Archiv v. Droste-Senden, Akten I, Nr. 396). 4 Der Begriff Erbpächter bezeichnete im Münsterland den in die feudale Struktur der adligen Grundherrschaft integrierten Erbzinsbauern, während in anderen westfälischen Regionen, z. B. in Minden-Ravensberg, der nicht mehr zu Diensten verpflichtete, vor allem auf Domänengut angesessene Bauer mit erblichem Nutzungsrecht auf der Basis eines rein sachlich bestimmten modernen Pachtkontrakts diesen Namen trug. 5 Die Steueredikte unterschieden, bei den größten Gütern angefangen, Schulzen, Erben (Zeller und Kolonen), Kötter, Markenkötter, Brinksitzer und Heuerleute, wobei in der Regel die Besitzkategorien bis zum Kötter einschließlich spannfähige Vollbauernstellen umfaßten. Die Heuerleute waren ohne Grundbesitz oder hatten ein kleines Stück Land gepachtet. Innerhalb der einzelnen Kategorien gab es weitere Unterteilungen, z. B. in halbe Erben und Viertelerben (vgl. z. B. STAM, Mstrsche Ritterschaft, Nr. 101, Bd. 2). Zu den Ursachen des relativ geringen Umfangs der adligen Eigenwirtschaft im Unterschied zum ostelbischen Preußen vgl. Homberg, Entstehung, S. 251 f. 6 Kiessing, S. 43-48 ; das Gut Harkotten der Familie v. Ketteier bestand z. B . 1780 aus einer zum Teil in Parzellen verpachteten, zum Teil vom Haus aus bewirtschafteten Hovesaat und 212 Bauerngütern (1837 bestand die Hovesaat aus 740 Morgen; ein Viertel davon, also 185 Morgen, wurden vom Haus aus bewirtschaftet; vgl. STAM, Ldrtsamt Warendorf, Nr. 293); insgesamt umfaßte der Rittergutskomplex - Rittergut und Bauerngüter zusammengenommen - 12000

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Anmerkungen zu Seite 61-64 Morgen und konnte sich damit durchaus mit dem Umfang der nur aus Eigenwirtschaft bestehenden ostelbischen Rittergüter messen. Wegen der geringen Eigenwirtschaft leisteten nur 12 Kolonen insgesamt 17 Dienste; alle anderen Dienste wurden jährlich mit Geld abgegolten (Kiessing, S. 8f.). 7 Sofort nach dem Siebenjährigen Krieg wurde durch den Verkauf von Gemeindeland zum Zwecke der Schuldentilgung eine neue Ansiedlungs- und Landesausbaubewegung eingeleitet (vgl. die Markenteilungsordnung vom 16. 9. 1763 bei Schlüter, S. 225 ff.). Zur gleichen Zeit und aus demselben Grunde teilten auch viele der adligen Grundherren ihre Eigenwirtschaft weiter auf und siedelten neue Hovesaatskötter an. Beide Maßnahmen begünstigten das Bevölkerungswachstum und sicherten dem Grundherrn billige Arbeitskräfte in seiner Umgebung. 8 Scharpwinkel, S. 114; zur Abgabensteigerung nach 1648 vgl. Völker, S. 16, 21, 115, Schotte, S. 25ff., Winkler, S. 52-55; am 5. 2. 1680 und am 3. 7. 1688 wurden Gesetze gegen das Einziehen von Bauernland durch die Grundherrn erlassen (Scotti, Bd. II). 9 Vgl. dazu Scharpwinkel, S. 114, Kiessing, S. 49; als relativ fester Normalsatz für den Gewinn werden bei Schotte, S. 63, die Abgaben eines Jahres, für die Auffahrt die eines halben Jahres angegeben. Zum möglichen Wechsel zwischen Geld- und Naturalabgaben vgl. die Münstersche Eigentumsordnung, 2. Teil, Tit. 6, § 4, S. 276 u. 278; zur Praxis dieser Regelung, der Neufestsetzung der Abgaben in Geld oder Getreide jeweils nach mehreren Jahren vgl. S T A M , Archiv V. Landsberg-Velen, N r . 14400 (für das Jahr 1786). 10 Vgl. Henning, Dienste, S. 82. 11 Vgl. Sauermann, S. 109ff.; die Reibungspunkte zwischen Bauern und Grundherrn waren aber weit zahlreicher. So hatte es z. B. für den Bauern erhebliche Bedeutung, ob der jüngste oder der älteste Sohn das Gut übernahm. Der Bauer wünschte eher den jüngsten Sohn, weil der Abstand zwischen zwei Besitzübergaben dadurch um etwa ein Drittel verlängert wurde und die Belastung des Guts durch die Leibzucht gering blieb. Der Adel setzte in der Eigentumsordnung von 1770 das Recht durch, den jüngsten Sohn ablehnen zu dürfen. Konkrete Konfliktfälle dieser Art finden sich z. B. im Archiv v. Korff-Harkotten I F G , 25. Bd., Briefe des Freiherrn v. Korff an den Rentmeister Franke, vgl. auch Schotte, S. 77 und Lappe, S. 47f. und 195. 12 Bemerkungen zur Eigentumsordnung 1770, zu Tit. 4. § 6; Stam, Mstrsche Ritterschaft, Prot. 1769, Nr. 166/6; zu den ungünstigen Kreditmöglichkeiten der Bauern vgl. Kiessing, S. 64; Schotte, S. 83. 13 Steffens, Hüffer, S. 50f. 14 Das Verpachten von Land an die Heuerlinge, das der Bauer oft gegen Bezahlung auch noch bebaute, wurde vom Adel, letztlich wohl ohne Erfolg, scharf bekämpft, weil es den Bauern von der Bearbeitung anderer, z . B . der Zehntfelder abhielt und den Kreis der Markenberechtigten erweiterte (vgl. STAM, Mstrsche Ritterschaft, Prot. 1769, Nr. 166/6). 15 VgL z . B . Völker, S. 109; v. W e s t e r h o l t , F G , S . 118-121;Lappe,S. 80f. DieBauernhatten häufig für den Grundherrn noch Flachs und Seide zu spinnen. 16 Quellengrundlage waren die Renteibücher des Rittergutskomplexes der Familie v. Landsberg-Velen, STAM, Archiv V. Landsberg-Velen, Nr. 15707-15749. Die Getreideeinnahmen der Hovesaat sind in diesen Rechnungen in ihrem Geldertrag angeführt. Die Umrechnung aller Einkommensfaktoren dieser Grundherrschaft in die ihrem Wert entsprechende Menge Roggen (Roggenwert) erfolgte nach den Preisangaben der Renteibücher und einer um 1830 gedruckten, handschrifdich fortgeführten Liste der Martinipreise auf dem Markt zu Münster, der sogenannten ,Münsterschen Kappensaat', die sich in der Bibliothek des Historischen Vereins zu Münster fand. Weniger weit fortgeführte Listen derselben Kappensaat finden sich auch in Scotti II, S. 374ff. und in WZ 49, 1891, hg. v. P. Bahlmann, S. 77ff.; dort auch Hinweise über Zustandekommen und Repräsentativität der Preise für das Fürstbistum Münster. 17 Beim Domkapitel bestand Anfang des 19. Jahrhunderts (1803) ein Verhältnis von 2:1 zugunsten der Geldeinnahmen (Kochendörffer, Spiegel, S. 112). Zur Entwicklung der einzelnen Einkommensfaktoren der adligen Grundherrschaft im Münsterland, d. h. von Roggen, Hafer,

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Anmerkungen zu Seite 67-72 Gerste, Malz und Geld, aber auch von Weizen, Bohnen, Erbsen, Rübsamen, Gänsen, Enten, Hühnern und Eiern vgl. die Schaubilder zur Einkommensentwicklung des v. Landsberg-Velenschen Rittergutkomplexes im Anhang S. 468 ff. 18 Quellengrundlage dieses Schaubilds ist die sogenannte Münstersche Kappensaat; vgl. dazu Anm. 22. Ergänzend wurden die Getreidepreise im Amtsblatt des Regierungsbezirks Münster herangezogen. Wegen der logarithmischen Aufteilung der y-Achse erscheinen die Preisschwankungen in einer verzerrten Form, d. h. geringer als sie in Wirklichkeit sind. 19 Zur Quellen- und Umrechnungsgrundlage vgl. Anm. 16 und 18; sowie ST A M , Archiv v. Droste-Senden, Nr. 4 3 8 ^ 9 6 . 20 Vgl. zum absoluten Anstieg der Ämterdotationen im 18. Jahrhundert den Anhang, Tabelle Ic, S. 464ff.; daß die im Fürstbistum Münster gezahlten Gehälter für Spitzenpositionen auch im Reichsdurchschnitt als hoch bezeichnet werden müssen, zeigt ein Vergleich mit den Gehaltsangaben bei Lampe, S. 334ff. 21 Vgl. zum bisher Ausgeführten Müller, Domkapitel, S. 58ff.; s. auch zum Vergleich die Zusammenstellung von Gehältern im Anhang, Tabelle 1, S. 463 ff. 22 So belief sich z. B. das Einkommen des Paul Burchard v. Merveldt, Domherr zu Münster und Hildesheim, 1790 auf 6047 RT/Jahr (vgl. Archiv v. Merveldt, Nachlaß Paul Burchard v. Merveldt, Vol. II). Die Paderborner, Osnabrücker und Hildesheimer Präbenden brachten ca. ein Viertel bis ein Drittel weniger ein als eine münstersche Präbende; sehr gering war das Einkommen der Domherrnpräbende in Minden mit durchschnittlich 200 R T / J a h r (vgl. Archiv v. Korff-HarkottenIEd, 13. Bd., Brief v. Hüllesheim an Freifrau v. Korffvom 16. 1. 1797). Mainzer Domherrn, die zwischen zwei und sechs Präbenden besaßen, erreichten ein Jahreseinkommen von 2 0 0 0 0 - 3 0 0 0 0 Gulden ( 1 3 4 0 0 - 2 0 0 0 0 R T ) ; vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 47, Anm. 3. Die Präbendeneinkünfte an Stiftskirchen waren - von Minden abgesehen - wesentlich niedriger als die der Domherren; die Propstei am Alten Dom zu Münster brachte nur 300 R T / J a h r ein (Keinemann, Domkapitel, S. 49). 23 Vgl. Schnee, Stellung, S. 179f., Keinemann,Domkapitel, S. 182f.;undSchnee, Baruch, S. 89, 92 und 104. Clemens August kaufte auf diese Weise 5 geistliche Fürstbistümer für insgesamt ca. 1000000 R T zusammen. Max Franz zahlte 1780 für Köln und Münster 700000 R T . Max Friedrich kaufte Münster 1763 für 100000 R T (Schnee, Finanzierung, S. 18-22). 24 Der Nachlaß des Domdechanten F . E. v. Fürstenberg belief sich 1761 auf 60568 R T ; der Dompropst Friedrich v. Plettenberg-Marhülsen hinterließ 1753 Besitz im Werte von 78 004 R T (STAM, Domkapitel Münster, I К Lit. F , Nr. 85 u. 223"). 25 Grundlage der Schätzung sind die Steuersätze der Stifter in den Kopfschatzungen während des Siebenjährigen Krieges (STAM, MstrscheRitterschaft, Nr. 9 5 - 9 7 u . 101-102) sowie einzelne Angaben über das Präbendeneinkommen von Stiftsdamen in den Adelsarchiven, z. B . im Archiv V. Oer, E. 583 ; die Stiftsdame zu Metelen Maria Clara v. Oer bezog um 1803 ein Präbendeneinkommen von umgerechnet 500 R T . Die Angaben für das Stift Borghorst sind errechnet aus den Pensionsangaben bei Weining, S. 340, unter Berücksichtigung, daß die Pensionen nach den Bestimmungen des Reichsdeputationshauptschlusses neun Zehntel des letzten Einkommens ausmachen sollten. 26 Vgl. Haas-Tenckhoff, Militär, S. 153, die Untersuchungen von Redlich, v. a. S. 145ff., Wohlfeil, Adel, S. 219, sowie Tabelle eins im Anhang, S. 463. 27 Vgl. Tabelle Ic im Anhang, S. 4 6 5 f . ; auch hier blieb die Zahl der Gehälter innerhalb eines Ratskollegiums nicht konstant; 1719 gab es 8, um 1800 nur noch 5 Gehälter beim Geheimen Rat (Keinemann, Stellung, S. 256; Katz, S. 96f.). 28 Nach einer Zusammenstellung in STAM, Fstntm Mstr., Geh. Rat, Nr. 518 u. 519. 29 Vgl. hierzu Tabelle Ic, im Anhang S. 467. 30 Vgl. die Aufstellung bei Ohde, S. 15f. sowie die Einnahmerechnungen des Drosten des Amtes Stromberg v. Nagel aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts im Archiv v. Nagel-Vornholz A la 112, 131 u. В. 2. 752.

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Anmerkungen

zu Seite 73-76

31 Vgl. ST AM, Bestallungsregister, Archiv v. Merveldt, Nachlaß Clemens August v. Merveldt, Vol. I sowie Glasmeier, Geschlecht, S. 182 ff. 32 Steffens, Hüffer, S. 49f. 33 Vgl. oben, S. 51 ff. 34 Vgl. dazu die Zusammenstellung der Ausbildungskosten in den Archiven v. Plettenberg-Nordkirchen, Nachträge B. 188, v. Merveldt, Nachlaß Paul Burchard v. Merveldt, Vol. I u. Nachlaß Maximilian v. Merveldt (1797-1849), Vol. I; v. Nagel-Vornholz Aa 177 und I Fh 1, 26. Bd. und die unvollständigen Angaben bei Erler, Erziehung, S. 115ff. 35 Eine einfache Domherrnstelle kostete in Münster am Ende des 18. Jahrhundens zwischen 10000 und 16000RT. Ein Freiherrv. Nagel-Vornholz zahlte 1754 14 ООО R T (Archiv v. NagelVornholz А la 131, Brief des Rentmeisters Löhers anH. A. v. Nagel vom 8. 4. 1754); in der Autobiographie Hüff ers heißt es : , ,Der Preis einer Präbende war 10 ООО Reichstaler. Wie die Herren den Vorwurf der Simonie beseitigten, ist mir unbekannt." (Steffens. Hüffer, S. 49). Der Domherr Paul Burchard v. Merveldt zahlte z. B. bei seiner Aufschwörung in Münster ca. 1200 R T an Statutengeldern, Kosten für ein Festessen (Tractament) und Reisekosten für seine beiden Aufschwörer (Archiv V. Merveldt, Nachlaß Paul Burchard v. Merveldt, Vol. I); seine Schwester Clara Ludowica v. Merveldt zahlte an ähnlichen Kosten beim Eintritt in das Stift Langenhorst 300 RT. 36 Zu den Schätzungen wurden folgende Daten verwandt: Domherr: 4 ООО RT Erbabfindung; 5 000-7 500 R T Ausbildungskosten; 1000-2 ООО RT Ämterantrittskosten; 10000-15000 R T für einen Präbendenkauf. Offizier: 4 ООО RT Erbabfindung; 1500-2 ООО RT Ausbildungskosten; 500-1 ООО RT Equipierung. Stiftsdame: 2 500 R T Erbabfindung; 500-1 ООО RT Ausbildungskosten; 300-500 RT Ämterantrittskosten; 500-1000 R T für einen Präbendenerwerb. heiratende Tochter: 3 ООО RT Brautschatz; 500-1 ООО R T Ausbildungskosten; 500-1 ООО RT weitere Heiratskosten (Hochzeitsfeier, Schmuck, Kleidung etc.). 37 Vgl. Steffens, Hüffer, S. 50. 38 ,,DiegeistHchen Wahlfürsten, die ihren Stuhl keinem Erben hinterlassen konnten, suchten um so mehr ihren Familien auf Kosten der Länder zuzuwenden. Schon Diedrich v. Fürstenberg in Paderborn und Bernhard v. Galen hatten dem Nepotismus gehuldigt; doch Friedrich Christian (v. Plettenberg) übertraf hierin alle anderen" (Rothert III, S. 320). Aus Einkünften und Subsidien, die nach den Wahlkapitulationen zum Besten des Landes verwendet werden sollten, kaufte Friedrich Christian Rittergüter im Wert von ca. 470000 RT; für den Bau des Schlosses Nordkirchen wandte er noch einmal ca. 110000 R T auf. Auch den Besitz der Linie Plettenberg-Lenhausen hat er bedeutend erweitert. Die zwei aus der Familie v. Metternich hervorgegangenen Fürstbischöfe erbauten für ihre Familie die Schlösser Bisperode, Wehrden und Löwendorf (Braubach, Politik, S. 78f.; Bading, S. 26; Völker, S. 71 f. u. 77; Rensing, Bauherren, S. 235). 39 Henning nennt 5 % Zinsen als für das 18. Jahrhundert normal (Henning, Verschuldung, S. 22) ; während der Adel die Verschuldung bei einem Juden nur als letzten Ausweg aus einer plötzlichen Kreditnot auffaßte, oder den Juden erst dann bemühte, wenn sein Kredit bei anderen Geldgebern erschöpft war, war für den Bauern häufig der Jude der einzige Kreditgeber. Der Bauer hat sich aber andererseits - zugleich mit der Zinsenzahlung und im Unterschied zum Adel - auch um Amortisation der Schulden bemüht. Beim Adel wurden dagegen selbst die frommen und karitativen Vermächtnisse in den Testamenten der Vorfahren beim Erbfall zumeist nicht als Kapitalien an kirchliche Nachlaß Verwalter ausgezahlt, sondern auf der Basis jährlicher Zinszahlung bei der Familie behalten. 40 Vgl. Wüllner, S. 18 ; zu den Kontrollmechanismen des Standes, d. h. der den Stand bildenden Stammherrn vgl. z. B. den Brief des Rentmeisters Löhers an H. A. v. Nagel vom 14.4. 1754 (Archiv V. Nagel-Vornholz Ala 131). Diese Kontrollen der Stammherren setzten sehr früh ein; 505

Anmerkungen

zu Seite 76-79

der Einfluß der Lehnkammer und des Landesherrn blieb dagegen schwach; auch der Agnatenkonsens spielte keine wesentliche Rolle. 41 So erhielt z. B. die Familie v. Ketteier infolge eines Bittgesuchs nach 1763 ein Moratorium vom Kurfürsten bewilligt (STAM, Nachlaß Druffel, Nr. 273). 42 Zum folgenden vgl. Braubach, Politik, S. 72; Keinemann, Domkapitel, S. 154; Erler, Nordkirchen, S. 20ff. und Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen, Kart. 23, Nr. 6. und XX A 93, Verz. В 311b. 43 Die Erbtochter des immer noch umfassenden Besitzes heiratete, obwohl ihr Onkel v. Ketteier mehrere Versuche unternahm, eine Heirat mit münsterländischen Adligen zu arrangieren und so den Besitz im Heiratskreis dieses Adels zu erhalten, den österreichisch-ungarischen Offizier V. Esterhazy; deren Kinder verkauften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann den verbliebenen münsterländischen Besitz an den Herzog von Arenberg (Erler, Nordkirchen, S. 64-66). 44 Vgl. zum folgenden Archiv v. Nagel-Vornholz А la 131 u. A II 259.

II. C. 1. Die

Familienordnung

1 Um die Auflösung des Standes durch solche Kämpfe zu verhindern, mußten die Familien bestimmte, tendenziell demokratische Spielregeln für alle Familien verbindlich machen; das Turnar-System, nach dem die meisten Domherrnpfründen vergeben wurden, war eine solche Spielregel; vgl. dazu Kap. II. C. 3, S. 162ff. 2 Äußerst häufig wurden solche Verbindungen über Patenschaften geknüpft; vgl. dazu z. B. den Brief des Cl. August v. Landsberg vom 2. 4. 1765 an den Kurfürsten (Archiv v. Merveldt, Nachlaß C. Aug. v. Merveldt, Vol. II). Diese brachten der Familie vor allem Ämter. Wilhelm v. Fürstenberg, geb. 1623, fielen wegen seiner gutenBeziehungenzumPapst Alexander VII. gleich mehrere gut dotierte kirchliche Pfründen zu; darüber hinaus vermittelte er während eines längeren Aufenthaltes in Rom weitere Dornherrenstellen an seine Verwandten; als deren Wünsche aber immer umfassender wurden, sah er sich gezwungen, diese daraufhinzuweisen, daß auch in Rom die Präbenden nicht von den Bäumen zu schütteln seien (Lahrkamp, Fürstenberg. FG. III, S. I I I ) . 3 Als ein Beispiel unter den zahlreichen Eheverträgen, in denen diese Formel gebraucht wird, vgl. den Ehevertrag des Wolf v. Böselager und der Brigitte Th. v. Korff vom 22. 7. 1682 (Archiv V. Korff-Harkotten IFc4, 20. Bd., S. 132 ff.); als Beispiel für eine spätere, differenzierte und erweiterte Formel vgl. die Eheberedung des Friedrich Anton v. Korff und der Rosine v. KorffSchmisingvomS. 11. 1806: ,,Zur Vermehrung der göttlichen Ehre, Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts, Erhaltung des freiherrlichen Namens und Stamms, auch zur Fortsetzung und Befestigung der wechselseitigen Freundschaft." (Archiv v. Korff-Harkotten I F h l , 26 Bd.). 4 Zu Ähnlichkeiten zwischen bäuerlicher und adliger Einstellung zu ,,Haus" und Grundbesitz vgl. Brunner, Landleben, S. 247 u.a. 5 Als Hauptgründe für eine Gefährdung des Eigentums werden zum einen der Streit zwischen den Kindern angegeben (z.B. im Testament des Wennemar v. Heyden vom 13. 1. 1552, Archiv Haus Wohnung U. 406). Zum anderen werden seit dem Ende des 17. Jahrhunderts immer häufiger die negativen Folgen von Brüderteilungen, die man zu verhindern suchte, beschworen (z.B. im Testament des Hermann v. d. Reck vom 14. 10. 1702, Archiv Haus Drensteinfurt, Loc. 3, Nr. 7a). In den Testamenten des 18. und 19. Jahrunderts werden dann zumeist beide Gefahren angefühn, so z. B. im Testament des August Ferdinand v. Merveldt vom 3. 4. 1826, Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 178. 6 Dieser grundlegende Zielkonflikt der vorindustriellen Gesellschaft galt für die Bauern ebenso wie für den Adel. Aber die Lösungen dieses Problems bei Adel und Bauern konnten nicht identisch sein, da die Herrschaftsbeziehungen dem letzteren eine selbständige Lösung nicht er506

Anmerkungen

zu Seite 80-81

laubten; der adlige Grandherr schrieb dem Bauern die seinen Interessen gemäße Lösungsform vor. Für beide Schichten, wie überhaupt für die vorindustrielle Gesellschaft galt aber: „Ein Familienvater mit vielen das Envachsenenalter erreichenden Kindern, vor allem einer mit vielen Töchtern, war zu bedauern" (Habakkuk, S. 1 und 29). 7 Vgl. dazu für den westfälischen Adel Kunsemüller, S. 76ff., v. Klocke, Familie, S. 181, für den englischen Adel Habakkuk, S. 18, für den preußischen Adel Moritz, S. 21. Im französischen Adel der Region um Toulouse war nur jeweils die Hälfte des Familienbesitzes fideikommissarisch gebunden und in der Verwaltung des ältesten Sohnes (Forster, S. 120). 8 Zur Auflösung des mittelalterlichen Stammgutssystems im 15. und 16. Jahrhundert vgl. Kunsemüller, S. 69. Die fortschreitende Rezeption des römischen Rechts begünstigte die Teilungen. Als Beispiele für Brüderteilungen, die bis ins 17. Jahrhundert noch recht häufig vorkamen, vgl. Archiv Haus Werries II, Nr. 497, Brüderteilung von 1611. Als Beispiele für die vielfältigen Zwischenformen, die auf dem Weg zum Fideikommißprinzip ausprobiert wurden, seien folgende Fälle angeführt: Am 28.9. 1426 teilten zwei Gebrüder v. Ascheberg die väterlichen und mütterlichen Güter und setzten fest:, ,Will einer der beiden Brüder sein Gut verkaufen oder verpfänden, muß er dasselbe ein Jahr vorher dem Bruder ankündigen und soll ihm das Gut für 20 rheinische Gulden weniger anbieten, als einem anderen Käufer." (STAM, Archiv Haus Borg U 92). 1468 teilten zwei Brüder v. d. Recke unter Heranziehung eines Schiedsmannes die Familiengüter; ein Brader und die Schwester wurden ausgesteuert (Archiv Haus Drensteinfurt Loc. 1, Nr. 12). Der Domherrnberuf eines Bruders erleichterte das Zusammenhalten des Familienbesitzes; 1583 überließ ein Domherr v. Dincklage die ihm von seinen Eltern zugefallenen Güter seinem Brader, und zwar gegen eine Summe Geldes (Archiv Haus Westerwinkel). Erfolgte der Rückfall des dem Brader und Domherrn zugesprochenen Güteranteils nicht über Kauf, so wie im vorgenannten Beispiel, dann war zumindest über den Erbmechanismus ein solcher zu erwarten. So setzten sich im Jahre 1656 ein Domherr v. Kerckerinck und sein weltlicher Brader nach der Brüderteilung gegenseitig zum Erben ein. Wie schon in den vorgenannten Fällen waren auch hier die Schwestern nicht erbberechtigt (STAM, Archiv Haus Borg U. 1103). Die dominante Lösung vor der des Stammguts oder Fideikommisses war, daß ein Brader erbte und alle Geschwister, auch die Brüder, allerdings mit außerordentlich hohen Abfindungssummen, ausgesteuert wurden. So verglich sich z.B. Christoph Heinrich v. Galen zu Assen mit seinen Brüdern und Schwestern über die elterlichen Güter, mußte den Geschwistern allerdings erhebliche Abfindungssummen zugestehen (Archiv v. Galen-Assen, Familiensachen, Nr. B, IV, 229). 9 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bemühte sich eine Vielzahl von münsterländischen Adelsfamilien neue kirchliche Pfründen für ihre Familienmitglieder zu fundieren. Die Familie v. Galen, z.B., deren nachgeborener Sohn Christoph Bernhard vom Domherrn zum Fürstbischof aufstieg, gewann durch dessen Stiftungsfähigkeit eine ganze Fülle von Domherrnund Stiftsjungfern-Präbenden: 1662 eine Domherrnpräbende in Münster; 1668 eine weitere am Dom zu Osnabrück, das Stiftungskapital betrug jeweils 20 ООО RT; dann folgten Dompräbenden in Worms (1667), in Minden (1665 und 1677), in Paderborn und Hildesheim (1670), in Mainz, Magdeburg und Halberstadt (1675) und schließlich noch eine Stelle im Maltester-Orden (1678). Für die Töchter wurden gestiftet: zwei Präbenden im Damenstift Nottuln (1663), zwei im Damenstift Freckenhorst (1664) und eine im Stift Wietmarschen (1670). Ein Großteil des dem Fürstbischof Christoph Bernhard v. Galen durch seine Position zufallenden Vermögens ist auf diese Weise in Familienämtern und Pfründen angelegt worden (Archiv v. Galen-Assen, Familienpräbenden A - N ) . Zu ähnlichen Stiftungsaktivitäten der H . M. v. Velen um 1660 vgl. STAM, Archiv V. Landsberg-Velen, Nr. 1821. Die auf Organisation abzielenden standes- und famihenpolitischen Intentionen traten eng verbunden mit dem Motiv der Sicherung und Stärkung von katholischer Religion und Kirche auf (Theuerkauf, Fürstenberg. F. G. III, S. 31). Unmittelbar wird diese Verbindung in den Einleitungsformeln zu den Eheverträgen und Testamenten erkennbar (s. oben, Anm. 2); dieselbe Erfahrang klingt aber auch noch 1829 an, wenn August Ferdinand v. Merveldt an seinen Sohn Carl, der die Fideikommißqualität des Familienbesitzes 507

Anmerkungen

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angezweifelt hatte, schreibt: „Fideikommisse sind Säulen der Religion und des Staates" (Archiv V. Merveldt, Nachlaß Carl v. Merveldt, Vol. III). 10 Erklärung der Stammherrn v. Droste-Vischering, v. Westerholt, v. Oer, v. Valcke und v. Beverförde (Archiv v. Droste-Hülshoff, Akte 50); vgl. eine ähnliche Urkunde der Stammherrn V. Korff und V. Ketteier vom 6. 2.1678 im Archiv v. Korff-Harkotten IFc, 17. Bd.). Ähnlich wie das Stammguts- bzw. Fideikommißprinzip mußte sich auch das der Primogenitur gegen andere Lösungsformen durchsetzen. Vgl. zu solchen Übergangsformen, in denen zum Teil noch nachgeborene Söhne Stammherrn wurden: Archiv v. Korff-Harkotten IGa, 29. Bd., und Schöne, Fürstenberg. F . G . III, S. 92 u. 96. Da es sich bei dieser Familienordnung z. T. aber nur um ein Gewohnheitsrecht handelte, kam es immer wieder zu Erbprozessen, in denen von den Töchtern die früher geleisteten Erbverzichte angefochten oder von den Brüdern eine Teilung der Güter erzwungen werden sollte (vgl. dazu die Vielzahl solcher Prozesse, die in letzter Instanz sogar vor dem Reichskammergericht ausgetragen wurden, bei Aders u. Richtering, Bd. 1, S. 239, 308, 373 und Bd. 2, S. 235, 340 u. a.). Daß es immer wieder zu solchen Anfechtungen gekommen ist, dafür sprechen auch die häufig wiederholten Beglaubigungen solcher Erbfolge- und Abfindungsordnungen des Adels (vgl. z . B . Archiv v. Korff-Harkotten lEd, 13. Bd.). 11 Einleitung einer Ehe und Aufsetzung eines Ehevertrags im fränkischen Adel des 16. Jahrhunderts beschreibt v. Guttenberg, S. (Ai.; die Freunde und Berater, die bei der Eheanbahnung halfen und die Ehepakten mit aufsetzten, erhielten zumeist Geschenke und, sofern es sich um bürgerliche, juristisch geschulte Ratgeber handelte, ein sogenanntes Kuppelgeld (vgl. dazu den Brief des Rentmeisters Löhers an Hermann Adolph v. Nagel vom 21. 6. 1754, in dem er über die Eheanbahnung zwischen dem Erbdrosten und der Antonette v. Raesfeldt berichtet, Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 131). Die für das Ende des 17. Jahrhunderts repräsentative Formel in den Eheberedungen lautete: ,,mit beyderseits Eltern, Schwestern und Brüdern, Anverwandte und Freunde Vorwissen, Belieben und gut finden" (Ehevertrag zwischen Christoph Bernhard v. Twickel und Anna Sybille V. Droste-Sendenvom27. 7. 1678, STAM, Archivv. Droste-Senden, Ehepakten, i). Den Vertragscharakter solcher Eheverträge betonen häufig juristische Formeln, nach denen bei Verstößen gegen die Ehepaktsbedingungen Geldstrafen festgelegt wurden (z. B. 500 RT im Ehevertrag des Othmar v. Knipping und der Anna v. Kerckerinck vom 7. 12. 1562, STAM, Archiv Haus Borg U. 639). 12 Der altständische Adel des Reiches bildete, entsprechend den Prinzipien des Lehnswesens, eine patrilineare Verwandtschaftsgruppe, d. h. die Abstammung über die mütterliche Seite war von der Bestimmung der Verwandtschaft ausgeschlossen. Durch Heiraten wurden infolgedessen keine Verwandtschaften konstituiert, sondernFreundschaften. Für die heiratende Frau war deshalb ein Übergang in ein neues Verwandtschaftsgefüge, das ihres Mannes, notwendig. Diesen Sachverhalt beschreibt z. B. eine auf Adelsverhältnisse bezogene Sentenz des Offizialatsgerichts zu Münster vom 18. 7. 1801, in der es heißt: ,,. . . verläßt eine weibliche Deszendentin durch Verehelichung die Familie ihres Geschlechts und tritt in jene des geheirateten Gatten ein, worin sie durch die Heirat aufgenommen, und derselben einverleibt wird . . (Archiv v. DrosteHülshoff, Akte 166 u. 167). 13 STAM, Archiv v. Droste-Senden, Ehepakten, Nr. o. 14 Oft befanden sich die zur Ausstattung zählenden Kleider, Kleinodien und Haushaltsgegenstände wie bei den Bauern in einem Brautwagen (Archiv v. Oer N Nr. 377, im Jahre 1608) oder einer Kutsche (Archiv Haus Werries II, Nr. 658, im Jahre 1743). Einen Geldbetrag statt der ihr zustehenden Ausstattung erhielt z . B . Petronella Raitz v. Frentz bei ihrer Heirat mit Jobst v. Droste-Senden am 22. 2. 1650 (Archiv v. Droste-Senden, Ehepakten Nr. g); eine Stiftsdamenpräbende zur freien Verfügung war 1731 Ausstattung der Theodora v. Kerckerinck (STAM, Archiv Haus Borg'U. 1240). 15 Ein Bauerngut als Morgengabe erhieltz. B. Elsev. Kerckerinck 1499 (STAM, Archiv Haus BorgU. 346); Richmoed V. Kerckerinck-Angelmodde bekam dagegen 1606 ein Rittergut zur lebenslangen Nutznießung (STAM, Archiv Haus Borg U 925); zur Morgengabe in der Form eines 508

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Geldbetrages oder einer Rente vgl. den Ehepakt des Friedrich Christian v. Schilder und der Cornelia V. Beverförde vom 14 . 8. 1727 (Archiv v. O e r E U. 501). 16 Ein Zehntel des Brautschatzes machte das Nadelgeld z. B. im Ehevertrag des Friedrich Anton v. Korff und der Rosine V. Korff-Schmisingvom 8.11. 1806 aus (Archiv v. Korff-Harkotten IFh 1, 26. Bd.); das andere Extrem, nur ein Zwanzigstel des Brautschatzes, findet sich z. B. im Ehevertrag des August V. Nagel-Dornick und der Bertha v. Merveldt vom 14. 5. 1833 (Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 178). 17 Vgl. hierzu z . B . den Ehepakt des Max Friedrich v. Droste-Senden und der Theresia v. Spiegel, geb. y. Weichs, vom 21. 7. 1810 (STAM, Archiv v. Droste-Senden, Ehepakten N r . v). 18 Einen ländlichen Witwensitz bekam z . B . Gertrud v. Kerckerinck 1610 (STAM, Archiv Haus Borg U. 360), einen städtischen Maria v. Valcke am 24. 11. 1645 von ihrem Ehemann Bernhard v. Kerckerinck-Borg zugesprochen (STAM, Archiv Haus Borg U . 1074). Nach den Bestimmungen des Ehevertrags des Christoph Bernhard v. Twickel und der Anna v. DrosteSenden vom 27. 7. 1678 konnte die Braut als Witwe zwischen einem städtischen und einem ländlichen Sitz wählen. (STAM, Archiv v. Droste-Senden, Ehepakten, N r . i) ; bisweilen wurde auch eine Wohnung der Witwe auf dem Stammsitz beim ältesten Sohn geplant, doch zugleich festgesetzt, daß, falls sie sich nicht mit dem Sohn vertrüge, sie ihren Sitz in einer Stadtwohnung nehmen könnte (Ehepakt des Philipp v. Kanne und der Sophie v. Droste-Senden vom 24. 5. 1796; STAM, Archiv v. Droste-Senden, Ehepakten N r . u'^^). 19 So z . B . im Ehevertrag des Friedrich Anton v. Korff und der Rosine v. Korff-Schmising vom 8. 11. 1806 (Archiv v. Korff-Harkotten IFh 1,26. Bd.). Lebenslange N u t z u n g der Güter als Witwe f ü r eine heiratende Erbin findet sich z. B. im Ehevertrag des Bernd v. Kerckerinck-Borg und der Maria v. Valcke vom 24. 11. 1645 (STAM, Archiv Haus Borg U . 1074). 20 Vgl. den Ehevertrag des Clemens August v. Twickel und der Sophia v. Ledebur aus dem Jahre 1751 (STAM, Archiv v. Droste-Senden, Ehepakten N r . u); in früheren Zeiten bekamen die Witwen beim Tode des Mannes oft nur ein Drittel oder die Hälfte des Brautschatzes zurück (vgl. z. B. STAM, Archiv Haus B o r g t J . 220). D a sich eine feste Beteiligung der Frau am Besitzzuwachs während der Ehe nicht gewohnheitsrechtlich ausgebildet hatte, blieb diese zusätzliche Aufstockung der Witwenversorgung der testamentarischen Bestimmung des Mannes überlassen. 21 Zum Verlust der Vormundschaft bei Wiederheirat vgl. z . B . den Ehevertrag des Bernhard V.Kerckerinck-Borg und der Maria v. Valcke vom 24. 11. 1645 (STAM, Archiv Haus Borg U . 1074); zum Verlust der Witwenversorgung vgl. die Eheberedung des Philipp v. Kanne und der Sophie V. Droste-Senden vom 24. 5. 1796 (STAM, Archiv v. Droste-Senden, Ehepakten N r . u^ 22 Vgl. hierzu die Testamente und Eheverträge im Archiv v. Korff-Harkotten lEd, 14. Bd. Erst nach 1800 erschienen in den Einleitungsformeln der Ehepakten auch Wendungen wie ,,(die Eheleute) versprechen sich alle eheliche Liebe, Treue und Freundschaft unzertrennlich bis in den Tod". 23 Erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, also seit der verstärkten Abschließung des Standes, treten solche Ausschlußklauseln kontinuierlich in den Eheverträgen und Testamenten auf. Im Ehevertrag zwischen Jost v. Droste-Senden und Dorothea v. Nagel, der am 13. 9. 1683 aufgesetzt wurde, war z. B. bestimmt, daß der sukzedierende Sohn nur eine Frau heiraten dürfe, die ,,gottesfürchtig, katholisch-adlich, ritterbürtig" sei; halte er sich nicht an diese Regel, so solle er ,,abgegütert" werden (STAM, Archiv v. Droste-Senden, Ehepakten N r . h); eine Ausdehnung dieser Klausel auf alle Kinder, die die Familienordnung mißachteten, findet sich in der Eheberedung des Clemens August v. Twickel und der Sophia v. Ledebur aus dem Jahre 1751 (STAM, Archiv V. Droste-Senden, Ehepakten N r . u). Die Ausschlußklausel wurde in späteren Jahren immer mehr erweitert. Vgl. z. B. den Vertrag des Ferdinand Anton v. Merveldt und der Sophia V. Kettelervom 13.11.1820 im Archiv v. Merveldt, Nachlaß Ferdinand Anton v. Merveldt, Vol. III. Da der Inhalt des Begriffs standesmäßig im 19. Jahrhundert zu verblassen drohte, wurde in 509

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dieser Zeit schließlich die Klausel „sMndesmäßig, d.h. nach münsterischen, stiftsfähigen Ahnen" in das Modell des gebräuchlichen Ehevertrag aufgenommen (vgl. den Ehepakt zwischen Max V. Oer und Caroline v. Boeselager vom 16. 7. 1859; Archiv v. Oer, E 1385). 24 Heiraten der zukünftigen Stammherrn, die nicht den strikten Vorschriften der Familienordnung entsprachen, konnten vor allem während der Kavalierstour der Söhne angebahnt werden. Die Hofdamen in Wien wurden dabei vom münsterländischen Adel als eine besondere Gefahr aufgefaßt. Dementsprechend fehlt in den meisten Briefwechseln zwischen reisenden Söhnen und daheimgebliebenen Eltern bzw. älteren Ratgebern die Warnung vor diesen Verführerinnen nicht (vgl. z. B. die Briefe des Rentmeisters Löhers an den in Wien weilenden jungen Stammherrn H. A. V. Nagel-Vornholz, vor allem den Brief v. 5. 6. 1753, Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 191; oder die Briefe des Fritz V. Korff an seine Mutter, Archivv. Korff-HarkottenIFal,26. Bd., besonders die Briefe vom 3 . 6 . und 17.8.1796. Doch blieben den von dieser elterlichen Kontrollund Heiratspolitik betroffenen Söhnen die Prinzipien des Heiratsmarktes nicht verborgen, wie der Bericht des Max v. Beverförde vom 2. 6. 1824 an seinen Freund Clemens v. Oer deutUch zeigt (vgl. dazu den Brief des Clemens v. Oer an seine Mutter vom 10.2.1824 im Archivv. Oer E 840). 25 Vgl. oben, S. 56 f. ; wie leicht die außerordentliche Besitzvergrößerung einer Familie innerhalb kurzer Zeit den Neid der adligen Standesgenossen hervorrufen und zu Disharmonien im Stand führen konnte. Schilden z . B . für die Familie v. Fürstenberg im 17. Jahrhundert Lahrkampf, Fürstenberg. F G . III, S. 167 u. 168 Anm. 15. 26 Vgl. dazu S. 241, Tabelle 17 im Anhang, S. 482f. Auch die im Schwerpunkt auf das Münsterland konzentrierte Streulage der in der Hand einer FamiHe angesammelten Rittergüter ist eine Konsequenz der engen Grenzen des durch katholische Religion und Stiftsmäßigkeit gebildeten regionalen Heiratsmarktes des münsterländischen Adels. 27 Aus diesem Grunde wurde in anderen Adelsregionen, z. B. in Minden-Ravensberg, in der adligen Erbordnung das Minorat bevorzugt, d.h. der jüngste Sohn sukzediene normalerweise in die Familiengüter. Eine Ursache für die Ausbildung der Nebenhauslösung war wohl die steigende Lebenserwartung des Vaters im 17. Jahrhundert, durch die die Wartezeit des Sohnes vor der Gutsübernahme immer weiter über seine Großjährigkeit hinaus ausgedehnt wurde. Begünstigt wurde diese Lösung durch die am Ende des 18. Jahrhunderts zum Normalfall werdende Ansammlung mehrerer Rittergüter im Besitz einer Familie. Daß die Nebenhauslösung dem ältesten Sohn, der nicht aus der väterlichen Gewalt entlassen wurde, nur eine sehr beschränkte Selbständigkeit gewährte, wird deutlich, wenn man die vielfältigen Möglichkeiten der Kontrolle bedenkt, die dem Vater und den in der Umgebung lebenden Verwandten noch gegeben waren. Der älteste Sohn blieb auch weiterhin in ein Netz vielfältiger funktionaler Familienbeziehungen, das die Herrschaft des Vaters stützte, eingebunden (vgl. Anderson, Study, S. 50). Daß daneben in einzelnen Adelsfamihen auch Alterslösungen nach dem Vorbild der Bauern vorkamen, zeigt für die aus dem Osnabrückischen kommende Familie v. Boeselager: v. Klocke, Familie, S. 74, 85 u. 95. 28 Die Ausgliederung der Witwe aus dem Haushalt des Stammsitzes wurde am Ende des 17. Jahrhunderts häufig ausdrücklich in den Eheberedungen festgelegt; z . B . im Ehevenrag des Christoph Bernhard v. Twickel und der Anne v. Droste-Senden vom 27. 7. 1678 (vgl. STAM, Archiv v. Droste-Senden, Ehepakten Nr. i). Den Begriff Stammfamilie prägte der französische Familienforscher des frühen 19. Jahrhunderts Le Play (vgl. Schwägler, S. 48). Er bezeichnete damit eine Familie, in der das Elternehepaar mit dem verheirateten ältesten Sohn zusammen wohnt. Im 17. Jahrhundert kamen im münsterländischen Adel ohne Zweifel noch eine Vielzahl von erweiterten Familienformen vor; das wird z. B. am Ehevertrag des Heinrich v. Galen und der Hertzlieb v. Asbeck vom 26. 11. 1645 deutlich. Darin wurde zwar für die Zukunft eine Stammfamilie projektiert, aber gleichzeitig eine Ersatzlösung für den Streitfall eingeplant; denn die Eltern behielten sich vor, ,,so lang sie lebten mit den jungen Eheleuten neben einem Diener und Magd den freyen Disch und zeitliche Unterhaltung zu haben, ohne einige Erstattung, so 510

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lange es ihnen beliebig, sonst aber, da sich die Eltern und jungen Eheleute nicht comportieren könnten, sollen die junge Eheleute verhofft seyn, so viel von den Patzlarschen Guittern leibzuchtweise nach der Altern Willkür abzustehen, und den Altern abnehmen zu lassen, das sie dauernd nothdürftigen Unterhalt haben können, welche Guitter auch dem Letztlebenden zumahl bis zum schädlichen Abfall leibzuchtweise zu behalten freystehen soll"; auch der Schwester, die abgefunden wurde, blieb die Möghchkeit, im Haus des jungen Paares zu wohnen (STAM, Archiv v. Droste-Senden, Ehepakten Nr. h). Diese Form der Stammfamilie hat sich, wie auch die in diesem Ehevertrag konzipierte Altenteilslösung nach bäuerlichem Vorbild, im münsterländischen Adel nicht durchgesetzt. Vielmehr setzte sich, wenn auch zeitweise Formen der erweiterten Familie vorkamen, im 17. Jahrhundert die Einzelfamilie des Stammherrn oder des zukünftigen Stammherrn mit ausgegliederten Geschwistern und Witwen als normale Familienform durch. Aus mehreren Gründen ist es dennoch wenig sinnvoll, deshalb vom Vorherrschen der Kernfamilie im münsterländischen Adel in vorindustrieller Zeit zu sprechen. Die Untersuchungen Lasletts haben zwar die Vorstellung von der mehrere Generationen unter einem Dach vereinenden Großfamilie als Normalform der Familie in vorindustrieller Zeit als irrig erwiesen, doch wäre es falsch von seinen hoch aggregierten, rein quantitativen Daten ausgehend, vorschnell Vorstellungen, die zum Begriff der modernen Kernfamilie gehören, auf vorindustrielle Familienformen zu übertragen. Es gilt vielmehr, die Familienformen der einzelnen Schichten als Funktionseinheiten der vorindustriellen Gesellschaft innerhalb weiterer Sozialformen wie Verwandtschaft, Nachbarschaft, ,Freundschaft' etc. und innerhalb ihres regionalen Kontextes insgesamt zu erfassen und zu analysieren. Die Familiengröße als einzelnes Datum erhält erst in einer solchen Struktur- und Funktionsanalyse einen Sinn, zumal dann, wenn sie, wie Berkner schon in einer frühen Kritik der Ergebnisse Lasletts vorgeschlagen hat, in die Rekonstruktion des spezifischen Familienzyklus einer Schicht integriert wird (vgl. Berkner, Stemfamily, S. 405; zu Laslett s. die Titel im Lit. Verz. ; zur Laslett-Kritik an Berkner u. a. S. 724 ff. und Medick, Funktion, S. 256 ff. ). Letztlich verlangt aber eine solche Analyse den Rückgriff auf vielfältige Formen qualitativen Quellenmaterials zur Sozialgeschichte der untersuchten Familien, vor allem auf Ehe-, Erb-, Abfindungs- und Übergabeverträge sowie Testamente, die selbst für einen Teil der vorindustriellen Unterschicht vorliegen. Nur von hier aus lassen sich Hypothesen über schichtspezifische Familienformen prüfen. Mitterauer, Mythos, S. 45 sieht z. B. im adligen Besitz- und Erbrecht, dem ,,Besitz zur gesamten Hand", günstige Voraussetzungen für die Ausbildung von Großfamilienformen; doch können, wie im münsterländischen Adel der Fall, andere Determinanten der Familienform, z. B. der Besitz von mehreren Gütern, steigende Selbständigkeitswille der Söhne und das Motiv, familieninterne Konflikte zu vermeiden, stärker in die entgegengesetzte Richtung wirken. Am ehesten scheint für den münsterländischen Adel der von Greven verwendete Begriff der,modified extended family' treffend zu sein, weil er die Familie losgelöst vom Zusammenwohnen unter einem Dach als regionale Funktionseinheit erfaßt, als ,,kinship group of two or more generations living within a single community in which the dependence of the children have married and are living under a separat roof" (Greven, Andover, S. 255; vgl. auch Greven, Generations, S. 268). 29 Zu Lévi-Strauss vgl. Schmitz, Grundformen, S. 70: ,,Jede Eheschließung ist ein Tauschakt - entweder Frau gegen Frau oder Frau gegen Bezahlung." 30 Im Adel von Toulouse, der zum Teil eine ähnliche, nur weniger konsequente und harte Heirats- und Erbordnung aufbaute, verzichtete im 18. Jahrhundert ebenfalls die heiratende Tochter mit dem Brautschatz auf alle Erbansprüche aus väterlichem und mütterlichem Besitz (Forster, S. 123). 31 Vgl. Schlüter, S. 57 u. Kloentrup, S. 158,256 u. 288. Der Kampf gegen die Aufnahme von Erbmännerfamilien in den stiftsfähigen Adel diente nicht nur der Abwehr neuer Konkurrenten im Kampf um die privilegierten, im Stand gesicherten Amter, sondern wurde auch gegen deren Eherecht, die entsprechend dem Recht der Stadt Münster vorgeschriebene Gütergemeinschaft, geführt.

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32 Archiv V. Nagel-Vornholz Ala 131. 33 Erbinnenheiraten waren in der akständischen Gesellschaft ein wirksames Mittel, das Grundvermögen einer Familie zu vergrößern. Besonders für den englischen Adel des 17. (Stone, Heirat, S. 122f.) und 18. Jahrhunderts (Habakkuk, S. 27-29) wurde eine eng am Motiv der Grundbesitzvergrößerung und allgemein der Reichtumssteigerung orientierte Heiratspolitik, die zeitweise zu einer Jagd der Adelssöhne nach reichen bürgerlichen Erbinnen fühne, nachgewiesen. Wegen des geschlossenen adligen Heiratsmarktes im Fürstbistum Münster ist es zu solchen Erscheinungen dort nicht gekommen; dennoch haben auch hier Erbinnenheiraten bisweilen zu außerordendichen Besitzverschiebungen gefühn. Eine auf Erbinnen konzentrierte Heiratspolitik läßt sich am ehesten bei der Familie v. Droste-Vischering nachweisen; im 18. Jahrhundert hat in jeder Generation ein Sohn dieser Familie eine Erbin geheiratet. 34 Zu solchen Prozessen in einfachen Gesellschaften vgl. die Ausführungen von Schmitz, Grundformen, S. 42, der aber das Aussterben von Familien und vor allem den Aufbau von Regulierungsmechanismen zur Steuerung der Gruppengröße vernachlässigt; vgl. dazu die Kritik von Müller, Grundformen, S. 340. Zur langen Tradition der Versorgung von Adelstöchtern und Adelssöhnen in Klöstern und Stiftern und der damit gegebenen Gefahr des Aussterbens der Familie vgl. Schulte, Adel, S. 246ff. 35 N u r mit Land ausgestattet wurde z. B. Bylie v. Ascheberg 1445 in ihrem Ehevertrag mit Dietrich V. Heigen (STAM, Archiv Haus Borg U. 167). Gemischte Brautschätze (Land und Geld) erhielten u. a. Elisabeth v. Kerckerinck im Ehevertrag mit Everwin Droste vom 6. 5. 1539 und auch, ein besonders spät liegendes Beispiel, Anna v. Ascheberg in ihrem mit Friedrich Christian V. Beverförde 1743 geschlossenen Ehevertrag (Archiv Haus Werries Π, U. 657). 36 Die Entwicklung des Zahlungsmodus der Brautschätze sei an einigen Beispielen dargestellt. Bis ins 17. Jahrhundert dominierte die Ratenzahlung in wenigen, relativ hohen Beträgen, z. B. „2 ООО RT bei der Heirat und in den folgenden Jahren jeweils 1 ООО R T p r o Jahr und 500 RT beim Tod der Mutter". (Ehevertrag des Adrian v. Ense und Johanna v. Raesfeldtvom26. 2.1556 (Archiv Haus Westerwinkel). Im 18. und 19. Jahrhundert dominiene dann die Rentenlösung zu vier oder fünf Prozent; die Auszahlung begann erst relativ spät, z. B. nach fünf Jahren (Ehevertrag des Johann Ignaz v. Landsberg-Velen und der Louise v. Westerholt aus dem Jahre 1813; STAM, Archiv V. Landsberg-Velen, Nr. 7423) oder erst nach dem Tode des Vaters (Ehepakt des Franz Mauritz v. Droste-Senden und der Eleonore v. Ledebur vom 3. 10. 1744; STAM, Archiv V. Droste-Senden, Nr. r'"^). Zumeist wurde nur noch der Zinssatz der Rente vereinbart, die Regulierung der Ratenzahlung aber, als langfristig vorausgesetzt, der späteren Vereinbarung der Parteien überlassen (z. B. Ehevertrag des August v. Nagel-Doornick und der Bertha v. Merveldt vom 14. 5. 1833, Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 178). Eine Gewohnheit, wie sie im Adel von Toulouse (vgl. Forster, S. 149) bestand, nach der spätestens am Ende einer jeden Generation die Brautschatzschulden bezahlt sein mußten, ist für den münsterländischen Adel nicht nachweisbar. In der Regel sind wohl die Brautschätze schneller aufgekündigt und ausgezahlt worden. Da die Brautschatzforderung einer unter verschiedenen Schuldenfaktoren war, konnten über den Weg der Heirat auch Schulden ausgeglichen werden; so heißt es z.B. im Ehevertrag zwischen Carl-Friedrich v. Droste-Senden und Theresia v. Twickel vom 30. 5. 1775: ,,3000 RT Brautschatz . . ., davon sind 1156 RT durch Schuld von 1774 schon abgeglichen . . ." (STAM, Archiv V. Droste-Senden, Ehepakten N r . t). 37 Ein Beispiel hierfür ist Anna v. Droste-Senden, in deren Ehevertrag vom 27. 7. 1678 mit Christoph Bernhard v. Twickel festgehalten wurde, ihr Onkel und Domherr habe den Brautschatz zu zahlen versprochen. (STAM, Archiv v. Droste-Senden, Nr. i). Für andere Ausgaben als Familienlasten lief die Geldleihe dagegen wesentlich seltener über Verwandtschaftsbeziehungen, sondern eher über Verbindungen zum Bürgertum, zu geistlichen Stiftungen und zur Kasse des Landesherrn bzw. der Stände. 38 Forster, S. 15; auch Forster stellt für den Adel von Toulouse fest, daß zwischen 1750 und 1820 kaum ein Anstieg der Verschuldung durch Familienlasten stattgefunden hat (S. 149). 512

Anmerkungen

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39 Problemlos war z . B . der Fall des Friedrich Christian v. Beverförde-Werries, der den nachgeborenen Sohn Friedrich Clemens aus der ihm verwandten Familie v. Elverf eldt am 24.11. 1768 adoptierte (Archiv Haus Werries II, U. 665). Als dagegen am 8. 10. 1834 der ehemalige Domherr Paul Burchard v. Merveldt seinen Neffen Ferdinand Anton v. Merveldt, Stammherr der Familie v. Merveldt, ankündigte, er wolle den Sohn seines verstorbenen Freundes aus nichtstiftsfähigem Adel adoptieren und ihm den Merveldtschen Familienadel beilegen, teilte ihm Ferdinand Anton, nachdem er sich als ,,Chef der Familie" mit seinem Brüdern beraten hatte, mit, der Familienrat lehne Adoption und Namenübergabe ab (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Paul Burchard v. Merveldt, Vol. III ; vgl. dort auch die Tätigkeit eines Familienrates, als Clemens August V. Merveldt 1779 eine von der Familie zunächst abgelehnte Ehe zur linken Hand einzugehen beabsichtigte: Nachlaß Clemens August v. Merveldt, Vol. I; besonders den Brief Clemens Augusts an den Minister Freiherr v. Fürstenberg aus dem Jahre 1779). 40 Zu Hilfsformen der Kontinuitätssicherung patrilinearer Verwandtschaftsgruppen vgl. Schmitz, Grundformen, S. 40 f. Als Beispiele für die projektierte Kontinuitätssicherung der Familie durch Erbtochterheiraten mit Namen und Wappenübernahme vgl. den Ehevertrag des Friedrich Anton v. Korff und der Rosine v. Korff-Schmising vom 8. 11. 1806 (Archiv v. KorffHarkotten IFh 1, 26. Bd.) und das Testament des August Ferdinand v. Merveldt vom 3 . 4 . 1826 (Archiv V. Nagel-Vornholz Ala 178). Heiratete ein Stammherr eine Erbtochter, so kam es in der Regel zu einer Namen - und Wappenvereinigung, wodurch beide Familientraditionen bewahrt blieben. Nur selten aber gelang, was die Witwe Bertha v. Nagel im Kodizill zu ihrem Testament vom 16.4. 1847forderte,nämlichdieimTestamentdesFreiherrnv.Dornickvom 16.7.1784 bestimmte Namen- und Wappenvereinigung der Geschlechter v. Nagel und v. Dornick wieder rückgängig zu machen (Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 178). 41 So kümmerte sich z.B. August Ferdinand v. Merveldt sehr intensiv um die Erziehung seines Mündels, des Sohns seiner Tochter Bertha, August v. Nagel. Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen August Ferdinand und dem Hofmeister des Mündels Lorenz v. Kleinmayr aus dem Jahre 1817 (Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 174). Die verstorbene Mutter wurde auch schon in früheren Jahrhunderten von den Tanten im Stift ersetzt. Die Rolle des Vaters übernahm sowohl hinsichtlich der Erziehung als auch der Ämtersicherung und der Leitung des Familienbesitzes ein Onkel, zumeist ein Domherr, in der Regel unterstützt von der Witwe und/oder einem Freund der Familie (vgl. Richtering, Fürstenberg. F G III, S. 46 und Lahrkamp, Fürstenberg. FG III, S. 116f.). 42 Die väterlichen Funktionen im Produktionsbereich konnten in der Zeit der Minderjährigkeit des zukünftigen Stammherrn auch vom Rentmeister, sofern er das Vertrauen der Witwe besaß, übernommen werden; vgl. z.B. die weitgehenden Vollmachten des Rentmeisters Löhers auf dem Hause Vornholz der Familie v. Nagel zur Zeit der Minderjährigkeit des Hermann Adolph V. Nagel in den Jahren 1750-59 (Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 131; Briefe des Rentmeisters Löhers an Hermann Adolph v. Nagel 1750-59). Auch der Hofmeister konnte, wenn er innerhalb der Familie eine angesehene Stellung besaß, die erzieherische Funktionen des verstorbenen Vaters weitgehend übernehmen; dieses war z. В. bei dem Hof- und späteren Rentmeister Böcker in der Familie v. Nagel in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts der Fall (vgl. Archiv v. Nagel-Vornholz AVI 413, Tagebuch des Hofmeisters Böcker 1843-52). 43 Als Beispiel sei auf das Testament des August Ferdinand v. Merveldt vom 3 . 4 . 1826 verwiesen, das - ohne die im dazugehörigen Kodizill fundierte Familienstiftung - aus 34 Seiten und 20 Paragraphen bestand (vgl. Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 178). Ein Beispiel für die Fortbildung der Familienverträge durch neue zumeist negative Erfahrung bieten die Testamente der Familie v. Nagel seit dem Ende des 18. Jahrhundens. Hier wurde die Erfahrung mit einem, .Verschwender" als Stammherrn am Ende des 18. Jahrhunderts in der Familie v. Nagel als abschrekkendes Beispiel und zur Warnung in der Familientradition festgehalten. Noch mehrere Jahrzehnte später verordnete Benha V. Nagel in ihrem Testament vom 16. 12. 1847:,,. . . um einen gänzlichen Ausverkauf als hier 1782 stattfand . . . zu verhüten . . . (darf) weder ein Verschwen-

513 33

Reif, Adel

Anmerkungen

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der, nachlässiger oder sonst unordendicher Nagel-Dornickscher Sömmherr oder Stammherrin . . . befugt sein, die mit dem Fideicommiß beschwerten Sache zu verkaufen . . . " (Archiv v. Nagel-Vomholz Ala 178). 44 Als ein Grund für die immer komplizierter und detaillierter werdenden Ehepakten und Testamente wird in einer Formel immer wieder angeführt: ,,. . . damit unter Ihrer beyderseits Verwandten kein Streit oder Mißverständnis künftig erwacht" (Ehevertrag zwischen Johann Chr. V. TwickelundM. L. v. Voigt vom 20. 8.1668, STAM, Archiv v. Droste-Senden, Ehepakten Nr. k). Als eine erste Veranschaulichung dieser Tendenz zur Einschränkung der Prozesse zwischen Familienmitgliedern - keineswegs als Beweis, denn hierzu wären umfassendere Forschungen notwendig - mag die folgende Tabelle dienen, die nur Prozesse zwischen katholischen westfälischen Adligen vor dem Reichskammergericht erfaßt. Grundlage hierzu bildeten die von Aders u. Richtering veröffentlichten Regesten der RKG-Prozesse, soweit diese die westfälischen Territorien des alten Reiches betrafen: Zahl der Prozesse im Zeitraum: Prozesse um: Witwenversorgung Brautschatz Abfindungshöhe Geschwisterteilung Prozesse zw. Geschw. bzw. Geschw. und Eltern Prozesse zw. Verwandten

16.Jhdt.

1600-1650

1650-1700

1700-1730

1730-1760

1760-1790

2 3 16

1 6 18

3 25 7

6 9 5

3 1 3

0 0 0

12

6

3

2

0

0

44

34

22

20

13

0

53

48

53

42

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Die Tendenz zur Verminderung der Prozesse seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß der Rechtsweg durch alle Instanzen bis zum R K G im Durchschnitt niedrig geschätzt, mindestens zehn Jahre betrug und der Familien-Konflikt wahrscheinlich auch nicht unmittelbar mit seiner Entstehung in einen Prozeß überging, insgesamt also die Tabelle einen Zustand 12 bis 15 Jahre nach der Entstehung des Familienstreits festhält. Anhand dieser noch sehr vorläufigen und ergänzungsbedürftigen Zahlen läßt sich aber in einem ersten Schritt die begründete historische Vermutung aufstellen, daß die Aufhebung der Geschwisterteilung und die Einführung des Abfindungssystems für nachgeborene Söhne und Töchter am frühesten akzeptiert worden sind, während über die Zahlung der Witwenversorgung und vor allem um den Brautschatz bis ins 18. Jahrhundert hinein noch zahlreiche Konflikte entstanden. Eine zusätzliche Ursache für den Rückgang der Prozesse wird erkennbar in einer damals häufig gebrauchten Redewendung, die noch Ferdinand Anton v. Merveldt in einem Brief an seinen Vetter Anton v. Pergen vom 8. 2. 1853 in bezug auf einen Familienkonflikt so ausdrückte: ,,. . . da ich eigentlich nichts hierzu zu sagen habe und zu sagen weiß, als daß ein billiges Arrangement immer besser ist als der fetteste Prozeß, . . . " (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Paul Burchard V. Merveldt, Vol. III). 45 So wurden z. B. von einigen verwitweten Stammherrn zur Verringerung der Wiederverheiratungskosten Ehen zur linken Hand geschlossen (vgl. das Beispiel aus dem Jahre 1779, Archiv V. Merveldt, Nachlaß Clemens August v. Merveldt, Vol. II) und eine Heirat des jungen, zu-

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künftigen Stammherrn vor Regelung der Abfindungszahlungen an seine Geschwister wurde als unvernünftig angesehen. Fritz v. Korff kommentiert in einem Brief vom 2 . 1 1 . 1 7 9 6 aus Wien an seine Mutter: „Es war doch recht unbesonnen von Hanxleden, heirathen zu wollen, ehe seine Sachen mit seinen Geschwistern . . . in Ordnung waren, und da mag wol recht glücklich für ihn seyn, daß die Dinette nicht gleich Ja gesagt hat . . . " (Archivv. Korff-HarkottenlFh 1,26. Bd.; vgl. auch Archiv v. Fürstenberg-Opladen 23'"°', Brief der Freifrau v. Kerckerinck-Borg vom 21. 6. 1721). 46 Vgl. z . B . Forster, S. 125ff. und Habakkuk, S. 4 f . 47 Neben den vielen Prozessen ist vor allem die immer genauer werdende Formuherung der Ehepaktbedingungen ein sichtbares Zeichen dafür, daß Spannungen existierten. Als Beispiel für die außerordentliche Ausweitung der Ehepakten durch genaueste Definitionen und Bestimmungen von möglichen Konfliktfällen vgl. z . B . das Testament und die Fideikommißgründung des Paul Burchard v. Merveldt vom 24. 11. 1844 (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Paul Burchard v. Merveldt, Vol. III). Riehl S. 217 harmonisiert diese Spannungen zwischen den Familienmitgliedern, vor allem aber zwischen dem privilegierten Erstgeborenen und den nachgeborenen verzichtenden Söhnen und den Töchtern, wenn er vom ,,Haus" als dem wahren Nutznießer der Familienordnungen spricht, die Kosten aber nicht für erwähnenswert hält; eine ähnliche Ansicht vertritt auch v. Klocke, Hochzeiten, S. 12f; die Spannungen, die sich aus dem Fideikommißund Majoratssystem ergaben, betont für England Habakkuk S. 19. Auf die z. T. offenen, z. T. verdeckten Spannungen zwischen den Familienmitgliedern, z. B. auf die vielfältigen Disharmonien infolge von Nebensächlichkeiten verweisen Forster, S. 135 und Thirsk, S. 371 f. 48 Eine solche Verschiebung im Anrechtssystem der Familie trat z. B. ein, als die Ehe des Franz Arnold v. Merveldt, die er 1747 mit Sophie v. Fürstenberg geschlossen hatte, kinderlos blieb. 1754 mußte er deshalb sein Vorrecht als Universalerbe an den jüngeren Bruder Clemens August abtreten. (Vgl. Archiv v. Merveldt, Nachlaß Clemens August v. Merveldt, Vol. II). Nicht nur Tod oder Kinderlosigkeit des ältesten Sohnes konnten zu einer Veränderung der Anrechtsfolge führen, sondern auch andere, z. B. moralische Gründe. Diese wurden in den Familienordnungen zusammen mit differenzierten Nachfolgebestimmungen gleichzeitig festgelegt, (vgl. dazu das Testament des M. F. v. Westerholt vom 22. 1. 1816; v. Westerholt, F G . S. 153 f.). 49 Im Artikel 6 des Vergleichs ,,das erbmännische Benefizium sub titulo Petri et Pauli apostolorum et Antoniae patavi . . . betreffend" zwischen den Familien v. Kerckerinck-Stapel, v. Droste-Hülshoff und V. Ketteier vom 18. 4. 1804 heißt es: ,,Damit über den Ausdruck Mannesstamm und männliche Deszedenz in Zukunft kein Streit mehr entstehe, so wird hiermit festgesetzt, daß hierunter nur solche Individuen gemeint sind, die von den eingangs erwähnten Herren Transegenten oder von deren Erbtöchtern in männlicher Linie oder per masculos abstammen, so daß nur der Stammherr, der Vater und Bruder desselben, der Großvater von Vaterseiten, der Sohn und Großsohn vom Sohne, dessen Vaters und Großvaters Brüder in Betracht kommen können." (Archivv. Droste-Hülshoff, Akte 166 u. 167). 50 Im Jahre 1783 wurde z . B . der Ehevertrag zwischen August Ferdinand v. Merveldt und Maria Theresia v. Pergen vom Landesherrn ausdrücklich bestätigt (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Ferdinand Anton v. Merveldt, Vol. X I , P. M. des August Ferdinand v. Merveldt vom 19. 11. 1813). Im Jahre 1818 bat Antonetta v. Nagel in einem Schreiben an das Pupillenkollegium der Regierung zu Münster um die landesherrliche Bestätigung von Namen und Wappen der Familien v. Nagel undv. Dornick, die vereinigt worden waren. Am 1.4. 1818 erhielt sie zur Antwort, daß die Erlaubnis zur Kombination des Namens und des Wappens beim König unmittelbar einzuholen sei (Archiv v. Nagel-Vornholz All 259). Ahnlich waren die Verpflichtungen auch bei Gründung von Familienstiftungen (vgl. Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 178) und bei Adoptionen (Archiv V. Merveldt, Nachlaß Paul Burchard v. Merveldt, Vol. III, Testament des Paul Burchard vom 24. 11. 1844). 51 Zu landesherrlichen Eingriffen im Falle eines als ,Verschwendung' aufgefaßten Prestigekonsums am Wiener Hof vgl. die schon oben,S. 77f. thematisierten Fälle des Hermann Adolph 515

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V. Nagel-Vornholz (Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 131, ν. a. die Briefe des Rentmeisters Löhers an Hermann Adolph vom 4. 9. und 14.10. 1754) und des Max Friedrich v. Plettenberg-Nordkirchen (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt Dllf 18, v. a. den Brief des Franz v. Droste-Vischering an seine Schwester Dinette ν. Plettenberg-Lenhausen vom 25.1. 1809; auch die Aufzeichnungen Max Friedrichs vom 28. 3.1811 im Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen XX A 93-Verz. B311 b). 2 u einem 1765 erfolgten landesherrlichen Eingriff in die Vormundschaftsausübung bei Erziehung einer Erbtochter in der falschen Religion vgl. STR, Archiv v. Westerholt-Westerholt, Nr. 43. 52 In den seit ungefähr 1772 schwelenden Konflikt zwischen Lothar Clemens v. Fürstenberg und seinem damals vierzehnjährigen Sohn suchte der Kurfürst einzugreifen mit der Bitte, ihm ,,aus besonderer gegen Sie und Ihre Familie hegender Gnade . . . (den ungehorsamen Sohn) . . . einige Zeit meiner Obsorge (zu) überlassen . . . Ich will ihn Ihnen sodann zurückschicken und bin sicher, daß Sie zufrieden sein werden, meinem Rate gefolgt zu haben . . .";doch der Vater lehnte diese ,,Gnade" des Landesherrn ab, da er sich ,,des Rechtes als Vatter gegen meinen Sohn nicht begeben könne". (DAM Nachlaß Franz v. Fürstenberg Nr. 217;MappeN 16;Briefe vom 1.8. und 6. 8. 1775). 53 Vgl. Pinchbeck, S. 14 und Schücking S. 87; die Kirche bot den auf Heirat und Erbe verzichtenden Kindern ideelle Entlastungskonstruktionen an und belastete die zu Unterordnung und Gehorsam bestimmte Frau mit dem Odium der Sexualität (vgl. Hausen, Familie, S. 205). Zur Bekämpfung der weiblichen Triebhaftigkeit stellten geistliche Autoren Idealbilder weiblicher Tugend auf, wie sie sich im Souvenirbuch der Bertha v. Nagel noch 1830 finden: , , . . . die Weiber sollen mit anständiger Kleidung, mit Schamhaftigkeit und Bescheidenheit sich schmükken, nicht mit künstlichem Haar . . . oder Gold oder Perlen oder kostbaren Gewändern." Und an einer anderen Stelle wird die Frau verglichen mit einem ,,armen Reh, so hülf- und ratlos, wie es dasteht, sollte es niemals sich selbst so viel vertrauen; es sollte in Demut flehen, daß Gottes Vaterhand es vor der Gefahr beschützt, um nicht in ihr unterzugehen . . ." (Archiv v. NagelVornholz Ala 188). Es liegt in der Konsequenz dieser Auffassung, daß die adlige Hausfrau voreheliche Sexualität weiblicher Hausangehöriger härtestens bestrafte. Der Frau wurde dabei ein größeres Maß an Schuld zugestanden als dem Mann; vgl. die scharfe Verurteilung der Haushälterin auf Schloß Hovestadt durch Dinette ν. Plettenberg-Lenhausen (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D i l f l 7 u. 18, Briefwechsel der Dinette mit ihrem Bruder Franz v. Droste-Vischering von Januar bis Juni 1820, v. a. Dinettes Brief vom 19. 4. 1820). Zur Vorstellung einer moralischen und intellektuellen Minderwertigkeit der Frau und zur negativen Bewertung der Sexualität in der Ehe durch die katholische Kirche, die die Frau zur schuldbelasteten, infolgedessen leicht zu beherrschenden Verführerin stempelte vgl. Salier, S. 117f. und Daly S. 70. 54 So erhielt z. B. Carl Mauritz v. Korff am 17. 11. 1768 ohne Schwierigkeiten einen Ehedispens für eine Heirat mit Sophie Antonia v. Böselager, einer Verwandten 4. Grades (Archiv v. Korff-Harkotten IFg 25. Bd.). Die Eheverbote nach kanonischem Recht waren seit dem Mittelalter, als noch eine Verwandtschaft 7. Grades als Ehehindernis galt, immer mehr gemildert worden. Im 18. Jahrhundert bestand erst von der Verwandtschaft 4. Grades an das Ehehindernis; Ehen zwischen Verwandten 5. bis 7. Grades waren dagegen nur mißbilligte Ehen; vgl. Leisching S. 71 f. und 85, sowie Weber-Kellermann, S. 39. 55 Leisching, S. 98f.; zur Ehegesetzgebung des Konzils von Trient vgl. Hunt, S. 61 f. und Weber-Kellermann, S. 57. 56 Der Begriff,,Familie" wird hier im Sinne von ,,Geschlecht" gebraucht. Diesen Begriff hat Mitgau S. 9-11 u. 59 definiert als aus einer Familie, i. S. von Vater, Mutter und Kindern innerhalb einer Altersfolge, hervorgegangene repräsentative agnatische Einheit innerhalb einer Generationenfolge von theoretisch unbegrenzter Dauer, die im traditonalen Bewußtsein als überpersönlicher Ehre und Rang implizierender Zusammenhang präsent ist. Doch war im münsterländischen Adel diese Agnatenkette von der Familie des Stammherrn bestimmt. Die Nebenlinien der jüngeren Brüder, die im 17. und 18. Jahrhundert zunehmend seltenerheirateten, bildeten eigene

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Anmerkungen zu Seite 97-98 Traditionen aus, und hielten nur eihe lockere Verbindung zur Stammlinie. Wenn der Stammherr keine Söhne hinterließ, wurde die Linie von seinen Töchtern, nicht aber von seinen Brüdern oder deren männlicher Deszendenz fongesetzt. Vor allem auf Reisen erfuhren junge Adlige die Vorteile des Rufs ihrer Familie. Zuerst als Mitglieder einer bekannten Adelsfamilie, erst danach als Person wurde ihnen eine bevorzugte Behandlung zuteil. Sie waren bekannt als Mitglieder ihrer Familie, bevor sie selbst Gelegenheit gefunden hatten, sich bekanntzumachen. Die Faszination, die von einer solchen Erfahrung ausging, wird in den Briefen der Söhne, die sich auf der Kavalierstour befanden, immer wieder ausgedrückt. So schrieb z . B . Fritz v. Korff am27. 7.1796 vom Wiener H o f an seine Mutter: ,,Die Erzherzogin Christina, welche, ich weiß nicht auf welche Art unseren hiesigen Aufenthalt erfahren hat, hat sich sehr nach uns erkundigt, und gesagt, daß alle Münsterländer für sie äußerst interessant wären und daß sie sich unserer Familie von Münster her sehr wol erinnere." (Archiv v. Korff-Harkotten IFh 1, 26. Bd.). 57 Vgl. Mitterauer, Familie, S. 3. 58 Halbwachs, S. 332. 59 Wenn es einmal, aus einer ökonomischen Nodage heraus, zu Güterverkäufen kam, waren stets auch die Bedürfnisse der Familie dem Handelnden präsent: ,,Lenhausen, Hofestadt und Herfeld behielt ich gerne, zu allem übrigen gebe ich gern mein Votum zum Verkauf und glaube gewiß, daß dieses bey alle unsere Nachkommen verantworten zu können - . . . " , schrieb Dinettev. Plettenberg-Lenhausen am 11. 8. 1811 an ihren Bruder Franz v. Droste-Vischering, als dieser ihr vorschlug, zur Entschuldung des Familienbesitzes evtl. einige Güter zu verkaufen (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D l l f 17). 60 Das Bemühen, die Familie als ein Kontinuum verstorbener, lebender und zukünftiger Mitglieder im Bewußtsein der Lebenden präsent zu halten, wird vor allem in den Testamenten der Familienväter immer wieder erkennbar. Als ein Beispiel von vielen sei der Appell Friedrich Antons V. Korff an seine Kinder im Testament vom 29. 1. 1827 angeführt; darin erwartet er von ihnen, ,,daß sie die Lage ihres älteren, noch mit bedeutenden Schulden belasteten, sein Einkommen in geringen Summen von zum Teil dürftigen und widerstrebenden Zahlpflichtigen erhebenden Bruders beherzigen, und solchen, so viel es ihnen nach ihrer eigenen Lage möglich, unterstützen werden. Ihnen wird, wie ich innigst wünschend voraussetze, selbst höchst daran gelegen sein, daß das Stammhaus Harkotten, welches die göttliche Vorsehung seit 5 Jahrhunderten, trotz vieler Kinder, zahlloser Prozesse, Kriegs- und sonstiger Unfälle immer im Besitz der Familie von Korff gelassen, ferner dabei behauptet, und das uralte adlige Geschlecht auch in dieser, dem Adel höchst ungünstigen Zeit aufrechterhalten werde . . . " (Archiv v. Korff-Harkotten IFh 1, 26. Bd.). 61 Halbwachs, S. 3 0 7 f . ; in ähnlicher Weise argumentiert Simmel, S. 737. Hier liegt der Grund, daß die Gespräche zwischen adligen Standesgenossen hauptsächlich um die Leistung bekannter adlige Personen, deren Familie, deren Familienverbindungen, Leistungen der Vorfahren, etc. kreisen. 62 Archiv V. Galen-Assen F 538, Tagebucheintragung vom 18. 6. 1825. 63 Eine weithin feststehende Formel in den Testamenten ist der Bestimmung über Ort und Art der Beisetzung des Leichnams gewidmet. Geistliche Familienangehörige wurden häufig in der ihnen verbundenen Kirche beigesetzt, ansonsten war die Beisetzung in der Familiengruft des Hauses, die sich beim Haus selbst oder in der zugehörigen Patronatskirche befand, die Regel; vgl. z. B. das Testament des ehemaligen Domherrn Clemens v. Korff aus dem Jahre 1843 (Archiv V. Korff-Harkotten IFg, 25. Bd.). Von den Preußen wurde aus gesundheitspolizeilichen Gründen die Bestattung in der Kirche und in geschlossenen Häusern verboten. Dadurch wurde aber die Realisierung eines wesentlichen psychischen Bedürfnisses der Angehörigen des münsterländischen Adels blockiert. Als die Erbdrostin gestorben war, schrieb Franz v. Droste-Vischering an seinen Bruder Clemens aus Hovestadt am 18. 9. 1817:,,Wegen des Begräbnisses in der Plettenberger Familiengruft zu Herzfeld fürchte ich einige Schwierigkeiten wegen der bekannten Verordnung in betreff Begräbnis in den Kirchen. Ich werde indessen davon keine Notiz nehmen,

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und es geradehin verlangen. Es ist eine gemauerte Gruft und ich hoffe damit durchzukommen. Solhe dieses nicht gelingen, so wäre, da Ostinghausen die Pfarre ist, kein Rat als auf dem östinghauser Kirchhofe begraben zu lassen, und das wäre mir unerträglich . . . " (DAM, Nachlaß Clemens August v. Droste-Vischering, Nr. 51). 64 In der Familie v. Korff war z. B. ein Johannes Nepomuk der Farailienheilige; seine Statue stand in der Nähe des Schlosses; über diese Figur schrieb August v. Korff in sein Tagebuch: ,,Dieser wunderschöne Johannes ist aber nicht verkäuflich und wird es hoffendich niemals werden; denn meine Nachkommen wird ein so schönes Abbild des besonderen Schutzpatrons der Korffschen Familie, dieses so verehrungswürdigen großen Heiligen, dessen Namen alle Korffschen Söhne tragen, dem zu Ehren mein guter seligen Vater einen vollkommenen Ablaß in der PfarrkirchezuFüchtorfgestiftethat, ewig teuer und wert bleiben, wie er es mir ist . . ."(Archiv V. Korff-Harkotten IFi, 29. Bd.). 65 Zu diesen im münsterländischen Adel zahlreich vorhandenen Familienschätzen gehören z.B. dis Halsband des Lambert von Oer, das auf mehreren Portraits im Familienbesitz zu sehen war (vgl. den Brief des Theobald v. Oer an seinen Vetter Clemens v. Oer vom 15. 12. 1844, Archiv V. Oer E 563), sowie die goldene Kette des Wiedertäufers Johan von Ley den, die als ,,merkwürdiges Gedenkzeichen" von der Familie v. Merveldt sogar in deren Grafen-Diplom vom 20. 12. 1726 aufgenommen wurde und auch in den Testamenten der Stammherrn immer wieder besondere Erwähnung fand (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Carl Hubert v. Merveldt, Vol. II, Brief des Ferdinand Anton v. Merveldt an den König von Preußen vom 27. 8. 1844). 66 So begründete August v. Korff seine Aufzeichnungen über den Tod seiner Frau, sie dienten dazu ,,ihr Andenken in der v. Korffschen Familie zu bewahren, damit, wenn ihnen diese Papiere zu Gesicht kommen sollten, sie der Dahingeschiedenen und auch meiner, der ich dann durch Gottes Gnade mit ihr wieder vereint sein werde, im Gebet gedenken . . . " (Archiv v. Korff-Harkotten IFi, 29. Bd.) Aus den gleichen Motiven schrieb auch Marie v. Plettenberg-Esterhazy das Tagebuch über ihre Kinder und ihre Erinnerungen an Nordkirchen (Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen Xa 3 und UAM, Nachlaß Marie v. Plettenberg-Esterhazy). 67 Das adlige Siegel war der ständige Begleiter jedes Familienmitglieds, auch auf Reisen. Auf der Kavalierstour war es ein herkömmliches Ritual, sich am ersten großen Ort der Reise ein Siegel mit dem Wappen der Familie, stechen zu lassen. So verhielt sich auch Fritz v. Korff auf seiner Kavalierstour 1796, denn er wußte: Ein Adliger muß ,,ein ordentliches Familien-Pettschaft haben . . ."(Archivv. Korff-Harkotten IFh 1, 26. Bd., Brief an seine Mutter vom 6. 12. 1796). Auch der adlige Student hatte das Familien wappen an der Universität in verschiedener Form, für die Eintragungen in Stammbücher oder als Geschenk an Freunde, stets zur Hand (Archiv v. Oer E 1385, Brief von Clemens v. Oer aus Göttingen an seine Mutter am 10. 2. 1824). 68 Archiv v. Korff-Harkotten IFi, 29. Bd. 69 Simmel, S. 742. In ähnlicher Formulierung findet sich dieser Gedanke auch bei Halbwachs, S. 332: ,,Im Reichtum gibt es ein Machtprinzip ; aber es sitzt nichtin den materiellen Gütern, sondern in der Person dessen, der sie erworben oder inne hat." 70 Zu den Begriffen vgl. W. Sombart, Der moderne Kapitahsmus, Bd. 2, 2. Halbbd., S. 581-587; Bourdieu, S. 123 sucht den mit Machtreichtum bezeichneten Sachverhalt mit den Begriffen des materiellen und symbolischen Kapitals zu erfassen. Sombarts Prämisse für die Konstruktion dieses Gegensatzes, daß in der kapitalistischen Welt die Reichtumsmacht allein verhaltensorientierend wirke, ist mit Recht modifizierend entgegengehalten worden, daß zumeist auch heute in die Vorstellungen von Geldreichtum in allerdings eng begrenztem Maße noch qualitative Vorstellungen über die Persönlichkeit des Besitzers einfließen (Halbwachs, S. 332 u. 339-341). Zum außerordentlichen prestigemäßigen Unterschied zwischen erworbenem Reichtum und dem, wegen der damit zu assoziierenden umfassenden persönlichen Qualitäten, höher bewerteten ererbten Reichtum in vorindustrieller Zeit vgl. auch Mitgau, Familienschicksal, S. 49 ff. 71 Vgl. dazu Thompson, S. 389f.; Voraussetzung für die Anerkennung des adligen Füh518

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rungsanspruchs war auf lange Sicht, daß zum einen die zwei wesentlichen Elemente der Adelsvorstellung, wirksame Funktionserfüllung und die Suggestion hervorragender persönlicher Qualitäten in Übereinstimmung blieben. Hier haben die Erhaltung der ständischen Verfassung und die Ausbildung des Hofes den seine Kriegerfunktionen verlierenden Adel vor einem krassen Funktionsverlust bewahrt (vgl. dazu v. Kruedener, S. 71 f.). Zum anderen war es nötig, daß die Quelle der persönlichen Qualitäten geheim und diffus blieb. Deshalb war das Aufkommen des analytischen Denkens eine Gefahr für den Adel; denn mit diesem Instrument war es möglich, zwischen Funktion und Person, die in der vorindustriellen, ganzheitlich-sinnlichen Wahrnehmungs- und Denkweise noch ungetrennt geblieben waren, voneinander zu abstrahieren, so daß über kurz oder lang die vom Adel gepflegte Aura der persönlichen Qualitäten sich auflösen mußte. 72 Das Erinnern an die Verzichtleistung der Vorfahren wurde häufig als Mittel zur Disziplinierung der Söhne im Sinne der Familienordnung verwandt; vgl. z. В. die Ermahnung des Rentmeisters des V. Nageischen Gutes Vornholz Hermann Löhers an Hermann Adolph v. Nagel, der in WienaufgroßemFußelebte, ineinemBriefam24. 8. 1754:,,. . . so kan ich doch nicht umbhin, wiederholet Deroselben zu Gemüth zu führen, dass gar zu vieil Geldt, welches die Herren Vorfahren zu beßeren flor Dero Haus erspahrt und hinterlassen haben, in der weiten Weldt stekken bleibe . . ." (Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 131). 73 Hier in Anlehnung an Halbwachs' Begriff des kollektiven Familiengedächtnisses verwendet, in Absetzung von v. Klockes inhaltlich dasselbe meinenden Begriff der gentilizischen Gesinnung, und zwar, weil gentilizisch ein in der neueren historischen Familienforschung ungebräuchlicher Begriff ist und Gesinnung nicht so stark wie Vorstellung zwischen Bewußtsein und Verhalten trennt, so daß die Frage des Zusammenhangs dieser beiden Ebenen aus dem Fragehorizont gerückt wird. Zur inhaltlichen Bestimmung des Begriffs gentilizische Gesinnung bei v. Klocke vgl. z . B . V. Klocke, Hochzeiten, S. 12 und ders., Familie S. 1. 74 Es ist aber wichtig zu betonen, daß der Verzicht auf individuelle Selbstverwirklichung jenseits der Familienordnung und die Konformität mit den Familiennormen nicht zwangsläufig zum Verzicht auf die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit führen mußte. Schon Simmel, S. 745 f. wies darauf hin, daß trotz der starken Prägung des einzelnen Adligen durch seinen Stand diesem immer auch ein gewisser Freiraum zur persönlichen Realisierung der an ihn gestellten Verhaltenserwartungen gesichert wurde, vgl. dazu auch Halbwachs, S. 312. Das Ausmaß dieses Freiraums und die Art, wie er von den Standesgehörigen genutzt wurde, ist aber für jede Adelsregion gesondert zu bestimmen; innerhalb des münsterländischen Stiftsadels war er wegen der strengen Familien- und Standesorganisation deutlich weniger groß als z. B. im englischen oder französischen Adel, wie die Arbeiten von Stone, Forster und Meyer zeigen. 75 Hier ist, im Unterschied z. B. zu Kriegsauswirkungen, die ebenfalls den Adel in seiner Position schwächen konnten, an Erfahrungen gedacht, die nicht mehr oder nur durch Negation eines nicht erklärbaren, aber weiterhin stark wirksamen Erfahrungsrestes mit den im Adel hergebrachten Weltdeutungsmustern zu einem kontingenten Erfahrungszusammenhang verarbeitet werden konnten. 76 Vgl. als einen späten Fall, in dem ein Stammherr dieses Mittel anzuwenden suchte, das Beispiel des Clemens v. Merveldt (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Sophie v. Merveldt, Vol. I.; siehe V. a. den Brief des Stammherrn Carl v. Merveldt an seinen Bruder Clemens vom 20. 11. 1853). 77 Der Ausdruck ,,unsere Familien" kommt in den Aufzeichnungen des Max v. Korff (1842ff.) mehrfach vor, wenn er über die münsterländischen, ehemals stiftsfähigen Adelsfamilien spricht (Archiv v. Korff-Harkotten, Kladde: Max v. Korff, Aufzeichnungen aus meinem Leben, z.B. S. 37). 78 V. Westerholt, FG, S. 153. 79 Zur regionalen Mobilität nachgeborener Söhne im Anerbensystem vgl. Habakkuk, Family, S. 7. Als Beispiel für die Gefahr eines Verlusts der Stammherrnkontrolle über das Vermögen mobiler Söhne vgl. die Bemühungen der Familie v. Merveldt, das Nachlaßvermögen ihrer in

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Wien verstorbenen Angehörigen, der kaiserlichen Offiziere Maximihan und Rudolph v. Merveldt, zu erlangen; Archiv v. Merveldt, Nachlaß Maximilian v. Merveldt (1764-1815), Vol. II. und Nachlaß Rudolph v. Merveldt, Vol. II. 80 Ein Beispiel dafür war die Familie v. Plettenberg-Nordkirchen; vgl. dazu oben S. 77 und S. 506, Anm. 43. 81 Die Möglichkeit, täglich die katholische Messe hören zu können, war für die Wahl eines Amts im Ausland sehr wichtig; das betonte z. B. mehrfach in seinen Briefen August v. Twickel, der in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Jagdjunker in die Dienste des Herzogs v. Anhalt-Röthen trat (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 233 c; vgl. z. B. den Brief an seinen Vater vom 6. 1. 1830). 82 Die Zuständigkeit des Hausherrn für die Außenkontakte der Familie läßt sich an vielen Alltagssituationen nachweisen. So wurden z . B . die Glückwünsche zur Geburt eines Kindes immer an ihn adressiert. Auch an Ritualen bei Besuchen, Festen und Hochzeiten wird diese Arbeitsteilung zwischen den Eheleuten erkennbar: die Frau empfing in der Regel den Besuch innerhalb des Hauses, während der Mann auf der Schloßtreppe seine Gäste begrüßte (vgl. z. В. Erinnerungen . . . an vier Generationen der Familie Landsberg-Steinfurt, in: Landsberg, Vjschr. f.d. Landsbergschen Familienverband 1, 2; 1923, S. 26f. 83 Stellungnahmen der Frauen zu umfassenden Problemen der wirtschaftlichen Leitung und Einkommenslage der Familiengüter wurden von dem Stammherrn scharf zurückgewiesen (vgl. z. B. Archiv V. Twickel-Havixbeck IG 238; Brief Gl. II Aug. v. Twickel an seinen Schwager v. Morsey-Picard vom 25. 8. 1837). Selbst wenn die Frau und Witwe, was häufig vorkam, äußerst erfolgreich die Familiengüter verwaltete, betonte sie ständig ihre Unfähigkeit zu einer so schweren Aufgabe und suchte in entscheidenden Fragen immer wieder den Rückhalt an männlichen Beratern (vgl. z . B . Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D Ilf 17; Briefe Dinettes ν. PlettenbergLenhausen an ihren Bruder Franz v. Droste-Vischering vom 31. 12. 1809 und 20. 3. 1811). 84 Dieses Selbstbewußtsein der adligen Hausfrau wird z. B. daran erkennbar, daß auch zu ihrer repräsentativen Kleidung der Schlüssel als Symbol der von ihr geleiteten Vorratswirtschaft gehörte. Die das Rittergut besuchenden Gäste wurden, wenn sie besonders hoch angesehen waren, von der Hausfrau durch die Vorratsräume geführt (vgl. z. B. A. Sollmann, Ein Besuch des Edelsitzes Boderschwingh im Jahre 1806, in: WA 7, 1930, S. 117). 85 Welche außerordentliche, Fragen der emotionellen Bindung und Harmonie weitgehend verdrängende Bedeutung die Heirat der Frau z . B . unter Versorgungsgesichtspunkten besaß, wird deutlich aus einem Briefwechsel der M. v. Westerholt mit ihrem Bruder, in dem beide die Bedingungen für die geplante Heirat mit einem Freiherrn v. Raesfeld! überlegten (vgl. Archiv v. Westerholt-Westerholt, Nr. 38, III, Briefe der M. v. Westerholt vom 22. 2. und 18. 3. 1729). Eine solche Mitbeteiligung der Frau an den Bestimmungen der Ehepakten war nur bei der Wiederverheiratung von Witwen oder der Heirat von Töchtern, die erst in relativ fortgeschrittenem Alter eine Ehe eingingen, anerkannte Gewohnheit. Bis ins 18. Jahrhundert hinein erhielt sich demgegenüber, wenn auch zunehmend schwächer werdend, die Gewohnheit, die Ehekontrakte zu einer Zeit aufzustellen, in der die Ehepartner noch viel zu jung waren, um an dem Arrangement teilzunehmen, so daß die Eltern des Brautpaares den Vertrag aushandelten und - da der Hochzeitstermin noch fern war - für den Fall der Nichteinhaltung des öfteren auch eine Geldstrafe festsetzten. Die Ehe wurde in einem solchen Fall dann vollzogen, wenn die ЪгзхлтаппЬаг geworden war, d. h. nach dem Ende der Pubertät. Besonders deutlich treten die familienpolitischen Ziele der Heirat vor die heiratenden Personen, wenn z. B. bestimmt wird, ,,stirbt Elsen vor der Heirat, so soll ihre Schwester Bylie an ihre Stelle treten". (Ehevertrag zwischen Johann V. Kerckerinck und Elsen v. Hugen vom 10. 11. 1466, ST AM, Archiv Haus Borg U 220). Ein Beispiel für diese ältere Heiratspraxis des Adels: Helena v. Fürstenberg war 11 Jahre alt, als die Eltern 1552 ihre Ehe mit Johann Wulff zu Füchten vereinbarten; doch erst sechs Jahre später wurde die Ehe vollzogen (Theuerkauf, Fürstenberg. FG III, S. 42). Für das 18. Jahrhundert schon eine Ausnahme war das Heiratsalter der Erbtochter Wilhelmine v. Westerholt, die am 6. 520

Anmerkungen zu Seite 106-108 10. 1769 mit 12 Jahren an Ludolf Friedrich v. Boenen verheiratet wurde und diesem mit 15 Jahren ihr erstes Kind gebar (v. Westerhoh F G . S. 37). 86 So boten z . B . die Feste zu den Äbtissinnenwahlen immer willkommene Gelegenheit, Kontakte zwischen den Stiftsdamen und heiratsfähigen Männern zu knüpfen. (Vgl. Archiv v. Merveldt, Nachlaß Clara Ludovica ν. Merveldt, Vol. III, Mappe: Langenhorst, Brief an ihre Schwester vom 10. 6. 1796). Wie stark bei den Stiftsdamen die Tendenz war, durch Heirat dem Schicksal der Stiftsjungfer zu entgehen, wird u.a. an den Gerüchten über außergewöhnliche Heiraten deutlich, die unter ihnen bzw. ehemaligen Stiftsdamen kursierten. B . v. Boeselager schrieb am 23. 12. 1758 an ihre Kousine v. Korff: ,,. . . zu N o t t u h wird wieder auch bald ein Fräulein quittieren, als die Fräulein v. Landsberg, so man sagt, der Landdrost Spiegel würde heiraten; sie sind von sehr ungleichen Jahren . . . man hört so viel dolles auf der Welt, daß meine alte Westphalen auch zu Kappenberg den Sekretär hat geheiratet . . . " (Archiv v. Korff-Harkotten IFf 26. Bd.). 87 Archiv V. Korff-Harkotten IFh 1, 26. Bd.; Brief vom 28. 9. 1796. 88 Annette v. Droste-Hülshoff, Briefe, Bd. 1 ; der Grundsatz ,,Marry first and love will come afterwards" galt auch in der alten aristokratischen Welt Englands bis ins 18. Jahrhundert; vgl. Schücking, S. 132. 89 Beispiele für völlig zerrüttete Ehen finden sich in Aders u. Richtering, RKG-Prozesse, Bd. 1, Nr. 1644 und Bd. 2, Nr. 5650-52. Offen unglückliche Ehen sind aus Urkunden und Briefwechseln ansonsten nur noch in wenigen Einzelbeispielen nachweisbar. Doch liegt hier auch ein Quellenproblem vor. Die Macht des Hausherrn gegenüber seiner Ehefrau war so stark, daß er jederzeit ihre Briefe kontrollieren konnte (vgl. Dörner, S. 44), deshalb werden solche Probleme zwischen Verwandten oder Freunden vorwiegend in unmittelbaren Gesprächen behandelt worden sein. Für die Bestimmung der Realität der Ehe sind m. E. trotzdem die positiven Aussagen der Frauen in den Testamenten zu ihrer Ehe von größerem Aussagewert. 90 Zur von der Adelsgesellschaft zumindest geduldeten außereheUchen sexuellen Betätigung des Mannes noch am Ende des 18. Jahrhunderts vgl. den Fall Clemens August v. Galen, unten: S. 265. 91 Archiv V. Twickel-Havixbeck I G 239c; undatierter Brief. 92 S T A M , Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 2350. Auch Stone, Heirat, S. 131 stellt für den englischen Adel des 16. und 17. Jahrhunderts fest, daß sich auch in der arrangierten Ehe des englischen Adels zumeist eine gewisse emotionale Zuneigung, die man damals ,,Liebe" nannte, während der Ehe einstellte. Wie stark im münsterländischen Adel aber die Denkmuster der Familienordnung das Verhältnis zwischen den jungen Eheleuten prägte, ist z. В . an den Namen erkennbar, mit denen die Frauen ihre Männer ansprachen. So verwendeten Franziska v. Twickel und auch ihre Tochter Franziska v. Merode den Namen der Stammfamilie, die ihre Männer vertraten und weiterzuführen hatten und sprachen von ihnen als ,,Twickel" bzw. ,,Merode" (Archivv. Twickel-Havixbeck I G 267f., Brief der Franziska vom 31. 1. 1807 an ihren Sohn Ferdinand; und ebd. IG 22 e, Franziska v. Merode an ihre Mutter am 24. 7. 1836). Eine andere Form der Anrede, die stärker das Herrschaftsverhältnis zwischen Mann und Frau betonte, findet sich in den Briefen der Juliane v. Wimpfen, geb. v. Böselager, in denen sie von ihrem Mann als ihrem ,,Herrn" spricht (Archiv v. Korff-Harkotten IFg, 25. Bd.). 93 Zu ähnlichen Entwicklungen im englischen Adel schon während des 17. Jahrhunderts vgl. Stone, Crisis, S. 671. 94 Brief an seine Schwester Dinette ν. Plettenberg-Lenhausen vom 17. 5. 1811 (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D I I f l 8 ) . 95 Zumeist erhielten auch die ältesten Söhne, obwohl sie langfristig nicht für Domherrenstellen vorgesehen waren, in jungen Jahren die erste Tonsur, so daß schon früh für die der Familie zufallenden Präbenden ein Anwärter vorhanden war. Wenn dann die jüngeren Brüder nachgewachsen waren, resignierte der Älteste seine Stelle an einen seiner Brüder und konzentrierte sich auf seine zukünftige Position als Stammhalter. Aus demselben Grunde wurden zunächst auch

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nahezu alle Töchter zu Anwärterinnen auf eine Stiftsstelle bestimmt. Später, wenn ein Teil von ihnen heiratete, übertrugen sie ihre Präbenden auf die im Stift verbliebenen Geschwister - hier liegt ein Grund für die Pfriindenhäufung - oder sie verkauften sie zu einem möglichst hohen Preis an Anwärterinnen aus anderen Familien. Da es darum ging, die einer Familie zugefallenen Präbenden unmittelbar zu besetzen, lag zumeist das Alter, in dem die Kinder eine Stiftsstelle oder eine Domherrenstelle erwarben, sehr niedrig. So erhielt z. B. Dietrich Caspar v. Fürstenberg 1624 schon mit 9 Jahren seine erste Domherrnstelle, Wilhelm v. Fürstenberg 1634 mit 11 Jahren und deren Bruder Ferdinand 1634 bereits mit 7 Jahren (Lahrkamp, Fürstenberg. FG. III, S. 96, 107 u. 119). Die Töchter wurden zwischen dem siebten und zwölften Jahr ins Damenstift gegeben. Vgl. dazu die Denkschrift des Generalvikars und ehemaligen Ministers v. Fürstenberg über die Damenstifter im Münsterland von 1787 (ВАМ, Nachlaß Franz v. Fürstenberg, Nr. 177-5). Da vor der vollen Nutzung der Präbendeneinkünfte in den Stiftern und Domkapiteln eine bestimmte Wartezeit zu absolvieren war, war es üblich, die Kinder so früh wie möghch zumeist in die Obhut einer Tante dorthin zu geben. 96 Dennoch kam es vor, daß emotionale Bindungen des Vaters an eines seiner nachgeborenen Kinder mit den von der Familienordnung vorgeschriebenen Bestimmungen kollidierte. So veranlaßte z . B . Heinrich v. Galen aus Liebe zu seinem jüngsten Sohn, an dessen schlechter Ausstattung er litt, in einer Erklärung vom 20. 7. 1694, daß diesem zusätzlich aus seinem Vermögen ein versiegelter Beutel mit Geld nach seinem Tode übergeben werde (Archiv v. Galen-Assen F 712). 97 Vgl. dazu Shorter, Wandel, S. 277. 98 Noch Annette v. Droste-Hülshoff betrachtete sich wie selbstverständlich als Eigentum ihrer Eltern; vgl. dazu den Brief an ihre Mutter vom 9. 10. 1820 (Annette v. D.-H., Briefe, Bd. 1). 99 Die aus den Quellen nachweisbaren Fälle, in denen die Kinder mit Erreichen des sechsten bis achten Lebensjahres aus dem Haus gegeben wurden, sind allerdings für das 16. und 17. Jahrhundert weitaus häufiger als für das 18. Jahrhundert, so daß ein Rückgang dieses Verhaltensmusters schon vor 1770 wahrscheinlich ist. Nur für die zukünftigen Stiftsdamen blieb der frühe Eintritt ins Stift weiter verbreitet (vgl. unten S. 538, Anm. 77). Zur Vergabe der Kinder in jungen Jahren aus dem Haus ins Kloster, in die Lehr, in eine andere Adelsfamihe in den Dienst oder als Pagen an den Fürstenhof vgl. Fürstenberg. FG. III, S. 58, 67 u. 74 f. sowie v. Klocke, Boeselager, S. 82 u. a. Die Gewohnheit, Kinder früh aus dem Hause zu geben, war in anderen Adelsregionen und Schichten weit stärker verbreitet; vgl. für England Pinchbeck, S. 25 ff. ; Schücking, S. 72 ff. und für Neuengland Demos, Plymouth, S. 284-286). 100 Wuchsen die Töchter dagegen von Kind an und ohne Unterbrechung im Stift auf, so bildete sich in der Regel auch keine enge Mutter-Tochter-Bindung aus; das wird z. B. deutlich an der Freifrau v. Böenen, die es, über ihren ältesten Sohn vermittelt, ablehnte, ihre Tochter Julie, die in ihrer Stiftsexistenz unglücklich war, in ihrem Witwensitz in der Stadt Münster aufzunehmen. Max V. Bönen teilte seiner Schwester 1805 mit, die Mutter könne sich nicht mit ihrer Anwesenheit in Münster incommodieren (v. Westerholt F. G., S. 150f.). Die emotionale Distanz der Söhne zur Mutter wird z. B. daran deutlich, daß diese, sobald sie ihre Ausbildung jenseits des Hauses begonnen hatten, die Verhaltensbefehle der Mutter zumeist negierten oder durch plumpe Manipulationen und Lügen unterliefen. Vgl. dazu z . B . den Brief des Carl Mauritz v. Korff an seine Mutter vom 11.6.1759 oder den Briefwechsel zwischen den Brüdern v. Korff, ihrem Hofmeister und der Freifrau v. Korff aus den Jahren 1796/97; vor allem- in Gegenüberstellung-die Briefe des Fritz v. Korff und des Hofmeisters Guilleaume vom 9. 6. 1796 bzw. 9. 11. 1797 an die Freifrau (Archiv v. Korff-Harkotten IFf, 24. Bd. bzw. IFh, 26. Bd.). 101 So schaltete Sophie v. Twickel, geb. v. Ledebur des öfteren ihren Sohn Clemens II. August ein, wenn es darum ging, ihre Töchter zurechtzuweisen. Vgl. z . B . ihren Brief vom 1. 8. 1775 (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 239c). Zur Beteiligung des ältesten Sohnes als Erbe und Fortsetzer des Stammes an wichtigen Entscheidungen, hier einem Vertrag zwischen den Familien v. Droste-Hülshoff und v. Ketteier von 1799 vgl. Archiv v. Droste-Hülshoff, Akte 166 u. 167, Sentenz des Offizialatsgerichts Münster vom 18. 4. 1804. 522

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102 Vgl. als Beispiele die Reglements von 1697, 1712 und 1738 im Archiv v. Galen-Assen F 731, 744 u. 331 und die Denkschrift des August Ferdinand v. Merveldt an seine Söhne von 1811 (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Carl Hubert v. Merveldt, Vol. I, Militärakte). 103 Es führte jedoch an der Erkenntnis der realen Lage des Kindes im Adel vorbei, wenn aus dieser diffusen, d. h. noch nicht die vielfältigen Bedeutungsvarianten klar voneinander trennende Verwendung des Wortes Kind - wie es Mitterauer v. a. mit Bezug auf ländliche Schichten in vorindustrieller Zeit tut - auf eine identische reale Lage von Gesinde und leiblichen Kindern geschlossen würde. Aus dem Tatbestand der Wortverwendung ist lediglich abzuleiten, daß das herrschaftliche Moment des Hauses in dieser Gesellschaft dominant war. Gesinde und Kinder waren zwar beide der herrschafdichen Gewalt des Hausherrn unterworfen, die Lebensqualität und die Zukunftsperspektive dieser beiden Hauseinwohner war jedoch fundamental verschieden (Mitterauer, Familiengröße, S. 232f. u. 253 f.). 104 Archiv V. Plettenberg- Nordkirchen, Kasten 12, Nr. 14. Zu den Briefformeln vgl. die Briefe des Clemens August v. Galen aus den Jahren 1739/40 aus Salzburg an seinen Vater, v. a. die Briefe vom 27. 8. und 29. 9. 1739 (Archiv v. Galen-Assen F 332). 105 Am 13. 5.1853 schrieb Ferdinand C. H. v. Galen rückblickend über sein Verhältnis zum Vater in sein Tagebuch:, ,Der Todestag meines guten sei. Vaters. Ich habe wenig von dem Glück gekannt, was der Himmel über die ersten Jugendjahre des Menschen auszugießen pflegt. Ohne Mutter [seine Mutter war 1806, als er gerade 3 Jahre alt war, gestorben, H. R.] blieb ich meinem Vater fremd . . ." (Archiv v. Galen-Assen F 528). 106 Das geschah z . B . 1775 in der Familie v. Fürstenberg, als der Vater mit seinem ältesten Sohn Franz Clemens in eine heftige Kontroverse wegen dessen abweichenden Berufswünschen geriet. Da eine Versöhnung, v. a. auf Grund der harten, Gehorsam und völlige Unterordnung fordernden Haltung des Vaters, nicht zustande kam, übertrug er das Recht der Primogenitur auf den zweiten Sohn und zahlte Franz Clemens nur eine geringe Abfindung aus. (DAM, Nachlaß Franz V. Fürstenberg, Nr. 217, Mappe N 16; v.a. die Briefe des Vaters Clemens Lothar v. Fürstenberg vom 6.8. 1775 an den Kurfürsten und vom 6.8. 1775 an seinen Bruder, den Minister Franz v. Fürstenberg). 107 Die Kontrolle von Lebensführung und Eheleben des Stammherrn wird z. B. sichtbar in den Briefen des Jobst Edmund v. Twickel an seinen Neffen Clemens Π. August v. Twickel: ,,Sie seyed derjenige, so die ganze Familie sich glücklich schätzen kann; ein solcher hat Pflanzer der famille zu sein; ach geschehe dieses recht bald" (Brief vom 23. 11. 1781). Und am 17. 2.1781 riet er:,,conserviere mir, mein lieber Clemens, seine Gesundheit; das ist mir lieber wie das meinige; denn sie machen die Familienstatt floren" (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 239c). Eine Kontrolle der Ehepartnerwahl des Stammherrn gemäß der Familienordnung durch den jüngeren Bruder und Domherrn führte z. B. um 1800 in der Familie v. Westerholt dazu, daß der Stammherr, der 1796 eine uneheliche Tocher des Kurfürsten Karl Theodor von Bayern geheiratet hatte, 1803 die Familiengüter der Linie v. Westerholt an seinen jüngeren Bruder abtreten mußte (vgl. v. Westerholt F G , S. 53ff.). 108 Daß durch eine solche Gutsübertragung die väterliche Gewalt nicht aufgehoben werde, betontein einem Abtretungsvertrag von 1779 Clemens August v. Merveldt (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Clemens August v. Merveldt Vol. II). Auch August Ferdinand v. Merveldt wies 1813, als er seinem Sohn Ferdinand Anton vorzeitig ein Nebengut abtrat, darauf hin, dieses Gut solle dem Sohn eine ,,gewisse Unabhängigkeit und Selbständigkeit" ermöglichen (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Ferdinand Anton v. Merveldt, Vol. III). 109 Die Abhängigkeit des Heiratszeitpunktes des ältesten Sohnes von der Einkommenslage der Familiensgüter, deren Verschuldung und dem Ausmaß, in dem die Geschwister des Vaters und die eigenen Geschwister schon abgefunden waren, wird z . B . thematisiert in einem undatierten Brief (ca. 1770/80) des Clemens II August v. Twickel an seine Tante (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 238). 110 Studium und Kavalierstour als Mittel, den Heiratszeitpunkt der Söhne hinauszuschie523

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ben, thematisiert Mitterauer, Heiratsverhalten, S. 193. In der Denkschrift des Fritz Ludolf v. Landsberg-Velen wird deutlich, daß Studium, Kavalierstour und auch Ämtertätigkeit vom Vater zur Herauszögerung des Selbständigkeitsstatus, den Fritz Ludolf anstrebte, benutzt wurde (vgl. Archiv V. Landsberg-Velen, Nr. 14438). Zu den psychischen Zusammenhängen zwischen Altersphase, Zeitpunkt der Selbständigkeit bzw. Heirat und Tendenz zur Neuinterpretation familialer Traditionen vgl. Halbwachs, S. 238 u. 382. 111 Diese Meinung äußerte z. B. noch Carl v. Merveldt in einem Brief an seinen Bruder Clemens vom 20. 11. 1853 (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Sophie v. Merveldt, Vol. I). 112 Clemens III Carl v. Twickel zog z. B. erst, selbst 60 Jahre alt, auf das Hauptgut der Familie nach Havixbeck (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 260 c, Brief der Mutter Franziska v. Twikkel an ihre Schwiegertochter Maria Theresia vom 7. 6. 1842). Eine starke Bindung der Stammherrn an den in den Familienordnungen formulierten kollektiven Familienwillen war wohl im Münsterland die Regel. Doch ist neben der starken inneren Verankerung dieser Tendenz zur Besitzwahrung auch zu berücksichtigen, daß die Stammherrn mit dem Fideikommißprinzip nicht nur den Glanz der Familie, sondern auch ihre eigene Position, d. h. vor allem die alleinige Nutzung der Familiengüter verteidigten. Der Fall des Grafen Carl Hubert v. Merveldt ist zumindest dazu geeignet, Zweifel an der reinen Orientierung des Stammherrn am Familienwillen wachzurufen. Als Zweitsohn und ohne große Aussicht auf die Nachfolge in die Familiengüter bat er seinen Vater August Ferdinand am 9. 2. 1829, ihm eines der Familiengüter zum Schein zu verkaufen, da er auf diese Weise Vorteile bei seiner Bewerbung um eine Landratsstelle erlange; ¿ds wohl erworbene Recht eines Dritten könne dadurch auf keine Weise gefährdet werden. Der Vater war aber völlig anderer Meinung und lehnte den Vorschlag Carls als Angriff auf das Familienfideikommiß ab, das er zisSäule der Religion und des Staates für unantastbar erklärte. Hatte Carl als Zweitsohn 1829 noch die Familienordnung angegriffen und einen schweren Konflikt mit seinem Vater provoziert, so änderte sich seine Einstellung entschieden, als er, da sein verstorbener Bruder keine Nachkommen hatte, 1853 zum Stammherrn der Familie Merveldt aufrückte. Nun wurde er selbst zum strengen Hüter der Familienordnung, und in einem Brief vom 20. 11. 1853 an seinen Bruder Clemens, der seinerseits die Famihenordnung angegriffen hatte, forderte er: ,,Strenge Nachachtung gegen die Verordnung der Stifter." (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Carl Hubert V. Merveldt, Vol. I: Briefe Carl Huberts vom 13. 10. und 22. 10. 1828 sowie vom 9. 2. 1829; Vol. III: undatierter Brief des Vaters aus dem Jahre 1829; Nachlaß Sophie v. Merveldt, Vol. I, Akte Clemens, Brief Carl Huberts vom 20. 11. 1853). 113 Zumeist erzog die Mutter und Witwe, den verstorbenen Vater imitierend, zu hart, wie z. В. im Fall des,,Verschwenders" Max Friedrich v. Plettenberg-Nordkirchen (STAM, Nachlaß Druffel, Nr. 227-29) oder ihre Leitung der Kinder war zu ängstlich und zu schwach, vgl. dazu z. B. die Erziehungskonzeption der Bertha v. Nagel in ihrem Kodizill vom 16. 12. 1847 (Archiv V. Nagel-Vornholz Alb 178). 114 Vgl. Laslett, World, S. 12; Mitterauer, Familie, S. 3. Selbst die naturrechtlich argumentierenden Staats- und Gesellschaftstheoretiker konnten sich den Gesellschaftsvertrag nur als von FamiUenvätern geschlossen vorstellen (Schmelzeisen, S. 364). 115 Zur kurzfristig hohen Belastung des Familienbesitzes mit Brautschätzen von Tanten und Schwestern vgl. z . B . die Klage des Stammherrn Clemens II. August v. Twickel in einem undatierten Brief an seine Tante aus der Zeit um ca. 1770/80. Er drohte sogar damit, durch Verzicht auf eine eigene Heirat ,,den sonst uralten von Twickelschen Namen mit meinem Grabe das End in der Welt nehmen . . . zu lassen (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 238; vgl. dazu auch den Brief seiner Schwester Maria Viktoria vom 4. 7. 1784; ebd., IG 239m). Zur Belastung des Stammherrn durch seine Funktion als Exekutor von Familienmitgliedern vgl. den Briefwechsel des Theodor v. Cloedt aus dem Jahre 1824 mit der Stiftsdame v. Oer (Archiv v. Oer-E 1366). 116 Z. B. im Erbteilungsvertrag der Familie v. Korff; dort heißt es: ,,Alle Geschwister können auf Haus Harkotten wohnen, wenn sie wollen" (Archiv v. Korff-Harkotten IF4, 20. Bd.). 524

Anmerkungen

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117 Vgl. Archiv V. Merveldt, Nachlaß Clara Ludowica v. Merveldt Vol. III, v. a. Die Briefe vom 26. 5., 1. 6., 6. 6. und 10. 6. 1796 an ihren Bruder. 118 Dieser Fall trat z. B . ein, als August v. Droste-Vischering, ein nachgeborener Sohn, im Jahre 1813 sich der Aufforderung, in französischem Heer seiner Wehrpflicht anchzukommen, entzog und sich auf verschiedenen Gütern seiner Verwandten versteckt hielt. Nur mit Einsatz aller der Familie zur Verfügung stehenden persönlichen Verbindungen zu mächtigen Männern im französischen Okkupationsgebiet konnte die Absicht des Präfekten, statt dessen den ältesten Sohn des Stammherrn der Familie zum Militärdienst einzuziehen, verhindert werden (Archiv v. Plettenberg- Hovestadt D l l f 18; v. a. die Briefe des Franz v. Droste-Vischering an seine Schwester Dinette ν. Plettenberg-Lenhausen vom 21. 5., 25. 5. und 26. 10. 1813). 119 Derartige Verzichte des ältesten Bruders zu Gunsten eines jüngeren kamen vor dem 18. Jahrhundert recht häufig vor. Manchmal konnten sich die Brüder sogar nicht einigen, wer nun das schwere Los des Stammherrn übernehmen sollte. So bat F. C. v. Plettenberg am 12. 4. 1713 in einem Brief aus Orleans seinen Bruder, doch die Stammherrnrolle zu übernehmen, denn schließlich müsse doch einer von ihnen die Famihe fortsetzen, da sonst der Familienbesitz auf die Schwester übergehe (Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen, Kart. 24 Nr. 14, Plettenberg-Lenhausensche Familiensachen). Dagegen waren solche Verzichte auf die Stammherrnrolle im 18. Jahrhundert wohl sehr selten, denn als Clemens I August v. Twickel nach dem Tode seiner Frau im Jahre 1781 seinem Sohn Clemens II August alle Familiengüter abtrat und die Absicht äußerte, Geistlicher zu werden, reagierte dessen Bruder und Domherr Edmund mit Unverständnis und Spott (vgl. Archiv V. Twickel-Havixbeck F G 239c; v. a. die Briefe vom 10. und 17. 2. 1781). Es zeigt das ganze Ausmaß der Veränderungen an, die im münsterländischen Adel in den nächsten Jahrzehnten stattfanden, daß zwei Generationen später ein solcher Schritt als hervorragendes Beispiel außerordentlicher Religiosität nicht belächelt, sondern in der ganzen Adelsgruppe bewundert worden wäre. 120 Archiv V. Nagel-Vornholz Ala 131; ein ähnlicher Fall im Archiv v. Korff-Harkotten I F h l , 2 6 . Bd.;vgl. die Briefe Fritz und Clemensv. Korffvom3. 1 . b z w . 2 0 . 1. 1797 an ihre Mutter. In Übereinstimmung mit diesem Befund bringt Sabean, S. 241 ein Beispiel, das zeigt, daß in einem bäuerlichen Gebiet mit Realteilung vielseitige und wenig belastete Geschwisterbeziehungen, in Anerbengebieten aber ein stärker distanziertes Verhältnis zwischen den Geschwistern bestanden. Für den französischen Adel um Toulouse hat Forster S. 127 ebenfalls die geringen emotionalen Bindungen zwischen den Geschwistern betont; S. 135 schildert er einen Fall, in dem eine Schwester durch harte und geschickte Verhandlungen über die Zahlungen ihres Brautschatzes den Bruder in arge finanzielle Bedrängnis bringt, anstelle von Bedauern aber nur äußert, dieses sei nun mal ein notwendiges Geschäft. 121 Vgl. dazu z . B . die Briefe zwischen den Vettern J . M. v. Plettenberg-MarhülsenundF. C. V. Plettenberg-Nordkirchen, v.a. die Briefe vom 20. 9. und 18. 11. 1712 (Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen, Kart. 24, Nr. 14, Plettenberg-Lenhausensche Familiensachen). Ein Beispiel für die Überwindung des distanzierten Schwester-Stammherr-Verhältnisses durch gemeinsame Bewältigung einer Krisensituation findet sich u. a. in dem Briefwechsel zwischen den Geschwistern Mechthild v. Galen und Clemens II August v. Twickel aus dem Jahre 1781 (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 239i). Mechthild wurde von ihrem Ehemann betrogen und gleichzeitig von der städtischen Adelsgesellschaft des Ehebruchs mit einem Offizier verdächtigt. 122 Schöne, Fürstenberg. F G . III, S. 71 u. 82; zur größeren Selbständigkeit der Töchter nach dem 18. Lebensjahr vgl.: In dem am 30. 5. 1685 gegründeten Fideikommiß zu Gunsten des Adolph V. Plettenberg wurde festgelegt, daß die Schwestern bis zum 18. Lebensjahr einen standesmäßigen Unterhalt beim Stammherrn genießen sollten; danach wurde ihnen die freie Tafel beim Fideikommißherrn und 200 RT/Jahr zugesprochen; die zu dieser Zeit schon präbendierten Schwestern erhielten nur 150 RT/Jahr (Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen, Kart. 21, Nr. 12). Vom 18. Lebensjahr an wurde also den Töchtern ein eigenes Einkommen und damit eine selbständigere Lebensführung zugestanden. Bei den Söhnen lag der Verzinsungsbeginn dagegen ei-

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nige Jahre höher, zumeist zwischen dem 21. und 25. Lebensjahr (vgl. das Testament des Friedrich Anton v. Korff vom20.1.1827, in dem der Verzinsungsbeginn für Töchter auf 18 Jahre, für Söhne auf 25 Jahre festgelegt wurde; Archiv v. Korff-Harkotten IFhl, 26. Bd.). 123 Vgl. z . B . die eindringliche Schilderung der Witwe Franziska v. Twickel ,,im Kreise ihrer zum Theil ergrauten Söhne und Töchter" im Erinnerungsbuch der Marie v. Plettenberg-Esterhazy (,,Notizen für allerhand . . . " , S. 220f. von 1846, UBM Handschriftenabteilung). Unter psychischen Druck wegen des Ausbleibens der Schwangerschaft geriet z . B . Mechthild v. Galen, geb. V. Twickel. Am 1. 8. 1775 berichtete ihre Mutter besorgt an den Sohn Clemens II August: , ,Es scheint, es ist der Mechi empfindlich, dal5 bey ihr noch nichts zu hoffen ist. Die Leuth haben eine Menge über ihr zu outieren" (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 239c). Dagegen wurde im weiteren Familienkreis die Nachricht von der Schwangerschaft der Frau eines Stammherrn immer mit großer Erleichterung aufgenommen; vgl. den Brief der Theresia v. Droste-Senden an ihren Bruder Clemens II August v. Twickel, Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 239e. 124 Ein Beispiel für diese Haltung bietet Franziska v. Twickel in dem Brief vom 1.11.1797 an ihren Ehemann Clemens II August (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 238 qu). Diese innere Disposition der Frau zur Unterordnung artikuliert z. B. Bernhardine v. Plettenberg-Lenhausen am 19. 12. 1809 in einemBrief an ihren Bruder Franz v. Droste-VischeringindemSatz:,,Gehorsam ist unserem Geschlechte eigen, und da . . . werde ich am allerwenigsten mein Geschlecht verleugnen" (Archiv V. Plettenberg-Hovestadt Dllf 17). Die schwierige Lage, in der sich eine junge Frau befand, wenn die Nebenhauslösung nicht praktiziert wurde, schildert z . B . Annette v. Droste-Hülshoff in einem Brief vom Anfang des Jahres 1819 an Dorothea v. Wolff-Metternich (Annette v. D.-H., Briefe, Bd. 1, S. 38). 125 Zum Lebensstil der Witwe in der Stadt ein Beispiel aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, das aber auch für das Ende des 18. Jahrhunderts Geltung beanspruchen kann: ,,Seit dem Tode ihres Mannes lebte sie fast immer in dem Hause ihres ältesten Sohnes in Münster; sie war sehr gesellig, nahm gern Besuche an und freute sich, wenn abends einige Bekannte Thee bei ihr tranken. - . . . Ihre liebenswürdige, kindliche Heiterkeit freute sich der Munterkeit der Jugend. Sie ging auf Bällen und ihr Erscheinen freute Alt und Jung. (UBM, Handschriftenabteilung, Marie v. Plettenberg-Esterhazy," Notizen für allerhand", S. 218ff.). 126 Archiv V. Korff-Harkotten IFh 1, 26. Bd. ; zur weithin fehlenden Vormundschaftsfunktion der Frau in früheren Jahrhunderten vgl. v. Klocke, Fürstenberg. FG. II, S. 48. 127 Vgl. Lahrkamp, Fürstenberg. FG. III, S. 113. 128 Es kam immer wieder vor, daß die Söhne die Amterwahl des Vaters, v. a. die Bestimmung zur geistlichen Laufbahn, ablehnten. In der Familie v. Fürstenberg finden sich im 16. u. 17. Jahrhundert allein zwei solcher Fälle. Der Konflikt wurde jeweils dadurch gemildert, daß sich der älteste Sohn bereit erklärte, an Stelle des Bruders Domherr zu werden (Theuerkauf, Fürstenberg FG III, S. 22 undS. 67; auch Kunsemüller, S. 17 f.). Im Falle des Franz Clemens v. Fürstenberg, der am Ende des 18. Jahrhunderts als ältester Sohn eine Universitätslaufbahn úsPhilosoph anstreben wollte, kam es jedoch zu einem harten Konflikt mit dem Vater Clemens Lothar (vgl. DAM, Nachlaß Franz v. Fürstenberg, Nr. 217). 129 Bei der Namengebung neugeborener Kinder achteten die zu Paten gebetenen Familienangehörigen streng darauf, daß wesentliche Leistungen von Familienangehörigen im Namen der Nachfahren aufbewahrt blieben. Viktoria v. Twickel z. В., Stiftsdame in Nottuln, schrieb deshalb am 4. Juli 1830 an ihre Schwägerin Franziska v. Twickel: ,,Der gute Clemens hat mich zur Gevatterin gebeten, wenn es ein Knabe ist, ich habe es mit Vergnügen angenommen . . . Es ist mir so leid, daß ich Lilien nicht gebeten habe, dem Kleinen den Namen Eduard zu geben. Dieser Name muß aus Regard für unseren braven Onkel fortgesetzt werden, so wie der Name Clemens. Doch was nicht ist, kann noch geschehen. Ich freue mich, daß wir schon Clemens haben . . ." (Archiv V. Twickel-Havixbeck IG 239 m). 130 In früheren Jahrhunderten, vor der Durchsetzung des Fideikommißsystems, heirateten nachgeborene Söhne wesentlich häufiger, da sie über Brüderteilung in den Genuß von Landver526

Anmerkungen

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mögen, das nach damaligen Anschauungen allein das Recht zur Familiengründung bot, kamen. Nach der Durchsetzung des Fideikommißsystems sollten die Zinsen des Abfindungskapitals das am Anfang eines Berufsweges oft niedrige Einkommen der Söhne aufbessern. Es war zwar möglich, aber durchaus unüblich, daß die Söhne mit dem Erreichen der Volljährigkeit von 23 Jahren die Auszahlung des Abfindungskapitals verlangten (vgl. das Testament des August Ferdinand v. Merveldt vom 3 . 4 . 1826, Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 178). Die Auszahlung des Abfindungskapitals erfolgte in der Regel, wenn überhaupt, Jahrzehnte nach dem Erreichen der Großjährig^eit. 131 Dieses war z . B . der Fall bei Dietrich Mauritz v. Korff, der 1711, im Alter von 19 Jahren, auf alle Ansprüche am Familienbesitz der Familie v. Korff-Harkotten verzichtete, weil er zum geistlichen Stand bestimmt war. Er wurde, was zu dieser Zeit schon weitgehend unüblich war, in das Benediktinerkloster zu Siegburg gebracht. Seine Abfindung war auf den minimalen Satz von 20 RT/Jahr gesetzt. Doch kurz vor seiner Einkleidung flüchtete Dietrich Mauritz aus dem Kloster (vgl. Archiv V. Korff-Harkotten IFa 2, 22. Bd.). 132 So begründete z. B. der Domherr Paul Burchard v. Merveldt in seinem Testament vom 24. 11. 1844 eine Sekundogenitur der Familie v. Merveldt, deren Hauptsubstanz ein Rittergut im Werte von ca. 200000 R T war (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Paul Burchard v. Merveldt, Vol. III). 133 Vgl. ВАМ, Nachlaß Franz v. Fürstenberg; wenn die Stiftsdamen Unzufriedenheit äußerten, so reagierte der Stammherr mit Unverständnis und Unwillen. In einem undatierten Brief (1806/07) wehrt der älteste Bruder und Stammherr Max v. Boenen den Wunsch der Schwester Julie, das Stift zu verlassen und in die Stadt Münster zu ziehen mit einer übertrieben positiven Schilderung der Stiftsexistenz ab, ohne zu unterlassen darauf hinzuweisen, daß ihr keine andere Alternative als das Stift bleibe. Man braucht nur die Schilderung der Stiftsexistenz durch den Minister Franz V. Fürstenberg aus dem Jahre 1787 mit dieser Schilderung des Max v. Boenen über die glänzende Lage seiner Schwester im Stift zu vergleichen, um zu ermessen, in welcher grob vereinfachenden Weise hier ein Stammherr das Problem der Stiftsdamen wegzureden versucht (STR, Archiv V. Westerholt-Arenfels, Nr. 1311). 134 So wurde z. B . die Äbtissin Clara Ludowica v. Merveldt 1780, nach dem Tode ihres Bruders Clemens August, zur Erzieherin seiner beiden jüngsten Töchter Clementine (9 Jahre alt) und Antoinette (7 Jahre alt), die seitdem mit ihr im Stift lebten (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Clemens August v. Merveldt, Vol. I, Rechnung des August Ferdinand über Ausbildungskosten für seine Geschwister. Ende 18. Jahrhunderts). 135 Daß die Stiftsdamen, v. a. wenn sie an der damaligen Schwelle zum Jungferntum standen, mit allen Mitteln um einen Mann zu kämpfen wußten, und mit List und Beharrlichkeit, auch unter solidarischer Mithilfe ihrer im Stift verharrenden Schwestern, eine Heirat erzwingen konnten, wird deutlich am Fall der 31 jährigen Maria Agnes v. Weichs, die 1736 gegen den Willen der Mutter des Bräutigams den noch nicht großjährigen 23jährigen Kaspar Heinrich v. Boeselager heiratete (v. Klocke, Hochzeiten, S. 13f.). Zur Abnahme der Familienkontakte vgl. z . B . das Schicksal der Stiftsdame Bernhardine v. Graes. Als sie 1805 starb, erschien in der Zeitschrift Argus Nr. 49 ein Aufruf, in dem die Verwandten aufgefordert wurden, sich zu melden (STAM, Archiv Haus Diepenbrock, Akte II, Nr. 33 a). 136 Archiv V. Nagel-Vornholz Ala 131 ; zu Ursula v. Fürstenberg vgl. Schöne, Fürstenberg. F G . III, S. 82. 137 Archiv V. Twickel-Havixbeck 1С 239 m; undatierter Brief, Anfang 19. Jahrhundert. Zu den Patengeschenken vgl. z. B. den Brief des Karl Mauritz v. Korff an seine Mutter vom 1. 7. 1758 (Archiv V. Korff-Harkotten IFf, 24. Bd.). 138 Archiv V. Nagel-Vornholz Ala 131. 139 Vgl. hierzu die Manipulation der Stiftsdame v. Oer zu Langenhorst, die Ausnutzung ihrer Gutgläubigkeit, Hilflosigkeit und Abhängigkeit von Anerkennung durch den Stammherrn

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Anmerkungen

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Theodor v. Cloedt, dem daran gelegen war, durch Zurückhaltung der Erbschaft seiner Tante und Stiftsdame, seinen jüngeren Bruder Werner zu disziplinieren (Archiv v. Oer-E 1366). 140 Daß dieses eine hergebrachte Gewohnheit war, wird deutlich ausgesprochen im Testament der Therese v. Merveldt vom 14. 11. 1823; dort heißt es:,,Alles was bei meinem Tode am Gold, Papier, wozu ich natürlicherweise auch Obligationen rechne und andere Gelder . . . lasse ich meinem ältesten lieben Bruder . . ., welches ich so natürlich finde, daß ich am liebsten gar keine Bestimmung nötig hätte . . . " . Diese Stelle erscheint unter dem Souvenirbuch betitelten Notizbuch der Bertha v. Nagel, in dem sie ihr wichtig erscheinende Passagen aus Büchern und anderen Schriftstücken festhielt, mit dem Kommentar Berthas: ,,beendigt, den 6. Dezember zum Andenken der lieben Schwester, einem schönen Tugendbeispiel, (das) mir stets als Vorbild dienen möge". (Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 188). 141 Vgl. dazu die quantitativen Analyse der Familienstruktur in Kap. III. D 1.1.

II. C. 2. Erziehung und Ausbildung 1 Da in den folgenden Kapiteln bei der Darstellung der Übergangszeit zwischen 1770 und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Gegensatz zum Typus der altständisch-integrierten ,,Erziehung" zwischen Erziehung und Sozialisation unterschieden werden wird, erscheint es sinnvoll, die beiden Begriffe, wie sie im weiteren verwendet werden, an dieser Stelle, und zwar in enger Anlehnung an die Definitionsversuche von Strzelewicz, S. 498f., kurz zu bestimmen. Der Ъе^тШSozialisation erfaßt die vorwiegend unbewußt verlaufenden, vielfältigen diffusen Prozesse, durch die eine aufwachsende Generation in die Ordnung der Erwachsener hineinwächst,, ,so daß eine Orientierung im Verhalten und Stellungnehmen individueller und gesellschaftsbezogener Art (zur Umwelt) möglich wird". Die häufig ,sekundäre Sozialisation' genannten Prozesse, die während der verschiedenen Lebensphasen des Erwachsenen ablaufen, bleiben für dieses Kapitel ausgeklammert, gewinnen aber bei der späteren Thematisierung adliger Vereinsaktivitäten besondere Bedeutung. Erziehung soll dagegen die Prozesse bewußter, zukunftsorientiert planender, an festen Normen und bestimmten Verfahren orientierter Einwirkung von zumeist zu dieser Aufgabe in spezifischer Weise vorbereiteten Erwachsenengruppen auf eine durch die vorgenannten Normen bestimmte Gruppe Heranwachsender kennzeichnen. 2 Vgl. Roessler, Geschichte, S. 61; Nipperdey, Geschichte, S. 254. 3 Vgl. Nipperdey, Geschichte, S. 254. 4 Vgl. Lange, S. 308; Jeismann, Gymnasium, S. 47. 5 Die notwendige schichtenspezifische Korrektur des Typus erfolgt an Hand der unten dargestellten ErziehungsWirklichkeit des münsterländischen Adels vor 1770. Hier folgt zunächst eine Betrachtung zweier Wandlungsprozesse, die für die Umformung des Erziehungswesens im 17. und 18. Jahrhundert von wesentlicher Bedeutung gewesen sind. 6 Vgl. Heubaum, S. 31 ff., Lampe, S. 287-293, Bruford, S. 70-73; in der Regel wird als Ausgangspunkt dieses neuen adligen Bildungsideals das Buch des Italieners B. Castiglione vom ,,Hofmann" (II Cortegiano, 1518) genannt (vgl. Beck, S. 63f., Loebenstein, S. 16); weitere wesentliche Stationen für die Ausbildung des Kavaliersideals waren dann die Schriften des Franzosen Montaigne, des Spaniers Guevara und des Franzosen Fénelon (vgl. Loebenstein, S. 22-26; Brunner, Landleben, S. 109f.; Steinhausen, Idealerziehung, S. 213-16). 7 Paulsen, Bildungswesen, S. 70; Stammler, S. 13; Stephan, Hofmeister, S. 302. 8 Heubaum, S. 271 ff. ; Beck, S. 64 f. ; vgl. auch Nipperdey, Geschichte, S. 255. In den katholischen Teilen Deutschlands kam es nur in geringerem Maße zur Gründung von Ritterakademien, V. a. wohl deshalb, weil hier die Jesuitengymnasien eine Synthese zwischen dem humanistisch-gelehrten und dem neuen höfisch-adligen Bildungsprinzip herzustellen versuchten. Hier fand der Rückzug des Aldels aus den höheren Schulen infolgedessen auch wesentlich langsamer und nicht vollständig statt (vgl. Lange, S. 208; Roessler, Geschichte, S. 83). 528

Anmerkungen

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9 Vgl. Heubaum, S. 42; Pauken, Bildungswesen, S. 84 nennt die im späten 18. Jahrhundert neu gegründeten philantropischen Schulen „ins Bürgerliche übersettte Ritterakademien"; vgl. auch Lange, S. 255f. und Blankertz, S. 16-18. Den neben den spezifischen adligen Exerzitien stehenden realistischen Fächerkanon der Ritterakademien beschreibt Paulsen, Bildungswesen, S. 71 f. Für die Reform des Gymnasiums illustre in Zittau am Ende des 17. Jahrhunderts durch deren Rektor Chr. F. Weise, der vorher selbst Lehrer an einer Ritterakademie gewesen war, hat Horn, v.a. S. 260, 266 u. 273, die Vorbildfunktion der Ritterakademien für eine erste, frühe Phase der Reform der gelehrten bürgerlichen Schulen an einem Beispiel konkret nachgewiesen. Ballauf, S. 280 f. sieht in Weise einen der ersten , .Fürsprecher" eines neuen, überständischstaatsbezogenen, schulisch zu vermittelnden ,politisch-weltmännischen' Bildungsideals, das aus der Sicht der damaligen bürgerlichen Oberschicht die Grundlage für eine neue adlig-bürgerliche Funktionselite abgeben sollte. 10 Max Weber, WG, S. 813 u. 861 ff. unterscheidet drei Typen der Erziehung: die auf,,Wiedergeburt" außergewöhnlicher persönlicher Qualitäten im zu Erziehenden orientierte charismatische Erziehung; die dieser entgegengesetzte spezialisierte, von umfassenden Personqualitäten absehende Facherziehung und den in vielfältigen Realisierungen auftretenden Mischtypus der kultivierten Erziehung. Die ständische Erziehung zählt er (S. 827) zum letztgenannten Typus und nennt den Kult der fähigen, ,Persönlichkeit", die auf ständischer, ,Ehre" beruhende Gesinnung, als ihr strukturbestimmendes Element. Als das Wesentliche an der Adelserziehung als einer spezifischen Form der Standeserziehung wird von ihm der auf ursprünglich charismatische, militärisch-ritterliche Erziehungselemente zurückgreifende, aber Fachkenntnisse integrierende, auf Selbstverklärung angelegte Kult der umfassend zur Ausübung von Herrschaft befähigten Persönlichkeit hervorgehoben. 11 Vgl. Blankertz, S. 20 f. 12 Paulsen, Bildungswesen, S. 72-75; die Universitäten Halle (gegr. 1694) und Göttingen (gegr. 1737) waren die entscheidenden Vorbilder der Reformbewegung. 13 Vgl. dazu Jeismann, Gymnasium, S. 35-39, 59 u. 66. 14 Vgl. Ruegg, Bildung, S. 40; Roessler, Geschichte, S. 287. 15 Vgl. Blankenz, S. 21 f.; Hausen, S. 385-387. 16 Vgl. dazu u. a. Ruegg, Bildung, S. 36; Ballauf, S. 386 f. und Paulsen, Bildungswesen, S. 94. 17 Möglichkeiten zur Anpassung lagen für die Kirchen in der Neuformulierung eines Konzepts c¿ríít/¿c¿en Lebens, in dem die neuen, innerweltlichen Staatsziele und die Vorbereitung auf das ,ewige Leben' in Harmonie gebracht werden mußten. Ohne Zweifel war es für die protestantische Kirche, vor allem wegen ihrer positiven Deutung der Arbeit, der Identität von Landesherr und Kirchenherr und ihrer bürgerlichen Geistlichkeit, leichter als für die katholische, zu einer neuen, mit den staatlichen Zielen in Harmonie stehenden christlichen Deutung der Arbeitswelt und des darauf bezogenen Erziehungsbereichs zu kommen (vgl. Ballauf, S. 276f., u. 280; Holborn, S. 94). 18 Vgl. dazu Roessler, Geschichte, S. 341. Als einillustrativesBeispielfür die Art der Argumentation, mit der die Ausschaltung der Kirche aus dem Erziehungsbereich gerechtfertigt wurde, sei die Position des Schulreformers Villaume angeführt: „Anmerkungen über die Frage: Ob der Staat sich in die Erziehung mischen soll? Ich glaube also, daß 1. der Staat nicht allein kann, sondern muß für die Erziehung sorgen . . . Wenn ich mir selbst Schuh mache, so hat der Staat darin nichts zu sprechen, denn wenn ich die Arbeit verderbe, so ist der Schade mein, und trifft keinen Andern. Wenn ich aber meine Kinder verhunze, so werden meine Mitbürger darunter leiden." (zit. nach Ballauf, S. 489). 19 Vgl. Ballauf, S. 339ff.; Gebauer, Erziehung, S. 42 u. 46f.;Nipperdey, Geschichte, S. 257. 20 Zu den inhaltlichen Elementen der neuen Anthropologie vgl. Roessler, Geschichte, S. 160ff. u. 231, Nipperdey, Geschichte, S. 257 und Snyders, S. 260 u. 286; für das französische Schulwesen vgl. auch Vaughan, S. 216-218. 21 Und an der Randspalte der Instruktionen erscheinen die Laster der Kinder noch einmal zu529 34

Reif, Adel

Anmerkungen

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131-133

sammengefaßt;,,gegen das Liegen, Hoffart, Trutz, Ohngehorsam, Triften, Arkischkeit, Heimtückigkeit" (Archiv v. Fürstenberg-Herdringen, Nr. 390). Sudhof, S. 55 betont die Dominanz ,spätmystische-jansenistischen' Gedankenguts in der Familie v. Fürstenberg, welches in diesem Bild vom Kind erkennbar wird. Zu den pädagogischen Vorstellungen der Jansenisten vgl. Ballauf, S. 283-288 und Snyders, S. 45ff. Die Vorstellungen Luthers vom Kinde wichen in dieser Grundeinschätzung wohl wenig von den Jansenisten ab; so vertrat er u. a. auch die Auffassung, ,,die Kinder seien nur zu geneigt. Böses zu thun, weshalb es eine Sünde der Eltern sei, ihnen nicht zu wehren und die Strafe zu unterlassen" (Boesch, S. 47). 22 Archiv V. Fürstenberg-Opladen 23'"·". 23 Während mit dem Übergang der Söhne in die Hände des Vaters im sechsten bis achten Lebensjahr der Zeitpunkt bestimmt war, von dem ab die Erziehung der Kinder nach den voreinander abweichenden Rollen des Mannes und der Frau differenziert wurde, fand eine nach den Positionen des Erstgeborenen und der nachgeborenen Söhne gegliederte spezifischen Einweisung in die zukünftigen Erwachsenenrollen erst sehr spät, zumeist mit dem Beginn der Kavaliersreise, also zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Lebensjahr, statt. Die ältere Erziehung zum Ritter begann mit 7 Jahren; mit 14 Jahren war das Waffenhandwerk erlernt, das Erwachsenenalter erreicht. Als .Knappe' war das Erlernte dann in der Praxis zu festigen; nach der Bewährungmit ungefähr zwanzig Jahren - erfolgte dann der Eintritt in den Ritterstand (Barth, S. 216f.). 24 Vgl. Snyders, S. 173. 25 Vgl. dazu die Ausführungen bei Oeter S. 8; Stephan, Erziehung, S. 52, Neumann, Hofmeister, S. 90; noch in Bueschings Hofmeisterinstruktion aus dem Jahre 1773 heißt es im § 77: , ,Die Zucht muß zunächst vornehmlich auf die Ausrottung des Eigensinns der Untergebenen gerichtet seyn." Wie wichtig der Rückgriff auf das Seelenheil des Kindes als Legitimation für erzieherische Eingriffe und für die Erziehungskompetenz der Eltern überhaupt war, wird schon daran erkennbar, daß alle von den Vätern erlassenen Erziehungsinstruktionen mit solch einer religiösen Reflexion begannen. Legitimation der väterlichen Autorität und Androhung psychischer Sanktionen gegenüber ungehorsamen Kindern traten in diesen religiösen Formeln zumeist im Zusammenhang auf. Franz Theodor v. Fürstenberg weitete die auf das Seelenheil der Kinder bezogene Rechtfertigung der harten Erziehungsprinzipien in starkem Maße aus, indem er betonte, daß ,,der beleidigte Gott öfter die größeste Strafe über einen vermessenen, boshaften Sünder verhänge, anbei manchmal wegen eines verstockten Sünders ein ganzes Land strafen werde, so hat mein Sohn solches bei sich fleißig zu erwägen, auch zu gedenken, daß ein ohngeratener Sohn ebenfalls über sich und seine Familie die Rache Gottes ziehen und . . . ins ewige Verderben geraten könne . . . " (Archiv v. Fürstenberg-Herdringen, Nr. 390). 26 Archiv V. Fürstenberg-Herdringen Nr. 390; zu den noch am Ende des 18. Jahrhunderts allgemein üblichen, außerordentlich harten körperlichen Strafen vgl. Neumann, Hofmeister, S. 84 und Boesch S. 53-55. 27 Erziehungsinstruktion des Franz Theodor v. Fürstenberg ca. 1840 (Archiv v. Fürstenberg-Herdringen, Nr. 390). 28 Der Erziehungsprozeß in der traditionalen Gesellschaft ist deshalb wohl zu harmonisch gesehen, wenn Roessler, S. 61 schreibt: ,,Das Kind lebt sich in die Grundhaltung und Grundeinstellung sowie in die einzelnen Tätigkeiten des Hauses ein, . . . mit- und nachahmend nimmt es am Tun der Erwachsenen teil, welche dem Heranwachsenden die Fähigkeit zu Gehorsam, zu Einordnung, zu Mit- und Nachahmung entwickeln und pflegen helfen." 29 In dem Satz ,,Vertrautheit" (im Umgang mit dem Kind, H . R.) erzeuge .Verachtung' (Schücking, Familie, S. 132) wurde diese Erfahrung festgehalten; dementsprechend ,,befestigten . . .die Väter eine tiefe Kluft zwischen sich und ihren Kindern, so daß es diesen fast unmöglich war, von jenen Zeichen ihrer Liebe zu erlangen oder ihnen mitzuteilen. Schon das allgemein herrschende ,Sie· der Anrede, welches den Kindern anbefohlen war, verhinderte eine Annäherung, etwaige Herzensregungen der Eltern wurden unterdrückt. Im ,Greis' lesen wir: ,Ich habe Eltern gekannt, welche zuweilen die Frage an mich richteten, ob man den Kindern die Liebe

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Anmerkungen zu Seite 133-134 überhaupt zeigen dürfe?' Es erschien ihnen insofern bedenMich, als dadurch der Eigenwille und der Übermut des Kindes zu sehr gestärkt werde, andererseits aber die Würde des Vaters zu sehr verliere." (Neumann, Hofmeister, S. 82). Hier liegt ein wesentlicher Grund dafür, daß die Kinder in früheren Jahrhunderten - die Homogenität der Verhaltensmuster in den verschiedenen Familien eines Standes erleichterte dieses Verhalten - häufig zur Erziehung in andere adlige Haushalte oder als Page an den H o f gegeben wurden (vgl. Schücking, Familie, S. 72 ff. ; Stone, S. 590; Bayne-Powell, S. 134; Pinchbeck, S. 2 5 - 2 7 u.a.). 30 Hierzu einige Passagen aus den Erziehungsanleitungen des Franz Theodor v. Fürstenberg; zunächst für die Jungen: ,,Ich kann wohl geschehen lassen, daß, wan sie Lust dazu haben vor und nach mit auf die Jagd gehen, jedoch allezeit unter Gesellschaft eines Herrn Halman . . . damit die Jugend nicht allein ist, et ne sit periculum perversionis unter lustigen Jägerburschen." Aus demselben Grund durften die Kinder auch nicht aus dem Haus, es sei denn in Begleitung der Eltern oder dazu bestellter Erwachsener, z . B . des Hofmeisters. Über die Mädchen heißt es: ,,Zarte Pflanzen müssen vor der großen Luft, vor der großen Sonne, also vor der großen Welt verwehrt werden; so bin ich erzogen worden, so sind meine übrigen Brüder und Schwestern erzogen worden, so gedenke ich auch meine Kinder zu erziehen." (Archiv v. Fürstenberg-Opladen 23^""'). 31 Archiv V. Fürstenberg-Opladen 23*°"'; im Anschluß an die zitierte Textstelle folgt eine Aufzählung aller möglicher Verführer von falschen Freunden und Ratgebern bis zu vergnügungssüchtigen Knechten, Mägden und ,Hausoffizieren'. Zur Verhinderung von Müßiggang als eines wesentlichen Erziehungsziels des Adels und zum Teil auch bürgerlicher Oberschichten im 18. Jahrhundert vgl. Hevdorn, S. 70 und Stephan, Erziehung, S. 138. Für die mit Unterrichtsstunden vollgepfropften Tagespläne der Kinder, auch für solche, die erst vier oder fünf Jahre alt waren, gibt es eine ganze Anzahl von Beispielen (vgl. Neumann, Hofmeister, 5. 8 5 f . ; Stephan, Erziehung, S. 67-71 ; Stone, S. 680 u. a.). Tagespläne, die die Eltern zur Orientierung der Hofmeister verfaßten, fanden sich in den Archiven der Familien v. Merveldt, v. Droste-Vischering, V. Plettenberg-Nordkirchen, v. Plettenberg-Lenhausen, v. Romberg und v. Fürstenberg. Danach haben z . B . die Söhne des Grafen August Ferdinand v. Merveldt, Ferdinand Anton und Carl, noch im Jahre 1801, als sie 12 bzw. 10 Jahre alt waren, täglich auch Sonntags, 6^/2 Stunden reine Unterrichtszeit gehabt. Dazu kamen noch die Messen und Recreationsstunden, zumeist Spaziergänge unter der Aufsicht des Hofmeisters. Eine Stunde war, jenseits der Tafelzeiten, der Mutter ausdrücklich vorbehalten, eine Stunde allgemein für .Umgang' reserviert. Eine ähnliche Zeitaufteilung wies der Stundenplan Friedrichs und Clemens' v. Romberg auf, die als neunbzw. sechsjährige täglich 6 Stunden Unterricht erhielten, l ^ / j Stunden spazieren gingen und 2 Stunden spielten. Mit steigendem Alter stieg die Lernzeit noch an: August v. Droste-Vischeting hatte 1802 als vierzehnjähriger 9 Stunden reine Lernzeit, 1 Stunde fürs Spazierengehen und V j Stunde für den Besuch der Messe. Der Tag der Kinder begann in der Regel um 6 Uhr morgens und endete je nach Alter zwischen 7 und 9 Uhr abends. Kinderspiel wurde in den Stundenplänen nur äußerst selten erwähnt, und wenn, dann meist in den Dimensionen von einer halben bis einer dreiviertel Stunde. 32 Vgl. z . B . die Jugenderinnerungen der Freifrau v. Ketteier in einem Brief an ihre Söhne vom 25. 5. 1824, zit. beiPfülf, S. 2. Kleine alltägliche Verzichtsproben waren auch ein wichtiges Thema in den Erziehungsinstruktionen des Franz Theodor v. Fürstenberg. So verordnete er u . a . : ,,Es sollen meine Kinder keine Vögel, keine Tauben, keine Tiere, keine Katzen, keine Hunde, ja sogar kein Gewehr und dergleichen in ihrer Gewalt haben, wan sie das Herz zu stark danach hängen, . . . Die jungen Kinder, welche ein klein Spaß als etwas Vorbeigehendes ansehen, sich bei selbigen auf eine kurze Zeit Wohlsein lassen, aber an selbigen ihr Herz nicht henkken, werden allzeit glücklich sein." (Archiv v. Fürstenberg-Opladen, 23"'"'). 33 Vgl. Archiv V. Fürstenberg-Herdringen, Nr. 390 bzw. Archiv v. Merveldt, Nachlaß August Ferdinand v. Merveldt, Vol. IV. Die Abwertung des Spiels war in der zweiten Hälfte des 18. 531

Anmerkungen

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Jahrhunderts noch außerordentlich weit verbreitet; vgl. Stephan, Erziehung, S. 138 und Andreas, S. 307. 34 Doch gerade die ReaUsierung dieses Erziehungsziels war besonders schwierig, weil die .Verführer' der Kinder auch in seinem Haus, z. B . als Kinderpersonal oder Gesinde, lebten. So tadelte er in einem Promemoria an das Kindermädchen Marie Elisabeth: ,,Wenn hierüber (daß der geistliche Stand der erstrebenswerteste sei, H . R . ) nun eine Mademoiselle auf der Kinderkammer zur Erbauung der Kinder und Unterricht der Mägde Rede führen sollte, so kann diese oder jene dazu stillschweigen, wenn sie es nicht als wie eine ausgemachte Wahrheit will bejahen. Sie kann ihre maßsüchtige Glossen bei sich behalten. Also gesetzet sie, die Mademoiselle, spricht gegen den Ehestand, (dann soll das Kindermädchen unterlassen zu sagen), es kann nicht alles Mönchen oder Nonnen werden, es stirbt nicht alles im Ehestand, wir müssen doch einmal sterben, wir sind doch Gott einen Tod schuldig und was dessen mehr ist, oder sie kann sich aus meinem Hause fonpacken . . ."(Archivv. Fürstenberg-Opladen гз'"·"). Hier zeigen sich erste Widersprüche zwischen der aus Gründen der Ökonomie und der Herrschaftsstabilisierung sinnvollen Integration des Gesindes ins adlige Haus und den neuen auf die eigenen Kinder gerichteten Erziehungsintentionen, die sich aus dem Ausbau der Familienordnung und der kulturellen Distanzierung des Adels von den anderen sozialen Schichten infolge des neuen adlig-höfischen Bildungsideals ergaben. Diese Widersprüche führten unter veränderten und verschärften Distanzierungsbedingungen um 1800 zu einer weitgehenden Ausgrenzung des Gesindes aus dem Familienleben und dem Erziehungsprozeß. 35 Eine solche Ablaufvorstellung findet sich mehrfach in den Erziehungsanleitungen des Franz Theodor v. Fürstenberg, z . B . wenn er schreibt:,,Mit Kleinkindern muß man ernsthaftig und sittsam umgehen, selbige, nachdem sie mehreres Anwachsen, Fuß vor Fuß oder succesive lüften, allezeit so viel es auf dem Weg der Tugend möglich ist, suchen vergnügt zu halten; wenn das Göißeln, das empfindliche Strafen bei den Kindern vorbei ist, so müssen die den Kindern Vorgesetzten sich doch wissen in einem Respect zu unterhalten . . . Zum ersten wird die Jugend mit Schlägen gebändigt, wenn die Jahre aber weiter kommen, so läuft keine mehr den Eltern wider die Hand . . . " (Archiv v. Fürstenberg-Opladen, 23'°'"). Zur inneren Widersprüchlichkeit des Erziehungskonzepts vgl. Snyders. S. 161. 36 Vgl. Roessler, S. 61 und 90. 37 Vgl. Archiv V. Fürstenberg-Herdringen, Nr. 2203 ; Archiv v. Fürstenberg-Opladen 23'°'"; Esser, S. 3 f . ; Sudhof, S. 53; Brühl, S. 3. 38 Vgl. Roessler, S. 90; zum Prinzip der Gedächtnisschulung vgl. z. B. den Brief des Hofmeisters Guilleaume an den Pater Fricken aus dem Jahre 1815 (Archiv v. Korff-Harkotten IFh 1,26. Bd.), in dem alte und neue, im preußischen Schulwesen sich durchsetzende Lehrprinzipien einander gegenübergestellt werden. 39 Die Auffassung des Kindes als eines lediglich unvollkommen Erwachsenen wird deutlich in der Erziehungsanweisung des Erbdrosten Clemens August v. Droste-Vischering an seinen Hofmeister Windeck am 3. 9. 1775, wenn er diesem mit Bezug auf seine sechs- und fünf jährigen Söhne befiehlt: ,,I1 (le gouverneur) faut raisonner avec les enfans comme avec quel qu'un de trente ans. S'ils ne comprennent pas tout ce qu' on dit, au moins aura-t-on le plaisir de les entendre questionner sur ca qu' ils ne comprennent pas que le gouverneur cela les rebute . . . " (DAM, Nachlaß Clemens August v. Droste-Vischering, Nr. 1). Der Psychologe v. d. Berg (S. 22 ff. ) hat diese weitverbreitete optimistische Auffassung von den früh entwickelten intellektuellen Fähigkeiten des Kindes und die daraus folgende Unterrichtsart eindringlich dargestellt. Er zitiert Montaignes' Forderung nach einer Beschränkung des Lernstoffs auf den,notwendigen Unterricht': ,,Man entferne die verworrenen Spitzfindigkeiten der Disputierkunst . . . und halte sich an die einfachen Regeln oder Gespräche der Philosophie . . . sie sind leichter zu fassen als eine Erzählung des Bocaccio. Ein Kind, das eben der Amme entnommen wird, kann sie begreifen. Viel leichter als Lesen lernen und Schreiben." Erst Rousseau setzte nach van den Berg die dem Kind schon früh zugeschriebene Vernünftigkeit an das Ende eines komplizierten und lan-

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gen Entwicklungsprozesses; Vernünftigkeit, so erklärt er, auf Locke weisend, sei nicht die erste, sondern die letzte Frucht einer Erziehung. Mit Vernünftigkeit beginnen, sei ein Anfangen beim Ende. 40 Zur fehlenden Trennung zwischen Erwachsenen- und Kinderwelt auf dem Gebiet der Sexualität vgl. Elias, Prozeß I, S. 259ff. ; für Deutschland vgl. die Beispiele bei Schultz, S. 219. Ein m. E. überzeugendes Beispiel für den Erscheinungstypus des kleinen Erwachsenen bringt v. d. Berg, S. 28 mit dem Hugenotten Theodore Agrippa d'Aubigne (geb. 1550), der mit sechs Jahren Griechisch, Latein und Hebräisch sprach und las und Plato vom Urtext ins Französische übersetzte, als er acht war. Mit ebenfalls acht Jahren schwor er, von seinem Vater dazu aufgefordert, den Tod vor seinen Augen hingerichteter Hugenotten zu rächen. Mit zehn Jahren wurde er von Inquisitoren gefangen genommen. Die Drohung, seinem jugendlichen Leben auf dem Scheiterhaufen ein Ende zu bereiten, beantwortete der zehnjährige mit einem Freudentanz vor dem Feuer. Eine Schwäche dieser verdienstvollen frühen Arbeit zur Geschichte der Kindheit, die unhistorische, Gegenwartsnormen verhaftete Auffassung einer unwandelbaren, nur relativ spät,entdeckten' Kindheit, wird deutlich, wenn v. d. Berg aus dieser Erscheinungsform kindlicher Existenz schließt:,,Die Betitelung,Kind'ist . . .jedenfalls fehl am Platze: Wer die Auswirkung einer Exekution mit Verständnis ansieht, einen Eid leistet, ihm das Leben hindurch treu bleibt, die Interpretation des Heiligen Abendmahls übersieht und die Schrecken des Feuers ermißt, der ist kein Kind, der ist ein Mann." 41 Archiv V. Plettenberg-Nordkirchen X a 22. 42 Roessler, S. 65 f. ; vgl. auch S. 91 f. u. 306. Bei Stephan, Erziehung, S. 139 findet sich in Anlehnung an die Adelskritik des 18. Jahrhunderts tendenziell eine Abwertung des etikettebewußten Verhaltens im Sinne von Äußerlichkeit. 43 Vgl. Rasch, S. 14: ,,Es gilt als taktlos, allzu Persönliches in geselligem Kreis laut werden zu lassen . . . Distanz, Diskretion, Zurückhaltung und maskierende Stilisierung bestimmen das gesellige Verhalten." Zu den vielfältigen Distanzierungsmöglichkeiten, welche die höfische Etikette bot, vgl. Müller, Kultur, S. 135 und Rasch, S. 12. 44 Archiv V. Merveldt, Nachlaß August Ferdinand v. Merveldt, Vol. VI und Nachlaß Carl Hubert V. Merveldt, Vol. I. 45 Vgl. Roessler, S. 67 u. 88. 46 Im adligen Lebensstil, z. B . in der Pflege der Jagd und des Reitens blieben die älteren ritterlichen Orientierungen zum Teil bewahrt. Zum Bildungshunger des Adels im 16. Jahrhundert als gesamteuropäischem Phänomen vgl. Lawson, S. 132 f., Loebenstein, S. 45 und Brunner, Landleben, S. 152: ,,Auch in Österreich geht der Weg des Humanismus im typischen Ablauf durch fürstliche Kanzlei und Universität, um dann den Hof als Ganzes und die ihm verbundene Adelswelt zu erfassen." Zur Adelskrise des 15. und 16. Jahrhunderts infolge der sich langsam durchsetzenden Landesherrschaft vgl. die Kritik des humanistisch gebildeten Karthäusermönchs Werner Rolevinck von 1478 am räuberischen Lebenswandel der meisten westfälischen Adligen und an der unnötig harten und einseitig körperlichen Ausbildung der Adelssöhne, sowie seine Aufforderung, der Adel möge sich mit der entstehenden Landesherrschaft verbünden und für Recht und Ordnung sorgen (Rolevinck, WA 2, 1925, S. 75, 78 u. 82). 47 Das Kavaliersideal wurde im münsterländischen Adel wohl vor allem in der Interpretation von Fénelon rezipiert, dessen ,Telemach' in den meisten Adelsbibliotheken vorhanden war und dessen Maximen des ,Hônete-Homme', auf einzelnen Blättern gedruckt, in besonders wichtige Bücher eingeheftet wurden. 48 Insofern trifft Paulsen in seinem Resüme über die Entwicklung der Jesuitengymnasien nur teilweise die Intentionen des münsterländischen Adels, wenn er schreibt: ,,Der Herrenstand, der vorzugsweise bei ihnen seine Bildung gesucht und im 16. und 17. Jahrhundert auch in befriedigendem Maße gefunden hatte, war der logisch metaphysischen Disputationen und der humanistischen Eloquenz und Schulpoesie überall überdrüssig geworden . . . " (Paulsen, Bildungswesen, S. 93). Als am Ende des 18. Jahrhunderts, von der Seite der aufgeklärten diskutierenden

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Öffentlichkeit ausgehend, ein Rechtfertigungszwang für die Familien des Adels und der bürgerlichen Oberschicht, die ihre Kinder im Hause erzogen, entstand, verwiesen diese auf die schlechten Lehrer, die undisziplinierten Schüler und den einseitigen Fächerkanon in den Jesuitenschulen und städtischen Gymnasien. 49 Die Söhne, die in den Militärdienst eintraten, wurden dagegen in der Regel nach dem vierzehnten bis achtzehnten Lebensjahr zu Offizieren in eine Art Lehrverhältnis gegeben. Im preußischen Adel des 18. Jahrhunderts war es daneben auch üblich, die Adelssöhne, die Offiziere werden wollten, zwischen dem zwölften und achtzehnten Lebensjahr in Ritterakademien oder Kadettenanstalten unterrichten zu lassen (vgl. Steinhausen, Idealerziehung, S. 243; Stephan, Erziehung, S. 112). Auch im Fürstbistum Münster bestand am Ende des 18. Jahrhunderts eine Militärakademie mit ähnlichen Eintrittsbedingungen. Eine ältere Form der Adelserziehung, die aber im münsterländischen Adel nur noch spärUch genutzt wurde, war die Pagenerziehung am Hofe, die zwischen dem achten und zwölften Lebensjahr einsetzte. Die andere ältere Form der Adelserziehung, die Vergabe der Söhne in andere adlige Haushalte, ist dagegen um 1770 nicht mehr nachzuweisen. 50 Zur Vernachlässigung des Griechischen in der Kavaliersausbildung vgl. Steinhausen, Idealerziehung, S. 223. Das Italienische war in Wien, einem Fixpunkt innerhalb der Kavalierstour, Hofsprache (vgl. Brunner, Landleben, S. 233, Neumann, Hofmeister, S. 223). Daß die lateinische Sprache nur an gereinigten Klassikertexten gelernt werden dürfe, betonte z . B . der Fürstenberg-Gallitzin-Kreis in seiner Erwiderung auf den Abbé Marie (vgl. Bahlmann, Bemerkungen, S. 262f.); für das 19. Jahrhundert vertrat dieselbe Ansicht noch Clemens August v. Droste-Vischering, Gedanken, S. 13. Zur schwachen Berücksichtigung der Religion im französischen Kavaliersideal vgl. Steinhausen, Idealerziehung, S. 219; auch im protestantischen deutschen Adel, der den seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aufkommenden Pietismus aufnahm, wurde die Religion stärker in das KavaUersideal integriert als in Frankreich (vgl. Paulsen, Bildungswesen, S. 65). Im münsterländischen Adel war die Religion für die Erziehung des Kindes schon deshalb wichtig, weil eine enge Beziehung zwischen Adel und Kirche bestand. Verstärkend wirkten hier noch gegenreformatorische Orientierungen nach, denn bis zum Ende des 17. Jahrhunderts war die Ritterschaft noch religiös heterogen. Nachlässigkeit der Eltern oder Vormünder in der Religionserziehung konnte ein unmittelbares Eingreifen des Landesherrn veranlassen, wie z. B. 1765 im Fall des Fräuleins v. Westerholt (vgl. STR, Archiv v. Westerholt-Westerholt, Nr. 43). 51 Die Wissensgebiete, die nach den verschiedenen Schriften zur Anleitung des ,adligen Hofmeisters' zur Kavaliersausbildung gehörten, sind für die deutschsprachige Hofmeisterliteratur mehrfach zusammengefaßt worden, vgl. z. B. Neumann, Hofmeister, S. 36-42 u. 85; Steinhausen, Idealerziehung, 220-237, sowie Paulsen, Bildungswesen, S. 65. Der in solchen Schriften aufgeführte Fächerkanon war außerordenriich weit gefächert und selbst dann nicht voll zu realisieren, wenn die für die Kavaliersausbildung geltende Formel, mehr in die Breite als in die Tiefe zu studieren, beherzigt wurde. Im Folgenden wird versucht, vor diesem Hintergrund die Fächerauswahl der Väter und damit das konkrete münsterländische Kavaliersideal zu bestimmen. Als Beispiele für relativ umfassende Fächerkanones vgl. die Erziehungsinstruktionen des Wilhelm Ferdinand v. Galen vom 18. 10. 1738 (Archiv v. Galen-Assen F331) und des Franz Theodor v. Fürstenberg vom 20. 10. 1743 (Archiv v. Fürstenberg-Herdringen, Nr. 407). 52 1741 suchte Franz Theodor v. Fürstenberg für seine Söhne einen Mathematiker, der Arithmetik, Geometrie, die Kriegs- und Zivilbaukunst, auch Geographie zu lehren verstand, und er fügte hinzu:, ,Ich könnte selbigen auch zu allerlei Abrissen und Abmessungen, welche ich vorhabe, zu den Bergwerken p.p. gebrauchen, . . . " (Archiv v. Fürstenberg-Herdringen, Nr. 390) 53 Vgl. Eichberg, S. 123 ; die freien, stärker kämpf- und leistungsbetonten Bewegungen, z . B . im Ballspiel, Wettrennen oder Ringen, die im preußischen Adel wegen dessen dominanter Mili-

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tärorientierung, noch wichtig waren, (vgl. Stephan, Erziehung, S. 33f.), wurden im münsterländischen Adel aus Furcht vor Verletzungen und Krankheiten wenig geschätzt. 54 Vgl. Feilerer, v. a. S. 225-227, der auch einige als Komponisten bzw. Virtuosen bekannt gewordene münsterländische Adlige aufzählt. -55 Die Warnung vor Romanen findet sich sowohl in den Instruktionen für die Söhne als auch für die Töchter, Franz Theodor v. Fürstenberg stellte seinen Töchtern folgenden Lektüreplan zusammen: ,.Neben seinem gewöhnlichen Gebet, wie ich allezeit tue, ich es auch bei meinen Frauen also belebt habe, etwas Namhaftes in dem Coriset (?) oder einem anderen geistlichen Buch, um sich gegen die Welt . . . auf dem Wege des Heils zu stärken. Bedachtsam lesen und den festen Vorsatz machen, so viel an uns ist, selbiges, was wir gelesen haben, in unserem Aufführen zu folgen. Dann kann man auch in anderen nützlichen Büchern, französischer, deutscher, auch Haushaltungs-, Koch-, Commerzienbücher lesen und auch um die Auswählung selbiger Bücher fragen. Die Romans aber und dergleichen liederliche Bücher kann man ohne zu sündigen, und ohne sich in die Gefahr des Sündigens zu setzen, nicht lesen. . . . " (Archiv v. FürstenbergOpladen, 2 3 ' ° " ) . Die am Ende des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem Lesehunger der Mittel- und Unterschichten aufkommende große Zahl von Trivialromanen beschreiben Steinhausen, Zeiten, S. 61-64 u. Engelsing, S. 194ff. 56 Archiv V. Fürstenberg-Herdringen, Nr. 390. 57 Zit. nach Schöne, Fürstenberg. F G . III, S. 65. 58 Zum Zusammenhang zwischen den in der Erziehung antizipierten vielfältigen Praxisbereichen des Adels und der spezifischen Gestalt des adlig-höfischen Bildungsideals vgl. Roessler, S. 77 und 80. Im münsterländischen Adel bot die Domherrnposition, aber auch die Stellung als Gutsherr und Landstand vielfältige Karrieremöglichkeiten im Dienste des Landesherrn oder der Stände. 59 Die Typologie orientiert sich an den ,five overlapping culturáis ideals' innerhalb des Kavaliersideals, die Stone, S. 678 u. 702-722 aufgestellt hat. Er nennt neben dem Ideal des Soldaten und Kriegers: ,,The man of learning, the statesman, the polished cavalier and the virtuoso." 60 Vgl. ζ. В. die Kritik des Erbdrosten am Verhalten des Hofmeister Windeck 1776: ,,Es ist gewiß, daß das Beispiel des Hofmeisters sehr viel bei den Kindern wirket; deshalben ist es ohnumgänglich notwendig, daß dieser seine Sitten und Gebahren ohnstrafbar einrichtet, und zwaren immer so, als wan er mit fürnehmen Leuten umginge; es ist deshalben denen Eltern sehr unangenehm, wan solche den Hofmeister im Zimmer, den Hut auf dem Kopf, und auf die Stuhle nach Bedienten und Studenten Art liegen finden, und wan dieselben sehen, daß der Hofmeister immer die Finger im Gesicht, und am Tisch die Hände in das Brot hat, und sich an der Wand und an alle Tische oder Stühle im Stehen anlehnet, die Messer und Gabeln im ganzen Brot statt ein Stück davon zu schneiden abwischet, auch die Augen mit der Serviette, welche nur allein zum Mundwischen dienet, auswischet oder gar daran nieset, und dergleichen . . . " (DAM, Nachlaß Clemens August v. Droste-Vischering, Nr. Id). 61 Die Bildung der Frauen aus den adligen und bürgerlichen Oberschichten hat sich seit dem Mittelalter nicht gleichmäßig verbessert, sondern ist gleichsam in Wellenbewegungen vorangeschritten. Einen hohen Bildungsstand besaßen diese Frauen schon im Mittelalter und in der Blüte des Humanismus (vgl. Lawson, S. 122). Danach sank er wieder, um am Ende des 17. Jahrhunderts, über das kulturelle Ideal der Hofdame vermittelt, wieder anzusteigen (vgl. Hunt, S. 71, Roessler, S. 85, Straßburger S. 7ff. u.a.). Im Fürstbistum Münster, wo die adligen Frauen trotz des verstärkten Übergangs des Adels zu regelmäßigem Hof- und Staddeben, noch in starkem Maße Landedelfrau blieb, wurde diese Innovation in der Frauenbildung nur in geringem Maße aufgenommen. 62 Archiv V. Fürstenberg-Opladen 23^°"^. 63 D A M , Nachlaß Franz v. Fürstenberg, Nr. 177/5. In ähnlicher Weise argumentierte die Äbtissin von Langenhorst in ihrem Bericht vom 21. 12. 1786.

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64 Promemoria Fürstenbergs über die Damenstifter im Münsterland, wahrscheinlich aus dem Jahre 1788; DAM, Nachlaß Franz v. Fürstenberg, Nr. 177/5. 65 Daß diese Möglichkeit schon sehr früh genutzt worden ist, wird z. B. deutlich aus der Leichenrede der Äbtissin Anna v. Oer aus dem Jahre 1670 ; dort heißt es, daß, ,ihre gottselige, hochadlige Eltern sie, ihr liebstes Töchterchen, gleich anderen ihren auch herzliebsten Kindern sobald sie des Verstandes worden, Lehre und Unterweisung anzunehmen, von Jugend auf . . . zu glücklicher Kultur, gedeihlicher Fortpflanzung und gesegneter Vermehrung der von Gott reichlich verliehenen Naturgaben sie frühzeitig zu den Privatlehrern geschicket, welche auf dem uralten, hochadeligen Hause Bruch gehalten wurden . . (Archiv v. Oer A 572). Im 18. Jahrhundert waren, zumindest in den vermögenden adligen Familien, Gouvernanten zur Erziehung der Töchter notwendiger Bestandteil des Hauses. So schrieb z.B. Franz Theodor v. Fürstenberg: ,,. . . meine zwei ältesten Töchter können noch ebenso wenig als wie die Jüngsten eine Mademoiselle entbehren . . . Die Twickel etwa bei 18 Jahren hat ja anoch eine Mademoiselle und ist selbiges ganz gut, ich kann meinen Kindern unter dieser Mademoiselle dieselbige Erziehung in meinem Hause als wie in einem Kloster, und zwar wohlfeiler geben . . ." (Archiv v. Fürstenberg-Opladen 23'°·"). 66 Archiv V. Fürstenberg-Opladen 23 67 Zumeist profitierten die Töchter von den Tanzmeistern der Söhne; Franz Theodor v. Fürstenberg schrieb: ,,Um ein paar kleine Töchter ist es nicht der Mühe wert, deswegen auch nicht, sondern wegen meiner Söhne habe ich ad tempus ein Sprachmeister . . . als wie ein Tanzmeister . . . in mein Haus aufgenommen . . ." (Archivv. Fürstenberg-Opladen23''''"). War die Mädchenausbildung im münsterländischen Adel auch weniger umfassend als die der Jungen, so zeigt ein Vergleich doch, daß sie noch über dem Ausbildungsniveau der Töchter bürgerlicher Oberschichten lag. Stephan, Hofmeister, S. 314 weist darauf hin, ,,daß noch 1776 . . . die Erlernung des Lesens, Schreibens, Rechtschreibens, Briefschreibens, Rechnens, der Geographie und Historie" von zeitgenössischen Pädagogen als eine bisher noch unerfüllte Forderung hingestellt wird. 68 Das Kindermädchen Marie Elisabeth - eine Hauptquelle der Verführung für die Kinder wurde zunächst im Lohn herabgesetzt, dann aber, am 10. 9. 1743, wegen Aufwiegelung der Kinder gegen den Vater entlassen. (Archiv v. Fürstenberg-Opladen 23"""). 69 Für das Gymnasium Paulinum in Münster sind keine lückenlosen Schülerlisten erhalten; doch läßt sich aus den Indizien, die Schulze, S. 46-58, angibt, ein solcher Verlauf der adligen Teilnahmequote ableiten. Ein weiteres Indiz für das nachlassende Interesse des Adels an einer Gymnasialbildung liegt darin, daß das Galensche Konvikt, ein dem Gymnasium angeschlossenes Internat für 16 adlige Zöglinge, Mitte des 17. Jahrhunderts gegründet, in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts aufgehoben und erst 50 Jahre später wieder neu eröffnet wurde (vgl. BKDW, Bd. 41,1. Teil, S. 315 u. 329f. und Schulze S. 59). Aus zerstreuten Angaben in den Familienarchiven und unvollständig überlieferten Schülerlisten lassen sich für die Zeit von 1720-44 sechs, für die Zeit von 1745-69 acht Adelssöhne als Besucher des Paulinums identifizieren. Ein der Einstellung des münsterländischen Adels zum Jesuitengymnasium analoges Verhalten läßt sich für den rheinischen Adel aus Kuckhoffs Darstellung des Gymnasiums Tricoronatum ableiten, obwohl auch d o n genaue Zahlenangaben fehlen (vgl. Kuckhoff, S. 489-92 u. 542). Eine Auswertung der Schülerlisten des Jesuitengymnasiums Paderborn zeigt die Abkehr des Adels vom Jesuitengymnasium seit dem Ende des 17. Jahrhunderts am deutlichsten. Zwischen 1675 und 1685 studierten dort im Durchschnitt 33, zwischen 1730 und 1740 noch 9, zwischen 1790 und 1800 schließlich nur noch 2 westfälische Stiftsadlige (EABP, Matrikel des Gymnasiums Theodorianum). Neben Münster, Osnabrück, Köln und Paderborn wurden bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts bisweilen auch noch die Jesuitengymnasien zu Fulda und Siegen vom westfälischen Stiftsadel besucht (vgl. dazu z.B. die Biographien in den drei Bänden der Familiengeschichte v. Fürstenberg). Zur Übernahme der Gymnasien in Osnabrück, Paderborn und Münster durch die

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Anmerkungen zu Seite 147-149 Jesuiten vgl. Hartlieb v. Wallthor, Schulen, S. 4 6 f . und Theuerkauf, Fürstenberg. F G . III, S. 32 f. 70 Nur sechs Adelssöhne ließen sich anhand des personengeschichtlichen und archivalischen Materials als Besucher städtischer Gymnasien identifizieren; zwei davon besuchten in der Zeit zwischen 1745 und 1769 das Gymnasium in Rheine, drei gingen in die Schule des Franziskanerklosters in Münster und einer war zwischen 1770 und 1794 Schüler des Gymnasiums in Recklinghausen. Dagegen wurden die in der Regel gutversorgten Kinder aus morganatischen Ehen zumeist in diese Lateinschulen geschickt; vgl. z. B. Schöne, Fürstenberg. F G . III, S. 67 u. 77. Aus deren späteren Lebensdaten ergibt sich aber auch, daß der Stand des bürgerlich-gelehrten Beamten und nicht der Adelsstand ihre Zielgruppe war. 71 Zu den Erziehungsprinzipien der Jesuiten vgl. Paulsen, Bildungswesen, S. 50-54 u. 102-108; Ballauf, S. 90-100 und Snyders, v.a. S. 40ff. 72 Vgl. dazu Snyders, S. 73 u. 97, sowie Bahrdt, S. 442. 73 Vgl. Kuckhoff, S. 414. 74 Vgl. Snyders, S. 112-16; zur scharfen Kritik kölnischer Jesuiten schon im 17. Jahrhundert am höfischen Bildungsideal und deren Plädoyer für eine Einheit von Tugend- und Geschlechteradel vgl. Menze, S. 116ff. Zur Spannung zwischen weltzugewandten Fächern und religiösen Zielen im Curriculum der Jesuiten siehe Snyders, S. 24; zur Bemühung der Jesuiten um den Adel, vgl. Paulsen, Bildungswesen, S. 50f. u. Loebenstein, S. 66. Eine optimale Nutzung des Bildungsangebots eines Jesuitengymnasiums konnte den Adelssohn im 17. Jahrhundert dem Gelehrtenideal näher bringen als dem des Kavaliers. Hier mag ein weiterer Grund dafür liegen, daß der Adel sich langsam aus diesen Gymnasien zurückzog. Ein Beispiel für die auf den Gelehrten orientierende Gymnasialbildung der Jesuiten ist der Fürstbischof von Paderborn und Münster Ferdinand v. Fürstenberg, der am Ende des 17. Jahrhunderts als ,Mäzen der Dichter, Künstler und Gelehrten' galt. Ferdinand war aber wohl, insofern vermittelt er noch einmal zwischen zwei Bildungsidealen des Adels, der letzte der gelehrten westfälischen adligen Domherrn, die seit Rudolf V. Langen im westfälischen Domkapitel mehrfach nachzuweisen sind. Das KavaUersideal hatte aber zu der Zeit Ferdinands im westfälischen Adel schon stark an Boden gewonnen. Bei der Veröffentlichung seiner Gedichte im Jahre 1671 betonte derVerfasser des Vorworts, daß zu Ferdinands Lebenszeit negative Urteile über gelehrte Bildung ,,tantam apud iuvenes invenerunt, ut etiam sacerdotiis ornati et aris templisque destinati pugilatum potius aut regimen equorum exercere aut venando peragrare saltus aut conviviis et compotationibus bonum otium conterete quam dulces ante omnia Musas et amoenissima bonarum artium studia sectari sibi suisque familiis honorificum esse arbitrentur". (zit. nach Richter, S. 33, Anm. 1; zu Ferdinand v. Fürstenberg vgl. neben Richter auch Lahrkamp, Fürstenberg. F G . III, S. 119-122 u. 139). In ähnlicher Weise war auch noch Ferdinands Bruder Wilhelm dem humanistisch-gelehrten Bildungsideal verbunden (ebd., S. 113). Überhaupt blieb in der Familie v. Fürstenberg das Kavaliersideal auch im 18. Jahrhundert stark von humanistisch-gelehrten Aspekten bestimmt. Daß Jesuitenerziehung und Kavaliersideal aber auch harmonieren konnten, zeigt das Beispiel des Ferdinand v. Plettenberg, der zu Anfang des 18. Jahrhunderts das Jesuitengymnasium Paderborn besuchte und seiner Zeit als vollkommener Kavalier galt. Er errang seine größten Erfolge am kurkölnischen H o f im Fürstendienst (Erler, Erziehung, S. 124). 75 Die Hauserziehung erfaßte in der Regel den Adelssohn weniger streng als das Konvikt oder Internat, welches eine strenge Disziplin forderte. So war z. B . ein sechzehnjähriger Adelssohn aus der Familie v. Fürstenberg, als er zur Erziehung in ein Konvikt nach Mainz gegeben wurde, außerordentlich unzufrieden und machte Schwierigkeiten. Sein Bruder und Domherr in Mainz teilte darüber seiner Familie mit: ,,Die Beschwerden seines Bruders über den Konviktaufenthaltseien . . .,frivol'undnurausdemStrebennach,Libertätszeiten',indenensolcheJungen ohne Aufsicht sein möchten, zu verstehen. Ihm . . . und anderen sei es nicht besser ergangen" (Schöne, Fürstenberg. F G . I I I , S . 77; ein Beispiel aus dem Jahre 1617). Zum Lehrangebot der Jesuitengymnasien vgl. Hartlieb v. Wallthor, Schulen, S. 41. 537

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76 Vgl. hierzu z. B. die Biographien in Fürstenberg. FG. III. Zum Alter der Jesuitenzöglinge beim Eintritt bzw. beim Verlassen des Internats vgl. Kuckhoff, S. 390 f. 77 Als Helene v. Korff /jährig am Ende des 17. Jahrhunderts von ihren Eltern ins Stift Rellinghausen gegeben wurde und die Eltern darum baten, das noch völlig ununterrichtete Kind in verschiedenen Wissensfächern zu unterweisen, lehnte die Dechantin Margarete v. Neuhoff diese Anmutung ab: ,,. . . i n der Welt Wohllebenheit sie wohl zu unterweisen, finde ich mich, wiewohl ich einiges dessen gern an ihnen sähe, ganz unbequem, wozu also auch guter Verstand und Erfahrenheit erfordert wird, sonderlich bei dieser jetzigen spitzfindigen Welt . . . " . Kurz darauf teilte die Stiftsdame Sophia v. Wenge ihrem Vetter v. Korff mit: ,.Wegen Lehrung der Noten und des Gesangs" habe sie den Lizentiaten Johann Kran, der in der Nähe wohne, angesprochen, ,, welcher sobald es dienlich sein wird, die Instruktion soll angehen. Lesen lehret sie schon, habe dazu einen guten Freund willig gemacht, dabei soll sie auch Schreiben lehren . . . " (Archiv v. Korff-Harkotten I F с 24. Bd.). 78 Vgl. dazu die Urteile über den Bildungsstand der Stiftsdamen, die Franz v. Fürstenberg 1787 anläßlich der Diskussion um die Verkürzung der Residenzzeit der Damenstifter fällte (DAM, Nachlaß Franz v. Fürstenberg, Nr. 177/5). 79 Erler, Denkschrift, S. 422 f. ; 1387 wurde diese Vorschrift erneuert, was darauf schließen läßt, daß dieses Auslandstudium vorher noch nicht allgemein praktiziert worden war. 80 Zu diesen grundlegenden Prozessen vgl. die Ausführungen oben, S. 34 ff. sowie Brunner, Landleben, S. 154 und Mitgau, Herkunft, S. 237. 81 Beispiele für solche Adelssöhne mit juristischem Examen im 16. Jahrhundert finden sich z. B. in der Fürstenberg. F. G., Bd. II, S. 60, 118, 120 u. a. und Bd. III, S. 4. Hinsichtlich dieses Studienverhaltens besteht hier eine Parallele zum österreichischen Adel des 16. Jahrhunderts (vgl. Brunner, Landleben, S. 114). Die Domherren schlossen ihr Studium dagegen in der Regel ohne Examen ab (Keinemann, Domkapitel, S. 21). 82 Die folgenden Ausführungen gründen sich auf Archivbestände zu folgenden Universitätsaufenthalten und Kavalierstouren: Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen, Nachträge В 188 (Reise und Studium zweier Söhne der Familie, ca. 1707); Archiv v. Plettenberg-Hovestadt В III А 24 u. 25 (Reise und Studium von drei Söhnen der Familie v. Heyden, ca. 1653 u. 1660); Archiv v. Plettenberg-Hovestadt В II b 14 (Reise und Studium des W. v. Ketteier, ca. 1609); Archiv v. Galen-Assen F 331, 332, 731, 743 u. 744 (Reisen der Söhne dieser Familie 1697, 1712 u. 1738); Archiv V. Nagel-Vornholz A I a 27 (Studium und Reise von drei Söhnen der Familie, ca. 1680) ; und Archiv V. Fürstenberg-Herdringen, Nr. 390. Darüber hinaus fanden sich in vielen Archiven verstreute Angaben zu Reisen der Söhne. Weiterhin wurden die Darstellungen einzelner Kavalierstouren in folgenden Monographieren bzw. Aufsätzen ausgewertet: Hanschmidt, S. 12-15 (Studium und Reise von drei Söhnen der Familie v. Fürstenberg, ca 1750); Angaben zum Studium der Söhne in Fürstenberg. FG., Bd. II u. III; Erler, Erziehung, v. a. S. 108 ff. und 115ff. (Reise und Studium Werners v. Plettenberg, ca. 1703); Gramer, v. a. S. 34 (Reise und Studium Ferdinand V. Fürstenbergs, ca. 1680); Braubach, Lebenschronik, S. 166f. (Reise und Studium der Söhne aus der Familie v. Spiegel am Ende des 18. Jahrhunderts) sowie v. Klocke, Kavaliersreisen, S. 4ff. 83 Archiv v. Galen-Assen F 744. Zum ,Besuch' der Universität durch den adligen Kavalier vgl. Roessler, S. 79 u. 120; Nipperdey, Geschichte, S. 254 f. und Steinhausen, Hofmeister, S. 99, der einen Visitationsbericht für die Universität Tübingen von 1608 zitiert, der feststellte, daß ,,junge nobiles studiosi gar keine lectiones publicas besuchen, noch bei dem Decano facultatis Artium inskribiert seien, sondern dieUniversität zu besehen" in Tübingen seien (vgl. ebensolche Beispiele bei Stammler, S. 27 und Steinhausen, Idealerziehung, S. 244). Diese extreme Distanzierung vom Universitätsstudium ist bei den Studierenden aus westfälischem Adel während des 17. und 18. Jahrhunderts nicht nachzuweisen. 84 Archiv V. Galen-Assen F 331. Die starke Besorgnis der Väter um die äußere Haltung ihrer Söhne wird erst recht verständhch, wenn man bedenkt, daß nach dem Dreißigjährigen Krieg die 538

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Disziplin der bürgerlichen Studenten, zumal an den deutschen Universitäten, einen absoluten Tiefstand erreicht hatte (vgl. Paulsen, Universitäten, S. 49f. und Gerth, S. 42). 85 Zur Kontrolle des Hofmeisters vgl. z. B. die Beschwerde des Hofmeisters Chiusolis, dem diese Kontrollen aufgefallen waren, in seinem Brief an Wilhelm Ferdinand v. Galen vom 27. 6. 1740 und die Antwort des letzteren (Archiv v. Galen-Assen F 332). Der Hofmeister wurde verpflichtet, dem Vater regelmäßig Berichte über die Aufführung des Sohnes und dessen Fortkommen im Studium einzuschicken. Häufig wurde er mit einer außerordentlichen Zwangsgewalt gegenüber dem Sohn ausgestattet; in der Instruktion des Wilhelm Ferdinand v. Galen vom 18. 10. 1738 heißt es;,, Wofern aber mein Sohn ihm Hofmeistern, in denen von meinetwegen gegebenen Ermahnungen wider besserer Zuversicht kein Gehör geben und solche leisten würde, solchenfalls ist meine Meinung und gebe dem Hofmeister hiermit die Comission und Gewalt, denselben gebührend darüber zu corrigiren und ernstlich zu bestrafen, und mir davon, worin die Widersätzlichkeit bestanden, zu berichten, und wenn er iedannoch demnächst sich noch incorrigibel zeigen würde, soll der Hofmeister nach Bericht und Notdurft vermittels Requirirung der Ortsobrigkeit ihn mit Militärarrest belegen, und mir folgendes auch darüber Bericht einsenden, damit beizeiten die Remedirung verfüget und alsdann auch dergestalt schärfere Mittel an die Hand gegeben werden könne . . . " (Archiv v. Galen-Assen F 331). 86 Ebd. 87 Das Studium der nachgeborenen Söhne und zukünftigen Domherren war in der Regel wohl weniger breit, dafür aber intensiver; vgl. z. B. dazu den 48 Wochenstunden umfassenden, stark auf Jura konzentrierten Studienplan des Clemens August v. Galen vom 21. 1. 1740 (Archiv V. Galen-Assen F 332). 88 Auch hinsichtUch der Wahl der Studienorte ergeben sich - sieht man von der starken Betonung Roms als Studienort der münsterländischen Adelssöhne einmal ab - wiederum starke Übereinstimmungen zwischen münsterländischem und österreichischem Adel (vgl. Brunner, Landleben, S. 156 f. und Loebenstein, S. 67f.). Die Studienplätze am Collegium Germanicum in Rom waren Pfründen und wurden einzeln vergeben (vgl. Lahrkamp, Fürstenberg. F G . , III, S. I I I ) ; daneben bestand aber noch eine päpstliche Universität, die frei zugänglich war. 89 Z . B . in Gießen, wegen der für Konnexionen wichtigen Nähe zum Reichskammergericht oder in Marburg (vgl. Erler, Erziehung, S. 114). Auch die Universitäten Köln, Paderborn, aber auch Salzburg (Ritterakademie), Dillingen und Straßburg werden häufiger genannt. Die gegenreformatorischen Gründungen in Paderborn (1614) und Osnabrück (1628), in Münster scheiterte zur selben Zeit ein Gründungsversuch (vgl. Tympeus, S. 5-9), haben den Adel nicht an die katholischen Regionen Westfalens binden können, zumal diese Universitäten keine juristischen Fakultäten besaßen. Nur für die Absolvierung des philosophisch-theologischen Kurses wurden sie vom Adel genutzt. Ansonsten zielten sie wohl darauf, nichtadelige Landeskinder zwecks Geldersparnis und sicherer elterlicher Kontrolle zu Klerikern auszubilden oder das Studium der zukünftigen Beamten an auswärtigen Universitäten abzukürzen. Zu den Universitäten Paderborn und Osnabrück vgl. Hardieb v. Wallthor, Schulen, S. 43-45 und Theuerkauf, Fürstenberg. F G . III, S. 3 2 f . ; zu Münster: Schulze, S. 56 und Pieper, Universität, S. 5-8. Zum allgemeinen Hintergrund dieser Universitätsgründungen vgl. Paulsen, Universitäten, S. 45-49. 90 Deren stark aristokratisches Gepräge betonte auch Mitgau, Herkunft, S. 237, und Loebenstein, S. 68. 91 Justus Lipsius (1547-1606) faßte noch die Ziele beider Reisetypen zusammen, als er die Kavalierstour als ,nobilis et erudita peregrinatio' definierte:,,Bildung des Urteils durch Kenntnis fremder Völker, Sitten und Verfassungen, die Denkmale der Vorzeit, den Boden, wo die Großen des Altertums gewandelt haben und die Eleganz der Sitten, für die der Nordländer der romanischen Nationen bedarf, um sein bäurisches Wesen an deren Urbanität abzuschleifen." (zit. nach Loebenstein, S. 80; vgl. auch Brunner, Landleben, S. 156f.). Der sich anschließenden Darstellung der Kavallierstour liegen folgende Archivalien und Untersuchungen zugrunde: Kavalierstour des Werner und des Friedrich Christian v. Plettenberg 1708 ff. (vgl. Erler, Erziehung,

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Anmerkungen zu Seite 153-1Í4 S. 115 ff.), des Franz, Friedrich Carl und Christian Ignatz v. Fürstenberg 1751 f. (Hanschmidt, S. 12-15 und Sudhof, Aufklärung, S. 57-62), die Angaben zu den Reisen verschiedener Söhne der Familie v. Fürstenberg, die seit Anfang des 17. Jahrhunderts nahezu regelmäßig eine Kavalierstour absolvierten (Fürstenberg. F G . Bd. II u. III), die Reise dreier Söhne des Freiherrn v. Nagel ca. 1677 (Archiv v. Nagel-Vornholz A l a 28), Reise zweier Söhne der Familie v. Galen 1698 f. (Archiv v. Galen-Assen F 745), Reise des Clemens August v. Twickel 1775 f. (Archiv v. Twickel-Havixbeck I G 232), Reisen von Söhnen der adligen Familien v. Fürstenberg, v. Boeselager, V. Droste-Hülshoff, v. Plettenberg und v. Droste-Vischering sowie der bürgerlichen Familien Rave und Meinders im 17. und 18. Jahrhundert bei v. Klocke, Kavaliersreisen, die Reise des Ferdinand v. Fürstenberg 1680f. bei Cramer, die Reise des Paul Joseph v. Landsberg-Velen 1782 Glasmeier, Studienreise, und die Reise des Franz Wilhelm v. Galen 1674 (Archiv v. Galen-Assen F 551). 92 Kaiser Joseph I L , schon stark vom bürgerlichen Konzept der Bildungsreise beeinflußt, vertrat dagegen die Ansicht, daß vor dem 28. Lebensjahr, dem Zeitpunkt der ,wahren' Reife, Reisen außer Landes unnütz seien; deshalb gestattete er sie erst von diesem Lebensalter an; dann aber seien sie, wegen der Möglichkeit zur ,Vergleichung' durchaus nützlich für den reisenden Adelssohn (Kühnel, S. 367, Anm. 10; vgl. Loebenstein, S. 93). 93 So hatte z. B. Ferdinand v. Fürstenberg 1681 dem französischen König eine diplomatische Note seines Onkels, des Fürstbischofs von Paderborn, zu überreichen (Cramer, S. 35). 94 Zum Beispiel Ferdinand v. Boeselager 1728 (vgl. v. Klocke, Kavaliersreisen, S. 8). Der Aufenthalt in Paris galt um 1770 als sicherste Vorbereitung auf eine erfolgreiche politische Laufbahn. Der Salzburger Domdechant Wilhelm v. Fürstenberg schrieb 1780 an seinen Neffen Ferdinand, der in Paris weilte, er solle, ,die ecercitia sowoll als absonderlich die sprach fleißig zu lehren, und dergestalt zu perfectionieren, dass der Vetter hernegst kenne von fürsten und herren gebrauchet werden, zu mahlen es dass sichere ansehen hatt, dass der gantze rein bett in frantzösische hende, und der Vetter mit frantzösische schuen nach der ton der frantzösische Currenten wirde Dansen und deren leges erwarten müssen", (zit. nach Cramer, S. 32f.). 95 Formale und ästhetische Kultur, Gewandheit in adligen Exercitien, Luxusgüter, wie modische adlige Kleidungsstücke, Spitzen, Perücken etc. waren nur im Ausland zu erwerben, den Bürgersöhnen, die vorwiegend auf deutschen Universitäten studierten, dagegen nicht zugänglich. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts reisten aber z. T. auch schon die Söhne des Beamtenadels und bürgerlicher Familien (vgl. v. Klocke, Kavaliersreisen, S. 2 f . ) . Doch entwickelte das aufgeklärte Bürgertum im 18. Jahrhundert einen eigenen Reisestil, der von dem der Kavalierstour deutlich abwich, die Bildungsreise. Die Wirkung der Reise des Adelssohns auf das Dorf und die grundherrlichen Bauern wird eindringlich dargestellt in einem gedruckten Vortrag Glasmeiers anhand von Quellen aus dem Archiv v. Landsberg-Velen - über die Kavalierstour des Paul J o seph V. Landsberg-Velen im Jahre 1782 : ,,Auf dem Kirchplatz hatte sich fast das ganze Dorf versammelt . . . So etwas durfte man sich ja auch nicht entgehen lassen . . . Eine ganz furchtbar weite Reise wollte der junge Baron machen; die Diener vom Schlosse hatten es erzählt und schon wochenlang hatte man an den Velener Stammtischen, deren es gar viele gab, von nichts anderem gesprochen als von Holland und Brabant und Frankreich und Italien und Rom und Wien, Dresden und Berlin. Die ganze Welt sollte bereist werden. O , sie waren alle sehr stolz darauf, dass man von Velen so weit reisen konnte." (Glasmeier, Studienreise, S. 21). 96 Die stark verschuldete Familie v. Spiegel zum Desenberg konnte ihren Söhnen am Ende des 18. Jahrhunderts aus finanzieller N o t heraus solche Reisen nicht mehr gestatten (vgl. Lipgens, S. 33). Dort wo relativ unvermögende Adelsfamilien weiterhin im Prestigewettkampf blieben, so z. B. die Familie v. Korff 1795f., war schwere Verschuldung der Güter die notwendige Folge (s. u. S. 206f.). " 97 Daß alle befreundeten Familien die Briefe der reisenden Söhne und des Hofmeisters mitgeteilt bekamen, wurde z. B. vom Hofmeister der 1796 f. reisenden Söhne der Familie v. DrosteVischering, dem Theologen Katerkamp, in einem Brief vom 18. 1. 1797 aus Siena die Sorrento

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explizit ausgesprochen (DAM, Nachlaß Clemens August v. Droste-Vischering, Nr. 11). Über ein besonders wirksames Empfehlungsschreiben berichtete Friedrich v. Korff am 16. 2.1796 aus Wien an seine Mutter: „So hat uns . . . die Güte der Gräfin Merveldt in Uberschickung eines neuen Empfehlungsschreibens außerordentliche Freude gemacht, indem er uns Gelegenheit verschafft, Bekanntschaft mit einer höheren Classe von Leuten zu machen, als uns unsere bisherige Lage erlaubte. Wir haben dieses auch auf der Stelle benutzt und haben bereits gestern nachmittag dem Baron Groschlag unsere Aufwartung gemacht, nachdem wir ihm gestern morgen jenes Schreiben zugeschickt hatten. Wir haben sehr vernünftige, und zugleich herzlich gute, zuvorkommende Menschen angetroffen, die es sehr bedauerten, daß die jetzige Jahreszeit, wo der hiesige Adel fast durchgehend auf seinen Landgütern ist, ihnen nicht erlaubte, uns viele Bekanntschaften zu verschaffen, ungeachtet wir deren einige, wie Sie sagten, in Ihrem Hause machen könnten." (Archiv v. Korff-Harkotten I F h 1, 26. Bd.). 98 Vgl. V. Klocke, Kavaliersreisen, S. 3; zur ähnlichen Route anderer deutscher Adelsgruppen vgl. Kühnel, S. 369 und Loebenstein, S. 166. 99 Die drei um 1750 reisenden Söhne der Familie v. Fürstenberg besichtigten u. a. Ausgrabungen in Herculaneum (Hanschmidt, S. 13, Sudhof, Aufklärung, S. 62); Loebenstein, S. 169, urteilt völlig unhistorisch, wenn sie den damals Reisenden wegen der Negation antiker Baudenkmäler ,Oberflächlichkeit' attestiert, da sie ,blind an wertvollem Bildungsgut vorbeigegangen' wären. Die bildende Kunst der Antike war für den praxisorientierten, selbstbewußt in seiner Zeit lebenden adligen Kavalier, für den im Münsterland noch die enge kirchliche Bindung hinzukam, kein besonders relevantes Bildungsgut. Erst das Bildungsbürgertum hat im 18. Jahrhundert aus sozialgeschichtlichen Gründen, die noch weiter zu erhellen sind, die Kunst der Antike als Bildungsgut wiederentdeckt (vgl. dazu die Ausführungen oben S. 320f.). 100 In Briefen an seine Schwester Mimi aus Zürich vom 12. 8. 1796 und aus Rom vom 10. 7. 1797 übermittelte Clemens August v. Droste-Vischering mehrere Anekdoten, z. B . über Kaiser Joseph I L , und Heiligengeschichten, die er auf der bisherigen Reise gesammelt hatte (DAM, Nachlaß Clemens August v. Droste-Vischering, Nr. 10). Zum ,Curieusen' als einem wichtigen Wahrnehmungskriterium der reisenden Kavaliere vgl. Steinhausen, Idealerziehung, S. 225; Loebenstein, S. 143 u. 163. 101 Vgl. z. B. den aufwendigen Lebensstil des Wernerund Friedrich Christian v. Plettenberg während ihres Aufenthalts in Paris im Jahre 1709 (v. Klocke, Kavaliersreisen, S. 116). 102 Vgl. z. В. die Liste der von Franz Wilhelm v. Galen 1674 auf der Kavaliersreise gekauften Bücher im Archiv v. Galen-Assen F 551).

II. C. 3

Ämtertätigkeit

1 Tack, S. 27, vgl. auch Keinemann, Domkapitel, S. 38 und Veit, S. 12 f. ; zur Ämterkumulation vgl. V. Klocke, Landesherren, S. 61. 2 Die Zusammenstellung erfolgte nach Domherrnlisten in: Archiv v. Droste-Hülshoff, Paket 37; V. Klocke, Landesherrn und v. Twickel, Entwicklung. 3 Vgl. dazu Tabelle 3, S. 52. 4 Schon in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts kam bei den münsterschen Domherren Pfründenhäufung vor. Eine verstärkte Tendenz zur Verflechtung der westfälischen Domkapitel über Pründenhäufig setzte an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert ein (v. Klocke, Landesherrn, S. 61); als ein Beispiel für die Wendung einer Familie zur bewußten Pfründenhäufungspolitik am Ende des 16. Jahrhunderts-von v. Klocke als Reaktion auf die Erfahrung des möglichen Pfründenverlustes durch die Reformation gedeutet - vgl. die Familie v. Fürstenberg in v. Klokke, Fürstenberg. F G . III, S. 16. 5 Vgl. Lahrkamp, Fürstenberg. F G . III, S. 151; Ramackers, S. 22f. u. 42f. Zu den Archidiakonaten und Ämtern in Stiftskirchen vgl. Tabelle 5, S. 53 und Keinemann, Domkapitel, S . 4 9 f .

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6 So z. B. der Generalfeldzeugmeister Graf Alexander von Velen, der Generalfeldwachtmeister Bernhard v. Westerholt, der Generalmajor v. Wendt zu Krassenstein, der Obristwachtmeister Evert Jürgen v. Oer u. a. im Dreißigjährigen Krieg, der General Dietrich Hermann v. Nagel und der Oberstleutnant Jobst Bernhard v. Korff-Harkotten in der Armee Christoph Bernhards V. Galen (vgl. Lahrkamp, Bönninghausen, S. 239, 329 u.a., v. Twickel, Beiträge, S. 17f. und Rothert III, S. 285. Zu den westfälischen Adelssöhnen in Livland vgl. v. Klocke, Fürstenberg. FG. II, S. 19 und Geisberg, Beziehungen, S. 123 ff. Zu den Eintrittsbedingungen für den deutschen Orden vgl. STAM, Archiv Haus Diepenbrock, Akten XV, Nr. 8. 7 Vgl. z. B. den Brief des Max v. Oer an den Kurfürsten vom Juli 1796, in dem er für seinen Bruder, den Offizier Clemens Wenzel v. Oer, um die Verleihung einer Domherrnpräbende bittet, weil der Militärsold für dessen standesgemäße Versorgung nicht ausreiche (Archiv v. Oer E 1312). 8 Zur Geschichte und zum genauen Funktionsbereich dieser Ämter vgl. die Darlegungen in STAM, Mscr. VI, 11; VI, 29 und VI, 34. 9 Vgl. dazu Tabelle 7, S. 55. Als Beispiel für die Amterweitergabe innerhalb einer Familie vgl. den Brief des F. W. v. Plettenberg an Friedrich Burchardt von Westerholt vom 6. 4. 1720 (STR, Archiv v. Westerholt-Westerholt, Nr. 38, II). 10 Zur Entwicklung des Regierungs- und Hofrats im 16. Jahrhundert vgl. Kirchoff, Landräte, S. 188-190, Lüdicke, Zentralbehörden, S. 11 und Schmitz-Eckert, S. 44ff. 11 Zit. nach Katz, S. 62; vgl. die Nachweise bei Schmitz-Eckert, S. 66. Die Positionen auf der mittleren Ebene der Justiz, z. B. die Richterstellen, hatte der Adel schon im 17. Jahrhundert an bürgerliche Juristen abgegeben. Seit 1756 nahmen keine adligen Räte mehr an den Sitzungen des Regierungs- und Hofrats teil ; ab 1690 wurde das dem Adel vorbehaltene Kanzleramt nicht mehr besetzt. Die dem Stiftsadel im Regierungs- und Hofrat gesicherten zwei Gehälter gingen im 18. Jahrhundert endgültig verloren (Schmitz-Kallenberg, S. 59 und 66f.). 12 Die Ämterprivilegien des stiftsfähigen Adels wurden auf das ,Herkommen' und auf die Vorstellung des ständischen Kondominiums zurückgeführt. Die Präsidentenstellen der verschiedenen Ratskollegien waren grundsätzlich den Domherrn vorbehalten. Über die Wahlkapitulationen schufen sich die Domherrn weitere Ämterberechtigungen. So sicherten sie sich z. B. im Laufe des 18. Jahrhunderts die Positionen des Generalvikars (ab 1710) und des Weihbishofs (Ende des 18. Jahrhunderts). Vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 51 und 64f. 13 So berichtete z. B. der Emigrant Abbé Baston um 1800, daß ein wahrer münsterländischer Adliger sich schämen würde, Medizin und Rechtswissenschaft zu studieren (Weber, Coesfeld, S. 98). 14 Daneben blieben einzelne adlige Klöster bestehen. Auch für den Zugang zu den Damenstiftern galt eine den Forderungen des Domkapitels angeglichene Ahnenprobe als Vorbedingung; hinzu kam auch hier zumeist noch das katholische Bekenntnis. Eine dem Biennium vergleichbare Bildungsqualifikation taucht dagegen in keiner Stiftssatzung als Aufnahmevoraussetzung auf. Als exemplarisches Beispiel für die vom Adel betriebene Umwandlung eines Klosters in ein Stift am Anfang des 17. Jahrhunderts vgl. die Entwicklung des Prämonstratenserklosters ödinghausen, bei Theuerkauf, Fürstenberg. FG. III, S. 51 f. ; zur großen Zahl der Damenstifter im Münsterland vgl. Müller, Säkularisation, S. 25. 15 Vgl. Weining, S. 17ff. und 42ff. Im Damenstift Neuenheerse im Bistum Paderborn bes u n d das von der Äbtissin einzusetzende Stiftspersonal aus 14 Personen; dazu hatte diese das Recht, die Pfarrstellen in Neuenheerse und 13 weitere geisdiche Benefizien zu vergeben (Gemmeke, S. 210f.). 16 ,,Die Entscheidung darüber, welche der Kinder geistlich werden, welche weltlich bleiben sollten, war ein Hauptthema mehrerer Fürstenberg'scher Testamente." (v. Klocke, Fürstenberg. FG. II, S. 16). Auch v. Klocke fallen aber keine Kriterien auf, nach welchen die Väter die Zuordnung der nachgeborenen Söhne und der Töchter zu geistlichem bzw. weltlichem Beruf vornahmen. 542

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17 So klagte Dietrich Hermann von Nagel, der 1677 ein geisdiches Amt angetreten hatte, nur über eine einzige ,Qual': ,,Ich mus mihr auch gans anders kleiden und darff die Kleider, die ich mitt genommen nicht dragen, nur gans swarts, welges mihr am aller beswerligsten vorkommen wirdt" (Brief vom 3. 6. 1677 an seinen Vater, Archiv v. Nagel-Vornholz A l a 27). 18 Archiv V. Fürstenberg-Opladen 23 19 Die Gewohnheit, ältere Söhne als Platzhalter eine Zeitlang in die Domkapitel zu schicken, löste sich allerdings gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf, vgl. Tabelle 1, S. 378. 20 Für die Familie v. Merveldt im 17. und 18. Jahrhundert hat Glasmeier, Geschlecht, S. 182 ff. diesen Vorgang nachgewiesen. Sechs Generationen hintereinander übernahmen die Söhne vom Vater dessen Ämter und gewannen zum Teil noch weitere hinzu. 21 ,,Die Turnusherren präsentierten durchweg ihre Brüder, Vettern, Neffen, Großneffen und andere Verwandte. Stärker noch als bei den Resignationen kommt hier die Sorge des westfälischen Adels um die Unterbringung seiner jüngeren Mitglieder zum Vorschein . . . " (Tack, S. 12). 22 Mit der sogenannten Possession war aber noch nicht die volle Nutzung der Präbende verbunden. Das war erst mit Erreichen der Emanzipation und dem Abwarten von zwei (bei resignierten Präbenden) bzw. drei (bei Präbenden, die durch Todesfall freigeworden waren) sogenannten Karenzjahren der Fall. Für die Emanzipation galt in Münster als Voraussetzung ein Mindestalter von zwanzig Jahren, absolviertes Biennium und die Ableistung von sechs Wochen sogenannter,strenger Residenz' an der Domkirche. Die untere Altersgrenze für den vollen Präbendengenuß lag infolgedessen bei 22 bis 23 Jahren. Für die volle Einkommensnutzung genügten die wenig verbindlichen niederen Weihen. Stimmrecht bei den Wahlen gab aber erst die erste Stufe der höheren Weihen, das Subdiakonat. Keinemann, Domkapitel, S. 27 zählte für das 18. Jahrhundert im münsterschen Domkapitel nur ca. 15 % Domherren mit niederen Weihen. Doch vernachlässigt er dabei den Zeitpunkt, zu dem die höheren Weihen empfangen wurden. Tack, S. 8 hat für drei Querschnitte (1683, 1712 und 1757) einen durchschnittlichen Anteil von 20 % für solche Domherren errechnet, die höhere Weihen besaßen. 23 Vgl. Tack, S. 9. Diese als selbstverständlich angesehene Weitergabe der Domherrnstellen innerhalb der Familie wurde nur in sehr seltenen Fällen von den Söhnen und anderen Verwandten negiert, z. B. im Fall das Max Friedrich v. Nagel-Ittlingen, der, unheilbar an einem Lungenleiden erkrankt, von seinen Vater zur Resignation aufgefordert wurde, sich jedoch hartnäckig weigerte, diese Transaktion vorzunehmen und lieber den Streit mit seinem Vater in Kauf nahm. Tatsächlich ging diese Präbende dann 1794 auch der Familie v. Nagel-Ittlingen verloren (vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 340). 24 Zit. nach Keinemann, Domkapitel, S. 347. 25 Keinemann, Domkapitel, S. 90. 26 Wilhelm v. Fürstenberg, geb. 1623, ein Günstling Papst Alexanders VII, gewann seiner Familie mehrere geistliche Pfründen., ,Verwandten und Freunden war er bei der Erwirkung von Provisionen ein willkommener Helfer, doch beklagte er sich über seine Schwester Odilia von Plettenberg, die ihn mit Bitten um Studienplätze für ihre Söhne am Collegium Germanicum behelligte. Er schrieb ihr, auch in Rom ließen sich die Präbenden nicht von den Bäumen schütteln !" (Lahrkamp, Fürstenberg. F G . III, S. I I I ) . Auch gute Beziehungen zu Juristen, z . B . den Reichshofräten in Wien, konnten von großer Wichtigkeit sein, weil viele Präbenden erst durch Prozesse endgültig vergeben wurden; vergleiche dazu z . B . den Kampf des August Ferdinand v. Merveldt um die Äbtissinnenstelle des Stiftes Langenhorst für seine Schwester Clara Ludowica. Sein Gegner dabei war der Domherr von der Lippe, der als Besitter einer kaiserlichen Preces die Stelle für sein Mündel beanspruchte. In diesen Konflikt wurden alle Möglichkeiten des indirekten Präbendenerwerbs vom Prozess bis zur Bestechung erwogen bzw. genutzt (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Clara Ludowica v. Merveldt, Vol. III). Die Prestige und Einkommen steigernden Dignitäten innerhalb des Domkapitels, die Würden eines Probstes, Dechanten, Scholasters und die weniger bedeutenden Stellen des Küsters und Vicedominus wurden- unter Berücksichtigung

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Anmerkungen zu Seite 165-170 des Alterskriteriums - durch Wahl der Domherrn, also durch die Parteiungen im Domkapitel, bestimmt. Die mit diesen Dignitäten verbundenen Aufgabenbereiche werden beschrieben bei Keinemann, Domkapitel, S. 12ff. 27 Vgl. z . B . die Parteienkämpfe innerhalb und außerhalb des Stifts vor der Wahl der Clara Ludowica v. Merveldt zur Äbtissin des Stiftes Langenhorst im Jahre 1796 (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Clara Ludovica ν. Merveldt, Vol. IIL). 28 Vgl. Tabelle 6, S. 54. 29 Keinemann, Stellung, S. 250-52. 30 Siehe insgesamt hierzu die Darstellung der münsterschen Behördenverfassung bei Olfers, S. 3ff. Zur Darstellung der Ämterauffassung des münsterländischen Adels werden hier - neben den auf die Verwaltung des Fürstbistums Münster und seinen Adel bezogenen archivalischen Quellen und Ergebnissen der Forschungsliteratur-die von M. Weber, W G , S. 739-94, Hintze, Commissarius, S. 242ff. und G . Dietrich, S. 232ff. erarbeiteten idealtypischen Kategorien des patrimonialen bzw. ständischen Beamtentums verwandt. 31 Ohde, S. 15; vgl. auch Schmitz-Eckert, S. 42ff. 32 Vgl. Schücking, Fürstentümer, S. 10; Olfers, S. lOf. u. 22. 33 , ,Nicht das Funktionale, sondern die soziale Stellung mit ihren ständischen Privilegien gilt als das eigentlich Charakteristische des Amtes." (Dietrich, S. 236). 34 Schon die Vielfalt der Amtsfunktionen ließ die auf die Arbeitsleistung bezogene Forderung nach einer Fachschulung des Amtsinhabers als Voraussetzung eines Amtes als sinnlos erscheinen. Nur im vom Bürgertum besetzten Rechtswesen haben sich deshalb Fachprüfungen der Amtsanwärter in der Form von Proberelationen durchgesetzt, ohne daß auch hier der Ämtererwerb durch Konnexionen und Familienverbindungen dadurch ausgeschaltet worden wäre. 35 Katz, S. 95, Anm. 4. 36 S T A M , Nachlaß Druffel, Nr. 228, Bericht vom 19. 1. 1800. ,,So oft es möglich ist, das Zeremonielle und die prunkvolle Selbstdarstellung vom Technischen zu trennen, braucht man Kleriker, Kanzlisten, Rechtsgelehrte, Ingenieure, und man überläßt ihnen all das, was nicht diejenigen Qualitäten verlangt, durch welche sich der Adel auszeichnet." (Halbwachs, S. 307). 37 Vgl. Ohde, S. 15 und den Konflikt zwischen dem Amtsdrosten v. Elverfeldt und seinem Konkurrenten v. Graes 1760ff. (STAM, Archiv Haus Diepenbrock, Akte II, Nr. 33 a). Katz, S. 38 bezeichnet den Amtsrentmeister als den eigentlichen Arbeiter; von den Drosten heißt es: ,,. . . gerade ihnen behagte die Arbeit nicht allzusehr und nur wenige Tage des Monats waren sie im Amte anwesend." (ebd., S. 36). 38 Olfers, S. 16. 39 Keinemann, Domkapitel, S. 28. 40 ,,Der Spaß wird aber immer mit Einschluß der Statutengelder . . . auf 3000 R . Thaler und darüberkommen . . . " (Fritz von Korff, am 3. 1. 1797 an seine Mutter) ; das Geschäft scheiterte, weil ein Canonicum a latere, mit dem die Freistellung von der Anwesenheitspflicht verbunden war, schwer zu bekommen, weil die wahrscheinliche Wartezeit vor dem vollen Präbendengenuß zu lang war und weil sich plötzlich eine osnabrückische Präbende anbot, die gleich was zu ,ziehen' brachte; zum ganzen Vorgang vgl. Archiv v. Korff-Harkotten I F h 1, 26. Bd. 41 Vgl. den Brief des C . A. v. Kettler an den Vicedominus Heinrich Johann v. Droste-Hülshoff vom 12. 8. 1804 (Archiv v. Droste-Hülshoff, Akte 166 und 167). Zum Reichtum der Oberländerinnen vgl. den Brief der E. V. Wrede an Ludowika v. Merveldt vom 1. 2. 1781 (Archivv. Merveldt, Nachlaß Clara Ludowica v. Merveldt, Vol. III); ein weiteres aufschlußreiches Beispiel eines Präbendenhandels in Archivv. Korff-Harkotten lEd, 13. B d . ; v.a. Brief des J . F . Escherhaus, Mandatar des Domprobsten v. Bocholz, der seine münstersche Präbende an C . A. v. Korff verkauft hatte, an die Freifrau v. Korff vom 7. 1. 1796. 42 Siehe dazu die Schilderung des ,kultivierten' und abwechslungsreichen Lebensstils Mainzer Domherrn bei Veit, S. 2 6 f f . ; eines französischen adligen Domherrn bei Forster, S. 146 und die Nachlaßinventare verschiedener münsteraner Domherrn, die einen weitgehend ähnlichen

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Anmerkungen

zu Seite 170-178

Lebensstil erkennen lassen, z. B. das Inventar zum Testament des Domherrn Rembert v. Ketteler (1653), des Clemens August v. Galen (1747) und des Matthias v. Aschcberg (1772) (STAM, DK. Mstr. I, K, Lit. К, Nr. 144, Lit. E, Nr. 89, Lit. F, Nr. 85 u. 223 und I, K, Nr. 10). Waffen, Pferde, Kutschen, Jagd, Spiel, teure Möbel, kostbares Geschirr, aufwendige Kleidung und nicht zuletzt auch Reisen und ausgezeichnetes, umfangreiches Speisen spielen darin eine wichtige Rolle. Vgl. zum letzteren den Speiseplan eines Domherrn aus den Jahren 1755 f. und die Anwesenheitsliste des Domherrn Franz Ferdinand v. Nagel 1756 ff. am Dom zu Münster. Aus letzterer geht hervor, daß dieser Domherr durchschnitthch nur 31 Tage pro Jahr am Ort seines Amtes anwesend war (Archiv v. Nagel-Vornholz A I a 112). Daß dieser kavaliersmäßige Lebensstil der Domherren in der Bevölkerung schon früh als einem Geistlichen nicht gemäß angesehen wurde, zeigt z. B. eine Äußerung münsteraner Bürger von 1611, in der sie die Domherren wegen deren Jagdleidenschaft angriffen: ,,Und schließlich vereinbare sich die Ausübung der Jagd nicht mit dem geistlichen Stande der Domherren, da es den Geisdichen durch Konzilsbeschluß verboten sei, Feuerwaffen zu tragen und zu benutzen." (zit. bei Dobelmann, Münster-Mauritz, S. 85). 43 Zit. nach Keinemann, Domkapitel, S. 321. 44 Zit. nach Keinemann, Domkapitel, S. 230. Ähnliche Urteile sind recht häufig zu finden: Über Clemens August v. Ketteier, geb. 1720, Domherrin Worms, Münster und Osnabrück, Besitzer mehrerer geistlicher Pfründen hieß es ,il est avide des titres'. Über Caspar Max v. KorffSchmiesing, geb. 1751, Domherr zu Münster, Halberstadt und Osnabrück, den der Domherr v. Spiegel als .gierigen Nimersatt' kennzeichnete, war bekannt, daß er bei der Wahl des neuen Fürstbischofs Max Franz 1780 vom kaiserlichen Hof und von den Holländern zugleich Geld genommen hatte (diese und weitere Beispiele in Keinemann, Domkapitel, S. 297, 336f. u. a.). In scharfer Form ironisierte der Kurfürst Max Franz den Tod des münsterschen Domherrn und Domprobsten Friedrich W. v. Boeselager in einem Brief an den Geheimen Rat Druffel: ,,requiescat in pace; qui bene bibit, bene dormit, qui bene dormit, non pecat, es geht der Verstorbene gerade in den Himmel" (zit. nach Braubach, Spiegel, S. 138). 45 Vgl. dazu die Ausführungen, S. 118ff. Wenn es der Stiftsdame gelang, sich innerlich mit dem reduzierten Stiftsdasein abzufinden, konnte sich durchaus auch eine Art von Zufriedenheit einstellen, wie das von Gemmeke, S. 245 ff. veröffentlichte Tagebuch einer Stiftsdame beweist. III. A. Zwei Wege vom Stand zur politisch privilegierten

Berufsgruppe

1 Vgl. hierzu und zum folgenden Vierhaus, Ständewesen, S. 338; vgl. auch Rosenberg, Bureaucracy, S. 43-45; Hintze, Hohenzollern, S. 503-506; Weis, Monarchie, S. 454ff.; Birtsch, S. 77; Berdahl, S. 301-311; Hofmann, S. 165-167. 2 Vgl. Birtsch, S. 83-85; Schwieger, S. 33-55; Rosenberg, Bureaucracy, S. 199ff. 3 Vgl. Koselleck, Preußen, S. 147. 4 Weitz, S. 223; Koselleck, Preußen, S. 310. 5 Ferdinand C . H . v. Galen schilderte in seinem Tagebuch am 13. 11. 1827 die Verhältnisse in Berlin: ,,Es bekämpfen sich in der Umgebung des Königs und in den hohen Staatsämtern eine Menge Parteien . . . Pietisten, Aristokraten, Demagogen von oben und unten, bekämpfen sich unausgesetzt . . . Doch hat seit einiger Zeit die bessere d. h. die gemäßigt aristokratische Parthei bedeutend an Einfluß gewonnen. Sie hat eine große Stütze am Kronprinzen. Beim König hat aber unglücklicher Weise noch immer die Camerilla so vielen Einfluß, bei welcher Wittgenstein Chef de Cuisin und Timm Oberküchenjunge ist." (Archiv v. Galen-Assen F 528). 6 Koselleck, Preußen, S. 517; die Forderung der fideikommissarischen Absicherung des Grundbesitzes gehört ebenso hierher, wie die Vergabe von Kollektivstimmen an den gemeinschaftlich durch Fideikommisse gesicherten Besitz verwandter Adelsfamilien. Mit der Gewährung erbrechthcher Autonomie an den rheinischen Adel erreichte diese Tendenz des Adelsschutzes ihren Höhepunkt; vgl. zur ergänzenden Provinzialgesetzgebung nach 1823/24 Rauer, S. 65-71 und 163. 545 35

Reif, Adel

Anmerkungen

zu Seite 178-183

7 Vgl. Birtsch, S. 78f.; Bues, S. 26ff.; Schultze, S. 130; Vierhaus, Deutschland, S. 181-185; Gonze, Adel, S. 24; Epstein, S. 218-220; Brunschwig, S. 225ff. 8 Vgl. Birtsch, S. 82; Lampe, S. 227f. 9 Vgl. Koselleck, Preußen, S. 31. Zu Justus Mosers Plänen einer Adelsreform vgl. Bues, S. 64ff.; zu Steins Adelskonzeption.· Bues, S. 89ff.; Botzenhart, Adelsideal, v.a. S. 218ff.; Epstein, S. 679ff. ; H . Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1969, S. 77-82. Zur wachsenden Zahl armer Adliger vgl. Martiny, S. 72ff. 10 Vgl. Mohl, S. 4 ff. ; Gonze, Adel, S. 41 ; Mehl begründete seinen Antrag vor der Frankfurter Nationalversammlung vor allem mit der dem Adel immanenten schädlichen Tendenz zur Politik über persönliche Beziehungen, Konnexionen, Familienverbindungen sowie auch mit den Nachteilen, die sich aus dem vom Adel energisch verteidigten besonderen Erb- und Familienrecht ergaben: Konzentration des Grundbesitzes, Proletarisierung der Bauern oder im günstigeren Fall ihre Verwandlung in Zeitpächter. 11 Vgl. Koselleck, Preußen, S. 534f. und 507ff.; Rosenberg, Pseudodemokratisierung, S. 292f.; Preradovich, S. 160-162; Birtsch, S. 83. 12 Auf diese Weise wurden z. B. die Reformintentionen Friedrich Ghristians v. Plettenberg von den Landständen mehrfach durchkreuzt (Rothert III, S. 283; Völker, S. 37f.); vgl. auch die folgenden Darlegungen zur ständischen Blockierung der Reformversuche des Ministers v. Fürstenberg seit 1763. 13 Vierhaus, Deutschland, S. 67; nicht nur gegenüber dem Fürsten haben die einzelnen Stände streng auf Bewahrung des Hergebrachten geachtet, sondern auch gegenüber den anderen Ständen und Bevölkerungsschichten; so wurden z. B. die zwischen 1780 und 1790 mehrfach von den Bauern, die auf den Kirchspielstagen den nicht stimmberechtigten ,Umstand' bildeten, erhobenen Forderungen nach Teilnahme an den Abstimmungen entschieden abgewiesen (Symann, S. 22f., 29, 22. und 47, Anm. 1). Zur abnehmenden Teilnahme an den Landtagen: 1785 waren z.B. von den 63 aufgeschworenen Rittern in den ersten 10 Tagen, für die Diäten gezahlt wurden, maximal 28 Vertreter, nach 10 Tagen aber nur noch 12 bis 15 Vertreter auf dem Landtag anwesend (STAM, Fstntm. Mstr, Mstrsche Ritterschaft, Nr. 146) ; zur geringen Teilnahmequote innerhalb der Ritterschaft und des Domkapitels vgl. auch Kuhna, S. 113, Keinemann, Domkapitel, S. 73; Stieghorst, S. 17f. 14 von Oer, Verfassungen, S. 118, spricht vom Staunen der preußischen Bürokratie angesichts der geringen steuerlichen Belastung der Bevölkerung in den okkupierten geistlichen Staaten. In der Denkschrift eines ungenannten Verfassers aus Münster nach Wien aus der Zeit um 1800 heißt es: ,,Münsterlands Bewohner leben in einem glücklichen Wohlstande; zwar hat es keine Familie mit übermäßigem Vermögen und Einkommen, aber destomehr ist solches verhältnismäßig verteilt und darum der Wohlstand desto allgemeiner . . ." U n d über die Folgen einer Okkupation durch Preußen heißt es ,,. . . Man würde mit dem möglichsten Grad der Kultur und Bevölkerung zugleich das Maximum des Ertrags zum Behuf der Staatskasse zu verbinden suchen. Jenes durch Anwendung der in unumschränkten Staaten eintretenden Grundsätze; dieses durch Einführung der preußischen Abgaben, wogegen kein weiterer Bezug auf das strikt Notwendige . . . mehr eintreten könnte. So ließe sich leicht in ein paar Generationen eine Volksvermehrung zu 100 ООО Seelen und der Landesertrag ebenso leicht auf 1 Million Reichstaler und höher bringen" (Archiv v. Korff-Harkotten I E c, 12. Bd.). 15 Beispielhaft für die Einstellung der Aufklärer sind die Urteile, die Justus Gruner über das Fürstbistum um 1800 fällte:,.Bedarf es . . . eines weiteren Beweises (für die große ZMnützliche Arbeit verachtender Geistlicher, H . R.), als der statistischen Anführung, daß das Bisthum allein siebenunddreißig Klöster, neun Kollegiatstifter, zehn adelig freie Stifter und zwei Kommenden zählt, und dass die Revenüen der sämmtlichen Geistlichkeit . . . sich auf mehr als sechsmalhunderttausend Thaler belaufen? - Erwägt man nun, dass alle diese ungeheuern Revenüen steuerfrei sind . . . " (Gruner, S. 179); und über die landständische Verfassung heißt es S. 158 : ,,Ιη der Tat ist es eine Lächerlichkeit, wenn die Gegner der Säkularisationen den Vorteil der

546

Anmerkungen

zu Seite 183-185

Landstände und Landtage in geistlichen Staatenio hoch erheben. Jedermann weiß, daß er in den meisten Fällen nur aristokratische Willkür und Eigennutz ist . . . " ; eine ähnliche Kritik des Landtages findet sich auch bei Lepping, S. 7. Das Verhältnis von Schatzpflichtigen zu Befreiten war 2:1 (Kuhna, S. 135); die Steuerlast von 300000 bis 350000 RT/Jahr ruhte stark auf den Bauern. Münster als reichste Stadt bezahlte mit 12000 Einwohnern 1472RT; insgesamt umfaßte das Fürstbistum 300000 Einwohner (Rothert III, S. 316). Zur Tätigkeit von Hoffaktoren im Kurfürstentum Köln und im Fürstbistum Münster vgl. Schnee, Hoffaktor, S. 154 f. Zur Konkurrenz der Behörden untereinander vgl. Ohde, S. 20ff., Olfers, S. 4ff. 16 Vierhaus, Deutschland, S. 222; zur Kritik der Aufklärer an den geistlichen Staaten vgl. Vierhaus, Deutschland, S. 214-22; Keinemann, Domkapitel, S. 368ff.; v. Oer, Eigentumsbegriff, S. 198-203; Wende, S. 15ff. 17 Zu der durch eine Preisfrage des Domherrn v. Bibra im , Journal von und für Deutschland' über die Mängel der in geistlichen Wahlstaaten ausgelösten Diskussion vgl. v. Oer, Eigentumsbegriff, S. 207; Wende, S. 33ff.; Braubach, Aufklärung, S. 15ff. 18 Zum Widerstand der Stände gegen Fürstenberg vgl. Hanschmidt, S. 123 u. 300-303; Fürstenberg kommentierte diese Widerstände mit den Worten: ,,Der Patriotismus ist ein gar seltsames Ding; er tadelt, schreiet, lärmt, aber wenn es auf wirkliche Mesures zu nehmen ankommt, so läßt er sich durch sehr kleine Interessen gleich irre machen" (zit. nach Hanschmidt, S. 104). Auch auf kulturellem Gebiet, z.B. bei der Gründung des Theaters oder bei dem Versuch, Klopstock nach Münster zu holen, fand Fürstenberg wenig Verständnis bei seinen Standesgenossen (vgl. Sauer, S. 553-56). Zur Säkularisationsgefahr nach dem Siebenjährigen Krieg vgl. Braubach, Politik, S. 73 f. 19 Vgl. Braubach, Lebenschronik, S. 133; Hanschmidt, S. 305. 20 Unter anderem sprach er sich mehrfach für eine gleiche Besteuerung aller ,Staatsbürger', für das Abstimmungsrecht der Bauern auf den Kirchspielsversammlungen, gegen Stellenkauf und Nepotismus, für Verbesserung der Rechtspflege, Einführung eines begrenzten Wettbewerbs im Gewerbe und Steigerung der Staatseinnahmen aus (vgl. Braubach, Kurköln, S. 116; Katz, S. 43, 71, 99). 21 Eine gewisse Aufwertung erfuhr der ständische Adel sogar durch das von reichspatriotischen Schriftstellern in der Öffentlichkeit vorgetragene Plädoyer für die Notwendigkeit gebundener, beschränkter, absoluter Monarchien (vgl. Vierhaus, Montesquieu, S. 427; Wende, S. 45 ff.). Zur Verunsicherung des Adels durch bäuerliche Unruhen und Angriffe auf seine Steuerfreiheit vgl. Meyer zu Stieghorst, S. 55 ff. und Keinemann, Domkapitel, S. 197. Zu den Konflikten der adligen Vorderstände mit der Landtagskommission vgl. Kuhna, S. 108ff. u. 132. 22 Vgl. V. Oer, Eigentumsbegriff, S. 202 u. 211-14; Wende, S. 47; Marquardt, S. 63 f. ; Scholand, S. 68; Fritz von Korff sprach am 17. 8. 1796 in einem Brief an seine Mutter vom ,preußischen Länderdurst' und vom ,,gekrönten Räuber, dem ein Teil des Münsterlandes wohl zum Opfer fallen werde" (Archiv v. Korff-Harkotten I F h 1, 26. Bd.). 23 Vgl. Wende, S. 65 und den Brief des Seniors der Ritterschaft, des Freiherrn v. Kolf, an seine Standesgenossen vom 7. 8. 1802 (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 237 e). Zur Aufteilung im einzelnen vgl. Olfers, S. 25ff. 24 Vgl. Vierhaus, Ständewesen, S. 345 und Vierhaus, Deutschland, S. 32 ff. Zur Entfeudalisierung der Geistlichkeit vgl. Morsey, S. 372f.; Dietrich, S. 53. 25 Fehrenbach S. 149. Zum Code Napoléon als Herrschaftsinstrument zur Angleichung der ständischen Gesellschaft der rechtsrheinischen Vasallenstaaten an die Verhältnisse im nachrevolutionären Frankreich vgl. Wohlfeil, S. 41 ff.; Fehrenbach, S. 146 f. Zu den französischen Agrargesetzen im westfälischen Raum vgl. Fehrenbach, S. 103 ff. 26 Vgl. Philippi, Jahre, S. 91 ; zur Wiedereinführung des den Grundsatz der Rechtsgleichheit negierenden Rechts auf Fideikommissgründungen für den Adel vgl. Koselleck, Preußen, S. 373 ; Weitz, S. 232.

547

Anmerkungen III. B. Die Wandlung des münsterländischen

zu Seite

186-189

Adels vom Stand zur geschlossenen

sozialen

Elite

1 Vgl. Olfers, S. 57-59; Lepping, S. 20 u. 62f. 2 Vgl. Archiv V. Korff-Harkotten I E с, 12. Bd.; Olfers S. 63-69; Kuhna, S. 153; Kochendörffer, Stein, S. 146-151 und Schücking, Fürstentümer, S. 11-15. 3 Zit. nach Olfers, S. 64. 4 Vgl. Roebers, S. 19; Steffens, Hüffer, S. 116. 5 Friedrich Wilhelm III. hatte in seinem Antwortschreiben auf eine Eingabe der ehemaligen münsterschen Ritterschaft am 2 1 . 6 . 1 8 1 5 versprochen : , , Wir werden mit sorgfältiger Beachtung der früheren Verhältnisse dieser Länder ihnen eine ständische Verfassung verleihen, welche ihren Bedürfnissen angemessen ist, und dieselbe an die allgemeine Verfassung anschließen, die wir Unsern gesammten Staaten gewähren werden." (Archiv v. Korff-Harkotten I E c, 12. Bd.). Noch 1817 war August Ferdinand v. Merveldt der Meinung, man müsse abwarten, ,,ob manan dem Überlieferten anknüpfen oder ein unbekanntes Neues will" (zit. nach Weitz, S. 115 f.). In die Richtung des Neuen zielte Hardenbergs Antwort vom 17. 3. 1818 auf eine am 4. 4. 1818 aus Münster an ihn gerichtete Petition, in der er eine ,, Bereit Willigkeit der Gesinnung für alle diejenige Veränderung . . . welche die Zeitenverhältnisse und die Beziehung zum ganzen Staate in seiner gegenwärtigen Lage als nothwendig herbeigeführt haben" fordene, aber versprach, die ,,eigentümliche Natur der verschiedenen Provinzen", deren Geschichte und die Bedürfnisse ihres jetzigen Zustandes zu berücksichtigen (Archiv v. Twickel-Havixbeck I G 237 e). 6 Vgl. dazu die Untersuchung von Weitz, v. a. S. 99ff., sowie die Korrespondenz v. Steins zwischen 1814 und Januar/Februar 1818 ; als Ergebnis dieser Beratungen wurde eine Denkschrift über die ständische Verfassung in Jülich/Kleve/Berg nach Berlin abgeschickt (v. Stein, Briefe, Bd. V, S. 857ff.); vgl. den Brief Steins an Vincke vom Mai 1818 (Kochendörffer, Briefwechsel, S. 7 V. Stein an August Ferdinand v. Merveldt am 17. 12. 1823 (Schröder, Freiherr, S. 123); v. Stein sprach sich in seinen Verfassungsplänen für eine Adelskurie und getrennte Beratungen sowie gegen eine rein dinglich bestimmte Standschaft aus ; doch wollte er den Adel nach englischem Vorbild regelmäßig durch Nobilitierungen dem ererbten großen Grundbesitz und dem Verdienst öffnen. 8 Nur in der Denkschrift, die August Ferdinand v. Merveldt auf Anregung und unter Einfluß V. SteinsausAnlaß der Rundreise Altensteins in den westlichen Provinzen am 29.8.1817verfaßte, wurde die Bereitschaft, einer begrenzten Erweiterung des alten Ritterstandes zuzustimmen, angedeutet (vgl. Weitz, S. 115). In späteren Denkschriften hat der münstersche Adel diese Position aber wieder zurückgenommen. 9 Weitz, S. 155. 10 Während 1831 mit v. Fürstenberg noch ein katholischer Adliger neben dem liberalen bürgerlichen Abgeordneten Bracht einen Antrag auf reichsständische Verfassung stellte, dem ein Großteil seiner Standesgenossen zustimmte, fand der Antrag des liberal-konservativen Georg v. Vincke 1845 nicht mehr die Zustimmung des katholischen Adels (vgl. v. Stein an v. Schorlemer am 2. 2. 1831 und v. Schorlemer an v. Stein am 20. 2. 1831, v. Stein, Briefe, Bd. VII sowie Steffens, Hüffer, S. 149). 11 Archiv V. Korff-Harkotten I, E с, 12. Bd.; in einem Brief an v. Stein vom 12. 12. 1826 verteidigte Ferdinand August v. Merveldt noch einmal die Einstellung des alten münsterschen Adels: ,,Der nachtheiligste Irrthum in den neueren Verwaltungstheorien ist meines Ermessens jener, daß man Berufsrechte und Befugnisse nach Zahlen und Gewicht zu würdigen sich hat verleiten lassen. Bey Ausübung moralischer Facultäten kann es hierauf nur im auxiliar Gesichtspunct ankommen. Die Größe der Bevölkerung, die Quadratmeilenzahl des Flächeninhalts sind stumme Repräsentanten der Intelligenz in Ausübung moralischer Facultäten, sonst würden die englisch-ostindischen ungeheuren Besitzungen nicht von einer verhältnismäßig kleinen Zahl Engländer re-

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Anmerkungen zu Seite 189-19Í giert. Der obige Mißgriff in Verwechselung verschiedenartiger Dinge ist entweder eine Geburt des der menschlichen Natur nicht fremden Irrthums und Überschätzung, oder ein Kunstgriff einer feindlichen Philosophie, womit sie die große Mehrheit der blinden Werkzeuge, deren sie zu den Umwälzungen bedurfte, unter ihre Fahnen brachte . . . [man müsse, durch Bekämpfung dieser Grundsätze]. . . den Zunder und die Quellen unabsehbarer Verirrungen von den geliebten vaterländischen Fluren abwenden, den Bewohnern aber ihren ruhigen frommen und besonderen Sinn erhalten . . . " (Schröder, Freiherr, S. 152f.). 12 Durch diese Regelung wurden die gewerbe- und industriereichen Gebiete Westfalens, Minden-Ravensberg und die Grafschaft Mark, beonders stark benachteiligt. 13 Die nach dem Stichjahr 1803 aus den ehemaligen Rittergütern zusammengestellte Liste neuer Rittergüter wies 371 Positionen auf; diese waren in der Hand von 193 Besitzern; nach Anwendung weiterer Ausschlußkriterien - zehnjähriger Besitz, Erreichen des 30. Lebensjahres, männliches Geschlecht und tadelloser Ruf, - blieben 121 wahlberechtigte Besitzer übrig (Roebers, S. 32). 14 Die Tabellen 1 bis 3 beruhen auf Zusammenstellungen der alten landtagsfähigen Rittergüter zur Bestimmung der Mitglieder des zweiten Standes. Anlaß hierzu war die Wahl zum ersten Westfälischen Provinziallandtag (STAM, Oberpräs. B , Nr. 392; Archiv v. Korff-Harkotten l E e , 14. Bd. und Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge, Paket 47). 15 Vgl. Roebers, S. 32; man wollte zu dieser Frage erst die Meinung des 1. Westfälischen Landtags einholen; doch ist es dann weder zu dieser noch zu einer ähnhchen Bestimmung gekommen. 16 S T A M , Oberpräsidium, Nr. 392 u. 5413 und Schulte, Volk, S. 397. Vor den meisten Wahlveranstaltungen des 2. Standes fanden Vorverhandlungen des alten Adels statt, auf denen man sich über die zu wählenden Deputierten einigte (vgl. Hartlieb v. Wallthor, Selbstverwaltung S. 106). 17 Zwei Vertreter des 2. Standes, die sich in den vierziger Jahren aus diesem bisher sehr homogenen Stand mit ihren konservativ-liberalen Einstellungen, die auch interne Diskussionen provozierten, heraushoben, waren der Abgeordnete aus dem ehemaligen Gebiet von MindenRavensberg v. Vely-Jungken und der Abgeordnete aus dem ehemaligen Bereich der Grafschaft Mark Georg v. Vincke. Der erstere setzte sich damals vor allem für eine größere Öffentlichkeit der Landtagsverhandlungen, der letztere für eine Einführung von Reichsständen ein (vgl. S T A M , Archiv V. Landsberg-Velen, Provinziallandtag, Nr. 60; Bahne, S. 126-129). 18 Daß dieses auch massiv zur Disziplinierung von Abgeordneten des 3. und 4. Standes genutzt wurde, wird deutlich an den Äußerungen des Freiherrn v. Stein in dessen Briefen an westfälische Adlige, z . B . in den Briefen an v. Landsberg-Velen vom 22. 1. 1827, 7. 12. und 10. 12. 1830 (v. Stein, Briefe, Bd. VII). Zur Sperrminorität und zur itio in partes vgl. Landschaftsverband A III 1, Nr. 29. 19 Zur Kritik der ungerechten Zusammensetzung des Provinziallandtages und seiner den Adel begünstigenden Arbeitsweise vgl. die Denkschrift des Abgeordneten Hüffer an den Kronprinzen (Steffens, Hüffer, S. 418-22) sowie die Analyse des Provinziallandtages durch den preußischen Beamten und Publizisten Friedrich Steinmann (Steinmann, Graf Westphalen, S. 56). 20 Doch sind bis 1848 nur zwei Virilstimmen für den ersten Stand vergeben worden, und zwar an die Familien v. Landsberg-Velen und v. Westphalen; zur Vergabe vonÄollektivstimmen kam es gar nicht, weil die Verhandlungen über eine adlige bzw. ritterschaftliche ErbordI nung sich über 1848 hinaus ausdehnten (vgl. Rauer, S. 26). 21 Vgl. zu diesen Verhandlungen die Ausführungen, S. 309ff. 22 Zu den Widerständen gegen die sogenannten ,Autonomen', vor allem im Rheinland, weniger in Westfalen vgl. Croon, S. 111. Kisky, S. 45. Zur Politik der weiteren Bevorrechtigung des alten Adels der Region gehört auch, daß Friedrich Wilhelm IV. nach seinem Regierungsantritt 1840 zwei alte Hofämter des ehemaligen Fürstbistums Münster wieder erneuerte, und damit

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Anmerkungen

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196-198

die bevorzugte Nähe des Adels zum Monarchen demonstrativ betonte. Clemens II August v. Twickel wurde Erbschenk, Ferdinand Anton v. Merveldt Erbmarschall. 23 Archiv V. Droste-Hülshoff, Mappe: Autonomiebestrebungen der westfälischen Ritterschaft, Brief an Werner V. Droste-Hülshoff vom 25. 5. 1837; zu den Äußerungen Galens vgl. Archiv v. Galen-Assen F 524 ; zum Verlauf und Ausgang der Autonomiebestrebungen vgl. die Ausführungen S. 307 ff. 24 Vgl. Roebers, S. 57f.; über die Frage der Virilstimmen kam es auf dem Landtag von 1826 zu einem Auseinandertreten der Stände zu getrennter Beratung. Zur Landratswahl vgl. die Ausführungen S. 386 ff. 25 Zur Abtrennung der Rittergüter von den Gemeinden vgl. Schulte, Volk, S. 421;Heffter, S. 228; V. Stein und auch v. Vincke hatten sich energisch gegen ein solches Absondern ausgesprochen. Vgl. z. B. den Brief v. Steins an v. Vincke vom 8. 4. 1831 (v. Stein, Briefe, Bd. VII). Es war dem Adel offenbar ein unvorstellbarer Gedanke, daß das platte Land mit dem ,,städtischen Wesen democratischer Natur" verbunden werden könnte (vgl. v. Merveldt an v. Stein am 2. 12. 1826 und die Antwon v. Steins Mitte Dezember 1826, Schröder, Freiherr, S. 150-154). 26 Vgl. Landschaftsverband A III 1, Nr. 11 ; Steffens, Hüffer, S. 184 ; Hüffer stellte auf dem 3. Provinziallandtag 1830/31 den Antrag auf Abschaffung des privilegierten Gerichtsstandes für den Adel; der Adel wandte sich mit einem Separatvotum dagegen. 27 Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 2; zum Zusammenhang zwischen Adelskrise des Vormärz und sich steigernder Jagdleidenschaft des Adels vgl. Eckardt, S. 271 ff. Im Sommer 1823 hatte der Innenminister Schuckmann eine Gesetzesvorlage feniggestellt, die nach französischem Vorbild jeweils die freie Jagd des Eigentümers auf seinem eigenen Lande vorsah. Gegen diese Regelung, die wegen des extremen Anwachsens der Jagdberechtigten den Wildbestand auf die Dauer vernichtet, das Bauernland aber vom Jagdservitut befreit hätte, erhob der Adel in einer Petition heftigen Protest; daraufhin wurde die Gesetzesvorlage suspendien. In den dreißiger Jahren verlagerte sich der Streit auf die Teilung der sogenannten Koppeljagden, d. h. die Aufteilung des in der Regel von mehreren genutzten Jagdservituts auf die Berechtigten. Die Mehrheit des dritten und vierten Standes befürchtete, daß dadurch den Wildbestand pro Hektar - von der Hege der einzelnen Jagdbesitzer, die nun mit einem kleineren Revier auskommen mußten, begünstigt und damit der Wildschaden erheblich gesteigert werde und forderte, die Koppeljagden erst nach Erlaß einer Jagdpolizeiordnung, die Kontrolle der Jagdherrn und Entschädigung der Bauern regelte, zu teilen (vgl. Landschaftsverband AIII 1, Nr. 14 u. 20). Schon während dieser Verhandlungen über eine neue Jagdordnung wurden einige der Koppeljagden auf private Initiative der Berechtigten hin geteilt. Der Freiherr v. Stein hatte sich sehr dafür eingesetzt. Das von Berlin aus am Ende der vierziger Jahre erlassene Jagdpolizeigesetz hielt sich stark an die Vorstellungen des Adels (vgl. Wegmann, S. 61 f.; Steffens, Hüffer, S. 125). In der Revolution von 1848 wurde das Jagdrecht des Adels auf fremdem Boden dann aufgehoben. 28 Zur Frage des Grundsteuerausgleichs heißt es bei Koselleck, Preußen, S. 527f. :,,Gemessen an ihrer sozialen und wirtschaftlichen Kraft wurden alle Provinzen gleichmäßig, in Relation zum Gesamteinkommen des Staates wurden die westlichen Provinzen stärker belastet. Mit anderen Worten: der Westen und die südlicheren Provinzen leisteten, indem sie die anderen entlasteten, eine Art staatlich auferlegte Entwicklungshilfe, die deshalb aber ungerecht war, weil ein Großteil des Ritterstandes im Osten steuerfrei war." 29 Vgl. dazu Kap. III. C. 4, S. 225ff. ; zur sozial-konservierenden Intention: v. Haxthausen, S. 30-32. 30 Ein Beispiel aus der Praxis der Landrats von Beckum Carl v. Merveldt bringt Schulte, Volk, S. 427; zur Ansiedlungsgesetzgebung vgl. Landschaftsverband A III 1, Nr. 24; zum bäuerlichen Sondererbrecht ebd., Nr. 21. 31 V§1. dazu die Ausführungen im Kap. III. C. 4, S. 227ff.; Herzig, S. 33ff.; v. Bocholz, S. 91 ff. und Landschaftsverband A III 1, Nr. 29; noch 1852 vertrat der Bischof Wilhelm v. Ketteier die Auffassung, daß ,,die Juden unser deutsches Landvolk ruinieren" (vgl. Pfülf, S.40).

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Anmerkungen

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199-203

32 Vgl. hierzu Landschaftsverband A III 1, Nr. 17,21 und 25. Einen ersten Verlust an fähigen Abgeordneten hatten der 3. und 4. Stand schon 1835 hinnehmen müssen, als der Innenminister V. Rochow eine Verfügung erließ, in der den Beamten verboten wurde, ein Provinziallandtagsmandat anzunehmen (vgl. Koselleck, Preußen, S. 386). 33 V. Merveldt an v. Stein am 18. 2. 1827, Schröder, Freiherr, S. 159; zum Verhältnis des Adels zum Provinzialbeamtentum vgl. Kap. III. D. 3.3, S. 383ff. 34 Vgl. oben, S. 196; wegen ihrer Kontakte zum höheren Bürgertum sah sich Annette selbst als eine Ausnahme innerhalb ihrer Standesgenossen an (vgl. auch Weber, Volkstum, S. 34). 35 Vgl. v. Stein an v. Merveldt am 27. 11. 1830 und v. Stein an Prinz Wilhelm am 23. 1. 1831 in: v. Stein, Briefe, Bd. V I I ; siehe dazu auch Schulte, Volk, S. 467, Anm. 16a und Steffens, Hüffer, S. 49. Ein Teil der alten Beamtenfamilien, z . B . die Familien Druffel, Forkenbeck, Scheffer-Boichorst, Zurmühlen, Olfers und Duesberg hatten die Auflösung des alten Fürstbistums und den Übergang an Preußen unter weitaus geringeren Schwierigkeiten als der Adel bewältigt, schnell in der preußischen Verwaltung Fuß gefaßt und das Selbstbild des preußischen Beamten übernommen. Der Adel behandelte diese Familien, die Zum Teil von den Preußen geadelt worden waren, jedoch weiterhin so, als wären sie die Vertreter des deutlich distanzierten Beamtentums aus der altmünsterschen Zeit. Als drei Vertreter der inzwischen geadelten Familie v. Zurmühlen und ein v. MulertzurVorbereitung des Huldigungslandtags am 11.10.1815 im, Adligen Club' zur Versammlung der Rittergutsbesitzer erschienen, wurden sie ausgeschlossen mit der Begründung, die von ihnen besessenen Häuser seien keine echten Rittergüter. Der Herr v. Mulert wurde abgewiesen, „da keinem der anwesenden Herren etwas von dessen Adel bekannt sei". (Archiv v. Korff-Harkotten I E с, 12. Bd.). 36 Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 2, Brief an Elise Rüdiger vom 30. 7. 1846. 37 STAM, Nachlaß G. v. Romberg В, Nr. 31 ; ähnliche Urteile auch im Brief August Ferdinands v. Merveldt an v. Stein am 11.11. 1830 (Schröder, Freiherr, S. 198) und in den Briefen und Gutachten des Grafen Bocholz aus dem Jahre 1837 (Archiv v. Droste-Hülshoff, Mappe: Successionsordnung der Ritterschaft). Selbst die adligen Besitzer von Bergwerken und Eisenhämmern im Sauerland blieben von dieser intensivierten Abneigung gegen Industrie und Gewerbe nicht völlig verschont. Annette v. Droste-Hülshoff sprach in den Bildern aus Westfalen von dem Adel,,,. . . der sich durch Eisenhämmer, Papiermühlen und Salzwerke dem Kaufmannsstande" angeschlossen habe (zit. nach Kortländer, S. 21). 38 Vgl. Tabelle 3, S. 193. 39 Vgl. dazu die Ausführungen, S. 309f.; die Elemente dieser ideologischen Argumentation waren nicht neu; neu war nur die Schärfe und die Häufigkeit, mit der die Argumente nun vorgetragen wurden. 40 Vgl. dazu z . B . v. Stein an v. Mirbach, am 16. 4. 1828 (v. Stein, Briefe, Bd. VII). 41 V. Bocholz an v. Droste-Hülshoff, am 24. 1. 1837 (Archiv v. Droste-Hülshoff, Mappe: Successionsordnung der Ritterschaft. 42 Vgl. Koselleck, Preußen, S. 467; 1848 gingen die Fideikommisse und Patrimonialgerichte, aber auch die Jagd verloren. Die Koppeljagd wurde ganz aufgehoben, die einfache Jagd in größere Bezirke aufgeteilt und von den Gemeinden verpachtet. Der Ablösungssatz wurde um 20 % heruntergesetzt. 43 Steinmann, Deutschland, S. 6f. 44 Zu diesem Kampf zwischen Adel und Provinzbeamtentum vgl. K a p . I I I . D . 3 . , S . 3 8 3 f f . 45 Kochendörffer, Denkschriften, S. 114. 46 Archiv V. Galen-Assen F 527; zum ,Kölner Ereignis' und der Haltung des Adels in den Jahren nach 1837/38 vgl. Keinemann, Ereignis, u.a. S. 385ff. 47 1825 wurde die in französischer Zeit durchgeführte Lehnsallodifikation rückgängig gemacht; statt dessen mußte das Lehen mit einem Allodifikationszins abgelöst werden; erst 1850 ist dieser Zins beseitigt worden (Landschaftsverband A II, Nr. 196, Theuerkauf, Lehnswesen, S. 27).

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Anmerkungen

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203-206

48 In der Frage des privilegierten Gerichtsstands und der Fideikommisse - hier war die preußische Adelsschutzpolitik maßgebend - war es, wie oben gezeigt wurde, gerade umgekehrt. Zur widersprüchlichen Argumentation des Adels in der Ablösungs- bzw. der Lehnsallodifikationsfrage vgl. V. Merveldt an v. Stein am 7. 4. 1824, Schröder, Freiherr, S. 133. 49 Fideikommisse konnten nach dem Allgemeinen Landrecht nur bei Nachweis eines jährlichen Reinertrags des Gutes von 2 500 R T errichtet werden; auch hier waren östliche Verhältnisse die Norm. Als Stempelgebühr waren in einem solchen Fall 3 % des Reinertrages zu entrichten. 1837 wurde dem Adel, falls er vor 1803 ein Fideikommiß besessen hatte, die Wiedererrichtung eines Fideikommisses erlassen. Doch war es schwer, gegenüber den kritischen und formalistisch argumentierenden Beamten die Existenz eines vor 1803 errichteten Fideikommiß nachzuweisen, weil die Fideikommißgründungen in den Testamenten und Ehepakten der Vorfahren zumeist ist in den römisch-rechtlichen Rechtsformen, die in Preußen für die Errichtung eines Fideikommisses galten, erfolgt waren. Die Provinzbeamten, die in den Fideikommissen eine inakzeptable, den freien Bodenverkehr behindernde Bevorzugung des Adels sahen, suchten die Wieder- bzw. Neuerrichtung von Fideikommissen mit allen Mitteln und unter Ausnutzung aller restriktiven Möglichkeiten, die die Verwaltung aufbieten konnte, zu verhindern; der Fall des Friedrich Anton von Korff aus denzwanziger Jahren ist dafür ein beredtes Beispiel; vgl. dazu den Vorgang im Archiv v. Korff-Harkotten I F i, 29. Bd. 50 Vgl. Ohde, S. 58 ff. u. 70. Der Freiherr v. Ketteier als ehemaliger Mitbesitzer der Herrlichkeit Harkotten stellte 1829 den Antrag auf Wiederherstellung der Patrimonialgerichtsbarkeit Harkotten. Der König erbat vom Oberpräsidenten v. Vincke ein Gutachten. Vincke wählte einen Gutachter, dessen abschlägiges Urteil er voraussehen konnte; der König tadelte zwar das Verfahren 1831, akzeptierte aber schließlich doch dieses Gutachten (Koselleck, Preußen, S. 544). 51 So verbot z. B. die preußische Regierung aus hygienischen Gründen das Begräbnis in der Kirche und reduzierte damit den religiös fundierten Machtreichtum der adligen Familie, den sie mit dem Familiengrab in der Patronatskirche besaß, an einer entscheidenden Stelle (vgl. Risse, Totenbücher, S. 106). Das Kirchenpatronat blieb den Grundherren, die ein solches vor 1803 innehatten, in französischer und preußischer Zeit mit Einschränkungen erhalten (vgl. Scotti, Bd. 3, Erlaß vom 16. 6. 1806). 52 Vgl. dazu die Ausführungen S. 435 ff. 53 Insofern hatte Ferdinand C. H. v. Galen zu einem gewissen Teil recht, als er schrieb: ,,Viele halten die Ansicht fest, der schroffe Gegensatz gegen Preußen habe unter uns Katholiken der westlichen Provinzen schon vor dem Kölner Ereignis bestanden. Es ist dies ein Irrtum der sich an mir selbst erprobt hat. . . . unsere altern Familienchefs sowohl wie unsere Bischöfe hatten längst allen Widerwillen gegen Preußen abgestreift und gingen, wenn auch in mancher Beziehung unzufrieden, dennoch Hand in Hand mit der Regierung. Erst die Kölner Gewalttat öffnete ihnen die Augen." (Archiv v. Galen-Assen F 524). 54 Vgl. Scholand, S. 84; Lahrkamp, Münster, S. 172 u. 183f. 55 Diese Annahme ist nicht voll gerechtfertigt; denn auch auf den Ebenen der Ämter und der Herrschaft hat es nach 1803 weitere, Unterschiede zwischen den Familien bewirkende Entwicklungen gegeben; doch betrafen sie vorwiegend solche Familien, die an der Spitze der Prestigetabelle standen: Die Familie v. Droste-Vischering erwarb den Grafenstand, die Familie v. Landsberg-Velen erhielt wegen der 1823 angekauften ehemaligen Standesherrschaft Gemen 1840 ebenfalls den Grafentitel; Gemen wurde wieder Standesherrschaft und der Graf erhielt eine Virilstimme im 1. Stand auf dem Provinziallandtag. Die Familie v. Droste- Vischering stellte im Vormärz die Bischöfe von Münster und Köln. Die Familie v. Merveldt erhielt 1840 das Erbmarschallamt, die Familie v. Twickel das Erbküchenmeisteramt verliehen. Nach 1848 ging aus der Familie v. Ketteier ein Bischof hervor, der im westfälischen Adel großes Ansehen genoß. Alle diese Vorgänge haben das Prestige der betreffenden Familien zusätzlich gesteigert. 56 Der Index basiert auf dem Steuersatz des westfälischen Grundbesitzes der einzelnen 552

Anmerkungen zu Seite 206-209 Adelsfamilien. Zur Quellengrundlage vgl. oben, S. 549, Anm. 14 und Tabelle 8, Anhang, S. 476. Zur folgenden Tabelle 4 vgl. Tabelle 8, S. 56. 57 Ein solcher Konflikt wird fassbar in dem Brief der Dina ν. Plettenberg-Lenhausen an ihren Bruder Franz v. Droste-Vischering; erstere war mit ungefähr 15-20000 R T beim Freiherrn v. Fürstenberg verschuldet; Fürstenberg mahnte die rückständigen Zinsen in Höhe von 613 R T an. Dina übersandte ihrem Bruder einen,,Brief vom scharmanten Herrn von Fürstenberg, der Dein Blut ebenso gewiß in Wallung wetzen wird, wie das meinige; hätten wir doch vorerst diesen Juden vom Halse, . . . erklagtüberBedürfnisse, jammert über große Administrationskosten, und soll würklich wieder Güter hier im Lande angekauft haben . . . " (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D II f 17). 58 Archiv v. Korff-Harkotten I F h l , 26. Bd. 59 Im Münsterland kam wohl dem von der Adelskritik des 18. Jahrhunderts betonten armen Adel der Burgmann v. Delwig aus Nienborg am nächsten; dieser verhielt sich arrogant gegenüber seiner bürgerlichen und bäuerlichen Umgebung, war nur wenig begütert, zudem stark, zum Teil bei dem Juden und Hoffaktor Baruch verschuldet und gezwungen, auf eine standesgemäße Ausbildung seiner Kinder zu verzichten. Sie besuchten den Unterricht, den der Küster den Kindern der Stadt erteilte (vgl. Archiv v. Oer E 676, Beschwerde des Schulmeisters Grothues an den Kurfürsten, ca. 1776, und Schnee, Hoffaktor, S. 127). Daß armer stiftsfähiger Adel für den durchschnittlichen Münsterländer eine ungewohnte Vorstellung war, erhellt auch daraus, daß ein solcher Adliger, als er sich um die Stelle eines Platzmajors, der subalterne Verwaltungsaufgaben zu erfüllen hatte, bewarb, mit dem Hinweis auf seinen Adel abgelehnt wurde (Haas-Tenkhoff, Militär, S. 145). 60 Brief an ihre Mutter vom 1. 8. 1838 (Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 1). 61 Keinemann, Domkapitel, S. 113. Wie wirksam auf solche Familienkoalitionen aufgebaute Parteiungen die Tendenz zur Monopolisierung von Ämtern in bestimmten Familien unterstützen konnte wird daraus deutlich,, ,daß aus einem allerdings sehr namhaften Hause . . . und seiner Verwandtschaft, d. h. aus seiner Nachkommenschaft auch in weiblicher Linie und aus seiner Schwägerschaft nächster Grade, sämtliche westfälischen Fürstbischöfe von nichtfürstlicher Herkunft seit 1650 hervorgehen . . . mit einer einzigen Ausnahme . . . " (v. Klocke, Landesherren, S. 56; Braubach, Politik, S. 70). 62 Keinemann, Domkapitel, 159; die Plettenberger ,Partei' und innerhalb derselben die weitverzweigte Familie v. Plettenberg ,,welche geradezu ein Monopol über die Dignitäten erreicht hatte" (ebd., S. 54), war den anderen Adelsfamilien zu mächtig geworden, so daß sich viele ihrer Anhänger der neuen Partei zuwandten. Der Begriff ,Partei' ist zeitgenössisch. Zur ,Partei' Fürstenbergs zählten vor allem die Familien v. Droste-Vischering, v. Merveldt, v. Galen, v. Ketteier, v. Nagel-Vornholz, v. Nesselrode und v. Landsberg-Velen, vgl. auch Braubach, Lehenchronik, S. 161-63; die dortige Feststellung, Fürstenberg hätte eine große Zahl seiner Freunde unter dem Adel durch seine Reformpolitik verloren, mag für bestimmte Zeitphasen, z. В. für die Zeit seiner Militärpolitik, Berechtigung haben, langfristig gesehen ist sie, was den münsterländischen Adel betrifft, kaum haltbar. 63 Vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 154 u. 176; Braubach, Lebenschronik, S. 115. 64 Vgl. hierzu den Briefwechsel der Theresia v. Droste-Senden mit ihrem Bruder Clemens II August V. Twickel, v. a. ihren Brief aus dem Jahre 1784 (Archiv v. Twickel-Havixbeck I G 239 1) und den Brief des Jobst Edmund v. Twickel an seinen Neffen Clemens II August v. Twickel vom 17. 2. 1781 (ebd. IG 239 c); dazu auch Keinemann, Domkapitel, S. 186f. 65 Jobst Edmund v. Twickel an seinen Neffen Clemens II. August v. Twickel am 3. 3. 1781 (Archiv V. Twickel- Havixbeck I G 239 с); schon am 17. 2. 1781 hatte er an denselben gemeldet, , ,Dero gedamte Greis" v. Galen, habe den Domprobst v. Boeselager und den Obristjägermeister V. d. Horst aus dem Hause und von der Tafel gewiesen. 66 1782 wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Domkapitels die Dignität des Domprobsten, die bisher immer mit einstimmigem Urteil vergeben worden war, in einer Kampfabstim-

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Anmerkungen

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mung erworben, nach Keinemann, Domkapitel, S. 187, Anm. 20 ,,ein Anzeichen dafür . . ., wie erbittert der Parteienkampf jetzt ausgetragen wurde". Auch an der haßerfüllten Sprache, in der über die Gegner in dieser Zeit gesprochen wurde, wird die Schärfe des Konfliktes deutlich (vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 190). 67 Vgl. Trunz, S. 1; Braubach, Politik, S. 77; Braubach, Lebenschronik, S. 27. 68 Der Graf Münster hatte 1783 in den von Schlözer herausgegebenen „Staatsanzeigen" das Militär des Fürstbistums kritisiert und unter anderem behauptet, die Offiziere dressierten die Bauernburschen mit Stockschlägen zu Drahtpuppen; dabei hätten diese doch keine andere Aufgabe, als bisweilen vor dem Domkapitel zu repräsentieren. Da er einer dadurch provozierten Duellforderung auswich, wurde er von den Bedienten des Generals v. d. Lippe auf dem Wege zum Kurfürsten überfallen und nahezu zu Tode geprügelt. Allein der Geheime Referendar Dr. Schelver war bereit, v. Münster zu verteidigen; dieser suchte in der Freimaurerloge, ,Zu den drei Balken" eine Verurteilung des Duells durchzusetzen, hatte jedoch nur begrenzten Erfolg. Für Militärpersonen sahen die Mitglieder weiterhin das Duell als eine sinnvolle Konfliktlösungsmöghchkeit an. Zur Affaire ν. Münster vgl. dessen Brief vom 8. 8. 1778 an F. W. v. Spiegel (STAM, Nachlaß F. W. v. Spiegel), sowie Münster-Landegge, Verfahren, S. 5ff. und die zeitgenössischen Druckschriften zu diesem Thema im Quellenverzeichnis. Zu den Vorgängen in der Freimaurerloge vgl. Foerster, S. 28f. 69 Vgl. z.B. die Briefe an Adolph und Clemens August v. Droste-Vischering vom November 1800 bzw. 2. 10. 1804 bei Behrens, S. 369f. und 389. Clemens August v. Droste-Vischering regte Stolberg dazu an, die berühmte Religionsgeschichte zu schreiben. 70 Vor allem zu den im sogenannten Emkendorffer Kreis vereinigten schleswig-holsteinischen Adelsfamilien v. Stolberg, v. Reventlow und v. Bernsdorff, deren Angehörige im Vormärz z. T. wichtige Regierungsämter in Berlin bekleideten, sind die Verbindungen über Stolberg hergestellt worden, vgl. Brandt, Geistesleben, S. 155ff. 71 Vgl. z. B. den Brief v. Steins an v. Merveldt vom 5 . 1 . 1824 (Schröder, Freiherr, S. 125). Und ein scharfer Tadel des Adels findet sich z. B. im Brief vom 9. 3. 1831 an v. Spiegel: ,,Ich wünschte, der reiche westfälische Adel folgte Ihrem Beispiel." 72 Unterschiede zu den Einstellungen Steins bestanden in den Fragen der Abschließung des alten Adels, der Ablösung der Dienste, der Jagdordnung und der Abtrennung der Rittergüter von den Landgemeinen. Es darf auch nicht übersehen werden, daß v. Stein von seiner Umgebung, dem Grafen Merveldt, den Freiherrn v. Mirbach, v. Schorlemer und dem Grafen Bocholz, überzeugten Aristokraten mit nur geringer Einsicht in die Notwendigkeit einer Adelsreform, ebenfalls stark beeinflußt wurde und in den zwanziger Jahren, z. B. in der Katasterfrage, durchaus auch einen engen standespolitischen Interessenstandpunkt einnahm. Die Beurteilung v. Steins durch Ferdinand v. Galen findet sich im Archiv v. Galen-Assen F 528; Tagebucheintragung vom 27. 7. 1826. 73 Zu den engen Vertrauten Steins aus dem münsterschen Adel gehörten neben dem Grafen Merveldt der Regierungsrat V. Korff und Friedrich v. Ketteier, derVater des späteren Bischofs v. Ketteier, und Ignaz v. Landsberg-Velen; im weiteren Sinne gehörte auch Clemens II. August v. Twickel dazu. Bis auf v. Landsberg-Velen sind diese Männer spätestens kurz nach 1830 aus Altersgründen oder durch Tod aus dem Landtag ausgeschieden. Statt dessen traten ihre Söhne, Ferdinand Anton und Carl v. Merveldt, Clemens v. Ketteier und Clemens III. Carl v. Twickel in den Provinziallandtag ein; dazu kamen junge Stammherrn aus den Familien v. Droste-Hülshoff, V. Galen, v. Landsberg-Drensteinfurt und v. Korff-Schmiesing. Von v. Droste-Hülshoff abgesehen haben die prestigemäßig führenden Familien die Provinziallandtagsdeputierten gestellt, vgl. dazu Tabelle 21, Anhang, S. 490. 74 Ebenso war es bei der Familie v. Ketteier, wo - im Unterschied zum ältesten Bruder und Stammherrn - die nachgeborenen Söhne Wilhelm, Wilderich und Richard sich schon im Vormärz sehr engagiert für das religiöse Konzept einsetzten. Eigendicher Träger dieses Konzepts war aber die Familie v. Droste-Vischering. Die Familien v. Landsberg-Velen und v. Westerholt, 554

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die im Vormärz eng miteinander verwandt waren, fallen etwasaus diesem Zweierschema heraus. Beide waren z.B. gegen eine Erhaltung des alten Stiftsadels und befürwoneten eine Erweiterung des Adels nach englischem oder gar eine Veränderung des Adels in einen Dienstadel nach napoleonischem Vorbild (Vgl. Wolf, S. 116 ff.). Zwei Söhne der Linie v. Westerholt-Oberhausen hatten sich durch die Heirat nicht adliger bzw. nicht stiftsadhger Frauen schon von dem surren Abschließungsprinzip distanziert (vgl. Westerholt, FG, S. 245). Beide Familien waren zugleich aber stärker als alle anderen für eine Identifikation des katholischen westfälischen Adels mit dem preußischen Staat und haben den preußenfeindlichen Aktionen 1837-1841 mit deutlicher Distanz gegenübergestanden. Landsberg-Velen scheint deswegen eine Zeitlang von seinen Standesgenossen mit Nichtachtung gestraft worden zu sein (vgl. dazu den Brief Clemens ΙΠ. Carl v. Twickel an seine Mutter vom 25. 3.1840 im Archiv v. Twickell G 240 und den Brief Ferdinands v. Twickel an seine Mutter ca. 1840, ebd. I G 240 i). Max Friedrich v. Westerholt hat sich entschieden gegen die Bemühungen zur Wiederherstellung des alten Adels über ein autonomes Erbrecht ausgesprochen (v. Westerholt, FG, S. 260f.). Nach 1848 haben sich aber beide Familien dem Konzept einer religiösen Aktivierung des Adels in Distanz zu Preußen, die Familie v. Landsberg-Velen mehr, die Familie v. Westerholt weniger, angeschlossen.

III. C. Die veränderten ökonomischen Grundlagen des Adels 1 Vgl. Abel, Massenarmut, S. 17. 2 Vgl. hierzu Tabelle 2a, Anhang, S.473. Die Stadt Münster war zu dieser Zeit mit 14000 Einwohnern die größte Stadt des Fürstbistums und auch Westfalens. Innerhalb des Fürstbistums folgten ihr Warendorf (3 730) und Bocholt (3 047) mit großem Abstand. Die sich stärker industrialisierenden Regionen Minden-Ravensberg und die Grafschaft Mark besaßen zu dieser Zeit schon eine erheblich größere Bevölkerungsdichte (vgl. Reekers, S. 122). 3 Nach einer Statistik bei König, S. 22 u. 26, veränderte sich das Verhältnis von Stadt- zu Landgemeinden (ind. Wigbolde) von 20 % zu 80 % im Jahre 1819 auf 21 % zu 79 % im Jahre 1858. 4 Vgl. die Tabellen 2b, 3, 4 im Anhang, S. 473 ff. sowie Reekers, S. 127f. u. 137. Einen Vergleich zwischen den Provinzen erlaubt die Tabelle 2a im Anhang, S. 473; die im Text folgende Tabelle 1 wurde zusammengestellt nach Reekers, S. 152f. u. 173 sowie Simonetti, S. 132f. 5 Zu den Gründen vgl. Biller, S. 43ff.; Adelmann, S. 101-115 und Reekers, S. 124f. 6 Zur Auswirkung dieser Entwicklung auf die ländliche Sozialstruktur im ausgehenden Ancien Régime vgl. die scharfsinnige Analyse der Verhältnisses von bäuerlicher und unterbäuerlicher Klasse in Minden-Ravensberg und Paderborn bei Mooser, sowie dessen hier nicht diskutierbare These, ,,die auf der familienwirtschaftlichen Produktionsweise (der ländlich-heimindustriellen Unterschicht, H . R.) aufbauende bäuerliche Agrarstruktur (seit dem 18. Jahrhundert) zum wichtigsten Differenzierungskriterium der sozialen Schichtung und ihrer Entwicklung" geworden, während das Verhältnis Grundherr/Bauer zunehmend weniger sozialstrukturell prägend wirkte, zu einer Art Steuerbeziehung erstarrte und gleichsam als Movens der Sozialstruktur zum Stillstand kam (Mooser, S. 11 f.). 7 Vgl. die Tabellen 4 u. 5 im Anhangs. 474 f. sowie Reekers, S. 168 u. 172; Biller, S. 65. Im Kreis Ahaus, einem Kreis mit außerordentlich hoher Webstuhldichte (64 Webstühle auf 1 ООО Personen), wuchs die Bevölkerung zwischen 1795 und 1858 um 56 %; im ehemaligen Amt Werne (preußischer Kreis Lüdinghausen), das mit 24 Webstühlen auf 1 ООО Personen eine relativ geringe Webstuhldichte aufwies, günstigen Boden und auch eine günstige Absatzlage für Agrarprodukte besaß, wuchs die Bevölkerung im selben Zeitraum um 50 %. 8 Vgl. Tabelle 6 im Anhang, S. 475. 9 Für den Kreis Tecklenburg vgl. die Darstellung von Gladen, S. 129ff. ; allgemein zu diesem Problem: Lütge, Geschichte, S. 236f. 555

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10 Vgl. Tabelle 7 im Anhang, S. 475. 11 Der Regierungsbezirk Münster verlor zwischen 1824 und 1848 durch Aus- und Abwanderung 10 %o, zwischen 1849 und 1866 36 %o und zwischen 1867 und 1885 18 %o seiner Bevölkerung. Der Anfang der Auswanderungsbewegung fällt in die Jahre nach 1832. Ihr Schwerpunkt lag in den wenig fruchtbaren Gegenden mit hoher Webstuhldichte, den Kreisen Ahaus, Steinfurt und Tecklenburg. Die Wanderungsrichtung verlagerte sich während dieses Zeitraums deutlich von der Auswanderung nach Übersee - im wesentlichen und mit deutlichem Höhepunkt zwischen 1843 bis 1847 ging die Auswanderung zunächst nach Nordamerika-zur Abwanderung in das sich nach 1850 außerordentlich schnell industrialisierende Ruhrgebiet (vgl. Adelmann, S. 121; Gladen, S. 70f.; Müller-Wille, S. 268f. und Müller, Auswanderer, S. 19-21 u. 46f.). 12 Vgl. Müller-Wille, S. 228 u. 249. 13 Zur Quellengrundlage vgl. Anm. 16, S. 503. 14 Jahre mit Mißernten waren vor allem: 1794/95; 1801/02, 1804/05, 1811/12, 1816/17, 1829/30 und 1846. 15 Vgl. zum folgenden Abel, Agrarkrisen, S. 210-225, Klatte, S. 15ff., Jacobs u. Richter, S. 31 ff. und Getreidepreise, S. 276ff. 16 Vgl. Hanschmidt, S. 119; zur Neuorientierung der Landwirtschaft in Europa insgesamt vgl. Abel, Agrarkrisen, S. 150 und Abel, Geschichte, S. 253ff. 17 Lülff, S. 59 u. 125; Rothert III, S. 325f.; neben der Markenteilungsordnung gehören die Eigentums- und die Erbpachtordnung von 1770 bzw. 1783 sowie die Einrichtung einer Feuerversicherung für Bauerngüter während der achtziger Jahre in den Umkreis der Reformen v. Fürstenbergs auf dem Agrarsektor. 18 Philippi, S. 23f. 19 Haselhoff/Breme, S. 67; Lappe, Freiherr v. Stein, S. 108; Gruner, S. 169. 20 Vgl. Ditt, S. 5. 21 STAM, Mstrsche Ritterschaft, Prot. 1795., Nr. 31; Prot. v. 9. 4. 1795; auch Hüffer sprach von einer deutlichen Verbesserung der Lage der Bauern unter v. Fürstenberg (Steffens, Hüffer, S. 50). 22 Zusammenstellung von statistischen Angaben in STAM, F O T 361/1 (Statistique du Grand-Duché de Berg 1810), Gladen, S. 15; Meitzen IV, S. 86-89 und König, S. 40. 23 Zu solchen Konflikten vgl. Scharpwinkel, S. 114, Kiessing, S. 3 3 , 4 1 - 4 4 , STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 2032 u. 15854, den Brief des Jobst E. v. Twickel an seinen Neffen Clemens II August am 7. 12. 1781, (Archiv v.Twickel-Havixbeck IG 239 c), den Brief Clemens II August V. Twickel vom25. 8. 1787 anseinenSchwager V. Droste-Sendenca. 1775:,,. . . inzwei Kreisen will kein Bauer was arbeiten" (ebd., IG 238); STAM, Fstntm Mstr, Edikte, Nr. 1 939 (Verbot an die Grundherrn, den Bauern willkürliche Spanndienste aufzuerlegen) und STAM, Mstrsche Ritterschaft, Prot. 1769, Nr. 146/6. In einem Fall haben 32 Nordkirchener Bauern sogar von 1799 bis ca. 1810 ohne Unterbrechung die Dienste verweigert (Keimer, S. 88f.). 24 Vgl. Scharpwinkel, S. 47; Kiessing, S. 34 und STAM, Mstrsche Ritterschaft, Prot. 1796, Nr. 146,6. 25 Vgl. Kiessing, S. 48f. und Walter, S. 20. 26 Vgl. dazu STAM, Fstntm Mstr, Mstrsche Ritterschaft, Prot. 1796, Nr. 146/6, Scharpwinkel, S. 153, Wüüner, S. 3 9 f . ; vgl. auch die Beurteilung der Eigentumsordnung als Gesetz des Adels gegen die Bauern bei Gruner, S. 149. 27 Vgl. Kiessing, S. 13 u. 35; Scharpwinkel, S. 3 9 f . ; Steffens, Hüffer, S. 171, Anm. 19; Welter, S. 39 und Hanschmidt S. 122f. 28 Vgl. dazu Kiessing, S. 46. 29 1828 zählte man im Regierungsbezirk Münster 3353 Hollandgänger; 1398 (42 %) diese Wanderarbeiter kamen aus dem Kreise Tecklenburg, in dem Kleinbesitz und Heimgewerbe besonders stark waren ; die Hollandgänger verdienten in 2 Monaten 40 bis 70 Tir, von denen sie und ihre Familien den größten Teil des Jahres leben konnten (Gladen, S. 69f.).

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30 Archiv V. Droste-Hülshoff, Akten, Paket III. 31 Paul Joseph v. Landsberg-Velen (1791) und sein Sohn Ignaz (1818) ließen sich z. B. von ihren Rentmeistern die Leistungen der Nebenbetriebe in Dreißig-Jahresdurchschnitten nachweisen; letzterer stellte aufgrund der Zahlen den Betrieb mehrerer Mühlen ein (STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 14416 u. 3231). 32 Vgl. dazu z. B. in Gegenüberstellung die Hausordnungen im Archiv v. Landsberg-Velen aus den Jahren 1665 und 1796 (STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 6580 u. 9566). Ein Betriebsplan findet sich z. B. im Archiv v. Landsberg-Velen für das Jahr 1811 (STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 3231). 33 Als Beispiel für den neuen Typus des selbstwirtschaftenden Stammherrn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Clemens III Carl v. Twickel in dem Briefwechsel mit seinem Bruder Ferdinand, Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 266. 34 Vgl. zu diesem von den Bauern unterstützten Konzept die Prüfungsarbeit des späteren Landrats Heinrich v. Droste-Hülshoff aus dem Jahre 1865 (Archiv v. Droste-Hülshoff, Paket XXI). 35 V. Stein, Briefe, Bd. VII ¡Denkschrift vom 8 . 4 . 1 8 3 1 über das Verhältnis der Rittergüter zu den Landgemeinden. 36 Vgl. Tabelle 8 im Anhnag, S. 476. 37 Nach Koselleck, Preußen, S. 674 f. besaßen die Vertreter des 2. Standes im Regierungsbezirk Münster 6 %, Minden 12 % , Arnsberg 9 % des landwirtschaftlich genutzten Bodens. In den östlichen Provinzen war dieser Anteil wesendich größer: Am höchsten war er im pommerschen Regierungsbezirk Köslin mit 69 % ; der pommersche Kreis Stettin kam auf 56 %, der ostpreußische Kreis Königsberg auf 35 % ; die Angaben von Hüffer in: Steffens, Hüffer, S. 122. Ein Versuch, differenziert nach fruchtbarem und weniger fruchtbarem Boden für 1825 durchschnittliche Hofgrößen der verschiedenen Kategorien bäuerlichen Grundbesitzes zu errechnen, findet sich bei Schepers, S. 92. Die Größe eines mittleren Bauernhofes im Münsterland betrug 1858, also nach der Markenteilung, ca. 100-200 Morgen (vgl. Meitzen IV, S. 492f.). Nach den von Schepers errechneten Daten wird damit im wesentlichen die Gruppe der Halb- und Vollerben erfaßt. 1865 schrieb der künftige Landrat Heinrich v. Droste-Hülshoff, die bäuerhche Besitzstruktur beschreibend: ,,Im Regierungsbezirk Münster ist der größte Theil des Grundbesitzes in den Händen der mittleren Grundbesitzer, der sogenannten Bauern. Im Allgemeinen versteht man hier unter bäuerlichen Besitzungen solche, die wenigstens 2 Pferde Spannkraft haben . . . Ihre Größe ist sehr verschieden und variiert von 50-500 Morgen und darüber. Der bei meisten größere Theil derselben umfaßt indessen ein Areal von 100-200 Morgen, in dem in der Regel alle Kulturarten venreten sind." (Archiv v. Droste-Hülshoff, Landratsprüfung, Paket X X I ) . 38 Grundlage dieses Schaubildes sind die Angaben über Fideikommißgründungen innerhalb der Provinz Westfalen in STAM, Oberlandesgericht Hamm, Nr. 231. 39 Die Fideikommisse, die vor der Zeit des Großherzogtums Berg bestanden hatten, wurden am 23. 3. 1828 zwar wiederhergestellt, mußten aber ins Hypothekenbuch eingetragen werden. Viele Stammherrn scheuten die erheblichen Kosten und unterließen die Eintragung. Vom 30. 4. 1831 bis zum 30. 4. 1834 wurde für diese Fälle Steuerfreiheit bei der Eintragung gewährt; zugleich beharrte die Provinzialbürokratie aber auf strengster Anwendung formalrechtlicher Kriterien, so daß auch jetzt viele Güter nicht zur Eintragung kamen (Landschaftsverband A l l , Nr. 196; STAM, Oberpäsidium B , Nr. 487). 1848 wurden die Fideikommisse aufgehoben; 1851 jedoch wieder erlaubt. 40 Neben einer aus verschiedensten Quellen zusammengestellten Rittergutskartei wurden für die folgende Zusammenstellung als Quellengrundlage vor allem verwandt: STAM, Oberpräsidium B, Nr. 392 u. 5413; Archiv V. Korff-Harkotten, lEc, 14. Bd. und Archiv v. Droste- Hülshoff, Nachträge, Paket 47. 41 Daß diese Zahl eine außerordentlich große Besitzstabilität kennzeichnet, wird deutlich im

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Vergleich mit Zahlenangaben über die Besitzwechsel von Rittergütern in anderen Kreisen und Provinzen; vgl. dazu Tabelle 9 Im Anhang, S. 477. 42 Vgl. Tabelle 10 im Anhang, S. 478. 43 Eine der reichsten münsterländischen Adelsfamilien, die Familie v. Droste-Vischering, besaß z . B . um 1800 ca. 1 500 Kolonate (Keimer, S. 74); der Uminteφretation des adligen Obereigentums in Individualeigentum hatte der von Frankreich und Preußen anerkannte Entschädigungsgrundsatz Vorschub geleistet. 44 Testament des Friedrich Anton v. Korff vom 29. 1. 1827 (Archiv v. Korff-Harkotten I F h l , 26. Bd.). 45 Vgl. dazu die Eingabe der münsterschen Grundherren vom 8. 2. 1809 an die Regierung des Großherzogtums Berg (HSTAD, Grhzgtm Berg, Nr. 6315) und den Brief des Ministers Beugnot an August Ferdinand v. Merveldt vom 1.6. 46 Vgl. dazu für den landsässigen Adel und die Standesherrn Süd- und Westdeutschlands allgemein Winkel, S. 91 ; auch die Generalkommission achtete darauf, daß die Ablösungskapitalien für Bauerngüter, die zum Fideikommiß gehörten, wieder dem Gesamtfideikommiß zugeführt wurden (Pfeffer v. Salomon, S. 363). 47 Zu den extrem hohen Landpreisen im Regierungsbezirk Münster zu Anfang der sechziger Jahre vgl. die Äußerungen des angehenden Landrats Heinrich v. Droste-Hülshoff, der 1865 versicherte, durchschnittlich könne der Käufer deshalb jährlich nur 2 % des Kaufpreises erwirtschaften (Archiv v. Droste-Hülshoff, Landratsprüfung, Paket X X I ) . 48 Von 181 zum ehemaligen Damenstift N o t t u b gehörigenParzellen wurden 111 von Angehörigen des städtischen Gewerbes und Handwerks, darunter 38 Weber aus Nottuln, gekauft; die anderen Käufer waren 11 größere Kaufleute, 9 Kolonen, 9 Beamte und 4 Geistliche; bei 37 Käufern fehlte die Berufsangabe. Das reiche münstersche Bürgertum kaufte in französischer Zeit große Mengen von Säkularisationsgut, obwohl jede dieser Familien seit Generationen ihre Kinder in großer Zahl zu Geistlichen bestimmt hatte. Angehörige des stiftsfähigen Adels traten nur vereinzelt als Käufer eines Gartens oder einer Wiese auf. Eine Ausnahme scheint der Graf Galen gewesen zu sein, dessen Verwalter Sandfort, wahrscheinlich mit dem Geld seines Herrn, eine Vielzahl von Landstücken, die innerhalb oder in der Nähe Münsters lagen, aufkaufte. Auch der alte, nicht stiftsfähige Adel ist zahlreich unter den Käufern des Säkularisationsgutes vertreten (vgl. STAM, Kaiserreich Frankreich B, Nr. 90 und Lahrkamp, Münster, S. 396 ff.). 49 Von 73 zwischen 1812 und 1814 verkauften Zeitpacht-Kolonaten erwarben in 19 Fällen die Pächter selbst ihr Gut zu vollem Eigentum ; 12mal kauften Beamte ein Bauerngut, 7mal Kaufleute; die restlichen Käufer, deren Beruf nicht angegeben wurde, wohnten in Städten oder Wigbolden. Beim Verkauf großen Domänengutes (über 100 R T Grundsteuer) erwarben im Regierungsbezirk Münster bis 1824 19 Schulten und 7 Kolonen ihr Gut zu Eigentum; nur drei Bauerngüter wurden von Stadtbürgern aufgekauft (STAM, Kaiserreich Frankreich B, Nr. 90). 50 Die Eigenwirtschaft des ehemaligen Damenstifts Freckenhorst wurde Ende der zwanziger Jahre von einem englischen Oberst namens Zühlke erworben; von ihm kaufte es 1842 der Landrat Carl V. Merveldt; die Eigenwirtschaft des Klosters Marienfeld ging Ende der zwanziger Jahre an den Gutsbesitzer Tenge; von ihm erwarb es 1847 August v. Korff; das Kloster Liesborn ging 1828 an den Herzog von Croy. Im Regierungsbezirk Minden kauften schon unmittelbar nach 1815 die stiftsfähigen Adelsfamilien v. Brenken, v. Spiegel, v. Bocholz, v. Schlottheim Hovesaaten von Klöstern auf; im Regierungsbezirk Arnsberg gilt dasselbe für den Freiherrn v. Fürstenberg (STAM, Oberpräsidium B, Nr. 392 u. Nr. 541). 51 Der Freiherr v. Landsberg-Velen kaufte 1822/23 die Herrschaften Gemen und Raesfeld; 1832 erwarb er das Haus Dankern im Papenburger Land. Über den Freiherrn Friedrich Leopold V. Fürstenberg, der 1792 den Familienbesitz übernahm, heißt es in einem ,Charakterbild", welches ein Nachfahre entwarf:,,Durch strengste Sparsamkeit und intensivste Ausnutzung aller Ertragsmöglichkeiten konnte er, unter kluger Ausnutzung der einreißenden Landentwertung, zu umfangreichen Ankäufen schreiten, und nicht nur das Hauptfideikommiß bedeutend vergrö-

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ßern, sondern auch für seine nachgeborenen Söhne 6 neue Fideikommisse von ansehnlicher Größe in Westfalen und am Rhein stiften. Dabei brachte er es fertig in der Zeit drückender Steuern und Contributionen und allgemeiner Geldknappheit der,Geldgeber' des westfälischen Landes und Adels zu sein." (v. Fürstenberg, Charakterbilder, S. 803). 52 Vgl. dazu die Angaben für den Kreis Tecklenburg bei Gladen, S. 134, der auch den Ausdruck ,,Landhunger" verwendet. 53 Vgl. Steffens, Hüffer, S. 459f. 54 Vgl. z. B. die Argumentation im Bericht des Land- und Stadtgerichtes Dorsten in Antwort auf eine Anfrage des Oberlandesgerichts über den Ankauf von Bauerngütern durch den Adel. Es sei nicht einzusehen, heißt es dort, ,,weshalb nicht adliche Gutsbesitzer ebenso gut wie jeder Dritte, in die freie Konkurrenz hätten eintreten sollen, welche durch die öffendiche Subhastation sich eröffnet. Seidem der Bauer Eigenthümer seines Gutes ist, bleiben solche Subhastationen auch auf Ansuchen von Gläubigern nicht aus" ; die Konkurrenz des Adels bei Versteigerungen habe den Preis gehoben, so daß die Auswanderer froh über jene Verkäufe wären, in dem ohne den adligen Gutsbesitzer es vielleicht an aller Konkurrenz gefehlt haben würde; die Konkurse und Versteigerungen seien ,,Erscheinungen veränderter Rechtsverhältnisse" (STAM, Oberlandesgericht Münster I, Nr. 2). 55 Die adligen Gutsbesitzer liehen ihren stark verschuldeten Bauern Geld, ließen Pachtrückstände von mehreren Jahren aufkommen und forderten plötzlich die Gesamtsumme der ausstehenden Gelder zurück; da der Bauer nicht zahlen konnte, wurde die Schuld als Hypothek auf sein Gut eingetragen. Nach einer Wiederholung dieses Vorganges in den folgenden Jahren kam es schließlich zum Konkurs des Bauern, bei dem der Adel als Hauptgläubiger das meiste bot und das Bauerngut erwarb; als Beispiel für ein solches Verfahren vgl. den Briefwechsel zwischen Clemens ΙΠ. Carl v. Twickel mit seinem Bruder Ferdinand in den vierziger Jahren (Archiv v. Twickel- Havixbeck IG 266). Daß dieses Verfahren häufig war, wird daran deutlich, daß das Land- und Stadtgericht Steinfurt in ihrem Bericht von 1844 an das Oberlandesgericht bemerkte, die Witwe v. Buchholz auf Haus Welbergen scheine Ankäufe von Kolonaten zu planen, da sie zahlreiche Kapitalien auf die in der Nähe ihres Gutes gelegenen Bauernhöfe ausleihe (STAM, Oberlandesgericht Münster I, Nr. 2). Auch die Herausgeber des ,,Westphälischen Dampfboots" (Jg. 3, 1847, S. 599 ff.) kritisierten das Verfahren des Adels und wiesen darauf hin, daß einem Freiherrn des Münsterlandes sogar vom König verboten worden sei, in Westfalen weitere Güter anzukaufen; der Verfasser verwies auf Harkort, der anläßlich der Verhandlungen über ein Landkaufverbot für Juden gesagt habe ,,es seien nicht die mosaischen Juden, welche den Bauern ruinierten, sondern die Juden mit den Sporen am Stiefel . . ."; das Verbot solle nur dazu beitragen, , ,daß den Güterkäufen des Adels keine Hindernisse durch die Juden in den Weg gelegt werden sollten". Der Abgeordnete Hüffer stellte am 4. 3. 1837 die Anträge, dem Adel zu verbieten, (a) Kolonate zu Kaufen, die in den letzten 5 Jahren zu seinem gutsherrlichen Verband gehört hätten und (b) angekaufte Kolonate zu schon bestehenden Fideikommissen zu schlagen (Steffens, Hüffer, S. 141 f. u. 465). Der Leiter des Justiz- und Verfassungsausschusses, der vom Vorwurf des Bauernlegens am stärksten betroffene Graf Galen, verzögerte die Behandlung der Anträge in diesem Ausschuß um mehrere Jahre. 56 STAM, OLG Münster L Nr. 2. Nach den Berichten der einzelnen Land- und Stadtgerichte hatte der Adel im Regierungsbezirk bis 1844 mindestens 124 Kolonate an sich gebracht. 57 Vgl. Tabelle 7 im Anhang, S. 475; nach Gladen, S. 132 betrieben die Kleinstellenbesitzer als erste eine intensivierte Landwirtschaft; da sie aber meist nicht den finanziellen Spielraum besaßen, um die Erfolge ihrer Bemühungen um Kultivierung gekauften bzw. zugekauften Markenlandes abzuwarten, verloren viele dieser Familien wieder ihre Selbständigkeit. 58 Vgl.Tabelle 11 im Anhang, S.479; zu den Angaben über die Anschaffungspolitik der einzelnen Familien vgl. STAM, O L G Münster I, nr. 2 ; Archiv v. Merveldt, Nachlaß Ferdinand Anton V. Merveldt, Vol. XI ; Nachlaß Carl Hubert v. Merveldt, Vol. I u. Nachlaß Ferdinand Anton

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II. V. Merveldt Vol. I; Archiv v. Nagel-Vornholz A la 178, Archiv ν. Twickel-Havixbeck I G 266. 59 Der Kreis Steinfurt umfaßte 77044 ha landwirtschaftlich genutztes bzw. nutzbares Land; davon waren 35154 ha (45,6 %) Markenland (Lülff, S. 35). Die größte Mark war 10400 Morgen groß und auf 561 Berechtigte aufzuteilen; 8 adlige Grundherren erhielten je 54 Morgen (Lülff, S. 138ff., 142 u. 218). 60 V. Bruch, Rittersitze S. 158; nach Homberg, Wirtschaftsgeschichte, S. 133 gewann der adlige Grundherr oft die Hälfte der zu teilenden Marken. Vgl. auch die statistischen Angaben bei Haselhoff u. Breme, S. 70 und Tabelle 7 im Anhang, S. 475. 61 Unter anderem die Famihe v. Graes, vgl. STAM, Archiv Haus Diepenbrock IV, Nr. 85, Bd. 3 (Briefe des Advokaten Giese an die Freifrau v. Graes; besonders der Brief vom 11. 12. 1852). 62 Vgl. dazu z . B . die Tagebücher des August v. Korff und seines Sohnes Max (Archiv v. Korff-Harkotten I F i, 29. Bd. und Kladde; Max v. Korff, Aufzeichnungen aus meinem Leben). 63 Zur Quellengrundlage vgl. Anm. 16, S. 503. 64 Vgl. hierzu das Schaubild 1, S. 65. 65 Neben den Familien v. Ascheberg und v. Heyden bezogen vor allem die Familien v. Graes, V. Wenge und v. Landsberg-Velen Einkommen aus Industriebetrieben. Die v. Graes besaßen Anteile an einer Eisenhütte in Bocholt; ein Domherr v. Wenge hatte am Ende des 18. Jahrhunderts mit Unterstützung von v. Graes eine Eisenhütte in Sterkrade gegründet, aus der sich später die Gute-Hoffnungs-Hütte entwickeln sollte; der Freiherr v. Landsberg-Velen besaß von Landsberger Seite umfangreiche Industriebetriebe, die Eisen und Chemikalien produzierten; von Velenscher Seite waren ihm der Besitz der Papenburger Seeschiffahrt und eine Saline zugefallen (vgl. Wolf, S. 115 f.). Mit diesen Industriebetrieben, die er aber nicht selbst leitete, sondern nur kontrollierte - er wohnte im Münsterland, weit entfernt von seinen Fabriken - war v. Landsberg-Velen innerhalb des münsterschen, aber nicht innerhalb des sauerländischen Adels ein Einzelfall. 66 Vgl. Archiv V. Plettenberg-Hovestadt D VII d 9405. 67 Knops, S. 27 u. 65; das Gesetz zur Aufhebung der Leibeigenschaft im Großherzogtum Berg wurde am 12. 12. 1808 erlassen. Die auf dem Gut lastenden unregelmäßig zu leistenden sogenannten Himmelsgefälle wie Gewinn-, Auffahrts- und Heimfallgelder sollten, wenn eine gütlich Einigung in drei Monaten nicht zustande kam, durch eine nach Größe des Hofes gestufte Mehrpacht von einem Zehntel bis zu einem Achtel des jährlichen Pachtbetrages in acht bzw. zehn Jahren abgelöst werden. Die regelmäßigen Abgaben waren zum fünfundzwanzigfachen (Naturalabgaben) bzw. zwanzigfachen Betrag (Geldabgaben) ihres Durchschnitts während der letzten dreißig Jahre ablösbar (Knops, S. 25f.; Homberg, Wirtschaftsgeschichte, S. 136). Das Bauerngut sollte, so lange die Ablösungsgelder noch nicht gezahlt waren, zum Schutz der Ansprüche des Grundherrn nicht unter zehn Morgen zersplittert werden. Das Gesetz von 1811 schrieb die integrierte Ablösung aller Abgaben vor. 68 Vgl. Knops, S. 46ff. u. 56; Keimer, S. 47 u. Fehrenbach, S. 100. In der münsterschen Eigentumsordnung waren die Hand- und Spanndienste ausdrücklich aispersönliche Dienste aufgefaßt; für die Gerichte war aber die Tatsache, daß die Dienste in die vor Vergabe des Gutes aufgestellten Gewinnbriefe aufgenommen worden waren, zumeist ein beweiskräftigeres Indiz für die sachliche Begründung der Dienstpflicht; in eben diesem Sinne wurde auch die Tatsache, daß die Dienste zum größten Teil in Geld umgewandelt worden waren, gedeutet (vgl. Schotte, S. 94 u. 99). 69 Vgl. STAM, Landratsamt Warendorf, Nr. 392 und Keimer, S. 76ff.; die Bauern, die einst nur zum Großherzogtum Berg gehörten, für das eine entschädigungslose Aufhebung der Dienste vermutet wurde, brauchten keine Rückstände zu zahlen, sollten aber, wie alle Bauern der Provinz, die Dienste ablösen. 70 Vgl. V. Stein an v. Romberg, am 4. 12. 1826. (v. Stein, Briefe, Bd. VII).

560

Anmerkungen

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233-236

71 Vgl. Knops, S. 102ff.; Keimer, S. 48; zu den Ablösungsgesetzen der Provinz Westfalen vgl. GS 1820, S. 199ff.; GS 1825, S 73ff., GS 1829, S. 65ff. und Koch S. 133ff. Bis weit in die dreißiger Jahre haben immer wieder Abgeordnete des 3. und 4. Standes auf Wiedereinführung des Fünftelabzugs bestanden, jedoch ohne Erfolg. Der Adel argumentierte, die Abgaben der Bauern seien einst allgemein unter Berücksichtigung der Steuerlast ihres Hofes festgelegt worden; die Einkünfte des Adels aus den Bauerngütern seien somit den auch unter preußischer Herrschaft grundsteuerfreien Einkünften des Adels aus der Zeitpacht vergleichbar (Landschaftsverband A II, Nr. 32). 72 Vgl. hierzu Berding, S. 97-100; Knops, S. lOOf.; Fehrenbach, S. 37. 73 Vgl. dazu die Statistiken über die Tätigkeit der Provinzialhilfskasse im Archiv v. DrosteHülshoff, Mappe: Provinzialhilfskasse und bei Trende, S. 305. 74 Vgl. hierzu die auf das Gesetz von 1820 und das geplante von 1825 bezogenen Denkschriften des Adels im STA Detmold, M.2 Büren, Nr. 410 und im Stam, Archiv v. Romberg B, Nr. 166. Die Landablösung war durch die Gesetze von 1825 und 1829 zwar nicht verboten, aber nur unter vielen restriktiven, v. a. die Hofgröße betreffenden Bedingungen erlaubt, und wurde von der Provinzialbürokratie und der Generalkommission, die beide die Interessen des Bauern gegen die Adelsforderungen vertraten, wie auch vom 3. und 4. Stand auf dem Provinziallandtag abgelehnt. Der Freiherr v. Stein, der mit seinen Bauern privat eine Landentschädigung vereinbarte, hat diese Lösung zu Lebzeiten, trotz heftigster Protestbriefe, die er nach Berlin sandte, nicht durchsetzen können (vgl. Keimer, S. 72-78). Zu den bäuerlichen Landverlusten infolge der Landentschädigung als Normalform der Ablösung in den ostelbischen Provinzen vgl. Lütge, Auswirkungen, S. 205ff. und v.d. Goltz, S. 58ff. 75 Diese Ratenzahlungen - der Mindestsatz einer Rate war 100 R T - waren ein weiterer Grund dafür, daß der Adel - besorgt um die Zahlungsfähigkeit der im Ablösungsvorgang stehenden Bauern - gegen eine Erbteilung oder Zersplitterung der Bauernhöfe kämpfte; durch die zahlreichen Konkurse von Bauerngütern in den zwanziger und dreißiger Jahren sind ihm auch ohne Zweifel Verluste an Ablösungskapitalien entstanden. Nach dem Gesetz von 1829 konnte der Grundherr gegen eine Zersplitterung des Kolonates Einspruch erheben. 76 V. Steinanv. Merveldtam5.12.1826 (v. Stein, Briefe, Bd. VII); vgl. hierzu und zur ebenso überspannten Forderung des Adels hinsichdich des Heimfalls (5 % des Hofwerts): Landschaftsverband A III 1, Nr. 2. 77 V. Stein, Briefe, Bd. VII; der Adel setzte durch, daß die Dienste, wenn er provozierte, zum fünfundzwanzigfachen Betrag des Durchschnittspreises der Dienste zwischen 1798 und 1808, wenn aber der Bauer provozierte, nach dem wahren, an den Tagelohnsätzen orientierten Wert abgelöst werden mußten; diese Regelung hielt den Bauer im starkem Maße davon ab, die Dienste abzulösen (Keimer, S. 87f. u. 94). v. Stein kritisiene auch die Forderung des Adels nach einer Ablösung des Heimalls zu 2 % als ,,sehr viel": ,,Wer würde für ein zu allodifizierendes Lehen, wo der Lehensfall nicht nahe ist, 2 % zahlen?" 1850 wurde der Heimfall ohne Entschädigung aufgehoben (Keimer, S. 99). 78 Vgl. dazu die Tabellen 12 u. 13 im Anhang, S. 479f. 79 Die Rentenbank vergab an den Grundherrn Rentenbriefe in Höhe des Ablösungskapitals, die an den Börsen gehandelt wurden und vom Adel in Kapitalien umgewandelt werden konnten. Der Bauer zahlte 41 oder 56 Jahre einen durch Amortisationszuschläge erhöhten Zinssatz. 80 Zum Holzverkauf als Mittel schneller Bargeldbeschaffung vgl. z. B. den Briefwechsel zwischen den Brüdern v. Twickel in den vierziger Jahren (Archiv v. Twickel-Havixbeck I G 266). 81 Vgl. Keimer, S. 76ff. und v. Merveldt, Abdruck, S. Vff. 82 Vgl. zu diesem Mindesteinkommen den Brief Annette v. Droste-Hülshoff an ihre Mutter vom 1. 8. 1838 (Annette v. D . - H . , Briefe Bd. 1). 83 Vgl. dazu die Steuerlisten der Jahre 1756 bis 1763 in STAM, Fstntm Mstr., Mstrsche Ritterschaft, Nr. 95-102. 84 Um sich diese Steuerquelle zu erschließen, hatte der preußische Staat die von den Franzo-

561 36

Reif, Adel

Anmerkungen

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237-242

sen verfügte Aufhebung der Lehngüter am 21. 4. 1825 wieder rückgängig gemacht. Die Forderung nach einer rückwirkenden Zahlung dieses Allodifikationszinses seit 1809 wurde für das Rheinland, nicht aber für Westfalen, nach Protesten der adligen Grundbesitzer wieder aufgegeben. 1850 wurde sie endgültig aufgehoben (Landschaftsverband A Π, Nr. 196). 85 Insgesamt gerieten in den zwanziger Jahren im Regierungsbezirk Münster sieben Rittergüter in Konkurs; davon gehörten aber nur zwei, das Haus Nottbeck des Landsrats v. Oer und das Haus Langewiesche des Freiherrn v. Elmendorf, dem ehemals stiftsfähigen Adel, eines gehörte dem protestantischen Freiherrn v. Blomberg und vier bürgerlichen Besitzern. (STAM, Oberpräsidium B, Nr. 392). 86 Vgl. Tabelle 9 im Anhang, S. 477. 87 Franz v. Droste-Vischering an Dina ν. Plettenberg-Lenhausen am 9. 7. 1824 (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D II f 18). 88 Zu den münsterschen Privatbanken vgl. Bömer, S. 12 f. ; der Adel arbeitete vor allem mit der Bank Lindenkampf & Olfers. Die Provinzialhilfskasse vergab ihre Gelder nur zu spezifischen, dem Allgemeinwohl dienenden Zwecken; der Adel hat nicht um Kredite bei dieser Kasse nachgesucht (vgl. Trende, S. 305). 89 Vgl. z. B. Archiv v. Merveldt, Nachlaß Carl v. Merveldt, Vol. I: Carl v. Merveldt kaufte allein zwischen 1853 und 1859 neben verschiedenen einzelnen Grundstücken 12 Kolonate. 90 Vgl. dazu die Unterlagen zur Beteiligung des Adels an verschiedenen Bergwerksgründungen während der fünfziger und sechziger Jahre im Archiv v. Droste-Hülshoff, Paket V, 7. 91 Florschütz, S. 52. III. D. 1 Familienstruktur

im

Wandel

1 Die für die Zeitphase von 1720 bis 1744 ermittelten Daten erfassen den damaligen Personenbestand der untersuchten Familien, wegen der Lückenhaftigkeit des durchgearbeiteten genealogischen Materials, nur zu etwa 70 bis 80 % ; für die weiteren zwei Phasen kann dagegen von einem weitgehend vollständigen Datenmaterial ausgegangen werden. Daß fast ausschließlich Katholiken geheiratet wurden, ist bei dieser Gruppe nach 1700 nahezu selbstverständlich. 2 Die eheliche Partnerwahl, aber auch andere Elemente des Heiratsverhaltens waren in den meisten sozialen Schichten der vorindustriellen Gesellschaft regional bestimmt; am ehesten war noch der Adel dazu in der Lage solche regionalen Heiratsmuster aufzubrechen (Eversiey, S. 40). 3 Der zahlenmäßige Anstieg der Heiraten nachgeborener Söhne wird in anderem Zusammenhang, unten S. 248f., an einer eigenen Tabelle dargelegt und interpretiert. 4 Mitterauer, Frage, S. 187, vergleicht nur die Heiratsquote derBrüder insgesamt mit der der Schwestern; aber der älteste Bruder und zukünftige Stammherr mußte auf jeden Fall heiraten; sinnvoller ist es, die Heiraten der nachgeborenen Söhne und der Töchter zu vergleichen, da beide zu den reduzierbaren Kostenfaktoren zählten. Forster, S. 128 hat vier Generationen des Adels von Toulouse, die in der Zeit von 1670 bis 1790 gelebt haben, untersucht. Seine Zahlen geben für den Adel dieser französischen Region bezüglich des Heiratsverhaltens ähnliche Verhältnisse wie im Münsterland wieder: Von 122 nachgeborenen Söhnen gingen 21 in den Kirchendienst und 32 starben unverheiratet; insgesamt verblieben also 53 in zölibatärer Existenz. 69 Söhne, in dieser Zahl sind die ältesten Söhne enthalten, heirateten. Nach Abzug der ältesten Söhne von dieser Zahl ergibt sich, daß maximal ein jüngerer Sohn einer Familie innerhalb von vier Generationen heiratete; insofern waren die Ehechancen für nachgeborene Söhne in diesem Adel noch schlechter als im Münsterland. Dagegen stimmen die Daten für die Töchter weitgehend überein: von 132 Töchtern gingen 27 in den Kirchendienst, 40 heirateten nicht, d.h. 67 von ihnen blieben ohne Ehe; es heirateten 65, das waren normalerweise eine, maximal aber zwei Töchter, die pro Generation innerhalb einer Familie heirateten. Forster faßt das Ergebnis seiner Untersuchung des Heiratsverhaltens in dem Satz zusammen:,, Younger Sons did not marry; usually one daughter did." (Forster, S. 130; zu den vorher angegebenen Zahlen vgl. S. 128-130).

562

Anmerkungen

zu Seite 242-243

5 Zum Anstieg der absoluten Zahl der heiratenden Söhne und Töchter pro Familie, deren Ursachen und den Auswirkungen hinsichtlich der Belastung der Rittergüter mit Heirats-, Ausbildungs- und Abfindungskosten vgl. die Ausführungen S. 270ff. 6 Es sind die Stammherrnehen des münsterländischen Adels erfaßt und dazu die Ehen der Töchter des münsterländischen Adels mit Stammherrn aus dem stiftsfähigen westfälischen Adel; aber nur solche Ehen, für die vollständige Datenreihen über die Kinderfolge vorliegen. Die dadurch mögliche Erweiterung des Personenbestandes ist gerechtfenigt, da das Konnubium in dieser Zeit eine hinreichend sichere Grundlage abgibt, um auf ein dem münsterländischen Adel eng verwandtes generatives Verhalten zu schließen. 7 Unter Kindersterblichkeit wird hier die Sterblichkeit während und kurz nach der Geburt verstanden. Es wurden nur solche Familien in die Auswertung einbezogen, für die mit ziemlicher Sicherheit eine komplette Überlieferung, auch der totgeborenen Kinder, zu erarbeiten war. Normalerweise ist das genealogische Material für das 18. Jahrhundert, was die Erfassung der lebend geborenen Kinder betrifft, schon recht zuverlässig, während man für frühere Zeiten davon ausgehen muß, daß hier eine lückenhafte Überlieferung vorliegt und erst die Kinder, die über 15 Jahre alt geworden sind, besser erfaßt wurden (vgl. Greven, Family S. 237). So bezweifelt auch Köllmann, Materialien, S. 21 für das Deutsche Geschlechterbuch, daß für das 16. und 17. Jahrhundert totgeborene oder im Säuglingsalter verstorbene Kinder erfaßt sind; für das 18. Jahrhundert behauptet er dagegen einen hohen Vollständigkeitsgrad; ,,so daß demographische Untersuchungen in dieser Zeit ansetzen können, ohne daß befürchtet werden muß, ihre Ergebnisse seien wegen der Lücken- und Fehlerhaftigkeit des Materials nur Zufallsaussagen." Die Meinungen der historisch arbeitenden Demographen und der demographische Erkenntnisse in umfassendere Untersuchungen integrierenden Historiker über Grad und Entwicklung der Kindersterblichkeit in der vorindustriellen Zeit differieren stark, da nur für bestimmte Regionen genaue Datenreihen vorliegen, Wrigley, Family, S. 99f. vermutet eine Kindersterblichkeit von 30-50 % für Europa vor 1800; Shorter, Wandel, S. 286 nennt ebenfalls eine Kindersterblichkeit im weiteren Sinne (bis 21 Jahre) von 50 % und eine Kindersterblichkeit im engeren Sinne (Tod während oder kurz nach der Geburt) von 25-33 %. Dagegen weist Greven, Family, S. 237 für Neu-England von 1645-1660 die außerordentlich geringe Kindersterblichkeit i. w.S. (bis 21 Jahre) von 15,7 % · nach, gesteht aber eine Verzerrung seiner Zahlen durch lückenhaft überliefertes genealogisches Material ein. Ähnliche Widersprüche sind bei den Tendenzaussagen festzustellen: Shorter, Wandel, S. 278-285 sucht anhand ausgewählter Regionen eine ,,bedeutende" Verringerung der Kindersterblichkeit im 18. Jahrhundert für England, Frankreich und Skandinavien nachzuweisen; in Deutschland habe sich dagegen die Kindersterblichkeit in dieser Zeit noch erhöht. Im Gegensatz dazu nimmt Eversley, S. 49 u. 53 an, die Kindersterblichkeit sei bis um 1800 nahezu unverändert hoch gewesen. Es scheint, daß für generalisierende Aussagen über die Höhe der Kindersterblichkeit und über Trends in der Kindersterblichkeit für eine oder gar mehrere Länder die Materialgrundlage noch zu schmal ist. Wahrscheinlich ist bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in mitteleuropäischen Ländern mit regionalen, vor allem aber mit starken schichtspezifischen Britische Herzogsfamitien Geburtstag des Sterblichkeit Vaters der Kinder unter 15 ( % )

Europäische HerrscherfamiHen Heiratsdatum Sterbhchkeit der Ehern der Kinder unter 15 ( % )

Europäische Fürsienfamilíen Heiratsdatum Sterblichkeit der Eltern der Kinder bis И ( % )

1500-1599 1600-1699 1700-1799 1800-1849 1850-1899

1480-1679

31,1

1500-1699

34,1

1680-1779 1780-1829 1830-1879 1880-1934

21,1 15,9 7,7 5,3

1700-1799 1800-1849 1850-1899 1900-1930

32,3 21,3 9,0 3,5

-

28,8 37,2 33,6 21,1 11,2

Europ. Fürstenfamitien Sterblichkeit der Kinder bis 10 ( % )

-

563

Anmerkungen

zu Seite 243-244

Unterschieden zu rechnen. Für den Hochadel liegen mehrere zuverlässige Zahlenreihen vor; ihre Vergleichbarkeit wird allerdings dadurch erschwert, daß Kindersterblichkeit nahezu von jedem Verfasser- wenn überhaupt- anders definiert wird und weil die Untersuchungszeiträume zum Teil voneinander abweichen. Dennoch lohnt es sich, die Zahlen nebeneinander zu stellen. Die Tabelle beruht auf den Zahlenreihen von Hollingsworth, S. 323; Peller, S. 91-93 und Diepgen, S. 193 f. Ein spürbarer Rückgang der Kindersterblichkeit in den Fürstenfamilien ist erst für die Zeit um 1800 nachzuweisen, für das 18. Jahrhundert selbst ist ein langsamer Rückgang derselben zu vermuten. Ein völlig anderes Bild ergibt sich aber bei Betrachtung der Kindersterblichkeit in den britischen Herzogsfamilien: Hier sank die Kindersterblichkeit schon 100 Jahre früher. 8 Diese Schätzung weicht allerdings von den Angaben in Tabelle 12 ab; doch ist davon auszugehen, daß wegen der Lückenhaftigkeit des Materials, gerade in dieser Altersstufe, die dortigen Zahlen leicht verzerrt sind. 9 Eversley, S. 48 gibt ein Orientierungsdatum zur Beurteilung der Kinderzahl im münsterländischen Adel, wenn er schreibt: ,,5 births per marriage had been Standard practice in Western-Europe"; man kann, die Durchschnittsdaten in Anmerkung 11 vorausgesetzt, davon ausgehen, daß dann die Zahl der Überlebenden Kinder bei 2 bis 3 lag. Damit sind dann die Zahlen in der folgenden Tabelle 3 zu vergleichen, die zeigen, daß es berechtigt ist, von einer,hohen' Kinderzahl in den Stammherrnehen zu sprechen. 10 Wenn das konkrete Heiratsdatum fehlte, wurde das Datum der Ehepakten als Ersatzdatum herangezogen. 11 Die mittelalterhche Kirche bestimmte den Zeitpunkt der körperlichen Reife als unterste Grenze des Heiratsalters für den Knaben mit 14, für das Mädchen mit 12 Jahren (v. Guttenberg, S. 64 ; Leisching, S. 83). Ein Heiratsalter jenseits der von der Kirche vorgeschriebenen Grenzen ist als regelmäßige Gewohnheit nur für die dynastischen Erwägungen unterliegenden Fürstenhochzeiten nachzuweisen; im landsässigen Adel Westfalens kamen sie nur selten vor; hier wurde zumeist die von der Kirche festgesetzte untere Grenze eingehalten; doch sind Beispiele für eine Heirat in diesen Altersbereichen in früheren Jahrhunderten vielfältig nachweisbar (vgl. oben, Anm. 85, S. 520). Angesichts der frühen Heiraten noch im 15. Jahrhunden ist das hohe Heiratsalter im münsterländischen Adel des 18. Jahrhunderts ein erstaunliches Phänomen. Nach Hajnal, S. 134 liegen die Ursprünge dieses auch vom münsterländischen Adel praktizierten ,,european marriage pattern" (für Osteuropa gilt ein anderes Heiratsmuster mit wesentlich niedrigerem Heiratsalter), d. h. hohes Heiratsalter und ein außerordentlich großer Anteil von zölibatären Existenzen ,,somewhere about the sixteenth century in several of the special upper class groups available for study and in none of these groups was the pattern European before the sixteenth century . . (ebd., S. 101; vgl. hierzu die Tabelle S. 114). Hollingsworth, S. 364f. setzt den Ausgangspunkt der Entwicklung des europäischen Heiratsmusters sogar in das 14. Jahrhundert; er vermutet, daß vom 14. bis zum 18 Jahrundert das Heiratsalter sowohl der Männer als auch der Frauen in Europa fortwährend gestiegen ist, und zwar von ungefähr 22 auf 29 Jahre bei den Männern und von 17 auf 24 Jahre bei den Frauen. 12 Der Zusammenhang zwischen dem Heiratsalter der Frau und der Kinderzahl war auch im münsterländischen Adel durchaus bekannt; so schrieb z. B. Annette v. Droste-Hülshoff in einem Brief an Werner v. Haxthausen aus Appenburg am 9. (wahrscheinlich September 1839): ,,Es ist ein Glück, daß die Person nicht mit 15 Jahren verheiratet ist wie Frau von Stapel, sonst brächte sie es auch bis zu Nr. 22 . . (Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 1). Zu den frühen zwanziger Jahren der Frau als Phase der höchsten Fruchtbarkeit vgl. Wrigley, Family, S. 90 f. und Eversley, S. 40f.; für die Stammherrn war es allerdings schon recht riskant, eine über 35 Jahre alte Frau zu heiraten, zumal die katholische Kirche eine Scheidung, auch bei Kinderlosigkeit, nicht erlaubte. 13 Berücksichtigt sind also nur sogenannte,komplette Familien', d . h . solche, ,,die das gebärfähige Alter der Frau überdauern" (Köllmann, Materialien, S. 24).

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Anmerkungen

zu Seite 244-246

14 Nach Diepgen, S. 193 lag die hier am ehesten vergleichbare Unfruchtbarkeitsrate der Fürstenehen von 1700-1799 bei 27,3 %. 15 Nach Forster, S. 129 lauten die vergleichbaren Zahlen für die Familiengrößen des Adels von Toulouse: 1700-1730: 6,0 1730-1760: 4,0 1760-1790: 3,33; d. h. hier ging die Kinderzahl pro Familie nach 1730 spürbar zurück. Auch Peller, S. 99f. weist für europäische Fürstenfamilien nach, daß die Fruchtbarkeit der Ehen schon seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, also fast 200 Jahre vor einem kontinuierlichen Rückgang der allgemeinen und der Kindersterblichkeit in der Gesamtbevölkerung, absank. 16 Bei der Ermittlung der Geburtenabstände wurde in den Fällen, in denen ansonsten regelmäßige Zweijahresintervalle von einem doppelt so großen Intervall plötzlich unterbrochen wurde, eine Fehl- oder Totgeburt interpoliert; dieses ist ein in der historischen Demographie durchaus übliches Verfahren (vgl. z.B. Demos, Notes, S. 271). 17 Zum Selbststillen vgl. die Ausführungen S. 379 f. Wrigley u. a. haben nachgewiesen, daß in der Laktationsphase in der Regel eine neue Empfängnis ausgeschlossen ist. Der Streit, ob biologische oder kulturell-psychologische Gründe hierfür stärker maßgebend sind, kann hier unberücksichtigt bleiben. Für biologische Zusammenhänge sprechen sich Wrigley, Family, S. 100 und Eversley, S. 47 aus; gegen biologische Erklärungen argumentiert dagegen Demos, Notes, S. 271 ; dagegen ist der Zusammenhang von Laktation und Kontrazeption weitgehend anerkannt; vgl. Demos, Families, S. 45 u. 55f. 18 Nur dort, wo völlig sichere Zahlen auch über Fehl- und Totgeburten vorliegen, wäre die Frage nach den Formen geburtenkontrollierender Maßnahmen eindeutig zu entscheiden. Bei unserem zum Teil immer wieder einmal an einer Stelle lückenhaftem Material, das zudem noch umfangmäßig relativ begrenzt ist, lassen sich genauere und zuverlässigere Aussagen nicht machen. Lücken in einer Geburtenfolge werfen immer wieder die Frage auf, ob eine zeitweise durchgefühne Geburtenkontrolle oder aber Kindersterblichkeit die Ursache sind. Wir haben uns - in Übereinstimmung mit den meisten historischen Demographen - in einem solchen Fall für die Kindersterblichkeit entschieden; dennoch soll damit die Schwierigkeit, unabhängig von lückenlosem Datenmaterial eine ,normale' eheliche Fruchtbarkeit in vorindustrieller Zeit zu bestimmen, nicht verwischt werden; denn außer der Kindersterblichkeit können auch noch andere biologische Faktoren, z. B. die Abnahme sexueller Aktivität im Alter oder durch einen spezifischen Lebensstil hervorgerufene zeitweise Unfruchtbarkeit der Frau, für eine Lücke in der Geburtenfolge verantwortlich sein. 19 Auf Mackenroth fußend, hat Köllmann (vgl. z. B. Köllmann, Materialien, S. 23 u. 34) für die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine grundlegende Veränderung im generativen Verhalten der europäischen Bevölkerung behauptet. Danach bestand vorher die sogenannte , ,vorindustrielle Bevölkerungsweise", die gekennzeichnet war durch hohe inner eheliche Fruchtbarkeit als Äquivalent der hohen allgemeinen Sterblichkeit, vor allem aber der Kindersterblichkeit, durch die ,,Nahrung", d. h. ein sicheres und ausreichendes Einkommen, als Voraussetzung der Eheschließung und durch eine große Zahl zölibatärer Existenzen. Die Bevölkerung war zu dieser Zeit flexibel gegenüber den Veränderungen des Nahrungsspielraums, weil über Mechanismen sozialer Kontrolle die Zahl der Eheschließungen und über das Heiratsalter auch die Zahl der Kinder in Grenzen manipulierbar war (vgl. dazu auch Wrigley, Bevölkerungsstruktur, S. Π 6 f . , Camp, S. 129 f.; Eversley, S. 31 undMedick, Bevölkerungsentwicklung, S. 34f.). Auf eben diese Weise ersetzte man die außerordentlich hohen Bevölkerungsverluste infolge von Kriegen und Seuchen. Eine planvolle Beschränkung der ehelichen Fruchtbarkeit war noch nicht bekannt. Die ,,moderne Bevölkerungsweise" ist dagegen gekennzeichnet durch eine eingeschränkte, kontrollierte eheliche Fruchtbarkeit, niedrige allgemeine und Kindersterblichkeit, tendenziell konstante Heiratshäufigkeit und ein gleichbleibend niedriges Heiratsalter. Vor allem gegen das in den Be-

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Anmerkungen

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griff der vorindustriellen Bevölkerungsweise aufgenommene Element fehlender bewußter Geburtenbeschränkung der Eheleute ist, zuerst vorwiegend von englischen Demographen, Widerspruch erhoben worden (z.B. Wrigley, Bevölkerungsstruktur, S. 124ff.; zum folgenden vgl. auch Medick, Bevölkerungsentwicklung, S. 35f.). Im Vorwort Eversleys zu dem zusammen mit Glass herausgegebenen Sammelband ,,Population in History" heißt es, der von Malthus zuerst vorgestellte Mechanismus : Erweiterung des Nahrungsspielraums - mehr Ehen und frühere Heiraten - verstärktes Anwachsen der Bevölkerung - Überlastung des gegebenen Nahrungspotentials - Bevölkerungskrise, d . h . eine außerordentlich starke Dezimierung der Bevölkerung, die dann wieder durch frühere und häufigere Heiraten ausgeglichen wird, bräche zusammen, ,,when we can show that in fact, subsistence is only one of several variables to be considered in relation to the numbers of the people. This is what most of the contributions to this volume in fact do" (Eversley, S. 54). Über die von Eversley genannten Autoren des Sammelbands hinaus haben auch andere Demographen die bewußte Familienplanung in vorindustrieller Zeit nachgewiesen. So zeigt z.B. Camp, S. 128f., daß in Frankreich schon vor der Generation Ludwigs XVI. die Geburtenrate zu fallen begann. Wrigley, Family, S. 94-97 u. 107 hat anhand von ausgewählten englischen Regionen planvolle Maßnahmen zur Geburtenregulierung, teilweise in Unabhängigkeit von den Entwicklungen des Nahrungsspielraums, nachgewiesen. Für die europäischen Fürstenfamilien, für deren Heiratsverhalten der Malthus-Zirkel wohl nie Bedeutung besaß, ist von mehreren Autoren, u. a. von Peller (vgl. S. 99 f.), gezeigt worden, daß die eheliche Fruchtbarkeit seit dem Ende des 17. Jahrhunderts kontinuierlich zurückging. Im münsterländischen Adel verhielten sich die Stammherrn zum Teil in der von Mackenroth, Köllmann, u. a. geschilderten Weise; bei den Ehen der nachgeborenen Söhne, die nicht unter dem Stammherrnpostulat standen, ist dagegen schon um 1800 ein modernes, d . h . ein auf bewußte Reduzierung der innerehelichen Fruchtbarkeit gerichtetes generatives Verhalten festzustellen (vgl. hierzu die Ausführungen S. 247f.). Auch die oben dargestellte Forschungskontroverse angewandt, ergibt dieser Befund, daß mit Sicherheit in vorindustrieller Zeit schon Möglichkeiten zur bewußten Beschränkung der innerehelichen Fruchtbarkeit gegeben waren. Wie sie aber in einzelnen Regionen und sozialen Schichten im Zusammenspiel mit ökonomischem und sozialem Wandel zur Anwendung kamen, ist zunächst einmal in weiteren Regional- und Lokalstudien zu untersuchen. Sowohl hoch aggregierte Daten als auch die generalisierende Ausweitung der an Hand von Lokalstudien gewonnenen Ergebnisse auf ganze Länder oder gar auf Europa vermitteln nur in geringem Maße Erkenntnisse, weil die Ursachen für die Ausbildung eines modernen generativen Verhaltens vielfältig sind und j e nach Region in sehr verschiedener Weise zusammenwirken können. Ein Beispiel möge hierziî noch angeführt werden. Die Praxis der bewußten Geburtenbeschränkung wurde - im Unterschied zum englischen Adel - für den französischen Adel von Henry und Levy als seit Beginn des 18. Jahrhunderts bestehend nachgewiesen (vgl. Hollingsworth, S. 203). Dies war ein wesentlicher Grund dafür, daß zur Zeit der Französischen Revolution die englische Adelsfamilie mehr als doppelt so groß war wie die französische. 20 Vor 1770 kam es nur zu Heiraten nachgeborener Söhne, wenn diese ein Rittergut erworben hatten; damit waren aber dann Determinanten des generativen Verhaltens des Stammherrn wirksam, so daß solche Fälle hier nicht aufgeführt werden; Heiraten nachgeborener Söhne, die kein Rittergut besaßen, sind dagegen in größerer Zahl erst nach 1770 nachzuweisen. 21 Erfaßt sind Heiraten nachgeborener Söhne des münsterländischen Adels und solcher nachgeborener Söhne des stiftsfähigen westfälischen Adels, die Töchter aus dem münsterländischen Adel geheiratet haben. 22 Auch die jüngeren Söhne der britischen Herzöge hatten, wenn sie heirateten, deutlich weniger Kinder als ihre ältesten Brüder und Stammherrn, vgl. Hollingsworth, S. 376. 23 Zu den nach Männern und Frauen zu unterscheidenden Ursachen für die Höhe des Heiratsalters vgl. Hajnal, S. 134. 24 Zum häufig nachweisbaren Zusammenhang zwischen Einerbensystem und hohem Hei566

Anmerkungen zu Seite 248 ratsalter des Mannes vgl. Hajnal, S. 133; doch im münsterschen Adel war, wegen der häufig vorkommenden Nebenhaus-Lösung, dieser Zusammenhang zumindest teilweise gelöst. 25 Zum Vergleich seien die von Mitterauer, Frage, S. 179 aufgestellten Daten zum Heiratsalter ausgewählter Familien des österreichischen Adels hier angeführt:

Zeitabschnitt 1700-1749 1750-1799 1800-1849

des ält. Sohnes

Heiratsalter der jüngeren Söhne

28,2 28,3 32,0

29,5 36,5 34,5

der Frauen 23,1 22,4 22,9

Hier blieb das Heiratsalter der ältesten Söhne während des 18. Jahrhunderts konstant, und stieg erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark an; für die Frauen ist dagegen keine deutliche Tendenz in der Entwicklung des Heiratsalters festzustellen. Die von Mitterauer mitgeteilten Durchschnittswerte sind auf der Basis von 10 Familien des österreichischen Landadels errechnet; er nennt aber nicht die konkrete Zahlengrundlage für seine 50jährigen Durchschnitte (S. 179). Auch wird nicht deutlich, ob er nur die Stammlinie der Familie berücksichtig hat, oder aber auch die Nebenlinien, deren Heiratsverhalten möglicherweise von anderen Determinanten bestimmt wurde, als das der Stammherrnehen. 26 Die Erklärung des Duc de la Rochefoucauld, der 1784 England besuchte und sich über das im Verhältnis zum französischen Hochadel außerordentlich hohe Heiratsalter im englischen Adel wunderte, trifft weitgehend auch die Situation des münsterländischen Adels, vor allem seit 1820: ,,. . . An Englishman . . . makes an greater effort to get to know his bride before marriage; she has the same desire and I believe that this is why marriage before the age of twentyfive or twenty-eight is rare. Perhaps another reason for this is, because it is usual to set up house immediately after marriage. The young couple never stay with their parents . . . " (zit. nach Hajnal, S. 115). Die Vermutung großer regionaler Unterschiede im Heiratsverhalten, in Entsprechung zu natürlich-geographischen und ökonomischen, aber auch sozialen, politischen und religiösen Grundbedingungen innerhalb einer Region ( z . B . Eversley, S. 2 7 f . ; Laslett, History, S. 83) wird selbst für den von einer überregionalen, europäischen Kultur geprägten Adel bestätigt, wenn man das Heiratsalter verschiedener europäischer Adelsgruppen miteinander vergleicht; die folgende Tabelle beruht auf einer Zusammenstellung von Ergebnissen Henrys (zit. nach Mitterauer, Frage, S. 180), Hollingsworth, S. 365 und Diepgens, S. 193: Heiratsalter der Männer Zeitabschnitt

1700-1749 1700-1799 1730-1779 1750-1799 1780-1829 1830-1879

L brit. Herzogsfamilien

IL frz. Hochadel

in. europäische Fürstenfam.

Heiratsalter der Frauen 1. IL III.

23,6

19,4 22,5

-

28,6

24,0 21,3

30,5 30,0

18,3 24,7 24,2

Hinsichtlich des Heiratsalters ist die Entwicklung zwischen britischem und französischem Hochadel jeweils gegenläufig; das Heiratsalter sinkt im französischen Hochadel, steigt im briti-

567

Anmerkungen zu Seite 248-249 sehen; darüber hinaus sind die großen, auch vom Duc de la Rochefoucauld bemerkten Unterschiede im Heiratsalter, sowohl bei den Männern als bei den Frauen, bemerkenswert; nur durch eine in starkem Maße durchgeführte Geburtenbeschränkung konnte im französischen Adel bei so niedrigem Heiratsalter der Frau eine - für das 18. Jahrhundert nachgewiesene - fortschreitende Reduzierung der durchschnittlichen Familiengröße, die absoluten Werte lagen immer unterhalb des britischen Hochadels, erreicht werden. Die Entwicklung des Heiratsalters im französischen Hochadel ist allerdings - wenn man die bisher bekannten Zahlenreihen für andere Adelsgruppen zum Vergleich hinzuzieht - für das 18. Jahrhundert ein Sonderfall. In der Regel stieg aber zumindest das Heiratsalter der Männer; das ist nachzuweisen für die europäischen Fürstenhäuser, den englischen Hochadel, den österreichischen Landadel und auch für den münsterländischen Adel; eine gegenläufige Tendenz ist bisher nur für den französischen Hochadel bekannt. Bei den Frauen ist ebenfalls ein Anstieg des Heiratsalters im 18. Jahrhundert feststellbar, wenn auch schwächer, z . T . wesentlich schwächer, als bei den Männern, z . B . bei den Frauen der europäischen Fürstenhäuser und im englischen Hochadel; die von Mitterauer, Frage, angeführten Zahlen zum österreichischen Landadel zeigen dagegen keine signifikante Tendenz. Besteht also - mit Ausnahme des französischen Hochadels - hinsichtlich der Entwicklungstendenz des Heiratsalters noch relativ große Einheit in den verschiedenen Adelsgruppen, so läßt sich das für die absolute Höhe des Heiratsalters nicht mehr sagen; hier faßt Mitterauer, Frage, S. 180 das Ergebnis eines Vergleichs des Heiratsverhaltens verschiedener europäischer Aristokratien dahingehend zusammen, daß man von einem allgemeinen europäischen aristokratischen Heiratsverhalten nicht sprechen kann. 27 Der Personenbestand entspricht dem der Tabelle 7; da aber diese Söhne häufig im Ausland und bürgerlich heirateten, waren die genauen Daten ihrer Ehefrauen zum Teil nicht zu ermitteln; daraus erklären sich die Zahlenunterschiede zwischen dieser Tabelle und der Tabelle 7. 28 Die Fälle sehr hohen Heiratsalters in der Zeit von 1770 bis 1819 sind z. T . auf Heiraten von Domherrn, die aus dem Domkapitel ausschieden oder durch Aufhebung des alten adligen Domkapitels ihre Würden verloren, zurückzuführen. Für die nach 1820 sich verstärkende Tendenz zu hohem Heiratsalter sind vor allem die spezifischen Bedingungen der preußischen Militär- und Beamtenlaufbahn entscheidend gewesen, d. h. hohe Ausbildungsanforderungen und schwierige Karrierebedingungen verlängerten die Ausbildungsphase und die Zeit des Aufstiegs in hohe Positionen. Diese Ursachen sind vorwiegend dafür verantwontlich, daß zwar nach 1820 mehr nachgeborene Söhne heirateten aber - wie die Zahlen zeigen - in zunehmend höherem Heiratsalter. Die Heiraten in den Bereichen relativ niedrigen Heiratsalters nach 1820 sind zum großen Teil auf Erbinnenheiraten zurückzuführen. 29 Die bisher erarbeiteten Daten zur Familienstruktur des münsterländischen Adels, z. B. die Verheiratetenquote, die Kinderzahl, die Geburtenfolge etc. vermitteln noch zu stark einen stati-

Altersstufe

15-19 20-24 25-29 30-34 35-39 40-44 45-49

Von 1000, die das 15. Lebensjahr erreichten, starben zwischen Zahl %o 43 92,5 67 74 81,5 82 104 544

568

79 170 123 136 150 151 191 1000

Anmerkungen

zu Seite

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sehen Eindruck von dem Zustand dieser Familien. Deshalb ist es sinnvoll und notwendig, die Familien in ihren wesentlichen Entwicklungsphasen, von der Eheschließung bis zum Tod der Eheleute, d. h. in einem für diese typischen Familienzyklus zu beschreiben (vgl. Berkner, Stem Family, S. 400f.; zum Familienzyldusansatz in der Familiensoziologie: Schwägler, S. 128ff.). 30 Als Vergleich sei hier die altersspezifische Sterblichkeit der Männer in europäischen Fürstenfamilien zwischen 1680 und 1779 nach Peller, S. 96 angeführt (vgl. die Tabelle S. 568). Es wird deutlich, daß diese wesentlich höher lag als die altersspezifische Sterblichkeit der Männer des münsterländischen Adels. 31 Dieser Sachverhalt trifft für die untersuchte Personengruppe, nicht für die Entwicklung der Lebenserwartung im 18. Jahrhundert allgemein zu; bei umfassenderer Zahlengrundlage, d. h. bei einer größeren Untersuchungsgruppe, würden sich wahrscheinlich abweichende Tendenzen ergeben, die stärker mit der im 2. Teil der Tabelle, in der Altersphase ab 60 feststellbaren Tendenz harmonieren. 32 Vgl. dazu Hareven, Familie, S. 373 u. Camp, S. 129; zu den Gründen für den Rückgang der Mortalität in anderen Bevölkerungsschichten vgl. Eversley, S. 56 f. 33 Hier werden verheiratete und unverheiratete Frauen deshalb getrennt, weil bei ersteren die Müttersterblichkeit für die Lebenserwartung ein wesentliches Gewicht hatte. In Ergänzung der Tabelle 11 sei hier noch die Lebenserwartung der unverheirateten Frauen angeführt:

Erreichtes Alter 15-20 20-30 30-40 40-50 50-60 60-70 70-80 8 0 - 9 0 u. mehr

wurden X Jahre alt 20 30 40 50 60 70 80

1720--1769 Zahl %o

geboren zwischen: 1770--1819 Zahl %0

1820--1869 Zahl %0

3 3 0 4 4 6 6 0

115 115 0 154 154 231 231 0

4 2 5 4 6 7 3 2

121 61 152 121 182 211 91 61

5 7 6 1 6 4 10 3

119 167 143 24 143 95 238 71

26

1000

33

1000

42

1000

von 1000, die das 15. Lebensjahr erreichten und geboren wurden zwischen 1720-1769 1770-1819 1820-1869 885 770 770 616 462 231 0

879 818 666 545 363 152 61

881 714 571 547 404 309 71

Hier ist auffallend, daß die Lebenserwartung der unverheirateten Frauen niedriger liegt als die der verheirateten. Das läßt sich zum Teil damit erklären, daß kranke bzw. kränkelnde Töchter, wegen der hohen körperlichen Belastung, die eine normale Geburtenfolge der Frau im münsterländischen Adel mit sich brachte, kaum Heiratschancen besaßen. Wir haben so bei einer niedri-

569

Anmerkungen

zu Seite

251-256

gen Zahl von sicheren Fällen (23 für 1720 bis 1769; 29 für 1770 bis 1819 und 37 für 1820 bis 1869) - denn die Daten für die Stiftsdamen, die innerhalb der adligen Familien nur einen geringen Stellenwert besaßen, sind nur lückenhaft überliefert- und dem Unsicherheitsfaktor Krankheit keine ausreichende Basis für eine weitergehende vergleichende Betrachtung; und auch die Zunahme der Sterblichkeit in der 2. und 3. Phase läßt deshalb keine weitere Inteφretation zu. 34 Daten zur MüttersterbUchkeit im münsterländischen Adel lassen sich anhand des genealogischen Materials nur für die zweite (1770-1819; 31 % - auf der Grundlage von 51 Ehen) und dritte Untersuchungsphase (1820-1869; 23,5 % - auf der Basis von 98 Ehen) mit einiger Sicherheit ermitteln. Doch kann man unter Beachtung der Tabelle 13 davon ausgehen, daß auch in der Zeit von 1720 bis 1769 die Müttersterblichkeitsrate nahe (nicht unter) der der Phase von 1770 bis 1819 lag. 35 Das bedeutet: Formen der erweiterten Familie, z.B. die Stammfamilien, waren von der Lebenserwartung der Eltern und vom Heiratsverhalten der Kinder aus gesehen, durchaus möglich; sie wurden vor allem deswegen aber vermieden, weil man Konflikte zwischen Vater und Sohn bzw. zwischen Mutter und Schwiegertochter zu verhindern suchte. 36 Zum Mechanismus der Wiederverheiratung in vorindustriellen Gesellschaften vgl. Hajnal, S. 128. 37 Vgl. hierzu die Ausführungen S. 289f. ; zum ,Zwang', die Hausfrauenposition zu ergänzen als Motiv der Wiederverheiratung vgl. Stone, Crisis, S. 620 u. Mitterauer, Frage, S. 184; ein starker Zwang zur Wiederverheiratung kann m. E. aus den Arbeitserfordernissen der Grundherrschaft für den landsässigen Adel kaum abgeleitet werden, da die Ehegattin als Hausfrau z . B . durch eine Haushälterin oder eine unverheiratete Schwester leicht zu ersetzen war. 38 Hiervon ging ohne Zweifel im münsterländischen Adel ein gewisser Wiederverheiratungszwang aus ; denn die Wiederverheiratung wirkte ähnlich wie Polygamie und konnte das Problem der geringen Heiratschancen adliger Töchter im Münsterland etwas mildern; vgl. dazu Hajnal, S. 128 u. Eversley, S. 42). Im münsterländischen Adel ist hierfür der ,,reiche Witwer" - diese Kennzeichnung stammt von Annette v. Droste-Hülshoff- Clemens v. Oer ein Beispiel; die indirekten Zwänge, die von seiner Mutter, seinen Verwandten und seiner adligen Umgebung insgesamt ausgingen und ihn schließlich zur Wiederverheiratung bewogen, werden in den Briefen seiner Mutter erkennbar (vgl. Archiv v. Oer E 1385, z . B . den Brief vom 30. 10. 1842). 39 Ein Beispiel für eine solche Ehe zur linken Hand bietet die Wiederverheiratung des Clemens August V. Merveldt 1779 (Archiv v. Merveldt, Nachlaß August Ferdinand v. Merveldt, Vol. II). Bei der Wiederverheiratung wählte der Mann aus demselben Grund häufig seine Frau auch bewußt aus den weniger vermögenden Schichten des katholischen westfälischen Adels. 40 In früheren Jahrhunderten suchte die Frau schon wegen ihrer Schutzbedürftigkeit die Wiederverehelichung, die deshalb damals auch wesentlich häufiger vorkam als im 18. Jahrhundert (vgl. Stone, Crisis, S. 621 u. 623). Doch die Stadt und in moderneren Staaten auch schon die Verwaltungs- und Polizeibehörden auf dem Lande boten den alleinstehenden Frauen im 18. Jahrhundert eine so große Sicherheit, daß das Schutzbedürfnis als Motiv für die Wiederverheiratung seine frühere Wichtigkeit verlor. 41 Grundlage des Schaubilds sind die Angaben über Brautschätze in ca. 200 Ehepakten aus den verschiedenen Adelsarchiven; die zum Teil in verschiedenen Währungen festgelegten Brautschätze wurden nach Verdenhalven in Reichstaler umgerechnet. Der reale Wert der Brautschätze sank nach 1650 stärker als es das Schaubild ausdrückt, weil der Anstieg der Lebenshaltungskosten noch zu berücksichtigen ist. 42 Verschärft wurde dann der Druck auf die Brautschätze der adligen Töchter noch dadurch, daß viele Adlige in dieser Zeit aus Gewinnstreben heraus , Jagd' auf bürgerliche Erbinnen machten (Stone, Heirat, S. 121 f.). Zum Angebot-Nachfrage-Mechanismus als Regulator des adligen Heiratsmarktes, der schon von Zeitgenossen anerkannt wurde vgl. für England Habakkuk, Marriage, S. 23ff. u. Stone, Heirat, S. 115ff. 43 Damit soll nicht gesagt werden, daß nun in allen Familien die heiratenden Töchter diesen 570

Anmerkungen

zu Seite 2Í6-2S8

Betrag als Brautschatz erhielten, sondern - wie auch aus Schaubild 1 ersichtlich - nur, daß die Abweichungen von diesem Durchschnittswert, begünstigt durch die Übersichtlichkeit des Heiratsmarkts, immer geringer wurden. Als Ursache für die Abweichungen vom Durchschnittswert lassen sich anführen: der Rang der am Heiratsvorhaben beteiligten Familien, die eventuell vorhandene Möglichkeit der Braut, Erbin des gesamten Familienbesitzes zu werden, Freundschaft zwischen den Familien, aber auch der Grad der Neigung zwischen den Ehepartnern (vgl. hierzu Habakkuk, Marriage, S. 26). Auch innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung Westfalens bestand im 18. Jahrhundert ein solches allgemeines Orientierungsmaß für die Brautschätze der Töchter (vgl. Sauermann, S. 106). 44 Die Entwicklung zu niedrigeren Brautschätzen wurde auch von dem sich durchsetzenden Fideikommiß-Prinzip erzwungen, das nicht nur Teilungen, sondern auch weitgehend Landausstattungen sowie Landverkäufe zur Zahlung von Heiratskosten ausschloß. Die Heiratskosten und die Abfindungen mußten nun aus den laufenden Einnahmen des Gutes bestritten werden. Hier liegt auch der Grund, warum der münsterländische Adel im 17. Jahrhundert seine Aufmerksamkeit verstärkt dem Zahlungsmodus der Heirats- und Abfindungsausgaben widmete, ihn sogar in die Heirats- und Abfindungsurkunden mit aufnahm. Mit dem Ausschluß des Angebot-Nachfrage-Prinzips war allerdings ein zweiter Mechanismus, dem die Brautschätze unterliegen konnten, und auf den für die bäuerliche westfälische Bevölkerung Sauermann, S. 107 aufmerksam gemacht hat, nicht aufgehoben. Die Brautschätze konnten auch auf eine sich wandelnde Intensität des Kampfes um sozialen Auf- und Abstieg innerhalb des Standes reagieren; denn das Konnubium war ein wichtiges Mittel zur Verbesserung bzw. Absicherung der sozialen Stellung der Familie. Hier liegt ein weiterer Grund für die Abweichung der Brautschätze von den in Schaubild 1 dargestellten Durchschnittswerten; vgl. auch Forster, S. 132. 45 Da im münsterländischen Adel der Angebot-Nachfrage-Mechanismus die Vorgänge auf dem Heiratsmarkt nur wenig bestimmte, gab es auch kein Standardverhältnis zwischen Brautschätzen und Wittum, wie z. B. im englischen Adel (Habakkuk, Marriage, S. 26; Stone, Heirat, S. 116ff.). Wegen der ungünstigen Heiratschancen der adligen Töchter im englischen Adel stieg das Verhältnis von Mitgift (Brautschatz) zu Wittum im 17. Jahrhundert stark an und zwar von 5:1 um 1600 auf 10:1 zu Anfang des 18. Jahrhunderts (Habakkuk, Marriage, S. 21 ) ; auch im Adel von Toulouse wurde die Witwenversorgung in enger Abhängigkeit von der Brautschatzhöhe bestimmt; doch gibt Forster, S. 121 f. keine Daten für die Entwicklung der Brautschatzhöhe und des Verhältnisses von Brautschatz zu Wittum. Die Entwicklung im münsterländischen Adel verlief, wie die Schaubilder 1 und 2 deutlich erkennen lassen, in wesentlich weniger aufregenden Sprüngen und insgesamt in die entgegengesetzte Richtung. 46 Die Tatsache, daß der Erwerb einer solchen Dompräbende mit hohen Ausbildungskosten und oft auch noch mit einer erhebliche Kaufsumme verbunden war, hat die Tendenz zu niedrigeren Abfindungen ohne Zweifel noch verstärkt. 47 Bei den Ehen zur linken Hand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts handelt es sich um eine Wiederaufnahme früher (bis zum 16./17. Jahrhundert) üblicher Praktiken (vgl. Lüninck, S. 52). 48 Die steigende Zahl der das Erwachsenenalter erreichenden Geschwister des zukünftigen Stammherrn wird ebenfalls eine Ursache für dessen zunehmend spätere Heirat gewesen sein; denn er heiratete oft erst, wenn er mit den Geschwistern, was deren Abfindung betraf, im reinen war. Das wurde, wenn mehr Geschwister als bisher abzufinden waren, schwieriger. Auf eine ähnliche Maxime bezüglich der Heirat des zukünftigen Hoferben bei westfälischen Bauernfamilien verweist Sauermann, S. 109, Anm. 21. 49 Für den englischen Adel im 17. Jahrhundert, dem zu dieser Zeit schon die Damenstifter und geistlichen Pfründen fehlten, wo infolgedessen in der Regel schon ein hoher Anteil der Kinder einer Familie heiratete, stellt Stone, Heirat, S. 115 eine wesendich stärkere Belastung der Familie durch Heiratskosten fest: ,,Im frühen 17. Jahrhundert boten nur wenige . . . Väter weniger als den Gegenwert eines Jahreseinkommens als Mitgift ihrer Töchter." Diese Belastung

571

Anmerkungen

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2Í9-260

war ungefähr ebenso groß wie die des münsterländischen Adels im 16. und 17. Jahrhundert, d. h. vor dem Beginn seiner verstärkten Binnenorganisation. Im Adel von Toulouse entsprach im 18. Jahrhundert ein Brautschatz ungefähr drei bis vier Jahreseinkommen der Familie, lag also damit auch wesentlich höher als im münsterländischen Adel zur gleichen Zeit, ein Sachverhalt, der die Leistung der Familienordnung dieses Adels noch einmal deutlich macht. (Forster, S. 132; vgl. auch das Beispiel einer Erbauseinandersetzung, S. 143ff., die zu einer nahe an 50 % des Gesamtwertes reichenden Belastung des Familienbesitzes führte). 50 Vgl. hierzu die Ausführungen S. 206f.; zur schon erheblichen Verschuldung, zumindest eines Teils der Familien im englischen Adel des 17. Jahrhundert vgl. Habakkuk, Marriage, S. 30. 51 Durch diesen Nachweis verstärkten abweichenden Verhaltens in der Phase zwischen 1770 und 1820 wird auf einer weiteren Ebene die Berechtigung der in dieser Untersuchung gewählten Periodisierung bestätigt. 52 Im Zeitraum von 1720 bis 1769 heirateten zwei von 31 nachgeborenen Söhnen; von 1770 bis 1819 heirateten 15 von 67 nachgeborenen Söhnen und in der Zeit zwischen 1819und 1869heirateten 55 von 162 nachgeborenen Söhnen. Das Ansteigen der absoluten Zahlen ist auf Nebenliniengründungen und auf die Tatsache, daß immer mehr Kinder das durchschnittliche Heiratsalter erreichten, zurückzuführen. 53 Dabei ist der Form nach zu unterscheiden zwischen völliger Übernahme bisher autonom ausgeübter ständischer Funktionen durch die politische Zentrale einerseits, und der Uminterpretation eines Teils derselben in staatlich delegierte Funktionen, die dann mehr oder weniger stark von der Bürokratie des Staates kontrolliert wurden, andererseits. Zur ersteren Form der Entstaatlichung zählt die Aufhebung der Patrimonialgerichte, zur anderen die Umformung der Landstände des geistlichen Staates in den Stand der Rittergutsbesitzer im preußischen Staat, aber auch die Uminterpretation der Hausherrschaft des Vaters. 54 Dazu Schmelzeisen, S. 373-75 und Kahler, S. 6f. Die erste Gesindeordnung im Fürstbistum Münster wurde 1722 erlassen (Scotti I, S. 368 ff. ) ; nur einer von 7 Paragraphen thematisierte die Pflichten der Herrschaft, ansonsten enthielt sie Vorschriften für das Gesinde. In Preußen hat eine Gesindeordnung von 1746 das Gesinde ebenfalls zum Teil aus der Herrschaft des Hausvaters gelöst und staatlicher Kontrolle und Schutz unterstellt. Ein Eingreifen des Staates in die Herrschaftsbeziehungen des Hausvaters zu seiner Ehefrau und den Kindern erschien vor 1750 allerdings selbst führenden Staatstheoretikern wie Justi undenkbar. Die internen Familienbeziehungen wurden als ein notwendig staatsfreier Raum aufgefaßt (vgl. Schmelzeisen, S. 365 u. 368 ff.). Das war im Preußischen Allgemeinen Landrecht schon anders (s. unten, S. 260 ff.); auch die Herrschaft des Hausvaters gegenüber dem Gesinde wurde in diesem Gesetzwerk weiter eingeschränkt. Immerhin waren schon 17 Paragraphen den ,,Pflichten der Herrschaft" gewidmet und konnten von dem Gesinde gerichtlich eingeklagt werden (ALR, IL Teil, fünfter Titel, §§ 82-98). Die Auswirkungen des Absolutismus auf die Stellung des adligen Hausvaters sind, wenn überhaupt, dann nur in seiner ersten monarchischen Phase, stabilisierend gewesen (vgl. dazu Mitterauer, Familie, S. 2; ähnlich auch für England, Stone, Crisis, S. 670). Für den ständisch orientierten Landadel ist eine stark gegenläufige, desubilisierende Einwirkung nachzuweisen; denn die Entmachtung bzw. Auflösung der alten Stände und der relativ autonomen Partikulargewalten, z. B. der Patrimonialgerichtsherrn, haben im Münsterland am Ende des 18. Jahrhunderts, in anderen Territorien wesentlich früher, die Macht der adligen Hausväter und Familienhäupter stark gemindert. Es gilt auch zu bedenken, daß Tocqueville, ein Mann, der selbst noch den Verhältnissen des Ancien-Régime zeitlich und innerlich recht nahe stand, behaupten konnte, der Absolutismus habe die väterliche Autorität stark geschwächt (zitiert bei Hunt, S. 29). 55 Zur wachsenden Abhängigkeit der Grundherrschaft des Weserraums von Marktbeziehungen, in Absetzung von der Typologie der Grundherrschaft als ,geschlossener Hauswirtschaft' in der Hausväterliteratur und vieler ihrer Exegeten bzw. als ,Bedarfsdeckungswirtschaft' (Sombart) vgl. Richarz, S. 194 ff. u. a. ; zum Funktionsverlust des Hausvaters auf ökonomischen Sektor insgesamt: Oeter, S. 7. 572

Anmerkungen

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56 Auch das Preußische Allgemeine Landrecht und der französische Code Civil kannten keine Verpflichtung des Vaters, dem Sohn ein Studium zu finanzieren (Dörner, S. 61). 57 In der altständischen Gesellschaft galten nur die als ,natürlich' angesehenen Verbände wie Haus, Stand, Zunft etc. als relativ autonome Rechtsträger; das Individuum war dem Staat gegenüber durch diese organisatorischen Grundeinheiten mediatisiert. Dieser Sachverhalt bestimmte auch das Erbrecht. Noch nach Meinung des Kameralisten Justi konnte ein Vater sein ungehorsames Kind ohne Angaben von Gründen enterben. Er war nach Justis naturrechtlich gegründeter Vorstellung nur zur Ernährung und Erziehung der Kinder verpflichtet. Im Laufe des 18. Jahrhunderts hat dann der absolute Staat durch seine Beamten immer stärker in diese Verbände zugunsten des einzelnen einbegriffen, indem er sie als abhängige Elemente des Staates definierte; damit war eine Basis für Eingriffe in Haus und Familie gegeben. Doch noch im Preußischen Allgemienen Landrecht (ALR) stand das Haus vor dem Individuum, wenn auch ein mehr oder weniger verdeckt darin integrierter Bedeutungsstrang das Individuum weiter freizusetzen suchte (Dörner, S. 27-29). Für den Adel und auch für den Bauern war in Westfalen ein vom bürgerlichen Recht abweichendes Erbrecht, in der der Familienbesitz vor dem Besitzanspruch des einzelnen Familienmitglieds stand, für die Familienordnung konstitutiv. Die nachrevolutionäre französische Gesetzgebung hatte im Code Civil aber nun auch hier den Anspruch des einzelnen am Familienbesitz durch die allgemein geltende Einführung eines Pflichtteils gestärkt (vgl. dazu Habakkuk, Family, S. 2). Mit der Übertragung des französischen Rechts auf Westfalen war damit der ungeteilte Familienbesitz direkt gefährdet. Von konservativen Familienforschern des 19. Jahrhunderts wie Riehl und Le Play wurde die Aufhebung dieses adlig-bäuerlichen Erbrechts als eine wesentliche Ursache für den Niedergang der Familie und die Auflösung der ländlichen Sozialordnung ihrer Zeit immer wieder betont (vgl. Schwägler, S. 36, 50 u. 139 f.). Zu den kirchlichen Heiratskontrollen vgl. Leisching, S. 131 ff. ; auch die Gerichtsbarkeit in Ehesachen lag im Anden Régime bei der Kirche (Oeter, S. 9). 58 Gesellschaftspolitischen Zielsetzungen dienten die Eheverbote bei Ungleichheit des Standes, wodurch Ehen zwischen Adligen und ,,Weibspersonen aus dem Bauern- und geringeren Bürgerstand" verhindert werden sollten, sowie die Heiratsbeschränkungen für die Offiziere. Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten in der Hand des an familienpolitischen Zielen orientierten Hausvaters und Familienhaupts waren dagegen: das Konsensrecht des Vaters bei Heirat und Berufswahl der Kinder auf Lebenszeit und die ihm zugesprochenen Möglichkeiten, ungehorsame Kinder zu enterben. (Vgl. Dörner, S. 377 und Hauser, S. 52 ff.) Wichtig für die Durchsetzung einer freien Partnerwahl war die Bestimmung, der Konsens der Eltern könne nur wegen ,,erheblicher Gründe", und zwar nach dem Maßstab des persönlichen Glücks der Heiratswilligen, verweigert werden. Darüber hinaus konnten Heirats willige gegen den den Konsens verweigernden Vater die Gerichte anrufen, eine Regelung, die schon bei der Kodifikation des Allgemeinen Landrechts sehr umstritten, den Redaktoren des Gesetzwerks aber besonders wichtig war (Hauser, S. 44 f.; Dörner, S. 38 ff.). Die immer noch starke Stützung der väterlichen Gewalt, im Allgemeinen Landrecht und die demgegenüber schwache rechtliche Position der Frau beschreibt Ammen, S. 21-23. 59 Vgl. Dörner, S. 60ff.; Koselleck, Preußen, S. 62f. Das Vormundschaftsrecht, im geistlichen Staat vom Vater weitgehend autonom ausgeübt und per Testament an ebenfalls nahezu autonom handelnde Vormünder vergeben, wurde durch die Konstruktion der Obervormundschaft des Staates, die weit über die bekannte ältere Lehnsvormundschaft hinausging, im A L R uminterpretiert: ,,Im Preußischen Allgemeinen Landrecht vom Jahre 1794 sind daher die Mündel ganz folgerichtig ,Pflegebefohlene des Staates' genannt. Der Vormund aber hat die dem Staate obliegende .Aufsicht und Vorsorge' auszuüben und ist der angestellte Verwaltungsträger, dem der Staat die Sorge für seine Pflegebefohlenen aufgetragen hat . . . Das Preußische Landrecht unterwarf den Vormund ständigen und weitgehenden Eingriffen des Gerichts." Diese harte staatliche Bevormundung des Vormunds wurde dann im B G B zugunsten stärker selbstverantwortlicher Tätigkeit wieder zurückgenommen. (Rehm, S. 35, 47f. u. 57ff.). Als Beispiel für

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Anmerkungen zu Seite 262-263 die vielfältig kontrollierenden Eingriffe des Pupillenkollegiums der Regierung Münster in die Vormundschaftsführung mag der Fall der Antonetta v. Nagel-Vornholz gelten: „ . . . da die Vereinbarungen der Eltern den Kindern die Rechte der Pflichtteile nicht benehmen können" wurde ihr ein bürgerlicher Pflichtvormund zur Seite gestellt; sie hatte genaueste Inventare über den Familienbesitz aufzustellen, regelmäßig Rechnung über Einkünfte und Ausgaben der Güter vorzulegen und jährlich Erziehungsberichte einzuschicken; diese belastende Form der Kontrolle hat, bei der Häufigkeit, mit der Vormundschaften im münsterländischen Adel auftreten, eine Vielzahl von Konflikten entstehen lassen, zumal die Sprache der Beamten selbstbewußt, zum Teil sogar arrogant war. (Archiv v. Nagel-Vornholz A III 257; vgl. z. B. den Brief des Pupillenkollegiums vom 3. 9. 1806). 60 STR, Archiv V. Westerhok-Arenfels, Nr. 851. 61 Zu den Rechten des Vormundschaftsgerichts nach dem A L R vgl. Koselleck, Preußen, S. 6 2 f . ; die Grenzen dieser Bemühungen um individuelle Ehepartnerwahl wegen der den Vätern auch nach dem A L R noch verbleibenden rechtlichen und faktischen Sanktions- und Kontrollmöglichkeiten betont Dörner, S. 64. Die Stellung des Vaters nach dem Code Civil (CG) war, insgesamt gesehen, stärker als die nach dem Allgemeinen Landrecht (vgl. Dörner, S. 138f.). 62 Vgl. Dörner, S. 48ff. u. 146f. Zum Vorbehaltsgut der adligen Ehefrau vgl. die Ehepaktverhandlungen der Schwester des Friedrich Burchard v. Westerholt (STR, Archiv v. Westerholt-Westerholt, Nr. 38, III, Briefe der M. v. Westerholt vom 22. 2. und 18. 3. 1723). Auch wenn ein Vorbehaltsgut in den Ehepakten nicht immer fixien war, so zeigen die Testamente der Frauen im münsterländischen Adel doch, daß sie zumindest über Mobiliar, Erbvermögen, Morgengabe, in die Ehe eingebrachte Kleider, Schmuck etc. in der Regel frei verfügen durften. Auch im Adel von Toulouse gab es das Vorbehaltsgut für die verheiratete Frau; hier hatte zwar der Mann zu Lebzeiten der Frau die Nutzung; aber diese konnte testamentarisch über das Vorbehaltsgut frei verfügen (Forster, S. 122). Auch die im münsterschen Lehnsrecht festgelegte Bevorzugung der Töchter des Stammherrn vor den weiteren männlichen Bruderlinien hat das Ansehen der Frau gehoben, da sie für fähig und würdig erachtet wurde, die Stammlinie über den Mechanimus der Adoption durch Ehe fortzusetzen (vgl. dazu den Streit um dieses Erbprinzip zwischen August Ferdinand v. Merveldt und seinem Bruder Paul Burchard, Archiv v. Merveldt, Nachlaß August Ferdinand v. Merveldt, Vol. X L ) . 63 Zur Entwicklung des Vetorechts der Töchter im englischen Adel von der nahezu völligen Fremdbestimmung durch die Eltern bis in die Nähe des Prinzips freier Partnerwahl vgl. Stone, Crisis, S. 670f. Am frühesten hat sich ein Bewußtsein von der notwendigen Mitbestimmung der Töchter bei der ehelichen Partnerwahl bei den Puritanern durchgesetzt, deren Religion die Liebe als eine wichtige gegenseitige Pflicht der Eheleute- hier besteht ein Gegensatz zur Eheauffassung der katholischen Kirche in damaliger Zeit-betonte. Dieser Pflicht vor Gott konnten die Heiratenden nur nachkommen, wenn sie sich selbst gewählt hatten. Die Eltern wurden durch diese religiöse Norm auf ihre, allerdings vielfältigen Lenkungsmöglichkeiten zurückgedrängt. (Morgan, S. 84f.). 64 Archiv V. Oer E 572. Zum geringen Ansehen der Frau im Mittelalter und in der frühen Neuzeit trotz des Marienkults, berühmter Äbtissinnen und Ordensgründerinnen vgl. Daly, S. 59-79. Neben den Äbtissinnen und Ordensgründerinnen haben vor allem die nützlichen Frauenorden, z. B. die Ursulinen (gegründet Anfang des 16. Jahrhunderts) als Schulorden für höhere Mädchenbildung, die Lotharingischen Schwestern als Orden zur Armenpflege und zur Mädchenerziehung u. V. m., durchaus nach den Normen der Zeit gesellschaftlich wertvolle Arbeit geleistet. Doch stärker wirkten andere Traditionen: Die Frau galt seit den Kirchenvätern als die schuldbeladene, moralisch und geistig dem Mann unterlegene Verführerin durch Sexualität; das kanonische Recht erlaubte dem Ehegatten die к0фег11сЬе Züchtigung; da die Frau in der Hausherrschaft des Mannes stand, war sie auch vor der geistlichen Ehegerichtsbarkeit lediglich bedingt rechtsfähig; nur in bezug auf die Frau war ein Ausschluß der ehelichen Gütergemeinschaft gestattet. Die staatliche Gesetzgebung ging bis ins 18. Jahrhundert weitgehend mit der kirchli-

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Anmerkungen

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chen konform. So gestand z. B. der Kameralist Justi dem Hausherrn noch uneingeschränkt das Züchtigungsrecht über seine Frau zu (vgl. Schmelzeisen, S. 365); im Allgemeinen Landrecht (ALR) war dieses Recht dann allerdings schon sehr umstritten (vgl. Ammen, S. 21). 65 Zur Aufwertung der Frau durch das Hofleben vgl. für Frankreich Elias, Gesellschaft, S. 292; Elias, Prozeß, S. 252f.; Putnam, S. 213f. u. 218 f.; für Hannover: Lampe, S. 45f.; für Weimar: Bruford, S. 19ff. u. 149ff.; zur Aufwertung durch den Salon: Putnam, S. 232ff. und Seward, S. 115. Beispiele für das wenig abwechslungsreiche und recht arbeitsreiche Leben einer Landedelfrau vor dem Übergang zum Staddeben bringt v. Guttenberg, v. a. S. 61 u. 68-76. Auch die Durchsetzung der Stadtwohnung als Witwenlösung hat die Frau vom Schutz der Männer unabhängiger gemacht. Im Anfang des 19. Jahrhunderts kam dann der Abschluß einer Lebensversicherung als weitere Möglichkeit, größere Unabhängigkeit von der Familie zu gewinnen, hinzu (vgl. z. B. den Briefwechsel Jennys v. Laßberg, geb. v. Droste-Hülshoff, mit ihrer Mutter, Archiv V. Droste-Hülshoff, Nachträge). 66 Mittelpunkte von Salons waren z. B. Frauen aus den Familien v. Galen, v. Boenen und v. Elverfeldt (vgl. Hanschmidt, S. 38 f. ; Trunz, S. 2 und Marquardt, S. 60). Am bekanntesten und am besten erforscht, aber auch in ihrer Wirkung am weitreichendsten, war wohl die Fürstin Gallitzin und ihr ,Kreis von Münster', der sich aber vom Typus des ,Salons' stark entfernte, wie schon die dem Zirkel zugelegte Bezeichnung ,familia sacra' andeutet; vgl. dazu die Arbeiten von Sudhof, S. 137ff.; Reinhard, S. 53ff.; Galland, S. 132ff. und Brachin, S. 84ff. 67 Nur wenige der adligen Frauen, die vor der Mitte des 18. Jahrhunderts lebten, verließen Zeit ihres Lebens überhaupt auf eine längere Zeit das Fürstbistum Münster, zu Ausbildungszwecken oder um an einem großen, z.B. dem Wiener Hof, zu leben. Reisen blieben bis dahin weitgehend ein Privileg der Männer, zu deren Ausbildungskanon es gehörte, auf einer Kavalierstour fremde Länder und deren Höfe besucht zu haben. Zwei Witwen aus dem Hause v. Plettenberg-Nordkirchen, die am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts mehr in Wien als im Münsterland lebten, sind insofern Ausnahmen, als ihre Familie durch den Erwerb reichsunmittelbaren, nicht-westfälischen Besitzes im 18. Jahrhundert schon stark über die regionalen Grenzen hinausgewachsen war. 68 Beispiele für solche in der Güteradministration erfolgreichen Witwen im fränkischen Adel schon des 16. Jahrhunderts bei v. Guttenberg, S. 79;für den Weserraum bis ins 18. Jahrhundert: Richarz, S. 28-32. Aus der Vielzahl von Beispielen im münsterländischen Adel vgl. die Güterverwaltung der Rosine v. Korff. (Archiv v. Korff-Harkotten IFg, 25. u. 26. Bd.) und der Dinette V. Plettenberg-Lenhausen (Archiv v. Plettenberg-HovesudtDIIfl7) am Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts. 69 Vgl. dazu für Frankreich Elias, Prozeß, Bd. 1, S. 256f. und Hunt, S. 61 f., für England Stone, Heirat, S. 132, für Deutschland Gebauer, Ehe, S. 97; Salier, S. 139, betont dagegen, die im 16. undzumTeil noch im 17. Jahrhundert sehr verbreitete, extrem viel Todesopfer fordernde Syphilis habe eine Beschränkung der sexuellen Aktivitäten des Mannes auf die Ehe erzwungen; doch sind die religiösen Ursachen nicht unterzubewerten. Die katholische Kirche suchte, aus gegenreformatorischen Gründen, durch eine Vielzahl von Maßnahmen, z. B. durch den Aufbau von Heiratskontrollen, den Familienzusammenhalt zu sichern und zu stärken. 70 Bis ins 16. Jahrundert war die morganatische Ehe, die Ehe zur linken Hand allein auf der Grundlage einer Morgengabe, im westfälischen Adel eine akzeptierte Gewohnheit (vgl. v. Klokke, Erörterungen, S. 158); auch waren im 16. und zum Teil noch im 17. Jahrhundert,.natürliche" Kinder im katholischen Adel recht häufig. Diese wohnten offen in der Nähe ihres Vaters und wurden oft von diesem mit einem Gut oder einem Amt ausgestattet: vgl. z. B. Archiv Haus Werries I, Ehevenrag zwischen Arndt v. Schorlemer und Anna v. Nehem vom 5. 11. 1571; Archiv Haus Werries II, U 531 ; Archiv Haus Botzlar, Nr. 173 u. a.;zu Kindern der Domherrn vgl. v. Twickel, S. 163 ff.; selbst Kinder von Päpsten waren bis ins 16. Jahrhundert nicht selten (Salier, S. 124f.). Daß im Adel des 18. Jahrhunderts die außereheliche Sexuahtät, den kirchlichen Normen gemäß, nicht mehr als normal akzeptiert wurde, wird vor allem an der Kritik der Höfe 575

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als dem Ort verdorbener Lebensweise, vor allem an der negativen Beurteilung von Hofdamen und Maitressen erkennbar. Vgl. dazu den 91 §§ umfassenden Aufsatz - darin eingeschlossen eine Vielzahl von Excerpten aus zeitgenössischen Schriften - des Maximilian Friedrich v. Plettenberg-Nordkirchen über die Rolle der Frau, der Sexualität, der außerehelichen Beziehungen und die darin zum Ausdruck kommende Abwertung der Hofdamen (Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen Xa 22). 71 Für diese veränderte Eheauffassung im münsterländischen Adel waren wohl vor allem die langfristigen Wandlungen im Ansehen der adligen Frau verantwortlich. Eine weitere Ursache ist aber an dieser Stelle noch hinzuzufügen: das seit dem Ende des Mittelalters steigende Heiratsalter der Frau. In dem Maße, in dem das Heiratsalter der Frau anstieg, mußten auch die Eheeinleitungsformen sich von der ursprünglich starken Fremdbestimmung lösen und, wenn auch zunächst noch sehr eingeschränkte Mitsprachemöglichkeiten für die zu verheiratenden Töchter vorsehen. Ein Beispiel für die frühe und umfassende Anerkennung eines Mitspracherechts der Tochter bei der Wahl ihres Heiratspartners findet sich in den Briefen des Vaters der Franziska v. Rump an zwei Bewerber um die Hand seiner Tochter (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 22 d, v. a. der Brief vom 22. 9. 1782 an den Rittmeister v. Droste). 72 Die folgende Darstellung beruht auf Briefen aus den Beständen: Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 239 c, e, i und m. Das Fehlen von Kindern mag auch dazu beigetragen haben, daß die Ehe der Henriette V. Graes, geb. v. Vaerst, unglücklich wurde. Sie schrieb am 27.10.1809 an den Rentmeister Averfeld über ihren Gatten:,,. . . der Mann, der mir Treue für Golt am Altar zugeschworen, welche Kränkungen, welche Hintansetzungen, welche Untreue habe ich eine Reihe von 33 Jahren zu dulden gehabt . . . " (STAM, Archiv Haus Diepenbrock, Akten II, Nr. 33 c). Wie wichtig die Kinder im münsterländischen Adel in dieser Beziehung waren, zeigt eine Bemerkung von Dinette ν. Plettenberg-Lenhausen, die in einem Brief vom 25. 3. 1809 noch vermeinte, die Geburt eines Jungen und zukünftigen Stammherrn könne eine unglückliche Ehe wieder kitten, während ein Töchterchen keine solche Wirkung habe: ,,Das Töchterchen wird der Familie eben nicht sehr willkommen gewesen sein, auch mir tut es leid, Mann und Frau wären sich vielleicht dadurch wieder näher gekommen." (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D II 17 Brief vom 25. 3. 1809). 73 Archiv V. Twickel- Havixbeck IG 239 c; Mechthild v. Twickel hatte 1775 Clemens August v. Galen, damals neunzehnjährig, geheiratet; sie starb 1791 ; der Erbkämmerer heiratete danach noch zweimal. Zu dem offenen Ehebruch des Erbkämmerers mit einer v. Westerholt vgl. auch den Brief der Mechthild v. Galen an ihren Bruder Clemens vom 6.? (ca. 1780/81) (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 239 i) und den Brief der Therese v. Droste-Sendenvom9.3. 1782, ebenfalls an Clemens (ebd., IG 239 e). 74 Einige Domherren hatten versucht, während eines Theaterabends durch eine Intrige ein von ihnen vermutetes Verhältnis zwischen Mechthild und einem Leutnant v. Wein aufzudecken ; man hatte ihr im Theater einen Zettel zugesteckt, auf dem ihr der plötzliche Tod dieses Leutnants gemeldet wurde. Zum ganzen Vorgang aus der Sicht Mechthilds vgl. ihren Brief vom 3. 3. (ca. 1780). 75 In Deutschland wurde das neue Familienmodell wohl zuerst von den Vertretern des unständischen, staatsbezogenen Bürgertums, insbesondere von den Beamten übernommen, deren soziale Lage bestimmt war durch fehlende korporative Absicherung, Isolation von der ständisch geprägten Umgebung, hohe Mobilität, Trennung von Berufs- und Wohnsphäre und einen durch Sachrationalität, intensive disziplinierte Arbeitsleistung und Innovation geprägten Berufsalltag (vgl. Hausen, Polarisierung, S. 382ff.). Für die Lage der protestantischen Pfarrer und für den münsterländischen Adel, die diese Ehevorstellungen auch übernahmen, treffen die meisten dieser Bestimmungsfaktoren aber nicht zu. Gemeinsam ist aber in mehr oder weniger starkem Maße allen rezipierenden Gruppen die Erfahrung der Herauslösung aus einer ständisch gesicherten Existenz, die Minderung elterlicher Kontrollmacht über die Kinder und deren durch Disziplin und Sachrationalität bestimmte berufliche Zukunft. Bei der Lösung dieser zu einem erheblichen 576

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Teil nur formal identischen Probleme muß das neue Modell in den drei verschiedenen Sozialgrappen wichtige Funktionen übernommen haben. 76 Tenbrack, S. 447; sehr wahrscheinlich hat der münsterländische Adel schon früh z . B . von den Ideen des naturrechdich argumentierenden aufgeklärten Bürgertums über die Gleichwertigkeit der Geschlechter und der daraus abgeleiteten Kritik bürgerlicher Autoren an der Zurücksetzung persönlicher zugunsten sachUch bestimmter Heiratsmotive im Adel Kenntnis gehabt. Ohne Zweifel haben auch die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch in Deutschland verstärkt einsetzenden Individualisierungsprozesse (Pietismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang) Meinungsbildung und Verhalten dieses Adels beeinflußt; doch sind solche neuen Einstellungsmuster wohl nur auf sehr vermitteltem Wege eingedrangen. Rezeptionswege, vor allem aber Art und Ausmaß der Einwirkungen, lassen sich nur schwer nachweisen bzw. rekonstruieren. Am ehesten kann man noch über Lektüreinhalte die Beeinflussung durch bürgerliche Eheauffassungen wahrscheinlich machen. So wurden z. B. aufklärerische Journale im Adligen Billardklub gehalten; vereinzelt ist die Lektüre englischer empfindsamer Eheromane, z. B. Goldsmith's Vicar of Wakefield und Richardsons ,Pamela' nachzuweisen; auch die in dieser Zeit qualitativ und quantitativ sehr zunehmende neue deutsche Literatur wurde zum Teil gelesen. Insofern ist eine Einwirkung literarisch vermittelter bürgerlicher Einstellungsmuster auf das Verhalten des münsterländischen Adels zwar wahrscheinlich, kann hier aber - von dem schon erwähnten Fürstenberg-Gallitzin-Kreis abgesehen - nicht differenziert und umfassend belegt werden. Schon Zeitgenossen, wie der Freiherr v. Knigge, haben aber auf die sozio-ökonomischen Grenzen des bürgerlichen Heiratsmodell hingewiesen und den Unterschied zwischen adliger und bürgerlicher Denkweise bzw. Lebensart in dieser Frage stark betont (Gebauer, Ehe, S. 109); Schücking, Familie, S. 128f. hat ähnliche Differenzen für England nachgewiesen. Zum aufgeklärten Bürgertum als dem wichtigsten Träger der neuen Ehekonzeption vgl. Hauser, S. 12-14; die Emotionalisierung und Imitierung der Familie, die neue Hochschätzung des Familienlebens und ein daraus abgeleitetes höheres Ansehen der Frau in bestimmten bürgerlich-puritanischen Kreisen Englands im 17. und 18. Jahrhundert beschreibt Schücking, Familie, v. a. S. 18, 39 u. 57; zur schrittweisen Entwicklung einer Vorstellung von der Gleichwertigkeit der Geschlechter auf der Grandlage des Naturrechts in Deutschland als einem entscheidenden Movens zur Aufwertung der Frau, sowie zur Ablehnung sachlicher Heiratsziele zugunsten der Betonung geistig-seelischer Beziehungen zwischen den Ehepartnern vgl. Gebauer, Ehe, S. 100-105 u. 109; Dörner, S. 59. 78 So eiferten z. B . schon seit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts die von bürgerlichen Redakteuren herausgegebenen aufklärerischen moralischen Wochenschriften - ganz im Einklang mit der merkantilistischen Bevölkerungspolitik - gegen das ehelose Leben, das besonders am Hofadel auffiel, aber wohl im Adelinsgesamt sehr weit verbreitet war (Gebauer, Ehe, S. 104, I I I u.a.; für die englischen moralischen Wochenschriften: Schücking, Familie, S. 128f.; für Frankreich: Snyders, S. 168f.). 79 Tenbrack, S. 431 definiert,,persönliche Beziehungen" in der folgenden Weise:,,Persönlich sind alle Beziehungen, welche Menschen auf der Breite des Daseins und nicht vorwiegend oder ausschließlich in engen, zweckbestimmten und leistungsorientierten Rollen zusammenführen." Als notwendige Ergänzung fügt er dann noch das Prinzip der Freiwilligkeit, der gegenseitigen Wahl, seiner Definition hinzu. Und S. 453 folgt noch eine weitere Bestimmung des Begriffs, wenn er, die Entstehung von solchen Beziehungen thematisierend, behauptet:,,Persönliche Beziehungen [sind] zu verstehen als Ergänzung einer inkompletten sozialen Struktur." 80 Als Beispiel für den ironisch-distanzierten Gebrauch hergebrachter Formeln sei ein Satz aus dem Brief des jungen Clemens II. August v. Twickel an seinen Schwager und Freund Karl Friedrich v. Droste-Senden angeführt; statt der bisher üblichen Schlußformel ,,ich ersterbe in tiefster Ehrfurcht . . . " heißt es bei ihm:,,Leb wohl, ich krepiere . . (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 238, Brief Clemens IL August v. Twickel, ca. 1774). Als Beispiele für eine neue, weniger den hergebrachten Formeln verhaftete, lebendigere Briefsprache zwischen Gleichaltrigen

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Reif, Adel

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und Geschwistern vgl. den Briefwechsel zwischen Clemens v. Oer, Student in Göttingen, und seinen Schwestern Clara und Franziska sowie die Briefe verschiedener Freunde des Clemens v. Oer (Archiv v. Oer E 840). 81 Die Vertraulichkeit war deshalb notwendig, weil in diesen Briefen häufig den Familiennormen entgegengesetzte Einstellungen zum Ausdruck kamen; vgl. dazu z . B . die Briefe, die Clemens v. Oer zu Beginn der zwanziger Jahre von seinen Freunden erhielt. Wie hier so wird auch in den Briefen anderer Freunde des Clemens immer wieder die Vertraulichkeit des Briefwechsels betont; Karlv. Böselager schließt z.B. seinen Brief vom 10. 1. K25,,es bleibt alles unter uns beiden, hörst du? Verbrenne daher diesen Brief gleich, wenn du ihn gelesen . . ."; und Clemens v. Romberg ist sogar so vorsichtig, das, was er dem Freund sagen will, nur auf sehr indirekte Weise im Brief anzudeuten, ,,. . . Verzeih, daß über alles sonstige mein Federkiel schweigt, doch mündlich, lieber Freund, wirst du vieles erfahren . . (Archiv v. Oer E 840). Nach den Geschwistern und den Freunden wurde als nächste die Mutter in den durch die neue Briefsprache gebildeten Kreis einbezogen: ein relativ frühes Beispiel dafür sind die Briefe des Clemens v. Oer aus Göttingen an seine Mutter. Im Brief vom 13. 3. 1823 schrieb er ihr: ,,Mein Fränzchen [seine Schwester, H. R.] will ich übrigens hierdurch post festum meinen herzlichen Glückwunsch schicken; du wirst so gut sein, die dazu gehörige Litanei ihr vorsingen; ich meine nämlich, das lange Leben, viel Nachfolger etc., und ihr dabei ein herzliches Küßchen auf die Backe drücken . . . Haben sich die alten Herren auch in diesem Winter so verdient gemacht um die Anholter Durchlauchter . . . " (Archiv v. Oer E 1385); dagegen blieben dieBriefeClemensv. Oer an den Vater noch weitgehend dem alten distanzierten Briefstil verpflichtet (vgl. z. B. ebd., Brief des Clemens vom 23. 11. 1823). 82 Man vergleiche zu diesem Zweck z. B. die unterschiedliche Qualität der Tagebücher des Freiherrn v. Heyden 1749, das lediglich eine Art erweitertes Notizbuch darstellt (Archiv v. Oer-Wohnung, Nr. 34), und des Ferdinand v. Galen (1824 ff.), in dem sich nahezu an jeden Bericht eines äußeren Ereignisses umfassende Selbstreflexionen anschließen (Archiv v. Galen-Assen F 528). 83 Darin, daß die Schwester zum voll anerkannten Gesprächspartner ihres Bruders wurde, liegt eine weitere Ursache für die Aufwertung der Frau; v. a. wenn der Mann, statt des stärker an weltlichen Inhalten orientierten Freundschaftsbundes, sein neues Selbstverständnis auf religiösen Inhalten aufbaute (vgl. z . B . Ferdinand v. Galen nach 1832 und seine Bindung an die ,,Schwester" Sophie v. Merveldt, geb. v. Ketteier), konnte die Frau einen außerordentlichen Einfluß auf den Mann gewinnen. Zur ,,guten Schwester" und zur Aufwertung der Frau durch die Intensivierung religiösen Erlebens in der Umbruchszeit vgl. auch Salomon, S. 87. Als Beispiel für einen individuell-emotionalen Vertrauenskreis zwischen Freundinnen vgl. den umfassenden Briefwechsel der Sophie v. Fürstenberg (Archiv v. Oer E 682). Wegen der starken Ausschließung der unverheirateten Frau von den meisten Praxisbereichen und der seit dem Ausgang des 18. Jahrhundens spürbar verbesserten Ausbildung der Mädchen kam es hier häufig zur Übernahme des gefühlvollen Briefstils der sentimentalen Briefromane des 18. Jahrhunderts. Vgl. hierzu z. B. die im ,Werther'-Stil abgefaßten Briefe der Therese v. Fürstenberg (Archiv v. Oer E 690 u. 840). 84 Der abschätzige Effekt wird z. B. dann deutlich, wenn von ,, bemoosten Häuptern" der Alten (Archiv v. Twickel- Havixbeck IG 266, Brief des August v. Droste-Vischering an Carl v. Twickel21. 8. 1818) oderauch vom Vater als dem ,, Alten" gesprochen wird. Zur neuen, außerordendich stark an gefühlsmäßig bestimmten Personbeziehungen orientierten Lebensform der Freundschaft und zu den vielfältigen Formen des Freundschaftskultes als einer sowohl vom Adel als auch vom Bürgertum genutzten neuen Lebensform des 18. Jahrhunderts vgl. Rasch, S. 13, 112 u. a., sowie Tenbruck, 433 f. u. 436: ,,Die große Epoche der Freundschaft in der deutschen Geschichte ist zweifellos das Jahrhundert von 1750 bis 1850." Hiermit ist die, ,Freundschaft" im Sinne einer rückhaltlos offenen, auf uneingeschränktem Vertrauen beruhenden Zweierbeziehung mit Ausschlußcharakter, eine Art,,Inselbildung" innerhalb umfassender sozialer Bezie578

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Hungen gemeint (Rasch, S. 56 u. a.); Salomon, S. 74f.;Bäsken, S. 55). Davon zu unterscheiden sind zum einen die schon thematisierten ,,politischen Freundschaften" zum anderen aber auch eine im 18. Jahrhundert weiter fortbestehende, unter Verwendung konventioneller Motive und Formeln sich selbst stilisierende, von der öffenriichkeit nicht abgeschlossene Freundschaftsform, die vorwiegend auf literarisch überformten Briefen beruhte, und auf ähnliche Freundschaften des Barockzeitalters sowie auf den Freundschaftskult der Humanisten zurückzuführen ist (Rasch, S. 3-5 u. 195 ff. ; Basken, S. 68 u. 79f. ; Salomon, S. 67 f.). Das wesentliche unterscheidende Merkmal zwischen dieser älteren Form der Brief-Freundschaften und der neuen Freundschaft liegt, neben der Tendenz der letzteren zu unmittelbarem Ausdruck von Gefühlen und realen Bedürfnissen, an dessen Stilisierung man nicht interessiert war, vor allem an der Absetzung der neuen Freundschaft von der weiteren Öffentlichkeit, selbst der Familie, als der bisher anerkannten letzten Grundeinheit sozialer Beziehungen. Mit Bezug auf die Barockfreundschaften schreibt Rasch S. 13: ,,Freundschaft ist im Barock eingebettet in die gesellschaftlichen Bedingungen, sie steht nicht im Gegensatz zur Gesellschaft, wie in der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts." Zu den pietistischen und aufklärerischen Formen von Freundschaftsbünden der bürgerlichen Intelligenz, aber auch des Adels in ihren verschiedenen Realisationsformen während des 18. Jahrhunderts vgl. Salomon, S. 60-^3, 72ff. u.a.; Lepenies, S. 76ff.; Gerth, S. 63ff.; Rasch, v.a. S. 63ff. und Basken, S. 49ff.; fast allen diesen vorwiegend literatursoziologisch orientierten Untersuchungen fehlt die sozialgeschichliche Rückbindung, die Untersuchung des konkreten sozialen Wandels ihres Untersuchungszeitraums, die Bindung der Analyse an eine Schicht und deren von der Familie, der Erziehung, den Standesnormen etc. bedingten Erfahrungshorizont. 85 Von den Generationen sind Altersgruppen vorhergegangener Zeiten streng zu unterscheiden; diese wurden seit jeher-schon bei den Naturvölkern - nach dem Grad der Teilhabe an bestimmten Rechten und Pflichten des vollen Erwachsenenstatus bestimmt, wobei das Alter einziges Kriterium war. Dieser Vorstellungsbereich des notwendigen Durchlaufens einer oder mehrerer Phasen geminderten sozialen Status vor dem Erwerb des vollen Erwachsenenstatus wird zwar in die neue, für die Zeit seit dem Ende des 18. Jahrhunderts geltende Altersgruppenvorstellung, die mit dem Begriff der,Generation' gekennzeichnet wird, aufgenommen, aber durch eine qualitativ besetzte Vorstellung von ,Gleichzeitigkeit' ergänzt; denn - und hier macht sich die intensive Erfahrung sozialen Wandels um 1800 bemerkbar - die Erfahrung einer Altersgruppe wird nun als einmalig aufgefaßt; schon von den Kindern der Beteiligten kann sie nicht mehr wiederholt werden (vgl. Mannheim, S. 516f., 528f. u. 536f.). Das Konzept der Generation wird hier auf die in der Umbruchszeit aufwachsenden münsterländischen Adligen angewandt. In der altständischen Gesellschaft stand ,Freundschaft', wie Familie und Verwandtschaft, unter den sachlichen Zielen der Familien- und Standespolitik. Sie bildete, wie die Verwandtschaft, einen Zwischenbereich zwischen Familie und Stand. Alle vier Bereiche zusammen - Familie, Verwandtschaft, Freundschaft und Stand - waren die Sozialisationsbereiche, die Personqualitäten und ein Selbstverständnis formten bzw. vermittelten, mit denen junge Adlige in der Gesellschaft einen sicheren und voll anerkannten sozialen Status gewinnen konnten. Das Aufkommen der neuen Freundschaft, und zwar gebunden an eine spezifische Altersgruppe, nämlich der bis Dreißigjährigen, signalisiert, daß die herkömmlichen Sozialisationsbereiche diese Aufgaben seit dem Ende des 18. Jahrhunderts immer weniger erfüllen konnten. Hier lag der Ausgangspunkt für Spannungen zwischen den Altersgruppen innerhalb des münsterländischen Adels zu dieser Zeit. Nach Eisenstadt entstehen nun Spannungen zwischen den Generationen innerhalb der Familie, aber auch umfassenderer Bezugsgruppen, wenn die von der Familie vermittelten wesentlichen Wertorientierungen mit den relevanten Wertungen in den von den Aufwachsenden angestrebten gesellschaftlichen Positionsbereichen nicht harmonieren; denn dann kann die Familie, die Verwandtschaft, der Stand etc. den Erwerb des vollen sozialen Status, d. h. vor allem die von dem Aufwachsenden angestrebte, von allen Mitgliedern der Familie und der Bezugsgruppe hoch bewertete Berufsposition, nicht mehr wirkungsvoll unterstützen, verhindert ihn z. T. sogar (Ei-

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senstatt, S. 48-50). Diese Situation war im münsterländischen Adel in geringerem Maße seit 1770, verstärkt aber nach 1803 gegeben. Eine Möglichkeit, die Verbindung zu den angestrebten Positionen, trotz sozusagen ,falscher' Vorbereitung, dennoch herzustellen, sind die Gleichaltrigengruppen, in denen - wegen gleicher Erfahrungslage und gleicher allgemeiner Ziele- auf emotional harmonischer Grundlage, insofern herrschten in ihnen ähnliche Verhältnisse wie in der bürgerlichen Familie, die eigenen Werte modifiziert, neue Einstellungs- und Verhaltensmuster erprobt und auch schon erste, für eine Bewährung in der angestrebten Position unbedingt erforderliche instrumenteile Fähigkeiten erlernt werden können. Wenn die Kluft zwischen Familiennormen und Umweltnormen sehr groß wird, können solche Gleichaltrigengruppen zu einer Ablehnung der Familie und weiterer Bezugsgruppen gelangen (Eisenstadt, S. 4 0 ^ 3 u. 238f.; vgl. auch Keniston, S. 631 ; Davis, S. 523 f. und J . Demos/V. Demos, S. 637). Ansätze hierzu waren im münsterländischen Adel um 1800 vorhanden. Daß die Fälle bewußt die Familien- und Standesnormen verletzenden Verhaltens adliger Jugendlicher seit den zwanziger und dreißiger Jahren zurückging, wäre nach Eisenstadt mit gelungener Integration der adligen Söhne in den neuen Staat durch Gleichaltrigengruppen zu deuten. Doch muß das Modell Eisenstadts hier erweitert werden: Er vernachlässigt die Möglichkeit, daß die Familie ihre Orientierungen partiell ändert und einen Übergang in die neue Situation - allerdings in der von ihr gewünschten Weise - unterstützt, also die Leistung der Gleichaltrigengruppen übernimmt. Welche der beiden konkurrierenden Prinzipien sich im münsterländischen Adel im Laufe des Vormärz durchsetzte, soll im folgenden untersucht werden. 86 Diesen Ausdruck verwandte Graf Bocholz in seinem ,,Gutachten über die SuccessionsOrdnung für die ritterschafthchen Familien 1831" (STAM, Nachlaß G . v. Romberg B, Nr. 31). 87 Vgl. hierzu den Brief des Clemens v. Metternich an Clemens v. Oer vom 21. 6. 1825. Als sich der Freund des Max v. Beverförde, der Offizier v. Gilles, erschossen hatte, schrieb v. Beverförde am 2. 6. 1824 an Clemens v. Oer: ,,Ja liebster Clemens, ich bin jetzt wieder sehr niedergeschlagen; alles liebste was man auf der Welt hat, geht einem verloren. Gewiß kommt bald die Zeit, wo ich ganz allein stehen werde, nirgends sehe ich Freude in der Zukunft, bessern kann sichs fast für mich nicht, aber es wird immer schlechter werden" (Archiv v. Oer E 840). Von seiner Familie sprach Max v. Beverförde nicht; gegenüber der Freundschaft hatte sie für den nachgeborenen Sohn deutlich an Wert verloren. Zur Freundschaft als einer die Familie ersetzenden Möglichkeit der Stabilisierung innerer und äußerer Verhaltensunsicherheit vgl. auch Tenbruck, S. 443; Salomon, S. lOff. 88 Archiv V. Galen-Assen F 528. 89 Gerade dei preußische Bürokratie, in der Ferdinand Fuß zu fassen suchte, war zu dieser Zeit schon außerordentlich stark nach sachlich-arbeitsteiligen Prinzipien aufgebaut; die diplomatische Laufbahn kam dem an Personwerten orientierten Adel noch am ehesten entgegen. Der Protest der nachgeborenen Söhne wandte sich gegen die Disziplinanforderungen, an die der Staat die Vergabe seiner Positionen band. Verschärft wurde die Aggression der Nachgeborenen aber auch noch dadurch, daß der Vater und auch der älteste Bruder und zukünftige Stammherr zur gleichen Zeit ihr von Disziplinanforderungen weitgehend freies Leben weiter lebten. Das wird aus den Briefen der Freunde des Clemens v. Oer besonders deutlich (vgl. Archiv v. Oer E 840, ζ. В. die Briefe des Max v. Beverförde vom 20. 12. 1823 und 28. 6. 1824). Im Gegensatz zu diesem nachgeborenen Sohn endete die Protestbereitschaft des zukünftigen Stammherrn wesendich früher, nämlich in der Regel dann, wenn er von seinem Vater ein Nebengut abgetreten bekommen hatte und heiraten durfte; das ist an den Briefen des anderen Freundes des Clemens v. Oer, des Theodor V. Fürstenberg, abzulesen (vgl. ebd., Briefvom 13.2. 1824 und denBriefMax V. Beverfördes vom 20. 12. 1823). 90 Andererseits aber ist diese Art und Weise, Protest zu formulieren, auch kein Einzelfall; das beweist z . B . der Brief Wilderichs v. Ketteier an Mathias v. Galen, den Bruder des Ferdinand, vom 20. 8. 1834 aus Berlin, in dem es unter anderem heißt: ,,Es ist wahrhaftig nicht wenig traurig, so an dien Orten die Religion und das Recht untergehen zu sehen, wo wird Hülfe werden? 580

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Wenn Gott nicht ein Wunder tut! Wie gerne würde ich mein erbärmhches Leben in diesem gerechtesten aller Kämpfe [im spanischen Krieg, H . R.] wagen. Der Entschluß, mich von Euch, die ich über alles liebe, loszureißen, würde mir unendlich schwer werden und nur der Gedanke, daß ich auch eure Sache mitverteidige, würde mir den Mut dazu geben. Ich gestehe dir, so viele Zufälligkeiten bei der Entstehung dieses Tuns schienen mir fast ein Fingerzeig des Himmels zu sein, endlich nicht bloß zu sprechen, sondern zu handeln, und wer ist wohl mehr dazu berufen, als ich, der ich hier nichts zu versäumen habe." (Archiv v. Galen-Assen F 690). 91 Hierher gehört z. B. der Konflikt des Stammherrn Lothar Clemens v. Fürstenberg in den siebziger Jahren mit seinem ältesten Sohn Franz Clemens, der im Zustand pubertärer ,Verwirrung' den Wunsch äußerte, Philosophie zu studieren und Gelehrter zu werden, ein Wunsch, den der Vater unter Anwendung aller Mittel seiner väterlichen Gewalt brutal unterdrückte, damit das Leben des Kindes zerstörte, es in die Bahn eines zuletzt abseits der adligen Gesellschaft, am Rande des Münsterlandes, dahinvegetierenden, allseits diffamierten Sonderlings drängte. Das Bemühen der pädagogisch informierteren Brüder des Vaters, des Ministers Franz und des späteren Fürstbischofs Franz Egon, selbst das vermittelnde Eingreifen des Kurfürschen, konnte diese Unterdrückungsmaßnahmen nicht verhindern (DAM, Nachlaß Franz v. Fürstenberg, Nr. 217). Als Beispiel für die spätere Zeit sei auf das Ausscheiden des Carl v. Merveldt aus dem Militärdienst bei der Garde in Berlin und dessen Heirat und Rückzug auf den Wohnsitz seiner Frau, wo er lange Zeit ohne weitere berufliche Tätigkeit blieb, hingewiesen; das alles geschah zum großen Mißvergnügen und gegen den Willen seines Vaters, dessen Zwangsmittel gerade zu dieser Zeit ungewisser erbrechtlicher Absicherung des Familienbesitzes in einer Hand so geschwächt waren, daß er den Konflikt mit dem Sohn nicht wagte. (Vgl. Archiv v. Merveldt, Nachlaß August Ferdinand V. Merveldt, Vol. ΙΠ.) 92 Den Begriff,,abenteuerlich" verwendet v. Klocke zur Kennzeichnung der von ihm dargestellten Heiratsfälle. Die Nebenumstände solcher Heiraten wurden vor allem deshalb so außerordentlich ereignisreich, weil sowohl die zur Stärkung des Familienvaters vom Konzil von Trient aufgestellten formalen Stufen der Eheeinleitung (dreimalige Verkündigung von der Kanzel, Heirat nur vor dem zuständigen Ortspfarrer und Eintragung in ein Trauungsbuch, zwei Zeugen etc.) durch Dispense und Schachzüge, als auch das Kontrollsystem der Familie und des Standes durch zum Teil bei ,Nacht und Nebel' ablaufendes Handeln umgangen werden mußte, wie z. B. im Falle des im Jahre 1788 nachts mit seiner Braut vor dem Pfarrer erscheinenden Maximilian Friedrich v. Droste-Hülshoff, der sich als Domherr im Kanonischen Recht besonders gut auskannte (vgl. dazu v. Klocke, Hochzeiten, S. 16ff.). Maximilian-Friedrich - und das war die Kehrseite seines Handels - war bis zum Tod seiner Schwiegereltern gezwungen, unter recht bescheidenen Existenzbedingungen - bis zur preußischen Zeit außerhalb Münsters - zu leben. Seine Söhne studierten ,bürgerliche' Fächer und wurden Philosophieprofessor bzw. Kinderarzt. Um die Unterstützung seiner Söhne durch die Stiftung v. d. Tinnen für studierende Kinder verarmten Adels mußte er lange kämpfen; erst durch einen Prozeß konnte er sich gegen seine ehemaligen Standesgenossen durchsetzen. Über seine Lage hieß es 1805 in einer Instruktion der Königlich-Preußischen Landesregierung Münster:,,. . . dann ist die Geschichte und Lage des Klägers folgende: Der Kläger war vor langen Jahren Kapitular der hiesigen Kathedralkirche; er ehelichte eine Bürgerliche . . . Wenn auch der Schritt, vor mehreren Jahren zu heiraten, den Kläger aus seiner damals vorteilhaften Lage als Kapitular, in eine andere versetzte, wo die Aussicht in die Zukunft nicht die beste war, nach seiner Individualität gerechnet, eine Karriere einzuschlagen, worauf er schicklicher Weise Unterhalt finden könnte, so kann doch dieses jetzt nicht in Beachtung kommen . . ." (Archiv v. Droste-Hülshoff, N r . 40). 93 Vgl. Bruns, S. 620-24; eine ähnliche Fixierung, und zwar auf bürgerliche Mädchen scheint bei Fritz V. Boeselager bestanden zu haben; vgl. den Brief seiner Tante Dinette ν. PlettenbergLenhausen an Franz v. Droste-Vischering vom 16. 1. 1822 (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt Dllf 17). 94 Vgl. z. B. die Rechtfertigung Theresias v. Twickel, die ihre Eltern 1804 bei der Eheanbah-

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nung umgangen hatte, und in einem Brief an die Mutter den Konsens des Vaters nachträglich zu erlangen suchte (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 240 o; o. D.). In derselben Familie kam es 1836 zu intensiven, letztlich aber erfolglosen Bemühungen aller Familienmitglieder, die Heirat Edmunds v. Twickel mit einem besitzlosen Bauernmädchen zu verhindern. Die Familie Schloß Edmund zwar aus ihrem Lebenskreis nahezu völlig aus; die verstärkte Gefühlsbindung zwischen Eltern und Sohn und die reduzierte väterliche Gewalt ließen aber eine .harte' Unterdrückung seines Plans durch den Vater nicht mehr zu. Im Gegenteil, der Vater stattete den Sohn nach seiner ,,Entfernung" noch mit einem Bauerngut aus, das wahrscheinlich in der Nähe des Stammsitzes Havixbeck lag. Durch die Mißachtung der Heiratsdisziplin verlor Edmund aber ansonsten jeglichen Anteil an den von der Familie zu vergebenden Lebenschancen, z . B . die angestrebte Ausbildung zum wissenschaftlich gebildeten Landwirt, zum Ökonomen (vgl. den Brief Josephs V. Twickel an seine Mutter vom 14. 10. 1838, Archiv v. Twickel-Havixbeck, 240 1). Edmund akzeptierte seine ,Entfernung' von der Familie. Auch die Briefkontakte blieben gering. Erst kurz nach dem Tod des Vaters scheint er zu einem ersten Besuch mit seiner Familie wieder nach Havixbeck gekommen zu sein (vgl. ebd., 240 k, Brief Antonettas v. Merveldt, geb. v. Twickel an ihre Mutter, o. D.). Über die Art der wenigen informell noch fortbestehenden Kontakte schrieb Annette V. Droste-Hülshoff an ihre Mutter am 24.10. 1837: ,,Das Gespräch, als ob Louis Twikkel auch ein Bauernmädchen heiraten würde, ist allgemein; doch weiß ich nicht, ob man ihm eine bestimmte oder nur im Allgemeinen die Tendenz zulegt. . . . Mit Edmund geht es schon elend, sie können nicht fertig werden, obgleich Viktorine tut, was sie kann und jeden Abend ein Mann mit einem Schiebkarren oder einem schweren Sack dort hinziehen soll. Die Frau soll auf ein hohes Pferd steigen wollen und Edmund ihr dagegen unaufhörlich Vorwürfe machen, daß sie ihn ins Unglück gebracht; kurz es geht elend." (Annette v. D . - H . Briefe, Bd. 1). Die alte Lösung, solch als ,galant' aufgefaßten Abweichungen des Adels in bürgerliche Bereiche zu beheben, die Auszahlung des schwangeren bürgerhchen Mädchens, suchte der Onkel im Fall des Levin ν. Elverfeldt durchzusetzen (vgl. Bruns, S. 622). 95 Vgl. dazu z . B . den Vater-Sohn-Konflikt in der Familie v. Droste-Hülshoff um 1790 (v. Klocke, Familie, S. I I I ) ; ein besonders spät liegender Streit dieser Art ist der in der Familie v. Landsberg-Velen um 1840 (vgl. STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 14438, Denkschrift Frizt Ludolfs v. Landsberg-Velen an seinen Vater vom 19. 12. 1840 und ebd., Nr. 7768, Brief Ignaz v. Landsberg-Velen an seine Frau Louise vom 9. 6. 1841). 96 Archiv V. Twickel-Havixbeck IG 233 i; weitere Domherrn heirateten am Ende des 18. Jahrhunderts; z. B. 1788 der Domherr v. Droste-Hülshoff (vgl. v. Klocke, Hochzeiten, S. 16 ff.) und um 1790 bzw. 1822 der Domherr v. Schorlemer (zwei Heiratsversuche, die an fehlender Dispens scheiterten, vgl. Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D II f 17, Brief Dinettes ν. Plettenberg-Lenhausen vom 6. 5. 1822). Zum Heiratsversuch des Domherrn v. Galen 1797 schrieb Clemens v. Korff an seine Mutter aus Berlin am 14. 3. 1797: ,,. . . Domherr Galen muß seinen halben Verstand verloren haben, daß er noch Absichten auf die Dinette hat, in dem Fall hat doch Hanxleden weit klüger gehandelt . . . " (Archiv v. Korff-Harkotten IFh 1, 21. Bd.); zu den Domherrnheiraten des frühen 19. Jahrhunderts, z . B . zur Heirat des Domherrn v. Ascheberg 1822, vgl. Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge, Briefe Jennys v. Laßberg an ihre Mutter vom 19.4. 1829 ; zu den auf die Kammerjungfer seiner Mutter gerichteten Heiratsabsichten des Domherrn V. Elverfeldt vgl. Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D l l f 18, Brief des Franz v. Droste-Vischering vom 20. 5. 1821). 97 Annette v, Droste-Hülshoff an Sophie v. Haxthausen am 5. 9. 1837 (Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 1). Ähnliches schrieb der spätere Bischof Wilhelm v. Ketteier aus München am 5. 6. 1842 an seine Schwester Sophie v. Merveldt:, ,Mit der Heiratswut kommt es bei uns noch auf einen gefährlichen Punkt. Es ist und bleibt aber auch meine feste Überzeugung, daß es nur zwei Stände auf Erden gibt: den geistlichen und die Ehe, von den Gefahren, die auf dem ni l'un ni l'autre hegen, habt ihr Frauen wohl keine Ahnung" (Raich, S. 116). Die Tendenz zur Gründung einer eigenen Familie verstärkte sich entsprechend der zur Freundschaft; und zwar in dem Maße, 582

Anmerkungen zu Seite 272-274 in dem die neue Wirksamkeit dieser beiden Lebensbereiche erfahren wurde. Da die nicht heiratenden Onkel und Tanten, infolge der neuen Anforderungen an die Familie aus der emotional intensivierten Kernfamilie des Stammherrn weithin ausgeklammert waren, litten sie, je später, je mehr, an der ihnen auferlegten Familienlosigkeit. 98 Mündliche Mitteilung von Oberarchivrat Dr. Wolf, Münster, der an einer Biographie des Fürstbischofs arbeitet. 99 Archiv V. Nagel-Vornholz Ala 131 ; am 19. 6. 1758 hatte Löhers über das Testament der verstorbenen Schwester Hermann Adolphs, einer Stiftsdame zu Borghorst, nach Wien gemeldet, man habe ihm bei seiner Anwesenheit in Borghorst ,,ein Testament zu lesen gegeben, welches sehr kindisch, närrisch, und Hochderoselben ziemlich nachteilig herauskommt, es ist schade, daß nicht ein vernünftiger Mensch zuletzt bei ihr gewesen". (Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 131) ; auch von der Tante Äbtissin v. Nagel erwartete Löhers ein ähnliches Testament (ebd., Brief vom 21. 10. 1758). 100 Vgl. Z.B. den Konflikt zwischen Antonette v. Korff, geb. v. Böselager und ihrem Bruder Clemens F . v. Böselager-Eggermühlen, der 1799 mit einem Vergleich vor Gericht endete (Archiv v. Korff-Harkotten IFg, 25. Bd.). Über die erhöhte Belastung und Verschuldung seiner Güter durch die steigenden Brautschatzlasten klagte z. B . Clemens II August v. Twickel in den Briefen an seinen Schwager v. Morsey, der seine Frau in der Forderung nach einem höheren Brautschatz unterstützte. In einem Brief vom 25. 8. 1787 an v. Morsey schrieb er: ,,Daß Dir meine Ausdrücke empfindlich sind, kann ich nicht glauben, so hart habe ich denn doch nicht geschrieben; Deine Notamina, die Du bei den Ehepakten in der letzten Zeit vor der Heirat gemacht hast, liegen noch unter Deiner Hand, wohlverwahrt bei den Ehepakten; dai? der Brautschatz für meine Schwestern in Betracht der Güter und Lage, wie sie sind, zu stark ist, ist täglich erweislich ; daß es aber eine Kleinigkeit für denselben sei, völlig unwahr, meiner Schwester kann ich es nicht verdenken; denn diese hat keine Einsicht von meinen Güters, weil sie die Einkünfte nicht kennt; die spricht's, nehme es mir nicht übel, als ein Blinder von der Farbe . . . " (Archiv v. TwickelHavixbeck I G 238). 101 Bernhardine v. Graes setzte z . B . in ihrem Testament vom 1. 4. 1805 den Kanonikus Adam als Erben ein, und zwar ,,aus Dankbarkeit und für die mir jederzeit gezeigte wahre Freundschaft zur Zeit, da mein einziger Bruder mich in der größten Verlegenheit gelassen hat, und sich Hochwüridger Herr mir die nötigen Gelder vorgeschossen haben". (STAM, Haus Diepenbrock, Akten II, Nr. 33a). Ein Beispiel für bewußte Vererbung von Schulden an den Stammherrn ist der Fall der Anna E. F . v. Droste-Hülshoff, Äbtissin zu Metelen. In ihrem Testament hinterließ sie 1805 ihr Vermögen dem Neffen und Stammherrn Clemens August v. DrosteHülshoff, nahm jedoch 1800 Taler, die sie einer milden Stiftung zukommen ließ, davon aus. Bei der Aufrechnung ihres Nachlaßvermögens blieben infolgedessen nur Schulden übrig (Archiv v. Droste-Hülshoff F , Akte 75). Ähnlich verhielt sich die Stiftsdame von Metelen, Maria Clara v. Oer (vgl. Archivv. Oer E 563; Brief Max v. Oer an seinen Vetter Clemens vom 11. 12. 1844). Fälle, in denen der Rückfall des Vermögens der Stiftsdame an den Stammherrn zugunsten eines verzichtenden Bruders etc. ausgeschlossen wurde, finden sich z . B . im Archiv v. Merveldt, Nachlaß Marianne v. Merveldt, Vol. I, Testament vom 7. 6. 1828 oder in: Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 2; Brief vom 29. 8. 1843 an Maria v. Brenken bzw. vom 17. 2 . 1 8 4 3 an ihre Schwester. 102 Archiv V. Korff-Harkotten IFh3, 28. Bd. ; vgl. auch den Testamentsentwurf Antonettas V. Merveldt von 1836/37 (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Ferdinand Anton I v.· Merveldt, Vol. X I ) . 103 Aus einem Promemoria der Antonetta v. Nagel an das Pupillenkollegium in Münster, o. O . , 1805 (Archiv v. Nagel-Vornholz A III 257). 104 In einem Promemoria vom 6. 10. 1820 bezweifelte der ehemalige Domherr Paul Burchardt V. Merveldt, als die Ehepakten zur Heirat seines Neffen und zukünftigen Stammherrn Ferdinand Anton aufgesetzt wurden, das ,,Opfer (der nachgeborenen Söhne, H . R . ) keinen Anteil an den Familiengütern zu erhalten" betonend, den Ausschluß der Bruderlinie des Stamm-

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Herrn zugunsten der Stammherrntöchter. Er interpretierte dabei den Willen der Vorfahren aufgrund der veränderten Bedingungen für den Stiftsadel im preußischen Staat in starkem Maße zugunsten der nachgeborenen Söhne um. (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Ferdinand Anton v. Merveldt, Vol. XI). Als er sich mit diesem Promemoria bei seinem Bruder nicht durchsetzen konnte, kühlte sich das Verhältnis zur Stammfamilie merklich ab und 1834, nach dem Todes seines Bruders, kam es zum Konflikt mit seinem Neffen, dem neuen Stammherrn, als er diesem mitteilte, daß er die Absicht habe, eine Sekundogenitur, die im Grunde aber eine verdeckte Nebenlinie zugunsten eines Adoptivsohns war, zu gründen (ebd., Brief Paul Burchardts an Ferdinand Anton vom 7. 11. 1834). Der Familienrat lehnte es ab, diesem Adoptivsohn den Familienadel zuzugestehen, wie es Paul Burchardt gefordert hatte. Paul Burchardt aber betonte weiterhin, daß die ,,Familienstammgüter" des münsterländischen Adels ,,eigentlich kein Fideikommiß, sondern nur ein Notbehelf sind. Indessen hat sich diese Einrichtung bis jetzt von großem Werte für die Erhaltung der Familie bewiesen; sie dürfte jedoch, weil sie ihren Zweck nicht vollkommen erfüllt und die nachgeborenen Söhne sich mehr wie sonst verheiraten werden, eine zeitgemäße Abänderung erfordern, wenn sie nicht bald durch Prozesse . . . und Concussionen zerfallen soll." (ebd., Brief an Ferdinand Anton vom 7. 11. 1834). Im Jahre 1828 kam es zu einem Konflikt zwischen Carl v. Merveldt und seinem Vater August Ferdinand. Um in den Besitz eines landtagsfähigen Gutes, eine Vorausetzung für seine Wahl zum Landrat, zu gelangen, bat Carl seinen Vater, ihn zum Schein eines der Merveldtschen Fideikommißgüter zu verkaufen. In der anschließenden Disskussion mit seinem Vater, der dieses ,,Ansinnen" scharf ablehnte, äußerte Carl in ähnlicher Argumentation wie sein Onkel Paul Burchardt, daß die Fideikommisse des Adels im Münsterland ohnehin rechtlich nicht abgesichert seien, (vgl. Archiv v. Merveldt, Nachlaß Carl H . v. Merveldt, Vol. I, v. a. den Brief Carls vom 9. 2. 1829, und Vol. III, v. a. den Brief August Ferdinands, o. D., 1829). In diesen Konflikten standen sich das alte Rechtswissen des Stammherrn und das neue, auf den modernen preußischen Staat bezogene Rechtswissen des nachgeborenen Sohnes gegenüber; der nachgeborene Sohn hatte zwar recht, doch der Stammherr hatte die größere Macht und die Sanktionsmittel; deshalb mußte sich ersterer - trotz besseren Wissens - unterwerfen. 105 Vgl. dazu z. B. die Sorgen, welche die Familie v. Droste-Vischering mit ihrem Sohn Joseph (Archiv V. Plettenberg-Hovestadt Dllf 17, Brief vom 28. 3. 1821), die Familie v. Merveldt mit ihrem Sohn Diedrich hatte (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Marianne v. Merveldt, Vol. I., Brief Ferdinand Antons vom 23. 9. 1844); beide standen in österreichischen Militärdiensten. Und am 30. 7. 1842 urteilte der spätere Bischof Wilhelm v. Ketteier aus München über seinen Bruder August,der ebenfalls außerhalb Westfalens lebte:,,. . . es ist ein Wunder, wenn er nicht endlich unserer Denkweise fremd wird, wie es noch allen passiert, die ihr ganzes Leben fern von der Heimat zugebracht . . ." (Raich, S. 117f.). 106 Clemens Einkommen belief sich damals auf ca. 1 ООО R T p r o Jahr (vgl. Archiv v. Merveldt, Nachlaß Sophie v. Merveldt, Vol. I, Brief Carls v. Merveldt an seinen Bruder Clemens vom 20. 11. 1853). Das war zwar für einen nachgeborenen Sohn seines Alters eine stattliche Summe, reichte aber für ein standesgemäßes Leben nicht aus. Annette v. Droste-Hülshoff legte das zur Haushaltsgründung erforderliche Mindesteinkommen auf 2000 RT pro Jahr fest (Annette V. D . - H . , Briefe, Bd. 1, Brief an ihre Mutter vom 1. 8. 1838). 107 In einem Brief an seinen Bruder Ferdinand Anton vom 23. 9. 1846 deutete er, wenn auch verdeckt, einen möglichen Prozeß an:,,Denke nicht, lieber Ferdinand, daß ich einen unbesonnen Prozeß gegen Dich anfangen werde. Ich will die Sache erst gründlich prüfen lassen und Dir das Resultat dann mitteilen. Hätte ich wirklich Rechte, so erlaubt mir meine Lage nicht, diese ohne weiteres aufzugeben . . ." (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Sophie v. Merveldt, Vol. I, Akte ,.Clemens"). 108 Archiv V. Merveldt, Nachlaß Sophie v. Merveldt, Vol. I, Akte ,,Clemens". 109 Ebd., Schiedsspruch aus dem Jahre 1847. 110 Carlv. Merveldt in einem Brief an seinen Freund V. Metternich am 22.11.1853 (Archiv v. 584

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Merveldt, Nachlaß Sophie v. Merveldt, Vol. I, Akte: „Clemens"). Carl hatte schon kurz nach dem Verkauf festgestellt, daß das an Clemens abgegebene Kerkloh-Erbe als Ersatz für anderweitig verloren gegangenes Fideikommiß-Gut vorgesehen war, und insofern gar nicht verkauft werden durfte; Ferdinand antwortete auf diesen Vorwurf, in dem Promemoria an seine Geschwister vom 20. 11. 1847: ,,Ob ich das vorstehend bezeichnete Opfer bringen mußte, ob ich besser gehandelt haben würde, das mag ein anderer entscheiden! Mir hat es Kampf genug gekostet!" Zu Clemens Bemühung um weitere finanzielle Unterstützung, vgl. z . B . die Briefe vom 19. 11. 1853, 31. 8. 1856, 2. 9. 1856 etc. an seine Schwestern Bertha v. Nagel bzw. Paula v. Korff-Schmiesing sowie an seinen Bruder Carl (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Sophie v. Merveldt, Vol. I, Akte: „Clemens"). 111 Schon 1853 bestand diese Trennung; denn August v. Spee schrieb an seine Schwägerin Bertha v. Nagel am 14. 12. 1853: ,,Clemens ist zu leichtsinnig und schwankend und so lange nicht durch förmliche Scheidung jede Möglichkeit abgeschnitten ist, die Hexe wieder bei sich aufzunehmen und die Kinder, besonders die Tochter, vor ihren Klauen durchaus gesichert ist, wäre wohl auch alles vergeblich und in ein paar Jahren wäre die Sache eher schlimmer wie besser" (Archiv V. Nagel-Vornholz Ala 178). Zur Kontrolle der Familienstiftungseinnahmen vgl. z. B. den Brief Clemens an seinen Bruder Carl vom 19. 11. 1853. Zu den Aufforderungen Carls, in eine andere Region abzuwandern, vgl. z . B . seinen Brief vom 2. 11. 1856. In einem Brief an seine Schwester Paula vom 28. 8. 1856 berichtete er, Clemens habe schon anläßlich des Streits um seine Mißheirat gesagt, ,,daß er einschließlich der ganzen Famihen Bagage seiner damaligen Concubine . . . in der Sache bloß nach seinem Willen verfahren werde, wir möchten dagegen sein oder nicht"; er aber habe gefordert, daß Clemens ,,nachdem er sich einmal durch seinen . . .vorsätzlich ausgeführten Leichtsinn von uns losgesagt hat, wie auch von unserem Anstandsverhältnissen, solches nur zunächst nach wie vor dadurch hätte wieder gutmachen sollen, können und müssen, daß er das hiesige Land ganz und gar meide" (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Sophie v. Merveldt, Vol. I, Akte: ,,Clemens"). 112 So beurteilte Friedrich v. Metternich, ein Freund der Familie Merveldt und Nachbar Clemens v. Merveldt im Paderbornschen, die landwirtschaftlichen Meliorationsmaßnahmen, die dieser auf seinem Gut durchführte, durchaus positiv (Archiv v. Nagel-Vornholz, Nachlaß Berthav. NagelAIa 178; Brief Metternichs an Carl v. Merveldt vom 27. 11. 1853). Maxv. Korff schrieb am 29. 7. 1873 in sein Tagebuch über einen Besuch bei seinem Onkel Clemens v. Merveldt, Amtmann in Salzkotten: ,,. . . bei dieser Gelegenheit lernte ich auch seine Gemahlin, Jenne kennen, ein Wesen niederer Herkunft, die mein Onkel bereits in reiferen Jahren die Torheit zu heiraten gehabt hat, nachdem er bereits vorher höchst unglücklich verheiratet war. Ein ganzer Haufen etwas verwahrlost aussehender Kinder diente nicht dazu, das Bild dieser Häuslichkeit zu einem sehr reizenden zu gestalten . . ." (Archiv V. Korff-Harkotten, Kladde: Max V. Korff, ,,Aufzeichnungen aus meinem Leben".) 113 Archiv V. Galen-Assen F 528; vgl. auch die ähnliche Einstellung zum Gewehr und zur Jagd bei Max v. Beverförde (Archiv v. Oer E 840, Brief an Clemens v. Oer vom 20. 12. 1823). 114 Als der beruflich erfolgreiche, insofern vom Typ des positionslosen ,Onkels' sich stark unterscheidende Ferdinand v. Galen nach langer Abwesenheit wieder ins Münsterland kam, wurde er zwar von allen ,,freundlich" begrüßt; aber es ,,. . . drängte sich mir auch in dieser Umgebung das Bedürfnis eigenen häuslichen Glückes jetzt lebendiger wie je auf; denn das Bewußtsein entwickelte sich in mir mit immer größerer Klarheit, daß ich Allen lieb, aber Allen entbehrlich sei . . ." (Archiv V. Galen-Assen F 528). Aus der großen Zahl solcher berufslosen ,Onkel' im katholischen westfälischen Adel seien einige Beispiele hier angeführt, z . B . August v. Droste-Vischering, der zeitweise bei der Schwester Dinette ν. Plettenberg in Hovestadt, zeitweise bei seinem Bruder Adolph in Darfeld, zeitweise auch bei anderen Verwandten lebte, zur Jagd ging, auf eine Domherrnstelle wartete und einen großen Lotto-Gewinn erhoffte (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D Ilf 12/18, Briefwechsel Dinettes ν. Plettenberg mit ihrem Bruder Franz V. Droste-Vischering, v. a. die Briefe Dinettes an Franz vom6. 3.1811,4. 10. 1815,27. 12. 585

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1815 und 25. 6. 1820 sowie die Briefe Franz an Dinette vom 24. 8. 1812, 12.5. 1 8 1 3 , 2 5 . 5 . 1813 und 26. 10. 1813. Mehrfach werden solche ,Onkel' und ihre wenig praktische und nutzbringende Tätigkeit von Annette v. Droste-Hülshoff erwähnt, z. B. in dem Brief an ihre Schwester vom 18.7. 1843:,,Onkel Fritz und Karl kommen eben von dorther, sie sind 10 Tage fortgewesen und in dieser Zeit bei Brenkens, Paul Merveldt (Hardehausen), alte Bocholzen (in Niessen) undjunge(in Alme), WendtsundLünings. DasnenneichseineZeit benutzen! . . ."(Annettev. D . - H . , Briefe, Bd. I). 115 Vgl. Annettev. D . - H . , Briefe, Bd. 1 u. 2, Briefe vom 23. 1. 1843,3. 1. 1845, 19.2. 1843, 17. 7. 1843,31. 1. 1845und27. 10. 1845. Zum Selbstmord als einer anderen extremen Form der Lösung des Onkelproblems vgl. das Beispiel Max v. Westerholt (v. Westerholt, F G . , S. 220-224) ; ein Bruder des Max, ebenfalls ein nachgebörener Sohn, wie Max im Militärberuf ohne Erfolg, kam 1829 als Führer einer Bande mit dem Gesetz in Konflikt (ebd., S. 211-215). 116 Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 2. 117 Die Fälle, in denen Tanten die Erziehung der Kinder des Stammherrn übernahmen, sind zahlreich. Am bekanntesten ist wohl das Beispiel der Annette v. Droste-Hülshoff, die mehrere Jahre bei ihrer Schwester Jenny v. Laßberg Erzieherin der beiden Töchter war. Als sie noch in Hülshoff lebte, hatte sie zum Teil den Unterricht der Kinder ihres ältesten Bruders und Stammherrn Werner übernommen (vgl. Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge, Brief Jennys an ihre Mutter vom 11. 3. 1837 u. 7. 3. 1848). 118 Annette v. Droste-Hülshoff, selbst Tante, beobachtete sehr genau in ihrer Umgebung das Problem der unverheirateten Töchter; teils hob sie sich ironisch von deren Verhalten ab, (,,damals hätte Julchen ihn mit beiden Händen genommen, wie sie überhaupt nur eine greuliche Angst vor dem alten Jngfernstande hat", Briefe, Bd. 1, S. 356), teils empfand sie aber auch deutlich deren trostlose Stellung und den oft hoffnungslosen Kampf gegen ein Abgeschobenwerden, wie es bei der ,Tante' aus Bonn in der Familie v. Haxthausen geschah:,,. . . Dagegen ist ihnen die Gegenwart der Tante unbeschreiblich lästig . . . sie arbeiten jetzt alle stark darauf, daß sie nach Paderborn ziehen soll . . . Vor ihrem Blindwerden hat Karl gar keinen Respekt und sagt, es wäre Langeweile . . . " (Annette v. D . - H . , Briefe Bd. 2, Brief an ihre Schwestervom 10. 9. 1842; ähnlich im Brief an Pauline v. Droste-Hülshoff vom 17. 7. 1843). Die Spannungen, die zwischen der Frau des Stammherrn und den mit den Gutsverhältnissen besser vertrauten Töchtern entstehen konnten, klingen in z. B. einem Brief an ihre Schwester vom 17. 2. 1843 an (ebd., Bd. 2). 119 So pflegte z. B . Phinchen v. Boeselager seit frühester Jugend zwanzig Jahre lang eine alte Tante, die Äbtissin in Freckehorst gewesen war, wurde darüber selbst alt und zur ,Tante', die zwar spater, als Erbin der Äbtissin, sorgenlos leben konnte, jedoch insgesamt ,,nur wenig vom Leben gehabt hat" (Annettev. D . - H . , Briefe, Bd. 2; Brief an Maria v. Brenken vom 29. 8. 1843). 120 Die Erfahrung heiratswilliger Töchter im münsterländischen Adel unter den Bedingungen der Knappheit heiratsberechtigter Männer wird wohl am klarsten aus einem Brief Annettes V. Droste-Hülshoff an Elise Rüdiger vom 2. 1. 1844 deutlich: ,,Ich habe Ihnen ja schon früher erzählt, wie wir sämtliche Cousinen haxthausischer Branche durch die bittere Not gezwungen wurden, uns um den Beifall der Löwen zu bemühen, die die Onkels von Zeit zu Zeit mitbrachten, um ihr Urteil danach zu regulieren, wo wir dann nachher einen Himmel oder eine Hölle im Hause hatten, nachdem diese uns hoch- oder niedrig gestellt. Glauben Sie mir, wir waren arme Tiere, die ums liebe Leben kämpften . . . so daß ich mir tausendmal den Tod gewünscht habe. Ich war damals sehr jung, sehr trotzig und sehr unglücklich und tat, was ich konnte, um mich durchzuschlagen . . . bitte, verbrennen Sie diesen Brief! Ich möchte um alles nicht, daß diese Worte in der Welt blieben! . . . " (Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 2) 121 Ferdinand v. Galen sah für eine adlige Frau auch nur die Alternative Heirat oder Kloster, wenn er behauptete, ,,daß die Bestimmung des Weibes nur eine ist und daß, wenn sie diese nicht erreichen kann, das Kloster besser für sie ist als die Welt". (Archiv v. Galen-Assen F 528). Jeder Versuch, doch eine von der Alternative Heirat oder Kloster abweichende Existenz zu begründen, stieß auf harte Widerstände der Männer. Annettev. Droste-Hülshoff, die Dichten als ,,eine

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Art von Ersatz, der nur wenigen geboten wird" auffaßte (Briefe, Bd. 2, Briefe an Elise Rüdiger vom 2 . 1 . 1844), mußte in dieser Hinsicht auch ihre negativen Erfahrungen machen. Als sie einen Gedichtband unter ihrem Namen herausgab, wurde das in ihrer Umgebung, vor allem von den Männern, sehr distanziert, zum Teil ablehnend aufgenommen (vgl. z . B . den Brief Jennys v. Droste-Hülshoff an ihre Mutter vom 3. 1. 1839, Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge). Am 29. 1. 1839 berichtete Annette an ihre Schwester Jenny: ,,Mit meinem Buche ging es mir zuerst ganz schlecht . . . Ferdinand Galen gibt die erste Stimme, erklärt alles für reinen Plunder, für unverständlich, konfus und begreift nicht, wie eine scheinbar vernünftige Person solches Zeug habe schreiben können. Nun tun alle die Mäuler auf und begreifen alle miteinander nicht, wie ich mich habe so blamieren können . . . Obschon, wie gesagt, das Urteil eines solchen Kritikers (F. Galen) mich wenig rühren konnte, so mußte ich doch zwischen diesen Leuten leben, die mich bald auf feine, bald auf plumpe Weise verhöhnten und aufziehen wollten." (Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 1) Woesler, der diese Schwierigkeiten der Dichterin untersucht hat, resümiert S. 28 : ,,Ohne je an ein Ausbrechen aus diesen Standesschranken zu denken, unterwarf Annette die Produktion ihres Geistes freiwillig einer bis ins einzelne gehenden Familienkritik." 122 Vgl. Hareven, History, S. 401: ,,It is important not to confuse the loss of potitical and military independence of aristocratic kinship groups with a weakening of family sohdarity." Zu einer solchen Verwechslung kommt es vor allem dann, wenn man eine zu starke Abhängigkeit der internen Familienbeziehungen von externen Wandlungen voraussetzt; aber die Familienmitglieder, in unserem Fall v. a. die Eltern, konnten reagieren. 123 Der alles in allem mißlungene Versuch des stiftsfähigen Adels, nach 1806 im französischen Herrschaftssystem eine einflußreiche Position zu gewinnen, hat ihm später den Vorwurf der charakterlosen Kollaboration mit dem Feind eingetragen (vgl. Steffens, Hüffer, S. 60; Lepping, S. 24). Doch hat er, als diese Versuche weithin wirkungslos blieben, ein Reformgesetz nach dem anderen erlassen wurde, die Mitarbeit und Versuche persönlicher Einflußnahme zunehmend stärker eingestellt. Vgl. z. B. v. Klocke, Familie, S. 221 f. und die Rechtfertigung des 1809 aus seinen Ämtern ausscheidenden August Ferdinand v. Merveldt: ,,Aus der neuen Gesetzgebung entsprang eine Auflösung und Stärkung alter Familien- und bürgerlicher Verhältnisse. Soll ich das alles sich selbst überlassen und den Schaden und Verlust moralischer und Wohlstandsverhältnisse nicht berücksichtigen?" (Archiv v. Merveldt, Nachlaß August Ferdinand v. Merveldt, Vol. I.) 124 Das Ideal des ,Still-Lebens' wurde in den Briefen immer wieder angesprochen; z . B . in dem Brief Franz v. Fürstenbergs an seinen Schwager Clemens v. Oer vom 9. 2. 1833 : ,,Wir befinden uns Gott Dank recht wohl und leben hier ganz still . . . " (Archiv v. Oer E 1385); oder im Brief Antonettas V. Merveldt, geb. v. Twickel, an ihre Mutter vom 13. 1. 1839 (?):,.Übrigens ist es so stille, jeder lebt für sich . . . " (Archiv v. Twickel-Havixbeck I E 240 k); auch Theobald v. Oer bemühte sich in einem Brief an seinen Vetter Clemens v. Oer vom 15. 9. 1845, diesem ,,das Neueste aus meinem stillen Familienleben mitzuteilen . . . " (Archiv v. Oer E 563). Für Ausbildung einer dualistischen Weltsicht gibt es eine Fülle von Belegen; nur einige von ihnen können hier angeführt werden. Die Trennung zwischen dem als gefährlich und beschwerlich aufgefaßten Leben in der Außenwelt und der Familie als dem Bereich des Glücks und der Erholung findet sich z. B. in den Äußerungen des Wilhelm v. Nagel gegenüber seiner Frau Antonetta, geb. v. Schell: ,,Gern will ich alsdann die Beschwernisse des Lebens mit tausend anderen Menschen teilen; denn ich weiß, liebe Nette, in Deinen Armen finde ich Erholung . . . " (Archiv v. NagelVornholz Ala 169; Brief vom 20. 3. 1795). Clemens II. August v. Twickel wurde die Familie zum wichtigsten Wirklichkeitsbereich; so heißt es z. B . in seinem Brief aus den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts an seine Schwiegertochter Maria-Theresia, geb. v. Lilien: ,,Bei Schmising und Merveldt ist alles in Freude. Es ist ein wahres Vergnügen, die Zufriedenheit dieser beiden Familien und aller Anverwandten zu sehen. . . . Für mich ist seit 2 Jahren viel Freude gewesen. Erst Deine Heirat, dann die glücklichen Büchtel(?) des lieben Clemens, und jetzt diese Verlobung; Gott der Allmächtige gebe weiter seinen Segen (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 260). 587

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Als weitere Beispiele vgl. die Tagebucheintragungen des Ferdinand v. Galen vom2. 8.1826 über die Familie seines Bruders: „dort vergeß ich die Welt" (Archiv v. Galen-Assen F 528), die Tagebucheintragung des August V. Korff vorn 31. 12. 1848 in der die „fürchterliche" Welt draußen und das harmonisch-glückliche Familienleben schroff gegeneinander gestellt werden (Archiv v. Korff-Harkotten IFi, 29. Bd.) oder die bis zur Berührungsangst gesteigerte Ablehnung der Welt als „fremde" durch Berta v. Nagel, geb. v. Merveldt während ihrer Hochzeitsreise 1833 (Archiv V. Nagel-Vornholz Ala 187, Tagebuch Augusts und Bertas v. Nagel über ihre Hochzeitsreise; vgl. auch die Kodizille zu ihrem Testament vom 16. 12. 1847, die völlig von dieser dualistischen Weltsicht bestimmt sind, ebd.. Ala 178). 125 Archiv V. Merveldt, Nachlaß Sophie v. Merveldt, Vol. I, B e r u v. Nagel geriet sehr häufig mit Hausbediensteten in Streit; oft endeten diese mit Entlassungen. Der Hofmeister Böcker beklagte in seinen Tagebucheintragungen mehrfach den häufigen und schnellen Wechsel von Hausbedienten (Archiv v. Nagel-Vornholz AVI 413, vgl. vor allem die Eintragungen für das Jahr 1840). Zu ähnlichen Problemen in der englischen Oberschicht schon im 17. Jahrhundert vgl. Pinchbeck u. Hewitt, S. 306-308. 126 Vgl. STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 14400 u. 7398. 127 Vgl. STAM, Archiv V. Landsberg-Velen, Nr. 10231. Gemütliche Tee- und Kaffeestunden wurden in den Briefen immer wieder erwähnt, z . B . in dem Brief der Gouvernante E. Richarz vom 20. 5. 1843, die an die Gräfin Landsberg-Velen schrieb, daß sie vor allem die ,.süßen Thee-soupants-Stunden im Zimmer der Frau Gräfin" sehr vermisse; (STAM, Archiv v. Landsberg-Velen Nr. 7900). Beschreibungen ähnlicher ,,Teeszenen" finden sich z . B . auch im Tagebuch der Maria v. Esterhazy geb. v. Plettenberg-Nordkirchen (Archiv v. Plettenberg-Nordldrchen Xa2 S. 27, 143 u. a.). Auf Familienbildern wurde nun immer häufiger die gemeinsame Teeund Kaffeestunde der Familie als Motiv gewählt. Für die gemütliche Note, die das Wohnen gewann, ist Aufteilung und Einrichtung des Hauses Velen als Wohnsitz des Ignaz v. LandsbergVelen und seiner Familie besonders aufschlußreich; der Wohnbereich umfaßte mehrere kleine Zimmer, so ein Schreibzimmer, ein ,,blaues Cabinett", ein Lesezimmer, ein Musikzimmer etc.; die einzelnen Zimmer waren im ,gemütlichen' Biedermeier-Stil eingerichtet, mit vielen Blumen, einem Vogelbauer, mehreren Goldfischaquarien, einer Staffelei, einer Vielzahl von Musikinstrumenten; dazu kamen Kanapees und Möbel von ,,seltenerSchönheit . . ."(STAM,ArchivV. Landsberg-Velen, Nr. 7902). Auch der sich in dieser Zeit durchsetzende englische Stil als Vorbild der Schloßgärten ist als Ausdruck für das gesteigerte Bedürfnis der Adelsfamilie nach Rückzug aus der als sich auflösend empfundenen Öffentlichkeit und Aufbau eines privaten, dem Blick der umwohnenden Bevölkerung entzogenen Lebensbereichs zu werten. (Vgl. dazu Brunner, Landleben, S. 332f., Stekl, S. 173f. u. 178 und Aistermann, S. 71ff.). 128 So feierte z. B. Louise v. Landsberg-Velen ,,in dem kleinen Kreise, der sie mit Liebe umgibt", nämlich ihrer Familie, 1840 ihren Namenstag (STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 7900, Brief der Charlotte ν. Berswordt an Louise v. Landsberg-Velen vom 23. 8. 1840). In den Totenbriefen wurde seit Anfang des 19. Jahrhunderts die Betonung ,,unserer in ungetrübtem häuslichen Glück verlebten Ehe" zu einem festen Formelbestandteil (vgl. z . B . Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen Xa 22; z . B . die Todesanzeige Wilhelms v. Nagel-Vornholz vom 7. 3. 1805). 129 Archiv V. Nagel-Vornholz Ala 178, Kodizill Nr. 2 zu ihrem Testament vom 16.12. 1847. 130 Archiv V. Galen-Assen F 528; Tagebucheintragungen vom 14. 7.1830 und Oktober 1827. 131 Archiv V. Nagel-Vornholz Ala 178; Kodizill Nr. 1 zum Testament der Bertha v. Nagel vom 16. 12. 1847. 132 Eingangssätze aus den Statuten des Vereins zur Ehre der Heiligen Familie (Archiv v. Korff-Harkotten IFi, 29. Bd.). 133 Mannheim, Problem, S. 533 f. hat denselben Sachverhalt als Übergang vom ,,virtuellen zum reflexiven Verhalten" beschrieben. 134 Frühe Beispiele für eine gesteigerte Frauenverehrung finden sich vor allem in dem Kreis

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Anmerkungen ги Seite 282-284 um Fürstenberg und die Fürstin Gallitzin, vgl. dazu die Ausführungen von Sudhof, Aufklärung, S. 122 f. ; Reinhard, S. 32 ff. und auch den Brief Franz v. Fürstenbergs vom 5 . 2 . 1796 an die Gräfin Merveldt (Archiv v. Merveldt, Nachlaß August Ferdinand v. Merveldt, Vol. IV). 135 EinfrühesBeispielfür diese Haltung ist Paul Joseph v. Landsberg-Velen, der 1795 durch eine verbesserte Organisation seiner Güter deren Ertrag zu erhöhen und durch eine strenge Rechnungskontrolle die Ausgaben seines Hauses einzuschränken suchte (STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 15 854, Briefwechsel zwischen Paul Joseph v. Landsberg-Velen und dem Rentmeister Ellering). 136 Archiv V. Plettenberg-Hovestadt D l l f 17. 137 Zum Adligen Damenclub vgl. Müller, Gesellschaftsleben, S. 40f. und die Akten im Archiv V. Droste-Hülshoff, Nachträge, Akte 33 sowie im Archiv v. Oer E 1386, Mappe: Kulturkampf. Der spätere Oberpräsident v. Vincke sprach 1806 v o n , ,den in Münster sehr viel wirkenden Damen" des Adels (zit. nach Lahrkamp, Münster, S. 73; vgl. auch das Urteil des Generals Fransecky in Haas-Tenckhoff, Münster, S. 76). 138 Hier liegt ein wichtiger Grund dafür, daß Onkel und Tanten, wie oben dargelegt, aus dem engeren Familienkreis ausgegliedert wurden; man vgl. unter diesem Aspekt die Schilderung der Annette v. Droste-Hülshoff, die sicherlich in Fragen der Erziehung weit toleranter und informierter war als die Mehrzahl der adligen Tanten des Münsterlandes, als sie ihren Bruder und Familienstammherrn zum ersten Male bei einem ,, wilden Kriegsspiel" mit seinen Kindern unter dem Weihnachtsbaum beobachtete; sie fand dieses unter heutigen Aspekten durchaus normale Verhalten des Vaters gegenüber seinen Kindern äußerst ,,lächerlich''(vgl. oben, S. 285f.). 139 Vgl. hierzu die Haltung Louises v. Westerholt im Briefwechsèl mit ihrem zukünftigen Mann Ignaz v. Landsberg-Velen (STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 7768, vgl. v. a. den Brief Ignaz v. Landsberg-Velen vom 14. 11.1812), und dem Konflikt zwisçhen dem, an der älteren Form der von den Eltern arrangierten Ehe orientierten Max v. Boeselager und Ignaz v. Landsberg-Velen aus dem Jahre 1839, die Verheiratung ihrer Kinder betreffend (STAM, Archiv V. Landsberg-Velen, Nr. 12459). Nicht zu Unrecht, aber sehr unklar, sah Boeselager hinter den von V. Landsberg-Velen geäußerten neuen Grundsätzen der ehelichen Partnerwahl eine Folge des ,,Rückzugs vom großen Welttheater" (Brief vom 1. 6. 1839). 140 Archiv V. Oer E 840. 141 Dafür spricht ζ. В. die Vielzahl von Reflexionen Ferdinand C. H . v. Galens in seinem Tagebuch, die alle um die Frage der seinen Bedürfnissen und Wünschen entsprechenden ,richtigen' Ehepartnerin kreisen. Am 30. 7. 1826 heißt es z. В . : ,,Helene ist gewiß eins der ausgezeichnetsten und liebenswürdigsten Mädchen, die ich je gesehen habe. In ihrem Umgang liegt ein unendlich großer Reiz und gewiß muß sie bei näherer Bekanntschaft noch gewinnen. Gefühlvoller ist vielleicht Louise, aber sie entbehrt mehr wie ihre Schwester den schönen Schmuck der mädchenhaften Bescheidenheit. Clara ist unbedeutend aber gutmütig und gäbe vielleicht die beste Hausfrau. Sophie übertrifft bei weitem Helene an Schönheit, aber steht in jeder anderen Hinsicht ihr bedeutend nach . . . " ; jetzt genügte es bei weitem nicht mehr, daß die Braut eventuell einen hohen Brautschatz in die Ehe einbrachte; dieses sachliche Kriterium wird sogar abfällig beiseite geschoben, wenn Ferdinand v. Galen am 11. 9. 1825 in seinem Tagebuch über die junge Frau eines Freundes bemerkt: ,,Sie hat eine Million, aber weiter nichts . . (Archiv v. Galen-Assen F 528). 142 Zur Genese des Leitbildes der romantischen Liebe als Voraussetzung der Ehe in Kreisen des Bürgertums vgl. Schwägler, S. 17f. Als erster hatte der englische Schriftsteller Richardson (1689-1761) die Vorstellungsbereiche Liebe und Ehe als eng miteinander verbunden aufgefaßt. In seinen Ursprüngen war das Konzept deuthch gegen die ,,unmoralisch en" höfischen Verhältnisse gerichtet. Der höfische Adel sah während des 18. Jahrhunderts noch weitgehend beide Bereiche als getrennt, z. T. sogar als unvereinbar an. In der Tat war auch das Konzept der romantischen Liebe der auf familienpolitischer Ebene arrangierten Eheschließung im Adel entgegengesetzt. Vor allem die Forderung nach einer Phase der Verehrung der zukünftigen Frau vor der Ehe

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Anmerkungen zu Seite 284-285 in dem neuen Ehekonzept mußte vom Adel als Belastung empfunden werden, da die Kontakte zwischen den zukünftigen Brautleuten nicht mehr bis zum Abschluß des Ehekontraktes geheimgehalten werden konnten. 143 Als Beispiel sei hier auf den Versuch des Clemens v. Oer 1828 hingewiesen, der über seinen Freund F . v. Fürstenberg-Herdringen die Bekanntschaft der Therese v. Fürstenberg, einer Cousine des Freundes, suchte. Fürstenberg empfahl ihm, nach Bad Ems zu reisen, wo sich Therese mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern vier Wochen aufhielt, und dort ihre Bekanntschaft zu suchen (Archiv v. Oer E 840, Brief Fürstenbergs vom 15. Juli 1828); vgl. auch den Brief des Clemens an seine Eltern vom 16. 8. 1828, aus dem hervorgeht, daß er sich gegen die Konkurrenz mehrerer gleichaltriger Standesgenossen aus Westfalen durchsetzen mußte, was nicht gelang (Archiv V. Oer E 1385). Hätte sich diese Episode auf dem engen münsterländischen Heiratsmarkt, z. B. in Münster, vor den Augen der Standesgenossen abgespielt, so wären für Clemens die Folgen dieses Fehlversuchs, was den Aufbau einer neuen Liebesbeziehung als Vorbedingung einer Heirat betraf, wesentlich schwerwiegender gewesen. So aber heiratete er schon ein Jahr später eine Schwester Thereses. 144 Als Max v. Böselager, der in erster Ehe mit einer v. Droste-Vischering verheiratet gewesen war, sich recht schnell wieder verheiratete, fühlten sich die Geschwister der ersten Frau in ihrer Trauer verletzt. Franz v. Droste-Vischering, der Bruder, betonte in einem Brief an seine Schwester Dinette, er habe wenigstens erwartet, daß sein Schwager diese Wiederverheiratung in aller Stille und möglichst während seiner Abwesenheit vollzogen hätte (Archiv v. PlettenbergHovestadt D II f 18, Brief vom 27. 6. 1820). Daß ein großer Altersunterschied zwischen Eheleuten problematisch geworden war, zeigen z. B. die Äußerungen der Jenny v. Droste-Hülshoff in ihren Briefen an die Mutter (v. a. die Briefe vom 30. 5. 1841 und 16. 12. 1842), in denen sie über die Nachteile solcher ,,ungleichen" Ehen reflektiert. (Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge). 145 Ferdinand v. Galen sah in der Frau eine Kraft, die veredelnd auf ihre Umgebung und vor allem auf den Mann wirken könne, er bewunderte an i h r , ,eine anziehende Mischung von Gefühl und Verstand, die den Charakter der veredelten Weiblichkeit zeichnet . . . " (Archiv v. Galen, Assen, Tagebucheintragung vom Januar 1821). Eine Anerkennung des Eigenwertes und der Würde der Frau, die sie im Fall der Marie v. Kerckerinck-Stapel, die 22 Kinder zur Welt bringen mußte, allerdings vermißten, sprach auch aus den Briefen Josefs v. Laßberg und Jennys v. Droste-Hülshoff an Theresia V. Droste-Hülshoff vom 1. 4. 1839 und 10. 11. 1840 (Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge). Beide lehnten eine Reduktion der Frau auf die Funktion der Gebärerin entschieden ab. 146 So blieben z. B. die Versuche der Mutter und der Geschwister Clemens v. Oer zur Wiederheirat zu bewegen, lange Zeit erfolglos. Erst nach neunjähriger Witwerschaft heiratete er wieder. Seine Mutter brachte wohl häufiger Töchter bekannter adliger Familien als potentielle Heiratspartnerinnen ins Gespräch. Daß Clemens auf solche Eheanbahnungsversuche ärgerlich reagierte, wird aus einem Brief der Mutter vom 30. 10. 1842 deutlich. In einer ähnlichen Lage befand sich Engelbert v. Kerckerinck-Borg, den die Verwandten ebenfalls zu einer zweiten Heirat drängten (vgl. z. B . den Brief der Jenny v. Droste-Hülshoff an ihre Mutter vom 1 5 . 6 . 1837, Archivv. Droste-Hülshoff, Nachträge) ; noch am 15. 2. 1839 schrieb aber Annette v. Droste-Hülshoff an ihre Mutter: ,,Engelbert heiratet gewiß nicht wieder; er ist entsetzlich betrübt um Fanny . . . " (Annette V. D . - H . , Briefe, Bd. 1). Zur Gefühlssprache in den Briefen der Eheleute vgl. den ausgedehnten Briefwechsel zwischen Ignaz v. Landsberg-Velen und Louise v. LandsbergVelen, geb. V. Westerholt (STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 7768), oder die Briefe der Sophie V. Oer, geb. v. Fürstenberg an ihren Mann Clemens v. Oer (Archiv v. Oer E 840). Zum Treuekult: Bertha v. Nagel, geb. v. Merveldt bestimmte in ihrem Testament vom 16. 12. 1847, daß ihre Kinder ihr die Trauringe nach dem Tod nicht abnehmen sollten, da sie ihre ,,Treue mit ins Grab nehmen" wolle (Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 178). 147 Umfassende Sammlungen von Totenbriefen befinden sich vor allem im S T A M , Archiv v. Droste-Senden, Nr. 551-53 und im Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen X a 22).

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Anmerkungen

zu Seite 28Í

148 Vgl. z. B. die Briefe des Clemens v. Oer anläßlich des Todes seiner Frau 1832 (Archiv v. Oer E 1385, ν. a. die Briefe vom 4. u. 25. 9.). Das Tagebuch des August v. Korff beginnt mit den Sätzen: „Der Grund, der mich bewegt, folgende Zeilen niederzuschreiben, ist eines Teils der, um das Andenken an meine teure, unvergeßliche Pauline, wenn vielleicht in späteren Jahren der tiefe Schmerz, den ich über den so frühen, harten Verlust der Hingeschiedenen empfinde, durch die Zeit gemildert sein sollte, bei Durchlesung dieser Schrift in mir wieder neu zu beleben und mich zu erinnern, wie glücklich ich in dem Besitz der Teuren gewesen . . . " (Archiv v. KorffHarkotten IFi, 29. Bd.). 149 Vgl. z . B . das Testament des Friedrich Anton v. Korff vom 21. 8. 1825 (Archiv v. Korff-Harkotten IFhi, 26. Bd.). 150 In einer Vielzahl von Briefwechseln wurde das Kind zum wichtigsten Gesprächsthema, z . B . in den Briefen des Josef v. Twickel an seine Mutter 1845ff. (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 240 1). Ein anderer für das neue Verhalten der Eltern zu den Kindern sehr informativer Briefwechsel ist der zwischen Jenny v. Laßberg, geb. v. Droste-Hülshoff und ihrer Mutter (Archiv V. Droste-Hülshoff, Nachträge) ; auch Annette v. Droste-Hülshoffs Briefe enthalten häufig sehr ins Detail gehende Beobachtungen ihrer Nichten und Neffen. (Vgl. z. B. Annette v. D . - H . Briefe, Bd. 1, Briefe vom 5. 9.1837 und22. 8. 1840;Bd. 2, Briefe vom 17.2. und 17. 6. 1843). Ein vorzüglich der Beobachtung ihrer Kinder und der Reflexion über Kindererziehung gewidmetes Tagebuch schrieb Marie v. Esterhazy-Plettenberg-Nordkirchen (Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen X a 3). Man richtete das häusliche Leben in starkem Maße nach den Kindern aus; so schrieb z . B . Jenny V. Laßberg, geb. v. Droste-Hülshoff am 15. 11. 1840 an ihre Mutter: ,,Wir haben den ganzen Winter auf dem Zimmer neben unserem Schlafzimmer gewohnt, wegen der Nähe der Kinderstube ist es angenehm . . . " (Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge). Zugunsten der Kinder wurde z. T . auch der gesamte Lebensstil geändert. So verlegte z. B. ein Teil der Familien seinen ständigen Wohnort ins Stadtpalais, um den Kindern günstigere Möglichkeiten der Erziehung und Ausbildung zu gewährleisten. 151 Annette V. D . - H . , Briefe, Bd. 1; vgl. dazu z . B . die Berichte der Jenny v. Laßberg, geb. v. Droste-Hülshoff über ihre Kinder aus den Jahren 1837 bis 1842 (Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge). Ahnliche Schilderungen des Spiels von Eltern und Kindern finden sich auch im Tagebuch der Marie V. Esterhazy, geb. v. Plettenberg-Nordkirchen (Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen Xa 3). Vor allem die Großmütter wurden, wenn sie zeitweise im Hause des verheirateten Sohnes bzw. der Tochter wohnten, zu Spielgefährtinnen und Erzieherinnen der Kinder; hierfür gibt es eine ganze Anzahl von Beispielen, u. a. Rosine v. Korff (vgl. ihre Briefe an Franziska v. Twickel vom 24. 8. 1839und21. 1. 1845 im Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 240 t),Annettev. Droste-Hülshoffs Mutter (vgl. den Brief Annettes an Elise Rüdiger vom 30. 7. 1846, Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 2) und Louise v. Landsberg-Velen (vgl. den Brief vom 29. 1. 1857 an ihren Sohn Fritz [STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 6702]). 152 Beispiele für die neuen Formen der Kinderkleidung und des Spielzeugs finden sich bei Weber-Kellermann, S. 110. Seit jeher bekannte Spielzeuge waren die Puppe und das Puppenhaus, die Schelle, das Steckenpferd, die Trommel, die Spielkarten, Waffen und Uniformen (Schultz, S. 213); neu aufkommende Spielzeuge waren vor allem Bauklötze, Ritterburgen, geschnitzte oder gegossene Figuren jeglicher Art, vor allem Zinnsoldaten, Bauernhöfe mit geschnitzten Tieren usw. Am Spielen wird auch die Ausweitung der bisherigen Kindheitsphase erkennbar. Vor 1770 war das Spiel mit Spielzeug vorwiegend auf Kinder bis zu ihrem siebten bis achten Lebensjahr beschränkt (Ariès, S. 131 f., Firestone, S. 3); jetzt spielten die Kinder auch noch, wenn sie älter waren, z . T . bis ins zwölfte Lebensjahr. Das ergibt sich aus einem Brief der Annette v. Droste-Hülshoff vom 5. 1. 1841 an ihre Mutter, in der sie über ihre dreizehnjährige Nichte Anna, die Tochter des Bruders Werner, berichtet: ,,Anna ist, wie immer gutmütig etc. nur spielt sie nicht mehr und hat diesen Weihnachten zum ersten Mal keine Puppe und überhaupt nichts von Spielsachen bekommen; ich sehe auch nicht, daß sie die alten mehr hätte, sondern sie 591

Anmerkungen

zu Seite 286

näht, stickt Pantoffeln etc. etc. ganz wie ein erwachsenes Frauenzimmer und sieht auch beinah so aus" (Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 1). 153 In katholischen Ländern war bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts das Nikolausfest ein Tag, an dem Kinder Geschenke bekamen; erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert setzte sich dann das Weihnachtsfest als Kinderfest durch (Schultz, S. 211 und Weber-Kellermann, S. 112, 226 u. 232). Über des Anwachsen der Geschenke gibt es schon früh eine Vielzahl von Klagen, z . B . von Jenny V. Laßberg, geb. v. Droste-Hülshoff (Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge, Brief Jennys vom 9. 12. 1838 an ihre Mutter); vor allem Annette v. Droste-Hülshoff kritisierte häufig diese Geschenkflut, ( z . B . in einem Brief an Sophie v. Haxthausen vom 27. 1. 1839; Annette V. D . - H . , Briefe, Bd. 1); vgl. eine ähnliche Kritik im Brief Maria Theresias v. Twickel an ihre Schwiegermutter vom 30. 12. 1840 (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 240 b). 154 Vgl. z . B . die Trauer der Franziska V. Twickel über ihr 1811 gestorbenes Kind (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 240 X, o. D. 1811 und IG 397, Brief vom 19. 12. 1811. Zum anwachsenden Trennungsschmerz vgl. z. B. die Briefe des durch Amtsgeschäfte von seiner Familie getrennten Clemens August v. Galen an seinen zwölfjährigen Sohn Mathias vom 23. 2. und 14. 5. 1812 (Archiv V. Galen-Assen F 682). Die meisten Trennungen ergaben sich aus dem im 19. Jahrhundert zunehmenden Zwang, die Kinder auf ein Gymnasium oder ein Internat zu schicken; vgl. hierzu z . B . die Tagebucheintragung Maries v. Esterhazy-Plettenberg, nachdem sie ihren dreizehnjährigen Sohn,,Nicky" 1846 ins Jesuiteninternat Lüttich gebracht hatte (Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen Xa 3), oder die Klagen des vierzehnjährigen Clemens v. Droste-Vischering in den Briefen, die er zwischen 1846 und 1848 von der Ritterakademie Bedburg nach Hause schickte (Archiv v. Droste-Vischering-Darfeld, Nachlaß Erbdroste Maximilian H . v. Droste-V. Nr. 108 u. 109). 155 Bemühungen um eine spezifische Kinderlektüre werden z. B. faßbarim Briefwechsel des Franz V. Droste-Vischering mit seiner Schwester Dinette ν. Plettenberg-Lenhausen. Am 17. 3. 1814 schrieb Franz : , ,Ich habe eine Menge Bücher für Kinder holen lassen, aber leider kein einziges von der Art gefunden, das ich es Dir hätte schicken können; den Robinson ausgenommen . . . " (Archiv V. Plettenberg-Hovestadt D Ilf 18). Auch in Rousseaus Erziehungsroman ,,Emile" wurde der ,.Robinson" als einzige brauchbare Kinderlektüre genannt. (Bahrdt, S. 442). Aus der Bibliothek ließ man ,kindergefährdende' Literatur entfernen (DAM, Nachlaß Franz V. Fürstenberg, Nr. 222, Testament vom 17. 12. 1796; oder Archiv v. Korff-Harkotten IFh3, 28. Bd., Brief zum Testament der Rosine v. Korff vom 1. 10. 1863). Schließlich wurden auch dieZeitungen vor den Kindern versteckt; Franz v. Droste-Vischering warnte z. B. am 15. 9. 1820 seine Schwester Dina: ,,Die Zeitungen sind so ekelhaft, daß sie kaum zu lesen sind. Du nimmst Dich wohl in Acht, beste Dina, sie nicht auf den Tischen liegen zu lassen . . . " (Archiv V. Plettenberg-Hovestadt D l l f 18). Kinder wurden jetzt auch nicht mehr als Repräsentationsobjekte bei großen Festen verwendet; das geht z . B . aus dem Tagebuch des Hof- und Rentmeisters Böcker vom Hause Vornholz hervor; nach einer Eintragung vom 6 . 9 . 1845 ging Berta v. Nagel, obwohl sie von den Standesgenossen, die das Jubiläumsfest organisiert hatten, dazu aufgefordert war, ihre Kinder zum Festzug mitzubringen, ohne diese zum Fest; die Kinder durften nur vom Fenster aus der Prozession zμsehen; auch als der Bischof am 23. 10. 1845 starb, erlebten die Kinder dessen Beisetzung nur vom Fenster des Stadtpalais aus (Archiv v. Nagel-Vornholz A VI 413). 156 Aus den am Ende des 18. Jahrhunderts eingeforderten Berichten der Damenstifter des Fürstbistums über den Modus des Präbendenerwerbs geht hervor, daß die volle Nutzung einer Präbende und damit das Recht zur Teilnahme an der Abtissinnenwahl mit 13 bis 14 Jahren erreicht wurde (vgl. D A M , Nachlaß Franz V. Fürstenberg, Nr. 177/5). Als in der Zeit von 1826 bis 1830 über ein Statut zur Einrichtung eines neuen adligen Damenstifts diskutiert wurde, legten die Familienväter im Entwurf des Statuts schließlich das vollendete 18. Lebensjahr als Mindestwahlalter fest, ,,weil nicht vorausgesetzt werden kann daß sie früher die bey einer Äbtissin erforderlichen Eigenschaften gehörig beurteilen kann . . ."(Archivv. Nagel-VornholzAIII257).

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Anmerkungen zu Seite 286 An der Beurteilung des „besten" Heiratsalters für Mädchen wird zudem das Bemühen erkennbar, analog zur Ausdehnung der Kindheitsphase, eine Übergangsphase zwischen Kind- und Erwachsensein festzulegen. Waren um 1780 ,,die besten Heiratsjahre für Mädchen von 15 bis 25 Jahren" (Franz v. Fürstenberg in einer Denkschrift an den Kurfürsten, ,Über die Damenstifter" vom Februar 1787; D A M , Nachlaß Franz v. Fürstenberg, Nr. 177/5) so sah ein Vater 1839 seine zwanzigjährige Tochter noch ,,ihres Charakters nach so unbefangen kindlich" an, daß er es ablehnte, an deren Heirat zu denken (Ignaz v. Landsberg-Velen an Max v. Boeselager, April 1839, STAM, Archiv V. Landsberg-Velen, Nr. 12459). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war dann das Jugendalter als eine Zwischenphase zwischen Kindheit und Erwachsensein voll akzeptiert; es begann mit 14 Jahren; so schrieb z. B. Max v. Korff, geb. 1845, in sein Tagebuch: ,,Das politisch so bedeutungsvolle Jahr 1859 bildete auch in meinem Leben einen Wendepunkt, indem es für mich den Abschied von den fröhlichen, sorglosen Treiben der Kindheit und der Hinübertritt in das sich schon mit ernsteren Dingen befassendere Jünglingsalter bildete." (Archiv v. KorffHarkotten, Max v. Korff, Kladde: Aufzeichnungen aus meinem Leben, S. 46). 157 Aus den Briefen der Jenny v. Laßberg, geb. v. Droste-Hülshoff, wird die Beobachtung der Kinder unter dem Zukunftsaspekt besonders deutlich; kein Brief, in dem nicht über Entwicklungsfortschritte, erkennbare Talente usw. berichtet wurde. Zur positiven Bewertung der Liebe zwischen den Geschwistern vgl. vor allem den Brief vom 10. 1. 1841 an ihre Mutter (Archiv V. Droste-Hülshoff, Nachträge); eine ähnliche Betonung der ,.zarten Liebe" und der Anhänglichkeit ihrer Kinder untereinander findet sich bei Marie v. Esterhazy, geb. v. Plettenberg-Nordkirchen (Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen, X a 3, Tagebuch über ihre Kinder, besonders S. 29 u. 40). Zur Beobachtungder Kinder auf ihre Talente hin vgl. auch Theobald v. Oer in seinem Brief an Clemens v. Oer aus Dresden vom 1 6 . 1 2 . 1 8 4 4 (Archiv v. Oer E 563). Zur sentimentalen Betrachtung der im Spiel .sorglosen Jugend' vgl. z. B . den Brief der Dinette ν. Plettenberg-Lenhausen an ihren Bruder Franz v. Droste-Vischering vom 3. 3. 1813 (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D l l f 17). 158 Als .schwere Sorge' empfand z . B . Clemens v. Oer in einem Brief an seinen Schwager Franz V. Fürstenberg vom 25. 9.1832 die Aufgabe der Eltern, Kinder zu erziehen (Archiv v. Oer E 1385). Theobald v. Oer, der Vetter Clemens schrieb am 15. 9. 1845 aus Dresden, seinem Wohnort: ..Wenn man das jetzige Treiben in der Welt, diesen alles verhöhnenden Sturm, dies gegen alles bestehende in Staat und Religion sieht, wenn man sieht, wie des Haders und Unfriedens immer mehr, wahren Glaubens und positiver Religion immer weniger wird, wird einem wirklich ganz angst, und man fühlt, daß nur des Himmels ganz besondere Gnade und unsererseits die größte Sorgfalt und Umsicht im Stande sein werden, unsere Kinder von diesem Treiben unberührt'zu halten . . . " (Archiv v. Oer E 563). Auch Marie v. Esterhazy, geb. v. Plettenberg-Nordkirchen klagt in ihrem Tagebuch über ihre Zeit und hoffte, daß durch Erziehung den ,,armen Kindern . . . vielleicht mancher Kampf" erspart bleiben könne (Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen ХаЗ) ; und in einemBriefvom 10. 1. 1841 berichtete Jenny v. Laßberg an ihre Mutter, ihr Bruder Werner, der Stammherr des Hauses Hülshoff sei hinsichtlich seiner Kinder ,,immer so voll Sorgen um ihre Zukunft . . . " (Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge). 159 Für diese Deutung spricht auch, daß die Ursprünge des neuen, in Absetzung von einer als falsch und unbarmherzig hart angesehenen Außenwelt geschaffenen Bildes v o m , ,unschuldigen" Kind sehr wahrscheinlich in der puritanischen Familie der Revolutionszeit in England liegen (Schücking, S. 134). In englischen Romanen taucht auch zuerst die sich durch seine Unschuld von einer grausamen Umwelt abhebende ,,rührende" Kinderfigur auf. Mitterauer, Familie, S. 3 sieht die ,.Vertiefung der Eltern-Kind-Beziehungen vor allem unter religiösen Einflüssen sowohl der Reformation, wie auch der Gegenreformation, vor allem aber des Zeitalters der Aufklärung". Genauer Versucht Aries die Ursprünge der neuen Auffassung vom Kind zu bestimmen. Dabei legt er besonderes Gewicht auf die Einflüsse der gegenreformatorischen Schulorden, vor allem die Jesuiten, die Oratorianer und die Schulen der Jansenisten (Ariès, Geschichte, S. 136ff.; ebenso Firestone, S. 6). Als Ursache für die deutliche Intensivierung und Ausbreitung

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Reif, Adel

Anmerkungen

zu Seite 287

der neuen Auffassung vom Kind am Ende des 18. Jahrhunderts wird häufig auch die zu dieser Zeit sinkende Kindersterblichkeit genannt (z. B. Flandrin, zit. von Shorter, Wandel, S. 286). Es erscheint angesichts dieser Vielzahl von Erklärungsversuchen sinnvoll, wie Shorter von einem Ursachenbündel auszugehen und die Bestimmung der Ursachen schichtenspezifisch, regional und zeitlich differenziert durchzuführen (Shorter, Wandel, S. 275, 277 u. 286 f.). Dabei muß jedoch der Erfahrung des Wandels, wie in den meisten vorgenannten Erklärungsversuchen, eine zentrale Stellung eingeräumt werden. 160 Shorter, Wandel, S. 256 vermutet, die Mutter-Kind-Dyade sei der Ausgangspunkt für die Emotionalisierung und Intimisierung der Familienbeziehung gewesen. Er verweist zunächst auf die hohe Kindersterblichkeit als eine Ursache für die in vorindustrieller Zeit fehlende oder sehr geringe emotionale Beziehung der Mütter zum Kind. Die ,,Serie von Verlusten [hätte] sie zu psychischen Krüppeln gemacht" (Shorter, Wandel, S. 277). Dann betont er aber, m. E. völlig zu Recht: ,,Die Todesrate der Kleinkinder reicht als Erklärung für das traditionelle Fehlen der Mutterliebe nicht aus" (ebd., S. 286); denn vielfach läßt sich nachweisen, daß eine emotionale Intensivierung der Mutter-Kind-Beziehung eindeutig vor dem Rückgang der Kindersterblichkeit um 1800 stattgefunden hat; das gilt z. B. für den Adel und wahrscheinlich auch für die puritanische Familie in England (Stone, Crisis, S. 593 u. 670; Schücking, S. 134 f.; vgl. hiermit die Daten zur Kindersterblichkeit des englischen Adels bei Hollingsworth, S. 367 und Peller, S. 91 f.). Auch nach Ariès entwickelte sich das neue Muster der Mutter-Kind-Beziehungen in Frankreich schon seit dem Ende des 16. und 17. Jahrhunderts, und zwar in den oberen bürgerlichen und adligen Schichten (Ariès, S. 485f.). Snyders, S. 22f. hat zwar diese Behauptung mit m. E. guten Gründen und dem Hinweis auf eine Vielzahl widersprechender Quellen in Frage gestellt, dann aber die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts - also auch eine Zeit vor dem Absinken der Kindersterblichkeit - als entscheidend für die,Entdeckung der Kindheit' genannt. Auch für den münsterländischen Adel findet sich für das 17. und die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts kein erkennbarer Anhaltspunkt für eine Neubewertung der Kindheit. Es besteht hier vielmehr ein relativ enger Zusammenhang zwischen einer seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts intensivierten Mutter-Kind-Beziehung und dem Rückgang der Kindersterblichkeit. Die angeführten Fälle stützen also alle mehr oder weniger Shorters These, die Verbesserung der Kindersterblichkeit sei auf intensivere Mutterliebe und nicht- wie bisher vorwiegend behauptet - die größere Mutterliebe auf verringerte Kindersterblichkeit zurückzuführen (ebd., S. 277). Aber dann übergeht Shorter letztlich die sich daraus ergebende entscheidende Frage, welche Ursachen die Zunahme der Mutterliebe dann habe. Hier spricht er lediglich von ,,der Herausbildung des modernen Muttergefühls . . . wobei dieAngelsachsenführendwaren"(ebd.,S.275).Die Tatsache,daß dieVorstellungen über eine eigene Welt des Kindes sich später und auch nicht so weitgehend wie die neue, emotional intensivierte Ehevorstellung durchgesetzt haben, wie auch die wichtige Rolle, die die Antizipation von Zukunftsaussichten der Kinder durch die Eltern bei dem Aufbau einer emotionalen Eltern-Kind-Beziehung gespielt hat, machen m. E. sinnvoller, im Gegensatz zu Shorter die Liebe der Eheleute zueinander als Voraussetzung der Mutterliebe zum Kind anzusehen und die Ausbildung der emotionalisierten und intimisierten Familie auf verstärkte Erfahrung sozialen Wandels und die durch Funktionsverlust und Funktionsintensivierung bewirkte ,Privatisierung' der Familie zurückzuführen. 161 Als bewußtes Konzept war diese Vorstellung vom Kind natürlich nur bei wenigen, fortschrittlichen Adligen vorhanden; doch haben gerade diese das Erziehungsverhalten ihrer Standesgenossen in starkem Maße mitbestimmt; vgl. dazu die Ausführungen S. 324 ff. zum Verhältnis des münsterländischen Adels zu dem für die Pädagogik des 18. Jahrhunderts insgesamt wichtigen Kreis um die Fürstin Gallitzin und den ehemaligen Minister Fürstenberg; zu den Disziplinierungsintentionen im Kindheitskonzept vgl. Firestone, S. 6 u. 9, die allerdings nur die Disziplinierungsintention sieht und insgesamt m. E. ein zu hohes Maß an Handlungsrationalität bei den Erziehern voraussetzt. 162 Ein Bild von der Kleinkindpflege um 1770 läßt sich aus einer Aufstellung im Archiv v.

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Anmerkungen

zu Seite 287-288

Oer E 574 gewinnen, die mit „Ausgabe behufs meines Kindes Marie Clärgen Anna Elisabeth Clementine" überschrieben ist. Die Aufstellung beginnt am 15. 12. 1765 mit der Geburt des Kindes. Aus ihr wird deutlich, daß um 1770 die hygienische Pflege des Kleinkindes im münsterländischen Adel im Vergleich zu anderen Regionen und Bevölkerungsschichten (vgl. Shorter, Wandel, S. 272-75) sich schon auf einem recht hohen Niveau befand. Oele, Puder und Rosenwasser waren danach schon feste Bestandteile der Kleinkinderpflege. Die Steckwickel scheint im münsterländischen Adel zu dieser Zeit schon abgeschafft zu sein; zumindest finden sich in dieser Aufstellung keine Hinweise. Auch auf Bildern, die Kleinkinder zeigen, fehlt sie für diese Zeit; schon die Kleinkinder tragen hier Kleider. Nach der Aufstellung bekam die kleine Marie Clara v. Oer schon mit zwei Monaten ein spitzenbesetzes Kleid geschneidert; dazu kaufte ihr die Mutter Schnallenschuhe. In den nächsten zwei Jahren sind weitere Kleider, Schuhe und Spielzeug und auch eine Perlenkette die wichtigsten Anschaffungen für das Kind. Veränderungen in der Kleidung der Kinder sind einerseits Ausdruck für eine stärker dem Kinde zugewandte Haltung der Mutter, andererseits aber auch ein indirektes Anzeichen dafür, daß das Kind , im Falle der Abschaffung der Steckwickel sogar das Kleinkind, für die Interaktion mit der Mutter, bzw. später mit anderen Kindern freigesetzt werden soll (vgl. Shorter, Wandel, S. 272). Sicher ist es auch kein Zufall, sondern ein Ausdruck der verstärkten Bemühungen um das Kleinkind, vor allem um dessen hygienische und medizinische Pflege, in der münsterländischen Adelsfamilie, wenn einer der ersten nachgeborenen Söhne, der einen bürgerlichen Beruf ergriff, Kinderarzt wurde (Joseph V. Droste-Hülshoff, 1794-1850). 163 In der Aufstellung ,,Ausgabenbehuf meines Kindes . . . " der Freifrau v. Oer 1765 ff. ist die Amme aufgenommen (Archiv v. Oer E 574). Auch in der Familie v. Droste-Hülshoff war am Ende des 18. Jahrhunderts die Amme noch selbstverständlicher Helfer bei der Kleinkinderpflege (Stening, Amme, S. 1 f.). Wie Shorter, Wandel, S. 263 ff. gezeigt hat, ist es kaum möglich, generelle Aussagen zur Durchsetzung des Selbststillens in den mitteleuropäischen Staaten zu machen; auch die Aussagen der Erziehungs- und Hausväterliteratur ergeben kein einheitliches Bild. So verlangte z. B. schon von Hohberg im 17. Jahrhundert in seiner ,,Geórgica Curiosa", einer Lehre vom Hause, daß die Mutter ihr Kind stille, doch setzten seine weiteren Ausführungen die Amme als das Normale voraus (Schmidlin, S. 85); nach Stone, Crisis, S. 593 war das Selbststillen im englischen Adel schon im 17. Jahrhundert durchgesetzt; Schultz behauptet auf der Grundlage der Schriften Abrahams a Santa Claras, daß in Deutschland zu Anfang des 18. Jahrhunderts in den mittleren und höheren Schichten die Amme die normale Lösung war; von anderen Autoren wird der Übergang zum Selbststillen wiederum mit Jean Jaques Rousseaus,,Emile", der 1762 erschien, in Zusammenhang gebracht (vgl. Shorter, Wandel, S. 264f.). D i e s e - i n Ergänzung zu den Ausführungen Shorters - aufgeführten, ,Ungleichzeitigkeiten" machen wahrscheinlich, daß die Fortschritte in der Kinderpflege und in der Einstellung zum Kleinkind sich sehr langsam vollzogen haben, um sich dann, zu einem Zeitpunkt, der nur für einzelne Bevölkerungsschichten genau zu bestimmen ist, zu beschleunigen. Der Übergang der Mütter zum Selbststillen ist dabei ein wichtiger Indikator zur Bestimmung des Anfangspunktes für den verstärkten Wandel der Einstellung zum Kleinkind. 164 Vgl. den Brief Sophies v. Oer an ihren Mann Clemens vom 28. 6. 1830 (Archiv v. Oer E 1385); ähnliche Schwierigkeiten einer jungen Mutter beschrieb Joseph v. Twickel im Brief an seine Mutter vom 21.6. 1845 (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 240 r). Die vielfältigen Berichte über das Selbststillen in den Briefen zeigen die Bedeutungssteigerung dieses Vorgangs an. Als Beispiele seien noch genannt: Der Brief W. v. Kettelers vom 27. 6. 1811 an Louise v. Westerholt (STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, N r . 7900), den Brief Theobalds v. Oer an seinen Vetter Clemens v. Oer vom 16. 12. 1844 (Archiv v. Oer E 563) und der Brief Antonettas v. Merveldt an ihre Mutter vom 17. 3. 1845 (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 240 k). 165 Shorter, Wandel, S. 286 fand demgegenüber ,,für Deutschland keine Hinweise auf eine Neuorientierung der Einstellung gegenüber Kleinkindern vor der Mitte des 19. Jahrhunderts . . . "

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Anmerkungen zu Seite 288-289 166 Archiv V. Galen-Assen F 528; eine ähnliche Reflexion auch im Brief Clemens III Carl v. Twickel vom 10. 5. 1840 an seine Mutter (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 240). 167 Vgl. den Brief Wilhelms v. Ketteier vom 26. 1. 1843 an August v. Korff (Archiv v. Korff-Harkotten IFi, 29. Bd.) Zur neuen Form des Umgangs mit der Mutter vgl. den Briefwechsel zwischen Joseph v. Twickel und seiner Mutter 1838 ff. (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 240 1, V. a. Josephs Brief vom 6. 1. 1839). Während die anderen Söhne in ihren Briefen noch zumeist beim distanzierenden „Sie" blieben und die Mutter mit der stärker an deren Funktion orientierten Formel „Frau Mutter" anredeten, verwendete Joseph bereits das weniger distanzierte, ein innigeres Verhältnis andeutende ,,Du". Daß auch die Mutter das distanzierende Respektsverhältnis abzubauen wünschte, zeigt ein Brief der Clementine v. Ketteier an ihren Sohn Wilderich vom 14. 12. 1824 indem es hieß: ,,dennnicht allein Mutter von Euch möchteich sein, sondern auch eine euch herzlich liebende Freundin" (zit. nach Pfülf, S. 7). 168 In dem ausführlichen Briefwechsel der Jenny V. Laßberg, geb. v. Droste-Hülshoff, die in Meersburg verheiratet war und wegen ihres starken Heimwehs in regem Briefkontakt mit ihrer Familie im Münsterland stand, mit ihrer Mutter fehlt ein den oben dargestellten Beziehungen der Söhne zur Mutter vergleichbares innig herzliches Verhältnis (Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge). Auch in den Briefen der Töchter Franziskas v. Twickel an die Mutter wird nicht die enge Bindung erkennbar, die z.B. das Verhältnis des Bruders Joseph und auch der anderen Brüder zur Mutter bestimmte. Eine Ausnahme scheint jedoch die jüngste das Kindesalter überlebende Tochter Victorinchen zu bilden, die nicht heiratete, sondern bei der Mutter blieb (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 260 c). 169 Sehr eng war z. B. die Bindung von Aline und Anna v. Landsberg-Velen an ihren Vater Ignaz(STAM, Archivv. Landsberg-Velen, Nr. 10231; v.a. dieBriefevom 12. 8. 1847 und vom 29. 11. 1849). Auf dem Wunschzettel einer dieser Töchter erschien in den zwanziger Jahren u.a. „ein Bild von Papa für mein Medaillon", (ebd., Nr. 7902). 170 Als Edmund v. Twickel, abweichend von der Familiennorm, ein Bauernmädchen heiratete, erschien ihm die Mutter als ,einzigster Beystand in der größten Not', während der Vater strafte, wenn auch wesentlich milder als es noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, z. B. im Konflikt zwischen Vater und Sohn v. Fürstenberg der Fall war (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 240 c; Brief Edmunds o. D., ca. Juli 1838). Während die Mutter als ,,liebevoll", „zärtlich" und, .gütig" gekennzeichnet wurde, zum Teil die mitwissende, ,Freundin" war, erschien die Betonung der Liebe zum Vater stets in Verbindung mit Attributen wie ,,ernst", ,,streng" und ,,fest" (Vgl. z.B. den Brief Wilhelms v. Ketteier vom 3. 8. 1839 an seine Schwester Sophie v. Merveldt, Raich, S. 22). Erst in der Generation nach der unmittelbaren Umbruchzeit stellten sich auch bisweilen den Mutter-Sohn-Beziehungen vergleichbare vertraulichere Beziehungen zwischen Vater und ältestem Sohn her. Das wird z.B. deutlich durch eine Gegenüberstellung der Briefe des Max Friedrich v. Oer an seinen Sohn Clemens und der Briefe des Clemens v. Oer an seinen Sohn Max. In ersteren herrschte ein sehr distanziertes Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Der Vater beschränkte sich in seinen Briefen auf die Mitteilung sachlicher Informationen aus dem Bereich der Gutsverwaltung. Äußerungen, die auf Gefühlsbindungen schUeßen lassen·, fehlen völlig. Dagegen dominieren solche Äußerungen in den Briefen des Clemens v. Oer an seinen Sohn Max, in denen der Vater mehr die Rolle eines Freundes und Ratgebers gegenüber seinem Sohn einnimmt, mit dem er sehr vertraulich umgeht, und den er zärtlich , ,mein liebes Söhnchen" nennt. (Archivv. Oer E 840, v.a. der Brief Max Friedrichs v. Oer vom 3. 11. 1823 und E 1385, V. a. der Brief Clemens v. Oer vom 28. 7. 1848). Bei den nachgeborenen Söhnen blieb dagegen - den Verzichtsanforderungen entsprechend - die Mutterbindung vorherrschend. 171 Am deutlichsten sind solche Geschwisterbindungen faßbar in den Briefen der Schwestern Mechthild, Theresia und Viktoria v. Twickel vom Ende des 18. Jahrhunderts an ihren Bruder Clemens II August (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 239 i, 1 und m) und im Briefwechsel des Clemens v. Oer mit seinen Schwestern Klara und Franziska in den Jahren 1818-1824 (Archiv v. OenE 840). 596

Anmerkungen

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172 Spitznamen finden sich z . B . im Archiv v. Nagel-Vornholz A VI 413, Tagebuch des Hofmeisters Böcker, Eintragung vom 5 . 3 . 1 8 4 1 (Töne, Mies); im Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 239 c, Brief Sophies v. Twickel an Clemens II August v. Twickel vom 1. 8.1775 (Mechi); im Archiv V. Plettenberg-Lenhausen, u. a. im Brief der Dinette ν. Plettenberg-Lenhausen an ihren Bruder Franz V. Droste-Vischeringvom28. 9. 1814 (Juff); im STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 7900, Brief der Gouvernante Euphrosine Richarz an Louise v. Landsberg-Velen vom 2 3 . 5 . 1 8 4 3 (Mäuschen) ; ebd., Nr. 10 231, Brief der Sophie v. Westerholt an ihren Onkel Ignaz v. Landsberg-Velen vom 24. 5. 1855 (Minzi, Mimi); ebd., Nr. 6702; Brief der Louise v. Landsberg-Velen an ihren Sohn Fritz vom 19. 1. 1857 (Wisemännchen, Tidemann); im Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge, Briefe der Jenny v. Laßberg, geb. v. Droste-Hülshoff an ihre Mutter, Briefv. 11.3.1837(Bläuelu.Rötel);imArchivv.Korff-Harkotten;Maxv. Korff, Kladde; Aufzeichnungen . . . (Mäcke, Penn, Pfriem, Quast). 173 Archiv V. Korff-Harkotten, Max v. Korff, Kladde: Aufzeichnungen . . ., S. 9. 174 Zunächst wurden, wenn Familienmitglieder starben, solche kleinen Erinnerungsgaben ausgetauscht; so schrieb z . B . August Ferdinand I v. Merveldt im zweiten Kodizill zu seinem Testament am 10. 7. 1834 : „Ich ersuche meinen zum Erben eingesetzten Sohn jedem meiner lebenden Geschwister, auch meinem Herrn Schwager, den Grafen v. Pergen und meinem Schwiegersohn, Grafen v. Spee, irgendein kleines Andenken aus meiner Verlassenschaft nach seinem alleinigen Gutdünken übergeben zu wollen." (Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 178 ; vgl. ein ähnliches Verhalten im Brief des Joseph v. Twickel an seine Mutter vom 4 . 8 . 1 8 4 0 , Archiv v. Twickel-Havixbeck I G 240 k). Auch die eigenen Haare wurden als Erinnerungsgeschenke an Verwandte und Bekannte verschickt (Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge, Brief Jennys v. Laßberg, geb. v. Droste-Hülshoff an ihre Mutter vom 3. 4. 1839). Nicht immer war ein Anlaß notwendig, um sich zu beschenken. So entdeckte z . B . Joseph v. Twickel zufällig zwei Bilder, die er „so hübsch fand", daß er sie kaufte und seiner Mutter am 12. 6. 1841 übersandte (Archiv v. Twickel-Havixbeck I G 120 1). Auch kleine Portraits wurden häufig als Erinnerungsgaben ausgetauscht; Jenny V. Laßberg, geb. v. Droste-Hülshoff, schrieb, der Mutter für ein Portrait dankend, am 3. 2. 1845: ,,so hast du, liebe, gute Mama, deinen Zweck erreicht, und uns eine große dauernde Freude bereitet; daß Du die uns so bekannte Bekleidung gewählt hast, war auch sehr gut, denn das trägt viel zu der Ähnlichkeit jedes Bildes bei und man erinnert sich dann jener Zeit doppelt lebhaft (Archiv v. Droste-Hülshoff, Nachträge; vgl. auch den Brief vom 15. 1. 1840, aus dem deutlich wird, daß Jenny ihrerseits der Mutter Bilder ihrer Kinder schenkte). Am stärksten wurde allerdings an kleinen Festen, vor allem an Namens- und Geburtstagen, geschenkt; häufig waren es Geschenke, die von den Frauen oder Töchtern selbst angefertigt worden waren (STAM, Archiv V. Landsberg-Velen Nr. 7768, Brief Ignaz v. Landsberg-Velen an seine Frau vom 6. 8. 1853). 175 Vgl. zu den folgenden Ausführungen die Sammlungen von Totenbriefen im STAM, Archiv V. Droste-Senden Nr. 551-553 und im Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen Xa 22). 176 Im Verhältnis zu ihren Standesgenossen relativ früh hat Annette v. Droste-Hülshoff sich von dieser Form der Totenbriefe distanziert. Am 19. März 1846, kurz nach dem Tode ihres Onkels, für den sie einen Totenbrief verfaßt hatte, schrieb sie an Sophie v. Haxthausen: ,,Ich habe den Zeddel nur kurz gemacht, die langen schwülstigen Zeddel waren mir immer zuwider und in diesem Falle, der mich so nahe angeht, schien sie mir unerträglich. Ich habe aber doch alles gesagt, wie lieb ihn alle Menschen hatten und wie sehr er es verdient, und auch ein kleines Gebet hinzugefügt. Für diejenigen, die ihn gekannt und lieb gehabt haben, ist es gewiß gerade recht so, und für andere, die aus bloßer Neugierde über solche Zeddel herfallen, werden sie ja nicht geschrieben." (Annette V. D . - H . , Briefe, Bd. 2). 177 Archiv V. Korff-Harkotten IFi, 29. Bd. 178 Dieser ungewöhnliche Weg vom Verein über die Familie zur Bekämpfung von negativen Entwicklungen in der Gesellschaft werde nicht durch die als notwendig erachtete Beschränkung der adligen Frauen auf den häuslichen Kreis erzwungen; gegen eine solche Deutung sprächen die

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Anmerkungen

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politischen und karitativen Aktivitäten der Mitglieder des Adligen Damenclubs in Zeiten politischer Krisen, z. B. während des Kölner Kirchenstreits und während des Kulturkampfes. Zu den von Haus und Familie aus zu bekämpfenden negativen Entwicklungen in der Gesellschaft vgl. z . B . den Brief des Bischofs v. Ketteier an die Damen des Vereins vom 26. 1. 1875, in dem er zum Kampf gegen die Auflösung des ,,hergebrachten Anstands" und für die Bewahrung der ,,alten ererbten Sitte" aufforderte (Raich, S. 498 f.). 179 Aus einer Predigt des Bischofs W. v. Ketteier in Mainz vom 9. 12. 1840 (Raich, S. 5f.). 180 Bischof W. v. Ketteier, Brief an die gesamte hochwürdige Geistlichkeit der Diözese vom 6. 1. 1852 (Raich, S. 6). 181 Zur Familie als Refugium in einer kompetitiven Welt vgl. Oeter, S. 13 f. 182 Auf ähnliche Zusammenhänge zwischen der puritanischen Kleinfamilie, deren äußerst intensiver Religiosität und der verstärkten Erfahrung sozialen Wandels, vor allem aufgrund der englischen Revolution und des Bürgerkriegs im 17. Jahrhundert, verweist Greven, Generations, S. 277f. 183 Zu diesen disfunktionalen Folgewirkungen der ,,Familienlösung" vgl. das Beispiel des Ferdinand v. Galen, S. 295 ff. 184 Die negative Einstellung der Eltern zu , .Freundschaften" artikuliert sich z. В. im Kodizill Nr. 1 der Bertha v. Nagel vom 16. 12. 1847 zu ihrem Testament; dort schärfte sie ihren Kindern ein: ,,Ιη der Welt findet man wenig, ja gar keine Freunde, man wird dessen oft erst zu spät gewahr, selbst da, wo man es am wenigsten erwartet. Denket euch zu dieser Erfahrung selbst die Münsteraner Welt weder zu klein noch zu solide" (Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 178); eine ähnliche Einstellung vertrat schon der Vater Berthas, der Graf August Ferdinand v. Merveldt in den ,,Notanda für meine Frau und Kinder" (Archiv v. Merveldt, Nachlaß August Ferdinand v. Merveldt, Vol. IV). 185 Wie hart die aufwachsenden und auch die erwachsenen Kinder durch den angedrohten oder durchgeführten Liebesentzug getroffen wurden, zeigen z . B . die Briefe der Söhne und Töchter aus der Familie v. Twickel um 1820/30. Als Carl v. Twickel 1818 an der Universität Göttingen in einen Streit zwischen einheimischen und ausländischen Studenten geriet, für zwei Jahre von der Universität ausgeschlossen wurde und nach Heidelberg gehen mußte, stellten die Eltern lange Zeit den Briefverkehr ein, obwohl Carl regelmäßig schrieb und inständig um einen Antwortbrief bat. Dieselbe Methode, elterlichen Lebensentzug dadurch anzudeuten, daß man die Briefe der Kinder nicht beantwortete, um durch Erzeugung von Schuldgefühlen die Lenkbarkeit der Kinder und ihre Orientierung auf den Elternwillen zu erhöhen, wird in Briefen der Franziska v. Merode, geb. v. Twickel, sichtbar, v. a. in ihren Briefen an die Mutter vom 27. 3. 1828 und 13. 12. 1836 (Archiv v. Twickel-Havixbeck IG 237a und IG 22c). 186 Die große Bedeutung, aber auch die zunehmend schwieriger werdende Aufgabe der Vermittlung weniger, aber grundlegender verhaltensorientierender Werte an Kinder, die in Gesellschaften leben, die einen hohen Grad des sozialen Wandels aufweisen, betonen u. a. Ciaessen, S. 249; Oeter, S. 19 und Riesman, S. 31 f. In welchem Maße in der privatisierten und durch emotional intensivierte Eltern-Kind-Beziehungen auf einer neuen Vertrauensgrundlage gefestigten Kernfamilie Flexibilität der Erziehung möglich war, zeigt z. B. eine Gegenüberstellung zum Thema Berufswahl. Als Max v. Esterhazy-Plettenberg 1848 als Junge den Wunsch äußerte, Arzt zu werden, stimmte ihm die Mutter zu, betonte aber zugleich in ihrem Tagebuch, sie sei ganz sicher, daß er es nicht werde (Archiv v. Plettenberg-Nordkirchen ХаЗ). Als 1775 Franz Clemens v. Fürstenberg, etwa gleichaltrig, den Wunsch äußerte, Philosophieprofessor zu werden, unterdrückte der Vater, letztlich wenig erfolgreich, diesen Wunsch mit außerordentlicher Härte und unter Anwendung aller Mittel seiner väterlichen Gewalt (DAM, Nachlaß Franz v. Fürstenberg, Nr. 217, Mappe N16). 187 5 bis 6 das Erwachsenenalter erreichende Kinder im stärker geburtenkontrollierenden Familientyp, 8 bis 10 Kinder pro Familie im weniger geburtenkontrollierenden Typ (vgl. S. 243 ff.); die große Kinderzahl wird auch an Hand der Familienbilder aus der Zeit um 1800 erkenn-

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bar. Zur Auswirkung der Kinderzahl auf Form und Wirksamkeit von Sozialisation und Erziehung innerhalb der Familie und zu den in dieser Hinsicht günstigen Voraussetzungen bei vier bis fünf Kindern, vgl. Claesson, S. 247f. u. 261. 188 Daneben bestanden aber immer, wenn auch in sehr unterschiedlicher Intensität, politische und soziale Aktivitäten auf der Ebene des als Gruppe und Verein weiterbestehenden ehemaligen Standes. Eine Untersuchung des münsterländischen Adels allein auf der Ebene seiner politischen Aktivitäten würde eine zwar deutlich eingeschränkte, aber weiterhin selbstbewußte Verteidigung seiner Privilegien als Stand konstatieren müssen, ohne von der inneren Krise dieses Adels in der Umbruchsphase viel zu bemerken; denn Unsicherheiten auf der Familienebene lassen sich durchaus harmonisch mit Sicherheit auf der Ebene der Selbstdarstellung nach außen verbinden. 189 Daß die im preußischen Verwaltungsdienst vom münster!?ndischen Adel angestrebten Berufskarrieren leicht zu einem zeitweisen Spießrutenlaufen unter den Augen der dem Adel gegenüber negativ eingestellten liberalen, vorwiegend altpreußischen protestantischen Beamten in der Regierung Münster werden konnte, hatten in unterschiedlichem Maße die Beispiele der sehr früh in die preußische Verwaltungslaufbahn eintretenden späteren Regierungsräte Friedrich Anton V. Korff und Ferdinand Anton v. Merveldt allen münsterschen Standesgenossen zur Genüge gezeigt; dementsprechend war die Neigung der nachgeborenen Söhne, diesen nachzueifern, nicht allzu groß; vgl. hierzu Kap. III. D. 3.2, v. a. S. 380ff. 190 August Ferdinand v. Merveldt, der sich selbst nur schwer in die neue Zeit fand, war nichtsdestoweniger sehr darauf bedacht, seine Söhne zur Leistung nach den neuen Kriterien zu motivieren. Mit 62 Jahren, am 18.11.1820, schrieb er sehr zufrieden an den König von Preußen, er erlebe nun ,,. . . das Glück, diese zwei Söhne (Ferdinand Anton und Carl) ganz nach meinen Wünschen in Allerhöchst Ihrem Dienst auf der Bahn der höchsten Ehre und der Pflicht . . . zu sehen". Der älteste Sohn Ferdinand Anton war zum Kammerherr und in der Regierung Münster zum Regierungsrat, allerdings ohne Bezüge, ernannt worden; Carl war zu dieser Zeit Rittmeister im Garde-Kavallerie-Regiment in Berlin (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Ferdinand Anton I. V. Merveldt, Vol. XI). Daß Carl 1826 heiratete, 1827 den Militärdienst verließ und auf dem Gut seines Schwiegervaters v. Nagel nahezu untätig lebte, hat den Vater sehr geschmerzt. Daß er aber noch immer als treibende Kraft hinter dem Sohn stand, und ihn des öfteren aufgefordert hat, eine ,,nützliche" Tätigkeit aufzunehmen, wird aus dem Brief Carls vom 13. 10. 1828 ersichtlich, worin er dem Vater sein Interesse an einer Landratsstelle mitteilte (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Carl H . V. Merveldt, Vol. I). Auch in der Familie v. Twickel wurden die Söhne durch die Eltern, besonders aber durch den Vater, schon seit dem Kindesalter immer wieder dazu angehalten, fleißig zu sein, da nur so unter den neuen Bedingungen eine standesgemäße Position zu erringen sei; dafür sprechen eine ganze Anzahl von Kinderbriefen (vgl. z. B. die Briefe Edmunds und Josephs V. Twickel an ihren Vater vom 1.1.1816 bzw. 20. 11. 1822; Archiv v. Tiwckel-Havixbeck IG 237b). 191 Für die Fernwirkung dieser Problemlösung ist von großer Wichtigkeit, daß auch die westfälischen Bauern weiterhin in den Denkinhalten der katholischen Religion lebten und deren Sprache übernahmen; vgl. dazu Kap. III. D. 5, v. a. S. 440f. 192 Vgl. hierzu das Beispiel des Ferdinand Anton V. Merveldt, S. 380ff. Damit ist allerdings die Frage nach dem Stellenwert der Religion innerhalb des münsterländischen Adels noch keineswegs in umfassender Weise beantwortet; die hohe Bedeutung der Religion für diesen Adel im 19. Jahrhundert läßt sich nur durch die Berücksichtigung einer Vielzahl von in diesen Vorstellungsbereich einfließenden Motiven erhellen; vgl. dazu die Ausführungen im Kap. III. D. 5. 193 Vgl. hierzu die auf S. 291 f. zitierten Aussagen des Bischofs v. Ketteier zu seiner Jugend und seinen Familienbindungen. Ahnliche Äußerungen über diese enge emotionale Bindung auch der Galenschen Kinder zu den Ersatzeltern und -geschwistern finden sich in v. Galens Tagebuch mehrfach; die Kinder der Familie v. Ketteier nannte er ebenso ,,Bruder" bzw. ,,Schwester" wie seine Pflegeeltern ,,Vater" und ,,Mutter". 599

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194 Archiv V. Galen-AssenF528, Ferdinand C. H . v. Galen, Mein Leben in der Politik, Tagebucheintragung vom 12. 8. 1824. 195 Tagebucheintragung vom 13. 10. 1824. 196 Tagebucheintragungen vom 4. und 5. Juli 1825. 197 Siehe oben, S. 269f. 198 Tagebucheintragung vom 8. 9. 1825. 199 Tagebucheintragung vom 3. 9. 1825. 200 Tagebucheintragung vom Oktober 1826. 201 Tagebucheintragungen vom 9. 12. 1826 und vom 6. 3. 1827. 202 Einige Jahre später, am 1. 3. 1833, erhielt Ferdinand einen Brief von Marie v. Plettenberg-Nordkirchen, ,,8 Tage vor ihrer Hochzeit mit Esterhazy geschrieben, der mir heiß durch die Adern rollte und das unnütze Opfer, das ich vor 4 Jahren brachte, noch in der Erinnerung vergällte. Mariens Besitz wäre ein köstliches Gut gewesen, und ich hätte sie geliebt. Wann wird aus Hoffnungen Wahrheit? im Tode." (Tagebucheintragung vom 1. 3. 1833). 203 Tagebucheintragung vom 3. 8. 1827; verstärkt wurden die Spannungen infolge des notwendigen Heiratsverzichts im Falle Ferdinands v. Galen durch seine außerordentlich starke sexuelle Erregbarkeit, deren direkte oder indirekte Artikulation das ganze Tagebuch hindurch zu verfolgen ist. Einige Beispiele für seine außerordentlich vielfältigen Möglichkeiten, seine sexuellen Spannungen zu artikulieren bzw. auch zu überformen, seien aus seinem Tagebuch angeführt. Am 15. 4. 1821 trug er e i n : , , . . . morgens um 8 Uhr ging ich . . . zum Löwenmagazin in den Tiergarten, um die Begattung des Löwenpaares anzusehen, die dort stattfand. Das Schauspiel war außerordentlich interessant (8 x). Weitere sahen wir in einer anderen Menagerie . . . " Am 27. 12. 1832 besuchte er die Fürstin Helene Beloselsky und schrieb anschließend in sein Tagebuch: ,,Sie empfing mich allein, und küßte mich nach russischer Sitte, so daß mir das Blut in den Kopf schoß, und alle meine Fibern zuckten . . . " Am 26. 3. 1833 traf er den Dichter Puschkin und spielte mit diesem und seiner hübschen Frau Schach; in sein Tagebuch schrieb er dazu: ,,. . . ich opferte meine Königin! Wenn er mir doch die seinige opfern wollte, ich würde darob nicht matt werden . . . " Der Übergang zu sublimierteren Formen der Sexualität wird an einer Tagebucheintragung vom 14. Juni 1832 deutlich, in der er wiederum über die Fürstin Beloselsky schrieb:,,. . . ichmöchtesielieberauf 8 Tage als auf immer heiraten. Wir fuhren in raschem Galopp zur Stadt zurück, und ich schwelgte bis spät in der Nacht mit meiner Einbildungskraft am Klavier . . . " ; in diesen Bereich der überformten Sexualität gehön auch das abschließend angefühne Beispiel vom Ausritt mit einem Mädchen, der in einer Eintragung vom 5. Juli 1824 geschilden wird: ,,Ritt mit Lord Granville und Miß Stuart. Harriett war heute wunderhübsch. Es regnete etwas. Ihre aufgelösten Locken flatterten im Winde." 204 Tagebucheintragung vom 27. 2. 1832. 205 Tagebucheintragung vom 11. 6. 1832. 206 Zwei Zitate mögen die enge Bindung Ferdinands an ,,Heimat" und Familie belegen: ,,Eine gelungene höhere Anwendung meiner Tätigkeit hat mir den Mut gestählt, ein Besuch in der Heimat das wohltuende, für meine Zufriedenheit unentbehrliche Bewußtsein aufgefrischt, daß ich nicht ungeliebt auf der Welt bin . . . " ( 1 7 . 10. 1831). Und im Oktober 1832 schrieb er in sein Tagebuch: ,,. . . gebe mir Gott eine Frau wie meine Schwestern!" 207 So hatte z. B. der zum größeren Teil von Bürgerlichen, zu einem kleineren, aber ebenfalls wichtigen Teil von Adligen, z . B . Shaftesbury oder den Gebrüdern Stolberg, entwickelte Freundschaftskult am Ende des 18. Jahrhunderts eine vorwiegend diesseitige Moral entwickelt, sich von der christlichen Welt zu Gunsten der Verehrung der Antike abgewendet (Rasch, S. 72ff.). Darüber hinaus hatte diese Freundschaftsbewegung einen stark anti-höfischen und antiständischen Affekt (Bäsken, S. 58 f.). Deshalb konnte auch nur der Typ des sich resigniert vom Hof zurückziehenden Hofmanns (Shaftesbury) und des in starkem Maße an seinen Grundbesitz und seine Region gebundenen Landadligen zu diesen Freundschaftsgruppen gehören. Die Bindung des Adels an solche Freundschaftsgruppen mußte aber zeitlich begrenzt bleiben, da anson-

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Anmerkungen zu Seite 298-300 sten die Ablehnung aller adligen Privilegien die konsequente Folge gewesen wäre. Hier liegt eine wichtige Ursache dafür, daß z. В. die Gebrüder Stolberg nach einer Phase des intensiven Freundschaftskults zu den im Christentum und in der adligen Familie liegenden Werten zurückkehrten und die Freundschaftsbindungen ihrer Jugend weitgehend auflösten; ein ähnlicher Prozeß ist auch bei Ferdinand v. Galen zu beobachten. Nach seiner Heirat im Jahre 1833 und dem Antritt einer gut dotienen Stelle in Brüssel als Diplomat, verlor die Freundschaft, an seinen Tagebucheintragungen deutlich erkennbar, für ihn immer mehr an Bedeutung. 208 Tagebucheintragung vom Oktober 1831. 209 N o c h a m 2 7 . 1 0 . 1832 schrieb er in sein Tagebuch: „Ehrgeiz und Sehnsucht nach Glück, sie kreisen oft wie toll in meinem Innern." 210 Schlußwort zum Tagebuch, o . D . 211 Auch die Emotionalisierungsprozesse entbanden eine Vielzahl disfunktionaler Verhaltensweisen. Neue Ehevorstellungen und enge Familien-, vor allem Vaterbindung konnte z . B . die Neigung der Töchter zu einer Ehe völlig aufheben, wie z. B. im Fall der Familie v. Landsberg-Velen. Die drei im Heiratskreis als schön und reich bekannten Töchter heirateten zum Teil nicht, zum Teil erst in fongeschrittenem Alter (30 bzw. 42 Jahre), kurz vor bzw. nach dem Tod ihres Vaters, obwohl an Heiratsanträgen kein Mangel war. Eine Vielzahl von Briefen an die Familie betonte und lobte deren idyllischen Familienleben, vor allem die engen Vater-TochterBindungen (vgl. S T A M , Archiv V. Landsberg-Velen, Nr. 7900, 7902 und 10231). Auch die Wiederverheiratungsneigung wurde, wie schon erwähnt, infolge der emotionalisierten Ehebindungen in starkem Maße abgebaut. Die emotional-religiösen Bindungen der Kinder an Familie und ,,Heimat" behinderten die für eine Berufskarriere im preußischen Staat notwendige Bereitschaft zur Mobilität in andere preußische Regionen. Zur außerordentlichen Heimatbindung der wenigen Adelssöhne in Berufspositionen außerhalb Westfalens vgl. die Tagebucheintragungen des Ferdinand v. Galen und die Briefe des späteren Bischofs W. v. Ketteier, Archiv v. Galen F 528 bzw. Raich, S. 32. 212 Zur Auswirkung der Trennung von Arbeitsplatz und Heim auf die Vorstellung d e r , .Natur" der Frau, i. S. von Passivität, Emotionalität und Mütterlichkeit - ein Prozeß der im engen Zusammenhang mit dem Aufbau einer veränderten Vorstellung vom Kind ablief - in bestimmten Schichten des Bürgertums, v. a. in Beamtenfamilien, und zwar aus der Intention heraus, die Erfahrungen des Mannes in der rational organisierten harten Welt innerhalb der von der Frau bestimmten emotionalisierten, privatisierten Familie auszugleichen vgl. Hausen, Polarisierung, S. 370ff. 213 Wie schwer es war, selbst bei außerordentlicher Intelligenz aus dieser zugeschriebenen Position auszubrechen, beweist die marginale Stellung der Annette v. Droste-Hülshoff in ihrer Familie; vor allem die Tatsache, daß sie sich, trotz geistiger Überlegenheit, in Konflikten, die sich aus ihrer vom münsterländischen Adel weitgehend ablehnend beurteilten dichterischen Tätigkeit ergaben, immer wieder dem Bruder und Stammherrn unterzuordnen bereit war. Zu diesen Konflikten vgl. Woesler, S. 25 ff. Im Jahre 1846 erschien das Buch ,,Die Ritterbürtigen" von Levin Schücking, zu dem Annette unvorsichtigerweise das Material aus den Adelsarchiven verwandter und befreundeter westfälischer Familien beigesteuert hatte. Da ihr zeitweise enges Verhältnis zu Levin Schücking überall bekannt war, fiel sofort auf sie der Verdacht, ihm das Material zu seinen ,,Giftmischereien" geliefert zu haben. In dieser Situation fürchtete sie vor allem die Anfeindungen ihrer Standesgenossen, insbesondere die Vorhaltungen von der Seite ihres Bruders. Am 13. 4. 1846 schrieb sie etwas erleichtert an ihren väterlichen Freund Christoph Bernhard Schlüter: ,,Ich habe mit meinem Bruder gesprochen und bin jetzt viel ruhiger . . . nun es von dieser Seite ohne Verdruß abgegangen ist; . . . übrigens warnte er mich vor auffallenden Schritten . . ., wogegen ein einziges, am Unrechten Ort wiederholtes Wort mir eine giftige Feder auf den Hals hetzen können. Eine Lage, der ein Frauenzimmer sich nie aussetzen dürfe . . . Und im übrigen jedes Verhältnis zu Schücking so schnell und vollständig als möglich, aber nicht gewaltsam auflösen . . . " (Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 2). 601

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214 Eine andere Lösung fanden, soweit ersichtlich, nur die Gebrüder v. Twickel. Der erstgeborene Sohn und neue Stammherr Clemens III Carl wohnte nach seiner Verheiratung zunächst auf einem Nebensitz, während die Mutter auch nach dem Tod des Vaters weiter auf dem Stammsitz Havixbeck blieb, welcher nun von den zwei nachgeborenen Söhnen Ferdinand und Louis als aktiven Landwirten geleitet wurde. Erst nachdem die Mutter ihren Witwensitz in der Stadt Münster genommen hatte, zog der Stammherr mit seiner Familie nach Havixbeck; nun bewirtschafteten die beiden Brüder die Nebengüter. Diese partielle Demokratisierung innerhalb der Familie konnte aber nur funktionieren, weil in dieser Familie mehrere Güter vorhanden waren und der Stammherr in seiner Einstellung flexibel genug war, die neue Lösung zu unterstützen. Eine Grenze blieb jedoch bestehen: Die die Güter verwaltenden nachgeborenen Söhne heirateten nicht (vgl. Archiv V. Twickel-Havixbeck IG 266, Briefwechsel zwischen Clemens Carl v. Twikkel und seinem Bruder Ferdinand 1841-1846). 215 Das wird z. B. an der Ehegattenwahl des August v. Korff aus dem Jahre 1840 erkennbar. Erst nachdem er erfolgreich um die Hand der zukünftigen Frau angehalten hatte, stellte er sie seiner Mutter vor (Archiv v. Korff-Harkotten I Fi, 29. Bd.). Dabei war es auch in der Familie v. Korff üblich, der Mutter und Witwe in den Stammherrntestamenten das Konsensrecht explizit zuzugestehen. Auch August v. Korff bestimmte im Testament vom 7. 3. 1845 über seinen ältesten Sohn Max, er solle ,,. . . sich zu seiner Zeit mit einer ritterbürtigen, stiftsmäßigen Dame von 16Ahnenvonrömisch-katholischerReligion,undzwarmitEinwilligungseinerMutter . . . vermählen." (ebd.) Daß das Konsensrecht der Eltern aber immer weniger wichtig wurde, ist auch daran erkennbar, daß in den Heiratsanzeigen etwa nach 1820/30 der Hinweis auf den Konsens der Eltern völlig verschwand (vgl. dazu die Sammlung von Heiratsanzeigen im STAM, Archiv V. Droste-Senden, Nr. 549). 216 Archiv V. Plettenberg-Hovestadt D II f 18. 217 Daß sich das Ideal der Gattenliebe durchaus mit einem begrenzt sach- und vermögensbestimmten Heiratsverhalten vermitteln läßt, hat z. В. die Arbeit von Henry über Familien des gehobenen Bürgertums in der Stadt Genf gezeigt. Die Vereinbarkeit des Postulats der Liebe als Voraussetzung einer Ehe mit bestimmten männlichen Vorrechten betont Dörner, S. 126-128. Zur älteren Gewohnheit, dem Vater der erwünschten Braut den Status Bonorum einzureichen, vgl. Archiv V. Fürstenberg-Opladen, Nr. 23'°'". Reich an ironisch-distanzierten Beobachtungen und Bemerkungen zum Heiratsgeschehen in ihrem westfälischen Umkreis sind die Briefe der Annette V. Droste-Hülshoff (vgl. z . B . die Briefe vom Februar 1826 an ihre Schwester und vom 10. 9. 1828 an ihre Mutter). Doch auch Annette kann nicht umhin festzustellen, daß die Partnerwahl in vielen Fällen nicht mehr vom Geld abhängig war (vgl. den Brief vom 2. 11. 1828 an Frau V. Thielmann). Wie sehr auch Witwer begehrt waren, zeigt ein Brief Annettes an Josef v. Laßberg vom 18. 3. 1837: ,,Hier in Münster wird nun fleißig gelandtagt; man erwartete viel von diesem Landtage, sowohl in politischer als auch anderem Betracht, denn was noch von Epouseurs im Lande ist, hat sich so ziemlich zusammengefunden, namentlich auch die beiden jungen und reichen Witwer Bocholz und Oer; doch ich glaube, daß unsere junge Damenschaft nur getrost - oder vielmehr ungetrost - anstimmen kann: ,,ΑΙΙ mein Hoffen ist vergebens etc." (Annette V. D . - H . , Briefe, Bd. 1). 218 Archiv V. Korff-Harkotten, August v. Korff: „Aufzeichnungen . . . " IFi, 29. Bd. 219 Archiv V. Korff-Harkotten, Max v. Korff: Kladde: Aufzeichnungen aus meinem Leben, S. 248. Schon 1871 hatte er eine Jugendfreundin wiedergetroffen und sich heftig in sie verliebt, damals war er 27 Jahre alt. Doch diese verlobte sich 1872 mit einem anderen und Max bemerkte dazu in seinem Tagebuch: ,,Alle Unruhe, Zweifel und Angst waren hierdurch zu Ende; da ich doch nicht in der Lage war, heiraten zu können, so muß ich mir selbst gestehen, daß es so am besten für mich war . . . " (ebd., S. 163). 220 In einem Brief vom 25. 12. 1843 aus Anlaß der Heirat seines Bruders Joseph schrieb Clemens V. Twickel an seine Mütter: ,,Möge der liebe Gott alle Ihre Wünsche in Erfüllung bringen, so würde sicherlich Joseph dabei nicht unberücksichtigt bleiben, dem wir alle eine glückliche

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Zukunft aus Herzensgrund vom lieben Gott erbitten wollen, daß er seine beabsichtigte Verbindung jegne. Es ist ein wichtiger Schritt im menschlichen Leben, wovon die Folgen nicht vorher zu berechnen sind. Joseph seine Ruhe wird ihm so recht gut zustatten kommen und lassen Biegsamkeit erwarten . . . " (Archiv v. Twickel-Havixbeck I G 240). 221 Zum Ideal der Ehegattin als ,,häuslicher Frau" vgl. Archiv v. Oer E 1385, Brief Clemens v. Oer an seine Eltern vom 26. 10. 1823; ebd., E 1383, Brief Theobalds v. Oer an seinen Vetter Clemens vom 2 8 . 1 2 . 1 8 3 5 u n d Archiv v. Twickel-Havixbeck, I G 2 4 0 m, Brief Josephs v.Twikkel an seine Mutter, o. D . Zur ,Hausfrauenwürde' als der wichtigsten Grundlage für das Selbstbewußtsein der Frau vgl. STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 10231, Brief Sophies v. Westerholt an ihren Onkel Ignaz v. Landsberg-Velen vom 24. 5. 1855. Zu den Formen, in denen sich das Selbstverständnis der Frau bei Repräsentationsanlässen ausdrückte, vgl. z . B . den Bericht im ,Westfälischen Merkur' - Münster, Dienstag, den 30. 8. 1842 - mit der Überschrift ,,I. I . M . M. Der König und die Königin in der Provinz" ; darin heißt es: ,,Die männlichen Mitglieder des Festcomités empfingen Ihre Majestäten unter vor der Haupttreppe . . . Im Vestibül erwarteten die Gräfinnen von Landsberg-Velen, von Esterhazy und von Merveldt, die Freifrauen von Landsberg-Steinfurt, von Droste-Hülshoff und die Gräfin von Schmising Hochdieselben . . . " In diesem Ritual wird angedeutet, daß den Männern der Kontakt zur Außenwelt zugeteilt ist, während die Frauen Organisationsaufgaben im Innern des Hauses wahrnahmen. Die bevorzugte Behandlung der verheirateten Frauen gegenüber den unverheirateten bei öffentlichen Veranstaltungen betont Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 2 ; Brief an ihre Schwester vom 5 . 9 . 1842. 222 Zur Anerkennung dieser ,natürlichen Abhängigkeit' der Frau vgl. den Brief Dinettes ν. Plettenberg-Lenhausen an ihren Bruder Franz v. Droste-Vischering vom 19. 12. 1809: ,,. . . Gehorsam ist unserem weiblichen Geschlecht eigen; und da . . . werde ich am allerwenigsten mein Geschlecht verleugnen," (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D l l f 17) ; und im Kodizill August Ferdinands v. Merveldt zu seinem Testament vom 10. 7. 1834 wurde betont, daß ,,. . . Töchter und Personen weiblichen Geschlechts nach dem Willen der Vorsehung in Abhängigkeit stets verbleiben und eine Fürsorge vorab und vorzüglich bedürfen . . . " (Archiv v. Nagel-Vornholz AI a 178). In politisch weniger bewegten Zeiten war die Frau des Adels auch in selbstverständlicher Weise vom politischen Handeln ausgeschlossen (vgl. z. B. Archiv v. Droste-Hülshoff, Mappe, Sukzessionsordnung . . ., Brief Mathias v. Galen vom 27. 5. 1838). Mit dieser Einstellung befand sich der Adel jedoch in Übereinstimmung mit weiten Kreisen der Bevölkerung überhaupt. Auch die Gesetze verboten der Frau die politische Betätigung; so hieß es in einer Arbeit des Werner v. Droste-Hülshoff:,,Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände zu erörtern, unterliegen . . . noch folgenden weiteren Beschränkungen. Sie dürfen keine Frauenspersonen, Schüler und Lehrlinge als Mitglieder aufnehmen." (Archiv v. Droste-Hülshoff, Paket X X I ) . 223 Archiv V. Plettenberg-Hovestadt D l l f 17. 224 Archiv v. Galen-Assen F 428; Tagebucheintragung vom 3. 4. 1828. 225 Archivv. Galen-Assen F 528, Tagebucheintragung vom 15. 10.1834. Die Ersatzfunktion des Krankenhausprojekts wird deutlich aus einem Manuskript, überschrieben:,,Meine Erinnerungen an die Michaelis-Kapelle", die sich im Nachlaß der Sophie v. Merveldt, Vol. I, befindet. Darin heißt es:,,Mein seeliger Onkel, Graf Ferdinand Anton v. Merveldt, und seine Gemahlin, Gräfin Sophie Merveldt, geb. Freiin v. Ketteier, stifteten 1841 hier im Haus ein Alters-und Kinderheim zum Andenken an ihr verstorbenes einziges Töchterchen Anna. Meine sei. Tante sagte mir später, ihr Mann habe ihr durch diese Gründung eine nützliche Tätigkeit schaffen wollen, was ihm auch im vollsten Maße gelungen ist; denn ihr ganzes Denken und Sinnen galt dem Wohl dieser Stiftung durch ihr ganzes Leben hindurch." In welch außerordentlichem Maße die jungen Ehepaare auf Kinder warteten, welch außerordendiches Ereignis die Geburt eines Kindes für die Frau des Stammherrn und die gesamte Familie war, zeigt eine Tagebucheintragung Ferdinands v. Galen vom 4. 12. 1825: ,,4. erhielt ich einen Brief von meinen heben Geschwistern, der mir das

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glückliche, so lang ersehnte Ereignis von Annas Schwangerschaft anzeigte. Der Ausdruck des höchsten, seligsten Glückes, der aus dem ganzen Brief hervorleuchtete, freute und rühne mich unaussprechlich." (Archiv v. Galen-Assen F 528). 226 Vgl. den Brief vom 11. 9. 1841, Raich, S. 101 f.; erst nach 1850 gewannen die Frauen, zunächst über die Gründung des ,,Vereins zu Ehren der Heiligen Familie", fortschreitend einen auch von ihren Männern anerkannten, sinnvollen Tätigkeitsbereich außerhalb der Familie; in Krisenzeiten, z. B. während des Kulturkampfes konnten diese vorpolitischen Aktivitäten, wenn auch immer an religiöse Motive gebunden, in offen politische Aktionen übergehen, vgl. dazu die Ausführungen zur Vereinstätigkeit des Adels, S. 601 f. 227 H. Böcker, Hofmeister der Familie v. Nagel-Vornholz, schrieb z. B. am 14. 3. 1843 in sein Tagebuch: ,,Die gnädige Frau bemerkte beim Frühstück Consequenz im Handeln und Verfahren mit den Kindern, und Gehorsam von Seiten der Kinder seien notwendige Erfordernisse zu einer guten Erziehung . . . " (Archiv v. Nagel-Vornholz AVI 413). Und im Kodizill zum Testament der Bertha v. Nagel-Vornholz, geb. v. Merveldt, vom 16. 12. 1847 hieß e s : . . Denn Gehorsam gegen Eltern und Pflegeeltern ist die erste, ich möchte sagen, die einzige Pflicht der Kinder und wird dadurch mehr der Kinder Wohl als anderer Freude befördert . . . " (ebd. Ala 178). 228 Zur Einübung schon der Kinder in den vom Adel bevorzugten städtisch-geselligen Lebensstil dienten v. a. die ,Kinderbälle'; und selbst in die weitergehende Funktion der Geselligkeit, die Regulierung des Heiratsgeschehens in der Gruppe, wurden die Kinder über diese Kinderbälle schon eingeführt; so berichtet August v. Korff in seinen Aufzeichnungen über seine Frau Auguste: ,,Ich hatte als Knabe schon eine große Neigung zu ihr, und man sagt mir nach, [daß] ich, von einem Kinderball von Merveldt nach Hause zurückgekehrt, geäußert habe, ich heirate niemand anders als Auguste Merveldt." (vgl. Archiv v. Korff-Harkotten I Fi, 29 Bd.). Auch die Weihnachtsgeschenke verraten die Tendenz zur Sozialisation auf diesen adligen Lebensstil; in der Regel tauchen als Geschenke für Söhne Jagdflinten und Reitzeug auf. 229 Graf Bocholz übertrieb stark, als er 1830 in seiner Broschüre, S. 57 von ,,unendlichen Familienzwisten infolge der französischen Erbgesetzgebung" bei Bauern und Adel sprach. Als Negativbeispiel wurde im münsterländischen Adel zu dieser Zeit immer die durch Familienstreitigkeiten und Erbprozesse stark zerrüttete Adelsfamilie v. d. Recke-Uentrop genannt; vgl. u. a. den Brief des Mathias v. Galen an Werner v. Droste- Hülshoff vom 12. 9. 1842 (Archiv v. Droste-Hülshoff, Mappe: Succzessionsordnung der Ritterschaft). 230 Das galt z. В. für das Vormundschaftsrecht, das Eherecht und vor allem für das Erbrecht; vgl. dazu die Ausführungen S. 260ff. und Schlüter, Provinzialrecht, S. 57; dort heißt es von den Bestimmungen über die eheliche Gütergemeinschaft im ehemaligen Fürstbistum Münster, daß nur der landtagfähige Adel mit 16 Ahnen und Militärpersonen von der ansonsten allgemein gültigen Gütergemeinschaft ausgenommen waren, nicht aber andere Adlige, weil diese nicht exemt waren ,,und an den Privilegien des Adels keinen Teil" hatten. 231 Vgl. z. B. Archiv v. Droste-Hülshoff, Mappe:, Autonomiebestrebungen' oder Archiv v. Korff-Harkotten IFi, 29. Bd. 232 Landschaftsverband А III, Nr. 40 В С , S. 16-25. 233 Vgl. hierzu STAM, Oberpräsidium B, Nr. 487. In den von Preußen nach 1803 bzw. nach 1815 neu erworbenen Provinzen galt zwar, im Gegensatz zu den Verhältnissen in den alten östlichen Provinzen, das Preußische Allgemeine Landrecht als primäre und nicht - für den Fall, daß in den alten Provinzialrechten entsprechende Rechtsbestimmungen fehlten - als subsidiäre Rechtsquelle; aber auch hier hatte der preußische Staat versprochen, wichtige vom ALR abweichende Bestimmungen der alten Provinzialrechte in Zusammenarbeit mit den noch zu errichtenden Provinzialständen der bestehenden Rechtsordnung einzufügen. Der westfälische Provinziallandtag begann auch sofort nach seiner Konstituierung mit der Sammlung dieser alten, vorwiegen auf dem ,Herkommen' beruhenden Rechte. Auf dieses Versprechen und die Bestimmungen des Reichsdeputationshauptschlusses berief sich auch Graf Bocholz in seinem Gutach-

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Anmerkungen zu Seite 305-306 ten über die Grundzüge einer Sukzessions-Ordnung der Ritterschaft vom 20. 2. 1831 im Punkt I I : „ D e r staatsrechtliche Grund dieses Zweckes [der Sukzessions-Ordnung, H . R . ] ergibt sich aus dem § 60 des R D H von 1803, nach dem in den erworbenen Landen die auf gültigen Verträgen dem Regenten und Lande und andere reichsgesetzliche Normen berechnende Verfassung erhalten werden soll. Die Erbrechte des sog. Adels standen unter dem Schutze der Verfassung und zwar ebenso gut, wie die der Städter und kleineren Landbesitzer, die man Bauern nennt, können daher nicht willkürlich normiert werden." (STAM, Nachlaß Giesbert v. Romberg, В N r . 31). 234 Als ,,weitgehend wirkungslos" werden hier nur die die interne Familienordnung des münsterländischen Adels berührenden Eingaben, z. B . die Bemühungen um Erhaltung der Damenstifter, bezeichnet. Hierzu gehört z. B. die Bittschrift der Münsterschen Ritterschaft an den König vom 16. 10. 1804, die Sicherung der Domkapitel und Fräuleinstifter betreffend; darin heißt es u . a . : ,,Die nachgeborenen Söhne, insofern sie sich dem Militärstande nicht widmen können, finden darin eine ebenso ehrenvolle als unabhängige Versorgung. Ebenso wichtig ist die Beibehaltung der adlichen Fräuleinstifter; sie bieten den adligen Töchtern, welche nicht berufen sind, dem Staate nützliche Bürger zu erziehen, eine Freistätte dar, die dieselben nirgends mit so vieler Anständigkeit und BequemKchkeit finden könnten. Doppelt drückend müßte für den Adel die Aufhebung dieser Institute seyn, da sie ihre Einkünfte größtenteils den Stiftungen und milden Gaben adliger Familien in früheren Zeiten verdanken, welche durch diese von ihrem eigenen Vermögen gebrachten Opfer den stäten Enkeln und Urenkeln einen anständigen und sicheren Zufluchtsort zu bereiten glaubten . . . " Nach der Aufhebung der Stifter in französischer Zeit und der zweiten Eingliederung Münsterlands in den preußischen Staat sandte die Münstersche Ritterschaft am 25. 1. 1818 eine zweite, ebenfalls erfolglose Petition an den König mit der Bitte um Wiederherstellung der Damenstifter, da sonst ,,für manche der adlichen Landestöchter" die Zukunft trübe werde, indem sich nicht für jede eine angemessene Gelegenheit zur Verehelichung findet." (Archiv v. Korff-Harkotten l E c , 12. Bd.). 235 Von den ursprünglich in der neuen preußischen Provinz Westfalen vorhandenen 27 Fräuleinstiftern, von denen über die Hälfte katholisch, und noch mehrere gemischter Konfession waren, bestanden 1826 nur noch drei, und auch deren Stiftsstellen wurden in der Regel nicht mehr an katholische Adlige vergeben. Faktisch war also das ursprüngliche Stiftsvermögen der Vorfahren katholisch-adliger Familien für den katholischen Adel in der Provinz Westfalen verloren. Seit 1826 bemühte man sich um einen Anteil an den drei schon bestehenden Stiftern oder die Einrichtung eines neuen Damenstifts. Dabei betonte man stark die Benachteiligung des katholischen gegenüber dem protestantischen Adel der Provinz. Der Landtagsabschied vom 3 1 . 1 2 . 1 8 2 9 versprach, die Möglichkeiten zur Einrichtung zweier Damenstifter ,,mit verhältnismäßiger Beteiligung katholischer Confessionsgenossen" auf der Basis von Stiftungen prüfen zu lassen. Doch diese Pläne scheiterten (Landschaftsverband A I I I , Nr. 40, S. 89-143). 236 Anlaß zu dieser neuen Eingabe vom 8. 6. 1824 war die Verkaufsankündigung des Stifts Freckenhorst mit seinen Gebäuden und Grundstücken, das ursprünglich als Gesamtkomplex verkauft werden sollte. Der Oberpräsident v. Vincke nahm am 23. 6. 1824 in einem Brief an das Ministerium des Innern und der Finanzen zustimmend zu diesem Plan Stellung. Zwölf Familienväter hatten sich zur Stiftung einer Stiftsstelle bereit erklärt; doch das Projekt scheiterte (Archiv V. Korff-Harkotten I G c , 13. u. 14. Bd.). 237 Zu den Verhandlungen über die Gründung eines neuen katholisch-adligen Damenstifts vgl. die Akten in den Beständen: Archiv v. Korff-Harkotten lEe, 13. u. 14. B d . ; Archiv v. Nagel-Vornholz AIII 247; Archiv v. Droste-Hülshoff, Mappe: Autonomiebestrebungen der westfälischen Ritterschaft; S T A M , Archiv V. Landsberg-Velen B , Nr. 31; Archiv v. Merveldt, Nachlaß August Ferdinand v. Merveldt, Vol. III und Landschaftsverband А I I I , N r . 40, 3. 89ff. 238 Schon die Verhandlungen um die Einrichtung des ehemaligen Stifts Freckenhorst als neues Damenstift im Jahre 1824 wurden dadurch belastet, daß auch die preußischen Beamten in der Provinz Westfalen ein Interesse an den Damenstiftern als Versorgungsanstalten für ihre Töchter zeigten. Der ehemalige Minister v. Stein schrieb in dieser Frage am 3 1 . 3 . 1 8 2 4 an August

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Ferdinand v. Merveldt aus Frankfurt: „Möchte doch die Wiederherstellung einiger Fräuleinstifter erfolgen und diese nicht eine Versorgungsanstalt der Beamtentöchter werden" (v. Stein, Briefe, Bd. VI). Schon an den vor 1803 rein adligen Stiftern Lippstadt und Geseke, die nach 1815 erhalten blieben, hatte neben dem höheren Militär auch das Beamtentum einen Anteil gewonnen. Als im Sommer 1829, infolge der Initiative des 2. Provinziallandtags, unter v. Steins Leitung Beratungen über die Einrichtung eines Simultan-Stifts in Soest begannen, schrieb August Ferdinandv. Merveldt an Stein am 25. Juni 1829 über die Verhandlungen des Jahres 1824:,,Vor einigen Jahren hatten des Königs Majestät das so vielseitig geeignete Stift Freckenhorst zu einem derartigen Etablissement bestimmt. Sehr vieles war vorbereitet, nur die Königliche Sanction blieb aus, und wir mußten erfahren, daß Freckenhorst öffentlich an den Meistbietenden verkauft wird, welches man zufolge der Äußerungen höchster Personen in Berlin nicht erwartete . . .[bis hierher zitiert nach Schröder, Freiherr, S. 182, H . R.]. Ich habe kein Vertrauen zu der Hand, die schon einmahl eine hoffnungsvolle Frucht vor ihrer Geburt erstickte . . . " (Archiv v. Merveldt, Nachlaß August Ferdinand v. Merveldt, Vol. III); zu v. Steins Aktivitäten, die Gründung eines adligen Damenstiftsin Westfalen betreffend, vgl. seine Briefe vom 5. 7. und 8. 7.1829 an v. Spiegel, vom 3 . 1 1 . 1829 an seine Tochter Therese und vom 18. 12. 1829 an v. Schorlemer (v. Stein, Briefe, Bd. VII). Für das Simultanstift wurden Statuten erarbeitet und 19 Stellen fundiert. Die Stifter forderten aber vom Staat 10000 R T Einrichtungskapital und ein Einkommen von jeweils 800 R T pro Jahr für Äbtissin und Pröbstin, da aber zu dieser Zeit keine Staatsmittel vorhanden waren, mußte weiter verhandelt werden. Die Unterstützungsforderungen scheiterten schließlich am Widerstand des Finanzministeriums, das solche Zuwendungen für ,.nicht zeitgemäß" hielt. Auf weitere Eingaben der Ritterschaft wurde am 23. 10.1833 von Berlin erklärt, das bisher vorliegende Statut sei unzureichend; ein neuer Ausschuß aus Adel und Provinzialbeamten solle ihn umarbeiten. Dieser tagte seit 1833 und zerstritt sich in der Frage, ob König bzw. Bürokratie oder den an der Stiftung beteiligten Stammherrn die Oberaufsicht über das Stift zukommen sollen (vgl. zu den Verhandlungen: Landschaftsverband A III, Nr. 40, S. 89-121). Die letzte Erwähnung des Projekts eines katholischen Damenstifts in Nottubi stammt von dem königlichen Landtagskommissar V. Duesberg in einem Brief vom 16. 12. 1859 an den Landtagsmarschall Graf Westphalen; der erstere verwies darauf, daß in Soest seit einem Jahr das evangelische adlige Walpurgis-Stift bereits bestehe, und entsprechend sollte nun auch das katholische Damenstift in Nottuln eingerichtet werden. Aber man suchte zu dieser Zeit im Münsterland immer noch nach geeigneten Gebäuden, wohl ohne große Begeisterung und auch ohne Erfolg (Landschaftsverband A III, Nr. 40, S. 130f.). 239 Als weitere wichtige Unterschiede zwischen den alten und neuen Stiftsstatuten sind festzustellen: Die Verkürzung der Anwesenheitspflicht im Stift, geringere Einnahmen der Stiftsdamen, denen nur 80 R T pro Jahr nach Zahlung ihres Kostgeldes verblieben; eine Verringerung der bei Antritt ins Stift zu zahlenden Statutengelder auf 25 R T und die wesentlich stärkere Berücksichtigung eines Mindestalters bei der Zuweisung von Rechten; zur Äbtissin konnte man z. B. erst mit 30 Jahren gewählt werden. Ein davon abweichender Entwurf schlug 28 Jahre als untere Grenze vor; das Eintrittsalter der Stiftsdamen wurde auf 14 Jahre festgelegt, doch konnte die Ernennung schon mit 3 Jahren erfolgen (Archiv v. Korff-Harkotten lEe, 13. und 14. Bd.). Verschiedene Entwürfe von Statuten zum geplanten neuen Stift befinden sich in den Beständen: STAM, Nachlaß Giesbert v. Romberg B, Nr. 31 ; Archiv v. Nagel-Vornholz A III 247; Archiv v. Korff-Harkotten lEc, 12 Bd. Sowie lEe, 13. u. 14. Bd. ; STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 1-3. Eine Sammlung von Stiftssatzungen aus der Zeit des geistlichen Staates findet sich im D A M , Nachlaß Franz v. Fürstenberg, Nr. 177/5. 240 Im § 21 der Statuten wurde bestimmt: ,,Der Äbtissin bleibt es vorbehalten, nach den Umständen näherer Übereinkunft mit dem Armen- und Schulvorstande den geeigneten und solches wünschenden Fräulein die Gelegenheit einer thätigen und nützlichen Mitwirkung für die weibliche Armen-und Schulanstalten des Ortes zu verschaffen (Archiv v. Korff-HarkottenlEe, 13. u. 14. Bd.). Diese Neuerung ging auf Anregung des Freiherrn, v. Stein zurück und wurde über des-

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sen Freund, den Grafen August Ferdinand Merveldt dem münsterländischen Adel vermittelt; vgl. den Brief August Ferdinands v. Merveldt an v. Stein vom 25. 6.1829 (Schröder, Freiherr, S. 181 f.) und den Briefwechsel v. Steins mit der Gräfin Reden (Brief v. Steins vom 26. 6. 1829 und der Gräfin Reden vom 3. 8. 1829; v. Stein, Briefe, Bd. VII). Zur Ausbildungsfunktion der Stifter heißt es nahezu übereinstimmend in den Entwürfen: ,,Ferner sind die jungen Stiftsfräulein gehalten, bis zum vollendeten 20ten Lebensjahre, um sich auch in dieser Anstalt ihrer Bestimmung gemäß zu guten Hausfrauen bilden zu können, sich nach Anleitung der Äbtissin mit Führung der innern Haushaltung, Aufsicht über die Gärten, und überhaupt mit der Wirtschaft zu befassen und die übrige Zeit mit weiblichen Handarbeiten zu beschäftigen, wobey Ihnen jedoch die nöthige Zeit zur Ausbildung von Fertigkeiten als Sprachen, Musik etc. belassen werden." (Archiv V. Korff-Harkotten lEe, 13. u. 14. Bd.). 241 Nach den alten Stiftssatzungen und Gewohnheiten wurde eine z. B. durch Tod vakant gewordene Präbende von der Äbtissin ,,an ein anderes qualifiziertes Subjekt übertragen". Wurde die Präbende dagegen durch freiwillige Resignation erledigt, so bestimmte die Resignierende selbst ihre Nachfolgerin. Bei Tod der Äbtissin bestimmten die Stiftsfräulein alleine, ,,durch freie Wahl die Nachfolgerin". (Vgl. die Berichte der Äbtissinnen der Stifter Asbeck, Bocholt, Freckenhorst, Hohenholte, Langenhorst Metelen und Nottuln aus den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, besonders die Berichte der Äbtissinnen zu Abbeck Maria Katharina v. Galen vom Anfang des Jahres 1787 und der Äbtissin von Langenhorst Clara Franziska v. Merveldt vom 21. 12. 1786, D A M , Nachlaß Franz v. Fürstenberg N r . 177/5). 242 Schon auf dem 1. Westfälischen Provinziallandtag verhandelte der neu gebildete Stand der Ritterschaft über ein spezifisches, seinem Stand gemäßes Sondererbrecht, nach dem die nachgeborenen Söhne und Töchter vom Erbe ausgeschlossen werden sollten. Im Gesuch an den König wurde diese Forderung gegründet ,, 43

Reif, Adel

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442-44Í

heit wird dieses auch wahrscheinlich als Magnetismus erklären wollen (Archiv v. PlettenbergHovestadt D II f 17). Zur Wunderorientierung schon des Gallitzin-Fürstenberg-Kreises vgl. Müller, Säkularisation, S. 33; zur anwachsenden Wunderbereitschaft in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert allgemein vgl. Brunschwig, S. 325ff. u. 389ff. 33 Vgl. dazu die Briefe der Dina ν. Plettenberg-Lenhausen, geb. v. Droste-Vischering, an ihre Geschwister im August 1821 (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D II f 17). 34 Die Aufmerksamkeit und Empfänghchkeit f ü r Wunder blieb während des ganzen Vormärz in den Adelsfamilien erhalten; vgl. z . B . denBrief der Antonettav. Merveldt an ihre Mutter F r a n z i s k a v . T w i c k e l v o m l l . 7 . [ca. 1840](Archivv.Twickel-HavixbeckIG240 k ) ; z u d e n v o n den Droste-Söhnen auf ihrer KavaUerstour 1795/96 beobachteten Wundern vgl. die Ausführungen S. 366 und Reinhard, Werdegang, S. 296; weitere Wunderberichte finden sich in den Briefen Dinas V. Plettenberg-Lenhausen an ihren Burder Franz vom 26. 7. 1815, 11. 11. 1818 und 21. 5. 1818 (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D II f 17). 35 Ariès, Studien, S. 35. 36 Vgl. Roessler, Geschichte, S. 40. Eine von den Darstellungen in den Todesanzeigen abweichende, ältere Variante des Sterbekults wird deutlich aus einem Brief der Dinette ν. Plettenberg-Lenhausen anihren Bruder Franz vom 8. 9. 1813:,,Liebster einziger Franz, . . . w e n n D u G . Schmiesinger schreibst, so sag ihm doch, daß der alte Herr von Wrede von Melchede auf einem Kanapée gekleidet, gestiefelt und gespornt als ein rechter Ritter gestorben sei." (Archiv v. Plettenberg-Hovestadt D II f 17). 37 V. Galen maß diesem Kölner Ereignis eine außerordentlich hohe Bedeutung bei: ,,Ιη welthistorischer Bedeutung erscheint mir dieses Ereignis als das wichtigste unseres Jahrhunderts. An ihm ist zuerst das katholische Bewußtsein zu neuem Leben erwacht und erstarkt." (Archiv v. Galen-Assen F 527). 38 Schieder, S. 428 ; aus der Perspektive des Adels schildert Joseph v. Twickel in den Briefen v o m 3 . 9., 8. 9. und 21. 9. 1844 an seine Mutter die Ereignisse während der Wallfahn ,,Prozession über Prozession und Wunder über Wunder und keine Unordnung. Es ist nicht zu sagen, was man für Gefühle empfindet, wenn man hier im D o m ist. Wenn der liebe gute Gott die sprechendsten Zeichen seiner Allmacht zeigt. Heute sind wieder zwei Wunder geschehen. Ein Kind von 4 Jahren sehend und eine Frau, die Louis [v. Twickel, H . R.] gesehen hat." (Archiv v. Twikkel-Havixbeck I G 260 1). Einer der zahlreichen scharfen Kritiker dieses Wallfahrtswesens war der Sozialist Becker, der in Trier war und 1855 in seinen Erinnerungen schrieb: ,,Das war ein verhältnismäßig sehr wohlhabender und gebildeter Pöbel, da waren münsterländische Freiherren, Trierische Notare und als Zeugen lauter viri spectatissimi et ornatissimi, welche, so oft der Hl. Rock ein Wunder riskiere, darüber in legaler Form eine Urkunde stilisierten." (zit. nach Schulte, Volk, S. 487). 39 Schieder, S. 428 f. 40 Vgl. Schulte, Volk, S. 102 u. 209. Die negativen Folgen der Wallfahrt für die Entwicklung eines politischen Bewußtseins der westfäUschen Bevölkerung betonte ein Anikel in der sozialistischen Zeitschrift,,Westfälisches D a m p f b o o t " 1846: ,,Aber der geistliche und weldiche Adel wirkte der aufkeimenden Volksbildung sehr entgegen . . . So ging alles wieder rückwärts und Westphalen hat sein gutes Kontingent zur Trierer Rockfahrt gestellt, bei welcher sich bekanntlich das große Wunder zutrug, daß eine Freiin von Droste-Vischering ¿Are Krücken wegwarf um, auf die Arme ihrer Begleiterinnen gestützt, die Kirche zu verlassen." (Westfälisches Dampfboot 2, 1846, S. 369); über das Wunder um die Freiin v. Droste-Vischering verfaßte Rudolf Löwenstein ein Spottlied das schnell in ganz Deutschland bekannt wurde. 41 Schieder, S. 426. 42 Leichenpredigt f ü r die Äbtissin Anna v. Oer vom 3. 1. 1670 (Archiv v. Oer E 572). 43 Α. V. Droste-Hülshoff, Bei uns zu Lande, S. 26; vgl. dazu die Aufstellungen über die Hausarmen des Hauses Hülshoff aus den Jahren 1675 (zehn arme Personen) und 1820 (8 arme 674

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44S-448

Personen) im Archiv v. Droste-Hülshoff, Paket III; von dieser A n der Armen ist das nicht seßhafte ,Gesindel' des 17. und 18. Jahrhunderts streng zu trennen. 44 Eine arme Frau namens K. Birger in einem Bittbrief an Sophie v. Fürstenberg am 18. 9. 1826 (Archiv V. Oer E 7 % с). 45 Vgl. Iserlohn, S. 3 f. Snyders, S. 111 u. 287; daß diese Konstruktion auch im 19. Jahrhundert im Adel real wirksam war, zeigen z. B. die Eintragungen der Bertha v. Nagel in ihr,,Souvenirbuch" aus dem Jahre 1840: ,,Uberhaupt sind wohl die Kranken und die Armen nicht wohl bloß ihrer selbst wegen arm und krank, sondern ebenso sehr, auf daß den Vermögenden und Gesunden Gelegenheit gegeben werde, vermittels der Übung der christUchen Barmherzigkeit gegenüber den Menschen, Erbarmung bei Gott zu erlangen . . . Der Reichtum säet Almosen aus und kann das Gute befördern, die Armut, mutig ertragen, bringt uns auf dem Wege des Leidens Gott näher." (Archiv v. Nagel-Vornholz A l a 188). 46 Vgl. Steffens, Hüffer, S. 70 u. 85-87; zu den wenigen Einrichtungen, die der Aufklärer Justus Gruner bei seinem Aufenthalt in Münster 1802 lobte, zählten die Barmherzigen Brüder, die ähnUche Aufgaben übernommen hatten wie die Clemens-Schwestern. 47 Zwischen 1807 und 1843 erschienen allein fünf Biographien des hl. Vincenz von Paul (Ritter, S. 20). Eine ähnliche Wende zur Caritas erlebte die protestantische Kirche zu dieser Zeit; auch hier übernahmen mit v. d. Recke-Volmarstein und v. Bodelschwingh zwei Vertreter des westfälischen Adels mit beispielhaften Gründungen Vorbildfunktionen. 48 Vgl. z . B . Archiv V. Korff-Harkotten IF i, 29. Bd., Tagebuch des August ν. Korff und die Beispiele bei Schulte, Volk, S. 131. Daß die Bauern auf den Fürsorgeleistungen des Grundherrn weiter bestanden, wird deutlich aus einem Brief Annettes v. Droste-Hülshoff aus dem Notjahr 1831 an ihre Mutter (Annette v. D . - H . , Briefe, Bd. 1, Brief vom 31.1.1831). Die alltägliche karitative Aktivität der adligen Hausfrau wird z. В. aus den Briefen der Louise v. Landsberg-Velen in den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts deutlich (vgl. STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Nr. 7900). 49 STAM, Haus Diepenbrock, Akten X I V , Nr. 1. Das Bemühen um Distanzierung des Wirtschaftsbürgertums durch vorbildhafte Caritas wird z. B . an einer Eintragung Berthas v. Nagel in ihrem Souvenirbuch von 1840 deutlich; dort heißt es: ,,. . . das in dem Evangelium wider die Reichen ausgesprochene Urteil betrifft daher nicht sowohl die Besitzer der Erdengüter, als vielmehr jene, die ihnen feindlich nachstreben, oder ihr Herz daran haften. Das Strafbare besteht darin, daß man sie zur Gottheit erhebt und sie durch das ihnen ganz gewidmete Streben angehört." (Archiv v. Nagel-Vornholz А I а 188). 50 Raich.S. 113f.;im Archivv. Merveldt, Nachlaß Ferdinand Anton v. Merveldt, findet sich ein umfangreicher Aktenband mit der Aufschrift ,,Milde Gaben", welcher nur Bittbriefe und Quittungen über karitative Ausgaben des Grafen enthält. In einem Brief des Oberpräsidenten v. Vincke an Ferdinand Anton vom 2. 11. 1837 heißt es in Anerkennung der vielen und umfangreichen Spenden des Grafen: ,,Wie allgemein bekannt und anerkannt ist, mein theuerster Freund, kennt Ihr Wohltatigkeits-Sinn keine Grenzen." (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Clara Ludovika v. Merveldt, Vol. II). 51 Das Fest zu Ehren Friedrich Wilhelms IV. im Jahre 1842 kostete z. B . ca. 13 ООО Taler; ein Geldrest von ca. 400 Talern wurde für Kranke beider Konfessionen sowie Notleidende im Regierungsbezirk Arnsberg und Minden gespendet (vgl. Archiv v. Merveldt, Nachlaß Ferdinand Anton V. Merveldt, Vol. II; Nachricht des Festkomitees vom 24. 2. 1845). 52 Selbst der so spendenfreudige Ferdinand Anton v. Merveldt klagte Anfang 1850 in einem Brief an den Bischof, der um Unterstützung einer Anstalt für verwahrloste Mädchen gebeten hatte; ,,Der Gegenstand gebietet überall Unterstützung. Aber schwer, schwer ist es, und täglich schwerer wird es, den auf vielfachen Gebieten auftretenden Anforderungen unserer Zeit, die auf religiösem und sittlichem Gebiet krankt, zu helfen." (Archiv v. Merveldt, Nachlaß Ferdinand Anton V. Merveldt, Vol. IV). 675

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448-4S3

53 Schon vorher hatte sich v. Schorlemer sehr energisch für die Beseitigung von Mißständen im Ruhrbergbau durch Eingriffe des Staates eingesetzt. 54 In den Statuten und Denkschriften der Adelsvereine wurde nach 1848 dieses Konzept immer stärker ausgebaut z . B . im Statut des Vereins zu Ehren der heihgen FamiUe (Archiv v. Korff-Harkotten IFi, 29. Bd.), in einer Ansprache an die Confratres des St. Johann Ordens um 1860 heißt es: „Wenn wir unsere FamiUenerziehung nach bestimmten Regeln ordneten, unseren Söhnen den Orden und seine religiösen und weltlichen Tendenzen als Ziel ihres Lebens und Strebens stellten, unseren Töchtern das Ziel der thätigen Frauen-Orden, mit dem der Orden in organische Verbindung treten müßte, aufstellten, wenn die Frauen des Adels dem modernen Luxus energisch entgegenträten, so würde der Adel bald eine andere und bessere Gestaltung gewinnen." (Archiv v. Oer E 1386). 55 Vgl. Gonze, Adel, S. 13. 56 Leichenpredigt für Ferdinand v. Plettenberg-Nordkirchen 1737. 57 Vgl. Brunner, Landleben, S. 3 3 I f f . ; Vierhaus, Deutschland, S. 198; v. Preradovich, S. 188. Der katholische westfähsche Adel, hat - sieht man vom Kreis um die Brüder v. Haxthausen ab - nur wenig zur Durchsetzung der konservativ-romantischen Bewegung beigetragen. Eine starke Dichotomisierung von reiner Natur und verdorbener Gesellschaft ist bei ihm nur in der Rückzugsphase während der Umbruchszeit nachweisbar. Neugotische Schlösser wurden nur wenige gebaut; Ruinenromantik ist nur in wenigen Belegen bei den jungen Adelssöhnen nachweisbar; dagegen aber eine Vielzahl von Beispielen praxisorientiert-realistischer Einstellung: Während z. B. v. Haxthausensich in Bayern durch die Schönheit einer Burgruine verführen ließ, für ein Gut einen stark überhöhten Preis zu zahlen (vgl. Keinemann, Staatsverwaltung, S. 458 f.), reagierte z. B . August v. Twickel auf den AnbUck einer Burgruine völlig konträr, mit Reflexionen über die unterschiedliche Haltbarkeit verschiedener Steinsorten (Archiv v. Twickel-Havixbeckl G 233 e, Brief an seinen Vater vom 4. 6. 1824). Die englischen Parks waren für die Rückzugsphase des Adels, für die Abtrennung des Familienlebens von der Außenwelt zwar sehr wichtig; aber der Adel hat sich in den durch englische Parks vor der Umwelt versteckten Schlösser nicht eingegraben, sondern ist wieder zu politischer Praxis zurückgekehrt. Vollends war diesem Adel und selbst der von ihren Onkeln v. Haxthausen und deren Bökendorfer Kreis beeinflußten Annette v. Droste-Hülshoff die Vorliebe der Romantik für Phantasie und spielerische, sehnsuchterfüllte Subjektivität nicht verständlich (vgl. Schoof, S. 209 u. 213). 58 Erst nach 1848 wurde vom Adel ein gewissesVersagenderVorfahren vor 1803 konzediert; vgl. z . B . das Memorandum Max V. Oers zur Lage des Adels der sechziger Jahre (Archiv v. O e r E 1386, Akte: Malteserorden). 59 Vgl. die Stiftungsurkunde der geplanten Genossenschaft des westfälischen Adels vom 15. 12. 1837 (Archiv v. Korff-Harkotten I E G, 12. Bd.). 60 Zit. nach Kisky, S. 36. 61 Vgl. Koselleck, Preußen, S. 190; Gonze, Spannungsfeld, S. 246. 62 Zit. nach Keinemann, Geschichte, S. 63. 63 Annette V. D . - H . Briefe, Bd. 1. 64 Zu dem außerordentlich hohen Prestigekonsum, den der Adel beim Besuch des neuen Königs 1842 betrieb, vgl. die Schilderungen der Annette v. Droste-Hülshoff im Brief an ihre Schwester vom 5. 9. 1842 (Annette v. D . - H . Briefe, Bd. 2). 65 Schon Ferdinand August v. Spiegel hatte 1802 diese Möglichkeit ins Auge gefaßt, als er als Gegenleistung für die Erhaltung des Domkapitels anbot: ,,Die Kirche wird dem Staate dienen" (Kochendörffer, Denkschrift, S. 119). Dieses Adelskonzept hat der einheimische Publizist und Referendar Steinmann in seiner Zeitschrift ,,Mephistopheles" offen beim Namen genannt. Daraufhin wurde er von dem Grafen Landsberg-Velen, der am 24. 7. 1843 in einem Brief an den Innenminister V. Arnim Steinmanns Strafversetzung beantragte, in scharfer Form, aber letztlich ohne Erfolg, angegriffen (vgl. STAM, Archiv v. Landsberg-Velen, Provinziallandtag, Nr. 58). Steinmann hatte behauptet, die Taktik des Adels gehe dahin, ,,durch religiöse Anregungen sich

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für seine Standesinteressen die Sympathien und Stimmen der katholischen Mitstände zu gewinnen, am Throne aber die Meinung zurückzurufen, daß die Kölner Frage im Volke die Gemüther noch lebhaft beschäftige und nur in der Hand des Adels die Vermittelung zu finden [sei]" (Steinmann, Graf Westphalen, S. 69). 66 Nur in ihrer Ausschließlichkeit, nicht aber in ihrer Tendenz, was die Taktik des Adels betraf, waren die Urteile des Publizisten Steinmann falsch. Es entsprang aber mehr seinem Wunschdenken, wenn er anläßlich des gescheiterten Antrags des Grafen Westphalen stark generalisierend behauptete: „Das Volk begriff, daß die Bestrebungen des Adels, besonders in so auffallender Form, nicht sowohl die Kirche und, den angeblich gefährdeten Glauben, ja nicht einmal den Erzbischof von Köln an sich sondern letztern nur insofern galten, als er ein Standesgenosse des Adels war (Steinmann, Graf Westphalen, S. 79). 67 Vgl. Schieder, S. 442. 68 Schücking, Die Ritterbürtigen, S. 181. 69 Ein frühes Beispiel für den orientierenden Einfluß der Analysen der in Preußen verbotenen Historisch-Politischen Blätter auf den katholischen westfälischen Adel ist das Souvenirbuch der Bertha v. Nagel, geb. v. Merveldt; es enthält seit den dreißiger Jahren eine Vielzahl von Exzerpten aus dieser Zeitschrift. Am 21.8.1840 trug sie in dieses Buch ein: „Der Adel verfiel, nachdem er sich die Wurzeln, die er in das Herz des Volkes gesenkt, durchschneiden lassen, und als es den Anschein bekam, als habe er nur Rechte und keine Pflichten vor anderen voraus. (Histor. Pol. Blätter)" (Archiv v. Nagel-Vornholz Ala 188). 70 Vgl. hierzu Florschütz, S. 46-51; F. G. Hohmann, Die Soester Konferenzen 1864-66. Zur Vorgeschichte der Zentrumspartei in Westfalen, in: WZ 119, 1969, S. 293-342, v. a. S. 294, 307 u. 334-341 ; D. Hüffer, Die ,,Soester Konferenzen". Zur Vorgeschichte des heutigen Zentrums, in: Fs. F. Forsch zum 70. Geburtstag, Paderborn 1923, S. 32-55, v. a. S. 48 u. 52; H. Wemdorf, Die Fraktion des Zentrum im Preußischen Abgeordnetenhaus 1859-67, Leipzig 1916, S. 65 u. 52; K. Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Zentrumspartei, Bd. 2, Köln 1927, S. 124 ff. 71 Vgl. dazu die Überlegungen Max v. Oers Anfang der sechziger Jahre zur Funktion des vom katholischen westfäUschen Adel neu gegründeten Malteserordens (Archiv v. Oer E 1386, Akte: Malteserorden) und die Protokolle des Vereins kathoHscher Edelleute (Archiv v. Oer E 1386, Mappe: Verein katholischer Edelleute). 72 V. Schorlemer, Kth. Adel, S. 30. 73 ,,Der Adel gehört aufs Land, nicht in die Städte und gewiß nicht an den Hof." (v. Schorlemer, Kth. Adel, S. 17). In einem Promemoria für den Verein katholischer Edelleute (o. D.) wurde in den siebziger Jahren ausgeführt: ,,Wie segensreich für eine ganze Gemeinde wirkt nicht auch das gute Einvernehmen zwischen der Gutsherrschaft, das eifrige Betheiligen der letzteren am Pfarrgottesdienst, überhaupt das gute Beispiel in jeder Beziehung und zunächst im Familienleben, in der Erziehung der Kinder, der Leitung des ganzen Hauses. Hier wird der Grund gelegt zu allem, was später aus dem Menschen werden soll. Ein frommes echt katholisches Haus verbreitet Segen weit und breit und bis in die spätesten Generationen." (Archiv v. Oer E 1386). 74 Protokoll der Generalversammlung vom 3. 4. 1880 (Archiv v. Oer E 1386). 75 Archiv V. Oer E 1386; vgl. auch v. Schorlemer, Kth. Adel, S. 7: „Der katholische Adel steht mit dem ganzen katholischen Volke auf der Zinne der katholischen Partei." 76 Hierzu zwei Äußerungen des Freiherrn v. Schorlemer: 1866 schrieb er, der katholische westfälische Adel sei nicht für die konservative Partei; denn diese stehe ,,eher auf dem gewaltsamen Sundpunkt der Bewältigung des inneren Konfliktes als auf dem der gesunden Lösung desselben." (vgl. V. Schorlemer, Kth. Adel, S. 18); und in einem Promemoria über den zu bildenden Bauernverein vom 20. 5. 1862 hieß es: ,,Es ist zunächst zu bemerken, daß, wenn die Interessen des großen und bäuerlichen Grundbesitzes auch vielfach zusammenfallen, der erstere deshalb noch lange nicht der Vertreter des letzteren ist, welcher aus seiner früheren untergeordneten

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Lage emanzipiert, jetzt eine selbständige.Stellung im Staatsleben einnehmen muß und dann, aber wohl auch nur dann, mit jenem iiv