Werkzeug - Denkzeug: Manuelle Intelligenz und Transmedialität kreativer Prozesse [1. Aufl.] 9783839421079

Hand, Hirn und Werkzeug - eine komplexe Interaktion. Dieser aus der Architekturpraxis initiierte Band untersucht aus der

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German Pages 350 Year 2014

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Werkzeug - Denkzeug: Manuelle Intelligenz und Transmedialität kreativer Prozesse [1. Aufl.]
 9783839421079

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Thomas H. Schmitz, Hannah Groninger (Hg.) Werkzeug- Denkzeug

THOMAS H. SCHMITZ, HANNAH GRONINGER (HG.)

Werkzeug - Denkzeug Manuelle Intelligenz und Transmedialität kreativer Prozesse

[ transcript]

Das Buch wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung der RWTH Aachen.

RWIHAACHEN UNIVERSilY

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Roman Krükel, © BiG Lektorat: Andrea Heyer-Schmitz Korrektorat: Frieder Groninger Satz: Roman Krükel und Fabian Stolz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2107-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter:

info@ transcript-verlag.de

"Die Arbeit an der Philosophie ist- wie vielfach die Arbeit in der Architektureigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt.) " (L. Wirtgenstein (1931), S. 472)

Inhalt Einleitung

11

Kreative Prozesse Über projektives Denken und Machen

19

Thomas H. Schmitz und Hannah Groninger

Transmedialität. Eine Begriffsskizze

31

Stefan Wieczorek

Erfahrung und Intuition oder von lkarus lernen

51

Wim van den Bergh

Topographien des Flüchtigen zwischen Notation und Raumorganisation

75

Architektonische Bezüge in den choreographischen Werkzeugen Willi am Forsythes

Kirsten Maar

Zur Rolle des Körpers Haptik

95

Der handgreiflich-körperliche Zugang des Menschen zur Weit und sich selbst

Martin Grunwald

Taktiles Wissen

127

Eine Lecture Performance

Elke Mark

Das Denken des Leibes und der architektonische Raum Wolfgang Meisenheimer

145

Pizza und High-Tech

157

Über die Rolle des Designs zwischen technischem Fortschritt und soziokultureller Veränderung

Volker Albus

Denken und Werken Robinsons Pflug

165

Werkzeuge zwi schen Nachbau und Erfindung

Franziska Uhlig

Ars memorativa, Architektur und Grammatik

191

Denkfiguren und Raumstrukturen in Merkbildern und manuellen Gesten

Irene Mittelberg

Greifen, betrachten und begreifen

223

Anette Rose

Menschliche Informationsverarbeitung beim Werkzeuggebrauch

247

Zur Koordination proximaler und distaler Handlungseffekte

Jochen Müsseler und Christine Sutter

Zur Wechselwirkung zwischen Hand , Hirn und Werkzeug . Der Eureka! Effekt

263

Ferdinand Binkofski und Mareike Menz

Fallbeispiele- Ein Ausblick Von der Formplastik zum Raumfaltwerk Transmediale Schritte zwischen Entwurf und Herstellung gefalteter Hüllen und Raumflächen

Martin Trautz

275

Virtuelle RealitätEin Werkzeug für den Entwurfsprozess in der Architektur?

283

Torsten Kuhl en

Personal Design: Die Zukunft der Personal Fabrication

297

Jan Borchers und Rene Bohne

Raum als Denkzeug

313

Kognitive und epistemologische Grundlagen der Wissensgenerierung und Innovation durch Denken mit dem Raum

Markus F. Peschl und Thomas Fundneider

Autorinnen und Autoren

339

Einleitung

Das Entwerfen als Erkenntnisprozess ist eine Projektion unseres Denkens und unserer Vorstellungen in die Zukunft. In den gestaltenden Disziplinen Architektur und Design kommen zur Generierung von Wissen und zur Entwicklung kreativer Prozesse verschiedene Medien zum Einsatz. Weil es dort beinahe immer um die Entwicklung dinglicher und räumlicher Formen geht, spielen konzeptuelle Darstellungen jeder Art eine zentrale Rolle. Visualisierungen sind dabei als vorläufige Realisierung von gestalterischen und technischen Intentionen zu wesentlichen Bestandteilen einer instrumentellen Bildwelt der Gestaltung geworden. Als Ergebnis eines umfassenden Wandels technologischer und gesellschaftlicher Prozesse hat sich dieser Kontext immer wieder verändert. Seit Ende des 20. Jahrhunderts ist es der Computer, der mit seiner annähernd unbegrenzten Rechenkapazität und in seiner Fähigkeit zur Adaption unterschiedlichster Planungsinstrumente zum Meta-Werkzeug des Entwurfs avancierte. Bezeichnen wir diese im Sinne Viiern Flussers als Erlebnismodelle, dann wird es offensichtlich, dass sich der Werkzeuggebrauch im kreativen Kontext gleichermaßen auf die Entwerfer und auf die Entwürfe auswirken muss. lm Resultat hat diese Entwicklung eine Vielfalt von human- und computergenerierten Gestaltungsprozessen hervorgebracht, die jeweils eigene Handlungs- und Erfahrungsmodelle konstituieren. Der Wandel der Methoden des Entwerfens hat eine Methodendiskussion aufgeworfen, spätestens als klar wurde, dass sich Prozesse nicht nur rationalisieren, sondern sie auch inhaltlich grundlegende Änderungen nach sich ziehen. Die Frage nach der Reaktivität der Werkzeuge ist dann von Bedeutung, wenn es um konzeptionelle Entwurfs- und Entwicklungsaufgaben geht, deren Ergebnisse häufig eine

11

WERKZEUG DENKZEUG

weitreichende ökonomische und kulturelle Dimension haben und daher von besonderer Tragweite sind. Gibt es eine Entsprechung der Methoden zu den Modalitäten des Denkens? ln welchem Problemkontext ist es möglicherweise sinnvoller, die schwach strukturierten, vernetzten und oft stochastischen Methoden des analogen Entwerfens anzuwenden, und wann nutzen wir die programmierten, deterministischen Methoden der maschinellen Verfahren? Wo sich in einer Disziplin Denk- und Verfahrensweisen von so unterschiedlicher Art überlagern, müssen diese in der akademischen Ausbildung als Kompetenzen erforscht und weiterentwickelt werden. Das ist eine Aufgabe der Hochschulen und ihrer Forschungsinstitutionen. Der hier vorliegende Band "Werkzeug-Denkzeug. Manuelle Intelligenz und Transmedialität kreativer Prozesse" steht ftir eine solche initiative und zielt auf ein Zusammenfi.lhren verschiedener Sichtweisen des komplexen Feldes kognitiver Prozesse im kreativen Kontext für den Bereich Architektur und Design. Die multiperspektivische Sicht aus den Diziplinen der Kunst, des Designs, der Architektur, der Kultur- und Medienwissenschaft sowie der Kognitionswissenschaft und Informatik soll- in Bezug auf die Tätigkeit des Entwerfens - als Impuls ftir eine methodische und systematische Untersuchung seiner Werkzeuge angesehen werden. Wenn im Entwurfsprozess auch diejenigen Ebenen des Bewusstseins zur Sprache kommen sollen, die das taktile Wissen und die körperliche Erfahrung adressieren, dann braucht es einen umfassenden Blick auf deren Zusammenwirken. Anlässtich dieser Fragestellung initiierte der Lehrstuhl ftir Bildnerische Gestaltung im Februar 2011 an der Fakultät für Architektur der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen ein interdisziplinäres Symposium, dessen Beiträge nun in vorliegendem Sammelband publiziert und damit einer genuinen Entwurfsforschung zur VerfUgung gestellt werden. Weitere Ziele sind, neue Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft zu etablieren und wenig behandelte Forschungsfelder, wie beispielsweise die Haptikforschung in den Fokus der Betrachtung zu rücken. Die Bedeutung des Körper- und Erfahrungswissens soll im kreativen Schaffensprozess innerhalb der Architektur und des Designs näher behandelt werden. Die Gliederung des Bandes orientiert sich bewusst nach Themenbereichen und nicht nach Disziplinen. Das Kapitel "Kreative Prozesse" beginnt mit dem Beitrag "Über projektives Denken und Machen" der Herausgeber. Faktoren des Entwerfens stehen im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung tentativer Bildprozesse. Das Kapitel vereint zudem eine Begriffsskizze zur Transmedia-

12

EINLEITUNG

liät von Stefan Wieczorek, den Beitrag "Leaming from Icarus" von Wim Van den Berghund "Topografien des Flüchtigen- zwischen Notation und Raumorganisation" von Kirsten Maar. Die Beschäftigung mit unterschiedlichen Methoden des kreativen Arbeitens zeigt die Möglichkeit einer systematischen Ordnung dieser Wissenskultur des Abwägens, Übersetzens, Selektierens und Überschreibens. In seiner ausführlichen Bestandsaufnahme des Terminus aus literaturwissenschaftlicher Perspektive greift Stefan Wieczorek "Transmedialiät" als ein kulturelles bzw. mediales Basisphänomen auf. Er unterscheidet zwischen Formen des medialen Übergangs wie sie bspw. bei kreativen Prozessen zur Verwendung kommen, sowie medienunspezifischen Phänomenen wie FotoText Nanationen als medienübergreifendes Erzählphänomen. Das Format des Bild-Text Beitrages von Anette Rose sowie der Beitrag von Elke Mark des vorliegenden Bandes kann hierfür als Beispiel hinzugezogen werden. Der Frage, welche kognitiven und reflexiven Leistungen aus diesen nicht "monomedial" verlaufenden Prozessen resultieren, sollte, so Wieczorek, größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wim van den Bergh stellt die Leitfrage " Was macht gute Architektur aus?" und setzt sich mit intuitiven, kreativen Prozessen als etwas Subjektivem, Unwissenschaftlichem und deshalb als nicht beweisbarem Wissen auseinander. Anhand von historischen Beispielen erläutert er Wissenspraktiken in der Architektur. Er beschreibt Intuition als einen Akt körperlicher und mentaler Erfahrung. Die Theaterwissenschaftlerirr Kirsten Maar, die Entwerfen als Prozess der Modifikation und Übersetzung versteht, interessiert sich gerade für die Reste des "Nicht-Übersetzbaren"; eine Venäumlichung zeitlicher Vorgänge könnte als Modell für ein strukturell offenes Denken dienen. Architektonische Bezüge der choreografischen Arbeiten William Forsythes dienen ihr zur Verdeutlichung der engen Verbindung zwischen Körper, Technik und Medien und als Beispiel einer dynamischen Dimension von Architektur, die sich über raumzeitlich organisierte Prozesse von statischen absetzt. Damit schlägt der Beitrag Maars auch eine Brücke zu dem Beitrag "Ars memorativa, Architektur und Grammatik." von Irene Mittelberg. Der zweite Teil des Bandes ist dem Aspekt des Körpers und seiner kinästhetischen Wahrnehmungsprozesse gewidmet. "Zur Rolle des Körpers" beginnt mit der These des Architekten und Phänomenologen Wolfgang Meisenheimer, dass nämlich der Leib das wichtigste Werkzeug der Erkenntnis beim Erleben des architektonischen Raumes sei. Leib versteht er im Sinne

13

WERKZEUG DENKZEUG

von Hermann Schmitz als Repräsentation des Ichs mit allen seinen dazugehörigen Identität stiftenden Einflüssen. "Gestische Urphänomene" nennt er die Korrespondenzen zwischen Leib und Dingwelt, welche er aus seinen phänomenologischen Skizzen zitiert. Er geht von "nicht objektiven" Eigenschaften des architektonischen Raumes aus, welche hauptsächlich durch Erlebnisvorgänge und situationale Handlungen bestimmt werden. Die Argumentationslinie von Meisenheimer bzgl. der Rolle des Körpers bei Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen setzt sich bei Martin Grunwald mit einer psychophysiologisch-klinisch orientierten Perspektive fort. Der dezidierte Haptikforscher verdeutlicht die Relevanz des menschlichen Tastsinnessystems: sein vollständiger Verlust sei mit den biologischen Grundprinzipien des Lebens nicht vereinbar. Neben Erläuterungen zum Netzwerk der Tastsinnesrezeptoren präsentiert er empirische Untersuchungsergebnisse zu Sinn und Funktion von Selbstberührungen. Grunwald bemängelt das Ausbleiben einer integrativen Erforschung der Haptik. Es sei sehr bezeichnend, dass Forschungsprojekte zu manueller Intelligenz hauptsächlich seitens der ingenieur- und technikwissenschaftlichen Fächer sowie der Robotik initiiert und finanziert werden. Auch die Künstlerin Elke Mark fokussiert in ihrem Beitrag "Taktiles Wissen" den Tastsinn und zieht fortfUhrend den Vergleich zu apparativen Wahrnehmungsformen: Der Mensch mit seinen Körperbewegungen sei mittlerweile Teil des Interface zwischen Mensch und Maschine. Ihr Ziel ist die Entwicklung einer künstlerischen "Praxis-Sprache" zu "haptischem Wissen", welche leibliche und digitale Taktilität einbezieht; es ist eine persönliche Suche jenseits der Versprachlichung ihrer Erkenntnisse. Anhand einer MetaText-Ebene versucht sie der Komplexität und Dynamik sensibler Wahrnehmungsvorgänge einer Lecture Performance gerecht zu werden. Mit einer Glosse über "die Rolle des Designs zwischen technischer und soziokultureller Veränderung" schließt der Produktdesigner Volker Albus das zweite Kapitel ab. Er behandelt die Bedeutung des Verlustes der körperlichen Bewegung in unserem Alltag und ihren Einfluss auf aktuelle Designkonzepte. Neu entworfene Büroszenarien und Hybride treten der Hypertechnisierung unseres Alltags entgegen, welche Sitzen, Bewegen, die Arbeit am Computer und womöglich die Nahrungsaufnahme miteinander vereinen. Die Abhandlung des Designers Volker Albus kann man, ähnlich wie die der Architekten Wolfgang Meisenheimer und Wim van den Bergh, als persönliches Statement oder Erfahrungsbericht zu Methoden der Gestaltung verstehen. In ihrer Doppelrolle als praktizierende und lehrende Architekten/Designer reflektieren

14

EINLEITUNG

sie jeweils individuell neben der Kulturtechnik des Entwerfens auch die Frage der Lehre und Vermittlung des Entwerfens an einer Hochschule. So abstrakt das Denken ist, so konkret können die Erinnerungen, Bilder und Konzepte sein, die der Mensch sich vorstellt und schließlich im Entwurfveräußerlicht Das dritte Kapitel "Denken und Werken" behandelt die Interaktion von Hand, Hirn und Werkzeug von Seiten der Kulturtechnikforschung (Fransziska Uhlig), der semiotisch orientierten Gestenforschung (Irene Mittelberg), der Medienkunst (Anette Rose), der Arbeits- und Kognitionspsychologie (Jochen Müsseler/Christine Sutter) und der Klinischen und Kognitiven Neurowissenschaften (Ferdinand Binkofski/Mareike Menz). Der erste Beitrag "Robinsons Pflug- Werkzeuge zwischen Nachbau und Erfindung" leitet das Kapitel ein. Er unterzieht vorerst die begriffliche Gegenüberstellung "Werkzeug - Denkzeug" einer kritischen Betrachtung und einer Bestandsaufnahme seiner Bedeutung aus technikphilosophischer Sicht. Uhlig argumentiert, dass die Vorstellung vom Werkzeug immer noch fixiert sei auf ein dinghaftmaterielles technisches Handeln. Anband der Robinsonade verdeutlicht sie die Lebenspraxis und Existenz der Werkzeuge als "Stilleszur-Verfügung-Stehen" und positioniert die Diskussion in der technikphilosophischen Forschungslandschaft Die semiotisch orientierte Gestenforscherin Irene Mittelberg definiert gestische Zeichen als multimodale Repräsentationsforrnen. "Ars memorativa, Architektur und Grammatik" untersucht anband der Mnemotechnik und Gesten die Zusammenhänge von Raumstrukturen und Denkfiguren in ihrem konkreten Bezug zu Raum und Zeit. Als "Vorwärtsentwurf', welcher verinnerlichte, konzeptionelle Bilder und Strukturen wie Bildschemata und metaphorische Konzepte in Figuren sichtbar mache, könne man Gesten verstehen und ihnen möglicherweise ftir das architektonische Gestalten das Potential eines Werkzeugs zuschreiben. Die Beziehung zwischen Hand und Auge (Handeln und Wahrnehmen) und die Neukodierung durch den technologischen Wandel behandelt die Medienkünstlerin Anette Rose in ihrem Text-Bild-Beitrag "Greifen, Betrachten, Begreifen." Sie bietet Einblick in ihre künstlerische Forschung zur Enzyklopädie der Handhabungen, in welcher sie sich mit der Intelligenz der Hand im Arbeitsprozess beschäftigt. Sensorik und Feinmotorik, sowie die Prägung der Hand durch das Werkzeug kommen in ihren Bildern und Texten zur Sprache.

15

WERKZEUG DENKZEUG

Aus den Disziplinen der Psychologie und Neurowissenschaft werden die theoretisch-gestalterischen Aspekte des dritten Kapitels durch naturwissenschaftliche Fragestellungen ergänzt. Der Arbeits- und Kognitionspsychologe Jochen Müsseler und Christirre Sutter präsentieren ihre empirischen Forschungsergebnisse zu menschlichen Informationsverarbeitungsprozessen beim Gebrauch von Werkzeugen: Eine Untersuchung der kognitiven Leistungsfähigkeit und sensumotorischen Koordination durch die veränderten kognitiven Anforderungen der Technisierung des Computers. In "Zur Wechselwirkung zwischen Hand, Hirn und Werkzeug. Der Eureka! Effekt" behandeln aus dem Bereich der Klinischen Kognitionsforschung Ferdinand Binkofski und Mareike Menz das kognitive Erfassen eines Werkzeugs und seines Bedienkonzepts. Ihr Fazit lautet, dass unser Gehirn durch lebenslange Erfahrung geradezu dafür gemacht ist, mit einer Vielzahl von Werkzeugen in Interaktion zu treten und flir neue Werkzeuge gewappnet zu sein. Die Berichte der anwendungsorientierten Forschung der Informatiker Torsten Kuhlen und Jan BorehersiRene Bohne, sowie des Architekten Martin Trautz und der Kognitionswissenschaftler Markus F. Peschl/Thomas Fundneider gliedern das vierte Kapitel. Anhand konkreter Fallbeispiele wird ein Ausblick in die Zukunft gewagt. Martin Trautz liefert Einblicke und Erfahrungen transmedialer Methoden im Umgang mit der Planung und Produktion von Modellen innerhalb des Entwurfsprozesses von Raumfaltwerken. Torsten Kuhlen reflektiert die Virtuelle Realität (die sogenannte CAVE) als mögliches Werkzeug flir den Entwurfsprozess. Unter VR versteht er eine innovative und intuitive Form der Mensch-Computer-Schnittstelle. Zum Stand der Technik hebt er hervor, dass die visuelle Simulation bald so weit ist, dass man sie von der Realität kaum mehr unterscheiden kann. Das visuelle Analogon lasse allerdings den Stand der Simulation anderer Sinneseindrücke (wie bspw. die kinästhetische Empfindung) weit hinter sich. Jan Borchers und Rene Bohne entwerfen in ihrem Beitrag "Personal Design: Die Zukunft der Personal Fabrication" eine Vision ihrer Disziplin der Mensch-Maschine Interaktion. Anhand der Weiterentwicklung des sogenannten FabLab Konzepts präsentieren sie ein Interaktionsdesign, das geprägt ist durch "intelligente Materialien ohne Maschinen". Markus F. Peschi und Thomas Fundneider untersuchen die Rolle des Raumes bei der Unterstützung kognitiver Prozesse. Sie entwickeln theoretische Grundlagen für das Konzept der "Enabling Spaces", mit dem Ziel

16

EINLEITUNG

Innovationsprozesse und Faktoren der Wissensgenerierung zu befördern. Anhand eines Fallbeispiel es, dem Entwurf ftir einen Ort der Forschungs- und Wissensproduktion erläutern sie diese auf praktischer Ebene. Die Wechselwirkungen zwischen Wollen und Werden, Körper und Geist, Denken und Handeln, Subjekt und Dingwelt können nur aus verschiedenen Blickwinkeln unterschiedlichster Wissensgebiete erforscht, weiterentwickelt und neu formuliert werden. So möchte der Band anregen, den Stellenwert des Körpers und der manuellen Intelligenz im Kontext der Werkzeuge und ihren Paradigmen aus einer interdisziplinären Perspektive zu untersuchen und synergetisch zu beschreiben. Dank gilt den Interdisziplinären Foren der RWTH Aachen für ihre Unterstützung, sowie allen AutorInnen, Mitarbeiterinnen und dem transcript Verlag für die gute Zusammenarbeit.

Aachen, im Juli 2012 Lehrstuhl ftir Bildnerische Gestaltung, RWTH Aachen Thomas H. Schmitz und Hannah Groninger

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Über projektives Denken und Machen THOMAS H. SCHMITZ UND HANNAH GRONINGER

ln einer Zeit, in der es die analogen Techniken in ihrer vollen Entwicklung noch, und die digitalen Techniken in einer ausdifferenzierten Art und Weise schon gibt, sollte die Auseinandersetzung mit kreativen Prozessen als Chance begriffen werden, die jeweiligen Spezifika der Techniken nach ihren immanenten Stärken und Schwächen zu untersuchen. Zugleich können die Optionen der separaten Optimierungen bestimmt, aber auch Möglichkeiten fLir ein Interagieren der Techniken als analog-digital vernetzte Strategie ermittelt werden. So verstehen wir Transmedialiät1 als methodische Schnittstelle zwischen unterschiedlichen Werk- und Denkzeugen oder als selbstverständlicher, spielerischer oder zielorientierter Übergang. Ein Werkzeug (z.B. ein Stock mit einem korbartigen, metallischen Aufsatz) ist in der Regel ein Mittel zum Zweck, das sehr funktional zu verstehen ist: Mit diesem Ding löse ich z.B. den zu hoch hängenden Apfel vom Baum. Danach brauche ich es nicht mehr. Das Werkzeug ist für eine bestimmte Anwendung programmiert, es verliert seinen Sinn, wenn der Zweck erledigt ist. Das Werkzeug ist endlich, weil programmiert, d.h. perfekt auf seine Zweckerfüllung ausgerichtet. Es ist hochspezifisch und leistungsfähig, sein Einsatz erfolgt automatisiert und ersetzt das Denken. Anders das Denkzeug: Das Denkzeug ermöglicht während der Benutzung eine permanente und ergebnisoffene Interaktion mit dem Benutzer. Ich mon-

Vgl. "Transmedialität. Eine Begritfsskizze" von Stefan Wieczorek in vorliegendem Band.

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WERKZEUG DENKZEUG I KREATIVE PROZESSE

tiere an meinem Apfelpflücker den funktional programmierten oberen Teil ab und beginne mit dem Stock beispielsweise eine Rhythmusimprovisation. Hier ist das Ding, das wir eben noch als Werkzeug benutzt haben, eingebunden in eine spielerische, schöpferische Handlung, die das Werkzeug umdeutet, den Gebrauch oder gar seine Form oder Funktionalität verändert und überwindet. Das Denkzeug inspiriert seinen Nutzer und provoziert vorher nicht bedachte Anwendungen- tausend andere Dinge fielen uns ein, die wir damit machen könnten. Es bedarf des Denkens und der Phantasie, aber es öffnet dem Denken auch Perspektiven. Wenn Heidegger über die Hand sagt, sie sei unendlich, weil "nur ein Wesen, das spricht, d.h. denkt, kann die Hand haben und in der Handhabung Werke der Hand vollbringen" 2 dann möchten wir diese Definition auch sinngemäß auf das Denkzeug anwenden. Eine Unterscheidung von Werkzeug und Denkzeug im Bezug auf das Denken zu machen, erscheint im kreativen Kontext sinnig: Das Werkzeug erledigt eine definierte Arbeit in vorhersehbarer Form. Es ist strukturell eher komplex, dafür in der Handhabung einfach. Auf der anderen Seite das vielseitig offene und interpretierbare, aber auch inspirierende Hilfsmittel, dessen Nutzung die Inspiration, die Geschicklichkeit und Erfahrung einer Person bedarf und herausfordert: Das Denkzeug. Es provoziert durch die permanent erforderliche Interaktion mit seinem Anwender einen dynamischen FormProzess, dessen Ergebnis prinzipiell nicht präzise vorhersehbar ist und eine Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Ding erfordert. Es ist strukturell eher einfach, dafür funktionell komplex, das heißt schwieriger zu handhaben. Beide dem Augenschein nach divergierende Profile können sich aber zugleich ergänzen. Das Werkzeug, das entgegen seiner Programmierung flir andere als die vorgesehenen Zwecke dekonstruiert wird, kann jederzeit zum Denkzeug werden.

FAKTOREN DES ENTWERFENS Das Erleben, Begreifen und das Gestalten von Raum kann nicht ohne den Körper oder ohne Interfaces zum Körper in seiner ganzen Komplexität geschehen.

2

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Heidegger ( 1961), S. 5 1.

T. SCHMITZ UND H. GRONINGER I ÜBER PROJEKTIVES DENKEN UND MACHEN

"Die Welt, die der Mensch durch seine Sinne wahrnimmt, und die Beschaffenheit des menschlichen Körpers sind voneinander abhängig. Die vom Körper artikulierte Welt ist ein lebendiger, erlebter Raum. Der Körper artikuliert die Welt. Gleichzeitig wird der Körper durch die Welt artikuliert."'

Diese Tatsache, dass der Mensch sui generis ein "räumliches Wesen'"' ist, spielt in den entwerfenden Disziplinen Architektur und Design eine zentrale Rolle, geht es doch vor allem um räumlich-plastische Phänomene, die zu einem großen Teil nicht verbalisierbar sind. Unabhängig davon, ob die Entwürfe mit analogen oder digitalen Hilfsmitteln, mit oder ohne Körperbezug zustande gekommen sind, so zielen sie doch immer auf das real Begreifbare hin. Bei der Konstruktion von Vorstellungen im Gehirn wird unser gespeichertes Vorwissen, das durch die körperliche Erfahrung aufgebaut wird, permanent abgerufen und zum Abgleich herangezogen. 5 Es liegt nahe, dass dieses Wissen auch bei der Produktion von Bildern herangezogen wird. So hat Barbara M. Stafford mit Bezug aufLakoff und Johnson die Hypothese eines körperlichen Denkens formuliert, wonach wir Teile unseres Körpers auf die Umgebung projizieren/ um uns "in vertrauten physiologischen Begriffen abzubilden." 7 Es erscheint folgerichtig, dass solche Überlegungen fiir das Denken im kreativen Kontext aufgegriffen und der sprichwörtlichen Intelligenz eine manuelle Intelligenz zur Seite gestellt werden. Praktisches Tun prägt sich als Erfahrung und als Verfeinerung der Fertigkeiten in den Körper ein und wird - ohne bewusste Intention- beim Machen abgerufen.x Der Philosoph Eugen Herrigel hat die Fähigkeit des Bogenschießens- in der Reflexion der japanischen Kultur- 1948 als Können beschrieben, das geistig werde. 9 Es ist bezeichnend, dass der Begriff des "impliziten Wissens" 10, der ein schwer artikulierbares

3

Ando (1988), S. 13f.

4

Stafford (2004), S. I 06.

5

Singcr (2004), S. 65, S. 75; Zcki (2004), S. 86.

6

Stafford (2004), S. II 0, in: Lakoffi'Johnson (1 999).

7

Vgl. auch Pallasmaa (2009), S. 97.

8

Richard Sennet spricht mit Bezug auf das Werk von Handwerkern von "Fertigkeiten, die sich einem Reifungsprozess verdanken", Sennet (2008), S. 391.

9

Herrigel (1984), S. 53.

I0 Tacit knowing, Polanyi ( 1985).

21

WERKZEUG DENKZEUG I KREATIVE PROZESSE

aber durchaus demonstrierbares körperliches Können beschreibt, derzeit die Wissensbestimmung der Designpraxis und -forschung prägt. 11 Entwurfsaufgaben stellen Architekten und Designer in der Regel vor vielschichtige Probleme, die sich aufgrund ihrer Komplexität nicht mit linearen Prozessen lösen lassenY Es bedarf eines "sensorischen Wissens" 13 , das als Altemative zu rationalem, analytischen Denken Zusammenhänge und Möglichkeiten erkennen lässt. Auch aus dieser Erkenntnis heraus nähem sich in den letzten Jahren die Systeme Kunst und Wissenschaft wieder aneinander an und ein zunehmendes gegenseitiges Interesse ist zu beobachten. 14 Subjektive Arbeitsmethoden, die als Interface zum Unbewussten non-intentionale, sensornotorisch geprägte Artikulationsformen vermittels des Körpers in die Arbeit integrieren, gilt es zu untersuchen. 15 Sabine Ammon definiert künstlerisches Wissen als entscheidenden Bestandteil unserer heutigen Wissensgesellschaft.16 Das Entwerfen muß neben geometrischen, organisatorischen und assoziativen Wahmehmungen, kulturelle, ökonomische, konstruktive, ästhetische, physiologische sowie weitere inhaltliche und gestaltetische Ebenen berücksichtigen. 17 Deshalb erscheinen gerade im Kontext der Disziplinen Architektur und Design neben den rationalen auch die leiblichen und gefühlten Formen der Welterschließung als sinnhaft. Die vielfältigen, im Unbewussten und Konzeptuellen sedimentierten, körperlichen Erfahrungen, Erinnerungen und fragmentarischen Bilder können abgerufen und in den Entwurfsprozess eingebunden werden. Der Architekt Frank Gehry nutzt bspw. die intuitive Bewegung der Zeichnung, um im Entwurfsprozess Pausen und Blockaden zu überbrücken. Die gestische Bewegung helfe "Entwurfsprobleme zu

II

Zur VeJWendung des Beg~iffs tacit knowing in Designpraxis- undforschung siehe Marcis (20 11 ), Neuweg (2004).

12 Pctruschat (20 II ); Rittcl ( 1992). 13 Stafford (2005 ), S. 108. 14 Borrics/Hiller/Renfordt (20 11 ). 15 V gl. den Beitrag .,Taktiles Wissen" von Elkc Mark in vorliegendem Band. 16 Ammon (2006). 17 Ausfuhrliehe Untersuchungen hierzu u.a. in: Gethmann!Hauser, Kulturtechnik Entwerfen, Bielefeld 2009; Mareis/Joost/Kimpel, Entwerfen - Wissen - Produzieren: Designforschung im Anwendungskontext, Bie1efeld 2010.

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T. SCHMITZ UND H. GRONINGER I ÜBER PROJEKTIVES DENKEN UND MACHEN

vereinfachen." 18 Die Unmittelbarkeit des Bezugs auf den Menschen drückt sich neben den funktionalen, ergonomischen und ökonomischen Bedingungen auch im Bezug auf das Gefühl aus. Le Corbusier stellt 1939 explizit die emotionale Qualität in den Vordergrund19 und auch der Architekt Peter Zumthor betont diesen mehrfachen "Humanfaktor" und den Stellenwert der Erinnerung: "Architektur [ ... ] steht in einer besonders körperlichen Verbindung mit dem Leben. "20 Drei konstitutive Einflussfaktoren des Körpers können im Kontext des kreativen Denkens und Machens hervorgehoben werden: Erstens das Körperwissen als die Summe der multisensorischen und gefühlsmäßigen Erfahrungen. Es ist in unserem Unterbewusstsein präsent bei der Wahrnehmung und Rezeption von allem, das wir tun und erleben. Der Körper verschafft uns erlebbaren Bezug zur Realität der Materialien, des Raums, der Masse und baut dabei einen immer wachsenden und sich differenzierenden Schatz an Erfahrungen auf. Die Erinnerung prägt das gegenwärtige Erleben genau so, wie das Faktische. Körperwissen gibt uns Gewissheit, auch bei der Suche nach dem Neuen. Es befördert zugleich die Fähigkeit zur gestalterischen Differenz als Abweichung von der Regelhaftigkeit, die sich oft jeder rationalen Logik und Planbarkeit entzieht. Zweitens ist es die Kommunikation von Gedanken selbst, die - als Sprache, Geste, Skizze oder Modell - immer des Körpereinsatzes bedarf. Kommunikation braucht ein gemeinsames zugängliches Medium: Wir reden hier von Vorstellungen und Bildern, die "in uns" entstehen, aber "wo haben wir diese Vorstellungen?" fragt Martin Heidegger in "Was ist Denken?" 21 Das Gedachte - sei es eine Wahrnehmung oder eine Vorstellung - muss artikuliert werden, um kommunizierbar zu sein oder weiter bearbeitet zu werden. Nur so werden Gedanken manifest. Die Form der Artikulation wird als Einheit mit dem Gedanken wahrgenommen. Ob ich einen Gedanken tanze, in Worte fasse, in Tuschlinien, Materialcollagen oder in einer Computervisualisierung

18 Hasenhüll (2009), S. 343. 19 Siehe Read (1961 ), S. 70f. 20 Zumthor (1988), S. 42. 2 1 "Wir haben sie im Kopf. Wir haben sie im Bewußtsein. Wir haben sie in der Seele. Wir haben die Vorstellungen in uns drinnen ...", Heidegger ( 196 1), S. 15.

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WERKZEUG DENKZEUG I KREATIVE PROZESSE

ausdrücke: Jedes Mal wird ein Dritter etwas Unterschiedliches wahrnehmen. Die Modalität der Kommunikation bestimmt das Erlebnis und die Artikulation des Erdachten mit, weil sie notwendigerweise immer eine Transformation von Gedanken in andere Medien (Sprache, Bild, Modell, etc.) erfordert und dabei das Maß und die Inhalte der Information verändert. Die Notationen machen gleichzeitig auch Platz in meinem Kopf für neue Denkvorgänge. Und ich kann über geschriebene, grafische oder modellierte Skizzen in einen Diskurs mit dem Erdachten treten- mit mir selbst und mit anderen. Drittens die Interaktion von Machen und Denken. Damit ist die Unterscheidung von intentionalem und nicht-intentionalem Agieren bei der Artikulation von Gedanken angesprochen. Es steht die Vermutung im Raum, dass der Körper gerade bei kreativen Prozessen eine Schlüsselfunktion zur Entdeckung der (noch) unbewussten Überlegungen übernehmen kann. Die Erfahrung in der Praxis und in der Lehre zeigt, dass das oft unbewusste Machen der Hand - am Willen des Verstandes vorbei - Hemmnisse und Schwellen des Mentalen und seiner oft kryptischen Abstraktionen überwinden kann. Unbewusste, oft befreiende Gedanken werden dann schlagartig offenbar. Das Ei des Kolumbus war ein Statement des Körpers!

SUBJEKTIVITÄT UND KÖRPERWISSEN Die Fähigkeit zur Imagination ist eine kennzeichnende Eigenschaft des Menschen, die nicht ersetzbar ist. 22 Wenn der Mensch das "Agens" in diesem Prozess des Entwerfens sein soll, so müsste es gelten, die Freiheit seines Handeins - als Bedingung für schöpferisches Tun - im Blick zu behalten. Die Prozesshaftigkeit gestaltender künstlerischer Vorgänge ist grundsätzlich ergebnisoffen und (oft sprunghaft) evolutionär - ein subjektiver intuitiv basierter Zugang. Die hierzu notwendigen heuristischen Verfahren und die dabei eingesetzten Hilfsmittel müssen vor allem zu Beginn Offenheiten produzieren und die Möglichkeiten von nicht-intentionalen Artikulationen im vorher beschriebenen Sinn bieten, um Neues befördern zu können. Wenn Ludwig Wittgenstein

22 Vgl. Friedrich Schiller: " Anmut ist eine Schönheit, die [... ] von dem Subjekte selbst hervorgebracht wird." Schiller (1793), S. 24 1.

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T. SCHMITZ UND H. GRONINGER I ÜBER PROJEKTIVES DENKEN UND MACHEN

1942 notiert: "Ich denke tatsächlich mit der Feder, denn mein Kopf weiß oft nicht, was meine Hand schreibt"23 , dann bestätigt er die Geste des Machen.~ durch den Körper und das Nachspüren mit allen Sinnen. Das körperliche Agieren sei schneller, als der mentale Erkenntnisprozess. Könnte es also sein, dass sich die Unverzüglichkeit der Hand(-lung) in deren Nähe zum Unterbewussten begründet? Werden durch eine Aktivierung des Körperlichen die tieferen Ebenen des Bewusstseins hervorgelockt, die anders vielleicht verborgen geblieben wären? Welche Rolle könnte in diesem Zusammenhang die Dichotomie unseres Hirns spielen? Verstärkt wird dieser Aspekt, wenn das Moment der Überraschung - die Dynamik der Zeit- hinzukommt, welches ein unterbewusst gesteuertes Handeln aktiviert. Künstler nennen das Improvisation. Man gerät in einen anderen Gemütszustand und vergisst die Zeit. Das ist der - manchmal rauschhafte Zustand, in dem der Maler sein Bild nicht mehr nur sieht. Wer dann mit einem armdicken Pinsel oder mit den Füßen zeichnet, der agiert im unbewussten Handeln und Urteilen mit der Ganzheit der Person. "Die Langsamkeit der Zeit im Handwerk ist eine Quelle der Befriedigung. Die Praxis prägt sich dem Körper ein und macht die Fähigkeit zu unserer eigenen. Die langsame Zeit des Handwerks ermöglicht auch die Arbeit der Reflexion und der Phantasie - der Drang nach raschen Ergebnissen vermag das nicht. Reifung bedeutet auch Dauerhaftigkeit." 24

Sennet stellt dem Aspekt der Leistungsorientierung (Zeit als Quotient) den Aspekt der Reifung (Zeit als Faktor) gegenüber, der auf die Persönlichkeit des Subjektes bezogen bleibt und die Urteilsfähigkeit sowie die Intelligenz der Sinne in das Zentturn des Entwerfens und Herstellens von Produkten rückt. Die Vorstellung eines gespeicherten Vermögens an Kompetenz erscheint uns gerade dort wichtig zu sein, wo es unter anderem um die Entwicklung von ästhetischen Qualitäten geht, die der Erfahrung und der Herausbildung von Gefühl bedürfen wie etwa im Umgang mit Material. Sie ist kaum mit einem Leistungsbegriff zu verbinden, der die Zeit als Quotient und nicht als Faktor einsetzt. Denn je mehr Zeit ftir eine Arbeit eingesetzt wird, umso schlechter wird die Leistung, die sich durch die Vergrößerung des Zeitquotienten verrin-

23 Wittgenstein ( 1984), S. 473. 24 Sennett (2008), S. 391.

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WERKZEUG DENKZEUG I KREATIVE PROZESSE

gert. Aber wir benötigen in den gestaltenden Disziplinen auch zukünftig Arbeitsmethoden und Medien, die die sukzessive Herausbildung von Erfahrung und Gefühl werkimmanent befördern.

PROTHESE VS. EPITHESE Das Entwerfen ist ein tentativer Bildprozess der Gestaltung mit einem zyklisch-interaktiven Ablauf von Notationen jeglicher Art: Phasen des Machens (Handlungsebene) und Phasen der Bewertung (Rezeptionsebene) wechseln sich dabei ab. Der händische Wurf kann als eine unbewusste Initialhandlung fungieren, deren bildhaftes Ergebnis Interpretationen hervon-uft, die sich in der Folge der präzisen gedanklichen Reflexion und den Bedingungen der Aufgabe aussetzen muss. Die oft skizzenhaften Notationen können durch abstrakte Transformationen, durch transmediale Überformung aufgrund ihres freien Gestus oder ihrer Materialität einen "Überschuß an Sinn"25 entwickeln, der im Entwurf ein treibendes Moment darstellen kann. Die Aufgabe der Skizzen ist es weniger, als Bilder des Fertigen zu fungieren, sondern im Gegenteil den Prozess durch instinktiv erzeugte Mehrdeutigkeit, durch Unschärfe und durch die Aktivierung der individuellen Erfahrung (auch für die Phase der Rezeption) zu öffnen. Der funktionale Sinn des händischen Zeichnens liegt heute nicht mehr primär in der Produktion von darstellenden Abbildungen. Diese Aufgabe übernehmen die digitalen Bildgebungsverfahren, vor allem dann, wenn zum Beispiel Maßgenauigkeit und Vollständigkeit gefordert wird (Planzeichnung, Prozessdokumentation, Aufmaß, etc.). Der Sinn des händischen Zeichnens besteht vielmehr darin, dass es eine Methode der Vergewisserung und Verinnerlichung ist. Es ist ein Tätiges Sehen, das durch Messen, Abwägen, miteinander in Bezug Setzen, durch Hervorheben und Weglassen, dem Sinn einer Sache nachgeht und lnteresse26 entwickelt. Dabei erzwingt das Zeichnen durch die Mitwirkung des Körpers, der Erinnerung und des Unterbewussten, ein persönliches Statement und eine per-

25 Hasenhütl (20 10), S. 346. 26 Der Begriff "Interesse" wird hier auch im Sinne der lateinischen Bedeutung "dazwischen" oder "darin sein" verwendet.

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T. SCHMITZ UND H. GRONINGER I ÜBER PROJEKTIVES DENKEN UND MACHEN

manente Abstraktion als Auswahl von Wichtigem. Es stellt eine Beziehung zu dem Objekt des Interesses her und prägt das eigene subjektive Machen. So verstanden wird das Zeichnen zu einem individuellen Denkzeug der Wahrnehmung und Artikulation von Vorstellungen und Auslegungen. Durch die Digitalisierung der Planungsprozesse hat eine Verdrängung des Körperlichen und des Subjektiven aus dem Entwurfsprozess stattgefunden. Einschlägige digitale Entwurfswerkzeuge bieten kaum Optionen zur Einbeziehung des impliziten Wissens in den Entwurfsprozess an, mit Auswirkungen auf die Wahrnehmung und den Prozessoutcome: Computergenerierte Zeichnungen tragen keine Spuren der Zeitlichkeit und ihrer Genese in sich. 27 Sie ermöglichen in ihrer Genese keine Unmittelbarkeit der Erfahrung mit dem Raum und der Vorstellung von Raum. Wird der jedem Menschen angeborene und durch körperliche Erfahrung von jedem Menschen entwickelte Maßstab für die Dimension seiner Umgebung2 x dadurch nicht sogar aus dem Entwurfsprozess verdrängt und in Mitleidenschaft gezogen? Während beim händischen Skizzieren mit jeder maßstäblichen, proportionierten Linie eine bestimmte körperliche Maß-Konstellation als Erfahrungswissen abgelegt wird, entfallt dieser Vorgang bei der in der Regel numerisch gesteuerten Umsetzung mit dem Rechner. Die permanent skalierbaren Darstellungen in CAAD-Programmen verwischen den körperlichen Bezug zur absoluten Größe, sodass ein Geftihl für Proportionen im Verhältnis zur eigenen Körperlichkeit kaum unterstützt wird. Digitale Bildgebungsverfahren bestechen durch ihre kalkulierbare Präzision und Stabilität, weswegen ihnen immer wieder der Anschein von Objektivität nachgesagt wird. Dabei erzeugen sie technische Bilder, deren Herstellungsmodalitäten komplexen Algorithmen unterliegen und dadurch für den Regelanwender beinahe undurchschaubar sind. Es sind für spezifische Zwecke konstruierte und in Massenfertigung produzierte Maschinen oder Programme, die nach festgelegten mechanischen oder algorithmischen Mechanismen funktionieren. Die Werkzeuge des Entwerfens sollten präziser und kritischer bedacht werden, je leistungsfähiger und dynamischer sie werden. Denn sie wirken körperlich z.B. durch die Mechanik der Anwendung, sie wirken aber auch in das Bewusstsein.

27 Vgl. Pallasmaa (2009), S. 97. 28 Vgl. Neufert (1936).

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"Man kann nämlich, falls man in Werkzeugen Instrumente der Freiheit sieht, sie auf zwei Aspekte hin betrachten: Einerseits erblickt man in der Füllfeder eine Fingerprothese (eine Verlängerung des Fingers nach außen, also eine ,Finger-Entäußerung'), andererseits aber im Finger eine ,Epithese' der Füllfeder (eine Verlängenmg der Füllfeder nach innen, eine ,Füllfeder-Verinnerlichung')"29

Damit kommen wir zu einem Kern des Problems: Wenn unser Körper durch Werkzeuggebrauch tatsächlich zur Epithese des Werkzeugs wird, dann stehen unsere Intentionen zur Debatte. 30 Die denkzeugartigen Verfahren sind unscharf, befördern dafür aber den evolutionären Charakter des kreativen Prozesses. Die werkzeugartigen Verfahren sind präzise und in einem definierten Umfang unbestechlich, dafür aber kategorisch und determiniert. Beide Eigenschaften werden in den verschiedenen Phasen der Planung alternierend gebraucht. Den Apfelpflücker haben wir demontiert und damit geöffnet zum Denkzeug. Ähnliche Strategien sind auch im Umgang mit den digitalen Bildgebungsverfahren denkbar, die wir regelmäßig dekonstruieren sollten, um aus ihren geschlossenen Strukturen zu entkommen - eine typische und tradierte Vorgehensweise der Kunst, die diesen Ansatz noch in jedem ihrer Medien angewendet hatte, unabhängig davon, ob diese analog oder digital basiert waren. Menschliche Erfahrung und lmaginationsvermögen, die notwendige Offenheit und "Fuzziness" können mit der maximalen Präzision, der Leistungsfahigkeit und algorithmischen Systematik synergetisch verknüpft werden. Hier kann Transmedialität als systemische Strategie zu einem flexiblen Denkzeug des Entwerfens entwickelt werden. Sie verknüpft die offensichtlichen Stärken der analogen und der digitalen Denkzeuge so miteinander, dass daraus ein ein offenes Feld der Möglichkeiten entsteht. Der Fokus der Betrachtung liegt damit nicht mehr bei der Optimierung einzelner technischer Systeme und ihrer Paradigmen, sondern viel mehr bei der Entwicklung von Schnittstellen und Techniken für den spontanen Wechsel des jeweiligen Mediums. Intuitiv motivierte Perspektivwechsel und kreative Transformationen werden auch in Zukunft kreative Prozesse stimulieren.

29 Flusser ( 1994), S. 222. 30 Oliver Müller spricht mit Verweis auf Gernot Böhmes "invasiver Technisierung" von einer "Invasivität der Technisierungsprozesse", Müller (20 I 0), S. 12.

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Transmedialität. Eine Begriffsskizze STEFAN WTECZOREK

1. EINLEITUNG Der Transmedialitätsbegriff findet zur Zeit dort Verwendung, wo mediale Phänomene terminologisch und analytisch im Zeichen der Medienkonvergenz oder gar Medienfusion erschlossen werden sollen; solche Phänomene können beispielsweise kreative Prozesse sein, die offensichtlich nicht monomedial verlaufen, für die aber auch der traditionelle lntermedialitätsbegriff nicht adäquat beziehungsweise zu unbestimmt scheint. Trotz der hohen Attraktivität des Begriffs für den wissenschaftlichen Diskurs fehlt es noch an Übersichtsbeiträgen. Dieser Beitrag möchte daher in erster Linie Begriffsverwendungen des Terminus Transmedialität und daran geknüpfte Erkenntnisinteressen klären. Die Ausführungen sind daher vor allem instruktiv; die Bestandsaufnahme hat Vorrang vor der Weiterentwicklung und der literaturwissenschaftliehen Adaption. Ein eigener Definitionsvorschlag wird in diesem Rahmen nicht untemommen .1 Ermöglicht werden soll vielmehr eine interdisziplinäre Diskussion über Transmedialitätsphänomene.

Die Vortragsfassung "Transmedialität. Ein Begriff für die literaturwissenschaftliche Praxis~"

beinhaltete literarische Beispiele aus den Werken von Carlfriedrich Claus und

W.G. Sebald, auf die hier u.a. aus Gründen der Stringenz verzichtet wurde. Vgl. hinsichtlich Sebald auch Wieczorek (2007), dort aber auf Basis einer anderen Terminologie. Gehalten wurde der Impulsvortrag gemeinsam mit Karin Herrmann; ihr gebührt darüber hinaus Dank für die klärende Diskussion des Transmedialitätsbegriffs.

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WERKZEUG DENKZEUG I KREATIVE PROZESSE

Die basale Begriffsverwendung von Transmedialität reagiert auf den inflationären und unübersichtlichen Gebrauch des Intermedialitätsbegriffs sowie auf den medialen Wandel, der zu einer geänderten Einschätzung medialer Grenzen führt. lntermedialität setzt "Grenzen zwischen konventionell als distinkt angesehenen Kommunikationsmedien" voraus, die überschritten werden. 2 Die Rede von Intermedialität macht nur Sinn, wenn man von Grenzziehungen ausgeht, also letztlich von der "Essentialisierung und Substantialisierung der beteiligten Identitäten". 3 Da die Transmedialitätsdebatte die Annahme solcher medialen Grenzen problematisiert und diese Problematisierung die begriffliche Weiterentwicklung von der lntermedialität zur Transmedialität bedingt, sollen zunächst anhand von Lars Elleströms Medienmodell in Abschnitt 2 die Prämissen geklärt werden, die zu einerneuen Einschätzung von Mediengrenzen führen. 4 Bei der Ausgestaltung des Begriffs Transmedialität in der aktuellen Diskussion entwickeln sich parallel unterschiedliche Akzentsetzungen. Im Folgenden soll versucht werden, die zwei Hauptachsen dieser Arbeit an der Terminologie nachzuzeichnen: zum einen Transmedialität als Bezeichnung medienunspezifischer Phänomene nach Rajewsky (2002) in Abschnitt 3, zum anderen Transmedialität als spezifischer Transfer und Übergang zwischen Medienphänomenen nach Meyer/Simanowski/Zeller (2006) in Abschnitt 4. Zwar tritt die eigene, literaturwissenschaftliche Perspektive in den Hintergrund, nichtsdestotrotz bestimmt sie doch die Gewichtung der verschiedenen Ansätze und die Auswahl der vorgestellten Untersuchungen mit. Das Verhältnis der Literaturwissenschaft zur Medienwissenschaft, insbesondere zur Intermedialitätsforschung, ist durchaus ambivalent. Die literaturwissenschaftliehe Forschung blickt zurück auf eine lange Tradition der Interart Studies, beispielsweise zu den Wechselwirkungen von Bildender Kunst und Literatur

2

Die vollständige Definition von Wolf, die sich an Thomas Eich anlehnt, lautet: "lntermcdialität bedeutet das Überschreiten von Grenzen zwischen konventionell als distinkt angesehenen Kommunikationsmcdien, wobei solches Überschreiten sowohl innerhalb von einzelnen Werken oder Zeichenkomplexen als auch zwischen solchen vorkommen kann." Wolf (2002), S. 167.

3

Meyer/Simanowski/Zeller (2006), S. 8.

4

Vgl. Elleström (2010).

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STEFAN WIECZOREK I TRANSMEDIALITÄT. EINE BEGRIFFSSKIZZE

und zur Ekphrasis. 5 Mit der Intertextualitätsforschung hat sie ein Modell intramedialer Bezugnahmen entwickelt, das auf intermediale Relationen übertragen wurde. Dies schlägt sich auch darin nieder, dass viele lntermedialitätsforscher ursprünglich aus den einzelnen Literaturwissenschaften oder der Komparatistik kommen. Andererseits dominieren im literarischen Kanon und methodologisch mediale Purifizierungstendenzen. 6 Irina 0. Rajewsky, selbst Komparatistin und Romanistin, die die Intermedialitätsdebatte mitprägt, stellt das unterschiedliche Erkenntnisinteresse medienwissenschaftlicher/medientheoretischer Forschung einerseits und Iiteratur- beziehungsweise kunstwissenschaftlicher Arbeiten andererseits gegenüber: "Gemeinsamer Nenner der meisten lntermedialitätskonzepte Iiteratur- bzw. kunstwissenschaftlicher Provenienz ist den Gegenständen der entsprechenden Disziplinen gemäß der Versuch, Intermedialität als Kategorie fiir die konkrete Analyse medialer

Konfigurationen fruchtbar zu machen, also für die Analyse einzelner Texte, Filme, Theaterstücke, Gemälde, Installationen usw. - soweit denn deren spezifische Verfasstheil (oder auch deren Entstehungsprozess) aufintermediale Strategien oder Konstitutionsprinzipien schließen lässt."'

Medienwissenschaftliche/medientheoretische Ansätze hingegen sind dadurch gekennzeichnet, "dass sie auf Aussagen über Medien und deren Eigenschaften als solche bzw. allgemeine mediale Entwicklungen, (Transformations-)Prozesse und Dynamiken zielen. ,Intermedialität' wird in Ansätzen dieser Provenienz konsequenterweise, wenn natürlich auch in unterschiedlichen Ausformungen, als ein kulturelles bzw. mediales Basis-

phänomen veranschlagt."R

5

Vgl. hierzu auch Rajewsky (2002), S. 8-11.

6

Eine Ausnahme stellt die Theaterwissenschaft dar, deren Gegenstand plurimedial ist. Die Kopplung des Mediums Literatur an das technische Medium des gedruckten Buches wird erst seit kurzem durch digitale Publikationsformen aufgehoben.

7

Rajewsky (2008a), S. 49.

8

Rajewsky (2008a), S. 50.

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Das ambivalente Verhältnis von Literatutw issenschaft und lntermedialitätsforschung liegt aber nicht nur im unterschiedlichen Erkenntnisinteresse begründet. Eine entscheidende Rolle spielt auch, inwieweit der eigene Gegenstand überhaupt als mixed media wahrgenommen wird. 9 Es sind vor allem Formen der so genannten weichen Intermedialität, die bislang in literaturzentrierten Forschungsfeldern untersucht wurden. Unter weicher Intermedialität versteht man intermediale Relationen im weiteren Sinne, wie etwa bloße Anspielungen auf andere Medien (so in ekphrastischen Texten, in denen Malerei reflektiert wird) oder ästhetische Anlehnungen bei anderen Medien als Form der medialen "Aufpfropfung" (z.B. indem die Literatur die Kameraperspektive imitiert oder die frühe Fotografie malerische Sti111eben nachstellt).10 Mittlerweile geraten, nicht nur durch den Medienwandel, Formen der Medienkombination, der harten lntermedialität, ins Blickfeld literaturwissenschaftliehen Interesses. Vieldiskutiertes Beispiel sind hier die Foto-Text-Narrationen W.G. Sebalds, der stellvertretend für ein neues medienübergreifendes Erzählphänomen steht, auch an die Schriftbilder von Carlfriedrich Claus kann man denken oder an Künstlerbücher wie diejenigen von Rebecca Horn - um nur einige Schlaglichter zu werfen. 11 In einem Fazit (Abschnitt 5) werden die unterschiedlichen Begriffsverwendungen von Transmedialität bilanzierend gegenübergestellt und es wird aus literaturwissenschaftlicher Perspektive auf die Bedeutung von Transmedialität für die angesprochenen Iiteraturwissenschaftlichen Arbeitsfelder eingegangen. 12

9

Vgl. Reinfandt (2009) sowie die Schriftbildlichkeitsthese bei Krämer (2006).

10 Vgl. Wirth(2006), S. 31-34. II Vgl. Horstkottc (2009), Stcinacckcr (2007), Tackc (2008) sowie die umfangreiche Literatur zum Werk W.G. Scbalds, unter besonderer Berücksichtigung transmedialer Verfahren Wohlleben (2006). Hinzu kommen digitale Phänomene wie Hypertexte oder andere Web-Projekte. 12 Vorläufig ist das Fazit insofern, als dass weder die Begriffsausdifferenzierung noch die Erforschung des damit kon espondierenden Arbeitsfeldes abgeschlossen ist.

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2. MEDIEN UND MEDIENGRENZEN IM ZEICHEN DER MEDIENKONVERGENZ "Without a more precise understanding ofwhat a medium is, one cannot expect to camprehend what intermediality is"- der Komparatist Lars Elleström greift mit dieser Forderung nach einem theoretisch besser untermauerten Medienbegriff in der lntermedialitätsforschung einen häufig geäußerten Kritikpunkt auf und entwickelt in seinem Aufsatz "The Modalities of Media: A Model for Understanding Intermedial Relations" ein belastbares Medienmodell.13 Die epistemologische Überlegung zur notwendigen Klärung des Medienbegriffs gilt selbstverständlich auch für Fragestellungen auf dem Gebiet der Transmedialität. Da die Transmedialitätsdebatte bislang keinen eigenständigen Medienbegriff hervorgebracht hat, sondern denjenigen der lntermedialität akzentuiert, soll Eilesttörns hem1eneutisches Modell als Grundlegung näher betrachtet werden. Dieses steht exemplarisch für einen Wandel des Medienbewusstseins. Seine Argumentation führt zu Forschungsfragen nach medialer Transformation und Transmedialität. Als problematisch an vielen bisherigen Versuchen, intermediale Beziehungen in der Kunst zu beschreiben, erkennt er die Annahme, Medien seien grundsätzlich verschieden von einander.14 Diesem Essentialismus setzt er zum Teil unter Berufung auf W.J.T. Mitchell - ein Modell entgegen, in dem Multimodalität und lntermedialität zum Normalfall von Medialität werden. Methodisch wird dies dadurch erreicht, dass die Argumentation nicht von etablierten Medien ausgeht und diese von einander abgrenzt, sondern herausstellt, dass alle Medien an den gleichen Modalitäten partizipieren, sie also immer verschieden und ähnlich sind. So muss jedes Medium, um überhaupt als Medium fungieren zu können, über eine sinnliche Ebene, eine sensorial modality verfugen. Unterschiedlich ist nur die Kombination der Modi Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken und Riechen. Als Basiskategorie werden drei weitere "modalities of media" eingeführt, welche die Materialität (material modality), die Raum-Zeit-Realisation (spatiotemporal modality) und den Zeichencharakter (semiotic modality) des Mediums betreffen.15 Jede dieser

13 Elleström (20 I 0), S. II. 14 Ebd., S. 14. 15 Ebd.,S.I 5.

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Modalitäten differenziert sich in verschiedene Modi aus. Damit diese abstrakten Medienideen, die sich aus der Kombination verschiedener Modi ergeben, verwirklicht werden können, bedarf es in Elleströms Ansatz technischer Medien, wobei "technisch" hier sehr weit gefasst ist und auch den menschlichen Körper meint: "! define a technical medium as any object, physical phenomenon or body that media-

tes, in thesensethat it ,realizes' and ,displays' basic and qualified media." 16

Das Modell umfasst eine historisch-kulturwissenschaftliche Komponente bei der Mediendefinition. Kulturelle, historische und soziale Rahmenbedingungen sowie ästhetische Normen und kommunikative Funktionen arbeiten an der Medienkonstruktion mit, machen basic media zu qualffied media. 17 Konventionen legen Mediengrenzen fest. 1 ~ Präfiguriert können diese durch modale Eigenschaften sein. 19 Zum Status der Mediengrenzen in der lntermedialitätsforschung bilanziert auch Rajewsky eindrücklich: "Und es braucht beim heutigen Stand der Debatte wohl kaum mehr ausführlicher daIüber diskutiert zu werden, dass die Frage, wie ein Medium zu definieren und von anderen abzugrenzen ist, selbstverständlich immer nur historisch, diskurs- und beobachterabhängig, unter Berücksichtigung technologischer Veränderungen, sich wandelnder konventioneller Zuschreibungen und in Abhängigkeit des zu einem spezifischen Zeitpunkt gegebenen medialen Relationsgefüges beantwortet werden kann." 20

16 Elleström (20 I 0), S. 30. 17 Ebd., S. 24-27. 18 Ebd., S. 28. 19 Vgl. Rajewsky (2008b), S. 44. 20 Rajewsky (2008b), S. 24. Aus der Erkenntnis, dass Mediengrenzen nicht überhistorisch sind, darf jedoch keineswegs der Schluss gezogen werden, sie seien nicht relevant. Rajcwsky zeigt auf, wie gerade das Spiel mit den Grenzziehungen und Konventionen zur Bedeutungskonstitution von Kunst beiträgt und aufwelche Grenzen die intermedialen Verfahren des Medienwcchscls, der Medienkombination und der intermedialen Bezüge referieren. Rajewsky relativiert ihren Befund nach verschiedenen Einzelfallanalysen insofern , als dass sie von "gegebenen, materiellen und operativen Bedingungen" von Medien ausgeht, die "durchaus auch transhistorisch anzusetzen sind." (Ebd., S. 44f.).

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Unter diesem kulturellen Aspekt lässt sich auf einer Metaebene aber auch Elleströms Modell selbst befragen: Die Betonung von Intermedialität und Multimodalität jeglicher Medien ist zum einen die Folge theoretischer Präzisierungen in der Intermedialitätsforschung. Zum anderen verändern sich in der Gegenwart die kulturellen Konventionen, die Mediengrenzen determinieren. Technische Medien wie Computer, E-Book, Internet, digitaler Film u.a. sowie deren Vemetzung und Datenaustausch lassen die Vorstellung distinkter Medien fragwürdig werden. Elleström grenzt zwei Fragestellungen voneinander ab, die beide unter dem Schlagwort der Transmedialität diskutiert werden und die im Folgenden vorgestellt werden sollen: "At times, the most important issue is not at all to determine the transformational direction and specific relation between two specific media instances but rather to compare traits, structures and forms of meaning that are to be found in many qual ified media, within a specific historical context or crossing historical and social boundaries, where they ,circulate' without being definitely linked to the one or the other medium. Such transmedial phenomena are best captured by transmedial notions and concepts.""

Elleström wägt mit seiner Argumentation an dieser Stelle zwei Untersuchungsinteressen gegeneinander ab, nur für das letztere spricht er von "transmedial phenomena". Interessanterweise bilden aber beide Fragestellungen die unterschiedlichen Forschungsaspekte ab, die an den Transmedialitätsbegriff geknüpft sind: (a) Das eine Untersuchungsinteresse richtet sich auf medienübergreifende, d.h. medienunspezifische Phänomene, also auf Phänomene, die jenseits des einzelnen Mediums existieren - "they ,circulate' without being definitely linked to the one or the other medium". Das Präfix "trans" wird in dieser ersten Verwendung im Sinne von ,jenseits von" wie beispielsweise in der Formulierung "Transnationale Organisationen" oder in "Transurane" (die Ordnungszahl der Elemente liegt jenseits deljenigen von Uran) benutzt. Diese Begriffsverwendung wird nun in Abschnitt 3 vorgestellt und ist eng an die Definition bei Rajewsky (2002) gebunden.

21 Elleström (20 I 0), S. 35.

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(b) Das andere Untersuchungsinteresse, das in der Textstelle bei Elleström nur anklingt, richtet sich auf Phänomene des Übergangs zwischen verschiedenen Medien - "the transformational direction and specific relation between two specific media instances". Hier wird das Präfix "trans" im Sinne von "Hinüberbringen" wie beispielsweise in "Transfer", "Transkription" oder "Transplantation" verwendet. Diese Begriffsverwendung wird in Abschnitt 4 vorgestellt und ist eng an die Definition bei Meyer/Simanowski/Zeller (2006) gebunden.

3. TRANSMEDIALITÄT ALS BEZEICHNUNG MEDIENUNSPEZIFISCHER PHÄNOMENE 3.1 Zur Begriffsverwendung Rajewsky unterscheidet in ihrem grundlegenden Band zur Intermedialität diese von zwei verwandten Termini: von der lntramedialität, in die nur ein Medium einbezogen ist, und der Transmedialität. Hiermit gemeint sind "medienunspezifische Phänomene, die in verschiedenen Medien mit den demjeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne dass hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist."22 Als Beispiele für solche "medienunspezifische[n] ,Wanderphänomene' " nennt sie unter anderem Ästhetiken, Stoffe aus dem kollektiven Gedächtnis, Mythologie, Bibelbezüge, Diskurstypen oder auch das Genre der Parodie.23 Wemer Wolf greift die Definition auf und systematisiert Formen der Metaisierung in verschiedenen Medien. 24 Ebenfalls aufRajewskys Definition stützt sich Annegret Stegmann, wenn sie die Transmedialität kollektiver Erinnerung

22 Rajewsky (2002), S. 206. Rajewsky macht im Begriffsglossar bereits darauf aufmerksam, dass die Verwendung des Terminus Transmcdialität in der lntcmlcdialitätsforschung unterschiedlich ist. 23 Rajcwsky (2002), S. 12; S. 13. Vgl. Rajcwsky (2008b), S. 21. Das Beispiel der Parodie als medienunspczifischem Phänomen zeigt indes auch, dass die Trennung von Inter- und Transmedialität vor allem eine theoretische ist: in der künstlerischen Praxis ist kaum vorstellbar, dass Parodien ohne intermediale Verfahren auskommen können. 24 Vgl. Wolf(2007).

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am Beispiel der Regentschaft von Charles I. untersucht.ZS Offenbar unterstützt diese weit gefasste Begriffsverwendung insbesondere Systematisierungsbemühungen und die Darstellung von Phänomenen, die verschiedene Medien betreffen, ohne dass deren Bedeutung zwangsläufig intermedial generiert würde. 26 Der Ansatz fallt also in Rajewskys Kategorie der medienwissenschaftlichen beziehungsweise medientheoretischen Forschung, wie sie in der Einleitung angesprochen wurde. 3.2 Transmediale Narratologie und "Transmedia Storytelling "

Als fruchtbar hat sich die Zusammenführung von Transmedialität und Narratologie erwiesen; hier ist insbesondere auf das von Rajewsky geleitete Forschungsprojekt "Medialität- Transmedialität- Narration: Perspektiven einer transgenerischen undtransmedialen N arratoIogie(Fi Im,Theater, Literatur)" und den von Marie-Laure Ryan herausgegebene Band "Narrative across Media. The Language of Storytelling" hinzuweisen.27 Kontrovers diskutiert wird der Punkt, inwieweit derart als transmedial verstandene Phänomene tatsächlich medienunspezifisch sind, oder ob diese Setzung mit einer inadäquaten Abstraktion erkauft werden muss. So lassen

25 Vgl. Stegmann (2006). Fraas/Barczok (2006) modifizieren die Terminologie Rajcwskys, um am Beispiel von Weblogs das Zusammenwirken von traditionellen und digitalen Medien zu untersuchen. Poppe (2008) versucht Visualität als Phänomen der Transmedialität zu beschreiben, indem sie literarische und filmi sche Visualität vergleicht. Auch in der Editionswissenschaft wird der Begriff mittlerweile diskutiert: Sahlc reflektiert angcsichts des Abschieds von der Buchkultur die Möglichkeit transmedialer Editionen, um diese unabhängiger von ihrer Publikationsform zu. machen, vgl. Sahle (2010). 26 Vgl. auch die Liste transmedialer Arbeitsfelder bereits bei Wolf (2002), S. 179- 18 1. 27 Vgl. Ryan (2004). Vgl. auch die Hornepage der AG Transmediales Erzählen im Forschungsschwerpunkt Medienkonvergenz der Johanncs Gutenberg Universität Mainz: URL:http://www.mcdicnkonvergenz.uni-mainz.de/forschung/ag-transmcdialcscrzachlcn/ [Stand 29.06.2011). An Rajewskys Begrifflichkeit lehnt sich Nicole Mahne an, wenn sie ihre Einzeldarstellungen zu narrativen Techniken in Roman, Comic, Film, Hörspiel und Hyperfiktion als"Transmediale Erzähltheorie" versteht, vgl. Mahne (2007).

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sich notwendige Merkmale von Narrativität allgemein formulieren, beobachtet werden können sie aber nur im jeweiligen (medienspezifischen) Erzählen; zweifelsohne weisen Medien unterschiedliches nanatives Potential auf, sie sind mehr als Kanäle flir Botschaften. Daher ist es nur auf den ersten Blick erstaunlich, dass die Annahme von Narrativität als medienunspezifischem Phänomen zur genauen Analyse der Bedeutung von Medien bei der Produktion von Narrativen führt: "We have well-developed analytical tools and methodologies relating to individual media, such as cinema, music, literature, and electronic art, but we do not have a comprehensive and widely accepted theory of the importance of the medium as material support for the form and content of message. " 2 '

Terminologisch könnte man die Idee des"Transmedia Storytelling" leicht mit dem vorgestellten Untersuchungsprogramm der transmedialen Narratologie verwechseln. Die Kontrastierung beider Ansätze lässt die Differenzen und Schnittpunkte beider Achsen des Transmedialitätsbegriffs deutlich werden. Unter " Transmedia Storytelling" versteht Henry Jenkinseine Erzählstrategie, bei der verschiedene Elemente der ErzähiLUlg- wie HandiLUlgsaspekte oder Personencharakterisierungen - auf verschiedene Medien wie Film, Comic, Trailer, Roman und Computer-Spiel verteilt werden. Dabei wird nicht eine (prämediale) Urerzählung nach und nach in verschiedene Medien übersetzt -wie es die transmediale Nanatologie suggeriert- sondern erst die Gesamtheit der medialen Teilerzählungen erzeugt die ErzählLlllg im Sinne einer kom-

28 Ryan (2004), S. 22. ln diesem Sinne heißt es auch in der Projektbeschreibung von "Mcdialität - Transmcdialität - Narration: Perspektiven einer transgenerischen und transmedialen Narratologic (Film, Theater, Literatur)": "Zentrales Anliegen ist es hierbei, den Blick fur die Relevanz generischer Konventionen und medialer Spezifika im Bereich der Erzählforschung zu schärfen. Das Potential einer transgenerischen und transmedialen Forschungsperspektive wird mit anderen Worten darin gesehen, dass im Gattungsund Medienvergleich nicht nur Gemeinsamkeiten (so die in diesem Forschungszweig derzeit vorherrschende Praxis), sondern gerade auch Differenzen zwischen diesen deutlich werden bzw. besonders prägnant herausgearbeitet werden können." URL: http:// www. geisteswi ssenschaften.fu -berlin.de/weO 5/forschung/forschproj ekte/transm edial i-

taet.html#_ftn2 [Stand 2 1.06.2011].

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STEFAN WIECZOREK I TRANSMEDIALITÄT. EINE BEGRIFFSSKIZZE

plexen fiktionalen Welt. 29 Es wird gefragt, welche narrativen, sozialen und ökonomischen Funktionen diese transmediale Praxis hat. Ziel ist also nicht eine allgemeine Theorie des medienunspezifischen Erzählens, sondern die Darstellung sehr spezifischer erzählerischer Verfahren über Mediengrenzen hinweg. Damit verweist Jenkins ' "Transmedia Storytelling" auf die zweite Verwendung des Transmedialitätsbegriffs, die Phänomene des medialen Übergangs in den Blick nimmt.

4. TRANSMEDIALITÄT ALS BEZEICHNUNG FÜR PHÄNOMENE DES MEDIALEN ÜBERGANGS 4.1 Zur Begriffsverwendung

Mit ihrem Sammelband "Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren" haben Urs Meyer, Roberto Simanowski und Christoph Zeller Reichweite und Anwendungsfelder eines Transmedialitätsbegriffs abgesteckt, der hybride mediale Phänomene beschreiben soll. Diese stehen der intermedialen Kopplung nahe. Eine Voraussetzung, um von Transmedialität in diesem Sinne sprechen zu können, ist daher "die gleichzeitige Anwesenheit der beteiligten Medien". 30 Diese Medienkombination wird aber nicht statisch gedacht, sondern dynamisch-prozesshaft: Transmedialität ist eher ein Verfahren kreativer Prozesse als ein Klassifikationsmerkmal von Kunstwerken. Das Produktionsverfahren baut neben Medienkombinationen auch auf Medienwechseln auf. Simanowski operationalisiert den Transmedialitätsbegriff und bezeichnet "mit Transmedialität den Wechsel von einem Medium in ein anderes als konstituierendes und konditionierendes Ereignis eines hybriden ästhetischen

29 Vgl. Jenkins (2006), S. 93- 130 und Jenkins (2007). Aufseiner anregenden Webpage dokumentiert Jcnkins die Entwicklung seines Ansatzes und fUhrt die Diskussion mit nahestehenden medienwissenschaftlichen Positionen. Evans (20 II) hat das Modell auf "Transmedia Television" übertragen und berücksichtigt in ihrer Analyse u.a. Fernsehen, Computerspiel, Internet und Mobiltelefon. 30 Meyer/Simanowski/Zeller (2006), S. 10. Gegenstand der transmedialen Deskription und Analyse sind demnach Medienkombinationen und nicht weiche Intermedialität.

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Phänomens". 31 Er untersucht damit unterschiedliche Kunstprojekte, die traditionelle Materialgrenzen autbeben, beispielsweise Analoges mit Digitalem mischen. Folgerichtig gewinnt die materielle Grundlage unterschiedlicher Medien, die auch Elleström als Modalität bestimmt hat, eine wesentliche Rolle in transmedialen Analysen und konkretisiert sich in den Arbeitsmaterialien.32 Solche transmedialen Prozesse des Übergangs können auf werkästhetischer Ebene verlaufen, insbesondere aber dort, wo diachrone Abläufe realisiert werden: in der Werkgenese und der Rezeption beziehungsweise bei performativen lnszenierungsformen. Diese Begriffsverwendung ist demnach eindeutig eine kunst-und literaturwissenschaftliche, die an der Analyse konkreter Kunstformen ausgerichtet ist, wobei die Interpretation transmedialer Verfahren über das jeweilige Fallbeispiel hinaus zum Verständnis von Transmedialität beitragen soll. Untersucht wird, "welche Übergänge es zwischen verschiedenen Medien gibt, welche Vemlischungen der medienspezifischen Zeichensysteme dadurch entstehen und in welcher Weise die Präsenz des Ausgangsmediums eines hybriden, transmedialen Kunstprojekts dessen Bedeutung im Endmedium konstituiert."11

Angenommen wird also ein Ausgangsmedium, das nach mögliche1weise mehreren Transmedialisierungen in ein Endmedium überführt wird. Dabei sind im Endmedium noch mediale Spuren des Ausgangsmediums vorhanden,

31 Simanowski (2006), S. 44. Vgl. auch Wirth (2006), S. 34 zum transmedialen Prozess

des Übergangs: "ein Prozess, in dessen Vollzug die gekoppelten Elemente ihre Identität gerade durch den Bezug zum anderen Medion, aber eben auch in Absetzung von diesem e1werben." Vgl. auch die frühe Verwendung des Begriffs bei Herlinghaus (1994). 32 So fuhren Magrid Bircken, Dieter Mersch und Hans-Christian Stillmark zum Untertitel ihres Sammelbandes "Ein Riss geht durch den Autor. Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss" aus: "Der Untertitel [ ... ] zielt [ .. .] auf mindestens zwei Perspektiven und betont einerseits das Gemachte, Hergestellte und ästhetisch Formierte der verwendeten Materialien, die andererseits zugleich als Medien fungieren." Birckenl Mersch!Stillmark (2009), S. I 0. Der Band verdeutlicht aber auch, dass die hier skizzierte transmediale Perspektive auf die Genese in der Germanistik noch keinesfalls eingelöst wurde. 33 Simanowski (2006), S. 44.

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die dessen Bedeutung mitkonstituieren. Kritisch anzumerken bleibt jedoch, dass mit der Vorstellung eines Ausgangsmediums und eines Endmediums ein Modell der Remedialisierung angenommen wird, das in etwa intertextuellen Verfahren zwischen Prätext und Text entspricht, also einem zeitlichen Nacheinander. Im Falle des obigen Zitats begründet sich diese Prämisse- "in welcher Weise die Präsenz des Ausgangsmediums eines hybriden, transmedialen Kunstprojekts dessen Bedeutung im Endmedium konstituiert" 34 - in einer spezifischen Operationalisierung des Transmedialitätsbegriffs bei Simanowski. Gefragt werden muss jedoch, ob transmediale Phänomene sich nicht dadurch auszeichnen, dass die Hierarchie (und die Deutungsmacht) zwischen den Medien aufgelöst wird, der Medienwechsel also nicht auf ein Ziel hinführt, sondern vielmehr ein oszillierendes Prinzip darstellt. Dies gilt insbesondere für interaktive Webprojekte. Transmedialität ist nicht an digitale Medien gebunden, jedoch begünstigt die Digitalisierung transmediale Arbeitsweisen. 4.2 Transmedialität als historischer Medienumbruch

Der Perspektivwechsel von der Intermedialität hin zur Transmedialität in einer Situation tiefgreifender medialer Veränderungen signalisiert auch, dass es sich bei transmedialen Phänomenen um historisch datierbare Phänomene handelt - in erster Linie deshalb, weil sie spezifische kulturelle, ästhetische und technische Voraussetzungen erfordern. Während die Interart Studies und zum Teil auch die Intermedialitätsforschung von unterschiedlichen Medien ausgehen, die wiederum jeweils in die Zuständigkeit bestimmter künstlerischer Disziplinen fallen, die in Ausnahmefällen intermediale Kopplungen produzieren,35 wird die Medienkombination in der Transmedialität zum Normalfall von Kunstproduktion im Zeitalter der Medienkonvergenz und Medienfusion erklärt. 36 Daher liegt es nahe, Transmedialität medienhistorisch zu

34 Simanowski (2006), S. 44. 35 In Bezug auf den Stellenwert von Grenzen und Grenzüberschreitung formuliert Gundolf S. Freyermuth: "Beruht intermediale Praxis auf der Existenz passierba-rer medialer Grenzen und multimediale Praxis auf der Möglichkeit ihrer Überla-gerung, so wird eine zukünftige transmediale Praxis [ .. .] aus der zumindest ten-denziellen Aufhebung dieser Grenzen resultieren." Freyermuth (2007), S. 114. 36 Vgl. Meyer/Simanowsky/Zeller (2006).

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beschreiben. In seinen "Thesen zu einer Theorie der Transmedialität" versucht Gundolf S. Freyermuth eine Historiographie der Medienumbrüche zu skizzieren. 37 Nach lntermedialität und Multimedialität bildet Transmedialität darin den dritten Medienumbruch der westlichen Neuzeit. Einher gehen diese Medienumbrüche mit Technologieentwicklungen (hier: mechanische Technologie, industrielle Technologie und schließlich die digitale Technologie). 4.3 Transmedialität und "Remediation" Angeregt wird die Ausgestaltung des Transmedialitätsbegriffs durch Bolter/ Grusins Modell der "Remediation" als "representation of one medium in another". 38 Damit bezeichnen Bolter/Grusin "the formallogic by which new media refashion prior media forms." 39 Auch Bolter/Grusins "Remediation" wird letztlich von einer medienhistorischen Zeitachse her gedacht. Während "Remediation" auch die Anleihe von Stil- und Ausdrucksformen resp. deren Nachahmung umfasst (weiche lntermedialität), impliziert Transmedialität den stattfindenden Medienübergang. Übernommen wird in Simanowskis Begriffsbestimmung die Unterscheidung von Bolter/Grusin zwischen "Immediacy" und "Hypermediacy" .40 Mit "Immediacy", also Unmittelbarkeit, wird die Tendenz von Medienprodukten bezeichnet, Remedialisierungen zu ignorieren oder zu leugnen. Das Medium erscheint als transparentes Fenster zur Welt, suggeriert Erfahrung ohne Medialisierung. Mediengeschichte ist in diesem Verständnis die Geschichte dieser Täuschung. "Hypermediacy" hingegen lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die vielfältigen Formen der

37 Vgl. Freyermuth (2005); vgl. Freyermuth (2007). 38 Bolter/Grusin (2000), S. 45. Vgl. auch Rajewsky (2008). Es war bereits die Re-de davon, dass ein theoretisches Interesse an medienunspezifischen Phänome-nen, also an Transmedialität wie sie Rajewsky umreißt, in der induktiven inter-pretatorischen Praxis zur Analyse von transmedialen Phänomenen ftihren kann, wie sie die zweite Begriffsverwendung beschreibt. So greift auch Ryan den Be-griff der Remediation von Bolter und Grusin auf, um zentrale Aspekte von transmedialer Narrativität zu benennen, etwa "Tnsertation of a medium in another" oder "Transposition from a medium into another." Ryan (2004), S. 33. 39 Bolter/Grusin (2000), S. 273. 40 Ebenso bei Wenz (2004).

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Medialisierung, das Opake des Mediums. Während "Immediacy" homogene, unifizierte visuelle Räume erzeugt, produziert "Hypermediacy" heterogene, collage-artige Räume. Medien springen zwischen diesen beiden Positionen, wobei der "Hypermediacy" eine reflexive Aufgabe zuerkannt wird: "In every manifestation, hypermediacy makes us aware of the medium or media and [ ... ] reminds us of our desire for immediacy."41

Transmediale Kunstwerke - wie sie Simanowski diskutiert - dokumentieren beziehungsweise inszenieren ihre transmediale Genese. Der Medienwechsel ist nicht nur eine Arbeitsphase der Produktion, sondern Teil des präsentierten Werks, das somit den Rezipienten auf eben diesen Medienwechsel fokussiert. Mit anderen Worten: Transmediale Prozesse werden versinnlicht, thematisiert und reflektiert ("Hypermediacy"). Damit ist auch ein Anspruch an die Künste hinsichtlich ihrer kognitiven Funktion gesetzt: Nämlich Verfahren und Techniken der Transmedialität nicht nur zu benutzen, sondern sie letztendlich durch sinnliche Anschauung bewusst zu machen und zu reflektieren.

5. VORLÄUFIGES FAZIT Die Differenzierung zwischen ,,lntermedialität als Kategorie für die konkrete Analyse medialer Konfigurationen" und lntermedialität "als ein kulturelles bzw. mediales Basisphänomen", wie sie einleitend zur besseren Konturierung von kunstwissenschaftliehen beziehungsweise medientheoretischen Erkenntnisinteressen aufgegriffen wurde,42 ermöglicht auch eine Unterscheidung zwischen den beiden hier vorgestellten Achsen des Begriffs Transmedialität. Die erste Begriffsverwendung, bei der Transmedialität medienunspezifische Phänomene bezeichnet, ist medientheoretisch ausgerichtet. Die zweite Begriffsverwendung, bei der Transmedialität Phänomene des Übergangs zwischen den Medien bezeichnet, geht bei der Analyse von Medien- und Material-Konfigurationen aus und will deren spezifische ästhetische und kognitive Leistung analysieren. Selbstverständlich ist dabei auch, dass das erste Un-

41 Bolter/Grusin (2000), S. 34. 42 Rajewsky (2008), S. 49; S. 50.

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tersuchungsprojekt nicht ohne Einzelfallanalysen auskommen kann und das zweite nicht ohne einen theoretischen Rahmen. Beide Perspektiven können dadurch Schnittpunkte haben.43 Wünschenswert ist für beide Begriffsverwendungen eine weitere Präzisierung. Für medienunspezifische Phänomene scheint geklärt werden zu müssen, welche Funktion die verschiedenen medialen Modalitäten einnehmen; dies könnte zugleich das Attribut "medienunspezifisch" problematisieren. Für Phänomene des medialen Übergangs ist die Zahl der Operationalisierungen für bestimmte literarische, künstlerische etc. Gegenstände noch recht gering. Auch eine Abgrenzung des Begriffs zu intermedialen Medienkombinationen wäre hilfreich. Transmedialität als medienübergreifendes Phänomen, wie es von Rajewsky umrissen wurde, ermöglicht aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die Adaption (genuin) literaturwissenschaftlicher Begriffe und Interpretationskategorien auf andere mediale Formen. Transmediale Aspekte wie Narrativität, Ironie, Metafiktionalität, kulturelles Gedächtnis etc., die zur Zeit auf der Agenda der Transmedialitätsforschung stehen, haben zum überwiegenden Teil eine lange disziplinäre Forschungstradition und sind gattungsspezifisch, epochenorientiert oder methodentheoretisch ausdifferenziert worden. Transmedialität als Phänomen des Medienübergangs, wie es von Meyer/ Simanowski/Zeller vorgestellt wurde, richtet die Aufmerksamkeit aufkünstlerische Produktionsprozesse, die Mediengrenzen überschreiten. Die Beispiele, die bisher innerhalb der Transmedialitätsdebatte diskutiert werden, stammen zumeist aus dem Bereich der digitalen Medien und der Performance/Bildenden Kunst. Mit Foto-Text-Narrationen, Schriftbildern und Künstlerbüchern wurden in der Einleitung Phänomene der harten Intermedialität als aktuelle Untersuchungsgegenstände der Literaturwissenschaft benannt. In transmedialer Perspektive muss gefragt werden, welche kognitiven, insbesondere reflexiven Leistungen aus dem medientransgredierenden Produktionsprozess, der diesen ästhetischen Formen zu Grunde liegt, resultieren. Aber nicht nur die Grenzen des Literaturbegriffs geraten in den Blick: Auch Produktionsprozes-

43 Es ist keineswegs so, dass hier die identische Fragestellung in methodisch verschiedener Art und Weise bearbeitet würde: transmediale Untersuchungen von medienunspezifi schen Phänomenen können, müssen aber nicht im zweiten Sinn transmedial sein, also Phänomene des Medientransfers und Medienübergangs analysieren.

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se, die zu literarischen Texten im traditionellen Sinne führen, also Schreibprozesse, verlaufen nicht "monomedial", sondern beziehen häufig graphische und bildliehe Elemente als essentielle Bestandteile der Konzeptualisierung mit ein: "Wenn wir konzipieren, denken wir ins Offene, erst allmählich beginnen wir zu formulieren und unsere Gedanken im -linearen- Medium Text zu präzisieren."44 Karin Herrmann definiert daher Konzepte als Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft, sie dienen im Entstehungsprozess "als mentaler Grundriss; eine Idee nimmt hier auf dem Papier erste Gestalt an" - und diese Gestalt, so kann im vorliegenden Kontext ergänzt werden, kann Zwischenstufe oder Ergebnis eines transmedialen Arbeitsprozesses sein. 45 Hier öffnen sich einer transmedial interessierten Literaturwissenschaft breite Beschäftigungsfelder.

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44 Herrmann (2010), S. 203. Vgl. hierzu auch Gellhaus (2008), S. 12 1- 149. 45 Herrmann (2010), S. 201. Herrmann präzisiert den Doppelcharakter des Kon-zepts "im Sinne eines kognitiven Problems, einer gedanklichen Problemkonstel-lation, einer Art Versuchsanordnung einerseits[ . ..] und im Sinne des archivali-schen Materials andererseits." Herrmann (2010), S. 2 11 . Zur Erarbeitung und Abgrenzung des Begriffs "Konzept" siehe vor allem die "Überlegungen zur Terminologie", Herrmann (20 I 0), S. 2 10-212.

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Erfahrung und Intuition oder von lkarus lernen WIM VAN DEN BERGH

In meiner Doppelrolle als praktizierender Architekt und Lehrer werde ich oft mit der Situation konfrontiert, dass ich meinen Studenten etwas vermitteln muss, über das ich mir bis zu einem gewissen Grad selbst nicht bewusst bin, nämlich wie man gute Architektur entwirft oder kreiert. Ich denke, jeder Architekt oder Künstler kennt dieses merkwürdige Paradox: Einerseits hat man einen Entwurf gemacht - man hat etwas kreiert - aber wenn man gefragt wird "wie haben Sie das gemacht?" ist es ein echtes Problem auf rationaler Basis zu erklären, wie man es eigentlich gemacht hat. Auf der bewussten Ebene kann man die verschiedenen Schritte, die man während des Entwurfsprozesses zurückgelegt hat, nachvollziehen, den methodischen Weg, dem man gefolgt ist, und den zyklischen Prozess des fortlaufenden Reflektierens, Schaffens und Erprobens. Aber während der Entstehung des Entwurfs hat es auch diese "Momente der Erleuchtung" gegeben, diese "blitzartigen Offenbarungen", die man anderen auf reiner Verstandesbasis nur schwer erklären kann. Oft erkennt man erst im Rückblick, dass es diese Momente der Erleuchtung gegeben hat und dass sie entscheidend flir den Entwurf waren, aber man erkennt dann auch, dass sie während des Schöpfungsprozesses häufig unter- oder unbewusst auftraten. Dies ist das, was man üblicherweise Intuition nennt.

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WERKZEUG DENKZEUG I KREATIVE PROZESSE

INTUITION Das American Heritage Dictionary of the English Language definiert Intuition wie folgt: "The act or faculty of knowing or sensing without the use of rational processes; immediate cognition. Knowledge gained by the use ofthis faculty; a perceptive insight. A sense of something not evident or deducible; an impression. " 1

Die Etymologie des Begriffs aus dem Lateinischen intueri - hinschauen, ansehen, betrachten - zeigt, dass die Idee hinter dem Begriff sich auf durch Betrachtung gewonnene Erkenntnisse bezieht. In unserer "modernen" Gesellschaft wird Intuition allerdings als suspekt betrachtet, als etwas, dem man nicht trauen kann, weil Intuition äußerst subjektiv und damit unwissenschaftlich ist. Unsere "moderne", so genannte "aufgeklärte" Gesellschaft schätzt vor allem die Objektivität, das, was auf Theorie gegründet ist, auf purem Verstand, bewusstem Denken und rationaler Wissenschaft. In anderen Worten: das, was in Zahlen, Zeit und Geld berechnet und methodisch als echtes, auf objektiven Fakten und wissenschaftlichem Beweis basierendes Wissen kommuniziert werden kann. Meiner Meinung nach schafft die Über-Bewertung dieser so genannten harten rationalen Fakten und Zahlen aber auch ein Ungleichgewicht in unserem Wertesystem der "Welt", in dem von uns Menschen kreierten Wertesystem der räumlichen und kulturellen Umwelt. Dabei ist es genau dieses aus dem Gleichgewicht geratene Wertesystem, das, neben vielen anderen Dingen, das Kreieren und eben auch die Ausbildung in der Architektur bestimmt. In der heutigen Gesellschaft spüre ich in meiner Rolle als praktizierender Architekt und Lehrer ständig das Misstrauen, das dem Beruf und der Disziplin der Architektur entgegengebracht wird. Dies drückt sich z.B. darin aus, dass die meisten Leute den in den architektonischen Prozess eingebundenen so genannten Spezialisten und Ingenieuren fast blind vertrauen, während sie normalerweise dem, was der Architekt zu sagen hat, misstrauen. Ein generelles Misstrauen gegenüber der Disziplin der Architektur spüre ich auch an den meisten Technischen Universitäten im Bezug auf die Ausbildung von

AHD (1969), S. 688.

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WIM VAN DEN BERGH I ERFAHRUNG UND INTUITION ODER VON IKARUS LERNEN

Architekten, ein Misstrauen, das vermutlich seine Wurzeln darin hat, dass ein guter Architekt letztendlich eine Art Doppelrolle spielen muss. Einerseits muss der Architekt der objektive, rational handelnde "Bauingenieur" sein, der weiß, wie man ein gutes, stabiles Gebäude baut. Andererseits sollte er auch der subjektive, intuitiv handelnde "Künstler/Kreator/Denker" sein, der intelligent und gefühlvoll spürt, wie man gute Architektur schafft. Architektur, die zu dem komplexen räumlichen und kulturellen Umfeld passt, für das sie vorgesehen ist. Ein Misstrauen, das sich besonders deutlich bei der Ausbildung von Architekten zeigt, nämlich dann, wenn Verwalter und Manager in den Prozess der Lehre involviert sind. Denn für sie ist es sehr schwer zu verstehen, dass die Ausbildung von Architekten nicht nur darin besteht, den Studenten einen vorgegebenen Katalog an Wissen und Fertigkeiten zu vermitteln, also einen Katalog der in Form von Zeit und Raum, Menschen und Geld kalkuliert werden kann. Für sie ist es sehr schwer zu verstehen, dass es etwas viel Wichtigeres gibt, als diesen Katalog ausgesuchten Wissens und bestimmter Fertigkeiten, nämlich Verständnis. Also steht man als hingebungsvoller Lehrer immer vor dem Problem, dass man diesen Verwaltern und Managern erklären muss, dass es in der Ausbildung von Architekten - und ich glaube nicht, dass das nur für Architekten gilt - neben dem Erlernen eines bestimmten Katalogs von Grundwissen und Grundfertigkeiten am wichtigsten ist, dass die Studenten Verständnis für oder Einblick in die kulturelle Breite und Komplexität ihrer Disziplin gewinnen. Noch schwieriger wird es, wenn man erklären muss, dass man als Architekturprofessor Verständnis nicht wie ein Grundwissen lehren kann, weil Verständnis oder Einblick/Intuition etwas ist, was jeder Student selbst gewinnen muss. Und als solches ist Einblick oder Intuitionper se subjektiv. Wissen (der metaphorische "Kopf') und Fertigkeiten (die metaphorische "Hand") sind die eigentlich vermittelbaren Aspekte; Verständnis, Einblick oder Intuition jedoch (metaphorisch Kopf+ Hand= Herz) ist etwas, das man selbst erlangen muss. Aber genau das ist meiner Meinung nach in der Lehre der Architektur am wichtigsten, dieses Erlangen von Verständnis, das Gewinnen von Einblick in das "Was, warum und wie" der Architektur als Ganzes und die Liebe zur kulturellen Breite und Komplexität der Disziplin der Architektur. Wissen und Fertigkeiten sind einfach bestimmte Widerspiegelungen oder Verkörperungen des Verständnisses, Formen des Einblicks, die sich als Ganzes, als den Kern des Architekturwissens ausdrucken.

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WERKZEUG DENKZEUG I KREATIVE PROZESSE

Das Studium der Architektur selbst wird zu einem fortwährenden Prozess, bei dem man sich über die tieferen Zusammenhänge zwischen dem "was, warum und wie" der Architektur langsam immer bewusster wird. Mit auf der einen Seite dem Wissen, aus der Sichtweise der Architektur, als wissenschaftliche Disziplin, also aus Sicht ihrer Theorie, und auf der anderen Seite die Fähigkeiten, aus der Sicht der Architektur als einer Profession, also aus der Sicht ihrer Praxis. Und das ist auch der Punkt an dem die "Phänomenologische Perspektive" über die "Transmedialität von Kreativen Prozessen" greift. Weil Intuition oder Einsicht nur durch subjektive Erfahrung gewonnen werden kann - und hier meine ich Erfahrung in seiner doppelten Bedeutung: Einerseits als körperlicher und mentaler Akt, also als aktive Teilnahme an und als das Begreifen von Tätigkeiten, Vorkommnissen, Objekten, Gedanken oder Gefühlen durch die Sinne und den Verstand. Und andererseits Erfahrung als das daraus gewonnene Wissen und/oder die daraus gewonnenen Fähigkeiten - man könnte auch sagen, die Einblicke oder die Intuition, die dadurch erreicht wurden.

ERFAHRUNG Erfahrung heißt - wie die Etymologie uns mitteilt - versuchen, erproben, prüfen (aus dem Lateinischen expenri, ausprobieren, testen). Und das ist genau das, was wir von Ikarus lernen können: Wir gewinnen Einblick oder Intuition nur durch den Akt der körperlichen und mentalen Erfahrung. Wenn meine Studenten im ersten Jahr zögern, ihre ersten intuitiven Ideen zu einem Entwurfsproblem zu Papier zu bringen, frage ich sie, ob sie sich vorstellen können, Fahrradfahren über die Theorie des Fahrradfahrens zu lernen, also mittels eines Buches, das ihnen erst absolut alles über die Mechanik, Dynamik, Bewegungen, Physik etc. des Fahrradfahrens erzählt? Und ich glaube, fast jeder, der sich daran erinnert, wie er oder sie Fahrradfahren gelernt hat, wird zu dem Schluss gelangen, dass es unmöglich rein theoretisch erlernt werden kann. Man muss es einfach versuchen, und nur durch den Akt des körperlichen und mentalen Erfahrens, inklusive der schmerzhaften Stürze, kann man es erlernen. Dasselbe gilt meiner Meinung nach auch für das Entwerfen oder das Kreieren guter Architektur. Trotzdem bin ich der Letzte, der sagt, dass Theorie nicht wichtig ist. Im Gegenteil: In der Theorie d1iickt sich spezifische Einsicht durch das Wissen der Architektur aus. Aber wir können ihre tiefere Bedeutung im "was, warum und wie" der Architektur nur begrei-

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fen, wenn wir ihren praktischen Wert während des Kreierens oder Entwerfens körperlich und mental erfahren und bewertet haben. Um also zu lernen, wie man gute Architektur entwirft, müssen die Studenten den innerhalb des Entwurfsprozesses stattfindenden Akt der Schöpfung fast körperlich und mental erfahren- inklusive der Stürze, besonders am Anfang- und zwar immer und immer wieder. Und daran denken, dass Kreieren, im Sinne von Entwerfen zuallererst bedeutet, ihre Vorstellungskraft und ihre reale Wahrnehmung zu synchronisieren.

VON IKARUS LERNEN Also ist die erste Lektion, die wir von Ikarus lernen können, dass Intuition in Wirklichkeit nichts anderes als verkörperte Erfahrung ist. Und mir wird oft bewusst, dass es die verkörperte Erfahrung unserer Kindheit ist, die uns dabei hilft, unsere anfangliehe Angst vor dem Unbekannten im Schaffensprozess zu überwinden und unseren ersten Schritt in einem Entwurf zu wagen. Aber wir können noch mehr vom Mythos über Ikarus und seinem Vater Dädalus lernen. 2 Ein Mythos ist oft die Verkörperung von Wissen in einer Erzählung. Ein Mittel, in diesem Fall unserer griechischen Vorfahren, um ihr Verständnis des vom Menschen vollzogenen Schöpfungsaktes (im Kontrast zur göttlichen Schöpfung) weiterzugeben. In anderen Worten der Schöpfungsakt, der Akt des Konzipierens und Herstellens, wie er vom mystischen, menschlichen Erfinder Dädalus vollzogen wurde. In diesem Zusammenhang ist auch die leicht obskure, aber plausible Etymologie des Namens, den wir uns selbst gegeben haben, interessant. Warum, könnten wir fragen, haben wir uns selbst als "Menschen" oder "man" bezeichnet? Und es wird sich herausstellen, dass die Etymologie des Begriffs uns sogar noch weiter fiihrt, nämlich bis hin zu der Frage, was Schaffen bedeutet und wie wir es begreifen. Oder genauer: wie wir Menschen uns in uralten Zeiten diesen Schöpfungsprozess vorgestellt haben. Zunächst als etwas, das zu den Göttern gehört. Dann aber auch als etwas, das wir als Menschen irgendwie besitzen und das uns wiederum von den Tieren unterscheidet. Die Indo-Europäischen Wurzeln des Wortes

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Smith (1873).

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"men" oder "man" beziehen sich auf eine Dreieinigkeit der Bedeutung, wie drei ineinander verschmelzende Kraftfelder. Das erste dieser Kraftfelder ist die Indo-Europäische Wurzel "man-1 ", welche sich etymologisch auf unsere Identität als irgendwo zwischen Tieren und Göttern stehende Wesen bezieht. Das zweite ist die Indo-Europäische Wurzel "man-2", welche sich auf Hand bezieht, wie in dem Lateinischen Wort "manus". Das dritte Kraftfeld ist die Indo-Europäische Wurzel "men-3". Sie bezieht sich auf den Verstand, das Denken und den Geist, während ihre Ableitungen sich auf verschiedene Qualitäten und Zustände des Verstandes und Denkens beziehen, wie z.B. in Wörtern wie "mental" und "mention."3 Diese drei Aspekte unserer Identität als Menschen repräsentieren in ihrer Gesamtheit, ihrer Dreieinigkeit, unsere Fähigkeit zu schaffen. Der Verstand verweist auf unsere Fähigkeit zu denken. Die Hand verweist auf unsere Fähigkeit, etwas herzustellen. Wir selbst kombinieren diese drei Fähigkeiten in einem zyklischen Prozess aus Konzipierung, Herstellung, Erprobung oder Verwendung. Damit verweisen wir selbst auf unsere Fähigkeit, den von uns entworfenen Gegenstand so lange zu entwickeln, bis er seinen Zweck erfüllen kann. Und das ist es, was wir normalerweise Kreieren oder Entwerfen nennen. Wie wir vom Mythos von Dädalus und Ikarus wissen, geht der geschaffene Gegenstand (in ihrem Fall die Flügel, mit denen sie aus dem Labyrinth fliehen) danach in den Kreislauf des praktischen Nutzens ein, eine Form der Erprobung mit dem Ziel, den Gegenstand weiter zu verbessern. Wenn wir uns die Sage von Dädalus und lkarus einmal genauer anschauen, zeigt sich, dass sie die gleiche Dreieinigkeit verkörpert. Genau die Dreieinigkeit des Denkens, Schaffens und Verwenelens oder Erprobens, die die alten Griechen als Akt der Schöpfung verstanden und als Wissen in einer Erzählung und in einer Genealogie verkörperten. Dädalus, der Vater, steht für die Fähigkeit des Schaffens, die Etymologie seines Namens bezieht sich auf das griechische daidal, was "kunstvoll gearbeitet" bedeutet. Er steht fiir den geschickten Macher, den Kunsthandwerker und Schaffenden. Der weniger bekannte Vater von Dädalus war Metion. Dessen Name bezieht sich auf das Griechische metis, was Weisheit und Geist bedeutet. Demnach steht Metion, Dädalus' Vater, für die Fähigkeit des Denkens. Damit bleibt Dädalus Sohn, lkarus, übrig als Erprober oder Benutzer der von seinem Vater erdachten und

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Perez-G6mez (1985), S. 49-52; McEwen ( 1993), S. 44-53; Morris (1992), S. 53-58.

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hergestellten Flügeln. Als Repräsentant der Fähigkeit des Reflektierens über den Gegenstand in der praktischen Anwendung, war er im Grunde so eine Art erster Testpilot.4

ERSCHAFFEN: POIESIS, TECHNE, PRAXIS Neben dieser Dreieinigkeit des Denkens, Schaffens und Erprobens, benutzten die alten Griechen die Begriffe: Poiesis or poie6 - wörtlich machen, produzieren oder erschaffen - um das eher abstrakte und mentale Schaffen zu bezeichnen wie die Figur des Poeten/Philosophen, der sich aus diesem Aspekt des Schaffens entwickelte. Techne -wörtlich Kunst, Talent, Können, Fähigkeit - um das eher konkrete und physische Schaffen zu bezeichnen wie die Figur des Technikers/Ingenieurs, der sich aus diesem Aspekt der Schöpfung entwickelte. Und Praxis- wörtlich tun, handeln, üben oder praktizieren- um eine Form der Schöpfung zu bezeichnen, die sich aus dem Umgang mit den von der Realität vorgeschriebenen Umständen entwickelt. Aus diesem Aspekt der Schöpfung entfaltet sich der Charakter des Virtuosen. 5 An diesem Punkt könnte man wahrscheinlich fragen, was hat all das mit Architektur zu tun? Meiner Meinung nach ist der Architekt immer noch dieser Handwerker oder Erfinder, der die Dreieinigkeit von poiesis, techne und praxisverkörpert- auch in der heutigen Zeit undtrotz der verschiedenen Formen der Unterscheidung und Spezialisierung, die sich mit der Zeit innerhalb der Architektur ergeben haben. Er muss immer noch die Rollen des Künstlers/ Philosophen, des Erbauers/lngenieurs und nicht zuletzt die des Yütuosen, der sich mit den von der Realität diktierten Umständen auseinandersetzen muss, in sich vereinigen. Aber wir können die Interpretation dieser Dreieinigkeit noch weiter treiben, wenn wir die Architektur selbst darüber projizieren. Das ist nichts Neues, denn schon der römische Autor und Architekturtheoretiker Marcus Yitruvius Pollio hat das im l. Jahrhundert v. Chr. getan. Yitmv beurteilte Qualität und Wert einer architektonischen Struktur anhand der Optimiemng und gleichzeitigen Versöhnung von drei Aspekten, die sich parallel zu den Aspekten praxis, techne und poiesis bewegen.

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PDL: The Perseus Digital Library

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PDL: The Perseus Digital Library

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UTILITAS, FIRMITAS, VENUSTAS Den ersten Aspekt (praxis) prägte er (flir die Architektur) als utilitas, was wörtlich Brauchbarkeit, Nützlichkeit, Tauglichkeit, Nutzen, Vorteil oder Dienlichkeit bedeutet. In anderen Worten: ein gutes Werk der Architektur muss funktionieren und praktischen Nutzen haben. Den zweiten Aspekt (techne) prägte Vitruv (für die Architektur) als firmitas, was Festigkeit, Stärke, Standhaftigkeit Ausdauer, Nachhaltigkeil oder Kraft bedeutet. In anderen Worten: ein gutes Werk der Architektur muss gut gebaut sein und die Zeit überdauern. Den dritten Aspekt (poiesis) nannte er (ftir die Architektur) venustas, was Schönheit, Anmut, Liebreiz, Eleganz oder Attraktivität bedeutet. In anderen Worten: er versucht uns zu sagen, dass ein gutes Werk der Architektur auch attraktiv sein muss, es muss gut proportioniert sein und unsere Emotionen durch seine Schönheit ansprechen. 6 Heutzutage nennen wir Architekten diese Aspekte Form (venustas), Funktion (utilitas) und Materialisierung (firmitas) und selbst nach mehr als 2000 Jahren machen Vitruvs Kriterien zur Bewertung eines Werkes der Architektur immer noch Sinn. Ein gutes Werk der Architektur muss einfach funktionieren, ohne dass der Nutzer allzu viel darüber nachdenken muss, und es muss dem Programm dienen, das in ihm abläuft. Ein gutes Werk der Architektur muss ebenso gut konstruiert sein, es muss gut ausgeftihrt und ausgearbeitet sein, um den Kräften der Natur, Zeit eingeschlossen, zu widerstehen, und seine Struktur muss intelligent gestaltet sein, damit man es einfach und kostengünstig bauen kann. Und ein gutes Werk der Architektur muss nicht nur gut aussehen, sondern muss sich auch gut anft.ihlen, gut riechen und sich gut anhören, muss sogar gut schmecken, wenn wir diesen Begriff in einem eher metaphorischen Sinne im Bezug auf Architektur verwenden können. Venustas, das Wort, das Vitruv benutzte, bezieht sich auf Venus, die Göttin der Schönheit und, wie wir alle wissen, basiert unsere Erfahrung physischer Schönheit auf allen unseren Sinnen und auch auf unserer Phantasie. Also liegt Schönheit nicht im Auge des Betrachters, wie ein Sprichwort uns glauben machen will, nein, Schönheit kann nur in der Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Imagination im Betrachter leben.

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Thayer

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Wenn es um Architektur geht, bedeutet dies, dass wir über eine Schönheit reden, die sich in einer Art kinästhetischen Erfahrung eröffnet und ausdrückt, also eine Schönheit, die alle unsere Sinne und unsere Vorstellungskraft in unsere körperliche und mentale Erfahrung eines Werkes der Architektur einbezieht und uns damit bewegt, die in uns Emotionen weckt, welche uns eine Intuition geben könnte, ein direktes Verständnis von Schönheit. Vitruv sprach vor mehr als 2000 Jahren jedoch von beidem, der Optimierung und der gleichzeitigen angemessenen Versöhnung der drei Aspekte - und das scheinen wir heutzutage zu vergessen. Die Überbewertung unserer heutigen Gesellschaft flir Daten und Zahlen lässt uns scheinbar nur noch den Aspekt der Optimierung erkennen und nicht mehr den ebenso wichtigen Aspekt der angemessenen Versöhnung. Optimierung ist etwas, was man objektiv in Zahlen, Mengen und Menschen, Zeit und Geld etc. ausdrücken kann. Angemessene Versöhnung jedoch ist viel komplexer und subjektiver, etwas, das man kaum objektiv messen oder in Zahlen und Daten ausdrücken kann. Aber es ist genau dieser Punkt, an dem die alte Intelligenz des Architekten! Handwerkers/Erfinders ansetzt. Und hier meine ich diese breitere kulturelle Sicht im Gegensatz zu der eher limitierten und oft einseitigen Sicht der meisten Spezialisten. Oder, wie die Etymologie des Wortes Intelligenz - aus dem Lateinischen intellectus, das Wahrnehmen, das Verstehen, dasAuswählen und Abwägen7 - andeutet: die Einsicht des Architekten, seine Fähigkeit, sowohl mit dem Körper als auch mit dem Geist wahrzunehmen, also während des Schaffensprozesses irgendwie intuitiv das breitere und komplexere kulturelle Bild der Umstände zu erkennen und zu verstehen; was heißt, seine Erfahrung anzuwenden, während er gleichzeitig die verschiedenen Optionen, die er im Hinblick auf eine angemessene Versöhnung zwischen Form, Funktion und Materialisierung hat, subjektiv abwägt und auswählt.

BARCELONA PAVILLON Lassen Sie uns ein Beispiel für dieses subjektive Wahrnehmen, Abwägen und Wählen betrachten, also für die Intelligenz des Architekten, der nicht nur

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(Partizip Perfekt Passiv von intellegere, wahrnehmen, merken, erkennen) AHD ( 1969), S. 682.

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eine Optimierung, sondern gleichzeitig auch eine angemessene Versöhnung zwischen utilitas, finnitas and venustas erreicht. Ich glaube nicht, dass viele Leute bestreiten würden, dass der beruhmte Barcelona Pavillon von Mies van der Rohe ein gutes Werk der Architektur ist. Einseitig aus der Perspektive der Optimierung betrachtet, ist er jedoch nicht ohne Makel. Utilitas

Bezogen auf seine Funktion und seinen Nutzen - utilitas - können wir wohl zweifellos vorausschicken, dass das Konzept des Barcelona Pavillons mit seiner Reihe frei ineinander fließender Räume, die den Besucher trotzdem auf einer unbewussten Ebene kontrolliert leiten, sehr intelligent war. Es war der Deutsche Pavillon für die Weltausstellung von Barcelona 1929, durch den und mithilfe dessen eine große Anzahl von Besuchern wörtlich und im übertragenen Sinne bewegt werden sollten. Sie mussten hindurchgehen und gleichzeitig immer beeindruckter werden, damit sich in ihren Köpfen ein einzigartiger Eindruck davon bildete, wofür die neue Weimarer Republik 1929 stand. In Wirklichkeit war es ein Übergangsraum, ein verblüffendes portalartiges Gebäude, im wörtlichen und im übertragenen Sinne, das die Besucher auf der Querachse des Ausstellungsgeländes auf dem Weg zu einer der beliebtesten Attraktionen der Weltausstellung, dem sogenannten Spanischen Dorf durchqueren sollten. Zumindest war das die Idee. Es zeigte sich jedoch, dass die meisten Besucher tatsächlich von der anderen Richtung kamen - sie nahmen die logischere Route zum Spanischen Dorf über die Hauptachse und den Spanischen Pavillon an ihrem Ende und sie nutzten den Deutschen Pavillon auf der Querachse, um zum Gran Plaza de Ia Fuente Magica zurückzukehren. Daher sollten wir den Barcelona Pavillon immer von zwei Richtungen aus betrachten, nicht nur von der Querachse aus, wie wir es normalerweise tun. 8 Wie auch immer, man kann sagen, dass Mies in Bezug auf den ersten Teil der utilitas, das kontrollierte Leiten der Bewegungsströme der Besucher, gute Arbeit geleistet hat. Wie man auf dem Plan erkennen kann, leitet er die Besucher über einige labyrinthische Windungen durch eine Reihe von Räumen hindurch. Dadurch leitet er die Bewegung und optimiert nicht nur die Anzahl und den Fluss der Menschen, sondern auch die Zeit, die sie drinnen verbringen. Er gibt ihnen genug Zeit, um durch das, was sie erfahren, beeindruckt

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Sola-Morales (1993), Berger (2006).

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zu werden. Aber er hat noch mehr für die utilitas des Deutschen Pavillons getan, weil er auch aufbrillante Weise den zweiten Teil seiner Funktion meistert, und zwar die Repräsentation. Da in dem Pavillon nichts ausgestellt wird, muss der Pavillon sich selbst ausstellen und dadurch den Geist der neuen Weimarer Republik und alles, wofür sie zur Zeit steht, repräsentieren. Also streckt Mies nicht nur die Zeitlinie, er baut auch eine erstaunliche Szenographie an ihr entlang. Eine Szenographie von horizontalen und vertikalen Ebenen, die eine fließende Reihe unterschiedlicher Räume und Atmosphären definieren, und zwar durch: • riesige Platten aus Spiegelglas, transparente Scheiben in weiß, flaschengrün und dunkelgrau oder durchscheinende Milchglasscheiben • Marmorwände in unterschiedlichen Farben, aus cremeweißem römischem Travertin, grünem Tinos- oder Larissamarmor aus Griechenland oder aus grünem italienischem Alpin-Marmor • acht verchromte kreuzförmige Säulen • Spiegeleffekte • überraschende Ausblicke • zwei Reflektionsbecken, einer mit weißen Kieselsteinen ausgelegt, der andere mit einem schwarzen glasierten Belag Und all das als Darstellung der herausragenden deutschen Handwerkskunst, ausgedrückt durch die Genauigkeit und Präzision mit der der Stein geschnitten, gefonnt und gefügt wurde. Und dann kommt der Höhepunkt: eine Wand aus wunderschön geädertem Onyx don\e, eine sehr seltene goldfarbene Mamorart aus Nordafrika und davor ein Teppich schwarz wie Jett. Die zwei Barcelona Stühle in makellosem weißem Leder und poliertem Chrom, eigentlich zwei Throne, die von Mies (und Lilly Reich) speziell für das spanische Königspaar (Alfonso Xlll und Victoria Eugenia) entworfen wurden, damit sie über der Eröffnungszeremonie präsidieren konnten. Zusätzlich, auf einem kleinen passenden Tisch, das goldene Besucherbuch des Deutschen Pavillons, in das während der festlichen Einweihung des Pavillons der König und die Königin als erste ihre Unterschriften gesetzt hatten. Wenn man die Rekonstruktion des Plans des Pavillons von WolfTegethoffbetrachtet, sieht man, dass

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er den schwarzen Teppich nicht gezeichnet hat. 9 Wenn man verstehen will, wie Mies die Szenographie der Route durch den Pavillon geführt hat, ist der Teppich jedoch wichtig. Dieser Pech schwarze Teppich formte eine subtile aber klar ausmachbare Barriere für die Besucher, welche sie normalerweise umgehen und nicht überqueren würden. Besonders wenn wir versuchen, uns die gesamte von Mies aufgebaute räumliche Szenographie und Atmosphäre vorzustellen: die freistehende goldene Wand, der Pech schwarze Teppich mit den weißen Thronen und dann gegenüber von der goldenen Onyxwand ein deckenhoher Vorhang aus scharlachroter Seide, der die drei Farben der deutschen Flagge Schwarz, Rot und Gold vervollständigt. Der Vorhang hatte aber auch noch eine andere Funktion; er verdeckte eine morphologische Inkonsistenz im Design, nämlich das Zusammentreffen einer Glas- und einer Marmorwand auf einer Linie. Firmitas

Wenn wir nun die firmitas des Pavillons betrachten, also seine Struktur und die Leichtigkeit der Konstruktion, müssen wir zugeben, dass der Pavillon mit seiner hybriden Struktur- auch betrachtet aus der Sicht des Ingenieurwesens - im Bezug auf die Leichtigkeit des Baus und die Wirtschaftlichkeit keine sehr klare und optimierte Konstruktion ist. Das offenbar massive Podium auf dem es steht ist in Wirklichkeit hohl. Im Bezug auf strukturelle Tektonik würde man zunächst eine Struktur erwarten, in der die Wände das Dach tragen. Aber die scheinbar massiven Wände sind hohl- nur die Endstücke der Wände sind massiv - der Rest ist eine Art Furnier aus 3 cm dicken Marmorplatten auf einem Eisenskelett Die 8 kreuzförmigen Säulen tragen das Dach, aber um seine proportionale Eleganz zu erhalten, musste die Deckenplatte sehr dünn sein, so dass die Säulen nicht an der Dachkonstruktion befestigt werden konnten. Damit sie auch flir die notwendige laterale Stabilität sorgen konnten wurde das Problem durch Querwände im hohlen Podium gelöst. Tatsächlich war die Deckenplatte, die auch keinen richtigen Abfluss hatte, so dünn, dass sie sich sogar ohne Belastung an ihrem gesamten auskragenden Perimeter verformte. Was auch Konsequenzen ftir das Gewicht und damit die Zerbrechlichkeit der Unterstruktur hatte, die für die Decke und die Abclichtung oben gebraucht wurde.

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Tcgcthoff(1981), 10.7.

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Aus Sicht des Bauingenieurwesens sollten wir eine leichte, effiziente und billige Bauweise vergessen. Selbst aus Sicht der Tektonik sieht der Barcelona Pavillon wie eine sehr einfache Konstruktion aus Säulen, Wänden und Ebenen aus. ln Wirklichkeit war der ganze Pavillon eine Ansammlung versteckter Hilfskonstruktionen, die uns ein Bild des Pavillons gaben, das im Bezug auf Struktur und Tektonik so einfach und elegant aussieht wie es das tut. Oder, wie Mies offenbar einmal sagte: "so einfach wie möglich, koste es was es wolle." Und ich glaube, praktizierende Architekten wissen genau, wie schwierig und teuer es ist, eine solche elegante Einfachheit zu realisieren. Denken Sie nur an das Problem, die Marmorplatten so zusammenzufügen und auszurichten, dass sie eine absolut perfekte Ebene bilden. Man muss sich bewusst machen, dass diese Marmorplatten am Ende eine riesige spiegelnde Oberfläche werden und dass sogar die kleinste Verzerrung in einer Reflektion dem Besucher zeigen würde, dass die Wand nicht absolut gerade ist. Und das wäre in einem Pavillon, der die sprichwörtliche deutsche Präzision und Gründlichkeit repräsentieren und ausdrücken sollte, nicht akzeptabel gewesen. Venustas

Aus der Sicht der venustas muss der Barcelona Pavillon zu seiner Zeit eine echte Offenbarung gewesen sein und sein Nachbau ist es immer noch, selbst nach 83 Jahren Entwicklung in der Architektur. Wenn wir Schönheit in der modernen Architektur als die Art von kinästhetischer Erfahrung betrachten, in die uns ein Werk der Architektur einbezieht- und hiermit meine ich die körperliche und mentale Erfahrung, die alle unsere Sinne und unsere gesamte Vorstellungskraft einbezieht und dadurch Emotionen hervorruft, die wiederum in uns eine Intuition von Schönheit entzünden könnte - dann denke ich, dass wir zu dem Schluss gelangen, dass der Barcelona Pavillon zu den schönsten Werken der Architektur des 20. Jahrhunderts gehört. Mies hat die Höhe des Raums so gewählt, dass sie ungefähr unserer doppelten Augenhöhe entspricht. Das bedeutet, dass unser Horizont den Raum in zwei gleiche Teile teilt, so dass wir die Zeichnungen und Photos auf den Kopf drehen können, ohne dass sich in Bezug auf die Proportionen etwas ändert. Dies wiederum, nehme ich an, war wichtig für die Art und Weise, in der er die Teile des Raums durch eine perspektivische Übereinstimmung zwischen den Ebenen und den Rändern der Decke und des Bodens definierte. Weil dies so offensichtlich in den Proportionen des Pavillons vorhanden ist, nehmen wir sie fast nicht mein· wahr.

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Um das Beispiel abzurunden: wir haben gesehen, dass die Intelligenz eines Entwurfs, wie der des Barcelona Pavillons, nicht in der Optimierung der einzelnen Aspekte für sich begründet ist, sondern dass seine Qualität und sein Wert auch und hauptsächlich durch die angemessene Versöhnung von Form, Funktion und Materialisierung definiert wird. Also hat Mies verstanden, dass eine weitere Optimierung der firmitas mit dem Ziel, die Wahrhaftigkeit der Konstruktion auf einen höheren Level der Perfektion zu bringen, Zeitverschwendung wäre. Und er wusste, dass es nur für ein paar Monate halten musste. Außerdem musste Mies sich mit der Tatsache auseinander setzen, dass die Bauzeit ablief, er musste den Pavillon innerhalb von drei Monaten hochziehen und er musste sich mit Budgetbeschneidungeil auseinander setzen, was dazu führte, dass Teile der Außenwände des Pavillons, die für die Besucher weniger gut sichtbar waren, nicht mit Marmor verkleidet, sondern verputzt und als Marmor angestrichen wurden. Von Mies' Erfahrung können wir auch lernen, dass die Intelligenz eines Handwerkers/Erfinders/Architekten sich in Bezug auf die Optimierung und der angemessenen Versöhnung mit noch etwas anderem auseinandersetzen muss, nämlich mit der Praxis eines Entwurfs: den Umständen, unter denen ein Werk der Architektur entworfen und produziert wird und funktionieren muss.

UMSTÄNDE Man könnte sagen, dass die Aspekte utilitas, firmitas und venustas die inhärenten Qualitätskriterien eines Entwurfs in der Architektur sind. Aber wie steht es mit dem räumlichen und zeitlichen Umstand eines Entwurfs in der Architektur? Wie wir alle wissen, muss sich Architektur nicht nur mit den entwurfs-, oder besser schöpfungsinhärenten Aspekten auseinandersetzen. Als kulturelles Phänomen muss es sich auch mit den sozialen, wirtschaftlichen, gesetzlichen, den klimatischen Umständen oder den Gegebenheiten auseinandersetzen, die dem Zeitgeist entsprechen, um nur einige zu nennen. In anderen Worten: Jedes Werk der Architektur wird in einem geographischen und historischen Kontext geschaffen, der im weitesten Sinne kulturelle Gegebenheiten mit sich bringt. Nun, zu allererst sollten wir bedenken, dass Umstände sich ändern, so dass wir als Architekten sie nicht einseitig als gegeben nehmen und sorglos auf sie reagieren sollten (im Sinne von Form, Funktion oder Materialisierung), als ob wir schon alles wüssten.

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Eine schmerzhafte Lektion, die auch Ikarus lernen musste. Genau darum geht es aber bei praxis, darum geht es bei der Erprobung. Im Falle von Ikarus, den richtigen Klebstoff zu finden, der der Hitze der Sonne widerstehen kann, die richtigen Federn zu wählen, die dem Wasser des Meeres widerstehen können. Und mit Sicherheit musste Ikarus seine eleganten Flugfiguren immer und immer wieder machen, um herauszufinden, wie weit er die Grenzen der Haltbarkeit und Verwendbarkeit seiner künstlichen Flügel stecken konnte. Nur dadurch konnte er letztendlich ein Flugvirtuose werden. Im Sinne der Ikarianischen Praxis sind die Umstände etwas, mit denen man sich auf die gleiche kreative und intelligente Weise auseinandersetzen muss wie mit dem Entwurf selbst, weilletztendlich die Umstände, also die Praxis das Kriterium ist, das den wahren Wert eines Entwurfs bestimmt.

HAUS; EIN HAUS Ein weiteres fundamental architektonisches Beispiel ist das Haus. Der amerikanische Architekt Louis Kahn drückte es immer folgendermaßen aus: es gibt den Begriff "Haus" und es gibt "ein Haus". 10 "Haus", wie Kahn es nennt, bezeichnet die Idee, dass es etwas gibt, in dem menschliche Wesen leben. Dieses Etwas, das eine Funktion hat, das realisiert wurde und als solches eine Form angenommen hat, ist etwas, was wir in Europa, in Amerika, sogar in der Arktis finden können- tatsächlich können wir es überall finden. Überall kennt man dieses "Haus" genannte Etwas als Idee, aber dieses Etwas erhält nur eine Form durch die Intelligenz des Handwerkers, der diese Idee übersetzt, und durch die Umstände, in die es (als Idee) platziert wird. Erst dann wird es "ein Haus", erst dann drückt es sich selbst in einer spezifischen Form aus, als Ausdruck von Architektur, als kulturelles Phänomen. Also erhält die Idee "Haus" als kulturelles Phänomen architektonische Form und Wert (als "ein Haus") durch die Intelligenz des Architekten und unter dem Einfluss der zeitlichen (also historischen) und räumlichen (geographischen) Umstände, der Praxis dieser Kultur.

10 Kahn (199 1), S. 62, S. 77-78, S. 85-86, S. 106, S. 109, S. 113.

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IGLU Dies können wir am besten an einem der intelligentesten Werke der Architektur, die ich kenne, beobachten,- obwohl sie immer noch "primitive Architektur" genannt wird. 11 Die Menschen, die sich selbst "die Menschen" nennen, also die "Inuit", die in den arktischen Gebieten Kanadas und Grönlands leben und wohnen, nannten die Idee "Haus" "igdlu" oder "iglu", was "Haus" bedeutet. Und in ihrer K ultur wurde die Idee "Haus", "ein Haus" in der Form einer Schneekuppel, das bekannte Iglu. Die Umstände, die die Schöpfung dieser intelligenten InuitArchitektur beeinflussten, können wir uns nur vorstellen. Klimatisch Temperaturen von weit unter Null für neun Monate im Jahr. In den Küstengebieten, wo sie normalerweise leben, gibt es fast keinen natürlichen Schutz gegen den Wind und sie müssen ziemlich oft mit Schneestürmen und Blizzards fertig werden. Aber sie müssen sich als Nomaden, die im Winter nur kurz an einem Ort bleiben um zu jagen und zu fischen nicht nur gegen die klimatischen Gegebenheiten verteidigen, sie müssen auch mit den Eisbären zurecht kommen und mit Wölfen, die in dem Gebiet aufNahrungssuche umherstreifen. Als Baumaterial gibt es im Winter nur Schnee, ein Material, das die Eskimos in- und auswendig kennen. Dies zeigt schon ihre Sprache, die über mehr als dreihundert Worte verfügt, um unterschiedliche Arten von Schnee zu bezeichnen. Dies auch deshalb, um sich in einer Landschaft, die hauptsächlich aus Schnee besteht, orientieren zu können. Die Hauptfunktion (utilitas) ist klar: Schutz gegen strenge klimatische Gegebenheiten und mögliche Raubtiere. Die Mate1ialisierung (firmitas) wird durch das verfügbare Baumaterial (den Schnee) und die Werkzeuge bestimmt, die sie besitzen, um das Material zu bearbeiten. Zum Bauen war das ein langes Schneemesser oder eine Schneesäge, die aus einer Walrippe oder dem Geweih eines Rentiers hergestellt wurde. Ein solcher vorläufiger Schutzbau (nonnalerweise wird er fur die Dauer von einigen Wochen benutzt und dann ziehen sie zu anderen Jagd- oder Fischgründen) muss stabil sein und er muss leicht und schnell aufzubauen sein, denn je schneller man unter diesen extremen Bedingungen einen guten Schutz hat, um so besser ist es.

II Weiss (1988), Kershaw ( 1996), Yankielun (2007).

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Aber was ist mit der Form (venustas), der Schönheit, könnte man fragen? Nun, in diesem Fall wird die Form und ihre Schönheit hauptsächlich durch die Optimierung und der angemessenen Versöhnung zwischen Funktion und Materialisierung innerhalb der vorherrschenden Umstände bestimmt. Es war die Einsicht der Inuit, ihre Fähigkeit mit Körper und Verstand wahrzunehmen und damit auf Basis ihrer Erfahrungen die räumlichen und zeitlichen Umstände, mit denen sie sich in ihrem Entwurf von "einem Haus" auseinandersetzen mussten, intuitiv zu erkennen und zu verstehen. In anderen Worten: es war die kreative Intelligenz der Inuitkultur als solche, die den Iglu hervorgebracht hat, als die optimierte Antwort auf die Idee "Haus". Und ein Haus zu entwerfen bedeutet hier nichts anderes, als dass der Eskimo-Jäger durch lkarianisches Ausprobieren immer und immer wieder seine Erfahrung anwenden muss, während er subjektiv zwischen den Optionen, die er in Bezug auf eine angemessene Versöhnung von Form, Funktion und Materialisierung und den spezifischen Umständen hat, abwägt und wählt, und so bei einem Ausdruck seiner Idee ,,Haus" als "ein Haus" anlangt, seinem Iglu. Ein Entwurf, der kaum noch weiter optimiert werden kann. Unter "normalen" Umständen kann ein umherziehender Eskimojäger alleine ein Iglu in ungefähr einer Stunde bauen. Erst sucht er nach einer guten Stelle, also einem Ort mit festem, mindestens einem Meter tiefem Schnee. Mit seinem Schneemesser zeichnet er einen Kreis mit einem Durchmesser von ca. 3 Metern in den Schnee (ausreichend für 3 bis 5 Leute) und er bestimmt die Hauptwindrichtung. Auf der windabgewandten Seite macht er zwei parallele Schnitte in den Schnee, ungefähr 60 Zentimeter tief, 3 Meter lang und ungefähr 80 cm voneinander entfernt. Das wird später der Eingangskorridor. Dann fängt er an, einen keilförmigen Schneeblock am Anfang der beiden Schnitte wegzunehmen, damit er Platz zum Arbeiten hat und der später einen geneigten Eingang bildet, über den er reinrutschen und rauskrabbeln kann. Danach schneidet er mit seinem Schneemesser oder seiner Schneesäge ca. 20 cm dicke Schneeblöcke aus und legt sie auf die offene Schnee-Ebene, so dass die frischgeschnittenen Blöcke in der kalten Luft aushärten können. Nachdem er die notwendige Anzahl Blöcke geschnitten hat, platziert er im Kreis die erste Lage Schneeblöcke. Die Kanten der Blöcke sind so geschnitten, dass sie sich, wenn er sie nebeneinander platziert, alle leicht nach innen neigen. Nachdem er die erste Lage fertiggestellt hat, schneidet er die Oberseite so ab, dass eine Art Spirale entsteht.

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Diese Aufwärtsspirale ist für den eigentlichen Bauprozess wichtig. Denn ein Eskimo muss eine solche Kuppel alleine konstruieren können. Durch die Spirale erreicht er, dass die vertikalen Verbindungen der Blöcke in der nächsten Lage durch die Schwerkraft gegeneinander gedrückt werden, so dass sie nicht nach innen fallen. Der Eskimo arbeitet dann von innen, er schneidet Blöcke aus dem Boden, schafft damit mehr Höhe, er formt die Blöcke mit seinem Messer und schichtet sie weiter spiralförmig nebeneinander. Dabei zieht er sein Messer durch die vertikalen Fugen zwischen zwei Blöcken, wodurch er nicht nur erreicht, dass sie perfekt passen, sondern auch, dass sie besser zusammen halten, weil so die beiden Schneekanten wieder frisch und weich sind. Der letzte Block der Spirale wird eingepasst, indem er etwas größer gemacht wird, als das Loch eigentlich ist. Dieser wird dann in einer geneigten Position durch das Loch gesteckt und darauf gelegt und mit dem Messer so geformt, bis er wie ein Schlussstein passt. Etwaige Öffnungen zwischen den Blöcken werden mit weichem Schnee gefüllt, so dass der Eskimo am Ende in einer komplett geschlossenen Schneekuppel eingeschlossen ist. Das nächste, was gemacht werden muss, ist ein kleines Belüftungsloch auf der windabgewandten Seite, also über dem Eingang. Der Block, der anfangs den Eingang versperrt hat, wird weggeschnitten, so dass der Architekt aus seinem neuen Haus kriechen kann. Der Eingangskorridor wird mit weiteren Blöcken bedeckt und in die Seiten des Eingangskorridors schneidet er einige Nischen, in denen er Proviant lagern kann. Vor der Eingangsrampe wird eine kleine halbrunde Schneewand gebaut, eine Art Spoiler, um den Wind und den Schnee draußen zu halten. Nachdem der Eskimo diese erste Bauphase beendet hat, also nachdem er erstmal für den notwendigen Schutz unter so strengen Bedingungen gesorgt hat, kann er sich um den Feinschliff seines vorläufigen Hauses kümmern. Mit seinem Schneemesser schabt er die Innenseite seiner Kuppel so ab, dass er eine glatte, ebene Oberfläche erhält, d.h. er entfernt alle Kanten, die tropfen könnten. Dann nimmt er eine kleine Schüssel mit Robbenfett oder Walöl, welches er wie eine Kerze entzündet. Mit dieser geht er über die innere Oberfläche der Kuppel, wo die Wärme der Lampe ein leichtes Schmelzen bewirkt, gefolgt vom sofortigen Gefrieren der inneren Schicht der Schneekuppel, wodurch sie noch besser versiegelt wird. Dieser Prozess des leichten Schrnelzens, gefolgt vom sofortigen Gefrieren ist ein Prozess, der während der gesamten Zeit, in der das Iglu bewohnt wird, ganz langsam weiter läuft und die Schneekuppel immer mehr in eine Eiskuppel verwandelt. Jedoch

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ohne dass sie dabei ihre guten Isolationseigenschaften verliert, denn die neuen Schichten frischen Schnees, die auf ihr liegen bleiben, sorgen dafür. Der Begriff Isolationseigenschaften in Verbindung mit einem Haus aus Schnee kann verwundern. Nun, zwischen den Schneekristallen ist so viel eingeschlossene Luft, dass der Schnee tatsächlich ein sehr guter Isolator wird, etwas, was der Eskimo aus Erfahrung weiß. Wie er auch aus Erfahrung weiß, dass Schnee hygroskopisch ist, was bedeutet, dass Schnee sich wie ein Schwamm verhält. Sollten Sie also jemals durch das Eis brechen und ins Wasser fallen, benutzen Sie das Wissen der Inuit und rollen Sie sich im Schnee sobald Sie aus dem Wasser herauskommen, der Schnee wird das meiste Wasser aus Ihren nassen Kleidem saugen, was Ihnen eine viel bessere Überlebenschance gibt. Genauso weiß der Eskimo aus Erfahrung, dass er mit einer kleinen Öllampe ein Iglu auf ungefähr 10 Grad aufwärmen kann, während draußen Temperaturen von minus 40 Grad Celsius herrschen mögen. Er weiß auch, dass die Ebene des tieferen Korridors wie eine Kältesenke und eine Art Schleuse wirkt, die die warme Luft oben und drinnen hält. Die Form der Kuppel (die die Eskimos, wie ich annehme, wie Ikarus durch Ausprobieren entdeckt haben) ist nicht nur ökonomisch in Bezug auf Material und Bauphysik (größtes Volumen bei kleinster Oberfläche), sie ist auch eine der stärksten strukturellen Formen und ihre Form ist auch in Bezug auf Aerodynamik ideal. 12 Wir können also erkennen, wie die Umstände, in denen Architekturen wie der Iglu sich entwickeln, den Entwurfsprozess beeinflussen. Intelligentes Design bedeutet in diesem Fall, dass die Inuitkultur durch einen Ikarianischen Prozess des Ausprobierens - also das ständige Anwenden ihrer Erfahrung bei gleichzeitigem Abwägen und Wählen zwischen den Optionen, die sie in Bezug auf einer angemessenen Versöhnung von Form, Funktion und Materialisierung haben - zu einem Ausdruck ihrer Idee von "Haus" als "ein Haus" in der Form eines Iglus gelangen, der kaum noch weiter optimiert werden kann. Also, worin besteht diese Schnittstelle zwischen Intuition und Erfahrung, auf den sich der Titel dieses Aufsatzes bezieht? Nun, es ist die kreative Intelligenz der Menschen selbst. Eine kreative Intelligenz, die durch die Fähigkeit der

12 Nicht schlecht, wenn man es mit Eisbären und Winden mit Hurrikan-Stärke zu tun hat.

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Menschen entsteht, mit Körper und Verstand wahrzunehmen w1d sich etwas vorzustellen, also die Fähigkeit, zu erschaffen und über diese Schöpfungen nachzudenken, sowohl rational als auch emotional. Im Sinne der Architektur bedeutet dies, dass der sogenannte Architekt eine Verantwortung hat, nicht nur in Bezug auf die inhärenten Aspekte der Schöpfung (Form, Funktion, Materialisierung) intelligent vorzugehen, sondern auch in Bezug auf die Breite der kulturellen Umstände, in die seine Schöpfung, sein Werk der Architektur, eingehen wird.

THERMALBAD IN VALS Irgendwo weit weg, in einem Tal in den Alpen, das man nur schwer erreichen kann, gibt es ein kleines Dorf. Ein Dorf mit kleinen Steinhäusem, das wirtschaftlich nur durch den ständigen Strom durchschnittlicher Leute überleben konnte, die seine Thermalquellen besuchte, denn es war ein Kurort und diese Besucher würden ein bis zwei Wochen zur Heilung in dem kleinen Dorf bleiben. Die hauptsächlich deutschsprachigen Leute kamen zu diesem entlegenen Kurort für eine Behandlung mit dem Thermalwasser, Luft, Sonnenlicht und Entspannung, da es verhältnismäßig günstig war und zum Teil von ihrer gesetzlichen Krankenkasse bezahlt wurde. Aber aufgrund der ständig steigenden Kosten im Gesundheitswesen änderte der Staat seine Politik in Bezug auf diese Art des Urlaubs, so dass der konstante Strom von Leuten abriss. Das kleine Dorf, seiner Haupteinnahmequelle beraubt, stand in Gefahr, eine Geisterstadt zu werden. Neben den Thermalquellen hat das Dorf außerdem einen Steinbruch, der einen guten Baustein liefert und Handwerker, die dieses Material (Gneis) wie Meistersteinmetze verarbeiten können. Und irgendwo in der Nähe finden sie einen Architekten, der nicht nur sensibel und intelligent genug ist, um die angemessene Versöhnung der inhärenten Aspekte der Architektur utilitas, firmitas und venustas zu meistem, er besitzt auch die kreative Intelligenz, mit den örtlichen und kulturellen Umständen fertig zu werden. Er erkennt, dass es keinen Sinn macht, noch ein Unterhaltungsbad, mit noch mehr tropischen Vergnügungen, noch längeren Wasserrutschen oder einem Becken mit noch höheren Wellen zu bauen - nicht in einer Zeit, in der diese beliebte Art des Unterhaltungsbades fast überall gefunden werden kann. Er versteht außerdem, dass dieses Bad, im Vergleich zu den meisten anderen, auch noch einen großen Nachteil hat, es ist abseits der Haupttouristenstrecken und es ist nicht leicht so ein Thermalbad,

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hoch oben in einem entfernten Tal in den Alpen zu erreichen. Aber dieser Nachteil könnte ein Vorteil werden, wenn man die Sache im Sinne einer Pilgerfahrt betrachtet. Ein Pilgerort muss seiner Natur nach entlegen und nicht zu leicht erreichbar sein, sonst wäre es keine echte Pilgerfahrt mehr. Die Aussicht auf ein warmes Bad in einer stillen und meditativen Atmosphäre jedoch, um so Körper und Geist nach einer langen und nicht ganz einfachen Reise zu entspannen, kann sehr ansprechend und verftlhrerisch sein. Also nutzt dieser Architekt seine kreative Intelligenz, um das beste aus den Umständen herauszuholen, die er in diesem entlegenen kleinen Dorf antrifft: die heißen Quellen, der lokale Stein, die Handwerker etc. -und nicht zu vergessen das billigste ,,Material", das dem Architekten, der es einzusetzen weiß, immer zur Verfügung steht: Raum und Licht. Also entwarf er für dieses kleine Dorf ein Thern1albad wie einen Pilgerort. Das Thermalbad in Vals in der Schweiz von Peter Zumthor. 13 Der Architekt war auch so intelligent, nicht nur auf das verführerische Bild oder die außergewöhnliche Form zu setzen. Der Architekt verstand von Anfang an, dass es ein Werk der Architektur sein musste, das einen Einfluss auf all die Leute hatte, die es besuchten. Es musste ein Werk der Architektur sein, das, während man es erlebte, etwas so Grundlegendes und Elementares generierte, dass kein Besucher dem entgehen konnte. Es ist ein Werk der Architektur, das Erfahrungen auf einer so fundamental phänomenologischen Ebene erzeugt, dass Besucher die Freude an diesen Erfahrungen nie nach nur einem Besuch verlieren, was sie wahrscheinlich dazu bringt, immer und immer wieder zurückzukehren. Ich denke auch hier haben wir es mit einem Werk der Architektur zu tun, das uns in einer Art kinästhetischen Erfahrung einschließt. Und ich wiederhole, damit meine ich die körperliche und mentale Erfahrung, die alle unsere Sinne und unsere Vorstellungskraft einbezieht und dadurch primäre um nicht zu sagen primitive Gefühle weckt, die wiederum in uns eine echte Intuition von Schönheit entfachen. Mir scheint, dass Zumthor und Mies denselben Lehrer hatten, der diese Art des phänomenologischen mise en scene, den Einsatz von Raum, Licht und Bewegung in ihrer Architektur beeinflusste. Dabei beziehe ich mich auf den Schweizer Künstler und Visionär des modernen Theaters zu Anfang des

13 Zumthor (1996), Zumthor (2007).

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20. Jahrhunderts, Adolphe Appia. 14 Zumthor und Mies nehmen (so scheint es) Appias Konzept des Espace Rythmique auf. Räume, die frei ineinander überfließen, definiert in der elementarsten und abstraktesten Form durch das auf den horizontalen Ebenen der Böden und den vertikalen Oberflächen der Wände sichtbar werdende Licht. Auf diese Art lenken sie die Choreographie der Bewegungen und die Reihenfolge der verschiedenen Atmosphären, durch die die Besucher passieren, während sie das mise en scene von Raum, Licht und Bewegung erfahren, auf einer unbewussten Ebene, nämlich auf der der Architektur, in der sie mit all ihren Fähigkeiten der Wahrnehmung und der Vorstellung einbezogen sind. Was ist diese Schnittstelle zwischen Intuition und Erfahrung? Es ist die kreative Intelligenz der Menschen selbst. Eine durch die menschliche Fähigkeit, mit dem Körper und dem Verstand wahrzunehmen und sich etwas vorzustellen, erzeugte kreative Intelligenz, die es ihnen erlaubt, etwas zu erschaffen und das Erschaffene zu reflektieren, sowohl rational als auch emotional. Nun könnte ich hinzufügen, dass die Schnittstelle zwischen Intuition und Erfahrung nicht nur die kreative Intelligenz des Menschen selbst ist, sondern auch seine emotionale Natur, die ihn Aspekte von "Schönheit" in einer Erfahrung erkennen lässt, wie es Ikarus im Flug erfahren haben muss.

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14 Appia ( 1982), Loefler (1982).

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Topographien des Flüchtigen zwischen Notation und Raumorganisation Architektonische Bezüge in den choreographischen Werkzeugen William Forsythes

KIRSTEN MAAR

ERSTER ANFANG Beginnen wir mit dem Begriff der Architektur, der - führt man ihn auf seine etymologischen Wurzeln zurück - im Griechischen aus arche dem Anfang und tekton dem Bauen zusammengesetzt - das Bauen des Anfangs bedeutet: Jacques Derrida beschreibt arkhe in seiner doppelten Bedeutung als Anfang und Gesetz - als das, was unter Berufung auf einen geschichtlichen oder natürlichen Ursprung eine Ordnung bestimmt, der gemäß sich die Relationen zwischen den Dingen entfalten. 1 Arkhe beschreibt/verweist damit (auf) eine bestimmte "Architektur" des Wissens, wie sie bereits im Zusammenhang zwischen einer räumlichen Anordnung und der so organisierten Etinnerung in der klassischen Rhetorik als Modell der Mnemotechnik beschrieben wird. Jenseits einer statischen Dimension von Architektur wird hier bereits eine Dynamisierung angelegt, die über raum-zeitlich organisierte Prozesse operiert. Die Geste des Anfangens - wie sie innerhalb eines Entwurfsdenkens2 , dem

Derrida ( 1997), S. 9 ff. 2

Ausfuhrliehe Überlegungen zum Verhältnis von Notation und Archiv habe ich in einem früheren Text entwickelt: Maar (20 10).

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die Reflexion über den Zusammenhang von Werkzeug und Denkzeug nachgehen könnte, wird hier nicht als Ur-Anfang verstanden, sondern als sich immer wieder neu Ereignendes oder als Wiederholung, die aber mit einer steten Verschiebung einhergeht.

ZWEITER ANFANG Betrachten wir im Folgenden den Zusammenhang von Architektur und Choreographie: Beide bestimmen in ihren verschiedenen Ausfonnungen als grundlegende raumbestimmende (Denk)-Modelle das tägliche Leben. Mittels verschiedener Modi der Repräsentation und performativer Setzungen schreiben sie dem Raum ihre Rahmungen, ihr Vokabular, ihren Stil und somit verschiedene Umordnungen ein. Die Frage ist jedoch, wie sie benutzt werden, unter welchen politischen und ästhetischen Anspruch sie sich stellen, welches Konzept sie "verkörpern". Räume entstehen durch Bewegung - sei es durch die konkrete körperliche Bewegung im Raum- in den Choreographien des Alltags wie auf der Bühne - sei es auf metaphorischer Ebene durch die "Denkbewegungen" des Architekten beim Entwerfen. Umgekehrt räumt der Raum die Möglichkeiten wechselnder Relationen der Dinge und Menschen in ihm ein, er ermöglicht einen Prozess, der an den Bedeutungsproduktionen und -Verschiebungen und den daraus resultierenden Aktionen beteiligt ist. 3 Notationen als Denkformen choreographischen Wissens Choreographie als Praxis des "Raum-Schreibens" (griech. choros/graphein) bedeutet nicht mehr nur Notation von Tanz, wie es seit 1700 - seit Raoul Auger Feuillets erster systematischer Tanznotation - lange üblich war. Im 20. Jahrhundert hat sich der Alezent vielmehr vom Setzen der Schritte auf die Komposition von Tänzen verlagert, wobei die Spannung zwischen strukturierenden Regeln

3

Bauen und Bewegung gelten als Akte der Raumordnung, die zur Reproduktion meist zweckorientierter Bewegung befestigt wird - und der eine Denkweise zugrunde liegt, welche die Kulturen als stabilisierte Raumordnungen begreift, als festgeschriebene Architektur, die so erst eine Erinnerungskultur und darüber Gemeinschaft stiftet, wie sie in bestimmten (alltäglichen) Ritualen ihren Ausdruck findet. Auffassungen, nach denen sich die gebaute Umwelt und die performative Handlungen gegenseitig erst in Architektur verdichten werden u.a. bei Ludger Schwarte (2009) beschrieben.

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und deren Ausführung bestimmend ist. 4 Die Notation sollte seitdem nicht nur dem Tanz dauerhaft Relevanz verleihen, sondern auch seine Analysierbarkeit gewährleisten, und dadurch alternative Modi der Komposition ermöglichen. Sie lässt sich sowohl retrospektiv zur Aufzeichnung des Vergangeneu und Vergehenden als auch projektiv im Entwerfen neuer Choreographien einsetzen. Mittels notationell verfasster Regeln wird eine Anordnung beschrieben, innerhalb deren sich die Bewegung erst entfalten kann. Ob diese Reihenfolge jedoch immer so linear verläuft, ist zu hinterfragen, so ob es nicht durchaus auch Rückkopplungsprozesse zwischen der Partitur, der Anweisung oder Regel und ihrer Ausführung gibt. Ebenso muss danach gefragt werden, auf welche impliziten Muster und Strukturierungen der Prozesse des (Körper-) Wissens dabei zurückgegriffen wird. 5 Angesichts technologischer Veränderungen medialer Dispositive ist die Tanznotation dahingehend zu betrachten, welches Verhältnis zwischen Regelwerk undAusfiihrung in ihnen angelegt wird. Am Beispiel zwei er choreographischer tools von William F orsythe soll gefragt werden, wie die unterschiedlichen Modi der VerzeichnungvonBewegung als generative Werkzeuge wirksam werden, oder ob sie als Bedingung von "Formbildungen" im Tanz gelten können. Geben sie Wahrnehmungsordnungen oder Dispositive des Zusammenspiels von Wissen, bestimmten Techniken und Bedeutungsgenerierungen vor, und können sie schließlich auch als eine spezifische Weise der Forschung gelten?6 Mit den technischen Möglichkeiten digitaler Aufzeichnungsverfahren verändern sich auch die choreographischen Notations- und Entwurfsverfahren. Zahlreiche Choreographen haben in den vergangeneu Jahren ihre Stücke digitalisiert und ihre Arbeitsweisen über unterschiedlichste Systeme zugänglich gemacht. Merce Cunningham war einer der ersten, der sich bereits früh intensiv mit den Möglichkeiten neuer Technologien auseinandersetzte und sich hiervon auch eine Erweiterung des Spielraums seiner zufallsbasierten Choreographien versprach. Vergleichbar den Entwicklungen in anderen Künsten

4

Brandstetter: Eintrag "Choreographie" (2005).

5

Zu ergänzen ist hier, dass trotz der Betonung der Wichtigkeit von Tanznotation wenige Choreographen tatsächlich im choreographischen Prozess mit den klassischen TanzNotationssystemen, wie der Labanotation oder Benesh-Tanzschrift arbeiten, sondern vielfach eigene Aufschreibesysteme entwickeln.

6

Vgl. dazu: Gehm/Husemann/Wilcke (2007).

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nahm auch die Choreographie die sich ausdifferenzierenden Möglichkeiten digitaler Technologien wahr (vor allem auch, weil sie präzisere Aufzeichnungsmöglichkeiten im choreographischen Prozess selbst ermöglichten) und eignete sich im Zuge dieser Orientierung Technologien und Arbeitsweisen aus anderen Disziplinen an, wie z.B. Video-Animation bzw. computergenerierte Design- oder Architektur-Entwurfsprogramme. Gerade der Prozess der Übertragung aus anderen Künsten oder Disziplinen erlaube es, "anders zu sehen"7 - in diesen Übertragungen läge das Potenzial des "Neuen", Veränderlichen, der überraschenden Variante. Inwiefern nun verstehen sich jene jüngeren Notationsverfahren, die in Nachbarschaft und Ergänzung zu den bereits vorhandenen Aufzeichnungsmethoden, zu Videoaufzeichnungen und digitalen Motion-Tracking-Verfahren entstanden, als tools zwischen dokumentarischen, analytischen, entwurfsorientierten Zwecken und ern1öglichen darauf basierend alternative Formen des Forschens? Mitte der 1990er Jahre stellte William Forsythe~ mit den Improvisation Technologies - An Analytical Tao! for the Dance Eye9 ein Programm vor, das neu zur Company kommenden Tänzern einen Zugriff auf bestimmte Techniken der Relationierung zwischen einzelnen Körperteilen ermöglichte und erlaubte, deren räumliche Ausrichtung zu konzeptualisieren, und das darüber hinaus auch als eine Art "Gedächtnis" jener Improvisationstechniken galt. Mittels digitaler Technik werden im Raum erzeugte Bewegungsspuren beziehungsweise imaginierte Bewegungslinien mit gezeichneten Linien dargestellt und so räumliche Beziehungen sowohl der Verhältnisse der Körperteile zueinander als auch im Umraum - seiner Kirresphäre - angezeigt. Das Interesse, das Forsythe im Rückgriff auf einen der Pioniere einer analytischen Herangehensweise an den Tanz - Rudolf von Laban 10 - leitete, fokussierte er so: Wie

7

Vgl. dazu: Groves/deLahunta/Zuniga-Shaw (2007).

8

Forsythe leitete seit 1984 das Ball ett Frankfurt. Patricia Baudoin und Heidi Gi lpin bezeichnen seine choreographische Arbeit im Vergleich mit den dckonstruktivistischcn Ansätzen eines Danicl Libcsk:ind als "Architccturc of Disappcarancc", dics.(2004).

9

Forsythc: Improvisation Tcchnologics, A Tool for Thc Analytical Dancc Eyc, CD-Rom 1999, hg.v. Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhc und deutsches Tanzarchiv Köln, Screendesign Chris Ziegler.

10 Rudolf von Laban (1879-1958) war einer der Protagonisten des deutschen Ausdruckstanzes: u. a. entwickelt er ein Notationssystem, das noch heute unter dem Titel Labanno-

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kann man analysieren, während man tanzt? 11 Gerade in den sich durch einen hohen Anteil an improvisatorischen Sequenzen auszeichnenden Choreographien Forsythes ist diese analytische Fähigkeit von hoher Relevanz. (Denn nur vor dem Hintergrund des virtuosen Umgangs mit diesen zu inkorporierenden Techniken und der erhöhten Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit der Tänzer können die komplexen improvisatorischen Interaktionen innerhalb der Company bewältigt werden.) Forsythe orientiert sich dabei u.a. an Labans Auffassung des Tanzes als "lebendiger Architektur".12 Laban entwickelt ausgehend von den Schwungskaien, den Bewegungen des stehenden Tänzers ein Raummodell in Form eines Ikosaeders - dieser bildet die Kinesphäre- den Umraum, innerhalb dessen sich der Tänzer bewegt- eine Form, deren Impulse in den Raum hinaus weiterwirken. Dieses Modell der Kinesphäre wird bei Forsythe erweitert; er verlagert und vervielfacht den bei Laban noch festgelegten Körperschwerpunkt in die Extremitäten und schafft so eine Vielzahl bewegungsmotivierender Zentren, von denen aus die Tänzer Bewegungen in alle Raumrichtungen initiieren können. Der Verlust der zentrierten Körperachse, wie sie im klassischen Ballett und auch bei Laban immer noch besteht, und ein verschobener, in sich verdrehter Körper bilden das Resultat. Ausgehend von den im Verhältnis zum Körper gedachten Linien werden Bewegungsfiguren entwickelt, die in einzelnen Kapiteln wie zum Beispiel writing, reorganizing, imagining lines oder folding erläutert werden. 13 Dabei bleibt- wenn ein Tänzer eine Bewegung aufnimmt und transformiert- immer mindestens ein Parameter der Bewegung erhalten, die anderen werden nach und nach variiert. So kann z.B. die gedachte Linie zwischen zwei Punkten

tation vetwendet wird. In einer seiner bedeutendsten Schriften: Choreutik. G rundlagen der Raum-Hannonielehre des Tanzes, ( 1991), stellt er die Bewegungszusammenhänge im Modell der Kinesphäre dar, seine Antriebslehre (Eukinetik) ergänzt dieses System. 11 Er spürt damit dem Zusammenhang von Bewegung, Wahrnehmung, Denken, Sprache und Handeln nach, der ftir das choreographische Entwerfen von zentraler Bedeutung ist. Wie kann ich eine komplizierte Tanzbewegung vennitte1bar und damit übertragbar machen? Choreographie wird damit bereits ansatzweise aus der allzu engen Kopplung an den Kö rper herausgelöst. 12 Laban ( 199 1), S. 14. 13 Siehe : http://www.youtube.com/watch?v=ogsdGjAtyDc (Zugriff: 0 1.03.201 2).

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zuerst in bestimmter Weise gedreht werden, dann kann diese Bewegung von einem anderen Körperteil übernommen werden. Die Ausrichtung im Raum wird dabei geändert, oben - unten, rechts - links werden umgekehrt. Ein anderer Tänzer könnte einen Teil dieser Bewegung mit einem andern Körperteil, z.B. der Schulter, dem Ellenbogen oder dem Ohr, weiter in den Raum schreiben oder auf den Boden usw. Wie die Tänzer ihre Entscheidungen treffen, welchen Teil einer Bewegung, welche Qualität sie auf welche Art interpretieren, davon hängt das gesamte Zusammenspiel der Tänzer innerhalb der komplexen Choreographie ab. Diese Linien werden ins Unendliche gefaltet, gedreht und verschoben- die Bewegung wird dabei stets weiter transformiert. Dieser Prozess, der auf Wiederholung und der ihr eingeschriebenen Differenz beruht, kann als eine Technik der Faltung und Entfaltung von Bewegung betrachtet werden- insofern als in dieser "Technik" das Nach-Innen-Spüren und die nach außen gerichtete Aufmerksamkeit bzw. die Sensibilisierung für den Anderen zusammenkommen. Bewegung wird nicht allein gedacht, sondern etabliert immer ein Verhältnis zu etwas oder jemand anderem. 14 Das Körperwissen befindet sich dabei in ständiger Anpassung, es oszilliert zwischen verschieden gedachten Positionen und Verhältnissen und gleicht diese an der Grenze zum tatsächlichen Fallen oder zur Verletzung aus. Diese Art und Weise der "Entfaltung von Bewegung" lässt sich auch mit Ansätzen der Fraktalgeometrie beschreiben. Dabei handelt es sich um die von Benolt Mandelbrot 1975 eingeführte Geometrie, die nicht einfache Formen wie in der euklidischen Geometrie behandelt, sondern bestimmte komplexe Gebilde und Erscheinungen, wie sie auch in der Natur vorkommen, z.B. im Adernetz, auf der Gebirgsoberfläche, in Luftwirbeln. Ihre Eigenschaften sind die Selbstähnlichkeit - d.h. jeder noch so kleine Ausschnitt ähnelt bei entsprechender Vergrößerung dem Gesamtobjekt - und die gebrochene (fraktale) Dimension. So liegt z.B. die Dimension der Oberfläche eines Gebirges zwischen der Zweidimensionalität einer Ebene und der Dreidimensionalität eines Körpers. Mithilfe der Fraktalgeometrie können komplexe Erscheinungen mathematisch erfasst und am Computer simuliert werden. "Dass die Ord-

14 Die Falte als Bewegungs- und Vermittlungsfigur wird im Tanz z.B. bei Loie Fuller diskutiert. Gilles Deleuze entwickelt eine philosophische Theorie der Falte. Ders.(2000). Dieser Ansatz wird in den 1990er Jahren für den Diskurs um die Computergestützen Entwurfsverfahren übernommen.

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nung innerhalb des Chaos so lange verborgen geblieben ist, liegt an seiner fraktalen- zwischen Punkt, Linie, Fläche und Raum liegenden- Dimension. Die Struktur des Fraktalen kann man als "re-entry" der Form in die Form beschreiben, als eine Form, die in sich selbst hinein kopiert wird." 15 Auf die Komposition von Bewegung übertragen, bedeutet dies, endloses Material aus einer einzigen Bewegung heraus zu produzieren. Durch die Bearbeitung mittels einer fraktalen Iteration erfährt der Tanz eine Ausdehnung in sich selbst, analog einem geschliffenen Stein, dessen Schnittflächen weitere eingeschriebene Oberflächen widerspiegeln. Diese Form der Generierung von Bewegung kann natürlich nicht 1: 1 übersetzt werden. Sie stellt lediglich eine Idee, einen möglichen Ansatz dar und ist dabei immer abhängig von den Entscheidungen der einzelnen Tänzer.

ZWISCHENRÄUME DER INTERAKTION In der choreographischen Arbeit wird diese Form der Bewegungsgenerierung mit verschieden kombinierbaren Regelsystemen kombiniert, was zu einer außerordentlichen Komplexitäts-steigerung innerhalb eines sich im Moment generierenden AuffLihrungstextes beiträgt. So entstehen Bilder von Körpern an der Grenze zur scheinbaren Instabilität, die den Augenblick des drohenden Zusammenbruchs oder des Scheiterns einer Bewegung zu fokussieren scheinen, aber tatsächlich auf der hohen Virtuosität der Tänzer beruhen. Bei dieser Virtuosität handelt es sich nicht allein um die Perfektion der komplexen Bewegung eines trainierten Körpers, sondern um den spezifischen Umgang mit einem bestimmten Vokabular, die Fähigkeit, Momente des "in-between" in der Improvisation herbeizufLihren. Weniger geht es darum, einen geformten, sondern vielmehr einen in dynamischer Vielfalt re-/agierenden Körper herauszubilden. Daher werden im Training verschiedene Methoden erarbeitet, um die Selbstwahrnehmung des Körpers, seine Durchlässigkeit sowie seine Fähigkeit, auf andere zu reagieren, zu steigern - "Situationen herzustellen, in denen es unmöglich ist, den Körper in gewohnter instinktiver Weise zu

15 Norbert Bolz, Das kontrollierte Chaos. Vom Humanismus zur Medienwirklichkeit Düsseldorf/Wien I 994, I 64f. Der Begriff des re-entry stammt von George Spencer Brown, Laws ofForm. New York 1979.

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koordinieren." 16 Innerhalb dieser Situationen wird eine explizit der Situation gemäße "Architektur" geschaffen, die sich sowohl durch die körperliche Erfahrbarkeit auszeichnet als auch über sich hinaus verweist. Die ephemeren imaginären Vorstellungsbilder, mit denen die Forsythe-Tänzer arbeiten - z.B. in Bezug auf die eigenen vorangegangenen Bewegungen - werden realiter zu einer "Architektur des Verschwindens"17, in der die nächste Bewegung immer schon vergangen ist. Architektur ist hier aber auch im übertragenen Sinne als das entwerfende Zusammenspiel von räumlicher Koordination und raum-zeitlich organisierten Wissensformen zu verstehen. Darüber hinaus sind die Ent-/Faltungen von Bewegung daran beteiligt ein Verhältnis zwischen Körperinneren und -außen zu schaffen und dieses dynamische Gefüge - oder agencement (Deleuze/Guattari)l 8 -produktiv - im Sinne der Affizierung des Zuschauers einzusetzen. Die Qualitäten der eigenen leiblichen Erfahrung überschneiden sich mit der Erfahrung des Außen und des Anderen. Dieser Zwischenraum ermöglicht es, eine bestimmte Haltung zueinander einzunehmen, er eröffnet einen improvisatorischen "Handlungsraum". Die Interaktionen mit den anderen Tänzern erfordern aber auch ein ständiges Oszillieren in der Zeit: Antizipation und Präsenz. Jene raumzeitlichen Intervalle sind wesentlich daran beteiligt neue Bewegungsspielräume zu eröffnen. So arbeiten die Forsythe-Tänzer mit Techniken, in denen es um den gezielten, kurzzeitigen Verlust der körperlichen Orientierung geht. Dafür ist u.a. die proprioception wesentlich - als eine Fmm der Selbstwahrnehrnung, die jedoch in Relation zur Umgebung angelegt ist. Ebenso wichtig ist das entrainment. Darunter versteht Forsythe "the process that occurs when two or more people become engaged in each other' s rhythms, when they synchronize, [ ...] it is about experiencing someone else." 19

16 Caspersen (2004), S. 11 2. Caspersen beschreibt dies im Hinblick auf andere, später entwickelte Techniken, Jedoch lässt sich ihre Aussage m. E. bereits hierauf anwenden. 17 Baudoin/Gilpin (2004). 18 Zum Begriff des Gefuges: Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, (199 1) S. 12 f. 19 Steven Spier, Engendering and Composing Movement. Unter: http.//www.frankfurtballett.de/spier.html (Zugriff: 16. 09. 2003).

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In Kombination erfordern diese Techniken Fähigkeiten, die einem inneren Navigationssystem ähneln, das zeitlich operiert und wesentlich schneller ist als die Orientierung über das Sehen.20 Denn mit einer lediglich visuellen Orientierung, die erst wieder rückübersetzt werden müsste, kämen alle wichtigen physischen Re-/Aktionen zu spät. Dieses Re-/ Agieren ist im Sinne einer Verantwortung für den Anderen gefasst, denn die Bewegungen der einzelnen Tänzer sind jeweils abhängig von den Entscheidungen der anderen Tänzer. In diesen Ausführungen zeichnet sich ein Ansatz ab, den ich als diagrammatisch bezeichnen möchte. Nicht nur wird das Diagramm als Entwurfswerkzeug der Visualisierung in den Improvisation Technologies eingesetzt, es weist im Allgemeinen auch über die zeichnerische Dimension hinaus. Diagrammatik ist insofern als dasjenige zu verstehen, das "zwischen zwei" Punkten (oder Personen oder Körperteilen) Verbindungen schafft, diese aber auch wieder ausstreicht, verwischt und somit neue Verbindungen eingeht, neue Gefuge entwirft.

SYNCHRONOUS OBJECTS: ORGANISATION DES RAUMES Während die Improvisation Technologies die imaginären Vorstellungsbilder und Bewegungsspuren des einzelnen Tänzern im Verhältnis zu seinem Umraum untersuchen, versucht ein anderes tool gerade das sich letztlich daraus ergebende Zusammenspiel der Tänzerinnen zu visualisieren und die Strukturen einer Choreographie aufzuzeichnen. Den Ausgangspunkt fllr das entwickelte online-tooF1 bildet die Choreographie One Flat Thing, reproduced (2000), die in Anlehnung an die konzeptuelle Metapher der barocken Maschinerie formale Prinzipien des Kontrapunkts untersucht. Ein Anangement von zwanzig Tischen, zwischen, auf, über und unter denen sich die Tänzer bewegen, teilt den Raum rasterartig auf und bestimmt durch Höhe und Breite der Tische und ihre Zwischenräu-

20 Vgl. dazu Massmni (2002). 21 Zusammenarbeit zwischen der Forsythe Company, dem Advanced Computing Center for the Arts and Design (ACCAD) und dem Dance Department der Ohio State University.

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me auch das Bewegungsmaterial der Tänzer. Die choreographische Struktur besteht zum größten Teil aus choreographisch festgesetzten Abschnitten, die aber von improvisatorischen Sequenzen durchbrachen werden. Der Tanzfilmer Thierry de Mey nahm die Choreographie von oben und von vorn auf, und diese Aufnahmen dienten als Material für die Untersuchungen und Forschungen zu Synchronaus Objects dazu, die unterschiedlichen Adaptionen und Bewegungsabläufe darstellbar und nachvollziehbar zu machen. Um die choreographische Arbeit zu decodieren, wurden sowohl die Beobachtungen von außen wie auch die internen Verabredungen zwischen den Tänzern, die auf dem inkorporierten Wissen der Tänzer bemhen und es gleichzeitig ausmachen, verzeichnet. Räumliche Daten, welche sich aus der Analyse der Videos ergaben, wurden mit den qualitativen Beschreibungen der Tänzer ergänzt und abgeglichen. Das dichte Geflecht von Relationen wurde schließlich durch handgezeichnete Linien, die sich aus den Informationen der Tänzer ergaben, visualisiert. Auf vielfache Weise wurden so verschiedene Aspekte eines spezifischen Tänzerwissens - kinästhetische Empfindungen, das Bewusstsein über die Relationiemng der Körperteile zueinander und die Verarbeitung der eigenen Intentionen in der Interaktion mit anderen - integriert. Ziel war es, über eine multimediale Partitur Zusammenhänge herzustellen, die über die formalen Beziehungen zwischen Bewegungsmaterial und Phrasierung hinausgehen. Drei Systeme strukturieren die Arbeit: das Bewegungsmaterial einerseits, ein ausgefeiltes cueing (Stichwort-System) und die alignments, welche die Ausrichtung und Anpassung an die anderen Tänzer bestimmen. Unter den verschiedenen tools, die auf der Webseite verfügbar sind22 , entspricht der "Cue Score" noch am ehesten einem traditionellen Notationssystem. Hier sind alle Tänzer tabellarisch verzeichnet, und die verbindenden Linien zeigen an, wer wann welche cues gibt und von wem er welche empfängt; wie bei jedem Notationssystem werden jedoch andere Parameter ausgeblendet; die räumliche Struktur beispielsweise erschließt sich nur in der Kombination mit dem Film. Das Bewegungsmaterial wird im Movement Material Index vorgestellt. In der Videodarstellung unter dem Titel "Alignment Anotations" (von vorn) beziehungsweise einer Darstellung des "Cue Annotations" (von oben) mittels handgezeichneter Linien auch dies gerrau vermerkt;

22 Siehe http://synchronousobjects.osu.edu/ (ZugriffO 1.03.2012).

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ersteres zeigt die alignments als Relationen in Raum und Zeit, das zweite die komplexen Stichwortsysteme im Stück. In einer weiteren Darstellung, den "3D Alignment Forms", werden diese Linien zu Spurformen und beschreiben schließlich dreidimensionale Gebilde. Diese Übersetzung der raum-zeitlichen Vorgänge ins Drei-Dimensionale wird auch unter den Überschtiften Statistical Counterpoint, Fumiture System, Movement Density, Motion Volumes, Difference Forms in unterschiedlicher Art und Weise dargestellt. Rebecca Groves, langjährige Dramaturgirr der Forsythe-Company, beschreibt Synchronaus objects als eine Investition in tänzerisches Wissen, die durch visuelle Referenzen an andere Felder und Disziplinen neue Sehgewohnheiten erschließt. 23 Dies entspricht den bereits erwähnten Erwartungen der Choreographen an das kreative, verändernde Potenzial der Übertragungsbewegungen - doch welche spezifischen Qualitäten kommen durch die sich gegenseitig kommentierenden Bildwelten tatsächlich hinzu? Welche In-Formation ermöglicht einen Ansatz, der verschiedene Wissensformen verbindet und die Erscheinungsformen von Bewegung evident werden lässt? Ziel von Synchronaus Objects ist nicht ein herkömmliches Notationsprogramm, das Bewegung zur Re-Produktion aufzeichnet. Vielmehr soll es jene Aspekte veranschaulichen, die dem ungeübten Zuschauerblick sonst aufgrund der Flüchtigkeit der Bewegung entgehen. Deutlich wird, dass jede Partitur mit einer bestitnmten Art und Weise der Darstellung auch ihre eigenen Grenzen reflektiert und festlegt und immer nur seine eigene Ästhetik abbilden kann. Dem wird Rechnung getragen, indem man auf die Motion Bank verweist, eines auf vier Jahre angelegten Forschungsprojekts (2010-2013), innerhalb dessen andere Choreographen, u.a Deborah Hay, Jonathan Burrows und Matteo Fargion und Bebe Miller eigene online-Partituren entwickeln, die sie ihren besonderen Anforderungen an das jeweilige choreographische Denken anpassen, das wiederum je andere Darstellungsmodi erfordert.

23 Sie verbindet dies mit Edward Saids Konzept kontrapunktischer Kritik, die kulturbezogene Texte wie Romane oder Opern mittels polyvokaler Verbindungen zwischen Kulturen, Genres, Zeitabschnitten einer Analyse unterzieht und so alternative Lesarten ermöglicht, vgl. Groves/deLahunta/Zuniga-Shaw (2007), S. 94.

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ÜBERTRAGUNGEN- DYNAMISIERUNG DER FORM IN DER ARCHITEKTUR Synchronous Objects gilt den Produzenten als Erforschung dessen, was wir im Tanz sehen und wie jene Spuren der Bewegung übertragen und visualisiert werden können. Um die organisatorischen Strukturen der Choreographie und die Verbindungen zwischen den Tänzern darzustellen - um bestimmte Dynamiken, die für die Synchronisierung des komplexen Beziehungsgeflechts zwischen den Tänzern entscheidend sind, sichtbar und auch für ein tanz-ungeübtes Publikum nachvollziehbar zu machen- wurden (vergleichbar den Improvisation Technologies) auch hier Darstellungsweisen aus anderen Disziplinen integriert: Filmische Animation, bildgebende Verfahren aus den Naturwissenschaften und computergenerierte Entwurfsverfahren aus der Architektur finden ihre Anwendung. So waren bei der Entwicklung von Synchronous Objects Spezialisten aus Computerwissenschaft und Bewegungsanalyse, aus Statistik und Geographie, aus Design und auch aus der Architektur beteiligt. 24 Notationen gelten sowohl in der Choreographie wie auch in der Architektur als wichtiges Werkzeug im Prozess des Entwerfens, das vor allem aber auch den Status als Denk-Werkzeug zu fungieren erfüllt. 25 Als Medium, mit Hilfe dessen Bewegung unter dem Aspekt der Raumorganisation zu verstehen, scheint die Architektur prädestiniert, Dichte und Rhythmus solcher Muster visualisieren zu können. insbesondere mit der Nutzung computergenerierter Entwurfsprogramme seit den 1990er Jahren schien ein Darstellungsverfahren gefunden, das Bewegung "unmittelbar" integrieren konnte. Gerade hier ergeben sich aber auch Probleme der Übertragung, die ein kurzer Rückblick auf die Nutzung von CAD-Programmen in der Architektur und dem anfanglieh damit verbundenen Diskurs erläutern soll.

24 Hier war es insbesondere Stephen Turk. (201 1). An gleicher Stelle sei nochmals auf die frühere Zusammenarbeit Forsythes mit Daniel Libeskind verwiesen, sowie auf Stehen Spier, (2011). Eine der Ietzen Kooperationen Forsythes mit dem Architekten Nikolaus Hirsch bestand in der temporären Umgestaltung des Boekenheimer Depots in Frankfurt/ Main. 25 Vgl. hierzu Vittorio Lampugnani ( 1982) S.7-17, und Einleitung, S. 6, Evans ( 1995), sowie: Carpo (20 11 ). Für den bereich des Choreographischen: BrandsteUer/Hofmann/ Maar (20 10).

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So wurden in der Architektur mit den Möglichkeiten computergenerierter Entwurfsverfahren Fragen nach Formfindung oder -generierung unter Paradigmen der Aufgabe von Autorschaft und einer "Architektur ohne Anfang und Ursprung"26 diskutiert. Von Hand könne man nur zeichnen, wovon man bereits eine innere Vorstellung habe. Auf digitalem Wege könne man jedoch Bilder erzeugen, die man nie vorher im Kopf gehabt habe - so argumentierte der Architekt Peter Eisenman im Sinne einer "Überwindung der Metaphysik der Architektur", der es darum gehen sollte, die Architektur in dekonstruktivistischer Lesart von ihren Vorbildem zu befreienY Innerhalb der "Architektur im Zeitalter der elektronischen Medien" 28 sollte der Entwerfer nicht mehr als zentraler Sinn- und Strukturstifter auftreten, kein vorgefasster Plan sollte die Formgebung determinieren, stattdessen sollten Programme, frei von den traditionellen Beschränkungen des Entwerfens die Rolle des Entwerfens übemehmen. Diese Entsubjektivierung des Entwurfsprozesses ist jedoch nur teilweise stimmig. 29 Zwar tritt der Architekt als Formgeber zurück, der nicht mehr die Form selbst gestaltet und im Detail entwirft, sondem Bedingungen und Regeln verfasst, nach denen dann das Programm die Form generiert. 30 Ähnlich wie der Choreograph wird der Architekt hier zum Verfasser bestimmter Regeln und AnOrdnungen und bestimmt damit auch die Grenzen eines Systems. Er setzt den "Anfang" eines sich dann selbst weiter entwickelnden Systems, initiiert also das Formbildungsverfahren. Inwieweit Autorschaft hier tatsächlich aufgegeben wird (im Sinne der dekonstruktivistischen oder post-strukturalistischen Literaturtheorien von Barthes und Foucault), oder ob nur eine Verschiebung der Autor-Tätigkeit stattfindet, wäre zu diskutieren. Ergänzend ist auch zu fragen, ob in einer Ablösung der Architektur von Geschichte tatsächlich eine "Befreiung" liege oder ob nicht Geschichtslosigkeit zum einen Illusion

26 Eisenman (1995). 27 Ebd.

28 Ebd. 29 Dazu: Höft er (20 10). 30 Auch dies scheint choreographischen Entwurfsprozessen auf den ersten Blick durchaus vergleichbar, wenn man vernachlässigt, dass es sich hier meist um einen Prozess der Interaktion sowohl zwischen Choreograph und Tänzern wie auch zwischen den Tänzern, Tänzern und Zuschauern handelt.

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ist und zum anderen auch semiotisch und im Sinne einer Ethik der Ästhetik bedenkliche Folgen habe. Die Entwicklung unvorhersehbarer und zufälliger Formen scheint wie schon andere Ansätze zuvor einer Logik des "Neuen" zu unterliegen, die sich über ihre nur scheinbare "Originalität" hinwegtäuscht. 31 Eine "Architekten-Generation" nach Eisenman entwirft Greg Lynn mit Hilfe parametrischer Formbildung auf Grundlage vordefinierter Variablen, d.h. es werden Kräfte programmiert und topalogische Verformungen der Flächen generiert. Die Suggestion quasi-natürlicher Emergenz ist in den verwendeten Animationstechniken, wie z.B. dem Morphing bestimmend. Man geht nicht von einer Urform aus, sondern Material wird durch einwirkende Kräfte verändert und als verformbares Kontinuum begriffen. Dabei wird in der Architektur eine quasi-natürliche Emergenz der Formen suggeriert. Im Vordergrund steht das Interesse mittels vorprogrammierter Regeln und gespeicherter Variablen Fonn sogleich mit Bewegung auszustatten. Der geometrische Körper ist nicht mehr diskret, sondern erscheint als verformbares Kontinuum, als fließendes Material, das durch Kräfte manipuliert wird. Auch dies scheint auf den ersten Blick den Körperbildern im zeitgenössischen Tanz sehr ähnlich, die als "Figuren des Unabgeschlossenen" 32, als Körper, deren Grenzen auf dem Spiel stehen, beschrieben werden. Wenn zudem von der viel beschworenen "Durchlässigkeit" der Tänzerkörper die Rede ist oder von "fließenden Bewegungen", wird aber vernachlässigt, dass die meisten Körpertechniken zwar durchaus mit Momenten des Bewegungsflusses arbeiten, dieser jedoch nicht ohne die entgegen gesetzte Spannung und die Diskretheit einzelner Bewegungssegmente zu bewerkstelligen ist. Die Fähigkeit, Impulse von außen aufzunehmen und zu transformieren, beruht letztlich auf einer präzisen Sensibilisierung, die sich jedoch der Grenzen des Körpers durchaus bewusst ist. Jedoch wurden auch die bewegten Formen Lynns wie beispielsweise seine Embryological Houses am Ende des Entwurfsprozesses in eine stabile Form eingefroren; die empirischen Daten, mit Hilfe derer die Gegebenheiten des Kontextes sowie bestimmte funktionale Anforderungen integriert wurden, führen zu abgeschlossenen Objekten; die Flexibilität des Kontextes wird fixiert und stillgestellt in einer zwar fluiden, glatten, kurvi-

31 Vgl. dazu beispielsweise Groys (2004). 32 Vgl. Foellmer (2009).

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linearen - doch letztlich statischen FormY Eine Kritik, die vielfach im Zusammenhang mit den Entwicklungen computergenerierter Entwurfsverfahren formuliert wurde34, zielt auf die einfache Übertragung: " When a theoretical concept (the fold) or reading/writing protocol (deconstruction) is used as a blueprint to generate an architectural form, architecture becomes applied philosophy, and gives up all claims to singularity and creativity."35 Das Fehlen eines Schrittes in der traditionellen Übersetzungskette Natur-ArchitekturBauwerk. Man springe ohne Umschweife von der Natur zum Bauwerk; was im Klassizismus als symbolisch, im Barock als allegorisch, in der Moderne als abstrakt gegolten hätte, nähme nun im Bereich des Realen Gestalt an: Die digitale Technik erlaube einen direkten Übergang vom einen zum anderen, sodass alle Bereiche des Realen simultan erfasst werden könnten- als Resultat des Digitalen, das alle Phänomene auf ein und denselben Code reduziere. Wenn es bei Synchronaus Objects auch um eine andere Art der Übertragung von Bewegung geht, so spiegeln die gewählten Bilder doch eine spezifisch digitale Ästhetik wider, die verschwimmenden Linien in den Difference Forms oder die gekurvten Formen in den Motion Volumes erinnern zum Teil stark an Lynns "fluid logic of connectivity"36, die im Tanz jedoch ganz anders- durch Körpertechniken und imaginati ve Leistungen - hergestellt wird. Diese Techniken erschöpfen sich gerade nicht in ihrer reinen Technologizität, sondern verstehen die Frage nach der Technik eher als eine genuin anthropologische. Es stellen sich somit Fragen danach, wo Reste des Nicht-Übersetzbaren bzw. des Medienspezifischen zwischen den einzelnen Ebenen verbleiben, zeichnen sich doch die Übertragungsbewegungen zwischen den Künsten und ihren Medien immer auch durch das aus, was in ihnen nicht aufgeht. Nimmt man die Improvisation Technologies und Synchronaus Objects zusammen, so werden hier weite Teile eines choreographischen Denkens abgedeckt: In der Kombination wären sowohl die Relationierung der

33 Diesem Umstand kann zwar durch die Entwicklung neuer Materialien inzwischen durchaus begegnet werden (vgl. Höflcr (2010)), doch trifft auch dieser Lösungsansatz m.E. nicht den im Kern problematischen Ansatz eines rein formalistischen Umgangs mit den CAD-Programmen. 34 U.a. Vidler (2002) S. 11 6. 35 Ebd., S. 16. 36 Lynn, zitie1i in: Höft er (20 10).

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Körperteile zueinander, die Konzipierung des kirresphärischen Umraums (die Grundlage für die Interaktion ist) als auch die internen Stichworte, Anpassungen, die Kontamination der Zustände innerhalb der spezifischen Forsytheschen Ästhetik aufzeichenbar. Da es innerhalb seiner improvisatorisch geprägten choreographischen Arbeit ohnehin nicht um die identische Wiederaufführbarkeit geht, ist das Choreographische weitestgehend übertragbar und löst damit die Vorstellung des Choreographischen aus seiner engen Gebundenheit an den Tänzer-Körper. 37 Das individuell Tänzerische ergibt sich schließlich aus dem, was in der Ausführung als Unvorhersehbares entsteht.

DAS UNVORHERSEHBARE IN DEN ENTWURFSPROZESS INTEGRIEREN. Forsythe selbst sagt über das Projekt: "We are not trying to recreate the experience of the piece, or the genesis of the piece, it's not etymological, it's not archaeological, it's not historical, it's not any of that. lt's simply about saying, watch space become occupied with complexity." 38

"Plans are nothing, planning is everything" - mit diesem Zitat Eisenhowers stellt sich Nikolaus Hirsch in die Tradition der Architektur als einer Kunst (bzw. eines spezifischen Handwerks, das bestimmte Techniken beinhaltet), die daraufhin angelegt ist, Zukunft zu entwerfen. 39 In der Architektur, die auch für das Entwerfen von Weltmodellen steht, gehe es weniger darum, ein bestimmtes Objekt zu entwerfen, sondern die Verbindungen zwischen räumlicher und sozialer Ordnung, das Wissen um die räumliche Organisation fortzuschreiben und weiter zu entwickeln - wobei die Kohärenz innerhalb dieses Entwurfsprozesses gewahrt bleiben muss. Zwischen der Idee und ihrer Repräsentation liegen Prozesse der Modifikation und Übersetzung, innerhalb derer Fehler entdeckt und korrigiert werden können. Indem man diese zeitlichen Vorgänge verräumlicht, wird es möglich, die in einem Planungsprozess voneinander unabhängigen Aktivitäten, die von der sinnlichen Erfahrung der

37 Forsythe (2008), S. 9. 38 Forsythe in deLahunta/Zuniga-Shaw: (2006), S. 55. 39 Hirsch (2009), S. 133.

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späteren Architektur oftmals weit entfernt sind, zu verbinden. Hier schließlich greift die Nutzung computergenerierter Entwurfsverfahren, da sie ständige Rückkopplungen zwischen den computergenerierten 3D-Modellen und dem physikalischen Modell erlauben. Diese Geschwindigkeit in der Übersetzung macht die CAD-Programme zu einem aktiven Werkzeug innerhalb des Entwurfsprozesses, in den Tabellen, Statistiken, statische Informationen und andere Daten mit einfließen. So kann das Modell zwischen Prozess und Form, Konzeptualisierung und Kontextualisierung Werkzeugcharakter erlangen. Den ambivalenten Charakter des Modells als "Zwischen"-Stadium, beschreibt Hirsch als einen durchlässigen Körper, der in der Lage ist, die verschiedenen Aspekte in ein mentales Konstrukt zu übertragen, das nicht nur Wirklichkeit antizipiert, sondern auch die Vergangenheit neu beleuchten kann und damit die zeitliche (lineare) Logik des Entwurfsprozesses zu hinterfragen vermag. Damit lassen sich Ansätze beschreiben, wie das Entwerfen und seine Werkzeuge so gestaltet werden können, dass sie nicht nur eine bestimmte Erscheinungsform hervorbringen und damit der Schöpfung eines Objektes dienen, sondern gleichzeitig das Veränderliche zulassen, Möglichkeiten zur Aktivität schaffen, bewegliche Gefüge gestalten sowie Situationen, die ein Handeln einfordern. Notwendig in diesen Prozessen ist ein strukturelles Denken, das nicht nach fertigen Lösungen, sondern nach Prinzipien der Entfaltung sucht - als einem Prozess, der Strukturen und Gefüge sichtbar macht. Innerhalb dieser Prozesse sind die engen Verbindungen zwischen Körper, Techniken und Medien stets präsent, wenn sie auch oft schwer lesbar sind.

LITERATURVERZEICHNIS Baudoin/Gilpin (2004): Patricia Baudoin und Heidi Gilpin, .,Yervielf{/)

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Abb. 6: Wahrnehmung Objekt - Subjekt

2. HAPTIK ALS WISSENSCHAFTSGEBIET: TERMINOLOGISCHE ASPEKTE Das Tastsinnessystem des Menschen ist nicht nur hinsichtlich des gigantischen Rezeptornetzwerkes (ca. 600-700 Millionen tastsinnessensible Rezeptoren), sondern auch wegen seiner verschiedenen Funktionsdimensionen das größte und komplexeste Wahrnehmungssystem des Menschen (Abb. 6). Es ist dafür verantwortlich, dass sowohl Berührungen des Körpers, Berührungen externer Strukturen als auch Körpereigenbewegungen als solche wahrnehmbar sind. Im ersteren Fall nutzt man in der wissenschaftlichen Terminologie den Begriff der taktilen Wahrnehmung. Entscheidend ist hierbei, dass sich das wahrnehmende Subjekt dem Reiz gegenüber passiv verhält. Das heißt, wenn sich ein Mensch in einer bewegungslosen Ruhesituation befindet und sein Körper zum Beispiel durch einen anderen Menschen oder einen Gegenstand berührt wird, entstehen durch hirnphysiologische Verarbeitungsprozesse im passiv Berührten taktile Wahrnehmungen. Die taktile Wahrnehmungsschwelle beträgt auf der Fingerkupe ca. 1 mm. D.h., wenn auf die menschliche Fingerkuppe ein Oberflächenunterschied von ca. 1 mm appliziert wird, dann ist dieser Unterschied für uns bei passiv taktiler Reizung spürbar. Dagegen entstehen im aktiv handelnden Menschen haptische Wahrnehmungen, mit einem extrem hohen Komplexitätsgrad selbst bei einfachsten Handlungen. Haptische Wahrnehmungsprozesse integrieren gleichzeitig körpereigene Informationen, die sich

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aus der Eigenaktivität des handelnden Körpers selbst ergeben- die sogenannten interozeptiven Informationen (Interozeption). Diese setzen sich aus den Lage- und Stellungsinformationen des gesamten Körpers - den sogenannten propriozeptiven Informationen (Propriozeption) - und den Informationen aus den verschiedenen inneren Organen- den viszerozeptiven Informationen (Viszerozeption) - zusammen. Zusätzlich werden während haptischer Wahrnehmungsprozesse noch exterozeptive Informationen (Exterozeption) integriert; diese entstehen aus der Perspektive des Tastsinnessystems, wenn der Körper (sein Grenzflächenorgan, die Haut, oder tiefer gelegene Strukturen wie Muskeln, Sehnen, Gelenke) mit anderen Objekten oder Subjekten in direkten physischen Kontakt tritt. Exterozeptive Informationen liefern demnach, vermittelt über den Körperkontakt, direkt oder indirekt (Vibration) physische Informationen über die Eigenschaften von externen Objekten und Subjekten (Abb. 7).

Abb. 7: Schema Haptik

Bei aktiv agierenden Menschen, die sich selbständig bewegen und z.B. Gegenstände oder andere Menschen durch ihre Körperteile berühren, werden denmach sehr komplexe Wahrnehmungen generiert, die mit einfachen taktilen Wahrnehmungen nicht vergleichbar sind. Die Wahrnehmungsschwelle für haptische Reize ist um den Faktor 1000 niedriger als für taktile Reize. D.h. bei aktiven Tastbewegungen können wir Oberflächenunterschiede von weniger als 1 1-!m feststellen. Die Stellung des Subjektes zum Reiz ist somit hinsichtlich der Differenzierung von Wahrnehmungsprozessen wesentlich.

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Aus methodischen Gründen hat sich in der Wissenschaft ein relativ breites Spektrum an Wissen zur taktilen Wahrnehmung etabliert. Der methodische Vorteil dieser Perspektive besteht darin, dass bei Untersuchungen zur taktilen Wahrnehmung in der Regel ein an sich hochbewegliches und stets aktiv agierendes Subjekt durch entsprechende Laborrestriktionen in ein hochgradig passives Subjekt verwandelt werden kann. Erreicht wird dies durch entsprechende Fixierung z.B. des Hand-Arm-Komplexes oder durch anderweitige Sanktionierung der natürlichen Bewegungsfreiheit. Auf diese Weise können dann sogenannte "Elementarprozesse der Tastwahrnehmung" untersucht werden. In Wirklichkeit sind jedoch taktile Wahrnehmungen ein im Alltag nur sehr selten anzutreffender Fall, da es das bewegungslose, passive Subjekt nur in Sonderfällen (z.B. bei neurologischen Erkrankungen) gibt. David Katz, ein Pionier der deutschsprachigen Tastsinnesforschung, hat die isolierte Analyse taktiler Prozesse überspitzt wie folgt kritisiert: "Die meisten Menschen dürften sterben, ohne je die Reizung eines isolierten Druck- oder Wärmepunktes [ ... ] erlebt zu haben."6 Trotz und wegen dieser methodischen Limitierungen wissen wir heute sehr viel über die psychophysiologischen Prozesse bei taktilen Wahrnehmungsprozessen und nur sehr wenig über haptische Wahrnehmungsprozesse. In der nachfolgenden Grafik soll verdeutlicht werden, in welchen Dimensionen das Tastsinnessystem von Bedeutung ist und wie sich hierzu die wissenschaftliche Terminologie verhält. Der Begriff Haptik, als Terminus zur Bezeichnung der wissenschaftlichen Lehre über das Tastsinnessystem, wurde von dem Berliner Psychologen Max Dessoir in Anlehnung an die Begriffe "Optik" und "Akustik" eingeführt. 7 Mit dieser Begriffswahl versuchte Dessoir die außerordentliche funktionale Vielfalt der Leistungen des Tastsinnessystems in eine Fachgebiets- und Gegenstandsbezeichnung zu integrieren ohne sich explizit darüber zu äußern, welche akademische Disziplin dieses Fachgebiet - Haptik - vorzugsweise und federführend bearbeiten sollte. Denkbar ist, dass schon Dessoir erkannte, dass die Haptik nicht von einer einzelnen akademischen Disziplin, zum Beispiel der Psychologie oder der Physiologie vermessen und gestaltet werden kann. Denn heute mehr als gestern ist es durch die international etablierte und eingeschränkte Themen- und Gegenstandslogik der akademischen Psychologie

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Katz ( 1925), S. I I .

7

Dessoir (I 892).

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ausgeschlossen, dass die wissenschaftliche Psychologie das gesamte Spektrum der Haptik als Fachgebiet bewältigen könnte. Die historisch entwickelte Zergliederung innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie macht es zudem scheinbar unmöglich, dass sich diese Disziplin als thematisch-methodisch integrierender Motor zur systematischen Erforschung des Fachgebietes Haptik eignen würde. Ähnliches gilt flir weite Bereiche der Physiologie. Allein die fatale und folgenreiche Trennungslogik beider Disziplinen hinsichtlich der sensorischen, motorischen und kognitiven Aspekte menschlichen Handeins machen deutlich, dass die thematischen und methodischen Grundlagen beider Fächer derzeit nicht genügen, um jeweils allein eine empirisch begriindete Theorie der menschlichen Haptik zu entwickeln bzw. sich eine solche als zielfUhrendes Programm vorzuschreiben.HAbgesehen davon, dass sich keine der beiden genannten Disziplinen auch nur annähernd ein solches Ziel gesetzt hätte, die Perspektive einer dieser beiden Disziplinen allein kann per se nicht geniigen, um einen integrierten Ansatz der Haptik zu erarbeiten. Vielmehr wird zu erwarten sein, dass sich die Haptik eines Tages als souveränes Fachgebiet innerhalb eines traditionsgelösten Fächerkanons der Lebenswissenschaften entwickeln und etablieren wird. Der aktuelle Zustand der Haptik-Forschung ist gegenwärtig vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die stärksten Forschungsanstrengungen in technikwissenschaftlichen Bereichen stattfinden. Diese Entwicklung wird einerseits durch die ingenieurwissenschaftliche Forderung nach einer besseren Gerätehandhabung und geringerer Fehlbedienung befördert, und andererseits ergibt sich in den vielfältigen Bereichen der Robotik der unbedingte Wille zur technischen Simulation und Implementierung von einfachen bis komplexen - maschinell vermittelten - Tastsinneseindriicken. Weltweit werden deshalb in diesen Fachbereichen die weitaus größten Forschungsressourcen flir die

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Emil von Skram lik (1 886- 1970) unternahm als Physiologe an der Friedrich-SchillerUniversität zu Jena den Versuch, das seinerzeit denkbare Spektrum der Haptik umfassend und empirisch-analytisch darzustellen. Sein monumentales Werk von mehr als 900 Seiten "Die Psychophysiologic der menschlichen Tastsinne" (1937) dokumentiert diesen Versuch der sowohl von Seiten der Psychologie als auch durch die Physiologie erst vollständig ignoriert und dann ebenso vollständig vergessen wurde. Ein Abriß zur Geschichte der deutschsprachigen Tastsinnesforschung wird in Grnnwald & John (2008) vorgestellt.

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biowissenschaftliche Grundlagenforschung und die Entwicklung anwendungsbedingten Wissens bereitgestellt. 9 Vor diesem Hintergrund und auch angesichts des sonstigen starken Anwendungsinteresses von Haptik-Forschung (Marketing, Werbung, Rehabilitationstechnologie u.a.) ist die aktuelle inhaltliche und strukturelle Zurückhaltung der lebenswissenschaftlichen Forschungsbereiche eher unverständlich.

3. ONTOGENETISCHE ASPEKTE DES TASTSINNESSYSTEMS Die Notwendigkeit der erheblichen biologisch-evolutionären Aufwendungen, die zur Gestaltung des Tastsinnessystems beim Menschen beigetragen haben, wird in ihrer Funktion und Bedeutung erst dann hinreichend verständlich, wenn man die Wirkungsweise des Tastsinnessystems aus ontogenetischer Perspektive betrachtet. Dieses Sinnessystem des Menschen ist die entscheidende Voraussetzung für die Fähigkeit zur aktiven und passiven Rezeption von Berührungsreizen in Relation zu den Körpereigenbewegungen. Und so ist es aus biologischer Sicht folgerichtig, dass die erste Sensitivitätsreaktion eines Fötus auf externe Reize diejenige flir Druckreize auf die Lippenhaut ist. Druck, d.h. Berührungsreize, die pränatal im Lippenbereich des Fötus appliziert wurden, führten bereits in der 8. Schwangerschaftswoche - bei einer Köpergröße von ca. 2.5 cm - zu heftigen Ganzkörperbewegungen des Ungeborenen. Die Sensitivität auf externe Druckreize verändert sich in den folgenden Entwicklungswochen und breitet sich über den gesamten Körper des Fötus aus. lm gleichen Maße entwickelt sich die Fähigkeit zur koordinierten Bewegung des gesamten Körpers. Die Reifungsentwicklung des Fötus innerhalb des Mutterleibes erreicht in der 12.-13. Schwangerschaftswoche einen derartig hohen Stand, dass man zielgerichtete Greifbewegungen der Hände um die Nabelschnur und schließlich die Nuckelbewegungen am eigenen Daumen mittels Ultraschalluntersuchm1gen beobachten kann. 10 Hierbei muss bedacht werden, dass all diese Aktivitäten unter völligem Ausschluss visueller Inforn1ationen stattfinden. Das Ungeborene entwickelt demnach lange, bevor

9

Grunwald (2009).

10 Krens & Krens (2006), Hepper (2008).

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die Reifung im Mutterleib durch die Geburt beendet wird, ein reichhaltiges und sehr komplexes Bewegungs- und haptisches Explorationsrepertoire, das es ihm ermöglicht explorativ-haptisch Informationen - auch über den eigenen Körper - zu erlangen und(!) zu verarbeiten. Neben den akustischen und olfaktorischen Informationen, die nachweislich auch nachgeburtlich dem Neugeborenen zur Verhaltensregulation zur Verfügung stehen, ist davon auszugehen, dass die Tast-Körpererfahrungen eine basale neuronale Matrix im Gehirn des Neugeborenen hinterlassen, die ein zentraler Bezugspunkt für alle anderen, später ausreifenden sensorischen Systeme ist. Wie diese Prozesse im Einzelnen reguliert werden, ist heute noch ungewiss. Aber wie schon bei einzelligen Lebewesen gilt auch für die pränatale Entwicklung des Menschen, dass die innerorganismische Kodierung der körpereigenen Grenzen und der physikalischen Außenwelt über die basalen Funktionen des Tastsinnessystems generiert werden. Mit dieser grundsätzlichen Verortung des Organismus im Raum wird nicht nur die eigene Position des Organismus in der physikalischen Welt definiert, sondern es wird überdies ein perzeptiv-kognitiver Bezugspunkt bereitgestellt, auf den sich alle nachfolgend entwickelnden Sinnessysteme beziehen können und müssen. Denn kein akustischer, visueller oder olfaktorischer Reiz würde "an sich" fi.lr den Organismus von Bedeutung sein, solange dieser nicht eine Relation zu sich selbst und der physikalischen Außenwelt erarbeitet hat. Erst mit diesem Schritt, der sensorischen Verkörperung des Zellensembles als eigenständiger Organismus, wird die nachfolgende sensorische Zergliederung externer Reize durch die Ausbildung verschiedener Sensorsysteme für den Organismus sinnvoll. Nach dieser Annahme ist die zeitversetzte Entwicklung der Sinnessysteme innerhalb der menschlichen Ontogenese ein notwendiger Schritt und die Sonderstellung des Tastsinnessystems eine im wahrsten Sinne des Wortes natürliche Notwendigkeit. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, weshalb in der nachgeburtliehen Entwicklung der Tastsinn und die aktiv haptische Exploration der Umwelt eine hochdominante Form des Umwelterkennens beim Neugeborenen darstellt. Entwicklungspsychologen haben diesen Umstand schon sehr lange und ausführlich dokumentiert. Der eigene Körper sowie alle physikalischen Gegebenheiten der äußeren Welt, einschließlich die Körper der sozialen Bezugspersonen, sind intensiver Gegenstand des haptischen Erkundungsver-

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haltens von Kleinkindern. 11 Die Bindung des Umwelterkennens ist nicht nur elementar mit der explorativen Natur des Tastsinnes verbunden, sondern die Fähigkeit zur Verarbeitung taktiler, passiver Be1iihrungsreize stellt für die Neugeborenen ein "Lebensmittel" der besonderen Art dar. Wie aus zahlreichen Human- und Tierstudien bekannt ist, folgen wichtige Reifungsprozesse des Gehirns nur, wenn der jeweilige Organismus eine hinreichende, adäquate taktile und sozialvern1ittelte Stimulation seines Körpers erfährt. Fehlt dieser Stimulus oder ist er inadäquat (etwa im Sinne von Gewalterfahrungen), dann folgt mit naturgesetzlicher Sicherheit eine fehlerhafte Hirnreifung mit pathologischen Folgen für das soziale Verhalten und höhere kognitive Prozesseim extremen Fall kannjene Mangelstimulation sogar zum Tode ftihrenP

4. PHYLOGENETISCHE ASPEKTE DES TASTSINNESSYSTEMS AM BEISPIEL AMÖBOIDER HAPTIK Wenn auf wissenschaftlich-empirischer und schließlich auch auf praktischer Ebene ein Verständnis der funktionalen Bedeutung des Tastsinnessytems erarbeitet werden soll, genügt es nicht, nur die menschlich-ontogenetische Perspektive herauszuarbeiten. Vielmehr ist es für eine hinreichende Theoriebildung zur Haptik unabdingbar den phylogenetischen, d.h., den biologischen Kern der taktilen und haptischen Wahrnehmung an Lebewesen zu analysieren, in denen die Prinzipien des Lebens - der Fremd- und Eigenwahrnehmung - in ursprünglichster Form ausgebildet sind. Denn die Fähigkeit zur aktiv tastenden Umweltexploration und die dazugehörige Verarbeitung von Berührungs-, Bewegungs- und Druckreizen sind Leistungen, die nicht erst bei den sogenannten höheren Lebensformen13 ausgebildet sind. Vielmehr ist es eine vielfach und zuerst in der Biologie beschriebene und bestaunte Tatsache, dass einzellige Organismen taktile und haptische Reize adäquat für die Bewältigung ihrer Anpassungsleistungen verarbeiten können. Bereits Ernst

II Darnon (2006), Kiese-Himmel (2008).

12 Essman ( 1971), Prescott(1 97 1), Zubek (1979), Bryan & Riesen (1989), Blum (2002). 13 Im Sinne von Jacob von Uexküll (1921).

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Haeckel und seine Zeitgenossen 14 beschreiben elementare Lernleistungen von einzelligen Organismen, die wohlgemerkt über keine (!) einzige Nervenzelle verfügen. Diese großartigen Elementarleistungen der einzelligen Organismen haben zurecht Ernst Haeckel ermuntert, auf einer Tagung vom 22. März 1878 die Forderung an die Psychologie zu stellen, das "Seelenleben" dieser einfachsten Organismenformen zu erkunden. 15 Und in der gleichen Abhandlung hebt Haeckel das Gesetz vom "Ursprung aller Sinne aus der Haut" 16 hervor. Mehr als hundert Jahre nach dieser Tagung ist die Forderung von Haeckel auf Seiten der Psychologie noch immer nicht eingelöst. Auch wenn sich derzeit solche namhaften Physiker wie Penrose mit dem Problem der Informationsverarbeitung bei einzelligen Organismen beschäftigen 17 und Tero, die in eindrucksvollen Experimenten bestätigen konnte, dass einzellige Lebewesen nach gewissen Durchläufen in einem Nahrungslabyrinth irgendwann den kürzeren Weg zur Nahrungsquelle wählen.1H Doch nicht nur den Elementarprinzipien der Reizverarbeitung einzelliger Lebewesen wird innerhalb der Psychologie wenig bis gar keine Aufmerksamkeit geschenkt, sondern auch die phylogenetische und ontogenetische Sonderstellung der Haut bei der Entwicklung der verschiedenen Sinnessysteme hat kaum oder gar nicht in aktuelle psychologische Perspektiven Einzug gehalten. Dabei ist allen einzelligen Lebewesen gemeinsam, dass sie sich auf der Basis verschiedener Fibrillentypen in den ihnen gemäßen Umgebungsbedingungen bewegen können. Diese Bewegungen dienen der Nahrungssuche und auch der Umsetzung von Fluchtreaktionen (!). Dieses Verhalten setzt nicht nur ein internes Abbild zur Erhaltung der eigenen Organismusstruktur voraus, sondern es werden auch Bewegungs- und Berührungsreize des eigenen Organi smus relevant verarbeitet. Diese Verarbeitungsmechanismen müssen als elementare Basis den wesentlichen Unterschied zwischen eigener Struktur und äußerer Umgebung erfassen. Im anderen Fall könnten die Organismen nicht unterscheiden, was zu ihrer eigenen Organismusstruktur gehört und würden sich gegebenenfalls selbst als Nahrungsquelle bestimmen. Dass dies nicht der Fall ist, sollte uns

14 Z.B. Max VeJWom (1 889, 1892). 15 Haeckel ( 1909). 16 E bd.,S. 13. 17 Penrose (2002). 18 Tero (2008), vgl. auch: Nakagaki (2000).

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zeigen, dass körperbezogene haptische Reize, die infolge von aktiven Bewegungen im Raum erfolgen, nicht erst bei höheren Organismen verarbeitet werden, sondern bereits in einzelligen Systemen. Weiterhin belegen diese Beobachtungen, dass einzellige Organismen etwas Ähnliches generieren, was wir beim Menschen als "Körperschema" bezeichnen: ein internes, neuronales Abbild der eigenen Körpergrenzen- der räumlichen Ausdehnung des eigenen Organismus. Der Autor sieht in diesen Leistungen ein evolutionäres und auf phylogenetischer Ebene verwirklichtes Grundprinzip der Biologie, dass jeder sich selbst bewegende Organismus auf elementarer Stufe Körper- und Bewegungsreize verarbeiten kann. Diese Form der Tastsinnesreizverarbeitung, wie wir sie bei Einzellern beobachten können, ermöglicht die Analyse von physischen Reizen, welche direkt auf den Körper einwirken (taktile Reize) und in Kombination mit dem eigenen Bewegungssystem (haptische Reize), die zielgerichtete Fortbewegung im Raum. Damit sind alle ftir einen bewegungsfähigen einzelligen Organismus nötigen Voraussetzungen geschaffen, die Relation zwischen Innen (Organismus) und Außen (physikalische Außenwelt) auf eine uns bis heute nicht bekannte Weise zu kodieren. Die Fähigkeit, Körpereigene- und Tastsinnesreize zu verarbeiten, findet sich im gesamten Tierreich, wobei sich eine Vielzahl spezialisierter Höchstleistungen aufführen ließe. Diese übertreffen in der Regel bei Weitem die Tastsinnesleistungen des Menschen und belegen, dass sich über die Phylogenese der Organismen die Tastsinnesfähigkeit als Basisleistung erhalten und jeweils artspezifisch entwickelt hat. 19 Zudem stellen die Druck- und Mechanorezeptoren das sensorische Grundgerüst für die Entwicklung des auditiven und vestibulären Systems dar. In eigenen Pilotstudien sind wir der Frage nachgegangen, ob einzellige Organismen - in unserem Falle amoeba proteus (ca. 80-100 J.lm groß) - in der Lage sind, Oberflächenunterschiede haptisch wahrzunehmen und ob hinsichtlich dieser Umweltmerkmale Gedächtnisspuren im Verhalten dieser Einzeller nachzuweisen wären. Zur Überprüfung der Annahmen nutzten wir aufgeraute Glasflächen als experimentelles Setting. Mittels eines Diamantfräsers wurde die Oberfläche eines normalen Objektträgerglases (wie es standardmäßig in der Mikroskopie verwendet wird) auf einer Länge von lOmm mit einer Breite von lmm (Tiefe ca. 100 11m) aufgeraut. Dieses Ex-

19 Smith (2000).

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perimentierfeld wurde nun in eine Petrischale mit amöbenspezifischer Nährlösung gegeben. Im Anschluss daran wurde aus einer Kolonie von amoeba proteus ein Individuum ausgewählt und dieses mittels Mikromanipulation auf das Experimentierfeld in unmittelbare Nähe der aufgerauten Struktur gebracht. Mittels Videomikroskopieaufzeichnung (infrarot) erfolgte die Langzeitregistrierung und Beobachtung der Bewegungsaktivitäten des Organismus. Wesentliches Resultat dieses ersten experimentellen Teils ist es, dass alle ftinf von uns untersuchte Organismen in charakteristischer, jedoch individueller Weise, die rauen Glasoberflächen haptisch exploriert hatten. Als Maß für diese Beurteilung nutzten wir die Verweildauer des Organismus auf der rauen Oberflächenstruktur im Vergleich zur glatten Oberflächenstruktur, die nachträglich durch frame-to-frame Analysen ermittelt wurde. Die gesamte Beobachtungszeit pro Organismus betrug zwischen 14-17 h. Jeder Organismus zeigte zu Anfang der Experimentalsituation eine längere Verweildauer auf der rauen Glasstruktur als auf der gewohnten glatten Oberfläche. Im Verlauf des Experiments verkürzten sich die Verweildauern auf der rauen Oberfläche bei jedem untersuchten Organismus .

. / aufgeraute Glasoberfläche

Start

~ amoeba proteus

Vollkontakt- und Kontaktzeiten

Kein Spurkontakt

Ende

Abb. 8: Amöben-Exp lorationsweg

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Ein typischer Verlauf der haptischen Exploration der Glasoberflächen (rau vs. glatt) wird schematisch in der Abbildung 8 dargestellt. Zweifellos stellte diese Form der Umweltänderung, die wir durch die Aufrauhung der Glasoberfläche künstlich hergestellt hatten, eine Reizstruktur dar, die von den untersuchten Amöben registriert wurde. Die anfänglich lange Verweildauer auf der rauen Fläche und späterhin die deutliche Abnahme der Verweildauer deutet daraufhin, dass diese Reizstruktur nach und nach ihren Neuheitswert für die Amöben eingebüßt hat. Da sich offenbar der raue Oberflächenanteil des Experimentierfeldes für die Amöben nicht dauerhaft als nützlich oder nahrungsrelevant erwiesen hat, zeigten die Organismen ein individuell zeitlich begrenztes Explorationsverhalten der aufgerauten Fläche. Allein dieser Umstand ist bemerkenswert und es dürfte einige Anstrengungen erfordern, diese Verhaltensregulation der Organismen auf chemisch-physikalische Vorgänge innerhalb und außerhalb der Amöbe zurückzuführen. Um nun zu prüfen, ob sich durch die haptische Exploration bei den Organismen Gedächtnisspuren ausgebildet hatten, isolierten wir die Experimentalorganismen jeweils nach dem ersten Durchgang und verlegten sie in eine einzelne Petrischale ohne andere Organismen für die Dauer von 24 Stunden. Diese schwierige mikromanipulatorische Prozedur gelang jedoch lediglich bei einem Organismus. Dieser (Laborname "Anton 2") wurde nach der Isolation wiederum auf das Experimentierfeld verbracht und es folgte die erneute Aufzeichnung der Bewegungsaktivitäten des Organismus auf und neben der aufgerauten Glasober:fläche. Zu unserem Erstaunen zeigte die Amöbe im gesamten zweiten Beobachtungszeitraum nur zwei relativ kurze Verweildauern auf der rauen Oberflächenstruktur. Danach wandte sie sich endgültig der Exploration der sonstigen Umgebung zu und verließ die Fläche des Experimentierfeldes (Abb. 9). Sicherlich ist diese Beobachtung an einem Organismus nicht geeignet um generelle Aussagen zu möglichen Gedächtniseffekten bei Einzellern zu entwickeln. Dennoch kann diese Einzelfallbeobachtung hypothesengenerierend genutzt werden: sollten keine anderen Verhältnisse das Verhalten der Amöbe in diesem zweiten Experiment beeinflusst haben, so ist anzunehmen, dass sich der Organismus - auf welche Weise auch immer - an die für ihn irrelevante Oberflächenstruktur der rauen Glasoberfläche "erinnerte", obgleich in diesem Falle das biologische Substrat dieser Leistung uns nicht bekannt wäre. Grundsätzlich verweisen die Beobachtungen aus unserer Pilotstudie auf die prinzipielle Möglichkeit einer haptischen Orientierungsreaktion und möglicher Weise auch auf haptische Gedächtnisleistungen bei einzelligen Organismen.

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Notwendig sind nunmehr systematische Folgeuntersuchungen, weitere experimentelle Modifikationen und die Reproduktion der bisherigen Befunde an einer größeren Anzahl amöboider Organismen.20 anton: 2.00 messung

60,00

01 ,00 0 2,00 -lnterpolationsinie

1. Experiment

0--.

0,00

·- -o 2. Experiment

2,00

4 ,00

6 ,00

8 ,00

10,00

Explorationsphase gesamt (in h)

Abb. 9: Amöben-Explorationsweg

5. SINN UND FUNKTION VON SELBSTBERÜHRUNGEN Gemeinhin richtet sich die wissenschaftliche und populäre Aufmerksamkeit auf das Wahrnehmungsgeschehen, das durch Berührung des eigenen Körpers durch andere Subjekte oder Objekte stattfindet. WenigAufmerksamkeit erzielt dabei ein alltäglicher Sonderfall von Berührungsaktivität und Berührungswahrnehmung, der nur durch seine geringe Beachtung innerhalb der Tastsinnesforschung zu einem Sonderfall wird. Tatsächlich sind wir aufgrund unserer Körperform und der Anordnung unserer Körperglieder in der Lage, eigene Körperpartien vorzugsweise mit unseren Extremitäten selbst zu berühren. Im

20 Videobeispiele aus diesen Experimenten werden auf der Web-Seite des Haptik-Labors (www.haptik-labor.de) präsentiert

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alltäglichen Regelfall berühren wir mehrere hundert Mal am Tag Bereiche unserer Gesichtshaut mit den Fingern oder der gesamten Handfläche; auch andere Körperpartien werden ohne anderen Funktionszusammenhang durch unsere Hände täglich berührt. Diese Körpereigenberührungen, auch Selbstberührungen genannt, finden in der Regel ohne bewusste Wahrnehmung statt. Die zeitliche Dauer solcher körperlichen Selbstberührungen kann sehr kurz sein- zwischen 1-3 Sekunden. Zur Charakterisierung der hier besprochenen Selbstberührungen ist wichtig zu bemerken, dass nur jene Formen gemeint sind, die funktional nicht durch die Regulation von Schmerz- oder Juckereignissen oder durch die Regulation von Sexualfunktionen motiviert sind. Denn die weitaus häufigste Form der körpereigenen Selbstberührung kann nicht einer der o.g. Funktionen zugeordnet werden. Selbstberührungen in Form von Gesichtsberührungen, Kopfkratzen, Naseberühren, Nasezupfen, Kinnkratzen, Ohrzupfen, Augenlider reiben usw. treten auf, wenn die betreffende Person allein ist oder sich in Gesellschaft mit anderen Menschen befindet. In der Forschung zu nonverbalen Gesten existieren verschiedene Versuche, körperbezogene Selbstberührungen zu klassifizieren. 21 Entsprechende Klassifikationen fokussieren jedoch vorwiegend die Relation von Körpergesten zu Sprachproduktions- und K.ommunikationsprozessen. Selbstberührungen fördern oder hemmen demnach sprachliche Ausdrucksbemühungen. Wallbott entwickelt aus seinen Beobachtungen die Vermutung, dass es einen u-förmigen Zusammenhang22 von Erregungsniveau und Häufigkeit der Selbstberührung geben könnte: danach würden Selbstberührungen bei geringerer emotionaler und kognitiver Erregung eine Steigerung der Aktivität ermöglichen

2 1 Frecdman et al. ( 1973), Freedman & Hoffman ( 1967), Wallbott (1979), Wallbott ( 1982), Harrigan ( 1985). 22 Wallbott (1979, 1982). Als u-förmigen Zusammenhang werden Verhältnisse bezeichnet, bei denen die Verteilung der Werte zwei er Variablen eine bi ldhafte U-Form ergibt. In diesem Beispiel würde das Maß des Erregungsniveaus auf der x-Achse abgetragen und die Anzahl der Selbstberührungen auf der y-Achse. Ein geringes Erregungsniveau (niedrige Werte auf der x-Achsc) würde hypothetisch eine hohe Anzahl von Selbstberührungen provozieren. Ein mittleres Errcgungsniveau, eine geringe Anzahl von Selbstberührungen und ein sehr hohes Erregungsniveau würde wiederum eine hohe Anzahl von Selbstberührungen nach sich ziehen. Der Wertegraph dieser Verhältnisse würde dann eine U-Form ergeben.

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und gleichzeitig könnten sie bei einem zu hohen Erregungsniveau beruhigend wirken. Damit ist Wallbott einer der ersten, der eine psychophysiologische Funktion der Selbstberührungen annimmt. Harrigan versucht in ihren Untersuchungen23 zu belegen, dass Selbstberührungen mit emotionalen Zuständen der ausführenden Person in Zusammenhang stehen. Sie konnte beobachten, dass diese Form der Berührungen vermehrt bei angstauslösenden Situationen, kognitiven Spannungszuständen und in feindlich aggressiven Situationen bei Menschen auftritt. Studien an Primaten ergaben ähnliche Befunde: Maestripieri beschreibt, dass Körperselbstberührungen bei Primaten besonders in Konfliktsituationen auftreten, insbesondere beim Treffen von Entscheidungen oder wenn das Tier von der Zielerreichung abgehalten wird.24 Es wird vermutet, dass in Konfliktsituationen zunächst Spannung erzeugt wird, die durch Selbstberührungen abgebaut werden. 25 Die direkte Verknüpfung zwischen Selbstberührungen und dem aktuellen emotionalen Handlungsniveau wurde in einer pharmakologischen Studie an Primaten experimentell untersucht. So führt die Gabe von angststeigemden Medikamenten zu einer erhöhten Rate der Selbstberührungen,26 während sie bei angstdämpfender Medikation (Anxiolytika) sinkt. 27 Die derzeit vorliegenden Befunde sprechen demnach dafür, eine direkte Beziehung zwischen dem Auftreten von Selbstberührungen und dem emotionalen Status des handelnden Subjekts anzunehmen. Zudem kann vermutet werden, dass Selbstberührungen eine regulatorische Funktion besitzen, in dem Sinne, dass mit und durch die Ausführung von Selbstberührungen innere Prozesse im Organismus beeinflusst werden. Die zugrundeliegenden physiologischen Mechanismen dieser Regelfunktionen sind jedoch noch nicht bekannt. Auch aus diesem Grund haben wir eine Studie zur Aufklärung der neurophysiologischen Grundlagen von Selbstberührungen durchgeführt. 28 Ebenso wollten wir prüfen, ob die Funktionen der Selbstberührungen sich tatsächlich nur auf mögliche emotionale Regelbereiche erstrecken oder ob nicht auch basale kognitive Prozesse wie

23 Harrigan (1985 , 1986). 24 M aestripieri (1 992). 25 Vgl. auch Tinbergen (1 952). 26 Ninan et al. (1982). 27 Schino et al. (1 99 1). 28 D etails siehe Grunwald et al. (20 11 (submitted)).

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Aufmerksamkeit und Gedächtnis über den Prozess der Selbstberührung modifiziert werden. In der Studie, deren eigentlicher Zweck erst zum Abschluss der Untersuchungen den Probanden vollständig aufgeklärt wurde, sollten die Probanden einen komplexen haptischen Stimulus erkennen und sich über eine Zeitspanne von fünf Minuten merken. Nach der Merkzeit sollten dann die Probanden den erkannten Stimulus aufzeichnen. innerhalb der Merkzeit wurden den Probanden aus einer sogenannten Sound-Batterie29 relativ unangenehme akustische Beispiele wie Kindergekreisch, Unfallgeräusche usw. vorgespielt. Während der gesamten Prozedur leiteten wir das EEG der Probanden ab und zeichneten zudem noch ein Videosignal des Oberkörpers auf. Wie zu erwarten störten die akustischen Einspielungen die Probanden, bzw. die externen Informationen störten die Prozesse der Merkleistung; eigentlich wollten und sollten sich die Probanden ganz auf den komplizierten Stimulus konzentrieren, den sie nach mühsamer Exploration erkannt hatten, damit sie ihn nach der fünfminütigen Wartezeit auch richtig reproduzieren konnten. ln dieser belastenden Versuchsphase zeigte nun ein großer Teil der Probanden (männliche ebenso wie weibliche) die erwarteten gesichtsbezogenen Selbstberührungen. Die Probanden berührten ihre Nase oder die Wange, die Mundpartie oder das Ohr u.ä .. Am Ende des ersten Versuchsteils baten wir die Probanden sich u.a. fünf Mal an die Nase, an die Wange usw. zu fassen. Auch hierbei wurde wieder das EEG aufgezeichnet. Wir verglichen die hirnelektrische Aktivität unmittelbar vor Beginn der Selbstberührungen (3 Sekunden) mit der Aktivität unmittelbar nach Abschluss der Selbstberührungen (3 Sekunden). Sollten die Selbstberührungen Ereignisse sein, die keinen Einfluss auf die Hirnaktivität haben, dann wäre zu erwarten, dass sich im Vergleich der Hirnaktivität kurz vor der Selbstberührung und kurz danach keine wesentlichen Änderungen zeigen. In diesem Fall würde sich die Hirnaktivität also durch die Selbstberührung nicht verändern. Die Analyse zeigte jedoch das genaue Gegenteil. Die Hirnaktivität ändert sich nach der Selbstberührung im Vergleich zur Phase davor signifikant in zwei Frequenzbereichen. Zum einen im langsamen Theta-Band (4.0-8.0Hz) und im schnellen Beta-Band (13 .0-24.0Hz). In beiden Frequenzbereichen nimmt die Hirnaktivität in der Nachberührungsphase zu. Entscheidend ist nun, dass diese EEG-Veränderungen nicht zu beobachten waren, wenn wir die Hirnaktivität der Selbstberührungen untersuchten, die auf unsere Anweisun-

29 Bradley & Lang (2000).

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genhin durchgeführt wurden. D.h., nur bei den spontan ausgeführten Selbstberührungen konnten wir Änderungen der Hirnaktivität überhaupt feststellen (Abb. 10). Anders formuliert: Selbstberührungen sind erst dann Selbstberührungen im neurophysiologischen Sinne, wenn sie spontan ausgeführt werden. Die EEG-Veränderungen, die wir in unserer Studie nachweisen konnten, deuten darauf hin, dass Selbstberührungen im Bereich des Gesichtes mindestens zwei Funktionen haben. Zum einen regulieren sie offenbar unseren emotionalen Zustand in der Weise, dass bei sehr hoher emotionaler Erregung und der damit verbundenen physiologischen Übererreglmg durch die Selbstberührungsstimulation unser emotionaler Erregungszustand einen mittleren Wert erreichen kann.

Theta Alpha

Beta

Abb. 10: Map Hirnaktivität

Des Weiteren stützen unsere Ergebnisse die Annahme, dass gesichtsbezogene Selbstberührungen einen Einfluss auf die Regulation von Arbeitsgedächtnisprozessen ausüben. Die Veränderungen in der Theta-Aktivität deuten darauf hin, dass die Selbstberührungsstimulation ein weiteres Abfallen der ThetaAktivität, bedingt durch die emotionalen Stressoren der Untersuchungssituation, verhindert. Denn die Aufrechterhaltung einer aufgabenbezogenen, prominenten Theta-Aktivität sichert die Behaltensleistung über die Versuchsdauer hinweg. Können im Rahmen des Versuchs die störenden und belastenden Begleitinformationen und die damit einhergehenden emotionalen Störungen nicht adäquat kompensiert bzw. unterdrückt werden, dann würden die Pro-

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banden am Schluss der akustischen Störsequenz den Inhalt ihres Arbeitsgedächtnisses- die zu merkende Figur- vergessen haben. Möglicher Weise ist die neurophysiologische Basis dieser Regelprozesse direkt an Hormone, wie zum Beispiel das Oxytocin gebunden, die bei der Selbstberührungsstimulation kurzzeitig freigesetzt werden. Denkbar ist auch ein anderer biochemischer Prozess, der zum Beispiel an der Regulation der stressinduzierten Cortisolproduktion beteiligt ist. Der direkte Nachweis dieser Annahmen bedarf jedoch eines erheblichen biochemisch-experimentellen Untersuchungsaufwandes, der vorzugsweise in zukünftigen Untersuchungen gewagt werden wird. Auch wenn, wie schnell zu sehen ist, noch sehr viel Detailarbeit notwendig sein wird, um nur allein diese hochalltägliche Verhaltensregulation der Selbstberührung hinreichend gut zu verstehen, so kann man doch heute schon mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass diese Form der Berührungen weder sinnfrei noch ohne Zweck erfolgen. Vielmehr scheint es so zu sein, dass wir mittels dieses regulativen Minimalwerkzeuges doch ganz erstaunliche Dinge in und mit uns organisieren können, ohne dass wir auf die berührende Unterstützung eines anderen Subjektes angewiesen sind. Das Tastsinnessystem ist vor diesem Hintergrund nicht nur ein probates Werkzeug im Umgang mit der Welt außerhalb unseres Körpers, sondern es stellt gleichzeitig Mittel zur VerfUgung, damit das Körpersystem in nicht sozial unterstützten Belastungssituationen adäquat handlungsfahig bleibt. Dieses Beispiel sollte auch zeigen, auf welcher elementaren und bisher unverstandenen Ebene Körper(eigen)berührungen den Handlungsstatus unseres Organismus wesentlich verändern. Es ist zu hoffen, dass diese komplexen Funktionen zukünftig durch verschiedene Wissenschaftsbereiche integrativ - mit dem Ziel einer Theorie der Haptik erforscht werden, damit wir die vielfältigen Funktionen des Tastsinnessystems - und damit uns selbst - besser, und zum eigenen Wohl, begreifen.

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Taktiles Wissen Eine Lecture Performance

ELKEMARK

ich sitze seitlich am kopfende der tischformation und lausche den einführenden worten ich tücke den stuhl nach vom an die tischkante, auf der ein stapel bedruckter papierbögen bereitliegt pause ich begim1e, zügig zu lesen1

"Je mehr es mir gelingt, durchdachte Pläne, Ideen und Konzepte nur als Gerüst zu

begreifen, sie im Moment der Performance, des aufmerksamen Arbcitcns, beiseite zu lassen und mich von einem zum anderen Moment von Intuition und Begegnungen tragen zu lassen, füh le ich mich dem absichtslosen Tun nahe - einer Form des Arbeitens, die Raum lässt fur noch Ungedachtes, Raum schafft für die Entfaltung von Prozessen, die unvorhersehbar entstehen, denen ich folge und die ich begleite. Ein Wissen, das dem sich aufmerksam Bewegenden cröffuct, dass in der Begegnung Potenzial findet. Mein Radius weitet sich, dehnt sich rundum aus, findet Schnittmengen, Widerstände und Anziehungspunkte im Raum und im Tun. Gelingt es, dem Rhythmus zu fol gen, die Melodie zu finden, aufzunehmen und zu entwickeln, entfaltet sich kraftvoll e Stimmigkeit, die den Betrachter an- und einbezieht- absichtslos." Das seit etwa eineinhalb

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WERKZEUG DENKZEUG I ZUR ROLLE DES KÖRPERS

ich lege das gelesene blatt papier links auf der tischplatte ab2

Jahren aktive, in Nordrhein-Westfalen lokalisierte, offene Netzwerk PAErschc versteht sich als Plattform ftir Performance-Kunst, dem sich Künstlerinnen und Künstler mit unterschiedlichen Ansätzen aus Tanz, Theater, Literatur, Musik und der bildenden Kunst anschließen. Der ergebnisotfene, nicht an einem Zielprodukt orientierte Charakter des Entwurfs scheint mir geeignet, um die Open Source Sessions von PAErsehe treffend zu beschreiben. Einzelne erötfuen den "Spielraum", bis sich allmählich weitere Akteure im Geschehen einfinden und ihren Impulsen nachgehen. Es entsteht ein - beispielsweise einem Mobile vergleichbares - Gcfligc, in dem sich die Beteiligten handelnd bewegen. Elemente der Interaktion wechseln mit scheinbar parall el ablaufenden Handlungsfolgen. Das ein- bis zweistündige Geschehen gleicht einem forscherischen Arbeiten, das nicht an der Bestätigung oder Verwerfung zuvor aufgestellter Theorien interessiert ist, sondern sich als offener Prozess versteht, "noch unbekannte Antworten auf Fragen [zu] geben, die der Experimentator ebenfalls noch gar nicht klar zu stellen in der Lage ist." 1 Die Besonderheit des Expcrimcnticrcns liegt wie Karin Krauthausen beschreibt, "nicht in einer Technik der ,Entdeckungen' in der Empirie, sondern darin, das Beispiellose hervorzubringen und stabilisieren zu können."' Sie merkt weiter an, dass "zu den Vorzügen des Experiments [ ... ] nicht zuletzt der unvorhcrschbarc Impuls zur Richtungsänderung [gehört]"' - der vom Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck als eine Art KolumbusEffckt beschrieben wird: Man sucht Indien und landet in Amerika. Trotz des vorläufigen, tastenden Charakters dieser Experimente kann dem Geschehen nicht der Verdacht der Beli ebigkeil unterstellt werden. 2

Die Forschenden zeichnen sich durch eine "Virtuosität" aus, einer Fähigkeit, "mit dem notwendigen Unvorhersehbaren gekonnt umzugehen ."4 Fleck und Rheinberger betonen, dass es dazu ein durch Übung erworbenes Geschicks bedarf. Dazu gehören "nicht nur reflektierte Methoden und etablierte Techniken, sondern auch ein implizites oder stummes Wissen, das nicht rational gesteuert werden muss." 5 Dies schließt ein Gespür für Zeit und eine besondere Aufmerksamkeit mit ein. Einem "Vorgefühl" fol gend innezuhalten, "ohne jeweils schon zu wissen, woraufwir achten; vielmehr geschieht im Aufmerken (etwas), das zunächst kein "Etwas" ist, sondern undeutlich vorliegt und eher einer Witterung entspricht als einem Namcn" 6 wie Dietcr Mcrsch es beschreibt. Haptik und Taktilität sind von Anfang an Leitgedanken meiner künstlerischen Arbeit. Die Sinnlichkeit des Materials und der Rückbezug zum Körper nehmen sowohl in meinen textilen Skulpturen, Performances und Fotografien als auch in fi lmischen Sequenzen einen zentralen Stellenwert ein. Im Rahmen meiner Promotion an der staat-

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ELKE MARK I TAKTILES WISSEN

ich ziehe unter der tischplatte einen kuschelhund hervor3 ich lege dasblattlinks auf dem vorherigen ab

liehen Hochschule flir Gestaltung Offenbach gehe ich Fragen, Wechselwirkungen und Einflüssen unseres heutigen digitalen Lebenskontextes auf unseren Körper und Leib, insbesondere im Blick auf die haptische Wahrnehmung nach, um mich in der Folgerichtigkeit meiner eigenen praktischen künstlerischen Tätigkeit den Herausforderungen einer Thcorctisicrung zu stellen, nicht zuletzt um diese erneut in einen Praxisbezug zurück zu ftihrcn. Die durch den einsetzenden Intensivierungsprozess auftauchenden neuen Bezüge gilt es, in Beziehung zu Bestehendem zu verorten, zu verhandeln und auf meine Grundfragestellung zu befragen: Formen takti len Wissens. Das Modell der fünf Sinne wird seit der Antike gebraucht, auch wenn sich aufgrundperzeptiver Differenzierungsleistungen heute ohne weiteres von mehr als zehn Sinnen sprechen ließe. Die Beschränkung auf fünf Sinne mag der Vereinfachung der Kommunizicrbarkcit von jeweils persönlichen Wahrnehmungserfahrungen dienen. 3

Erst vor etwa 150 Jahren, Mitte des 19. Jahrhunderts, wurden Tast-Rezeptoren in Haut, Muskeln, Sehnen und Gelenken entdeckt und die elektrochemische Reizaufnahme und Weiterverarbeitung im Gehirn entschlüsselt_? Der vormals den "niederen Sinnen" zugeordnete hochdifferenzierte Tastsinn hat eine Aufwertung erfahren. Der unter Somatasensorik zusammengefasste Begriff der Körpcrwahrnchmung, der die spezialisierten Sinne Sehen, Hören, Schmecken und Riechen ausklammert, setzt sich neben der Sensibi lität der Körperoberftäche, der Takti lität, aus der Sensorik des Bewegungsapparates, auch Propriozeption genannt, und der der inneren Organe zusammen. In der aus mehreren Schichten aufgebauten Haut sind Rezeptoren eingebettet, die neben der Oberftächcnwahrnchmung, Temperatur, Schmerz und Druck registrieren. Es werden drei verschiedene Hautrezeptoren unterschieden. ln der Oberhaut sitzen Druckrczcptorcn, die auf eine mechanische Einwirkung mit der Öffnung kleiner Kanäle in ihren Membranen reagiert, sodass positiv geladene Teilchen einströmen. Dadurch wird ein elektrisches Signal erzeugt, das ins Gehirn übertragen wird. Je stä1·ker der Druck, desto weiter die Öffnungen und intensiver das Signal ans Gehirn - entsprechend gibt es bei geringerem Druck keine Rcizcmpfindung. Der Mindcstdruck beträgt etwa 3 mg, was dem Gewicht einer Daune entspricht. Dagegen wird die Bewegung der Haut - beispielsweise beim Landen einer Mücke, die nur etwa 2 mg wiegt - von den tiefer in der Haut gelegenen Berührungsrezeptoren registriert, die auf Veränderung reagieren, ganz unabhängig vom Gewicht.

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ich ziehe langsam den reissverschluss auf derbrustdes hundes hinunter4 ich ziehe dem hund den linken ann aus der fellhülle 5

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Berührungs- und Geschwindigkeitsrezeptoren werden bereits bei einem Milaometer aktiviert, was etwa der Dicke eines 50stel eines Mückenbeins entspricht. Noch tiefer gelegen sind Rezeptoren, die auf Beschleunigung und auf Vibration eines Reizes reagieren. Diese registrieren z.B. die durch den Flügelschlag einer Mücke verursachten Schwingungen bereits bei einem Meter Abstand!" Diese extreme Sensibilität der Haut, insbesondere in den Fingerspitzen, lässt mich feinste Wölbungen ertasten, die mir über Vibrationserzeugung Oberflächenstrukturen zu erkennen erlaubt. Hinzu kommt die tiefensensorische Wahrnehmung- Propriozeption - die mir in Kombination mit dem Gleichgewichtssinn ein Empfinden der Lage meines Körpers im Raum ermöglicht. Unter Tiefensensibilität werden Sinneseindrücke zusammengefasst, die durch Reizung von Rezeptoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken entstehen. Auch als Kraftsinn bezeichnet dient er der Wahrnehmung von Stellungen (Positionssinn) und Bewegungen (Kinästhesie) einzelner Teile meines Körpers und ermöglicht mir eine Einschätzung von Gewichten. In Kombination mit der Taktilität dient er der dreidimensionalen Erfassung räumlicher Dimensionen. Auch unter Ausschluss von visueller Kontrolle bin ich in der Lage, mich im Verhältnis zur Vertikalen und Horizontalen im Raum, vom-hinten, oben-unten, rechts-links zu verorten.

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Diese anatomischen und funktionalen Erkenntnisse geben bis heute wenig Auskunft darüber, wie der Prozess der Zusammensetzung der unendlich vielen Einzelinformationen zu einem Ganzen im Gehirn, das Erlernen und Automatisieren sensornotorischer Verarbeitungsvorgänge letztlich vonstatten gehen - finden doch neben der ständigen Informationsverarbeitung und -intcgration aus dem sensiblen und motorischen System zugleich unzählige weitere Prozesse der Aufmerksamkeitsregulation und des Arbeitsgedächtnisses statt, denen wiederum vielfache Vergleichs- und Entscheidungsprozesse vorausgingen.9 Studien zur Tastwahmehmung aus dem letzten Jahrzehnt, die sich überwiegend dem Verstehen der passiven Reizverarbeitung widmeten, warfen nur noch mehr Fragen zum Verständnis einer aktiven haptischen Perzeption auf, deren Komplexität letztlich die Zusammenarbeit verschiedener Wissensdisziplinen nötig macht. Die ständigen Wechselwirkungen motorischer und sensorischer Prozesse bei der Informationsverarbeitung hat zur Einführung des Begriffs der Sensomotorik gefl.ihrt, eines umfassenden Körpersinnes, der neben der bewussten Steuerung und Kontrolle von Bewegungen fl.ir die

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ich ziehe dem hund den rechten arm aus der fellhülle6 ich lege das blattpapierbeiseite ich drehe den hund um7 ich ziehe nacheinander zunächst das linke, dann das rechte bein aus der fellhüllex

unbewusste beständige Anpassung des Körpers an die an ihn gestellten Erfmdernisse sorgt. 6

Seit Mitte der 1950er Jahre wurde u . a. von James Jerome Gibsou und Geza Revesz 10 verstärkt auf den Aspekt der aktiven Bewegung am Wahrnehmungsprozess hingewiesen. Dies ftihrte zur Unterscheidung des Begriffs der Haptik - als einem durch aktives Ertasten und Berühren erfassenden Sinns -von dem der taktilen Wahrnehmung, bei dem die Haut passiv, d. h. ohne aktive Bewegung de1· wahrnehmenden Person, stimuliert wird.

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B is heute sind die Begriffsbestimmungen von Taktilität und Haptik im Wandel begriffen und werden unterschiedlich gebraucht, wobei der Begriff der Haptik stets an eine aktive Bewegung geknüpft ist, die schließlich in der Berührung ihr Ziel findet. Ohne diese Annäherungsbewegung blieben Körper und Gegenstände isoliert im Raum und können nicht getastet werden. Vielmehr noch wi1·d über die kinästhetische Bewegung die haptische Wahrnehmung zu meiner eigenen gemacht. Dieser Selbstbezug, die Doppelinformation des Spürens, die mir sowohl Informationen über die Außenwelt und zugleich über mich selbst vermittelt, ist der entscheidende Unterschied zu technologisch entwickelten Apparaten, die aus Kinästhetik und Haptik keinen Selbstbezug herstellen können. 11 Hinzu kommen bisher wenig beachtete Aspekte unbewusster Körper(eigen-) berührungen, deren Einfluss au f die Handlungsfahigkeit des Einzelnen Mmtin Grunwald in aktuellen Forschungen nachgeht. "

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Die künstliche Trennung der Sinnessysteme wird nur zum einfacheren Verständnis vorgenommen, da die Wahrnehmung vielmehr ein stetiges lneinandergreifen, Zusammenarbeiten und Verknüpfen vieler Wahrnehmungsbestandteile auszeichnet. Ich habe hier bewusst das Tastsinnesvermögen in aller Ausftihrlichkeit dargestellt, um damit die dem Denken zugrundeliegenden hochkomplexen Leistungen unserer Sinnes- und Verarbeitungssysteme herauszustellen. Die aus dem Lernprozess resultierenden Automatisierungsvorgänge - häufig als scheinbar "natürlich gegeben" oder als "selbstverständ-

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ich lege fell und hund auf der tischplatte vor mir ab9 ich lege das blatt zur seite ich stehe auf, ich halte den stapel blätter in beiden händen10 ich steige auf den stuhl 11

liehe" Erfahrungsdimensionen missinterpretiert und vorschnell als "banal" abgewertet - zeichnen ein funktionierendes Sinnessystem aus, das häufig erst bei Irritationen und Störungen auffallig wird. 9

Ein Merkmal, das auch dem Medium zugeschrieben wird und dessen "Verschwinden" u. a. von McLuhan ausfuhrlieh untersucht wurde, worauf ich später zurückkommen werde. Doch zunächst zu taktiler Erkenntnis und Wissensgenerierung. Zuerst von Aristotolcs als einem einheitlichen Sinn beschrieben, hat das Tastsinnesvermögen seit der Antike bis ins 17. Jahrhundert eine untergeordnete Rolle gespielt. Das Visuelle hatte durch die Jahrhunderte eine unangefochtene Vormachtstellung. Erstmals wird der Tastsinn in der Phase des Sensualismus, ab Ende des 18. Jahrhunderts, gegenüber dem Sehen privilegiert. Doch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominiert das Visuelle mit Aufkommen der Gcstaltthcorie, Physiologie und Psychologie erneut und wertet den Tastsinn als Erkenntnisquelle ab. 13 Eine Ausnahme bildet Rcvcsz, der den vom Tastsinn gewonnenen Erkenntnissen entscheidende Überzeugungskraft bescheinigt. "Gegenüber den anderen[ .. .] Sinnen[ .. .] hat der Tastsinn einen erkenntnistheoretischen Vorrang." zitiert Jens LoenhoffRevesz."

10 Taktilität wird verstärkt in den Kontext sozialer Handlung, Kommunikation und Interaktion gerückt, da der körperliche Kontakt, die Berührung und das Berühren als Doppelempfindung hiervon nicht zu trennen sind. In seiner Wahrnehmungstheorie von 1925 beschreibt Melchior Palagyi die aktive Bewegung als wesentlichen Bestandteil taktiler SelbstwahmehmungY Auch Amold Gehlen'" und Michel Serres' 7 betonen die sensornotorische Wahrnehmung als grundlegend zur Erlangung von Bewusstsein und Wisscnserwcrb. Madalina Diaconu weist in ihren Untersuchungen den Tastsinn als dynamisches, beweglich-flüssiges, einem leiblich aktiven Subjekt verbundenes Erkcnntnisorgan aus, das visuelles Erkenntnisvermögen nicht nur erweitert, vielmehr dessen Grundlage bi ldet. II Das ortsbezogene, fragmentarische des Tastens macht eine Syntheseleistung erforderlich, um sich ein Bild des Ganzen machen zu können. Es entsteht keine Verfestigung,

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ich steige auf den tisch 12 ich lasse das gelesene blatt papier aus der linken hand gleiten ich ziehe den stuhl heran und stelle ihn auf den tisch und steige darauf1 3

kein erstarrendes Fixieren wie es dem Visuellen eigen ist. Damit ist dem Tasten ein ln-Bewegung-bleiben eingeschrieben, und "daher kmm auch ein taktiles Denken nie vorhaben, die beweglichen Konstellationen von Sachverhalten in einem System zu verfestigen."" Weiter hält Diaconu fest: "Wenn das taktile Denken die metaphysische Spaltung zwischen dem Wesen als Kern und dem Phänomen als Hülle aufgeben muss, indem das Subjekt immer an der Oberfläche bleibt, so öffnet es sich zu einer andersartigen Tiefe, zu einer geschichtlich-gcschichtctcn Oberfläche oder zu einem Palimpsest."19 Die Verdoppelung der Wahrnehmung in der Gleichzeitigkeit des Berührcns und Berührtwerdens und das damit verbundene Erleben sowohl Subjekt als auch Objekt zu sein, beschreibt den ausschlaggebenden Moment der Erkenntnis. [Merleau-Ponty fasst in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung das Sehen als eine Forrn des Tastens auf. Diaconu arbeitet Merleau-Pontys Überlegungen zur Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und dem Anderen, Unsichtbarem und Sichtbaren, "als einem nach dem Modell der gegenseitigen Berührung der Hände aufgefassten Chiasmus, als ein reversibles Verhältnis, wo die klare Aufteilung der aktiven und passiven Rollen durch eine gute Ambiguität gesprengt wird" 20 heraus und fasst sein unabgeschlossenes, sich nicht zu einem System verfestigendes Denken, als "taktil" auf. Ergänzend führt sie Ute Guzzonis Überlegungen zum Begriff des "Landschaftlichen Denkens" an, die ein Denken fordert, das die Beschäftigung mit seinen Inhalten als ein sich durch eine Landschaft bewegend und als Teil oder Moment davon empfindend versteht." Diaconu zufolge kennzeichnet das neue, taktile Denken eine Zugehörigkeit des Menschen zu seinem Gegenüber, das keine gegenständl iche Beziehung mehr ist.] 12 Hinzu kommen die wichtigen Aspekte des Affekts, denn über I asteindrücke von Konsistenzen, Widerständen und Tiefen nehmen wirdamitverbundeneGeftihlevonAbwehrbiszu Gefühlen höchster Intimität wahr, sodass Hartmut Böhme "nicht nur die sinnlichen Wahrnehmungen, sondern auch alle Emotionen als Abkömmlinge des Tastsinns"" versteht. Das Referenzfeld des Taktilen muss auch im Kontext des im späten 18. Jahrhundert durchgreifenden Umbaus vom humoralen zum organisch-neuronal/anatomischen Körper gesehen werden. 13 Entgegen dem alteuropäischen humoralen Körperverständnis, in dem das fluidale, ma-

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ich steige vomstuhlauf den tisch 14 ich lasse das gelesene blatt papier aus der linken hand gleiten ich steige links über einen unbesetztenstuhlvom tischund setze mich auf den stuhl neben einem zuhörer, der zur seite rückt 15

tcricllc Leben aufbewahrt und verbraucht wurde, porös, uncodiert, mit der Außenwelt in unaufhörlichem Kontakt, ist der moderne Körper durch ein ständiges Aufrechterhalten der Innen/Außen-Abgrenzung gekennzeichnet, was zu größerer Distanzierung vom Leiblichen fuhrt. In der heutigen Medizin finden Untersuchungen häufig nicht mehr zwischen zwei Körpern statt. Bildgebende Apparaturen werden zwischengeschaltet, liefern (nicht einmal mehr zcitverzögert) Ergebnisse aus dem lnnern, präsentiert auf zweidimensionalen Scrccns. Taktilität vollzieht sich nicht als Vermittlung einer äußeren Berührung bis ins Innerste hinein, "nicht einmal mehr [als] eine einfache Annäherung von Entferntem, sondern nur noch [als] Transformationen, die sich bei der Datenverarbeitung von der sensorischen über die sensuelle bis zur kognitiven Funktion ereignen." 23 14 "Jah1iausende lang war das somatische ,ich' nanativ, es konnte nur durch die ,Bio'-

,Logic', durch das Besprechen der Fährnisse des Lebens in seiner Zeit tmd an seinem Ort zur Sprache kommen. Heute dagegen scheint es uns evident, dass ,der Körper' nichts als ein Objekt ist, das aus Beschreibungen, Konstruktionen und Texten hervorgeht. Wir haben uns so sehr an Schichten und Schichten von Beschreibungen über die innere Anatomie, ihre Organe etc. gewöhnt, [ ... ] dass wir uns über diese Implantation von textbezogener Metaphorik in den Leib hinein nicht mehr intuitiv befremden können. " 24 , fasst Barbara Duden diesen Prozess zusammen. 15 Taktilität ist längst nicht mehr Garant körperbezogener Kommunikation. Diese Verlus-

terfahrung geht mit Entwicklungen neuer Dimensionen technikgenerierter Formen von Taktilität einher. Virtuelle Haptik und Robotik haben sich in rasantem Tempo zu einem fuhrenden Wissenschaftsbereich entwickelt.'; Bevor ich den Veränderungen des Tastsinns 1m Kontext digitaler Technologien nachgehe, werde ich zunächst kurz auf die von Walter Benjamin beschriebenen entscheidenden Veränderungsprozesse zum Verständnis einer ,modernen' Taktilität mit ihren radikalen Auswirkungen auf unser Sehen Bezug nehmen, die mittlerweile selbstverständlicher Bestandteil unserer Sehgewohnheiten geworden sind. Die neue apparative Sicht auf die Welt und insbesondere die Entwicklung des Films haben zu "völlig neuen Strukturbildungen der Materie"" durch die Kamera gefuhrt.

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ich stehe auf und gehe langsam zwischen den sitzenden in den hinteren hereich des raumes 16 ich lasse das gelesene blatt papier aus der linken hand gleiten ich reiche dem vor mir Sitzenden meinen stapel blätter17 ich demonstriere einen in zeitlupe mit geöffnetem mund und ausgestreckten armen lautlos zu boden sinkenden tormann ich nehme meinen stapel blätter wieder an mich und gehe einige schritte weiter18

Das Auge bleibt zwar zentral, die Medien rücken dieses aber durch Großaufnahmen, Zeitlupe und Schnitt so nah heran, dass es die Dinge touchiert und sich der Beobachter nicht mehr entziehen kann. "Dieses strukturierende Eindringen in die Wirklichkeit ist das taktile Moment der Medien, das zudem die übliche Betrachtung von Oberflächen vcrdrängt," 27 wie Nicolas Pcthcs es beschreibt. Mediale Apparaturen erzeugen Fremdheit und Feme durch extreme Nähe. 16 Am äußersten Punkt der Annäherung, dem taktilen Moment der Berührung, schlägt die Nähe in Feme um. Diese Nähe zu den Objekten geht auf Kosten der Objektivität, der Beobachter muss seine souveräne Position aufgeben. Der perspektivisch hierarchisierte Raum der abendländischen Wahrnehmungstheorie wird durch die moderne Taktilität verändert. "Taktile Rezeption ist also keine durch die intentionale Interaktion der Hände oder eine authentische Körpererfahrung bedingte Berührung mehr, sondern gerade der Verlust der Fähigkeit, sich der durch die Kameralinse näher rückenden Umwelt zu entziehen."'" Wie selbstverständlich heute unsere Sehgewohnheiten vom Blick durch Kameralinsen geprägt sind, wie Kinder Wahrnehmungsmuster lernen, um aus dem Wahrgenommenen "Sinn" zu machen, hat mir, nachdem er ein Spiel der Fußballweltmeisterschaftsübertragungen im vergangeneu Jahr beobachtet hatte, mein damals dreijähriger Sohn beim nächsten Kicken gcnauestens demonstriert: 17 Mama, weißt du denn nicht, wie man einen Ball fangen muss! ~ 18 Die Irritation durch die abwechselnd ganz großen und vielen kleinen Fußballer, die ständig steigende Anzahl der Tore, die plötzlich ganz langsam geschossen werden, lernen die Kinder schnell als Ausschnittvergrößerungen, Wiederholungen, Zeitsprünge, Schnitt und Montage zu interpretieren. Im Kontext heutiger digitaler Technologien

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ich setze mich auf den schoß einer zuhörerin 19

sogar weitaus mehr: sie gestalten selbst, beeinflussen, steuern. Galt ftir das mechanische Zeitalter die Reproduzierbarkeil als Novum, so verspricht die heutige digitale Informationsgesellschaft eine generierende Kraft, die Neugestaltung möglich macht." Aspekte von Digitalität, abgeleitet vom Abzählen an den einzelnen Fingern (aus dem Lateinischen von "digitus"), die auch in unmittelbarem Bezug zu den Tasten als von Hand und Fingern bedienten Werkzeugen stehen, werden von Till Heilmann als eine auf McLuhan zurückgehende "digitale Taktilität" 30 gefasst, auf die ich später zurück kommen werde. Die Steuerung von Objekten auf dem Computerbildschirm wird über Eingabegeräte in der Hand des Benutzers vorgenommen. Sehen und Tasten werden, symbolisiert durch eine kleine Hand als Mauszeiger, auf der Benutzeroberfläche zusammengeführt. Die Hand wird dabei nicht mehr vom Auge kontrolliert, durch Drücken der Tasten findet ein übertragenes Tasten statt. Wurde zunächst über Tastaturen symbolisch manipuliert, schließlich mit der Maus und ihren Tastenfunktionen über graphische Schaltflächen auf dem Eildschinn navigiert, finden heute direkte Berührung und Gestensteuerung in der Benutzung der Touchscreens, Smartphones und Tabletcomputer Verwendung, bei denen numerische Tastaturelemente und Schaltflächen fast völlig verschwinden.31 19 Dieser Verlauf in der Schnittstellenentwicklung kennzeichnet laut Heilmann den Traum und "den unmöglichen Wunsch des Menschen, über die Vermittlung von Tasten und Schaltflächcn, über die Ebene der schriftlichen und der grafisch-ikonografi schen Vermittlung hinaus die digitalen Dinge selbst in den Griff zu bekommen."32 Inzwischen ist der Mensch mit seinen Körperbewegungen Teil des Interfaces. In Kombination mit dem Sehen kommt dem Tastsinnesvermögen der Hand in der Auge-Hand-Koordination eine besondere Stellung zu. Sie bildet in Verbindung mit der visuellen Wahrnehmung, Schreiben und Lesen wichtige Grundlagen flir unsere Bcwusstscinsprozcssc heraus. Die komplexe Steuerung graphomotorischcr Bewegungsabläufe verdanken wir der Fähigkeit unseres Gehirns zu Neuverknüpfungen und der daraus resultierenden Zeitersparnis - denn strukturell unterscheidet sich unser Gehirn kaum von dem der Menschen vor 40 000 Jahren, die weder lesen noch schreiben konntcn.33 Zusätzlich zum feinmotorischen Geschick müssen die Kinder in der Lage sein, zur Umsetzung der Schrift auf dem (zweidimensionalen) Papier, einen Raum oder eine Heftseite von links nach rechts und von oben nach unten strukturieren zu können, was auf zuvor erlernten Koordinationsleistungen in der kindlichen Bewegungsentwicklung beruht. Beim Erlernen der Buchstaben übernimmt zunächst das Großhirn die bewusste

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ich lasse das gelesene blatt papier aus der linken hand gleiten ich stehe aufl0 ich gehe den weg zurück und bis in die äußerste ecke des raumes21

Steuerung der Handmotorik zur Kontrolle der einzelnen Bewegungsabläufe und deren Koordination. Erst mit demAutomatisieren der Bewegungsabfolgen lernt das Kind flüssig und schneller zu schreiben und den Druck seiner Hand anzupassen. Da das Lesen und Schreiben Lernen nicht genetisch programmiert ist, muss sich jedes Kind aufs Neue diese Fertigkeiten aneignen. Dabei greift es zunächst aufältere Strukturen für das Sehen und Sprechen zurück, bevor sich in vielfältigen aufeinander aufbauenden Lernschritten und Verknüpfungsprozessen ein neuer "Leseschaltkreis" über die gesamte Fläche beider Hirnhälften formt. Maryanne Wolf, Professorin für kindliche Entwicklung in Boston, verweist auf die essentielle Bedeutung dieses Prozesses. Schreiben und Lesen "strukturiert die Schaltkreise und Verbindungen zwischen bestehenden Hirnstrukturen um, nutzt deren Fähigkeit, Areale zur Spezialisierung, insbesondere zur Mustererkennung, heranzuziehen und demonstriert, wie neue Schaltkreise so weit automatisiert werden, dass mehr zeitliche und räumliche Hirnkapazität für andere, komplexere Denkprozesse zur VerfUgung steht. "34 20 Die radikalen Veränderungen des Gebrauchs der Hand im Schreibprozess mit Einzug neuer Technologien verlangen eine erneute Untersuchung der Rolle der Hand. Dabei wird die Hand nicht, wie zumeist, unter motorischen Gesichtspunkten gefragt sein, sondern insbesondere im Hinblick auf die perzeptiven Verarbeitungsprozesse. Die für unsere Generation völlige Selbstverständlichkeit der natürlichen sensornotorischen Erfahrungen täuscht schnell über die grundlegende Bedeutung der haptischen Wahrnehmung flir Lernprozesse hinweg. Die norwegische Literatur- und Medienwissenschaftlerin Anne Mangen, die E inflüsse digitaler Techno logien auf das Lesen und Schreiben unter multisensorischen, körperbezogenen Gesichtspunkten erforscht, betont, dass in den fundamentalen Verknüpfungen zwischen Haptik und Kognition in der Kombination Reiz verarbeitender Zentren im Gehirn mit der schreibenden Hand ein Potenzial liegt, das durch Tippen auf einer Tastatur unerreichbar bleiben wird.35 21 Resultate aus der Zusammenarbeit mit Jean-Luc Vclay, Kognitionswissenschaftler an der Universität Marseille, stellen die Rolle der Haptik und den Stellenwert der Hand in Lese- und Schreibprozessen heraus. Tn einer Studie wurden zwei Gruppen von Erwachsenen verglichen, die die Aufgabe erhielten, in einer unbekannten Schrift, bestehend aus

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ich gehe zum ausgangspunkt zurück und stehe teilweise verdeckt durch den stuhl auf dem tisch22

zwanzig Buchstaben, zu schreiben. Eine Gruppe schrieb mit der Hand, die zweite an einer Tastatur. Drei und sechs Wochen später wurde die Erinnerung an die Buchstaben sowie die Schnelligkeit des Erkennens richtiger und verdrehter Buchstaben überprüft. Die Gruppe, die mittels Handschrift gelernt hatte, erzielte bessere Ergebnisse. Dabei stellten sie fest, dass beim Lesen von Buchstaben, die durch Handschrift erlernt wurden, das motorische Sprachzentrum in der Großhirnrinde aktiviert wird. In der Gruppe der auf einer Tastatur Schreibenden wurde hingegen wenig oder gar keine Aktivierung dieses Broca-Areals verzeichnet." In funktionellen Magnetresonanztomographie-Aufnahmen konnte bestätigt werden, dass die sensemotorischen Reize beim handschriftl ichen Schreiben eine Art motorischer Erinnerungsspur hinterlassen, wodurch die Erinnerung an das Geschriebene zu einem späteren Zeitpunkt leichter abgerufen werden kann. Dies geschieht sogar, wenn wir eine Person bei ihrem Tun beobachten. Wir müssen es nicht einmal selbst ausfUhren. Eine Aktivität zu hören oder sie zu beobachten ist oft schon genug. Es kann sogar ausreichen, ein vertrautes Werkzeug zu sehen, das mit einer bestimmten Tätigkeit assoziiert ist, erklärt Anne Mangen." Demnach wird das Broca- Areal deutlich stärker aktiviert, wenn beim Lesen eine Bewegung assoziiert wird. Vorausgesetzt es wurden bereits sensornotorisch-kognitive Vcmctzungcn erstellt. Weitere Studien Jcan-Luc Velays und Marieke Langcamps zeigen, dass motorische Bewegungen das Erinnern an Buchstaben grundsätzlich erleichtern. Die Vorteile des Schreibtrainings gelten für Kinder und Erwachsene. "Wenn unsere Hand einen Stift führt, wird offensichtlich der entsprechende motorische Befehl in bestimmten Teilen der Großhirnrinde gespeichert. So entsteht ein Gcdächtuis für Bewegungen und taktile Empfindungen, die zum jeweiligen Schriftzeichen gehören- die so genannten sensornotorischen Erim1crungcn. Sie unterstützen das rein visuelle Wiedererkennen."" Buchstaben können demnach auch umgekehrt durch " kinästhetische Bewegung" an den jeweils dazugehörenden Hand- und Fingerbewegungen wiedererkannt werden. "Lesen ist eigentlich ein inneres Schreiben unter Beteiligung eines ausgedehnten neuronalen Netzwerks." [. .. ] Denn beim Schreibenlernen prägen sich Kinder "die visuelle Form eines Buchstabens gleichzeitig mit seiner Aussprache und der einzigartigen Bewegung ein, die notwendig ist, um etwa ein A zu schreiben. Beim Tippen auf einer Tastatur reduziert sich das Ganze hingegen darauf, eine Taste zu drücken."39 Dies kann durch eine unspezifi sche, willkürliche Handbewegung geschehen. 22 Übereinstimmende Ergebnisse finden sich auch in Studien zweier amerikanischer Psy-

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ich lasse das gelesene blatt papier aus der hand gleiten ich gehe in die hocke, mein gesicht auf tischhöhe23 ich ziehe meinen kopfein und verschwinde aus dem sichtfeld24 ich lasse das gelesene blatt papier am boden liegen

chologinnen, Karin Hannan James und Virginia Beminger, die betonen, dass Kinder mehr und schneller von Hand schrieben und deutlich mehr Ideen entwickelten als Kinder, die das Schreiben auf der Tastatur erlcrnten40 Vom Neurowissenschaftler Murali Doraiswamy aus Durharn wird sogar die Effektivität des Schreibens mit der Hand in der Therapie schwindender Gedächtnisleistungen ins Gespräch gcbracht41 23 Vorerst bleibt das Ziel des befriedigenden Erarbeitens einer lesbaren Handschrift bestehen, die nur durch ausreichendes Üben erzielt werden kann. Tippen zu lernen kann die damit verknüpften komplexen Lemvorgänge nicht ersetzen. Das geduldige Ausdifferenzieren vcstibulärer, propriozcptiver und taktiler Qualitäten beim Erlernen der Schreibschrift sollte nicht einer scheinbaren, vordergründigen Lernbeschleunigung geopfert werden. Verweist Maryanne Wolf doch sogar auf sogenannte Verzögerungsneuronen, "deren einzige Funktion darin besteht, die nemonale Übermittlung dmch andere Neuronen, wenn auch nur um Millisekunden, zu verlangsamen. Di ese unschätzbaren Millisekunden verleihen unserer Wahmehmung der Realität Struktur und Ordnung und versetzen uns in die Lage, Bewcgtmgsabläufe [ ... ] zu planen und zu synchronisieren.''" Was nutzt die Schnelligkeit des Tippcns, wenn die freigesetzte Kapazität nicht mehr ftir Gedankenfreiheit und Kreativität genutzt wird~ 24 Da das Wissen über die physiologischen Abläufe des Bcrührungscmpfindcns keine hinreichenden Erklärungen über die Qualitäten des Taktilen und noch weniger über die Bedeutsamkeil leiblicher Berührung für den Menschen anbietet, selbst eine Versprachlichung dieser Vorgänge an ihre Grenzen gerät, wird in dieser praktisch-theoretischen Arbeit die Entwicklung einer künstlerischen ,Praxis-Sprache' zu haptischem Wissen im Vordergrund stehen, die leibliche und digitale Taktilität einbezieht. Sind wir nicht längst bei der " elektronischen Koloniali sierung"43 unseres Tastsinns angekommen und müssen auf eine "stumme Intelligenz des Tastens" 44 vertrauen, wie Hartmut Böhme es beschreibt, die sich dem sprachlichen Zugriff entzieht?

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ich richte mich wieder auf15 ich lege die letzte seite auf den tisch und setze mich

25 Damit komme ich zum Schluss. Da das Wissen über die physiologischen Abläufe des Berührungsempfindens keine hinreichenden Erklärungen über die Qualitäten des Taktilen und noch weniger über die Bedeutsamkeit leiblicher Berührung ftir den Menschen anbietet, selbst eine Versprachlichung dieser Vorgänge an ihre Grenzen gerät, steht in meinem praktisch-theoretischen Promotionsvorhaben die Entwicklung einer künstlerischen "Praxis-Sprache" zu haptischem Wissen im Vordergrund, die leibliche und digitale Taktilität einbezieht. Das Bedürfnis und die Neugier, Nicht-Fassbares und Unstoffliebes begreiftich zu machen, bleiben. Grundlage daftir sind nicht zuletzt die aus dem tatsächlichen taktilen Erleben von Nähe gesammelten sinnlichen Erfahrungen. Wird die Generation, die diese Erfahrungen beschränkt, diese überhaupt vermissen (können)? Verarmen wir uns nicht selbst!

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LITERATURVERZEICHNIS Rheinberger (2001 ): Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingcn, 2001, S. 22. 2

Krauthausen (2010): Karin Krauthauscn, Vom Nutzen des Noticrcns, in: Karin Krauthauscn/Omar W. Nasim (Hrsg.), Notieren, Skizzieren: Schreiben und Zeichnen als Verfahren des Entwurfs Bd. III, Zürich & Berlin 20 I 0, S. 11 .

3

Ebd., S. 12, vgl. auch Fleck (1935): Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einfuhrung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt/Main 1935.

4

Krauthausen (2010): Karin Krauthauscn, Vom Nutzen des Noticrcns, in: Karin Krauthausen/Omar W. Nasim (Hrsg.), Notieren, Skizzieren: Schreiben und Zeichnen als Verfahren des Entwurfs Bd. III, Zürich & Berlin 2010, S. 12.

5

Ebd., S. II , vgl. auch Rheinberger (200 I): Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und cpistcmischc Dinge, Göttingen 2001 und Polanyi ( 1966): Michael Polanyi, Tbc Tacit Dimension, London 1966.

6

Mcrsch (2002): Dictcr Mcrsch, Ereignis und Aura, Frankfurt/Main 2002, S. 52.

7

Vgl. Grunwald (2001): Martin Grunwald, Der bewegte Sinn, Basel - Boston - Berlin

8

alle Beispiele aus dem 3sat nano: Bericht: Den Flügelschlag einer Mücke in einem

2001. Meter spüren, vom 11.09.2008, http://www.3sat.de/mcdiathckl?modc=play&obj=939 1 (aufgerufen am 17.11.2011). 9

Grunwald (200 1): Martin Grunwald, Der bewegte Sinn, Basel- Boston- Bcrlin 2001.

I 0 Vgl. Gibson ( 1962): James Jerome Gibson, Observations on active touch, in: Psychological Review, Vol. 69, S. 477 - 491, 1962 und Revesz ( 1950): Geza Revesz, Psychology and art ofthe blind, NewYork, Longmans Green 1950. 11 Vortrag von M6nica Alarc6n am McdiaSynthcsisLab/Furtwangcn, mbody, http://vcrbundlabor.de/LchrcUndF orschung/Lopcs 1106 (aufgerufen am 26.11.2011) 12 Vgl. Grunwald (2012): Martin Grunwald, Haptik: Der handgreiflich-körperliche Zugang des Menschen zur Weit und zu sich selbst, 2012, im vorliegenden Band. 13 Vgl. Loenhoff (1998): Jens Loenhoff, Hand und Haut, in: Psychologie und Geschichte, Bd. 8, Opladcn, Lcskc u. Budrich, S. 26 1-280, 1998. 14 Rcvcsz (1944): Gcza Rcvcsz, Die menschliche Hand: eine psychologische Studie, Basel - Ncw York, S. Karger, 1944, S. 24. 15 Vgl. Melchior Pahigyi, Ausgewählte Werke: Wahmehmungslehre, Bd. TI, Leipzig 1925. 16 Gehlen (1993): Amold Gehlen, Der Mensch, Frankfurt 1993. 17 Serres ( 1998): Michel Serres, Die funf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt/Main 1998.

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18 Diaconu (2005): Mädälina Diaconu, Tasten-Riechen-Schmecken: Eine Ästhethik der anästhesierten Sinne, Würzburg 2005, S. 77. 19 Ebd., S. 77. 20 Ebd., S. 87. 21 Vgl. Guzzoni (1990): Utc Guzzoni, Wege im Denken: Versuche mit und ohne Heidegger, Freiburg/München 1990. 22 Böhme (1996): Hartmut Böhme, Der Tastsinn im Geflige, der Sinne, in: Uta Brandes/ Clandia Neumann (Hrsg.), Tasten, Göttingen 1996, S. 194. 23 Binczek (2000): Natalie Binczek, Der ärztliche Blick zwischen Wahrnehmung und Lektüre, in: Taktilität, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 117, Stuttgart 2000, S. 96. 24 Duden (2009): Barbara Duden, Von der "Bio-Logie" unter anderen Sternbildern, in: Haut- Zwischen Innen und Außen, Villigster Werkstatt Interdisziplinarität (Hrsg.), Bd. 12, Berlin 2009, S. 1. 25 Vgl. Twata (2008): Hiroo Twata, History of haptic interface, in: Martin Grunwald (Hrsg.), Human Haptic Perception: Basics and Applications, Basel - Boston - Berlin 2008, S. 355-361. 26 Benjamin (1935/36): Waller Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. T.2, Frankfurt/Main 1974, S. 500. 27 Pethes (2000): Nicolas Pethes, Die Ferne der Berührung, in: Taktilität, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 117, 2000, S. 49. 28 Ebd., S. 48. 29 Vgl. Heilmann (2010): Till A. Heilmann, Digitale Kodierung und Repräsentation. DVD, CSS, DeCSS, in: Kulturen des Kopierschutzes JT, Navigationen Bd. 2/2010, Siegen 2010. 30 Heilmann (201 0): Ti II A. Heilmann, Digitalität als Taktilität, Zeitschrift für Medienwissenschaft 3, 2/20 I 0, Berlin 2010. 31 Heilmann (2011): Till A. Heilmann, Taste und Finger. Anmerkungen zum Begriff des Digitalen, Vortrag vom 08.07.2011 am Institut flir Kultur und Ästhetik Digitaler Medien, Leuphana Universität Lüneburg 2010. 32 Ebd. 33 Wolf(2009): Maryanne Wolf, Das lesende Gehirn, Heide1berg 2009, S. 254. 34 Ebd., S. 253. 35 Mangen (2008): Anne Mangen, Hypertext fiction rcading: haptics and immersion, in: Journal ofResearch in Reading, Vol. 31,4/2008, Oxford 2008, S. 404-419. 36 Mangen/Velay (2010): Anne Mangen und Jean-Luc Velay, Digitizing Literacy: Reflections on the Haptics ofWriting, in: Advances in Haptics, 2010.

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ELKE MARK I TAKTILES WISSEN

37 Ebd. 38 Velay!Longcamp (2007): Jean-Luc Velay und Marieke Longcamp, Besservon Hand, in: Gehirn & Geist 3, Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg, 2007, S. 16. 39 Ebd. 40 Gwcndolyn Bounds, How Handwriting Trains thc Brain, in: Thc Wall Street Journal, 20 I 0, http://onlinc.wsj.com/articlc/SB I 00014240527487046315045755319327549225 18.html (aufgerufen am 16.12.2011). 41 Ebd. 42 Wolf (2009): Maryanne Wolf, Das lesende Gehirn, Heidelberg 2009, S. 25 1. 43 Böhme (1996): Hartmut Böhme, Der Tastsinn im Geftige, der Sinne, in: Uta Brandes I Clandia Neumann, Tasten, Göttingen 1996, S. 206. 44 Ebd.

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Das Denken des Leibes und der architektonische Raum WOLFGANG MEISENREIMER

Schon der Titel meines Beitrags deutet an, dass ich den menschlichen Leib für das wichtigste Werkzeug/Denkzeug halte, das beim Erlebnis des architektonischen Raumes aktiviert wird. Dabei möchte ich vorausschicken, dass ich Leib und Körper in der Redeweise von Hermann Schmitz' voneinander unterscheide. Körper ist der materielle, physische Gegenstand, der als Ding unter Dingen begreifbar, objektiv gegeben und mit den Mitteln der Naturwissenschaft erforschbar ist, Leib dagegen ist die Repräsentation des Ich, angereichert mit den Spuren der Geschichte meiner Person, Erinnerung und Gedächtnis sowie mit den Impulsen meines intentionalen Wollens, Hoffnungen und Erwartungen, erlebbar nur in der Aura meines Selbst, das sich vor allem in Aktivitäten zeigt. Bevor ich aber den Leib als wichtigstes Werkzeug der Erkenntnis auch der Erkenntnis der Architektur- ihrer Eigenarten und Ausdrucksqualilitäten, erläutere, möchte ich eine autobiographische Vorbemerkung machen. Ich habe an der Fakultät Architektur im Reiffmuseum der RWTH Aachen studiert und meine Studien mit der Dissertation "Der Raum der Architektur. Strukturen, Gestalten, Begriffe"2 abgeschlossen; Gleichzeitig mit dieser

Schmitz (1 966). 2

Die Referenten waren 1964, Prof. Dr. Hans Schwippert, Architekt, Ordinarius fur Werklehre und Wohnbau und Prof. Dr. Wolfgang Braunfels, Kunsthistoriker, Ordinarius für Kunstgeschichte.

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WERKZEUG DENKZEUG I ZUR ROLLE DES KÖRPERS

Arbeit an der begrifflichen Bewältigung dieses Themenkreises hatte ich das Glück, ein erstes Haus zu bauen, ein Bruchsteinhaus für meine Eltern, bei dem ich zwei Jahre lang aktiv war, beginnend mit Steinbrucharbeiten, schließlich auch mit allen praktischen Gewerken, die zu einem einfachen Wohnhaus gehören. Das war mein Lehrstück. 3 Beide Aufgaben waren flir mich gleichermaßen wichtig, die Arbeit an den begrifflichen Systemen und Entwürfen einerseits und die körperliche Arbeit am realen Bau andererseits. Diese doppelte Erfahrung hat mich ein Leben lang begleitet und das führt mich zur zentralen These meines Beitrags. Das Sprechen über architekturtheoretische Begriffe wie Raum, Konstruktion, Gestalt usw. ist leer, sofern nicht die Erfahrung des Leibes dazu kommt und mitgemeint ist. Die praktische Arbeit kann andererseits nicht zu eindrucksvollen Qualitäten führen, wenn sie nicht von Ideen besetzt und von Begriffen gestützt wird. In meinem Buch "Das Denken des Leibes und der architektonische Raum''4 gehe ich im Sinne der Thesen von Heinrich Wölfflin5 in seiner Dissertation davon aus, dass der (subjektive) Eindruck von Architekturqualitäten und der (objektive) Ausdruck der gestalteten Dinge in bestimmte Weise aufeinander bezogen sind. Wölfflin fragt: "Wie ist es möglich, daß architektonische Formen Ausdruck eines Seelischen, einer Stimmung sein können? Wir bezeichnen die Wirkung, die wir empfangen, als Eindruck und diesen Eindruck fassen wir als Ausdruck des Objekts."'

Ich spreche in beiden Bereichen von gestischen Qualitäten: im Bereich unserer Erfahrungen und Fähigkeiten einerseits und dem Bereich der objektiv gegebenen, gebauten Dinge andererseits. Dabei gehe ich von der These aus, unser Leib sei bei dieser Korrespondenz das vermittelnde Instrument. Ich sage, der Leib ist in der Lage zu gestischer Arbeit; er verfügt über ein Repertoire gestischer Zeichen, durch das er elementare Qualitäten des Architekturraums "verstehen" kann. Und auch: die gebaute Architektur ist geprägt durch gestische Strukturen, das sind solche, die auf menschliche Leiber bedeutungsvoll

3

Atelierhaus Meisenheimer, Kreuzau-Üdingen, Bauzeit 1957-58.

4

Meisenheimer (2004).

5

Wölffl in (1886).

6

Ebd., S. 7.

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WOLFGANG MEISENHEIMER I DAS DENKEN DES LEIBES .

wirken. Beim Architekturverstehen handelt es sich um Korrespondenzen zwischen Leib und Dingwelt, um das Vokabular einer gestischen Sprache. Dieser bedeutende Austausch geschieht durch Erlebnisvorgänge, durch situationale Handlungen. Es sind also nicht "objektive" Eigenschaften gebauter Dinge, etwa die Harmonie einer Fassade, die Stabilität eines Tragwerks, die Enge einer Gasse, gemessen in Metern usw., die für uns von Bedeutung sind; es ist vielmehr die Übereinstimmung von Leib und Baukörper im Gestischen, die auf uns wirkt. Ich habe in phänomenologischen Skizzen7 ausfiihrlich beschrieben, von welcher Art komplexe Ausdruck-Eindruck-Erlebnisse im Architekturraum sind. Es ergibt sich, daß unter vielen möglichen Bedeutungsmomenten einige besonders wichtig sind, weil bestimmte Leib-Ding-Korrespondenzen kulturell besonders ausgeprägt und ablesbar sind; ich nenne sie "gestische Urphänomene" : • • • •

die Gesten hier! und dort! Das Setzen der Orte, die Geste der Aufrichtung. Die Errichtung der Vertikalen, das Trennen von Innen und Außen. Grenzen ziehen und die Gesten für Enge und Weite. Spannung erzeugen.

Im Rahmen dieser vier Themenkreise spielen sich die wichtigsten Erlebnisse im Architekturraum ab, die ich im folgenden zitieren möchte.

DIE GESTEN HIER! UND DORT! DAS SETZEN DER ORTE. 8 Mein Zimmer, das ist ein architektonischer, nicht ein geometrischer Ort. Ich hänge an diesem Raum, mein Selbst ist mit seiner Form und seinen Anordnungen verknüpft. Wenn ich ihn wahrnehme, ist eine Überlagerung von allerfeinsten Reizen im Spiel, die ich mit ebenso subtilen Erinnerungen und Projektionen verbinden kann. Der Ablauf der Wahrnehmung architektonischer Orte ganz allgemein ist mit Vorstellungen von Vergangenem und Zukünf-

7

MeisenheimeT (2004).

8

Die fo lgenden Passagen sind aus MeisenheimeT (2004) zitiert, S. 33ff.

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WERKZEUG DENKZEUG I ZUR ROLLE DES KÖRPERS

tigern aufgeladen, er fUhrt uns nicht nur gebaute Orte, sondern theaterhafte Szenerien vor Augen, Phänomene mit Raum-Zeit-Struktur. Der geometrische Ort wird dagegen nicht erlebt, sondern gedacht. Er ist ohne Inhalt im Sinne von Wahrnehmung, Erinnerung und Einfärbung des Gefühls. Er bezeichnet nichs als eine Position in einem gedachten Raum, dessen Struktur auf wenige räumliche Merkmale beschränkt ist. Der cartesische Raum zum Beispiel ist bestimmt durch parallele Geraden, rechte Winkel und einen gedachten 0-Punkt mit drei Koordinaten. Mit einem solchen Denkwerkzeug können Flächen und Körper von Dingen in ihrer Lage zueinander präzise festgelegt werden. Bei der technischen Arbeit, auch beim Bauen, ist er als Denkinstrument unentbehrlich. Übrigens ist dieser Sachverhalt der gleiche, wenn das Ding, das räumlich fixiert und vermessen wird, der menschliche Körper ist. Seine Maße und die Anordnung seiner Mitten, Achsen, Glieder und Extrempunkte können beschrieben und wiedergefunden werden wie die beliebiger Dinge, was besonders die Künstler der Renaissance fasziniert hat. Selbstverständlich kann das zu beschreibende/zu vermessende Ding auch ein Bauwerk sein. Die geometrischen Orte zur Bestimmung seiner Maße und seiner Anordnung sind die technisch markanten Stellen seiner Glieder, vor allem die Mitten und die Endpunkte der gedachten Maßketten. Seit Jahrhunderten sind die Regeln bekannt, nach denen man die wichtigen unter allen möglichen geometrischen Orten an einem Baukörper festlegt. Ein sehr wichtiger Umstand ist der, daß bei der Ortsbestimmung im Raum der Geometrie problemlos auch unsichtbare Orte festgelegt werden können, wenn sie als hilfreich erachtet werden bei der Analyse der körperlichen Gestalt, zum Beispiel Kreismittelpunkte, Fluchtpunkte und Schnittpunkte von Achsen. In der technischen Praxis werden ganz konkrete Fakten zum Beispiel das Ende eines Holzes, die Außenmaße eines Steins usw. sowie gedachte, nicht wahrnehmbare - zum Beispiel die Achse des Holzes, die rechten Winkel dieses Steins - gleichzeitig und wie selbstverständlich verarbeitet. Gerade die Klarheit und Einfachheit der idealen Ordner, zum Beispiel die Reduktion auf rechte Winkel zwischen den Koordinaten des cartesischen Systems, machen ihre Brauchbarkeit bei den komplizierten Situationen ihrer Verwendung aus. Im Erlebnis ist der architektonische Raum von ganz anderer Art. Die Akropolis von Athen, das Pantheon in Rom, die Albambra in Granada, aber auch mein Haus, der Esstisch und die Straße vor der Tür sind als architektonische Orte keineswegs mathematische Punkte in gedachten Positionen, sondern im Gegenteil - atmosphärische Inseln, Zonen der Erlebniswelt, die auf besondere Weise materiell gestaltet wurden und mir zur VerfUgung stehen. Das

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WOLFGANG MEISENHEIMER I DAS DENKEN DES LEIBES .

heißt, sie sind leibbezogen, sie sind räumliche Schauplätze vergangener und zukünftiger Handlungen. Architektonische Orte sind grundsätzlich Szenen, nicht gedachte Punkte, sondern Felder mit Spuren der möglichen Ereignisse. Und sie sind hergestellt zu diesem Zweck. Jeder architektonische Ort wird als Angebot an den Leib konzipiert. Seine Reize korrespondieren mit den Möglichkeiten des Leibes.

DIE GESTE DER AUFRICHTUNG. DIE ERRICHTUNG DER VERTIKALEN. 9 Das Aufrichten des Leibes und das Aufrichten der Architektur ist eine der elementaren Gesten, die Leib und Architektur miteinander verbinden. Keine andere Ausdrucksqualität im architektonischen Raum hat die Eindringlichkeit dieser Gebärde. Es ist nicht primär eine ästhetische oder physikalische Eigenschaft gebauter Dinge, die dieser Suggestion zugrunde liegt, vielmehr ein "Verstehen" des Leibes, das die Aufrichtung der Architektur spontan als seiner eigenen Geste analog empfindet. Im Wahrnehmen zeigt sich die ausdruckhafte Übereinstimmung, nicht erst bei den Interpretationen begrifflicher Art. Jede Ecke, jede stehende Kante eines Gebäudes - das sind in der Tat Tausende in jeder Stunde unseres wachen Lebens - demonstriert diese Urgeste des Leibes, der sich phylogenetisch und ontogenetisch in die vertikale Haltung erhoben hat, um die er pendelt, die er bei jedem Schritt infrage stellt und wieder erobert. Sie bleibt bei allen Körperbewegungen eine elementare Gestaltidee, die geometrisch nie exakt dargestellt, die in Annäherungen aber immer umspielt wird und auch bei grotesken Abweichungen niemals verloren geht. Vielerlei Körperspiele, Gehen, Springen, Tanzen usw. haben ftir die Irritation und Wiederherstellung der vertikalen Erhebung rituelle Bilder und Bewegungsfolgen gefunden. Gerade die Störung des aufrechten Stehens scheint es zu sein, die die Leistungsfähigkeit des Körpers zu prüfen hilft und die zur Aufgabe kultureller Arbeiten wird, zum Beispiel zu einem der beliebtesten Motive der Skulptur.

9

Die fo lgenden Passagen sind aus Meisenheim er (2004) zitiert, S. 27ff.

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Abb. 1: Die Straßenfassade Das Bruchsteinmaterial, Sandstein, von Hand gehauen, in der eigenen Baugrube gesprengt, gebrochen und zugeschlagen nimmt in der Fläche strenge mathematische Formen an, bleibt aber bis ins Detail belebt durch seine abenteuerliche Bildwirkung. Die Mauerwerkstechnikfolgt dabei uralten Regeln; j eder Stein hat sein " Gesicht" und sein "Lager" und wird durch "Zwickel" in seine Nachbarschaft eingefügt.

Senkrechte Gebäudekanten sind normal, wir erzeugen unzählige Wiederholungen davon nicht nur aus konstruktiven Gründen, sondern um im Sehraum den ständig schwankenden Körper zu korrigieren. In der Architekturgeschichte finden sich zwar schräge und kurvige Abwandlungen der Vertikale - der Mensch kann auch in Kurven leben und die Baulasten schräg abtragen - aber in den Kulturen des städtischen Lebens, zum mindesten in allen Hochkulturen der Erde, wurde die Senkrechte als unbestrittene Elementargeste verwandt. Im Repertoire bestimmter Hochformen - in der Gotik, beim modernen Holzhausbau usw. - wird die elementare Gestik des Leibes selbstverständlich durch andere ideenhafte Kriterien überhöht. Der christliche Himmel zum Beispiel, dem man sich im mittelalterlichen Bauen annähern und öffnen wollte, wurde oben vorgestellt. Hochhaustürme stellen Beispiele vertikaler Multiplikation von Nutzflächen und auch Demonstrationen von politischer Macht dar usw. Die vertikale Aufrichtung, das Bauen von Türmen, ist seit Babyion eine

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WOLFGANG MEISENHEIMER I DAS DENKEN DES LEIBES .

Demonstration von kulturellem Willen und von weitreichender Macht. Das deutliche Zeigemoment, die Selbstdarstellung darin wird tiefenpsychologisch seit Sigmund Freud auch als Darstellung männlicher Potenz gedeutet. Diese Geste, wenn man sie einmal sucht, findet sich auch in den BauklötzchenspieJen der Kinder. 10 Nicht nur die Erwachsenen bauen Türme. Das Wachsen als Abheben von der Erde, das Überwinden der Schwere aus eigener Kraft bei Pflanzen und Tieren, ihre steigende, stehende, hebende Gestik ist sicher ein starkes Ausdrucksmoment des Organischen. Im menschlichen Körper wird die natürliche Ausrichtung an der Vertikalen physisch gestützt. Das Instrument dazu, das Gleichgewichtsorgan mit regulierender Flüssigkeit in drei Bogengängen, die senkrecht aufeinander stehen, ist bekanntlich in unserem Innenohr angeordnet. Es sorgt flir das Bewußtsein der vertikalen Ausrichtung auch beim Liegen, Gehen, Fallen usw. Natürliche Anlagen zur Vertikalität reichen allerdings nicht zur Begründung einer kulturellen Idee und eines Werkes. Die vertikale Gebärde der Architektur aber ist von solcher Art; sie bezieht sich zwar auf Vorgaben der Natur, aber sie ist als Artefakt in der Lage, sich davon abzuheben. Das wird besonders in der "Kunst der feinen Abweichung" deutlich.

DAS TRENNEN VON INNEN UND AUSSEN. GRENZEN ZIEHEN. 11 Das Innere des Leibes ist eigentlich nicht erlebbar, jedenfalls nicht so wie die Dinge der Welt, die außerhalb unserer Haut, eben draußen gefunden werden. Mein Ich ist von vom herein innen. Da das Ich innen und die Dinge außen vorgestellt werden, handelt es sich bei innen und außen um Raumstrukturen des Leibes, die völlig anderer Art sind als mathematische und physikalische. Zum Beispiel sind sie nicht kontinuierlich und nicht meßbar. Diese geheimnisvolle Raumstruktur des Leibes, die Innen-außen-Entfaltung der Welt, ist eines der wichtigsten Motive der Architektur. Im architektonischen Raum wird das Innen-außen-Erlebnis des Leibes dargestelltDie Gestaltung von Innenraum ist ein architektonischer Urakt, der nicht etwa

10 Feuerstein (1966). II

Die fo lgenden Passagen sind aus Meisenheim er (2004) zitiert, S. 40ff.

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Abb. 2 (links): Die Haustür Die einzige Öffnung zur Straßenfassade. Ihre karge Erscheinung und strikte Funktionalität. Der Straßenverkehr wird akustisch auf minimale Wirkung beschränkt. Und ihre präzise Symbolik, Haustür als einladendes Signal. Abb. 3 (rechts): Die Flurzone im lnnern Die Raumgliederung sieht zur Hälfte einen einzigen Großraum, zur anderen Hälfte 4 kleine Kammern und eine Flurzone vor. Alle Maße sind bescheiden und proportional zueinander gewählt; bevorzugt sind die ausgebreiteten Arme, Schulterbreite, Knie-Höhe, aufgestützte Hand usw. Dadurch entsteht das Bewusstsein von Nähe und Körperbezug.

aus einem vorgegebenen Raum ein Stück ausgrenzt, sondern eine Erlebnisqualiltät ganz neu schafft, die - anders als alle objektiven Dinge - mein Ich einschließen, einhüllen und schützen kann. Diese Raumwelt hat einen subjektiven Pol. Wälu·end die Baukörper von außen wahrgenommen und zahlreich nebeneinander vorgestellt werden, ist der Innenraum im Erlebnis anders: Er umgibt meinen Leib, der in seinem Innern agiert, selbst wenn ich ihn mir von fern vorstelle. Der Innenraum als Hülle ist also keinesfalls eine physikalische Hülle, ein Sack, der Dinge zusammenhält und mit Kubikmetern gemessen werden könnte. Er ist vielmehr die potentielle Sphäre um mein Ich, die Bühne, die die Architektur dem Leib bereitet, nicht ein materielles, sondern ein szenischen Angebot, das begrenzt ist. Es gibt ein vitales Interesse des Leibes an der Hülle, an der Haut, am Schutz seiner Sphäre. Es gibt aber auch das ebenso starke

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WOLFGANG MEISENHEIMER I DAS DENKEN DES LEIBES .

Interesse des Leibes, sich auszuweiten: sich in das Fremde hinein zu dehnen, die Hülle zu durchstoßen. Er versucht, die Orte seines Interesses um das Ich herum zu verteilen und zu verknüpfen. Der Leib ist der Bewohner und Beherrscher seines Innenraumes, aber er verläßt seinen Standort und projiziert seine Wünsche in ein Nebeneinander, er bricht aus seiner Hülle und seinen Grenzen aus, nimmt listig allerlei Chancen wahr, die Sphäre seiner Organe zu öffnen. Wie etwa der erotisierte Leib mit Abwendung und Hinwendung, mit Sich-Öffnen und Sich-Schließen spielt, so geht auch die Architektur mit ihren Möglichkeiten um, Häute um ein Innen herum zu bilden und wieder zu öffnen. Keine der gebauten Hüllen ist ohne Aufbrüche und Öffnungen, Fenster und Türen, Auslässe und Durchblicke in die Weite. Das Repertoire der Übergänge und der Öffnungen ist ebenso alt wie das der zuverlässigen Grenzen. Es ist sogar differenzierter im Detail. Das Sphärische, der Innenraum als Kapsel, wird zunächst durch Boden, Außenwand und Decke gesetzt. Dabei wird Enge und Begrenzung betont, sei es als sympathischer Schutz, sei es als bedrohlicher Kerker. Zugleich aber beginnt das Spiel der Ausweitungen, der Durchbrüche und der Tiefenillusionen. Jedes Fenster, jede Tür hat die Aufgabe der potentiellen Dehnung, aber auch die Farbe weiß (vor allem flir die Decke) und die Anordnung von Spiegeln und Bildern. Was für ein Feuerwerk von Einfallen hat die Architektur der Araber, der Römer, des Barock und der Modeme entwickelt, um der ausgrenzenden Sprache der Architektur Momente des Durchscheinens, Durchblickens und der Flucht zuzufügen. Zur Begrenzung kommt sofort die Ahnung der Feme, zur Einengung des Raumes die Ausweitung des Gefühls. Der architektonische Raum mit seiner Enge und Weite ist eine Darstellung der elementaren Spannung, die die Gefühle unseres Leibes bestimmt.

DIE GESTEN FÜR ENGE UND WEITE. SPANNUNG ERZEUGEN. 12 Primäre Phänomene im architektonische Raum - spürbar besonders beim Betreten und Verlassen von Innenräumen- sind die Einengung und Ausweitung, die entsprechende Leibgefühle auslösen, nämlich die Empfindung von

12 Die fo lgenden Passagen sind aus Meisenheim er (2004) zitiert, S. 44ff.

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Pressung bzw. Dehnung. Das geschieht wmnterbrochen beim Gehen durch Räume, Flure und Straßen, beim Verlassen des Hauses, beim Platznehmen in einer Ecke, Heraustreten aus einer Tür etc. Unwillkürlich werden die Spannungen der Architektur als Enge-Weite-Empfindung erlebt. Besonders die Übergänge vom einen zum anderen sind es, die Ausweitung einer Engstelle oder die Einengung einer räumlichen Weite, die solche Gefühle und damit zugleich architektonische Wirkungen auslösen. Beides gehört zu diesem Phänomen, die Gestik der Architektur als Weite und Enge sowie das Leibgefühl Dehnung/Pressung, das sind objektive Raumstrukturen und subjektive Affekte, die miteinander korrespondieren. Die erlebte Enge und Weite der Architektur ist weder ein geometrisches noch ein physikalisches Faktum, vielmehr eine Empfinung, die durch räumlich ausgebreitete Dinge ausgelöst wird. Sie ist weder meßbar, noch in ihrem Vollzug identisch wiederholbar, also kein wissenschaftlich darstellbares Objekt. Die Gestik der gebauten Formen erscheint dem Betrachter als bedeutend, indem sie bestimmte Wahmehmungshaltungen und Körpervorgänge auslöst. Der Raumeindruck reagiert auf das vitale Körperschema und das Körperschema auf den Raumeindruck Gewiss, Enge und Weite gebauter Räume gehen auf verschiedenartige Entwurfsinteressen zurück, pragmatische und funktionale, ideenhafte, ästhetische und viele mehr immer ist der Raumeindruck aber auch von Prägungen und Erfahrungen des Leibes abhängig. Die japanische Sprache enthält, wie Shutaro Mukai berichtet, einen wertvollen Hinweis in ihrem Ausdruck ftir Geste, der "mifuri" heißt, das aus den Wortelementen "mi" (Körper) und "furi" (Schwingen, Schwanken, Schütteln) zusammengesetzt ist. Körpergesten, das sagt diese sprachliche Form, sind im Grunde Schaukelbewegungen; sie tragen den Ausgleich der Gefühle von Pressung und Dehnung in sich. Besonders sind es natürlich die Rhythmusbewegungen, die zum Beispiel bei den Kinderspielen den Wechsel von Binden und Lösen, Anspannung und Befreiung zeigen. Alle Organfunktionen sind bekanntlich an Handlungsschübe gebunden, die rhythmisch aufeinander folgen; das Atmen, der Bluttransport, Schlafen und Wachen usw. Peristaltische Engungen und Dehnungen scheinen das motorische Strukturprinzip des Organismus zu sein. Besonders bei den Körperöffnungen After, Scheide, Penis, Mund, Nase, Ohren und Augen wird die Anstrengung der Organe als eine Folge von Pressung und Weitung erlebt. Beim Anblick der Dehnungen und Einschnürungen architektonischer Räume kündigt sich die Empfindung von Enge/Weite bereits an, noch bevor angemessene Körperbewegungen ausgelöst werden.

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Abb. 4 (links): Proportionen Passend zur menschlichen Gestalt sind in den Mauerscheiben durchgehende Lagerfugen angeordnet: Bei Kniehöhe 43 cm, Nabelhöhe 1.13 m, Kopfhöhe 1. 81 m und bei 2,26 m, der Höhe der erhobenen Hand (nach dem /Modular/ von Le Corbusier) . Durch diese Anordnung entsteht beim Aufführen der Mauer zweierlei System: ein konstruktives (bei den "Tagesfugen " bindet das Tagewerk des Maurers über Nacht ab, dh. der Mörtel erstarrt, bevor er neue Last aufnimmt) sowie ein ästhetischs (die Wandgliederung entspricht den Körpermaßen; sie stehen zueinander im Verhältnis von goldenem Schnitt (43/70 cm) bzw. Verdoppelung (1.13/2.26 m). So sind bei einem Arbeitsgang die Regeln der Baukonstruktion und die der Asthetik (Harmonielehre im Sinne des Pythagoras) miteinander verknüpft. Abb. 5 (rechts): Der Baukörper Seine Gestaltung ist auf einfache, euklidische Volumen beschränkt, die mit einem Minimum von Materialien realisiert werden: Bruchstein, Sichtbeton, Holz und Glas.

Eine Tür wirkt eng, auch wenn wie sie nicht benutzen. Fensteranordnungen und Raumfolgen werden als rhythmische Reihen empfunden, auch wenn wir ihnen körperlich nicht nachgehen. Der Wechsel und die gestaltete Folge von Eng-weit-Phänomenen löst GeHihle aus, die dem Körper vertraut sind. Mögliche Pressungen und Dehnungen folgen aufeinander. Die Spannung kippt, wenn ich zum Beispiel eine Tür durchschreite, die Engstelle weitet sich augenblicklich. Aber auch, wenn ich die Tür nicht durchschreite, sondern

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WERKZEUG DENKZEUG I ZUR ROLLE DES KÖRPERS

bloß aus der Entfernung sehe, wirkt die gebaute Form analog. In den räumlichen Gestalten sind Merkmale der Ankündigung und der Erinnerung, Vorwärts- und Rückwärtsbezüge im Hinblick auf mögliche Wege enthalten. Der Tastsinn scheint das entscheidende Erlebnis von Einschnürung und Ausweitung zu vermitteln, de facto sind aber Auge und Ohr stark an der Empfindung beteiligt, da sie gelernt haben, in die Feme zu tasten. So wirkt die Dehnung eines Innenraums spontan auf den Leib, auch wenn das Körpergefühl durch motorische Tests und Erlebnisse aller Sinne, Echos, Materialeffekte, illusionistische Verzerrungen usw. bestätigt und irritiert wird. Durch Studien solcher Art bringt man in Erfahrung, dass die wichtigsten Ausdmcksphänomene im Raum der Architektur auf der Empfindlichkeit des Leibes für gestische Qualitäten beruhen. Gewiß, es gibt Bedeutungsstrukturen, die etwa auf ikonischer Ähnlichkeit, historischen Bezügen, ökonomischer Wertung oder Aufforderungscharakteren funktionaler Art beruhen, die elementarsten aber sind die auf unseren Leib bezogenen, die keiner Vermittlung des Verstandes bedürfen.

LITERATURVERZEICHNIS Schmitz (1 966): Hermann Schmitz, System der Phi losophie. Der Leib- Zweiter Teil, Bonn 1966. Atelierhaus Mciscnhcimcr, Krcuzau-Üdingcn, Bauzeit 1957-58. Mciscnhcimcr (1964): Wolfgang Mciscnhcimcr, Der Raum der Architektur. Strukturen, Gestalten, Begriffe, Diss., Aachcn 1964. Meisenheimer (2004): Wolfgang Meisenheimer, Das Denken des Leibes und der architektonische Raum, Köln 2004 . Meisenheimer (20 I 0): Wolfgang Meisenheimer, Der Rand der Kreativität. P lanen und Entwerfen, Wien 2010. Wölffiin (1 886): Heinrich Wölffiin, Prolegoma zu einer Psychologie der Architektur, Diss., München 1886. Fotografien von Tomas Riehle.

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Pizza und High-Tech Über die Rolle des Designs zwischen technischem Fortschritt und soziokultureller Veränderung

VOLKER ALBUS

Als Lehrender der Disziplin Design wird man immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob es überhaupt Sinn mache, immer wieder "neue" Produkte zu entwerfen. Schließlich, so die so keck Fragenden, gäbe es ja eigentlich schon alles, mehr noch: alles existiere in einem nie dagewesenen Überfluss. Ganz unberechtigt ist diese Frage natürlich nicht und auch die Skepsis, die in der Begründung zum Ausdruck kommt, ist absolut nachvollziehbar. Ja, sie erscheint sogar äußerst verantwortungsvoll, resultieren doch viele Probleme der Menschheit nicht zuletzt aus ihrer Maßlosigkeit, aus dem Überfluss sämtlicher von Mensch und Maschine produzierten Güter. Gleichwohl bedürfte es wohl einer Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes, wollte man unser konsumistisches Selbstverständnis, unsere mal stärker, mal schwächer ausgeprägte Gier, nachhaltig und ein für alle Mal aushebeln, haben wir doch, solange wir auf diesem Planeten agieren, das Immer-mehr zu dem Daseinselexier schlechthin erkoren. Allerdings gibt es durchaus gewisse Unterschiede in der Auslegung dieses Immer-mehr. Für die Einen, um die extremen Positionen zu benennen, definiert sich das Superlative Plus rein quantitativ und egozentriert, flir die Anderen rein qualitativ und auf das kollektive Wohlbefinden ausgerichtet. Dass das Verständnis der ersten Fraktion, geht man einmal von einer mehr oder weniger gesättigten Situation aus, relativ wenig geeignet ist, der eingangs angesprochenen Problemstellung auch nur ansatzweise beizukommen, versteht sich von selbst. Heißt: Massenhaftigkeit allein der Massenhaftigkeit Willen

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WERKZEUG DENKZEUG I ZUR ROLLE DES KÖRPERS

scheidet als Maßstab in der Designausbildung aus. (BWLer- w1d daran sieht man die Vertracktheit solcher "Probleme" - sehen das wahrscheinlich etwas anders.) Nun liegt es mir fern, den Designer als ein gegenüber dem Rausch der (Verkaufs-) Zahlen immunen Altruisten zu verklären - Gott bewahre! Auch in diesem Geschäft bemißt sich der Erfolg nicht nur über die mediale Präsenz, über die Huldigungen der auflagenstarken Journaille und der Theorieprominenz, nein, Ruhm und Ehre konstituieren sich auch in dieser Profession zu einem nicht unwesentlichen Anteil aus den schwarzen Zahlen des produzierenden Gewerbes. So ist der letztendliche Einklang aus Theorie und Ökonomie dementsprechend auch nur dann zu erreichen, wenn der sich in Zahlen ausdrückende Zuspruch mit der theoretischen Nobilitierung korrespondiert, wenn das, was "gut läuft", von den allgemein anerkannten Instanzen der Intellektualität, von Museen, von Hochschulen, von Fachzeitschriften auch objektiv als wirklich gut betrachtet wird. Für die Lehre bedeutet das nichts anderes, dass wir die Qualität als das oberste Kriterium der Ausbildung anzusehen haben. Und weiter, dieser Mission in Sachen Qualität alle Nachfolgeentscheidungen soweit anpassen müssen, dass diese Qualität im Kern gewahrt bleibt. Wie aber definiert sich Qualität? Was ist gut? Was schlecht? Was selbstverständlich? Definiert sich das "Gute" nur über das "hochwertige" Material, nur über die Verarbeitung, nur über den Preis (der ja nicht unbedingt in irgendeiner Beziehung zu den "harten" manufaktureBen Faktoren stehen muss)? Unbestritten dürfte sein, dass bestimmte Standards einzuhalten sind, also die konstruktiven, die herstellungstechnischen, die ökologischen usw. D.h. aber auch, dass diese Standards demjeweils aktuellen ,Stand der Dinge' entsprechen sollten, mehr noch: dass die Qualität, soweit sie auf diese harten Fakten rekurriert, die Spitze des jeweils relevanten attributiven Panoramas markiert - sowohl in der isolierten attributiven Ausprägung als auch im Zusammenspiel mit allen übrigen Qualitätsmerkmalen. Gleiches gilt selbstverständlich auch ftir das weite Feld der Funktionaliät: Sowohl in Bezug auf das Ineinandergreifen aller fih· ein Produkt relevanten Funktionen als auch hinsichtlich der Interaktion, also der Bedienbarkeit, der Handhabung definiert sich das Prädikat Qualität über die unmittelbarste, d.h. die selbstverständlichste Erfahrung der jeweiligen Zweckbestimmung. Das hört sich erst einmal einfach an. Betücksichtigt man jedoch, dass diese "selbstverständlichste Erfahrung" an durchaus unterschiedliche Erwartwlgen und Ansprüche gekoppelt ist, dann wird sehr schnell deutlich, in welchen Abhängigkeiten dieses die Funktionalität betreffende Qualitätsprädikat steht. So

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VOLKER ALBUS I PIZZA UND HIGH-TECH

muss, um ein einfaches Beispiel zu nenen, ein Stuhl vor allem eines sein: bequem. Sobald man aber beginnt, den Zweck des Stuhls näher zu präzisieren, muss man, je nach genauer Bestimmung dieses Möbels einen äußerst umfangreichen und sehr Spezisehen Katalog an Funktionen berücksichtigen: Ein Klappstuhl z.B. sollte nicht nur einfach zu klappen sein, er muss auch leicht und stabil sein, er muss, sollte er für die Bestuhlung großer Versammlungsräume genutzt werden, stapel- und raumsparend staubar sein, er muss, sollte er auch im Freien einsetzbar sein, pflegeleicht und wetterfest sein, und darüberhinaus muss er natürlich auch gut aussehen und, nicht zu vergessen, preiswert sollte er natürlich auch sein. Nicht wenig für einen einfachen Klappstuhl. Und gleiches gilt für jeden anderen für einen bestimmten Zweck gedachten Stuhl: für den Büro-, den Camping-, den Esszimmer-, den Kantinen-, den Cafehaus-, den Wohnzimmer-, den Dreisternerestaurantstuhl usw. usf. Sie alle zeichnen sich durch Spezifika aus, die sie erst zu dem machen, was sie tatsächlich sind. Nun könnte man, mit Blick auf die Ausgangsbasis unserer Betrachtung, an dieser Stelle einwenden, dass genau dieses sehr präzise Wissen um die ausgefeilte Differenzierung unserer Bedürfnisse und der zweifellos vorhandenen perfekten Umsetzungen in reale Produkte eigentlich jede Art von Neuerung mehr oder weniger überflüssig macht und dass es eigentlich ausreichen sollte, genau diese Erkenntnisse buchstabengetreu zu vermitteln, um sie anschließend in einer Art Finetunig weiterzuentwickeln. Das ist zunächst einmal richtig und tatsächlich exisitieren in j edem Gattungsbereich grundlegende Erkenntnisse, die sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam verändern. Und dementsprechend, vollkommen zu Recht, auch an manchen Schulen, die Grundlage der Lehre darstellen. Auf der anderen Seite unterliegt aber nahezu jedes die Physis der Objekte betreffende Attribut einem geradezu atemberaubenden Wandel: Herstellungstechniken, Materialien und Konstruktionsweisen beeinflussen und verändern Stabilität, Gewicht Nachhaltigkeit, Annehmlichkeit, Strapazierf:ihikeit und, und, und in einer sich fast täglich potenzierenden Geschwindigkeit. Und das heißt, dass wir diese Entwicklungen permanent beobachten, analysieren und in unsere Arbeit integrieren müssen, dass wir sie, weiter, mit dem gesamten attributiven Spektrum eines jeden Produkts abgleichen müssen, dass wir prüfen müssen, ob dieses oder jenes neue Material vom Preis her, von der Nachhaltigheil her, von der Ästhetik her, tatsächlich geeigent ist, ein neues, ein besseres, heißt ein billigeres, ein stabileres, ein besser rcycelbares Produkt zu entwickeln. Das ist aber nur einer, wenn auch sehr zentraler Grund für das Weiter- und Neuentwickeln von Produkten. Ein anderer, mindestens

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ebenso bedeutender Aspekt ist die sich ständig verändernde soziokulturelle Gemengelage, die z.B. durch Migration, durch unsere eigenen Reiseerfahrungen, dmch den Einfluss der Medien, durch technische Neuerungen aber auch durch die arbeitsbedingte Mobilität permanent in Bewegung gehalten wird und einen immensen Einfluss auf unsere Verhaltensweisen hat: Wir arbeiten und essen unterwegs, im Zug, auf dem Fahrrad, im Auto, wir kommunizieren mittels kleinster Geräte zu jeder Tages- und Nachtzeit, an jedem Ort, im Bett, am Tisch während des Essens oder in Sitzungen, wir schlafen fast überall, im Büro, auf Flughäfen, auf Demos oder vor dem Apple-Store. Viele dieser Handlungen erscheinen uns inzwischen als völlig selbstverständlich, wenngleich viele dieser Aktivitäten in der Kombination - Essen und Arbeiten, Essen und Kommunizieren, Fahren und Essen, Fahren und Kommunizieren - durchaus noch nicht optimal aufeinander abgestimmt sind, zumindest was die dabei eingesetzte Hardware anbelangt: Pizza und Laptop= Fettfinger und High-Tech, Fahrrad und Smartphone = Verkehr und SMS-Geplänkel: das passt nun einmal nicht zusammen, das schließt sich geradezu aus. Das sind natürlich sehr profane Problemstellungen, aber genau mit diesen sehr profanen Situationen aus den Niederungen des Alltags muss sich das Design auseinandersetzen. Aber was heißt das? Heißt das, dass der Designer von heute nun zum Soziologen mutieren muss? Oder zum ausschließlich dem technologischen Fortschritt hinterherhechelnden Anwender? Ich glaube, keines von beidem voneinander getrennt, vielmehr beides zusammen. Denn zweifellos wird er nicht umhinkommen, sowohl die soziokulturellen Veränderungen präzise zu diagnostizieren als auch die physischen und die herstellungsspezifischen Entwicklungen genau zu regi strieren. Denn ihm kommt zweifellos eine sehr entscheidende Rolle zu, nämlich die des Vermittlers, des Moderators. Er muß die unterschiedlichen Entwicklungen und Situationen analysieren, er muß die Einschränkungen und Defizite, die sich aufgrund der vielfältigen Verwerfungen ergeben im wahrsten Sinne des Wortes dingfest machen und den neuen Verhältnissen anpassen. Er muss die sich bietenden Optionen und die bewußt oder unbewußt artikulierten Bedürfnisse gegenund miteinander abwägen und sie in Einklang bringen, er muß sie sozusagen auf unser aller Leben erleichternde Produkte und Leistungen übertragen. Passgenau und permanent und am besten selbstverständlich und unauffällig. Und wo könnte das besser "trainiert" werden als an einer Hochschule? Denn nm an diesem Ort treffen, wie wohl sonst nirgends, all die Voraussetzungen zusammen, die es möglich machen, diesen "dinglichen Einklang", diese Synthese aus technischem Fortschritt und soziokultureller Entwicklung in Form

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eines hypothetischen aber dennoch relativ konkreten Entwurfs darzustellen, bedarf es doch einerseits einer lffiabhängigen, gut budgetierten lffid kompetenten Infrastruktur und andererseits einer Mannschaft von neugierigen, aufgeschlossenen und experimentierfreudigen "Praktikanten", die noch in keiner Weise verbildet, beziehungsweise auf die bestehenden Konventionenen einprogrammiert sind und somit über ein höchstmögliches Unvoreingenommenheitspotential verfügen. Genau diese Prämissen markieren das Selbstverständnis unseres Fachbereichs Produktdesign an der staatlichen Hochschule für Gestaltung in K.arlsruhe. Und dementsprechend kann man auch die beiden Arbeiten, den Fächer-Stuhl von Peter Schäfer und dem Balancetable von Vincent Schneider, die im Rahmen des Symposiums "Werkzeug- Denkzeug ... Transmedialität kreativer Prozesse" an der Fakultät Architektur der RWTH Aachen vorgestellt wurden (Abb. 1-3), als prototypische Einlasslffigen nicht nur zu einem veränderten Verständnis zwei eher tradierter Möbeltypen ansehen, nämlich zum Stuhl - Peter Schäfer - und zum Tisch bei Vincent Schneider, sondern auch als emblematische Umsetzung eines aktualisierten Entwurfsbegriffs. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich bei diesen beiden Entwürfen eher um Konzept-Studien handelt. Denn in ihrer Essenz weisen beide Arbeiten unmissverständlich auf eine vollkommen andere, sich aus den veränderten Gegebenheiten der Arbeitswelt ergebende Kontextualisierlffig sowohl des Sitzens als auch des Arbeitens am LU1d mit dem Tisch. Der Umgang mit dem Laptop, mit dem Smartphone generiert nun einmal eine andere Beziehung zu den altbekannten Versatzstücken unserer Büroszenarien als der längst verschwundene, aus Schreibmaschine, Telefon, Faxgerät, Zeichenmaschine LU1d all den anderen Fossilien bestehende Gerätepark von anno dazumal. Und diese Veränderungen werfen sehr grlU1dsätzliche Fragen auf: Müssen z.B. unsere Arbeitstische immer eben sein? Können sie uns nicht entgegenkommen; Ist das nicht vielleicht viel bequemer und damit für das Arbeitsergebnis wesentlich ergiebiger? Und ist es nicht ebenso wichtig, dass wir uns bewegen? Ist es nicht denkbar, dass die Bewegung auf dem Stuhl zum eigentlichen Sinn des Sitzens wird und dass diese Bewegungsmöglichkeit den Stuhl nachhaltig verändert? Ja, vielleicht müssen wir vor dem Hintergrund solcher in diesen Fragen anklingenden Einsichten zu völlig neuen Bewegungsformen kommen? Klar, das klingt provokant, aber es sind genau die Fragen, mit denen wir uns angesichts der Hypertechnisierung unseres Geräteparks und der gleichermaßen über uns hinweg brandenden Fitness- und Casualisierungswelle in Zukunft auseinandersetzen müssen. Zudem: solche Veränderlffigen keineswegs nur zeitgeistig bedingt, sondern erwießenerma-

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Abb. I: Energy-Tools

Abb. 2: Balance-Table:

Fächer-Stuhl und Balance-Table

Funktionsmodell

Abb. 3: Balance-Table: Prototyp

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ßen auch unserer gesundheitlichen Befindlichkeit äußerst zuträglich: "Wer den ganzen Tag sitzt, lebt gefährlich", überschrieb die SZ vom 12. Januar 2011 einen Artikel, in dem es um ein Forschungsprojekt australischer Ärzte geht, die das gesundheitsgefährdende Potential des Sitzens untersucht haben. Darin heißt es, dass "sich schon geringfugige Tätigkeiten positiv auswirkten- beim Telefonieren aufzustehen, zum Kollegen ins Nachbarzimmer zu gehen statt anzurufen oder zum Beispiel die Toilette ein Stockwerk höher zu benutzen."

Und auch für die Arbeitsabläufe selbst haben, laut SZ, die Forscher: "weitere praktische Empfehlungen: Konferenzen können auch im Stehen abgehalten werden; wenn nicht sollten die Teilnehmer ermutigt werden, zwischendurch aufzustehen. Zudem ist es gesund, Drucker und Papierkörbe zentral in einer Abteilung aufzustellen, sodass der Gang dorthin immer wieder nötig ist." '

Glücklicherweise sind derartige, von den australischen Forschern das grundsätzliche Verhaltensmuster wiedergebende Büroszenarien nicht mehr unbedingt gang und gäbe. Das Büroleben eines Unternehmens wie Google stellt sich schon heute ganz anders dar, als das innerhalb der klassischen Bürokultur, wo den Mitarbeitern sogar noch ein bis auf die Socken festgelegter Dresscode vorgeschrieben wird. Wer etwa die Buropazentrale des Internetkonzerns Google in Zürich besucht, wird allergrößte Schwierigkeiten haben, in dieser szenischen Collage so etwas wie ein Büro zu erkennen: "In Zürich tragen die Kathdralenbaumeister der Zukunft TcShirt. Statt Riffelhammer, Senkblei und Schriftfäustel schleppen die meisten aufgeklappte Laptops mit sich herum, die sie anscheinend nur äußerst widerwillig weglegen: An allen Feuerwehrrutschen, die hier die Stockwerke miteinander verbinden, hängen Warnungen: ,Don't use your Iaptop while sliding.' Wer jetzt glaubt, solch avantgardistische Architekturdetails hätte sich allein ein trendbewußter Designer ausgedacht, täuscht sich aber gewaltig; vielmehr stellen die beiden fünfstöckigen Gebäude ,eine Art gebauter Wunschzettel' dar: Vor Baubeginn wurden die Mitarbeiter von einer Psychologin und

SZ ( 12.0 1.20 11 ), S. l6.

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WERKZEUG DENKZEUG I ZUR ROLLE DES KÖRPERS

einem Innenarchitekten gefragt, in was fur einem Umfeld sie gerne arbeiten würden. So sieht die schöne neue Arbeitswelt jetzt aus wie eine Mischung aus Jugendzimmer und Yogaloft Es gibt einen riesigen Hobbyraum mit Tischtennisplatte, Jukebox und Flipperautomaten. " 2

Das Beispiel Google zeigt, dass wir gar nicht radikal genug denken können. Und je entschlossener und kompromissloser wir das als Hochschule tun, umso eher haben wir, unsere Absolventen eine Chance, sich erfolgreich diesen alltagskulturellen Erschütterungen zu stellen. Denn es ist ja nicht so, dass nur aus dieser einen Richtung, also aus der Domäne der "klassischen" lnnenarchitktur, unserer möblierten Welten einer Generalinspektion unterzogen werden. Auch in den nicht dem harten Einrichtungskern zugehörigen Designbereichen werden die veränderten Verhaltensmuster wahrgenommen. So präsentierte der Fitnessgerätehersteller Technogym kürzlich ein von dem italienischen Designer Antonio Citterio konzipierten Hybrid aus Standfahrrad, Bürostuhl und Monitor. Die Kombination ist zwar nicht unbedingt neu, die Art und Weise jedoch, wie die Einzelteile Stuhl und Monitor betont werden und gleichzeitig die eigentliche Trainingseinheit-die Pedale- zugunsten dieser den Komfort förderndenden Elementen minimiert ist, gibt eine ungefähre Ahnung von dem, was diese Vereinigung von Sitzen, Bewegen und Computer gestütztem Arbeiten dereinst produzieren wird. Wenn dann noch das Essen dazu kommt ...

2

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SZ (8.05.2009), S.ll.

Robinsons Pflug Werkzeuge zwischen Nachbau und Erfindung

FRANZISKA UHLIG

EINFÜHRUNG Seit den 1980er Jahren erfuhren die Bemühungen um die Industrialisierung des Bauens durch Typenbildung und serielle Vorfertigung durch den Einbezug des Computers eine abrupte Wendung. 1 Zwar wurden die frühen Computer Aided Design-Werkzeuge (CAD) in Architektur wie im Design anfangs mehr als digitale Zeichenbretter denn als Entwurfswerkzeuge eingesetzt, doch ihre Einbindung in den gesamten Workflow des architektonischen Entwerfens schien vorgezeichnet. Heute reicht das Repertoire digitaler Entwurfswerkzeuge vom Zeichnen von Gnmd- und Aufrissen oder Schnitten, über das Finden von Problemlösungen für Raumkonzepte, Raumfolgen und für Produktentwürfe, das Anfertigen von Modellen, das Erstellen von Stücklisten, die digital gesteuerte Produktion digital entworfener Elemente, insbesondere bei Fassaden bis hin zu digitalen Entwurfs- und Fertigungsverfahren wie sie beispielsweise designintoproduction oder Unto this Last verwenden. Vor dem Hintergnmd solcher Entwicklungen scheint die Frage nach dem Verhältnis von Denkzeug und Werkzeug in kreativen Prozessen, denen eine Tagung der RWTH Aachen gewidmet war, angesiedelt. Vorallem rückt sie ein bislang

Einen Ü berblick bieten Martin (2010), Nerdinger (2011), Carpo (201 2), Schumacher (2011).

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WERKZEUG DENKZEUG I DENKEN UND WERKEN

eher marginalisiertes Thema in das Blickfeld der kunst- und kulturwissenschaftlichen Forschung: die Werkzeuge selbst. 2 Der folgende Beitrag skizziert zunächst die lmplikationen, die mit den von der gleichnamigen Tagung der RWTH Aachen genutzten Begriffen Werkzeug und Denkzeug verbunden sind, bevor er in einem zweiten Teil die Beschreibungen von Werkzeugerfindungen und -herstellung anhand einer literarischen Fiktion- Johann Heinrich Campes Robinson-Adaption- in den Blick nimmt.

BEGRIFFSGESCHICHTLICHE IMPLIKATIONEN BEIM DENKZEUG Häufig lagern sich in den Bezeichnungen für Werkzeugkategorien die Ziele ab, die der Entwicklung technologischer Neuerungen dieses Begriffs zugrunde lagen. Gerade der Begriff des Denkzeugs besitzt eine solche historische Hinweisfunktion, insbesondere wenn er dem des Werkzeuges als ein Anderes gegenübergestellt ist, wie ich im ersten Teil meines Beitrags aufzeigen möchte. Oft reichen die lmplikationen, die vielen Metaphern der technikphilosophischen Literatur zu grunde liegen, weiter als gemeinhin angenommen. In der Technikphilosophie wird Denkzeug häufig artverwandt bzw. synonym mit dem Begriff der Denkmaschine verwendet. Damit rekurriert der Begriff auf eine Form der Beschreibung, bei der das Denk-Geschehen mit den Mitteln eines zweiten Begriffs, dem des Zeugs oder der Maschine plausibel gemacht wird. Was beim Denken geschieht, man aber nicht sehen kann, müsse man sich, so die Übersetzung, wie das Geschehen in einer Maschine vorstellen. Damit hebt der Begriff nicht-instrumentelle Operationen auf die Ebene instrumenteller Verfahren. Mehr aber noch irritiert, dass das "Denkzeug" wie die Denkmaschine damit zwar in eine Tradition gehört, die Sybille Krämer als ein Denken in funktionalen Äquivalenzen charakterisiert hat. 3 Doch wie lässt sich dann die Gegenüberstellung zum Werkzeug denken? Dazujedoch später.

2

ARS ELECTRONICA (1989) sowie Hör! (2011). Amheim (1968) stellt seitens der Kunstgeschichte eines der ersten Reflexionen auf den Wandel der Werkzeuge hin zum Digitalen in der künstlerischen Produktion dar.

3

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Krämer (1998), S. 9f. und S. 73-94 mit weiterer Literatur.

FRANZISKA UHLIG I ROBINSONS PFLUG

Folgt man Peter Bexte, Werner Künzel aber auch dem Kunstwissenschaftler Rudolf Arnheim, so wurden unter dem Begriff der Denkmaschine bestimmte operative Vorgänge seit dem 17. Jahrhundert im Sinne körperlich-funktionaler Äquivalente zum Gehirn bzw. Zentralnervensystem vorstellbar gemacht.4 Ähnliches lässt sich bei der Entwicklung früher Rechenmaschinen wie der Zl , aber auch bei der Künstlichen-Intelligenz- und der Forschung zur Handlungsfähigkeit von Technik der 1930er bis 1970er Jahre beobachten. Alle diese Entwicklungen stellten ihr Vorgehen als ein Nachbau intelligenten menschlichen Handeins mittels Technik dar. 5 Abgesehen davon, dass hierbei nicht selten zu beobachten war, wie das technisch Machbare unter der Hand als das technisch Mögliche bzw. als das technisch Gewollte verhandelt wurde, dass zum Beispiel eine von Computern bewerkstelligte Worterkennung, wenn auch sinnentstellend, von Protagonisten der KI-Forschung am MIT als menschliche Sprachfähigkeit begriffen wurde, fUhrt die Abgrenzung der Denkzeuge von den Werkzeugen, j a die Einführung einer Hierarchie einige Probleme ein. 6 Zweifellos adaptieren computergesteuerte Werkzeuge bzw. der Computer, indem sie entwerfende, koordinierende, archivierende, ja ganze Workflows bis hinein in die Verwaltung von Artefakten in Sammlungen erbringen, Teilbereiche kommunikativer und geistiger Tätigkeiten des Menschen. Dennoch führt die Bezeichnung Denkzeug, auch wenn sie sich in der medien- und technikphilosophischen Literatur eingenistet hat, in die Irre, vor allem, wenn sie den Werkzeugen als ein kategorial Anderes gegenübergestellt wird. Denn wenn Kommunikation, Kognition bzw. das Zentralnervensystem als Fluchtpunkt der an der Entwicklung digitaler Werkzeuge beteiligten wissenschaftlichen und ingenieurstechnischen Akteure bezeichnet werden muss/ oder, wenn das Denken als Folie von Finde-Techniken in kreativen Prozessen fungiert, setzt die Bezeichnung Denkzeug bei der körperlich-funktionalen Äqui-

4

Zur historischen Genese dieser funktionalen Äquivalenz vgl. Sohn-Retel (1989) sowie Künzcl/Bexte (1 996).

5

Einen Überblick geben Dreyfus (1 972/ 1985), McCurdock ( 1987). Zur militärisch genutzten, amerikanischen KI-Forschung der 1930/40el· Jahre siehe Galison (2001 ), S. 433-485.

6

Vgl. Schu1z-Schaeffer ( 1998), S. 128- 167.

7

Turing (1950).

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valenz an bzw. nahm dort ihren Ausgangspunkt und ist somit genauso Werkzeug, wie die Werkzeuge in den apparativ transformierten kreativen Settings oder Finde-Techniken. Die Gegenüberstellung von Werkzeug und Denkzeug evoziert Unterscheidungen, die tradierten Hierarchien menschlichen Tätigseins entstammen, sie führt das bipolare Schema von Manualität und Sprache bzw. geistigem Tun in die Beschreibung der Prozesse ein und verdeckt dabei weitgehend, dass sich diese Trennung der Tätigkeitsbereiche weder mit den hierunter verhandelten digitalen Werkzeugen noch mit vielen der bekannten Finde-Techniken zur Deckung bringen lässt.x CAD-Programme wie z.B. Vector Works Architektur 12 wären demnach Denkzeuge. Doch sie generieren keine Entwürfe, wie es parametrisch operierende Programme wie Grashopper bzw. Rhyno tun. Vector Works Architektur12 stellt seinenN utzern lediglich ein spezifisches Set an Tools als Interface bereit, d.h. es verbindet Stifte, Lineale, Zirkel und den Zeichentisch mit Maßstäben und Scheren, mit Paletten von Oberflächen und Mustern, mit Baumaterialien, Gestaltungselementen, Musterfenstern und Mustertüren sowie mit DIN-Normen, so dass seine Besonderheit eher in der Zusammenführung und umstandslosen Verftlgbarkeit ehemals räumlich auseinander liegender Tätigkeiten zu sehen ist, als darin, technischer Ersatz vornehmlich denkender Entwurfstätigkeit zu sein. Mausklicks und Tastenkombinationen auf sogenannte Aktivierungswerkzeuge ermöglichen dem Nutzer, Werkzeuge zu gebrauchen und Operationen in Gang zu setzen, ohne den Raum vor dem Display, auf dem diese Werkzeuge und Operationen angeordnet sind, verlassen zu müssen. Der Nutzer wechselt am Bildschirm zwischen Künstlerbedarfshandlung, Rechenwerkzeug, Materiallager und Mustersammlung hin und her. Die digital verfügbar gemachten Werkzeugoperationen ersparen ein zeitaufwendiges Hantieren-Lernen mit ihren realiter existenten Werkzeug-Gegenstücken, ersparen das aufwendige Zeichnen von Mustern und Materialien in Schnitten, geschweige denn, dass die Nutzer dieser Softwares noch alle diese Materialproben jeweils sichten müssten. Indem Softwares wie Vector Works Architektur 12 sowohl vormals manuell-instrumentelle als auch sogenannte geistige Tätigkeiten ersetzen bzw. unterstützen, ist fraglich, inwiefern es sich hierbei um eine kategorial andere Klasse von Werkzeugen handeln soll - um

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Leroi-Gourhan (I 964) hat dieses bipolare Schema als eine in der Evolution weit zurück verfolgbare Konstante beschrieben.

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FRANZISKA UHLIG I ROBINSONS PFLUG

Werkzeuge, die besser als Denkzeuge denn als Werkzeuge bezeichnet werden sollten. Im Hinblick aufkreative Prozesse führt die Trennung der Denkzeuge von den Werkzeugen überdies das Problem ein, zu suggerieren, es gäbe eine praktische Entsprechung zu der in der Kunsttheorie vielfach anzutreffenden Arbeitsteilung entlang von Begriffen wie disegno und elocutio, die gemäß Hubertus Kohle der Ordnung literarischer Schreibprozesse entlehnt waren bzw. die sich gemäß der Forschung Martin Warnkes oder Michael Baxandalls kulturellen Ausdifferenzierungen der städtischen und höfischen Gesellschaft verdanken. Die Gegenüberstellung von Werkzeug und Denkzeug präjudiziert die Beschreibung künstlerischer oder gestalterischer Produktionsprozesse durch eine sachfremde Topologie.9 Ferner überdeckt ein Rekurrieren auf Denkzeuge gerade im Hinblick auf digitale Entwurfssoftwares, dass das Singuläre, das kreativen Prozessen eigen ist, der Überführung in Werkzeuge und Techniken Grenzen setzt. Im technikphilosophischen Verständnis sind Werkzeuge vor allem instrumentelle Äquivalente menschlichen technischen Handelns. lm Anschluss an Alfred Nordmann liegen diesen instrumentellen Transformationen vornehmlich abgrenzbare, repetitive, skalierbare und Welt um-/gestaltende Handlungen zugrunde.10 Dies schließt aber Singularität aus. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Suggestion auf das instrumentelle, dass dem Denkzeug-Begriffanhaftet. Es überlagert Ansätze eines Denkens von Technik, wie sie Marcel Mauss in seinem Vortrag Les techniques du corps dargelegt hat, demzufolge Werkzeuge eben nicht allein Artefakte sondern der dafür plädierte, dass jede wirksame, traditionelle Handlung als Technik zu verstehen sei, die Art zu gehen ebenso wie apparative Fortbewegungsmittel, weshalb es ebenso möglich ist, den Körper als Werkzeug zu begreifen.

9

Zur Herausbildung der kunsttheoretischen Topoi rund um das Disegno aus der Literaturtheorie vgl. Kohle ( 1989). Zur Divergenz zwischen kunsttheoretischer Beschreibung von und dem tatsächlichen Geschehen in kreativer Prozesse vgl. insbesondere Mattbias Brubns Untersuchung der Briefe Nicolas Poussins an seine Auftraggeber, in der die gezicltc Adaption kunsttheoretischer Topoi des Schaffensprozesses dem Werkprozess im Atelierübergestülpt werden: Bruhn (2000). Zur Geschichte einer den Disegnobegriff kritisierenden kunsttheoretischen Topologie vgl. Busch (2009).

I 0 Nordmann (2008).

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Was den engen Bezug zu kreativen Prozessen anbelangt, so ist anzumerken, dass Denk-Werkzeuge, als repetitives aber durchaus nicht-instrumentelles Handeln begriffen, aleatorische Momente kaum zu erklären vermögen. Auch die Fähigkeit zur Kritik und Modifikation herkömmlicher Wert- und Bedeutungshierarchien dürfte sich nur sehr bedingt in technisches Handeln übersetzen bzw. in eine Programmiersprache transferieren lassen. Wenn künstlerisches Produzieren von Künstlern zumeist als ein nicht-rationales, intuitives, nicht-intentionales Handeln beschrieben wird, wenn Beschreibungen kreativer Prozesse Überraschungsmomente betonen, die sich zwischen Absicht und Ausführung schieben, wenn die Qualität des künstlerischen Tuns in der Diskrepanz zwischen dem "Unausgedrückten-aber-Beabsichtigten" und einem "Unabsichtlich-Ausgedrückten" angesiedelt wird und mit Metaphern wie dem "schöpferischen Winkel" umschrieben werden, dann lassen sich die Settings - ob die der Denkzeuge oder die auf Manualität rekurrierenden Werkzeuge - insgesamt als Techniken verstehen, die, wie Karin Krauthausen anband von Ernst Machs Schriften herausgearbeitet hat, als ein absichtsvolles "Bewirtschaften" der eigenen Gedanken-Assoziationen beschrieben werden können. 11 Nicht zuletzt ist an der Gegenüberstellung von Denkzeug und Werkzeug zu markieren, dass die Betonung des Zeughaften-nicht nur im Sinne Immanuel Kants als etwas gestaltet Dinghaftern - bereits vom antiken Sprachgebrauch nicht geteilt wurde, weil die Fixierung auf das Dinghafte die Einbettung technischen Handeins (mit oder ohne Werkzeuge) in ein Ensemble von Sachen, Dingen, Akteuren und Tätigkeiten, die zu einer Situation gehören, sie herbeiführen bzw. sich um diese Situation herum anordnen, unterschlagen. Bereits im antiken Denken der Technik - wie in einigen aktuellen soziologischen, medientheoretischen und technikphilosophischen Debatten auch geht es weniger um instrumentelle, als vielmehr um die prozessualen Dimensionen und Abhängigkeitsverhältnisse, in die das Hantieren mit Werkzeugen eingebettet ist. 12 Schon Martin Heidegger unterstrich dieses Eingebettetsein der Werkzeuge mit seinem Begriff der "Zeugganzheit", während Sybille Krämer die gesellschaftlich übermittelte Vorgängigkeit der Regeln, Techniken

II Krauthausen/Nasim (2010), bes. S. 8, wo Krauthausen Ernst Machs Begriff von der Ökonomie der Gedanken ftir die Entwurfsforschung fTuchtbar macht. 12 Neben Krämer (wie Anm. 2) sei vor allem auf die Beiträge in Hör! (2011) verwiesen.

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samt ihrer Werkzeuge herausgearbeitet hat und Ansätze der KI-Forschung und der Actor-Network-Theory die Handlungsmacht nicht-menschlicher Agenten untersuchen. Vorbildhaft für ein neues Denken der Technik war vielfach der antike Sprachgebrauch, dem die Rede von unbeseelten wie auch von beseelten Werkzeugen (Arbeitstiere, Sklaven), aber auch die Rede von den Wörtern als Werkzeugen der Sprache oder von der Erde als dem Werkzeug der Zeit geläufig war. 13 Bereits das antike Denken bezog Prozesse und Relationen in das Nachdenken über Werkzeuge ebenso mit ein wie Artefakte und es erfasste kausal und ursächlich miteinander verknüpfte Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Menschen, Tieren, Geräten und Naturphänomenen als Werkzeuge. 14 Schon hier war der Mensch nicht der einzig handelnde Akteur, während alle übrigen Instanzen Objektcharakter hatten und als passive, nicht handlungsfahige Sachen oder Dinge betrachtet wurden, sondern jede dieser Instanzen konnte als ursächlich abhängige Konstellation zu einer anderen gedacht werden und sich aus dieser Konstellation auch wieder entbinden bzw. herausgelösen. Bestimmte Tätigkeiten und Geschehnisse waren der antiken Werkzeugbegriffiichkeit zufolge ursächlich mit einem spezifisch zugerichteten Mittel, mit spezifischen Künsten, Techniken und Methodologien, welche die Organa bzw. Werkzeuge von ersteren hießen, korreliert. In der aristotelischen Philosophie unterschied man zwischen Künsten, die Dinge herstellten, und solchen, die hierfür die Werkzeuge lieferten und dadurch zu mitverursachenden Künsten aber auch zu Propädeutiken wurden. Aber selbst jener heute noch gebräuchliche Werkzeugbegriff, der Werkzeuge ausschließlich als verdinglichte technische Handlungen begreift, lässt sich mit dem antiken Denken in ursächlichen Abhängigkeitskonstellationen verschränken. Wenn beispielsweise die Erde durch den Tag/Nachtwechsel ein Werkzeug der Zeit genannt wurde, enthält diese Redeweise eine Reihe von Merkmalen, die für Werkzeuge als Problemlösungen stabilisierende Strukturen und Artefakte noch heute gültig sind. Da wäre als erstes die Möglichkeit, ein Geschehen zu begrenzen, die als eine zentrale Bedingung für technisches Handeln und damit auch für die Entstehung von Werkzeugen gilt. Die Begrenzbarkeit muss zudem mit der Wiederkehr des Phänomens gekoppelt sein. Als dritte Bedingung der Möglichkeit

13 Nordmann (2008), S. 90 und S. 152- 154. 14 Finster, Sp. 13631f.

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für eine Entstehung von Werkzeugen kommt die Skalierung hinzu. Auf die Rede von der Erde als Werkzeug der Zeit gewandt, lässt sich der Umlauf der Erde um die Sonne als ein Wechsel von Licht und Schatten beschreiben. Mit dem Zeiger einer Sonnenuhr und einer entsprechend verfertigten Fläche für den Schattenwurf erhält dieser Lichtwechsel eine messbare Dimension. An ihm vollzieht sich der Umschlag planetarer Konstellationen in das irdische Gefüge, von der Synchronisationen dann ihren Ausgangspunkt nehmen können. Noch Zedlers Universallexikon führt das antike Werkzeug-Denken unter dem Anagramm "Organum" fort, wenn es hier einen Werkzeugbegriff entlang der Sinne, entlang von Empfindungen und Wahrnehmungen des Körpers entwickelt und damit nicht-instrumentelle wie hybride Relationen als Werkzeugbegriff verhandelt. Die Gegenüberstellung von Denk- und Werkzeug, die hier erneut vorgeschlagen wurde, resultiert mithin aus einem Sprachgebrauch, in dem eine moderne, ingenieurstechnisch-naturwissenschaftliche Perspektive auf das Werkzeug als einem dinghaft materialisierten technischen Handeln grundlos virulent bleiben. 15 Wenn die Implementierung des Begriffs Denkzeug in den Bereich kreativer Produktionen eine solche Bedeutung zukommt, dass sie Gegenstand von Tagungen wird, so nicht zuletzt deswegen, weil sich in dieser Verbindung von Kreativität und Technik offenbar Sachbereiche überlagern, die entlang der soeben skizzierten Ordnungsvorstellungen diametrale Gegensätze darstellten. Gegen diese Ordnungsvorstellungen wandte sich bereits Ernst Kapps Schrift Grundlinien einer Philosophie der Technik von 1877. Diese Ordnungsvorstellungen zu kritisieren, war auch Gilbert Simondons Fluchtpunkt in Du Mode d'Existence des Objets Techniques. Wenn Denkzeuge als das Andere den Werkzeugen gegenübergestellt sind, so schreibt sich fort, was Sirnondon 1958 ebenda einleitend mit den Worten "La culture s'est constituee en systeme de defense contre les techniques [ .. .] supposant que les objets techniques ne contiennent pas de realite humaine" beschrieb. Bereits in Kapps Schrift wird der Versuch unternommen, das Nachdenken über Technik aus der alleinigen Zuständigkeit ingenieurstechnisch geprägter Wissenschaften heraus zu lösen und den Werkzeugbegriff von seiner weit verbreiteten Fixierung auf Artefakte zu entkoppeln, was besonders im Hinblick

15 Mit dem Begriff des technischen Handeins beziehe ich mich auf Nordmann (2008).

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auf die gleich noch zu behandelnde Beschreibung der Werkzeuge als Medien der Bildung in den Robinsonaden des 18. Jahrhunderts Relevanz besitzt. 16 Insbesondere Kapp interpretierte die Entstehung und Vervollkommnung aller aus der Hand des Menschen stammenden Artefakte als Akte der Entwicklung menschlichen Selbstbewusstseins, gleich welchem Bereich diese Artefakte jeweils zugehörten. Bei Kapp sind aber nicht nur das Zeug im Sinne dinghafter Gestaltung und die Werkzeuge als deren Mittler, sondern ist wie später bei Sirnondon Kultur als geistige Tätigkeit und als Technik bereits zueinander in Beziehung gesetzt. Mit dem Begriff der Organprojektion leitet Kapp das Zeug aus einer unwillkürlich-unbewussten materialisierenden Projektion leiblicher Vermögen ab und verschränkt somit sämtliche ( sinnes-)physiologischen Vermögen mit der menschlichen Umwelt. lm Werk-/Zeug sind das Zeug als materialisierte visuelle bzw. ideelle Projektion mit dem Zeug als einem im Werkzeug materialisierten leiblichen Vermögen der Umgestaltung von Welt überlagert. ln der Handhabung dieser Artefakte wird dem Menschen das unbewusst veräußerte Wissen und Können zum Bewusstsein gebracht. In dieser Engführung von Körpertechniken, hier als Körperorganik verstanden, und Vorstellungsbild vertrat Kapp einen Begriff von Technik, der dem mechanistischen Bild der Technik seiner Zeit entgegen stand. Dezidiertes Anliegen war es, die damals meist strikt voneinander getrennt gedachten Bereiche der Naturwissenschaft bzw. Technik und der Geisteswissenschaft, Kunst und Literatur über einen Begriff der Kultur als einem sowohl technisch wie künstlerisch vermittelten Bereich menschlicher Selbstvergewisserung sinnvoll zusammen zu führen. 17 Denkzeuge als das Andere den Werkzeugen gegenüberzustellen, greift auch von diesen, die Technikphilosophie begründenden Überlegungen zum Verhältnis von Kultur und Technik nichts auf.

16 Einfuhrend hierzu Hubig/Huning!Ropohl (2000) S. 205-209 sowie Fohler (2003), S. 25-48. 17 Spätere Werkzeug- bzw. Technikbegriffe lassen Werkzeuge und Techniken aus einem evolutionär bedingten Ausstattungsmangel des Menschen hervorgehen (Schcler, Gehlen). Diese wie auch Kapps These von der Manifestation von Werkzeugen als unbewusster Organprojektion lassen aus erkenntnistheoretischer Perspektive offen, wie der Mangel diagnostiziert, analysiert und das fehlende Wissen exteriorisiert werden können. Vgl. hierzu auch Luckner (2008).

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Obgleich Kapps Grundlinien sogar Kapitel zum Unbewussten oder zur Zivilisation als einer Institutionalisierung und Vergesellschaftung der im Aneignen von Welt gemachten Erfahrungen kennt, muss den Verfechtern der Gegenüberstellung von Denkzeugen als das Andere der Werkzeuge zugute gehalten werden, dass sich auch Kapps Geschichte des Werkzeugbegriffs passagenweise wie eine Geschichte des Verhandeins der Trennung zwischen Manualität und Sprache liest, dass auch Kapp viele seiner Überlegungen zur Technik auf ein später von Andre Leroi-Gourhan diagnostiziertes, bipolares Schema, das Hand und Wort kategorial voneinander trennt, gründete.

WERKZEUG, VORGÄNGIGKElT UND LEBENSPRAXIS Das stille zur Verfügung-Stehen der Werkzeuge, das man an elektronischen Geräten so häufig vermisst, resultiert aus einem Merkmal, fllr das Martin Heidegger den Begriff der Zuhandenheit geprägt und an dem Sybille Krämer die soziale Natur der Werkzeuge aufgezeigt hat. 18 Demnach sind Werkzeuge nicht nur vorgängig, indem man zu ihnen nur greifen muss, weil andere sie erfunden und hergestellt haben, sondern sie sind auch deshalb stets "vorhanden", weil sie Teil eines Gefüges, Teil stabilisierter Strukturen zur Bewältigung wiederkehrender Aufgaben und zur Befriedigung wiederkehrender Bedürfnisse sind. Entlang ihrer Vorgängigkeit und Zuhandenheit ergeben sich ähnliche historische Vertikalen wie entlang memorierender Praktiken wie dem Erzählen. Diese Konstellation lässt sich an Werken der literarischen Gattung der Robinsonade in den verschiedensten Facetten nachvollziehen. Nicht nur finden sich in den literarischen Fiktionen, die von Daniel Defoes The Life and Adventure of Robinson Crusoe (1719) ihren Ausgang nahmen, die Beschreibungen sämtlicher, für die Existenz des Menschen relevanter Berufe und handwerklichen Geschicklichkeiten wieder. Die Inselexistenz der RobinsonFigur schien auch prädestiniert, durchzuspielen, wie eine menschliche Existenz beschaffen sein muss, wenn die Werkzeuge als das abwesend Defizitäre (oder durch komplizierte Rettungsaktionen Rare) fungieren. Der Text ist von

18 Vgl. Heidegger (1927): "Das Eigentümloiche des wnächst Zuhandenen ist es, in seiner Zuhandenheit sich gleichsam wrückwziehen, um gerade eigentlich zuhanden w sein." S. 69 sowie Krämer ( 1982).

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einem Fluss aus Geschehnissen, Vorhaben, Absichtserklärungen und Reden geprägt, der sich um die elementarsten Praktiken wie auch um den Rhythmus aus Arbeit, Ernährung, Schlaf, Gebet und Reflektion organisiert. Der Text, das ist ferner das Rechtfertigen und Erläutern von Konstruktionsweisen. Wie kaum eine andere literarische Darstellung vermögen Robinsonaden zu veranschaulichen, wie Werkzeuge Teil eines Gefüges sind, das auf der Insel allererst in Gang gesetzt werden muss, wie sie den Bedürfnissen und daraus resultierenden Situationenjeweils vorgängig sind aber eben fehlen, weshalb die Robinson-Figur sukzessive in das gesamte handwerklich-technische Wissen seiner Zeit hineingezogen wird bis zu dem Punkt, an dem ein Pflug als bereits an Maschinen mahnendes Gefüge erfunden werden muss. Moderne Science Fictions wie Stanley Kubricks und Arthur D. Clarks 2001. ASpace Odyssee (1968) verhandeln auf dem fingierten extraterrestrischen Gelände eine evolutionäre Perspektive, die vom "primitiven" Knochen bis zur (beinahe) alles beherrschenden Denk-Maschine, dem (schlussendlich doch nicht) fehlerlosen Supergehirn HAL reichen kann und vor allem die gravierenden Verschiebungen der lebensweltlichen Kopplung von Menschen an Maschinen thematisieren. 19 In der Gattung der Robinsonade ist der Nullpunkt der Werkzeuge ein anderer. Die Werkzeuge sind hier Teil einer ständisch organisierten Bildungsprogrammatik, weshalb deren pädagogische Effekte an einem weitaus heterogeneren Personal durchgespielt werden. In den Robinsonaden des 18. Jahrhunderts verschränkt das Werkzeug gesellschaftliche Stände mit verschiedenen Generationen und Zeiten und stellt überdies den Rahmen für die in jedem Menschen gebündelten Wünsche, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Kräfte her. Das hier ausgewählte Beispiel ist Johann Heinrich Campes Robinson-Adaption, weil Campe Daniel Defoes literarische Figur des auf einer Insel sich selbst überlassenen Robinson aufgriff, um ihn "mit Hand und Kopf allein" eine seiner Geburt und Gattung ebenbürtige Existenz erschaffen zu lassen. 20

19 Zum Transfer von Vorstellungen der Forschung zu Künstlicher Intelligenz in das Drehbuch Arthur D. C1arkes und in Stan1cy Kubricks 2001. ASpace Odyssee (1968) vgl. Drenkpohl (2008), S. 112-147 (mit weiterer Literatur) und Dreyfus (1972/ 1985), S. 3 1. 20 Vgl. Wothge (1 954/55). Zur Debatte, ob die von Wilhelm von Humboldt favorisierten Vermögen von Sprache, Schrift und Wissenschaft oder die zur Ausbalancierung von Wünschen und Können herangezogenen Vermögen der N ützlichkeit und des Gebrauchs

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Die Bedeutung, die der reformpädagogischen Ansätzen verpflichtete Campe den Werkzeugen zuschreibt, geht aus der Einleitung zu diesem, für Erwachsene wie Kinder verfassten Roman hervor. In ihr bezieht sich Campe auf Jean Jaques Rousseaus im Emile oder Über die Erziehung getroffenen Feststellung, es angesichtsvon Werkzeugen mit einer "Verfassung" des Menschen zu tun zu haben. Im Vorwort von Campes Robinson, in dem die pädagogischen Implikationen des praktischen Tuns, die am Werkzeug kulminieren, verhandelt werden, zitiert Campe Rousseaus Passage über die Werkzeuge als Verfassung des Menschen. Robinson Crusoe (für Jugendliche) müsse "das Erste sein [werde, A.d.V.], welches mein Aemillesen wird; es wird lange Zeit allein seine ganze Bibliothek ausmachen [ ... ) Es wird der Text sein, welchem alle unsere Unterredungen von den natürlichen Wissenschaften nur zur Auslegung und Erläuterung[ ... ] unserer Urteilskraft zum Beweise dienen" .

Die philosophische Wertschätzung, die Campe mit Rousseau gesprochen, diesem literarischen Stoff beimessen, wird noch dadurch unterstrichen, dass Campe einen fingierten Leser einführt, der nach diesem "Ersten" der Bücher nochmals nachfragt: "Ist es Aristoteles, ist es Plinius, ist es ButTon?", woraufhin Campe im Wortgewand Rousseaus antworten kann: "Hitziger Philosoph, ich sehe schon Ihre Einbildungskraft sich entzünden. Sezen Sie sich in keine Unkosten, diese Verfassung ist gefunden, sie ist beschrieben und, ohne Ihnen Unrecht zu tun, viel besser, als Sie solche beschreiben würden",

um dann auf Daniel Defoes "Robinson Krusoe" zu verweisen.2 1 Rousseaus Lobrede in Campes Diktion und vice versa Campes ausführliche Zitation Rousseaus unterstreichen mit dem Rekurs auf den juridischen Status der Verfassung die grundlegende gesellschaftliche Bestimmung, die die Dessauer Refom1pädagogik, der Campe verpflichtet war, den Werkzeugen zuschrieben und die sich in Campes Roman mehrfach vollzieht: an der Iitera-

mit ihrer Tendenz zum homo oeconomicus, zum "Geld schaffen" und zum Denken in Kategorien des "Ertrags" in den Vordergrund der Erziehung gerückt werden sollen. Vgl. auch Blankertz (1965), S. 7-17. 2 1 Zitiert nach Campe (1779), S. 8f.

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rischen Figur Robinson Crusoes, an Freitag, vor allem aber an den fingierten jugendlichen Zuhörern, die das beim Vorlesen Erlebte nachzuahmen suchen. Indem Robinson sich des Eingebundenseins in Traditionen von Handlungen, Geschicklichkeiten, Vermögen und Kenntnissen zur Bewältigung seiner Bedürfnisse gewahr wird, wird einerseits gezeigt, wie die Werkzeuge an die Stelle instinktiver Regelmechanismen der Tiere getreten sind und den Menschen zwar in ein komplexes Geflecht aus Arbeit, Glaube und Tausch eingebunden haben, ihm zugleich aber eine ökonomische LU1d soziale GrLmdlage geben. Mehr aber noch als das, ist an der literarisch durchgespielten Konstellation interessant, wie die Existenz mit dem Gebrauch der Werkzeuge verknüpft ist, wie Robinson gar nicht umhin kann, sich all der Situationen zu erinnern, die den einzelnen Problemlösungen (und nicht nur den Werkzeugen) eigen sind, wie die den Werkzeugen anhaftenden Erfahrungen Robinson (lies: den Menschen) durch Wiederholungen und Übungen in eine Balance zwischen seinem Wollen und seinem Können zu bringen vermögen. 22 Eine Entstehung der Werkzeuge als Resultat einer anthropologischen Differenz, wie es die bereits erwähnte Science Fiction Arthur D. Clarks und Stanley Kubricks darstellt, steht in Campes Robinsonade nicht zur Diskussion. Die Werkzeuge sind gegeben, sie sind Bestandteil von Situationen des Lebens der Spezies Mensch. Robinsons Aufgabe besteht hauptsächlich darin, ihr Fehlen durch Nachbauten und imitative Erfindungen auszugleichen und sich in ihrer Handhabung soweit zu üben, dass er den Mangel an Sozialität durch eine Herstellung von Werkzeugen und ihren geschickten Gebrauch ausgleichen kann. Besonders eindrücklich geschildert wird dieses Geflecht eines horizontalen Austauschs spezifizierten Könnens über die verschiedensten geographischen und sozialen Räume hinweg in einer Passage, die vom Schlaflager Robinsons, einem kargen Graslager, handelt. In einem gemeinschaftlichen Akt des Memorierens, dass die literarische Rahmenfigur, der den Roman Abend für Abend vorlesende Dorfvater initiiert, tragen die die Erzählung immer wieder unterbrechenden Kinder nach LU1d nach alle Gewerke zusammen, die bei der HersteiiLmg einer Matratze ineinander greifen, Robinson aufgrLmd seiner

22 Eine umfassendere Einbettung in das philosophische Denken des 18. Jhs. unternimmt Nicole C. Karafyllis (2011), S. 229-266, bes. S. 255ff. vor. Vgl. Wotghe ( 1954/55) sowie Campe (1779) S. 382ff. Allein im I 8. Jahrhundert erschienen 50 weitere Robinson-Adaptionen.

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Insellage aber fehlen. Die Entstehung der Matratze beginnt beim Rosshaarschneider, führt über den Sattler, den Leineweber, die Spinnerinnen, den Bauern, der die Leinsamen sortiert, dann aussät hin zu den Flachsbrechern, über diverse Händler hin zu den Polsterern und Schneidern, um schlussendlich feststellen zu können, dass fiir eine simple Matratze beinahe tausend beruflich geschulte Hände nötig seien. 23 Wie bei der Matratze verschränkt der Roman mit dem Mittel der Chronik als zeitlich reihender Erzählstruktur beinahe alle technischen Handlungen des täglichen Gebrauchs als zivilisatorische Errungenschaft horizontal entlang verschiedener gesellschaftlicher Stände und vertikal entlang verschiedener Generationen und durch die Gegenüberstellung verschiedener Kulturen aneinander. 24 Bleiben Daniel Defoes Figur des Robinson immerhin die Werkzeuge des Wracks, das wie eine Arche des "kunsttechnischen Könnens der Menschheit" anmutet,Z5 muss Campes Robinson-Figur das Inseldasein von einer Absenz aller Werkzeuge aus bewältigen. Er stellt dadurch aber zugleich die Reichweite der "natürlichen Künste" (Rousseau) des dritten Standes unter Beweis. Es ist dieser dritte Stand, dem Andre Leroi-Gourhan in Hand und Wort gut 150 Jahre später bescheinigen wird, dass er die eigentliche Trägerschaft der ökonomisch-technischen Evolution des Menschen darstelle. Auf ihn stütze sich

23 Campe (1779), S. 9lff. 24 Zum Bildungskonzept des Philanthropismus vgl. u.a. Anm. 24. 25 Bei Brinkmann ( 1894), S. V heißt es: "Als bald nach der Mitte unseres Jahrhunderts die ersten Anregungen zur Begründung öffentlicher Sammlungen [ ... ] ergingen, standen vornehmlich zwei Aufgaben im Vordergrund: Man hatte einsehen gelernt, dass nur ein kleiner Bruchteil des kunsttechnischen Erbes der Menschheit noch in den Werkstätten gehütet werde, dass es daher höchste Zeit sei, was sich von dem halb oder ganz vergessenen Verfahren alter Zeiten an ihren Erzeugnissen lernen lasse, zu neuem Leben zu erwecken. Man war sich durch die vergleichende Betrachtung der in großen IndustrieAusstellungen vereinigten Gewerbeerzeugnisse zugleich bewusst geworden, dass der Volksgeschmack [ ... ]in erschreckendem Niedergang begriffen sei, und hoffic, diesen Geschmack auf bessere Wege zu leiten, indem man ihm mustergültige Werke kunstbegabterer Jahrhunderte als Vorbilder vor Augen ftihrtc. [ .. .] Dem Wirken der Kunstgewerbe-Museen[ .. .] ist es gelungen, eine Fülle technischer Verfahren, die fast oder ganz verloren gewesen waren, wieder dem Kunstgewerbe und Jedem zugänglich zu machen, der nur den ernsten Willen, sich ihrer zu bedienen, mitbringt."

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die technische Evolution, zugleich aber sei seine Stellung im Funktionsschema der menschlichen Entwicklung mit den "geringsten Ehren" verbunden. "Verglichen mit der ,Heiligkeit' des Priesters, dem ,Heldentum' des Kriegers, dem ,Mut' des Jägers, dem ,Ansehen' des Redners und noch der ,Ehrbarkeit' der ländlichen Aufgaben werde seine Tätigkeit meist als lediglich ,geschickt' beschrieben."26

Dabei materialisiere sich im Handwerker "das Menschlichste im Menschen", so Leroi-Gourhan, um sofort anzumerken, dass "selbst heute, da die Vergötterung der Erfindung zu einem Kult der Technik führt, wird der Soldat, der in einer Rakete sitzt, heroisiert, während der Ingenieur, der sie entwickelt hat, nur ein großer Diener der Menschheit ist, ein Handlanger".27

Die literarische Gattung der Robinsonaden, die im 18. Jahrhundert auf etwa 50 Adaptionen anwächst, bricht sowohl mit der Geringschätzung des Handwerks. Sie erfüllt überdies die in Technikphilosophien anzutreffende Empfehlung, Werkzeuge in den sozialen Konstellationen ihres Gebrauchs aufzusuchen. Nur so treten ihre gesellschaftlichen Konstituenten, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Interessen in den Blick.2s Als Motiv, dass Robinsons raum-zeitliche Bewegung koordiniert, dass sowohl die Flucht aus dem Elternhaus, als auch die Flucht aus der Sklaverei, oder aus dem Plantagen-Besitz organisiert, wird der "Antrieb zu Höherem" angegeben. Es dauert indes lange, bis dieser "Antrieb zu Höherem" aus einer nachahmend-imitierenden in eine erfindende Tätigkeit umschlägt. Der Antrieb bewirkt aber immerhin, dass es Robinson in unterschiedlichen Konstellationen jeweils erneut auf ein Schiff treibt, dass ihn mit verschiedenen Existenzformen entlang aller, damals verfügbaren ständischen Ordnungen in Berührung kommen lässt, bis er, auf die Insel gespült, an den Nullpunkt einer zweiten bürgerlichen Existenz gerät, die nach dem Ausbau aller Kräfte und

26 Lcroi-Gourhan (1964), S. 220f.

27 Ebd.

28 Für die Lektüre von Campes Roman als einer Soziales und Pädagogisches programmatisch behandelnden Schrift beziehe ich mich auf die bei Lepenies (1988) aufgezeigte enge Verflechtung von Soziologie und Literatur im 18. und 19. Jahrhundert.

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Fähigkeiten in die Rolle des Souveräns der Insel mündet und ihn überdies den Pflug erfinden lässt. 29 Die Werkzeugentstehung bzw. -herstellung ist durch den erinnernden Austausch oder das Anlandspülen von Werkzeugen nicht die Tat eines Einzelnen, sondern trägt eine soziale Komponente an sich. Die Realisation von Bedürfnissen wie Schutz, Ernährung, Schlaf, Kommunikation korreliert mit spezifischen Settings, bestehend aus der Empfindung eines Mangels, der Erinnerung nicht vorhandener Gerätschaften, dem Training nicht vorhandener Kräfte und Fähigkeiten. Auch unterliegen Robinsons Bedürfnisse einer Stratigraphie und hierarchischen Ordnung. Während das Gespräch mit Menschen zwei Jahrzehnte auf sich warten lassen muss, beginnt Campes Robinson schon in den ersten Stunden des Inseldaseins von Fragen der Sicherung von Grundbedürfnissen wie Schlaf, Ernährung, Wohnen und Bekleidung und dem Bedürfnis nach Schutz geplagt zu sein und zeichnet sich in seiner Diszipliniertheit vor anderen Gestrandeten und nicht zuletzt vor den "Wilden" aus. Obgleich sich Bedürfnisse nach Gesellschaft anhand einer Spinne, nach Tausch anhand wertlos gewordener Edelmetalle und nach Rhythmus anhand von Kulturtechniken wie dem Zählen und Schreiben artikulieren, beschreiben die Monologe, in denen sich Robinson beständig als ein Subjekt erlebt, das sich der Gepflogenheiten seiner heimatlichen Welt zu erinnern und diese neu zu (er-)finden versucht, die verloren gegangene und neu zu begründende Verfassung der menschlichen Existenz. In den Blick der Leser des Romans wie auch der Kinder als Zuhörer der Erzählung treten neben dem Mangel an Sozietät, der ein Mangel an Werkzeugen und Fähigkeiten ist, auch Fähigkeiten wie zum Beispiel die, dass sich Campes Robinson der Wege zu erinnern hat, um vom Meer oder vom Aussichtspunkt zu seiner Burg zurück zu gelangen oder von da wiederum die Bucht am Meer zu finden, an der das Floss versteckt werden wird. Nur durch diese Fähigkeit der Orientierung vermag er erneut von den Früchten der Kokospalme, vom Zitronenbaum oder von den Austernbänken am Strand zu profitieren. Orientierung ist also ebenso eine Voraussetzung für die Wiederholung von Verrichtungen, für das Gelingen seiner Existenz, wie die Reflexion auf die Bedürfnisse selbst. Instinktive Bedürfnisse wie das nach Schutz entstehen neben kulturell erworbenen wie dem Bedürfnis nach Bekleidung aus einem Gefilhl der Scham heraus. Die Struktur, die Robinson seiner Existenz nach

29 Campe (1785).

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dem Schiffbruch zu geben versucht, wirkt wie eine Replik seiner zurückgelassenen Welt. An den Werkzeugen wird dieses nachahmende Reduplizieren besonders eindrücklich. Robinsons Monologe beim Durchstreifen der Insel handeln selten vom ästhetischen Genuss "unberührter Natur". Eher betrachtet Robinsons Blick "Natur" aus der Perspektive der Zweckdienlichkeit von Materialien und Formen. Könnte nicht dieser Stein, weil er ein Loch und eine scharfe, sich verjüngende Kante aufweist, eine Axt abgeben?30 Eignet sich diese landschaftliche Formation wegen ihrer Höhe und ihres Bewuchses nicht dazu, die Küste der Insel und die etwaige Ankunft von Schiffen unter Kontrolle zu halten? Welche landschaftliche Gegebenheit lässt sich in Richtung einer Höhle verstärken, um darin zu leben, oder in Richtung einer Grube, um darin lebend Lamas zu fangen, welches Gelände, um sie zu sozialisieren, sich durch sie mit Milch und Käse zu versorgen? Wo ließe sich ein Floß für Ausflüge auf das Meer lagern? Wo ließe sich ein Floß zugleich gut verstecken etc.. Waffen und Jagd, Feuer und Herd, Keramik und Vorratshaltung, verschiedene Formen der Mobilität, aber auch des Schutzes bestimmen Robinsons Verhältnis zu seiner natürlichen Umwelt zuweilen mehr als Naturgewalten wie Sturm, Gewitter, Erdbeben etc .. inwieweit könnten die materielle Beschaffenheit, inwieweit bestimmte natürliche Formen von Bäumen, Steinen, landschaftlichen Gegebenheiten seiner Umgebung bei der Stillung dieses oder jenes Bedürfnisses zweckdienlich sein? - ist eine beständige Frage. Stellt man Robinsons zweckgerichteten Blick auf Formen der Natur neben das, was Walter Benjamin gemeint haben dürfte, als er schrieb, dass das Werkzeug gemeinsam mit der Kunst an den "Anfang aller großen Eroberungen auf dem Gebiete der Form"31 gehöre, wird an diesem "Scannen" natürlicher Gegebenheiten Robinsons deutlich, dass im Erkennen von Formen eine Problemlösungskompetenz und ein zentrales Moment der Werkzeugentstehungbeschrieben ist.32 Bei Benjamin ist die Form ein ebensolcher Fluchtpunkt eines Denkens von Technik wie in Campes Robinson-Roman.

30 "Es war nämlich dieser Stein ordentlich wie ein Beil gestaltet; es ging vom scharf zu und hatte sogar ein Loch, um einen Stiel hindurch zu stecken." Campe (1 779), S. 65. 31 Benjamin, S. 2 17f.. 32 Die Überlegung lautet: "Sind aber Formen nicht das eigentliche Geheimnis der Natur, die sich vorbehält, gerade mit ihnen die richtige, die sachliche, die logische Lösung eines rein sachlich gestellten Problems zu belohnen." Benjamin, S. 217f..

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"Kommen nicht alle großen Eroberungen im Gebiete der Formen schließlich so, als technische Entdeckungen zustande?"Y Benjamins Bestimmung der Form als den Beginn technischer Entwicklungen macht clie Suche nach einer durch natürliche Prozesse oder durch Gestaltung gelungenen Form als einen funktionalen Aspekt von Gebrauch lesbar. Insofern gerät mit Robinsons Suche nach geeigneten Formen bzw. überhaupt mit seiner, nicht auf "reine" Physis sondern auf eine "etwas-als-etwas" gerichtete Art des Beobachtens ein wichtiges Moment von Werkzeugentstehung in den Blick- eines morphologisch geprägten Denkens von Funktionalität und Gebrauch. Auf diesem Moment einer permanenten Wachsamkeit für zweckdienliche Konstellationen gründen die am Beispiel der Matratze skizzierten gesellschaftlichen Konstituenten menschlicher Zivilisationsprozesse. Robinsons Suchen nach geeigneten Formen und Materialien erinnert Sachen, Dinge, Vermögen und auch Werkzeuge seiner auf dem Kontinent gelebten Existenz. Robinsons Reflexion des eigenen Tuns korreliert mit der Erinnerung an das Maß von Geschicklichkeit heimischer Handwerker, die Qualität und Dauer von deren Arbeit. Der Anlass zur Herstellung und imitierenden Erfindung von Werkzeugen ist sozialer Natur oder andersherum: die Bedürfnisse scheinen kaum anders denn nur so einlösbar zu sein, wie es Robinson aus seiner Kindheit und Jugend her kennt. Eine Anpassung an das Paradiesische einer in den Tropen liegenden Insel kommt nicht in Betracht. Ein Korsett aus Disziplinen wird entfaltet, das Robinson schlussendlich läutern wird. Improvisationen, Abwandlungen oder die Verwerfung von Werkzeugen kommen lediglich bei Bedürfnissen wie dem nach Bekleidung vor, wo zwar ausgesagt wird, dass Robinson "weder des Lohgerbers noch des Weißgerbers Werkstatt jemals besucht" habe, weshalb er es "weder dem Einen noch dem Andern nachmachen"34 konnte. Doch dieses Nicht-Kennen verdeckt kaum, dass hier das Können-Wollen oder Nicht-Wissen durch einen Geschlechtercode geregelt ist. Das Wissen, dass den Werkzeugen anzuhaften scheint, ist nur zu Teilen ein konstruktiver, materieller Bereich am Werkzeug selbst. Eher tritt es im Text wie ein Mittler auf, das Bedürfuisse und Interessen, Kräfte und Fähigkeiten, technische, geistige und natürliche Künste bündelt, entlang dem sich Materialien, Hände, Handgriffe und Kräfte organisieren. Das Werkzeug

33 Ebd. 34 Campe (1779), S. 171.

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ist mithin zu einem nicht unerheblichen Teil etwas, das sich einerseits ganz wesentlich aus dem Wissen und Können von Individuen konstituiert und dieses individuelle Wissen archiviert; das aber zum anderen nur das archiviert und weiterleitet, das flir die Gemeinschaft insgesamt anschlussfähig ist. Ein einzelnes Individuum kann, wie im Falle Robinsons auf dieses Wissen zurückgreifen, indem es sich dieses Wissen aus seinem gesellschaftlichen Umfeld heran organisiert.35 Der materielle Träger des konkretisierten Funktionszusammenhangs, zu dem wir greifen, wenn wir an einen Werkzeugkasten gehen, stellt aber nur einen Teil des Werkzeugdaseins dar. Bedürfnisse

- - .•;±!!3

-

~-~~---=~~~--~~~~ -:::: 3'>>..... i>'i>~~ Abb. 1: Johann Heinrich Campe, Robinsons Pflug

organisieren solche spezifischen Problem-Konstellationen, ftir deren Bewältigung Werkzeuge ein notwendiges, aber nicht einziges Element darstellen, mit. Je komplexer die Struktur dieser Bedürfnisse ist, j e mehr sie sich von den Bedürfnissen der "natürlichen Bestimmung"36 abheben, desto komplexer scheinen in Campes Robinson-Roman auch die Werkzeuge geartet, die sich Robinson zur Befriedigung dergleichen schafft.

35 Zu den Fallstricken einer solchen, auf das Individuum als einziger Instanz konzentrierten Geschiehtsauffassung vgl. Levi-Strauss ( 1958), S. 16. Durch die Konzentration auf die Kategorie der Person und des Ereignisses ge1·ät auch oft der gesellschaftliche Charakter, der Werkzeugen eigen ist, aus dem Blick. Vgl. hierzu Krämers Kritik an der Technikphilosophie Krämer ( 1982), S. 14f.. 36 Campe (1785), S. 33f..

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Eine weitere Vorstellung gesellschaftlicher wie individueller Sukzession zeigt sich in Campes Roman an den Umständen und Bedingungen, unter denen Robinson von der Handhabung einzelner Werkzeuge zur Konstruktion und Handhabung eines Gerätes übergeht, dem Pflug (Abb. 1). Obgleich Robinson seit seiner erzwungenen Landung auf der Insel täglich vor die Frage gestellt war, wie und ob er auf der Insel ausreichend Nahrung, Brot, Früchte (Kokosnuß, Zitrone, Wein), Eiweiß (Austern, Lama, Ziege, Milch und Käse) findet, er beständig darüber nachsann, wie er Lebensmittel bevorraten, erhitzen und haltbar machen könnte, erscheint ein derart zentrales Instrument der Kultivierung des Bodens wie der Pflug erst im fünfundzwanzigsten Abschnitt des Romans. Der späte Zeitpunkt seines Eintritts in Robinsons Existenz wird im Text indes exakt begründet. Der Pflug ist kein Werkzeug, sondern ein Gerät. Er ist eine Kombination aus Werkzeugen und mechanischen Mitteln, mit denen Kräfte übertragen werden. Er ist zudem ein Gerät des Ackerbaus, das Robinson aus seiner Zeit als Plantagenbesitzer zwar bereits kennen gelernt haben dürfte. Doch wird der Pflug in Campes Roman als Kulminationspunkt besonders hoher Kenntnisse des Gebrauchs eigener menschlicher Kräfte und der Konstruktion von Werkzeugen beschrieben. Zwar bietet der Text für sein spätes Auftauchen auch einen Anlaß, die Ankunft eines Schiffes und die Entdeckung eines lange Zeit entbehrten, aber wohl bekannten Genusses - Robinson findet auf diesem Schiff eine Art Brot, eine Ration Schiffszwieback, der wiederum den Gebrauch von Roggen in Erinnerung ruft, ferner eine Mühle, die ähnlich dem Pflug eine Kombination aus Werkzeugen und Mechaniken darstellt. Jenseits dieses Anlasses scheint in der späten Ingebrauchnahme des Pfluges aber Campes pädagogisches Konzept der Übung des Körpers zum Tagen zu kommen. Denn, mehr als diese Entdeckungen von Brot und Mühle wird im Text betont, dass der Pflug zu einem Zeitpunkt erfunden wird, zu dem Robinson irrfolge seines langen Insellebens schon die "mühseligsten und ungewohntesten Arbeiten"37 zu einem Spiel geworden waren. Auch heißt es, dass der Pflug in den Bereich der Möglichkeiten trete, nachdem Robinson "mit so vielen andern, ohne Werkzeuge und ohne einen Gehilfen zu haben, glück-

37 Campe (1779). S. 287.

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lieh zu Stande gekommen war"3 x und sich "sehr wohl dabei"39 fand, eine "arbeitsame Lebensart"40 zu führen, was die fingierte Zuhörerschaft begeistert aufgriff ("Karl: Oh, das ist scharmant! Dann wollen wir ebenso fleißig sein, als Robinson" 41). Erst zu diesem Zeitpunkt formuliert Robinson den Vorsatz, "den Ackerbau als die angenehmste und nützlichste Arbeit unter allen zu seiner beständigen Hauptbeschäftigung zu machen" und beginnt zunächst mit der Fertigung eines Dreschflegels, nimmt dann eine (auf dem Schiff gefundene) Handmühle in Gebrauch, schafft sich ferner ein feines Sieb für das Mehl, dazu einen Backofen, ja richtet sogar noch eine Schmiede ein, um mit Freitag gemeinsam andere Werkzeuge aus Eisen wie einen Spaten und "vielleicht noch andere nötige Werkzeuge zu verfertigen" 42 . Allein eine gesamte Regenzeit verwenden Robinson und Freitag auf den Spaten aus Eisen, der "nach wenigen vergeblichen Versuchen gar trefflich gelang". Erst dann, als Handmühle, Dreschflegel, Backofen und auch der nun geschaffene Spaten fertig und in Gebrauch übergegangen waren, "ging Robinson noch weiter und versuchte, ob er nicht gar einen Pflug erfinden könnte, der ihren Kräften angemessen war?"43 Während der Spaten noch als Robinsons Nachschöpfung heimatlichen Handwerks verhandelt wurde, bettete Campe die Herstellung des Pflugs in die Vorstellung menschlicher Erfindungskraft ein. Nie habe Robinson eine Zeichnung von ihm gesehen, wird betont und hinzugefügt, dass dieser Pflug einem bei den Gtiechen bekannten Pflug ähnelte, denn er hatte beispielsweise keine Räder. Während es vormals die heimatlichen Erinnerungen sind, die Robinson beim Herstellen der Werkzeuge anleiten, führt Campe am Pflug das Erfinden und die Zeichnung, das Gerät und die Ausbalancierung der Kräfte und Bedürfnisse zusammen. Zudem taucht am Erfinden des Pflugs ein Motiv auf, das als eine Fähigkeit des Erfindensangesehen werden kann. Während Campe Robinson eine Axt aus einem Stein mit Loch und vetjüngender Kante gewinnen lässt, betont er am Erfinden des Pflugs das Missverhältnis von Funktionsform und Behelf. Robinson füge Bestandteile wie einen großen

38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 289. 42 Ebd., S. 290. 43 Ebd., S. 29 1.

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krummen Ast als einem wenig zweckdienlich geformten Material mit einem in der Schmiede geschaffenen Pflugschar und einer Handhebe zusammen und schaffe so den begehrten, indes unbekannten neuen Funktionszusammenhang. Indem Robinson zwar sagen kann, dass er einen Pflug erfinden möchte, bleibt ein Pflug zwar auch hier als generatives Muster stets Rahmen der Fertigungsstruktur. Doch Robinsons Mühen mit der Herstellung hätten allein damit zu tun, dass er sich erst in den "Stand der Künste" bringen müsse, die diese Sachen allererst verfertigen und nutzen ließen.44 Dazu musste er die Kräfteseine eigenen - kennen, für die der Pflug gemacht sein sollte und er musste die Kräfte beherrschen lernen, mit denen er die Bestandteile des Pfluges, z.B. seinen Eisenschaft, herstellen konnte. Überdies bettet der Text den Pflug in eine Hierarchie der Beschäftigungen ein - ebenfalls ein Indiz flir die hier zu vermutenden pädagogischen Absichten Campes. Der Ackerbau, der mit dem Pflug Einzug halten sollte, gilt dem Text gemäß als die "angenehmste und nützlichste Arbeit unter allen", weshalb sie Robinson zu seiner Hauptbeschäftigung wählt. Längst hatten die Vergesellschaftung der täglichen Lebenspraxis, Fragen der Arbeitsteilung, der sozialen Hierarchie aber auch das Wissen und die konkrete Anschauung der europäischen Werkzeugkultur Einzug in das Leben auf der Insel gehalten. Die Lektion, nur "mit seinem Verstande und seinen Händen" auskommen zu müssen, um zu erkennen, "wie hilflos der einsame Mensch", "wie viel Nachdenken und anhaltende Strebsamkeit zur Verbesserung" des Zustandes der menschlichen Existenz notwendig seien und nicht zuletzt, wie "das vielseitige Glück des gesellschaftlichen Lebens" davon abhängt, "dass viele Hände zusammen kommen", war erteilt,45 der von den Eltern angebotene, von Robinson aber verschmähte dritte Stand war durch das Nachschaffen der Werkzeuge und gesellschaftlichen Organisationsformen auf der Insel in ihm selbst zusammen geführt.46 Robinson hatte das handwerkliche Können der verschiedensten menschlichen Berufe erworben und war zum Souverän der Insel aufgestiegen. Im Pflug wählt er sich eine beinahe maschinelle Konstellation, die verschiedene Grade von zweckdienlicher Formen und Materialien, die unterschiedlichste Kräfte- und

44 Ebd. 45 Ebd., S. I 0. 46 Eine historische Perspektive auf den Zusammenhang von ständischer Organisation der Gesellschaft, Handwerken und Werkzeugen bietet Berlepsch (1 850).

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Fähigkeitsrelationen zusammen band. Die menschliche Kompetenz der Erfindung korreliert Campe in seinem Roman sowohl mit der Distanzierung zum eigentlichen Einsatzort der Kräfte, als auch mit der Fähigkeit zur Arbeitsteilung sowie mit einem Wissen, das die mechanisch-materiellen als auch die menschlich-gestischen Vermögen zusammenführt. Mit dem Pflug stehen Campes Leser wie auch Robinson am Beginn eines Eingespanntseins in eine jahreszeitlich organisierte Anordnung zwischen menschlichen Kräften und technisch-apparativen Konstellationen. In Campes Vorstellung obliegt eine solche, vom jahreszeitlichen Rhythmus vorgegebene Koppelung aus menschlichen und mechanischen Kräften und Materialien nicht der nachahmenden, sondern allein der erfindenden Tätigkeit. Waren Verbesserungen zunächst Fragen der zunehmenden Geschicklichkeit, so taucht am Pflug erstmals das Motiv des Fortschritts als sukzessiver Verbesserung des Geräts auf. Robinsons Pflug gleiche, wird dem Leser erklärt, keinem aktuell gebräuchlichen Pflug, er sei einem griechischen Pflug ähnlich. Im Rückblick löst sich auch Robinsons stete Reflexion auf Dauer und Mühe der Arbeiten, die er verrichten will und muss, darin ein, das sie sicher stellte, dass die Frage nach der Angemessenheit der hergestellten technischen Artefakte stets berücksichtigt blieb. Robinsons Herstellen der Werkzeuge resultierte also aus der Reflexion auf die Bedürfnisse, Interessen und Wissensbereiche und war zugleich der Ausgangspunkt einer Konstruktion eines eigenen Wissens um die sozialen Konstituenten der mit den Werkzeugen augeeigneten Gewerken. Wiederum bliebe der Stein, auch wenn sein Loch und seine eine Kante noch so geeignet für eine Steinaxt wären, nichts weiter als ein Stein, bliebe bloßes Ding, reine Physis, verfUgte Robinson nicht über jenes Archiv an Problemlösungen, dass ihm die Nutzung dieser Formen, d.i., ihre sinnvolle Anordnung und Strukturierung erlaubt. 47 Erst diese strukturelle Fügung gibt in Campes Roman den Rahmen ab, in dem Werkzeuge eine Aktualisierung erfahren, ihr Nullpunkt ist das Moment der Vorgängigkeit.

47

Krämer (1982), S. 52.

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Ars memorativa, Architektur und Grammatik Denkfiguren und Raumstrukturen in Merkbildern und manuellen Gesten

!RENE MITTELBERG

"Erinnere Dich an den Eindruck guter Architektur, daß sie einen Gedanken ausdrückt. Man möchte auch ihr mit einer Geste folgen." (L. Wittgenstein (1977), S. 22)

1. EINLEITUNG: KÖRPER- RAUM- BEGRIFF Seit der Antike verschrieb sich die Gedächtniskunst dem Sichtbam1achen von inneren Werten, Diskursstrukturen und abstrakten Wissensbereichen. So wurden zum Beispiel den sieben freien Künsten Türme gebaut und die Gerechtigkeit erschien personifiziert im Gewand von Statuen auf Fresken, Gemälden und Gebäuden. Die Mnemotechnik, der pragmatisch ausgerichtete Begrifffür die ars memorativa, schuf nicht nur Gedächtnisstützen für Redner, Gelehrte und Studierende schwieriger Materien, sondern zeigte auch Darstellungstraditionen auf und kreierte auf innovative Weise visuelle Foren für das Materialwerden von Metaphern und anderen Denkfiguren.1 In dem vom vorliegenden Band vorgegebenen thematischen Rahmen sollen einige der von der ars memorativa bereitgestellten Techniken und Instrumente einen Einblick

Vgl. Mittelberg (2002).

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WERKZEUG DENKZEUG I DENKEN UND WERKEN

in die mediale Geschichte dieser Art Werkzeuge für das Denken und Verinnerlichen gewähren. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive liegen bereits umfassende Arbeiten zur Gedächtniskunst2 und zum kulturellen Gedächtnis3 vor. Dieser Beitrag schlägt eine Brücke zu natürlichen Medien, insbesondere zu manuellen, redebegleitenden Gesten, als genuine Gestaltungsmittel flir das Erinnern und Herstellen von räumlichen Strukturen und gegenständlichen Figurationen. Er schlägt dabei einen Bogen von der Embodiment Theory4 zu gestischen Darstellungsmöglichkeiten und führt vor Augen, inwiefern Gesten der spontanen Veräußerung von verinnerlichten Wahrnehmungs- und Bildstrukturen und gefühlten Bedeutungskomponenten (i.e. "feit qualities of meaning")5 dienen können. Im Vergleich zu in gedruckten Bildern und steinernen Skulpturen erstarrten Vorstellungen von abstrakten und emotionalen Konzepten, bietet der menschliche Körper stets von Neuern Projektionsflächen und Projektionsinstrumente, besonders Torso, Arme und Hände, für ad hoc Figurationen von Ideen, Denkrichtungen und Denkräumen. Mit unseren Händen können wir spontan Erinnerungen und Vorstellungen von Personen, Dingen und Szenen in die Luft zeichnen, umreißen oder modellieren.6 Diese flüchtigen gestischen Gestalten können auf etwas basieren, das wir bereits gesehen haben, auf konzeptuelle Kategorien und Strukturen, auf dem Imaginären, dem kollektiven Gedächtnis oder auf Dingen, die wir uns zum ersten Mal vorstellen, von denen wir nur eine leise Ahnung haben. Gesten können somit als Instrumente des spontanen Ausdrucks, des Erinnerns und auch des Entwerfens verstanden und untersucht werden. 7 Zentral dabei ist ihre räumlich-dynamische Medialität: Gesten bilden räumliche Relationen und Strukturen nicht einfach ab, sondern stellen sie aktiv im sogenannten Gestenraum, welcher sich selbst an

2

Vgl. Ernst (1993); Yatcs (1966).

3

Vgl. A. Assmann (1999); J. Assmann (1997); Assmann/Warth (1993); Havcrkamp/ Lachmann (1991).

4

Vgl. Gibbs (1994, 2006); Lakoffi'Johnson (1999); Krois ct al. (2009).

5

Johnson (2005), S. 31.

6

Vgl.Müller(1 998).

7

Vgl. Kendon (2004); McNeill (1992, 2005); Mittelberg (20 11), Müller (1 998, 2008); Streeck (2009). Vgl. Fehrmann/Jäger (2004) hinsichtlich Räumlichkeit und Erinnerung in den deutschen Gebärdensprache.

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IRENE MITTELBERG I ARS MEMORATIVA

die Körperhaltung und -ausrichtung der Sprechenden flexibel anpasst, erst her. Handkonfigurationen und -bewegungen können Raum eingrenzen, welcher im kommunikativen Akt semantisch aufgeladen wird. So könnte sich zum Beispiel ein durch zwei Hände, die so tun, als ob sie einen Gegenstand halten (Abb. 8b), evoziertes Raumstück auf einen konkreten Gegenstand oder auf etwas Abstraktes wie zum Beispiel einen bestimmten Zeitraum beziehen.8 Erst im Verbund mit der synchron produzierten Lautsprache ergibt sich ftir den Betrachter eine lokal erzeugte Korrelation von Form und Bedeutung. Spontane Gesten, so die hier zugrunde gelegte Annahme, leisten viel von dem, was eingangs als Aufgaben der visuellen Gedächtniskunst genannt wurde, nur auf eine andere, durch ihre spezifische Medialität bedingte, Art und Weise. 9 Wenn man Gesten als eine Technik des Erinnems und Erdenkens durch den Körper versteht,10 so ist von Bedeutung, dass sich das gestisch Dargestellte durch einen relativ hohen Grad an Schematizität und metonymischer Teilhaftigkeit auszeichnet. 11 Gleichzeitig ist der Gestengebrauch Teil einer subjektiven Performanz, die in der Identität und im Standpunkt des Sprechers indexikalisch verankert ist, oder aber in der Perspektive einer eingenommenen Rolle oder nachgeahmten Figur. 12 Die Origo 13 einer Sprachhandlung, von der aus sich der Kommunikationsraum aufspannt, ist somit nicht nur Angelpunkt im Hier und Jetzt des Sprechereignisses, sondern verschiebt sich, je nach eingenommener Perspektive auf die Dinge. Dabei können Zeigegesten sowie ikonische oder metaphorische Gesten sowohl Vergangenes und Präsentes als auch Zukünftiges suggerieren. Diese Beobachtungen legen nahe, dass Gestenbetrachtungen einen Beitrag leisten können zu dem, was ftir Assmann hinsichtlich der Gedächtniskunst nicht hinreichend bedacht wird: "Es geht dabei insbesondere um den von der Mnemotechnnik ausgesparten Zusammenhang von Erinnerung und Identität, d.h. um kulturelle Akte des Erinnerns, An-

8

Vgl. Calbris (1 990).

9

Vgl. Jäger (2004).

10 Vgl. Meisenheimer (2004) zum Denken des Leibes. II Vgl. Mittelberg (2010b). 12 Vgl. McNeill (1992); vgl. Wulf/Fischer-Lichte (2010) hinsichtlich performativer Aspekte und Kontexte. 13 Vgl. Bühler (1934); Fricke (2007).

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WERKZEUG DENKZEUG I DENKEN UND WERKEN

denkens, Verewigens, Rückbezugs, Vorwärtsentwurfs und nicht zuletzt um das in all diesen Akten immer eingeschlossene Vergessen." 14

Von den von Assmann genannten kulturellen Akten können Gesten nicht alles auf sich nehmen, aber im Ansatz sicherlich dem Erinnern, Andenken, dem Rückbezug und auch dem Vorwärtsentwurf zuträglich sein. 15 Dieser kurze Beitrag kann diese vielschichtigen Aspekte nicht ausschöpfend behandeln, sondern versteht sich vielmehr als eine Skizze einiger Zusammenhänge von Vorstellung, Körper, Raum und Medium. Dabei ist das Verhältnis von statischen und dynamischen Bildern einerseits und von inneren, verinnerlichten und veräußerten Bildern andererseits von besonderem Interesse. Zunächst soll anhand von Beispielen aus einer eigens erstellten Ikonographie der Grammatik 16 illustriert werden, inwiefern die ars memorativa in der Form von Türmen und Personifikationen sowohl architektonische als auch figurale Ausdruckforn1en für ihre Ziele funktionalisierte. Gesten, so wird dann erörtert, entstehen ebenfalls als Figurationen im Raum und ermöglichen Rückschlüsse auf die sie motivierenden kognitiven und semiotischen Prinzipien wie zum Beispiel verinnerlichte Bildschemata, Bewegungsmuster und Metaphern, die auch in statischen Bildern ausgemacht werden können. Anhand von einigen ausgewählten Gesten eines Architekten und eines Linguisten soll dargestellt werden, inwiefern in multimodalen Sprachhandlungen das Erleben von architektonischem Raum gestisch nachempfunden wird, und inwiefern abstrakte Kategorien und Strukturen auf der Basis von räumlichen Metaphern gestisch versinnbildlicht werden und dabei dynamisch-räumliche und haptische Dimensionen annehmenY

14 Assmann ( 1999), S. 28. 15 Vgl. Meisenhcimer (2004) hinsichtlich der Rolle des Körpers im architektonischen Raumentwurf Unter "Vorwärtsentwürfe" (Assmann ibid.) können nicht nur künstlerische Entwürfe fallen, sondern auch kreative Lösungen von kommunikativen Herausforderungen, etwa beim gestischen Beschreiben von theoretischen Konstrukten (vgl. Cienki!Mitte1berg, im Druck). 16 Vgl. Mittelberg (2002). 17 Siehe Grunwald (in vorliegendem Band) zur Bedeutung des Tastsinns.

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IRENE MITTELBERG I ARS MEMORATIVA

2. ARS MEMORATIVA: DIE GRAMMATIK BEDIENT SICH DER GEDÄCHTNISKUNST Um sich des Denk- und Werkzeugcharakters der Gedächtniskunst fLir unsere Zwecke ein Bild zu machen, sollen in diesem Abschnitt zuerst einige mnemotechnische Prämissen und Beispiele vor Augen geführt werden. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die Gedächtniskunst den sich ständig ändernden Anwendungskontexten, Wissensbeständen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt medialen Bedingungen schrittweise angepasst. Diese "Umrüstung der Mnemotechnik,"1x um einen Begriff von Berns zu zitieren, drückt sich auf unterschiedliche Weise aus: ist rnernoria in der Antike der Teil der Rhetorik (neben inventio, dispositio, elocutio und actio), der für das Auswendiglernen einer ausgearbeiteten Rede steht und sich an inneren, individuellen Bildern orientiert, so greift die Gedächtniskunst seit dem Mittelalter auf äußere, d.h. sichtbare Bilder zurück, welche in erster Linie der anschaulichen Vergegenwärtigung biblischer Szenen, moralischer Konzepte und der freien Künste dienten. Mit der Etablierung der Druckkunst verstärkt sich diese materielle Tendenz, eine reproduktive und beschleunigte Veräußerung greift Platz, was zur Folge hatte, dass die Gedächtnisbilder bei ihrer Wanderung von innen nach außen durch Prozesse der Medialisierung eine gewisse Allgemeingültigkeit annahmen. 19 Mit Hilfe der Mnemotechnik wird das künstliche Gedächtnis trainiert, welches als Stütze des natürlichen funktioniert (rnernoria naturalis und artificiosa). Dabei wird zusätzlich zwischen dem Wortgedächtnis (rnernoria verborurn) und dem Sachgedächtnis (rnernoria rerurn) unterschieden. 20 Als die beiden wesentlichen Bestandteile des künstlichen Gedächtnisses sind Merkorte (loci) und Merkbilder (irnagines agentes) zu nennen: "Konstitutiv für die Gedächtniskunst ist, dass der Mensch von den Verba oder Res Bilder imaginiert, die an bestirrunten Loci, realen oder erdachten, fixiert werden, die ihren Platz in einem räumlich zu denkenden Ordnungssystem haben, das z.B durch ein Gebäude mit verschiedenen Kammern vorgegeben ist."21

18 Bems (1993), S. 34. 19 Vgl. Bems ( 1993), S. 69; Settekom (1993). 20 Vgl. Emst (l993), S. 75. 21 Vgl. Emst( 1993), S. 75.

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WERKZEUG DENKZEUG I DENKEN UND WERKEN

Dem Gedächtnis wird also ein vorstrukturierter Raum gegeben, in dessen einzelnen Fächern die bildliehen Stellvertreter der Dinge abgelegt werden können.22Da jeder Mensch Aufteilungen und Dimensionen von Häusern und Türmen durch die unmittelbare und wiederholte Körpererfahrung verinnerlicht hat, kann davon ausgegangen werden, dass es ihm gelingt, sich auch in künstlich erschaffenen Räumen zu orientieren. Um Abstrakta mnemotechnisch zu ordnen und eine "sequenzbildende Anordnung im Raum"23 zu gewährleisten, müssen sie zunächst in sichtbares Material transformiert werden und so eine gewisse Körperlichkeit erlangen. Volkmann lässt zu dieser Problematik Cicero24 zu Wort kommen: "Simonides, oder wer sonst der Erfinder gewesen ist, machte die kluge Bemerkung, dass in unserem Gemüte das am festesten hafte, was ihm von den Sinnen übergeben und eingedrückt wäre, dass aber unter allen der Gesichtssinn am stärksten auf die Seele wirke. Hieraus schloss er, das Gemüt müsste Vorstellungen, die es von dem Gehörsinn oder dem Nachdenken erhalten hätte, dann am leichtesten aufbewahren, wenn sie ihm gleichsam mit einer Empfehlung des Gesichtssinnes übergeben würden. Dinge, die dem Gesichtssinn entzogen wären, würden durch gewisse Abbildungen und Zeichnungen unverlierbar gemacht, und das, was wir durch Denken nicht behalten würden, gleichsam durch Anschauung an die Seele geheftet. Diese Formen und Körper aber müssen, so wie alle Gegenstände des Gesichts, einen Sitz haben, weil kein Körper ohne Raum gedacht werden kann." 25

Überträgt man diese Empfehlungen auf die hier beispielhaft behandelte Grammatik, so wird deutlich, dass auch für diese Art von Inhalten Bilder geprägt werden mussten, damit sie greifbar und "ablegbar" und so erinnert werden konnten. Da der Bedarf an ikonischen und metaphorischen Darstellungen angesichts abstrakter Stoffe offenkundig zutage tritt, wird im folgenden der Blick auf eine kleine Auswahl von mnemotechnischen Repräsentationen der

22 Vgl. Liddeli ( 1990; 2003) hinsichtlich der Strukturierung des Raum m der Gebärdensprachkommunikation. 23 Lachmann 1993, XXI. 24 Cicero, De Oratore, Buch JJ, Kap. 86ff., zitiert nach Volkmann ( 1929), S. 11 6. 25 Volkmann (1929), S. 11 6; Hervorhebungen nachträglich gesetzt.

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Grammatik gelenkt und auf die "moving power" 26 solcher Bildmetaphern gesetzt. 27 Gesten, so sei hier vorweggeschickt, heften sich nicht nur durch Anschauung, sondern auch durch ein haptisches und sensornotorisches Nachempfinden an Seele und Körper und sind so ein konstitutiver Teil von multimodalen Erinnerungs- und Denkprozessen. In Anlehnung an Ciceros Herausstellung des sich gegenseitig bedingenden Verhältnisses von Körper und Raum, wenden wir uns nun zunächst Körpern in Form von Personifikationen (imagines agentes: verba und res) und dann Orten (loci) bzw. Raumstrukturen zu. 2.1 Personifikationen als Denkfiguren

Unter den Möglichkeiten, griechischen Göttern, römischen Provinzen, Tugenden und abstrakten Begriffen eine erinner- und differenzierbare Gestalt zu geben, nehmen Personifikationen eine wichtige Stellung ein. Seit der Antike treten sie in den Medien (z.B. Literatur, Lehrbücher, und lkonologien) und im öffentlichen Raum (z.B. Herrschaftsarchitektur und Triumphzüge) auf. Sie verkörpern, im wörtlichen Sinn, kollektive Werte und Vorstellungen in einer Weise, die es aufgrund ihrer menschlichen Gestalt dem Betrachter erleichtert, die dargestellten Konzepte und Appelle zu verinnerlichen und das eigene Denken, Urteilen und Handeln an ihnen auszurichten. Während die, zumeist weiblichen, Figuren sich recht ähnlich sehen, sind es die ihnen zugeordneten Attribute, wie ihr Alter, Gewand und bestimmte Gegenstände, Pflanzen oder Tiere, die etwas über ihre Eigenschaften und Rollen aussagen und Künstlern wie Betrachtern Orientierungshilfen geben. 2H So können Personifikationen zu den kulturellen Konventionen gezählt werden, zu denen Gombrich bemerkt: "Cultural conventions, in their turn, react back on their users, they are handed down by tradition as the potential instruments of the minds - which sometimes determine not only what can be said but also what can be thought or feit. " 29

26 Yates (1 966/2001), S. 78. 27 Siehe auch Kemp (1993), S. 275 ff. 28 Vgl. van Straten (2004), S. 37 ff. 29 Gombrich ( 197 1), S. 257.

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WERKZEUG DENKZEUG I DENKEN UND WERKEN

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Siiraq;ponmrelim fabi:rin ti~snlari nominanuo. confidcra ruidamfabto nudoquippiam in caplr< fi Produkte) 2. Prozesse: Im Kontext von Innovation bedeutet dies, dass es um Artefakte in Form von konkreten neuen Dienstleistungen, Geschäftsmodellen oder Organisationale Prozessen, Veränderungen, Strategien und Strukturen geht. 3. Kognitive und symbolische Artefakte: Diese Dimension fuhrt die symbolische oder die repräsentationale Qualität in Artefakte ein. Vereinfacht gesprochen, agieren diese Artefakte als Symbole in einem sehr allgemeinen Sinn: Sie substituieren das reale Phänomen über einen Verweis, der sozial verhandelt und dynamisch ist. 12 Ergänzt man Symbole um eine dynamische Dimension und gibt ihnen damit einen gewissen Grad an Autonomie, so wird das Konzept eines (symbolischen) Artefakts zu einer Maschine etweitert, zu sog. "Symbol-Manipulations-Maschinen" (vgl. Simulation kognitiver Systeme in den Kognitionswisssenschaften13 ) . Aus der Perspektive der Innovation betrachtet, geht es in dieser Dimension um das Gestalten semantischer Systeme, die Schaffung neuer Bedeutung(en) und Bedeutungssysteme, Identitäten, Brands oder ganzen hypertext-ähnlichen Repräsentationssystemen. 4. Interfaces: Artefakte werden primär über ihre Interaktion mit ihnen wahrgenommen. Daher müssen wir eine Perspektive einnehmen weg von materiellen Artefakten und Prozessen. Diese Dimension betrifft die Frage des Designs und der Innovation hinsichtlich der Art und Weise der Interaktion und des "Interfacings" mit der Welt.

I 0 Krippendorf (2006, 20 II ). II Krippendorf (2006); Cole (2005). 12 Z.B. Cole (2005); siehe z.B. konstruktivistische Ansätze bei Glasersfeld ( 1995). 13 Clark (2001); Friedenberg (2006).

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MARKUS F. PESCHL UND THOMAS FUNDNEIDER I RAUM ALS DENKZEUG

5. Diskurse und kulturelle Artefakte (---+ z.B. soziale Innovation): dehnt man den Begriff der Artefakte noch einen Schritt aus, so endet man bei der Gestaltung und Innovation ganzer Systeme von Diskursen oder gar kultureller und sozialer Systeme. Paradigmenwechsel in der Wissenschaft14, in der Kultur oder in der Kunst sind Beispiele flir diese Art von Innovationen. Krippendorff fasst die Ziele der Schaffung von Innovation im Bereich von Diskursen wie folgt zusammen: "The design of discourses ... focuses on their generativity (their capacity to bring forth novel practices), their rearticulability (their ability to provide understanding), and on the solidarity they create within a community." 15 Es ist evident, dass diese Dimensionen nicht klar voneinander zu trennen sind und einander nicht gegenseitig ausschließen. Vielmehr ist diese Kategorisierung als ein Handwerkszeug zur besseren Unterscheidung und Verständnis von Phänomenen zu betrachten. Diese Dimensionen sind überschneidend, bauen aufeinander auf und wirken aufeinander zurück. "Meaning is the only reality that matters [... ] people never respond to what things are but act according to what they mean to them." 16 Ausgehend von physischen Innovationen (Produkten) sind wir bis hin zur Innovation ganzer Systeme und Kulturen des Weges gekommen. Es stellt sich nun die Frage, wie diese Innovationen zustande kommen: Was sind Mittel und Werkzeuge zur Unterstützung der Prozesse der Wissensgenerierung, die- unter Berücksichtigung und Integration all dieser Aspekte- zu solchen (game-changing-) Innovationen fuhren? Dieser Aufsatz beruht auf der Annahme, dass solche Arten der umfassenden und profunden Innovation nur durch die Integration der oben genannten Dimensionen seitens der dahinter stehenden Wissens- und sozialen Prozesse zu einem Ganzen möglich ist. Er versucht, all diese Dimensionen in ein einheitliches Innovations- und Wissensgenerierungs-Ökosystem zu integrieren.

14 Kuhn (1962). 15 Krippendortf (20 li ), S. 412. 16 Ebd., S. 413.

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WERKZEUG DENKZEUG I FALLBEISPIELE-EIN AUSBLICK

3. ENABLING- ODER VON DER NOTWENDIGKEIT, DIE KONTROLLE AUFGEBEN ZU MÜSSEN Innovation, durch die mechanistische Anwendung von Regeln oder Rezepten zu erzeugen, entpuppt sich als ein Widerspruch in sich selbst. Nähere Betrachtung aus der Perspektive der Logik zeigt, dass Wissen, das aus einem Prozess der Anwendung von Regeln entstanden ist, nicht wirklich neu in einem tieferen Sinn sein kann. Das Anwenden von Regeln in einem formalen System (das mehr oder weniger äquivalent zu einem Algorithmus ist) macht im Grunde nur explizit, was implizit bereits in diesen Regeln (an Struktur) enthalten ist. Folglich ist das resultierende Wissen nicht wirklich neu, da die Struktur des Wissensraumes bereits implizit durch die Regeln gegeben ist. Gibt es also überhaupt keine Regeln, um Innovationsprozesse zu strukturieren? Der Unterschied liegt in der Einstellung gegenüber der Art und Weise, wie und welche Regeln angewandt werden. Während in der klassischen Managementperspektive die Haltung des Steuems und Kontrollierens im Vordergrund steht, wird als Alternative die Haltung des Ermöglichens/Enabling vorgeschlagen. Was bedeutet Enabling im Zusammenhang mit der Generierung neuen Wissens und Innovation? Die Antwort umfasst zwei entscheidende Aspekte: (l) Auf der einen Seite wird das Regime der Kontrolle, des Determinismus und des mechanistischen Denkens aufgegeben. (11) Auf der anderen Seite impliziert das Enabling die Vorgabe einer Reihe von Rahmenbedingungen oder eines facilitating framework, das Prozesse der Hervorbringung neuen Wissens unterstützt. Welche Annahmen stehen hinter diesem Ansatz der Wissensgeneriemng und der Innovation? In diesem Ansatz steht folgende Prämisse an erster Stelle: In der Realität (resp. im Wissen) existiert etwas, was latent vorhanden ist und das hervorbrechen will; das allerdings sehr fragil und in den meisten Fällen zu schwach ist, um dies aus eigener Kraft tun zu können. Enabling ist also ein Prozess, der das Hervorbrechen (neuer) latenter Qualitäten, Eigenschaften und Dynamiken unterstützt, ein Prozess vergleichbar einer Hebamme beim "Gebären" des Neuen. Dies ist eng mit C.O. Scharmers Konzept des selftranscending-knowledge verwandt. 17 Vergleicht man diesen Prozess mit traditionellen Ansätzen der Innovation und der Wissensgenerierung, so ist es offenkundig, dass dies weit über die klassischen "thinking out-of-the-box"-

17 Z.B. Scharmer (200 I, 2007); Senge (2004); Kaiser (20 I 0).

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MARKUS F. PESCHL UND THOMAS FUNDNEIDER I RAUM ALS DENKZEUG

Werkzeuge oder Kreativ-Tools 18 geht. Peschi w1d FW1dneider haben einen systematischen Innovationsprozess um diesen Ansatz des Enablings entwickelt, der als Ernergente Innovation bezeichnet wird. 19 3.1 Enabling als Haltung und Basis für Innovation

Was sind Implikationen dieses Ansatzes der Ermöglichung von Innovation und Wissensgenerierung? Zunächst einmal ist Enabling nicht nur ein abstraktes und kognitives Konzept, sondern vor allem eine Frage der Einstellung, ein Habitus resp. ein Paradigma des Denkens und Handelns. Bei näherer Betrachtung wird klar, dass das Paradigma des Enablings ein eher "schwaches" Konzept in folgendem Sinne ist: Über weite Strecken muss man die Kontrolle aufgeben und den Dingen ihren Lauf lassen. Wie bereits im Ansatz der extended cognition20 gesehen, übernimmt die Umwelt einen Teil der kognitiven Arbeit. Eine Gegenüberstellung, wie sich die Haltungen in den beiden Ansätzen (Enabling vs. Kontrolle) zu Innovation verändern, findet sich in Tabelle 1. Enabling bedeutet jedoch nicht, dass man nur passiv darauf wartet, dass eine Innovation hervorbricht. Das Gegenteil ist der Fall: Die eigentliche Herausforderung besteht darin, ermöglichende Strukturen in Form von RahmenbedingWlgen zu schaffen, die diese hoch fragi len Prozesse der Wissensgenerierung in ihrer Feinheit nicht durch Regelwerke oder Prozessvorgaben zerstören, sonder sie in ihrer Eigendynamik nicht nur respektieren, sondern subtil unterstützen.

18 Vgl. Kelley (2004); DTT (2005). 19 Peschl (2008). 20 Clark (2008).

321

WERKZEUG DENKZEUG I FALLBEISPIELE-EIN AUSBLICK

Haltung des Enabling von

Haltung der Kontrolle, des Mana-

Innovation

gens und Machens von Innovation

Enabling, facilitation

Planen, regelorientiert, Primat des Tuns (..facere")

Zur-Verfügung-Stellen einer unterstüt-

Mechanistisches & algorithmisches

zenden Umgebung & von enmögli-

Folgen von Routinen und Regeln ,

chenden Rahmenbedingungen

Rezeptwissen

Primat der Offenheit, des (Zu-)Hörens und des (passiven) Beobachtens

Primat des Projizierens der eigenen Ideen und Vorstellungen auf die zu innovierende Realität

..Letting things go", mit der Dynamik und dem Flow der Realität mitgehen,

Versuchen , Dinge unter Kontrolle zu

sich Einlassen auf die Realität , .. Pri-

halten, Primat der Sicherheit

mat der Emergenz" Geduld, auf den richtigen Moment warten können (kairos I Ka1p6c,;)

Problem setting & Setzen von Paradigmata

Fokus auf ..Dinge durchdrücken wollen", wenig Rücksicht auf Widerstand der Realität nehmen Problemlösen .,puzzle solving" (T.Kuhn 1962), unreflektiertes Annehmen von Paradigmata

-

Hinterfragen von Annahmen und

Im (implizit) gewählten und vorge-

Methoden, Reflexion, dialogisch,

gebenen Wissens- und Suchraum

open ended

bleiben, kaum Reflexion

Design (-thinking)/.,künstlerisch"

Analytisch, wissenschaftlich

-

Einnehmen einer breiten Perspektive,

Fokus auf Details, bestehende Lö-

Starting with blank sheet

sungen sind Ausgangspunkt

Tab. I: Gegenüberstellung der Haltungen in. den. Ansätzen. des Enabling vs. Kontrolle/Managen von Innovation.

322

MARKUS F. PESCHL UND THOMAS FUNDNEIDER I RAUM ALS DENKZEUG

4. WERKZEUGE: ERMÖGLICHENDE ARTEFAKTE ERMÖGLICHEN (INNOVATIONS-)ARTEFAKTE 4.1 Artefakte als Denk(werk)zeuge: sozio-epistemologische Technologie ermöglicht knowledge creation

Was hier als ermöglichende Struktur oder Rahmenbedingung bezeichnet wurde, ist natürlich eine Form eines Artefakts: eine Unterstützung für die Generierung neuen Wissens, das wiedemm zu Innovations-Artefakten führt. Diese ermöglichenden Artefakte spielen im Grunde die Rolle von Werkzeugen oder einer Technologie. Daher sind nicht nur Innovationen Artefakte, sondern der Innovationsprozess selbst muss als ein Artefakt verstanden werden. Wonach wir suchen, sind Artefakte, die als Enabler ftir Prozesse der Wissensgenerierung und Innovation dienen, also Artefakte als "Denk- und Wissensgenerierungswerkzeuge". 4.2 Innovation als "sozio-epistemologische Technologie"

Wie weiter oben gezeigt, muss bei der Konzeption und Anwendung von Artefakten immer eine Vielzahl von Dimensionen berücksichtigt werden. Dies ist im Kontext von Prozessen der Wissensgenerierung oder Innovation besonders relevant, da der Innovationsprozess selbst als ein Artefakt zu sehen ist. Die beschriebene Typologie von Artefakten impliziert, dass Innovation vor allem als Hervorbringung neuer Bedeutung(-ssysteme) verstanden werden muss, die immer sowohl erkenntnistheoretische als auch soziale Prozesse und Wechselwirkungen involviert. Wir sind also auf der Suche nach einer "Technologie", die a11 diese Dimensionen berücksichtigt, um umfassende Innovations-Artefakte hervorzubringen. Üblicherweise wird der Begriff Technologie mit Informations- und K.ommunikationstechnologien (ICT) gleichgesetzt. Im Kontext von Innovation- und Wissenskreationsprozessen verstehen wir den Begriff Technologie viel umfassender, nämlich als "enabling artifact". Wie Arthur es ausdrückt, ist Technologie ein gut definiertes und strukturiertes Verfahren (oder eine Praxis), das wiederum andere "Technologien" involviert.21 Philosophisch gesprochen, spielt Technologie die Rolle eines Werkzeugs oder eines Instru-

21 Arthur (2007), S. 276.

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WERKZEUG DENKZEUG I FALLBEISPIELE-EIN AUSBLICK

mentes, um einen gewünschten Zustand (oder ein Ziel) zu ermöglichen bzw. zu erreichen22 in anderen Worten, ein Instrument, um der Materie eine Form (causa formalis) zu verleihen. Das Problem im Zusammenhang mit der Hervorbringung neuen Wissens und Innovation besteht darin, dass das Ziel von vomherein nicht klar bestimmt oder bestimmbar ist, da das inhärent mit dem Ziel verknüpfte Neue noch unbekannt ist. Deshalb richten wir unseren Fokus auf das Konzept des enabling, das im Gegensatz zu einem mechanistischen AusfUhren von Regeln, um ein definiertes Ziel zu erreichen, steht.

5. ENABLING SPACES Enabling Spaces haben die Funktion eines Containers, der Innovationsprozesse und-aktivitätenaufnimmt und aktiv unterstützt. Ein Enabling Space ist als multi-dimensionaler Raum konzipiert, in dem architektonische/physische, soziale, kognitive, technische, erkenntnistheoretische, kulturelle, intellektuelle, emotionale und andere Faktoren berücksichtigt und integriert werden, mit dem Ziel, Innovationen und die Hervorbringung neuen Wissens zu unterstützen. 23 5.1 Dimensionen des Enabling Space

Architektonischer und physischer Raum: Diese Dimension bezieht sich auf den physischen resp. den euklidischen Raum, in dem die Innovations- und Wissensprozesse stattfinden. Es ist ein gestalteter, gebauter Raum, der die Benutzer/innen mit konkreter materieller Struktur umgibt. Die Herausforderung besteht darin, diesen Raum so zu gestalten, dass Wissensfluss und soziale Interaktionen im Hinblick auf die spezifischen (Innovations-) Aufgaben bestmöglich unterstützt werden.24

22 Siehe auch Dipcrt (199 5). 23 lm Sinne der oben dargestellten Dimensionen der Artefakte. 24 Allen & Henn (2007), Krogh et al. (2007), Nonaka et al. (1998) (Konzept des «ba»), und viele andere fUhren gute Beispiele, wie diese diffizile Architektur/Design-Aufgabe gelöst werden kann.

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MARKUS F. PESCHL UND THOMAS FUNDNEIDER I RAUM ALS DENKZEUG

Soziale1; kultureller und organisationaler Raum: Wissensprozesse sind immer in soziale Prozesse eingebettet; soziale Interaktion ist eine conditio sine qua non für die Generierung von (radikal) neuem Wissen in einem kollaborativen Umfeld. Es bedarf eines "sozialen Containers", einer (Sozial-)Atmosphäre, in dem diese Prozesse ihre eigene Dynamik und Stärke entfalten können. Neben anderen Aspekten sind Vertrauen und Offenheit zentrale "soziale Enabler", die vor der eigentlichen Innovationsarbeit etabliert und "konfiguriert" werden müssen. Kognitiver Raum: Jede Innovation hat ihren Ursprung im individuellen Gehirn und in kognitiven Prozessen. Kognition und ihre Interaktion mit der Umwelt25 sind die primäre Quelle neuen Wissens. Daher muss der kognitive Raum berücksichtigt werden, wenn über Enabling Spaces nachgedacht wird. Emotionaler Raum: Kognition ist immer mit emotionalen Zuständen gekoppelt. Enabling Spaces müssen diese emotionale Dimension berücksichtigen und Voraussetzungen bereitstellen, um Wissensgenerierungsprozesse durch emotionale Zustände, wie Sicherheit, Schutz, Offenheit, etc. zu unterstützen. Epistemologischer Raum: Kognitive Prozesse erzeugen nicht nur Verhalten, sondern auch neues Wissen: sowohl internes Wissen (z.B. in Form von Verstehen und Bedeutung) als auch externes/externalisiertes Wissen (z.B. in Form von Artefakten). Wenn wir es mit Innovationsprozessen zu tun haben, impliziert dies immer auch ein breites Spektrum an unterschiedlichen Typen, Stilen und Kategorien von Wissensprozessen: epistemologisch gibt es große Unterschiede zwischen Wissen im Prozess der Ideenfindung, der präzisen Beobachtung, der intuitiven Argumentation, eines tiefen Verständnisses, im Prozess des Prototyping, der Reflexion, der Umsetzung, der Ausflihrung einer Routine, etc. Um einen epistemologischen Raum bereitzustellen, müssen in einem ersten Schritt die Kernwissensprozesse identifiziert werden, die für die entsprechende Innovation relevant erscheinen. Es bedarf eines tiefen Verständnisses der Essenz dieser Prozesse. Schließlich ist es notwendig, ein unterstützendes und förderndes Umfeld (im Sinne von Randbedingungen, Einschränkungen, aktiven epistemischen Interventionen, Attraktoren, etc.) zu gestalten, in dem sich diese Wissensdynamiken entfalten und wachsen können.

25 Vgl. Clark's "extended cognition", Clark (2008).

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WERKZEUG DENKZEUG I FALLBEISPIELE-EIN AUSBLICK

Technologischer und virtueller Raum: Innovationsprozesse sind immer in ein technologisches Umfeld eingebettet. Dies umfasst eine breite Palette von technologischen Mitteln, von "low-tech" Werkzeugen wie Whiteboards, Flipcharts, Licht, etc., bis hin zu "high-tech" Werkzeugen wie Computer, Internet, Social Media, Visualisierungstools zur Darstellung komplexer Wissensstrukturen, Software, etc. Teil des technologischen Raums sind auch virtuelle Arbeitsumgebungen, die kollaborative Innovationsaktivitäten mittels ICT unterstützen. 5.2 Integration der ermöglichenden Dimensionen

Die zuvor angeführten Dimensionen können nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Im Gegenteil, das Ziel der Enabling Spaces ist es ja, diese Dimensionen in einer hoch-interdisziplinären Art und Weise zu einem Ganzen, einem Design oder einer Komposition zu integrieren ("Gesamtkunstwerk"). Dies ist vergleichbar mit Krippendorfs "ecology of artifacts"26 : Sich ergänzende und ermöglichende Artefakte wirken zusammen, indem sie ihre Anwender/innen bei kooperativen Wissensprozessen unterstützen, um beispielsweise gemeinsame Bedeutungsräume oder neue Einsichten zu entwickeln. Der Erfolg solch ermöglichender Artefakte hängt stark davon ab, wie kooperativ, wechselseitig unterstützend und effizient die Integration dieser Artefakte gestaltet ist. Peschi und Fundneider (20 11) haben einen Prozess zum Design von Enabling Spaces entwickelt und in einer Vielzahl an praktischen Projekten und Kontexten validiert und verfeinert. Dieser generische Designprozess orientiert sich nicht in erster Linie an architektonischen Parametern, sondern geht von den Wissens- und Innovationsprozessen aus, die die jeweilige Organisation ausmachen. Folgende Phasen sind in diesem Designprozess involviert: • Research & Observing: In einem ersten Schritt werden tiefe Beobachtungsprozesse und ethnographische Studien der betroffenen Organisation, generative Tiefeninterviews mit den Stakeholders und eine Exploration des systemischen Umfeldes durchgeführt. • Understanding and sense making: Die in diesem Beobachtungsprozess entstandene Datenfülle wird in einem induktiven Prozess zu einem Kern-

26 Krippendorf (2007), S. 5.

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• •

prozessmodell verdichtet, das die Organisation in ihrem Kern und ihren Innovationspotentialen darstellt. Design Patterns: Dieses hoch abstrakte und verdichtete Modell wird über sog. Design-Patterns27 in eine Sprache übersetzt, die diese Kernprozesse in Designqualitäten übersetzt. Interdisciplinary Design: In interdisziplinären Workshops mit Architekten/innen, Designer/innen, Technologenlinnen etc. werden diese Design Patterns in konkrete Entwürfe umgesetzt. Joint Vision & Co-Creation: Diese Entwürfe sind Grundlage flir einen Prozess der Visionsbildung und der Co-Creation mit dern/r Auftraggeber/in. Realizing: Die Entwürfe gehen in die Realisierung.

Als Beispiel flir solch einen Prozess soll ein konkretes Projekt dienen, in dem dieser Ansatz der Enabling Spaces im Kontext eines Neubaus einer Universität zum Einsatz kam.

6. CASE STUDY: DIE ZUKUNFT DER UNIVERSITÄTNEU ERFINDEN. UNIVERSITÄTEN ALS ENABLING SPACES 6.1 Universität neu denken?

Klassischer Weise wird Universität konzeptionell als Campus gedacht (die Universität ist zumeist physisch an einen Ort gebunden), oder als fluide Abfolge von Orten und Prozessen, die in permanenter Wechselbeziehung zu einem Curriculum steht: Streaming-lectures zu beliebigen Orten des Konsums, gemeinsame Konstruktion von Bedeutung in barcamp-ähnlichen28 Formaten an vielen verteilten Orten, Rückzugsmöglichkeiten und Interaktionen mit Kollegen/innen an Cafe-ähnlichen Orten, die von einer Universität betrieben werden, etc. Die Zeppelin Universität in Friedrichshafen, als private "Pionieruniversität" 2003 geg1ündet, hat einen anderen Weg gewählt. Mit eigenen Worten beschreibt sie sich als:

27 Vgl. Alexander ( 1977). 28 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki!Barcamp (alle Links down Ioad Datum Dez. 12, 20 11 ).

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WERKZEUG DENKZEUG I FALLBEISPIELE-EIN AUSBLICK

" [ ... ] eine Hochschule zwischen Wirtschaft, Kultur und Politik. Damit reagiert die Zeppelin Universität in der Lehre auf den rasant steigenden Bedarf an multi-disziplinär ausgebildeten Entscheidern tmd Kreativen in Institutionen von Wirtschaft, Kultur, Medien sowie Politik und in der Forschung auf die Innovationskraft der Zwischenräume und Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen, um von hier aus gesellschaftlich relevanten Fragen nachzugehen." 29

6.2 Design eines neuen Campus an der Zeppelin Universität

Dieses inhaltliche Programm klingt anspruchsvoll. Wird es auch gelebt und ist es erfahrbar? Letztendlich geht es um die Frage von konkreten Artefakten und Prozessen: 30 wie sehen unterschiedliche Formate der Lehre aus, was heißt "multi-disziplinär" im Alltag, wie kann das Potential der Grenzenüberschreitung wissenschaftlicher Disziplinen entfaltet werden, welche Rolle spielt Kunst wirklich im Alltag der Lehre und Forschung, etc.? Anlass flir die Autoren sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen war ein 2010 geladener Architekturwettbewerb3 1, der den Neubau eines zweiten Campus-Standortes zum Ziel hatte. Gemeinsam mit dem Architekturbüro Camenzind Evolution (Zürich) haben die Autoren (gemeinsam mit theLivingCore) einen Entwurf entwickelt, dessen Vorgehen auf dem Konzept des user- and knowledge-centered designs für Enabling Spaces 32 beruht. Wie bereits angedeutet handelt es sich um ein Konzept und um einen generischen Designprozess, der - basierend auf der Identifikation der Kern-, Wissens- und Innovationsprozesse einer Organisation - Design Patterns für die Gestaltung von Räumen erzeugt, die Wissens- und Innovationsarbeit bestmöglich unterstützen und ermöglichen. Das augewandte Raumkonzept ist jedoch nicht nur auf den architektonischen Aspekt beschränkt, sondern integriert ebenso die soziale, epistemologische, emotionale, kognitive, technologische und kulturelle Dimension. Ausgangspunkt dieser speziellen Herangehensweise waren im Falle der Zeppelin Universität umfangreiche ethnographische Studien, qualitativ-generative in-depth Interviews mit einer

29 http://www.zeppelin-university.de 30 Vgl. Peschi und Fundneider (2011 ). 31 Der hier präsentierte eingereichte Entwurf erreichte den prämierten 3. Platz. 32 Peschi und Fundneider (20 11 ).

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breiten Gruppe von Stakeholdern (Professoren/innen, wissenschaftliche Mitarbeiter/innen, Studierende, administratives Personal, Präsidiumsmitglieder und externe Stakeholder), Untersuchung der Artefakte und des kulturellen, sozialen und strukturellen Kontexts der Zeppelin Universität etc., die vor Ort und im systemischen Umfeld durchgeführt wurden.

Abb. 1: Kernprozesse der Zeppelin Universität (In Kooperation mit theLivingCore und Camenzind Evolution Architects)

6.3 Identifikation der Kern-lnnovationsund Wissensprozesse Diese Studien wurden in einem systematischen Vorgehen zu einem umfassenden interdisziplinären Bild des "Kerns" der Zeppelin Universität verdichtet, welcher sich vor allem in den Wissens- und Innovationsprozessen widerspiegelt. Darauf aufbauend entwickelten die Autoren Design Patterns, die als Basis fUr einen disziplinenübergreifenden Designprozess dienten. An diesem waren Architekten, Technologen, Landschaftsplaner, Kognitionswis-

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senschafder und weitere Disziplinen beteiligt. Resultat dieses Prozesses ist ein konzeptueller und architektonischer Entwurf eines Enabling Space, in dem - unter Be1ücksichtigung der kulturellen Parameter - die Wissens- und Innovationsprozesse und deren Ermöglichung als Leitprinzipien dienen. Was ist nun dieser "Kern" der Zeppelin Universität, wie können die unterschiedlichen Aktivitäten der verschiedenen Fachbereiche und Stakeholder (Studierende, Professoren/innen, Administration etc.) in einer komprimierten, jedoch nicht reduzierten Darstellung verdichtet werden? Aus dem Researchund Sense-Making Prozess wurden zwei Kern-, Wissens- und Innovationsprozesse identifiziert, die sich in einem permanenten Wechselspiel zwischen zwei stark interagierenden Polen befinden: Understand und lntervene. 6.4 Kernprozess 1: "Understand"

Ein großer Teil der wissenschaftlichen aber auch der Lern- und Lehrarbeit zielen auf ein besseres und vor allem profundes Verstehen von Phänomenen ab, mit denen sich die Zeppelin Universität vornehmlich beschäftigt: nämlich Fragen, die ihren Fokus "zwischen Wirtschaft, Kultur und Politik" haben. Die Zeppelin Universtität ist eine sehr stark auf Geisteswissenschaften und Sozial- und Kulturwissenschaften ausgerichtete Universität. Im Vordergrund des "und erstand" steht das Verstehen dessen, was hinter den Dingen steht. Es geht also um das Entdecken, sichtbar und verständlich Machen, um Fragen nach den Ursachen, um profunde Einsicht, um das Finden neuer Erklärungen und Muster und vor allem die Eröffnung und die Exploration neuer Sichtweisen auf Phänomene- Perspektiven, die überraschen, irritieren, begeistern und Innovationen nach sich ziehen. Dieses " understand" steht sowohl in der Forschung als auch im Bereich der Lehre als einer der zentralen Prozesse im Vordergrund. Dies manifestiert sich beispielsweise im Design von Lehrveranstaltungen, in denen das klassische Format der Vorlesung (im Sinne von Frontalunterricht) verpönt ist. Das Wissen und- in weiterer Folge- das Verstehen wird in Seminaren in dialogischen und diskurs-/diskussionsbasierten Settings und Formaten in Kollaboration zwischen den Lehrenden und Studierenden gemeinsam erarbeitet. lmplikationen für die Architektur

Die Architektur muss auf diese alternative Form des Lernens/Lehrens und Forschens besondere Rücksicht nehmen. Die Ergebnisse aus den qualitativen Interviews und Beobachtungen führten - sowohl aus der Perspektive der Studierenden als auch der wissenschaftlichen Mitarbeiterlinnen - zu einem

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alternativen Verständnis von Hörsälen resp. Seminarräumen: kleinere Räume, die nicht standardisiert sind und die die (Wissens-)Prozesse widerspiegeln, die tatsächlich in diesen Räumen stattfinden werden. Vor diesem Hintergrund wurden z.B. eine Reihe von unterschiedlichen Seminarraum-Typologien entwickelt, die sich in ihrer Raumwirkung, Ausstattung, Anmutung, Größe, den unterstützen Wissensprozessen und den pädagogischen Rahmenbedingungen grundsätzlich unterscheiden: klassischer Seminarraum, Co-working Space, Projektraum, Werkraum bzw. "workshop"/ Atelier und Dialograum. Eine Auswahl dieser Räume wird kurz beschrieben. Projektraum Projektarbeit ist ein wichtiger Bestandteil des pädagogischen Konzepts der Zeppelin Universität. Eine Analyse der momentanen Situation hat jedoch gezeigt, dass- obwohl Studierende Aufgaben in Form von Projektarbeit durchführen sollen - zu wenig räumliche Unterstützung zur VerfUgung gestellt wird. Daher werden Rückzugs- und Arbeitsräume für Studierende gestaltet, die diese für die Realisierung ihrer Projekte für einen definierten Zeitraum benutzen können: das Arbeitsmaterial kann dort liegen gelassen werden, Zwischenergebnisse können an Wänden befestigt werden, etc. (Abb. 2).

D DD

Stehtische

D 0§

.~P"Ji~l.:

D Projektraurn/Okkupation

D

---:-:

Seminarraum 130qQ

o[)

I Y l___D o_o_ _ Abb. 2: Projektraum Die Kreise (und deren Größe) bezeichnen die unterschiedliche Gewichtung der in diesem Raum stattfindenden Wissensprozesse und deren Interaktion. (In Kooperation mit theLivingCore und Camenzind Evolution Architects).

331

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6.5 Kernprozess 2: "lntervene"

Geht es bei dem Wissensprozess des "understand" vornehmlich um das intellektuelle Durchdringen eines Gegenstandes/Phänomens, so steht im Bereich des "intervene" das Handeln, das Tun, das theoriegeleitete Agieren, die Veränderung des Gegenstandes und seines Umfeldes im Vordergrund: Das Umsetzen der Erkenntnisse in konkrete Handlungen, jedoch in einer Art und Weise, die über die soeben genannten Aktivitäten hinaus geht. Intervenieren hat etwas mit "dazwischen Kommen" (lateinisch), Eingreifen, mit "sich Einmischen", Ein- und Ansprüche erheben, Widersprechen, mit Irritation erzeugen, aber ebenso mit Schlichten, Ordnung schaffen und Beruhigen zu tun. Intervention ist genau das Gegenteil des mechanischen Anwendens von Rezepten oder tools. Die Basis dieser intervenierenden Tätigkeiten liegen in folgenden Punkte: • in einer proaktiven Autonomie (vs. schlichte Reaktion auf Ereignisse), • in einem echten (persönlichen und existenziellen) Engagement für die Sache (i.e. aus der persönlichen Identität heraus), • in der Reflektiertheit des Agierens und • etwas an einem neuralgischen und wirklich wichtigen Punkt zum richtigen Zeitpunkt nachhaltig anstoßen resp. verändern.

Werkraum, Workshop/Atelier, "Wissensatelier" Diese beiden Kernprozesse des "Understanding" und "Intervening" sind eingebettet in ein Spannungsfeld zwischen Kunst und lnterdisziplinarität. Das Durchbrechen alt hergebrachter und etablierter Denkparadigmen und methodischer Herangehensweisen gehört zu den zentralen Herausforderungen im interdisziplinären Arbeiten ebenso wie in der Kunst. Kunst wird als ein Mittel eingesetzt, sich über klassische Paradigmengrenzen hinwegzusetzen und - auch im wissenschaftlichen Bereich - neue Perspektiven zu ermöglichen. Diesem Ansatz trägt das vorgestellte architektonische Fallbeispiel durch viele Details und Konzepte Rechnung. In den "Wissensateliers" geht es nicht primär um Räume zur Ausstellung "fertiger" Kunstobjekte, sondern um den Prozess und Raum zur Schaffung von durch künstlerisches Herangehen inspiriertem Wissen, Einsichten und Interventionen. "Kunst als Enabler" findet sich in "leeren Räumen", in Zwischemäumen, in irritierenden Baukörpern, in Lufträumen, die zur "Bespielung" und künstlerischen Aneignung anregen.

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Bibliothek als sozio-epistemologischer Raum Die Bibliothek stellt das "Herz" der Zeppelin Universität dar; das Konzept der Bibliothek wirdjedoch in einem sehr erweiterten Verständnis gefasst, das weit über einen Aufstellungsort flir Bücher hinausgeht: Sie ist ein Ort des Studiums, der Begegnung, der Amegung und der Inspiration ("Amegungsarena"), des sich Informierens, des Entspannens und Refiektierens. Sie ist als sozio-epistemologischer Raum konzipiert: Sie verbindet die Funktion von Wissensraum und sozialem Raum. Als zentraler Ort, der direkt vom Foyer einsichtig und betretbar ist, fungiert sie als eine Drehscheibe des Wissens und der Wissenskommunikation, die direkte Verbindungen und Durchlässigkeit zur Mensa, Audi Max, Präsidium, Dialogräumen, diversen Seminarräumen etc hat. Durch ihren großzügigen Eingangsbereich zieht die Bibliothek die Benutzerlinnen fast unbemerkt in ihr Inneres, das durch verschiedenartige Zonen die unterschiedlichen Bedürfnisse an Stille, konzentriertem Arbeiten, Kommunikation, intellektuellem Studium, überrascht Werden etc. bedient. Diese Zonen folgen Gradienten der Stille, der Konzentriertheit, der Kommunikation und des individuellen und kollektiven Arbeitens.

• konzentriertes Arbeiten an einem Tisch neben anderen Studenten und mit Blick ins Freie, • konzentriertes Arbeiten "in a Box" (study boothin absoluter Stille), • die Arbeit mit "Ablenkung" (z. B. in einem semi-öffentlichen Bereich: Treppe im Foyer), • Arbeit in Gruppen von mehr als sechs Personen (in einem geschlossenen Raum mit dem notwendigen Mobiliar und [Multimedia-] Material), • einen Lounge/Cafe-Bereich (mit Büchern und Zeitschriften zur Hand, klassische Cafe Situation, kommunikativ), • Bereichen des Rückzugs und der Ruhe (bequeme Sitzmöbel zum Entspannen, Chili-out-Atmosphäre). Abschließende Überlegungen, lmplikationen für die Architektur und Abgrenzung zu anderen Projekten Der beschriebene Entwurffür die Zeppelin Universität ist eine mögliche Antwort auf gelebte Wissens- und Innovationsprozesse. Das hier vorgestellte Konzept der Enabling Spaces beruht auf der Prämisse, dass kognitive Prozesse nicht nur im Kopf angesiedelt sind, sondern sich auf die Umwelt ausdehnen und dass diese Umwelt Kognition in ihrer Funktion unterstützt. Darüber hinaus basiert das Design von Enabling Spaces auf den Wissens- und Innovationsprozessen, die in der Organisation vorhanden sind resp. verändert und

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WERKZEUG DENKZEUG I FALLBEISPIELE-EIN AUSBLICK

entwickelt werden sollen. Es sind also nicht primär architektonische Überlegungen, die als Ausgangspunkt für das Design von Räumen herangezogen werden, sondern die Kern- (wissens-) prozesseder Organisation. Dies ist ein Alleinstellungsmerkmal des Ansatzes der Enabling Spaces, da sie versuchen, diese Wissens- und Innovationsprozesse nicht nur in konkrete - diese Wissensprozesse ermöglichende Architektur - umzusetzen, sondern diese auch konsequent mit sozialen, epistemologischen, kognitiven, emotionalen und organisationalen Prozessen und Interventionen zu integrieren und zu verzahnen. Dieser Ansatz hebt sich von den meisten klassischen Herangehensweisen in Architekturprojekten ab, die zumeist von architektonischen oder emotionalen Parametern ausgehen. Ein in diesem Kontext interessantes Projekt stellen etwa die Google Labs in Zürich (CH)33 dar: sie sind aus einem bereits sehr fortschrittlichen user-centered Designprozess entstanden, in dem Persönlichkeitstypen, emotionale Faktoren und architektonische Parameter als Ausgangspunkt dienten. 34 In diesem intensiven durch die zukünftigen User mitbestimmten partizipativen Prozess entstand eine für den klassischen office Bereich ungewöhnliche Architektur, die Google's Unternehmenskultur als innovativer Technologieftihrer widerspiegelt35. Der Fokus im Design liegt auf dem emotionalen Faktor des Wohlfühlens und auf dem Bereitstellen von unterschiedlichen Wahlmöglichkeiten an Arbeitsplätzen. Im Design spiegelt sich wider, dass Wissens- und Innovationsprozesse nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben - emotionales Wohlbefinden, Flexibilität, Wahloptionen und Diversität dominieren die Architektur. Aus der Perspektive der Architektur ist der Designprozess von Enabling Spaces interessant: Dieser beginnt mit einer ausfUhrliehen Research-Phase, in der die Organisation, ihre Wissensprozesse und ihr systemisches Umfeld genau beobachtet wird. Erst aus diesem Research heraus kann Architektur entwickelt werden, die den in diesen Räumen stattfindenden Wissens- und Innovationsprozessen gerecht wird. Darüber hinaus ist die Verzahnung mit organisationalen oder sozialen Prozessen essentiell. Dies sind Herausforderungen an die Architektur, denen auch in der Ausbildung Rechnung getragen werden müsste. An dieser Stelle übernimmt der Architekt die Rolle eines Designers.

33 http://www.newofficedesign.com/ 34 Vgl. Albus in vorliegendem Band. 35 http://bit.ly/xbR3P2

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Im Kern ist der Prozess der Enabling Spaces ein aktiver sozio-epistemologischer Gestaltungs-/Designprozess, der Wissens- und Innovationsprozesse und die zum systemischen Kontext gehörenden Strukturen zu einem Ganzen verschränkt. Werden die in diesem Fallbeispiel gebrachten Grundsätze ernst genommen, wird besser verständlich, was "Denken-mit-dem-Objekt" bedeuten könnte: Ermöglichende Artefakte (verstanden als Enabling Spaces) unterstützen und fördern kognitive Prozesse der Hervorbringung neuen Wissens. Diese Artefakte fungieren als Denkwerkzeuge und sind ein fester Bestandteil der Prozesse der Wissensgenerierung. Auch wenn schon sehr viel an Forschung und Exploration in diesem Bereich der kollektiven Wissensgenerierung hineingeflossen ist, so blieben die Bemühungen meist sehr partikulär und in einzelnen Wissenschaftsbereichen verhaftet. Der Anspruch und zugleich die Herausforderung von Enabling Spaces besteht in einer konsequenten interdisziplinären Integration dieser Dimensionen, die zu einem ganzheitlichen Raumkonzept und damit zu besseren Ergebnissen in der Innovations- und Wissensarbeit führt.

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MARKUS F. PESCHL UND THOMAS FUNDNEIDER I RAUM ALS DENKZEUG

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K. Tochtermann and H. Maurer (Hrsg.), iknow 08 Conference Proceedings, pp. 11 -18. Know Center. Graz. Peschi und Willsehnig (2008): Markus F. Peschi und Stcfan Wiltschnig, Ernergente Innovation und Enabling Spaccs. Ermöglichungsrämnc ftir Prozesse der Knowlcdgc Crcation. In: U. Lucke et al. (Hrsg.), Proceedings der Tagungen Mensch & Computer 2008, DeLFI 2008 und Cognitive Design 2008, pp. 446-451. Berlin. Peschi und Fundneider (20 I 0): Markus F. Peschi und Thomas Fundneider, Ernergente Innovation. Wie es möglich wird, in Enabling Spaccs das radikal Neue hervorzubringen. In: R. Pircher (Hrsg.), Wissensmanagement Wisscnstransfcr. Wisscnsnctzwcrkc, pp. 264-279. Erlangen 2010. Peschi und Fundneider (2011 ): Peschl, M.F. and T. Fundneider. Spaees enabling gamechanging and sustaining innovations: Why space matters for knowledge creation and innovation. Journal ofOrganisational Transformation and Soeial Change (OTSC) 9 (I), 41-61. Scharmcr (2001): Scharmcr, C.O. Sclf-transccnding knowlcdge. Scnsing and organizing around ernerging opportunitics. Journal ofKnowlcdgc Management 5 (2), 137-1 50. Scharmer (2001 ): Claus Otto Scharmer, Theory U. Leading from the futnre as it emerges. The social technology of presencing. Cambridge, 2001. Schumpeter (1947): Joseph A. Sehumpeter, Capitalism, socialism and democracy (seeond cd.). Ncw York 1947. Senge ct al. (2004): Pctcr Senge, Carl Otto Scharmcr, Joseph Jaworski, Bctty Suc Flowcrs, Presence. Human purpose and the field of the future. Cambridge 2004. Varela et al. (1 99 1): Fransisco J. Varela, Evan Thompson, Eleanor Rosch. The embodied mind: cognitive science and human experience. Cambridge 199 1.

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Autorinnen und Autoren

Volker Albus (Prof.) Geboren 1949, studierte von 1968 bis 197 6 an der RWTH Aachen Architektur. Seit 1984 arbeitet er als Designer und Ausstellungsmacher, zudem ist er als Publizist tätig. Er verfasst Essays und Kritiken u.a. für den Design Report, form, die KUNSTZEITUNG und den Wiener Standard. Darüber hinaus ist er Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher und Ausstellungskataloge. Seit 1994 ist Volker Albus Professor für Produktdesign an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Seit 1998 konzipiert und kuratiert er weltweit tourende Ausstellungen für das ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) in Stuttgart. 2009 gründete er gemeinsam mit Stefan Legner die Hochschulplattform kkaarrlls. Er lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und Karlsruhe. Wim van den Bergh (Univ.-Prof. lr.) ist Architekt und Professor an der RWTH Aachen, wo er seit 2001 den Lehrstuhl für Wohnbau und Grundlagen des Entwerfens innehat. Zuvor war er Professor in Delft und Eindhoven, außerdem war er Diploma Unit Master an der AA in London, Gastprofessor an der Cooper Union in New York und der Mackintosh School of Architecture in Glasgow. Er wurde 1955 in Brunssum (Niederlande) geboren und studierte Baukunde an der HTS in Heerleu sowie Architektur und Städtebau an der TH in Eindhoven. Von 1984 bis 2002 war er selbständiger Architekt in Heerlen, danach in Maastricht. Neben zahlreichen Veröffentlichungen gewann er eine Anzahl von Preisen darunter in 1986 den Prix de Rome für Architektur. Ferdinand Binkofski (Univ.-Prof. Dr. med.) studierte Humanmedizin in Düsseldorf und London. Während seiner Ausbildung zum Neurologen war er für mehrere Jahre Gastwissenschaftler am Forschungszentrum Jülich im

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WERKZEUG DENKZEUG

Bereich der neurowissenschaftlichen Bildgebung. Anfang der 90-er Jahre arbeitet er im Rahmen der European Science Foundation an einem Verbundprojekt zwischen der Neural. Klinik in Düsseldorf (Prof. H.-J . Freund), dem INSERM U 534 "Vision et action" in Bron (Prof. M. Jeannerod) und dem Institut für Humane Physiologie in Parma (Prof. Rizzolatti). Daraus entwickelte sich eine Zusammenarbeit mit der Parma Gruppe, insbesondere mit Giovanni Buccino. 2002 wechselte Ferdinand Binkofski an die Univ. zu Lübeck: Leitung des Lübecker Teils des Forschungsverbundes "Neuroimage Nord". 2004 bekam er dort den Ruf auf die C3-Professur für Funktionelle Bildgebung. 2010 folgte er dem Ruf der RWTH Aachen, übernahm den W3-Lehrstuhl für Kognitive Neurologie und die Leitung der Sektion für Neurologische Kognitionsforschung. Rene Bohne (Dipl.-Inform.) erforscht am Lehrstuhl Medieninformatik der RWTH Aachen neue Wege der Mensch-Computer-Interaktion, insbesondere die Interaktion mit digitalen Fabrikationsgeräten (Personal Fabrication) und intelligenten Kleidungsstücken (Wearable Computing). 2009 schloss er sein Studium an der RWTH Aachen als Diplom Informatiker ab. Unter Leitung von Prof. Dr. Jan Borebers betreut Rene Bohne seit dem 7.12.2009 das erste FabLab der Bundesrepublik Deutschland an der RWTH Aachen. Jan Borebers (Univ.-Prof. Dr. rer. nat.) ist Leiter des B-IT-Stiftungslehrstuhls für Medieninformatik und Mensch-Computer-Interaktion an der RWTH Aachen. Mit seinem Team forscht er insbesondere in den Bereichen Mobile, Wearable, Surface und Physical Computing, Personal Fabrication sowie an der Interaktion mit zeitbasierten Medien wie Audio und Video, intelligenten Räumen und Entwicklerwerkzeugen. Seine Gruppe ist Deutschlands erfolgreichstes Institut bei Veröffentlichungen auf der CHI, der international bedeutendsten Konferenz zur Mensch-Computer-Interaktion. Daneben entwickelt der Lehrstuhl interaktive Exponate für internationale Museen und Ausstellungszentren. Prof. Borebers lehrte zuvor in Stanford und an der ETH Zürich. Thomas Fundneider ist Gründer des Beratungsunternehmens tf consulting und Geschäftsführer der Innovationsagentur theLivingCore, die sich auf die Bereiche Innovation, Innovationsarchitektur und Strategie spezialisiert haben. Er ist zudem regelmäßig als Experte für Evaluierungen der Europäischen Kommission tätig, betreut Start-Ups und lehrt an mehreren europäischen Universitäten.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Hannah Groninger (Dip!. Szen.) ist seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterio am Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung an der RWTH Aachen mit dem Schwerpunkt Neue Medien und Forschung im künstlerischen Kontext. 2002 absolviert sie ihr Diplom der Szenografie (Hauptfach) und Medienkunst, Architektur (Nebenfächer) an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe bei Prof. Michael Sirnon und Prof. Boris Groys. Seit 2002 ist sie als freischaffende Szenografin für Theater-, Tanz- und Opernproduktionen tätig und entwickelt u.a. Kunstprojekte für internationale Festivals. Martin Grunwald (PD Dr. Dipl. Psych.) ist Gründer und Leiter des Haptik-Forschungslabors am Paul-Flechsig-Institut ftir Hirnforschung an der Universität Leipzig. Er ist durch neurobiologische Grundlagenforschung, psychophysiologisch-klinische orientierte Forschung und industrielle Allwendungsforschung auf dem Gebiet der Haptik national sowie international ausgewiesen. Seine Forschungstätigkeit führte ihn u.a. an das Touch-Laboratory des Massachusetts Institute of Technology (MIT Boston, USA). Neben zahlreichen Vorträgen lehrt er an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Universität Boun, sowie an der Universität Leipzig. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen sowie die Herausgabe von zwei Monographien zur Haptik (2001 , 2008) kennzeichnen sein wissenschaftliches Engagement zur Etablierung der Haptik als interdisziplinäres Lehr- und Forschungsgebiet Das in Europa einzigartige Labor ist seit vielen Jahren gefragter Partner universitärer Eimichtungen und verschiedener Industrieunternehmen. Torsten Kuhlen (Prof. Dr. rer. nat.) ist seit 1998 Professor für Informatik an der RWTH Aachen und leitet dort die Virtual Reality Group. In der Grundlagenforschung entwickelt die Gruppe multimodale Interaktionsmethoden ftir virtuelle Umgehungen unter Einbeziehung haptischer und akustischer Stimuli. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeiten liegt auf der Integration von entwickelten Interaktionstechniken in leistungsfähige Softwarewerkzeuge. Torsten Kuhlen ist Mitverfasser von über 150 begutachteten Beiträgen. Er ist Mitglied im Programm- und Organisationskomitee mehrerer internationaler Konferenzen zur Virtuellen Realität, Computergraphik und Visualisierung und engagiert sich als Sprecher in der Fachgruppe VR/AR der Gesellschaft für Informatik.

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WERKZEUG DENKZEUG

Kirsten Maar (M.A.) ist Theater- und Tanzwissenschaftlerin. Seit 2007 ist sie Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich "Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste" im Teilprojekt "Topographien des Flüchtigen" an der Freien Universität Berlin und arbeitet an ihrer Dissertation, die den Titel trägt: "Entwürfe und Gefüge. William Forsythes choreographische Arbeiten in ihren architektonischen Relationen". Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen choreographische Entwurfskonzepte im 20. Jahrhundert, das Verhältnis von Architektur, Installation und Choreographie, kinästhetische Erfahrung und Raumkonzeptionen, sowie Veränderungen in den Produktionsverfahren der Künste. Elke Mark arbeitet als freischaffende Künstlerin in Köln. Nach Abschluss des Studiums der Freien Kunst in Kassel, Madrid und Amsterdam absolvierte sie ein Postgraduiertenprogramm der Kunsthochschule für Medien in Köln. Im Rahmen ihres theoretisch-praktischen Promotionsvorhabens "Eingeschrieben" - mediale Ablagerungen? an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach untersucht Elke Mark seit Oktober 2010 Formen taktilen Wissens und den Stellenwert von Haptik und Taktilität im Kontext digitaler Medien. Zentral steht dabei die Hand als Kommunikations- und Handlungsorgan, die theoretisch und praktisch mittels Schreiben und Zeichnen erforscht wird. Mit Ansätzen der Performance Art wird mit Blick auf Leiblichkeit und Vergegenwärtigung, Spuren von Taktilität nachgegangen und der Versuch der Entwicklung einer leibliche und digitale Taktilität vergleichenden künstlerischen "Praxis-Sprache" unternommen werden. Wolfgang Meisenheimer (Prof. Dr.-lng.), geboren 1933, Diplom T.H. Aachen, Dissertation "Der Raum der Architektur, Strukturen, Gestalten, Begriffe", freier Architekt in Düren, 2. Vorsitzender des Deutschen Werkbundes NW, 1978 bis 1998 Professor bei der FH Düsseldorf, Lehrgebiet "Grundlagen des Entwerfens", neun Jahre Dekan des Fachbereichs Architektur, Mitgründer der "ad-Hefte" (Veröffentlichungen der FHD, insbes. "rote Reihe", Dokumentation jährlicher architekturtheoretischer Seminare), zehn Jahre Mitherausgeber von DAlDALOS (Berlin), wissenschaftliche Arbeiten zu Grundphänomenen der Architektur (insbes. Raum- und Zeit-Strukturen). Gründung und Leitung der jährlichen Akademie des Deutschen Werkbundes NW sowie ihrer Dokumentation in der "Akademiereihe." Lebt in Düren.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Mareike Menz (Dr. rer. hum. bio!.) studierte von 2001 bis 2005 Psychologie an der Universität Leipzig. Gleichzeitig hat sie von 2003 bis 2006 als stud. Hilfskraft am Max-Planck-lnstitut für kognitive Neurowissenschaften gearbeitet. Von 2006 bis 2009 arbeitete Mareike Menz zuerst als Doktorandin und dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Neurologie in Lübeck und in dem wissenschaftlichen Verbund "Neuroimage Nord, wo sie von Prof. Dr. Ferdinand Binkofski betreut wurde. Ihre Promotion zu Thema "From dynamic sensorimotor interaction to conceptual action representation" schloss sie mit Summa cum laude ab und bakam den Staatlichen Promotionspreis der Universität zu Lübeck. Ab 2009 ist Mareike Menz wissenschaftliche Assistentin am Institut für Systemische Neurowissenschaften am UKE Hamburg. Irene Mittelberg (Prof. Dr. phil.) ist Juniorprofessorin flir Sprachwissenschaft und kognitive Semiotik an der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen und leitet das pluridisziplinäre Gestenforschungsprojekt Natural Media & Engineering im Human Technology Centre (HumTec). Sie promovierte an der Comell University in Linguistik und Kognitionswissenschaft Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen das Zusammenspiel von Kognition, Sprache und redebegleitender Gestik, sowie die empirisch-fundierte Integration von klassischen semiotischen Theorien (C.S. Peirce und R. Jakobson) und neueren kognitiven Ansätzen ("embodiment"). Weiterhin stehen die mediale Geschichte von grammatischen Konzepten und Strukturen in Texten und Bildern, sowie multimodale Gedankenfiguren (insbesondere Metapher und Metonymie) und Bildschemata in Sprache, spontanen Gesten und bildender Kunst im Zentrum des Forschungsinteresses. Jochen Müsseler (Univ.-Prof. Dr.) ist Universitätsprofessor am Institut für Psychologie der RWTH Achen und Leiter des Fachbereichs Arbeits- und Kognitionspsychologie. Er schloss seine Promotion der Psychologie an der Universität Bielefeld 1986 ab lmd habilitierte 1995 an der Universität München. Seine Forschungsinteressen sind: perception and action, selective attention, dual-task performance, stimulus-response compatibility and cognitive ergonomics. Markus F. Peschi (Univ.-Prof. Dr.) ist Professor ftir Cognitive Science und Wissenschaftstheorie an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den inter-/transdisziplinären Feldern von (radikaler) Innovation

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WERKZEUG DENKZEUG

und Kognition, sowie an den Schnittstellen von Design und der Entstehung neuen Wissens in kognitiven Systemen, in der Wissenschaft und in Organisationen. Er arbeitet an den Konzepten der Emergent Innovation und der Enabling Spaces, Räume die Innovations- und Wissensarbeit unterstützen. Anette Rose 1962 geboren in Bünde/Westfalen war von 1979-1985 tätig als Goldschmiedin, danach Studium der Kunstgeschichte an der Technischen Universität, Berlin und Studium der Experimentellen Medienkunst an der Hochschule der Künste, Berlin bei Prof. Valie Export. 1994-1995 Central Saint Martins College of Art, CFAP, London, GB, 1997 Meisterschülerin bei Prof. Heinz Emigholz, Hochschule der Künste, Berlin. Anette Rose lebt und arbeitet in Berlin. Thomas H. Schmitz (Univ.-Prof. Dipl.-Ing.) diplomierte 1985 an der Fakultät Architektur der Technischen Hochschule Darmstadt 1985-1987 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Architekturzeichnen und Raumgestaltung an der TU Braunschweig. 1987 bearbeitete er als freier Mitarbeiter im Büro Prof. Thomas Sieverts, Bonn konzeptionelle Projekte im Grenzbereich von Architektur und Städtebau. Seit 1988-1999 arbeitet er vorwiegend als Freier Künstler in Frankfurt/Main mit diversen Ausstellungen mit Malerei und Grafik, Land-Art-Projekten z.B. Halde Mottbruch. Daneben auch Projekte zur künstlerischen Neuordnung von Kirchemäumen. Seit 1993 lehrt er als Professor für Freihandzeichnen, künstlerisches Gestalten und Entwerfen im Fachbereich Bauen + Gestalten der FH Kaiserslautern; von 20022003 war er dort als Mitbegründer an der Konzeption des neuen Bachelorstudiengangs "Virtual Design" und in der cross-medialen Gestaltungslehre aktiv. Seit 01.10.2007 ist er Inhaber der Univ.-Professur ftir Bildnerische Gestaltung an der Fakultät Architektur der RWTH Aachen. Christine Sutter (Dr.) ist eine postdoc Stipendiatinan der RWTH Aachen und Wissenschaftlerin am Fachbereich ftir Arbeits- und Kognitionspsychologie. Sie schloss ihre Promotion 2006 am Institut ftir Psychologie an der RWTH Aachen ab. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: perception-action interaction, stimulus-response compatibility, aging and human factors and ergonomics. Martin Trautz (Univ.-Prof. Dr.-lng.) Studium des Bauingenieurwesens und der Architektur an der Universität Stuttgart, 1989 Diplom Bauingenieurwesen, 1998 Promotion zum Thema: "Zur Entwicklung von Form und Struktur

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AUTORINNEN UND AUTOREN

historischer Gewölbe aus der Sicht der Statik". Von 1997-2002 war er Projektleiter in Frankfurt/Main bei Bollinger+Grohmann. Seit 2002 Eigenes Büro für Tragwerksplanung, seit 2005 Ordentlicher Professor am Lehrstuhl flir Tragkonstruktionen der RWTH-Aachen und seit 2010 Geschäftsflihrer trakoengineering Aachen-Kelkheim, Tragwerkplanung-Sonderkonstruktionen. Franziska Uhlig (Prof. Dr.) Nach Tätigkeiten für die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, u.a. für "Ausgebürgert. Künstler aus der DDR. 19491989" studierte Franziska Uhlig bei Robert Suckale, Horst Bredekamp und Detlev Kreikenbohm Kunstwissenschaft und Klassische Archäologie. Aufgrund ihrer produktionsästhetischen Forschung lehrt sie vornehmlich an Kunsthochschulen und vertrat zwischen 2006 und 2011 Professuren in Halle, Weimar und Berlin. Ihre Forschung zu Werkzeugen ftihrten sie als Postdoc Research Fellow zu der von Bernhard Siegert konzipierten und von Barbara Wittmann geleiteten Forschungsgruppe "Werkzeuge des Entwerfens" am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie der Bauhaus-Universität Weimar. Darüber hinaus betreut sie mit Museumsmanagementsystemen künstlerische Werkverzeichnisse und ist Jurymitglied des am LondonKonsortium angesiedelten Kurzfilmfestivals Betting on Shorts. Stefan Wieczorek (Dr.) ist Literaturwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) im Projekt Brain!Concept/Writing, das zum interdisziplinären Projekthaus HumTec der RWTH Aachen gehört; zuvor lehrte er mehrere Jahre am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft der RWTH Aachen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der kultur- und medienwissenschaftlichen Literaturwissenschaft, aktuelle Arbeitsfelder sind Text-Bild-Relationen, Literatur und Fotografie, inter- und transmediale Textprozesse sowie Lyrik im 20. Jahrhundert (u.a. E. Arendt, H. Arp, J. v. Hoddis, P. Huchel, E. Meister, P. Neruda). Zuletzt: N. Lapchine; F. Lartillot; M. Peschken; S. Wieczorek (Hrsg.): Gedächtnis- und Textprozesse im poetischen Werk Brich Arendts. Frankfurt!Main u.a. 2011 .

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Kultur- und Medientheorie

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Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Zeitschrift für 8 Kultur wissenschaften 2.' Dorothee Kimmich,

Schamma Schahadat (Hg.)

Essen

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Ku Itu rwissenschaften, Heft 1/2012

[tranmipt]

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8

• Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über ••Kultur« und die Kulturwissenschaften-dieGegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellungper E-Mail unter: [email protected]

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