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German Pages 524 [528] Year 1968
FRIEDRICH MEINECKE WERKE · BAND VII
FRIEDRICH MEINECKE WERKE
Herausgegeben im Auftrage des Friedrich-Meinecke-Institutes der Freien Universität Berlin von HANS HERZFELD, CARL H I N R I C H S t, WALTHER HOFER, EBERHARD K E S S E L , GEORG KOTOWSKI
In Zusammenarbeit von K.F. K O E H L E R V E R L A G , STUTTGART R. O L D E N B O U R G V E R L A G , M Ü N C H E N S I E G F R I E D T O E C H E - M I T T L E R VERLAG, DARMSTADT
FRIEDRICH M E I N E C K E
Zur Geschichte der Geschichtsschreibung
Herausgegeben und eingeleitet yon EBERHARD
KESSEL
R. O L D E N B O U R G VERLAG MÜNCHEN i968
© 1968, R . Oldenbourg, München Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet» das Buch oder Teile daraus auf photomechani schein Wege (Photokopie» Mikrokopie) zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: R . Oldenbourg, Graphische Betriebe GmbH, München
INHALT Einleitung des Herausgebers Erste
IX Gruppe
ALLGEMEINES UND DIE EIGENE STELLUNG IN DER GESCHICHTSSCHREIBUNG
Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1915) Geleitwort zum 100. Bande der Historischen Zeitschrift (1908) . . Die Redaktionsführung der Historischen Zeitschrift (1909) . . . . Geleitwort zum 150. Bande der Historischen Zeitschrift und zum 100. Geburtstage Heinrich von Treitschkes (1934) Geschichte und Kirchengeschichte (1934) Archivberuf und historische Forschung (1901) Zweite
1 5 12 14 25 29
Gruppe
RANKE UND BURCKHARDT
Ranke in der Auffassung von Ottokar Lorenz und die Generationenlehre (1891) Zur Beurteilung Rankes (1913) Rankes »Große Mächte« (1916) Rankes »Politisches Gespräch« (1924) Jacob Burckhardt, die deutsche Geschichtsschreibung und der nationale Staat (1906) Carl Neumann über Jacob Burckhardt (1928) Ranke und Burckhardt (1948) Dritte
41 50 66 72 83 88 93
Gruppe
D I E NATIONALPOLITISCHE GESCHICHTSSCHREIBUNG
Johann Gustav Droysen 1. Johann Gustav Droysen, sein Briefwechsel und seine Geschichtsschreibung (1929/30)
125 125
VI
Inhalt
2. Droysens Historik (1937)
168
3. Droysens Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege (1888)
173
Heinrich von Sybel
175
1. Nachruf (1896)
175
2. »Die Begründung des deutschen Reiches durch Wilhelm I.« (1914)
181
Heinrich von Treitsdike
183
1. Nachruf (1896)
183
2. Treitsdike und die deutsche Burschenschaft (1914)
187
3. Treitschkes Briefe (1915-1921)
206
Vierte Gruppe D I E GESCHICHTSSCHREIBUNG DES HANDELNDEN STAATSMANNS
Zur Kritik der Radowitzschen Fragmente (1910)
219
Die Gedanken und Erinnerungen Bismarcks (1899)
228
Die Memoiren des Herzogs Ernst von
Sachsen-Coburg-Gotha
(1888-1890)
241
Fürst Bülows Deutsche Politik (1916)
269
Fünfte Gruppe D I E ZEITGENÖSSISCHE GESCHICHTSSCHREIBUNG
M a x Lehmann
279
1. Scharnhorst (1886/87)
279
2. Adresse (1917)
303
3. Nachruf (1930) Hans Delbrück
306 308
1. Die Perserkriege und die Burgunderkriege (1889)
308
2. Nachruf (1929)
312
Hermann Baumgarten (1894)
314
Gustav Schmoller (1899)
317
Karl Lamprecht
321
1. Zum Streit um die kollektivistische Geschichtsdireibung (1896 bis 1910) 2. Nachruf (1915)
321 331
Inhalt
VII
Louis Erhardt (1908) Max Immich (1905) Theodor Ludwig (1906) Alfred Dove 1. Nadiruf (1916) 2. Alfred Dove und der klassische Liberalismus im Neuen Reiche (1925)
333 342 345 356 356
Friedrich von Bezold (1922) Fritz Vigener (1925) Marianne Weber über Max Weber (1927) Georg von Below (1928) Heinrich Finke (1929) Joseph Hansen (1933) Carl Neumann (1935) Walter Frank 1. Hofprediger Adolf Stoecker (1929) 2. Kämpfende Wissenschaft (1935)
413 416 429 436 437 440 442 443 443 447
Rudolf Stadelmanns Rede »Das geschichtliche Selbstbewußtsein der Nation« (1934) Hans von Haeften (1938) Siegfried A.Kaehler (1950) Hans Rothfels (1951)
450 454 461 464
Personenregister Sachregister
467 477
386
E I N L E I T U N G DES H E R A U S G E B E R S Geschichtsschreibung ist Kunst, und zwar eine solche, die sich von aller sonstigen Kunst dadurch unterscheidet, daß sie der Wirklichkeit in besonderer Weise verhaftet ist. Zwar kann man ein Analogon dazu in der Bildenden Kunst sehen, wenn und soweit sie einen Gegenstand der Wirklichkeit in Malerei oder Plastik naturwahr wiedergeben will. Aber abgesehen von den Verschiedenheiten in den Techniken beider »Künste« ist dasjenige, was als Erstes in beiden Fällen der »Wiedergabe« als der künstlerischen Schöpfung vorausgehen muß, nämlich die Wahrnehmung des Gegenstandes, etwas grundsätzlich anderes. Wenn der bildende Künstler durch einfaches Anschauen der Wirklichkeit sich seines Gegenstandes bemächtigt, um ihn dann mit den Mitteln seiner Kunst neu zu schaffen, muß der Geschichtsschreiber sich ihn in einem mühsamen Erkenntnisprozeß erschließen, der nicht nur unendlich komplizierter, sondern auch unvollkommener ist als das unmittelbare physische Anschauen und Betasten. Die historische Erkenntnis, für die der Historiker seine Wissenschaft hat, ist die unerläßliche Grundlage seiner Geschichtsschreibung und ist doch zugleich niemals ganz vollständig und ganz zutreffend. So steckt in der Geschichtsschreibung ein Mysterium. Friedrich Meinecke hat es mit dem Goethe-Wort des »schaffenden Spiegels« umschrieben, als er 1948 zum letzten Male eine Nachlese seiner kleinen Schriften zur Geschichtsschreibung hielt und sie unter diesem Titel veröffentlichte. Das hat er im Vorwort dazu in der knappen Weise seiner Alterssprache kurz erläutert: »Goethe läßt in der unausgeführten Disputationsszene des Faust diesen die Frage an Mephistopheles tun, >wo der schaffende Spiegel seiein andermal·. Das dunkelmächtige Wort läßt uns nicht ruhen und hat audi die Goetheforschung vor die Frage nach seinem Sinn und seinem Zusammenhang mit Goethes Weltanschauung gestellt. Der Historiker aber darf das Wort als Gleichnis für das Ziel seiner eigenen Arbeit anwenden. Sie soll das einst Gewesene nicht mechanisch, sondern schaf-
Einleitung des Herausgebers
χ
fend spiegeln, Subjektives und Objektives in sidi so verschmelzen, daß das dadurch gewonnene Geschichtsbild zugleich die Vergangenheit, soweit sie zu fassen ist, getreu und ehrlidi wiedergibt und dabei dodi ganz durchblutet bleibt von der schöpferischen Individualität des Forschers. Ein Ideal, das restlos nie zu verwirklidien ist, aber nie preisgegeben werden darf 1 .« Damit ist gleidizeitig die unendliche Vielfalt der Nuancierungen gekennzeidinet, die der »sdiaffende Spiegel« jeweils mit dem Bild der Wirklichkeit reflektiert, und diese individuelle Mannigfaltigkeit hat offenbar für Meinecke einen starken Reiz gehabt. Wir begegnen aber dem Rätselwort bei ihm, soweit wir sehen können, zuerst 1941 in einem Briefe an seinen Maler-Freund Johann Friedrich Hoff, in dem er dessen Landschafìsbilder »schaffende Spiegel« genannt hat. Da steht es also in Beziehung zur Bildenden Kunst, und es meint das Hintergründige und Geheimnisvolle am Kunstwerk, das sidi mit Worten nidit sagen läßt*. Die Geschichtsschreibung aber hat es mit Worten zu tun, mit dem »sozusagen dickhäutigen Worte«, wie Ranke sich ausgedrückt hat®, und sie kann nur danach streben, die auf dem Wege exakter wissenschaftlicher Methode festgestellten Vorgänge in lebendiger Darstellung zur Anschauung zu bringen. Es kann nicht anders sein, als daß gerade die Vielfalt der Standpunkte und damit die Vielfalt der Spiegelungen eines Gegenstandes der Geschichte und zuletzt der Weltgeschichte überhaupt neue Erkenntnisse ermöglicht und deshalb den Blick auf die Erforschung der Geschichte der Geschichtsschreibung lenkt, die an sich sonst nichts weiter wäre als die freilich auch schon in diesem Rahmen reizvolle geistige Familiengeschichte des Historikers; sie stellt eine der wichtigsten und umfassendsten Aufgaben der Wissenschaft dar. »Schaffender Spiegel« also in doppelter Weise die Geschichte der Geschichtsschreibung selbst, so wie durch einfache Spiegelung in der Natur die Seiten des Bildes verkehrt und erst durch Rückspiegelung im richtigen Verhältnis wiederhergestellt werden. Nun hat allerdings Friedrich Meinecke niemals die Geschichte 1
Friedrich Meinecke, Schaffender Spiegel. Studien zur deutschen Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung. Stuttgart 1948. S. 7. 2 Ausgewählter Briefwechsel, Werke, Bd. VI, S. 195. » Ranke, Sämtliche Werke, Bd. 53/54 (1890), S. 570.
Einleitung des Herausgebers
XI
der Historiographie zum unmittelbaren Gegenstand eines eigenen groß angelegten Werkes gemacht, und es war ein Mißverständnis, das er nicht müde wurde richtigzustellen, wenn man seine Entstehungsgesdiidite des Historismus dahin gedeutet und dann entsprechende Ausstellungen daran gemacht hat. Beim Historismus handelt es sich vielmehr um eine allgemeine geistesgeschichtliche Ersdieinung des 18. und 19. Jahrhunderts, die den g a n z e n Menschen betrifft, und besonders in seiner Haltung zum Staat und zur Moral im politischen Handeln; denn von dieser Seite war Meinecke auf das Problem als einer ganz großen und entscheidenden Wende in der Entwicklung des menschlichen Geistes aufmerksam geworden4. Die Geschichtssdireibung war im Anfang nicht einmal ein wesentlicher Träger dieser Zeitenwende gewesen und kam infolgedessen in dem Werk keineswegs vollständig zu Worte, so daß alle diejenigen Lücken empfanden, die der Meinung waren, daß es darauf ankäme, die Historiographie der Zeit zu diesem Zwecke darzustellen. Aber allerdings wurde sie eigentümlich von der neuen geistigen Haltung betroffen, die eben wesentlich in einer Veränderung der Einstellung zur Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart bestand, so daß man von einer veränderten Art des geschichtlichen Sehens und Denkens sprechen kann und der Terminus »Historismus« darauf angewandt wurde, obwohl das freilich nicht unbedenklich war, weil man ihn auch schon anderweitig benutzt hatte und nun mancherlei Mißverständnisse daraus entstehen konnten. Aber die Bezeichnung war dodi eben deswegen nicht ganz falsch oder lag sogar nahe, weil das Historische, wenn man den Begriff nicht zu eng faßte, nun einmal im Mittelpunkt des Epochenwandels stand, und die zünftige Geschichtsschreibung mußte schließlich davon ergriffen werden, und umgekehrt mußte dann auch wieder jede tiefdringende materiale geschichtliche Erkenntnis die Geschichtswissenschaft und die Geschichtsschreibung weiter auf den Weg des Historismus führen. Es ist daher sehr begreiflich, daß Meinecke, der von Studien zur Geschichte des Nationalgedankens, des Staatsethos und der politischen Theorien ausgegangen war, die Historiographie besonders 4 Vgl. die Einleitung von Carl Hinridis zu der Ausgabe in den Werken, Bd. III (1959).
XII
Einleitung des Herausgebers
beachtete, als er die Bedeutung des historischen Sinnes für die moderne Welt des 19. und 20. Jahrhunderts erkannt hatte. Doch war das nicht die einzige Quelle seines Interesses daran, vielmehr hat er sdion früher, und im Grunde vom Anbeginn seiner eigenen historischen Arbeit an nicht nur die zeitgenössische Geschichtsschreibung in ihren wesentlichen Erscheinungen und Problemen wachen Sinnes verfolgt und beobachtet, sondern vor allem auch die große Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts studiert, von der er selbst und seine Generation in ihrer Tätigkeit bewußt ausgegangen waren. Das hatte ihn zwar nicht veranlaßt, ein großes Forschungsthema in dieser Richtung aufzunehmen, wohl aber ihn immer wieder zu neuen Anläufen der Beschäftigung und Durchdringung des Gesamtbereichs der Historiographie angeregt. Das war teils zufällig, teils hatte es tiefgehende Ursachen. Im Grunde wollte Meinecke den eigenen Standpunkt kontrollieren. Daher sein frühes theoretisches Interesse, das ihn geschichtsphilosophischen und problemgeschichtlichen Überlegungen geneigt machte. Bereits für die philosophische Staatsexamensarbeit bat er um ein geschichtstheoretisches Thema: die Vergleidiung der Geschichts- und Naturwissenschaften hinsichtlich ihrer Methoden, und er hat stets von neuem und im Alter immer mehr zu den einschlägigen Problemen tiefgründig Stellung genommen5. Aus demselben Erkenntnisdrange um der eigenen Arbeit willen beschäftigte er sich auch mit der Geschichte der Geschichtsschreibung, und so war es ein starkes persönliches Interesse, das sich bei alledem geltend gemacht hat. Zudem war er sich von jeher, seit er als junger Student zu den Füßen Droysens gesessen und dessen Vorlesung über die Historik gehört hatte, darüber klar, daß die große klassische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts der Mutterboden des eigenen Daseins und der eigenen Arbeit war. So wie er Droysen noch als Student erlebt hatte und einen bestimmenden Eindruck davon für sein ganzes Leben mitnahm, ragten die letzten Repräsentanten dieser Tradition in sein Bewußtsein hinein. Ranke war zwar schon jenseits der Sphäre, die eine persönliche Annäherung dem Studenten gestattete; doch hat Meinecke sich frühzeitig mit seinem Geiste und seinen Werken durchdrungen, s Vgl. die in Bd. IV der Werke zusammengefaßten Sdirifien »Zur Theorie und Philosophie der Geschichte«.
Einleitung des Herausgebers
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und als er mit seinen Kommilitonen am 26. Mai 1886 dem Sarge des Entschlafenen folgte, da wußte er »es schon, obwohl nodi nicht in voller Klarheit, daß wir einem der Unsterblichen das letzte Geleit gaben6.« Sybel und Treitschke vollends hat Meinecke auf der Höhe ihres Wirkens und als jüngerer Mitarbeiter gekannt, wie sollte da nidit das Interesse an ihren Werken in ihm rege bleiben und ihm immer wieder das Wunder des gerade in ihnen und ihrer schöpferischen Arbeit lebendigen »schaffenden Spiegels« zum Bewußtsein bringen? Die Anstöße im einzelnen gab in diesem Rahmen der Zufall oder die Gelegenheit. Die meiste Gelegenheit, ja Verpflichtung aber gab die Historische Zeitschrift. Zu ihr war Meinecke durch Sybel gekommen und zu Sybel durch seinen akademischen Lehrer Reinhold Koser, den Biographen Friedrich des Großen, bei dem er 1886 mit seiner Dissertation über das Stralendorffsche Gutachten promoviert hatte. Koser, der selbst seine Laufbahn als Archivar begonnen hatte, empfahl seinen Schüler zum Eintritt in den Archivdienst an Sybel, der seit 1875 Leiter der Preußischen Staatsarchive war. Sybel aber stellte den jungen Bewerber nicht nur 1887 beim Geheimen Staatsarchiv ein, sondern zog ihn auch als persönlichen Mitarbeiter heran, so daß Meinecke die Werkstatt des Geschichtsschreibers der Reichsgründung unmittelbar persönlich kennenlernte. Allerdings nicht zu nahe, denn die geheimrätliche Exzellenz hielt auf Abstand, und der beiderseitige Verkehr erfolgte in der Regel durch knappe Korrespondenzzettel, von denen sich einige im Nachlaß Meineckes erhalten haben. Doch das Vertrauen wuchs, und 1893 nahm Sybel den bewährten Helfer als Mitherausgeber in die Redaktion der Historischen Zeitschrift auf, die er 1859 in München begründet hatte und für die er schon immer Hilfskräfte brauchte, zuletzt vor Meinecke Max Lehmann, den streitbaren Herausgeber der Aktenpublikation »Preußen und die Katholische Kirche« und preisgekrönten Scharnhorst-Biographen, den Sybel schließlich 1889 offiziell als Mitherausgeber auf das Titelblatt setzte. Das war lange Jahre trotz der Eigenwilligkeit Lehmanns sehr gut gegangen, aber 1892/93 kam es zum * Gedächtnisrede auf Ranke, gehalten aus Anlaß des 50. Todestages in der Preußischen Akademie der Wissenschaften, als »Beigabe« der »Entstehung des Historismus« beigefügt.
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Einleitung des Herausgebers
Zerwürfnis 7 , und Meinecke wurde Lehmanns Nachfolger mit den gleichen Rechten und Pflichten, die in der selbständigen Leitung des Besprechungswesens und der Vorwahl der aufzunehmenden Aufsätze bestanden. Beides, das Archiv und die Historische Zeitschrift, ließ Meinecke stärker an dem Getriebe und der Organisation der Wissenschaft teilnehmen, als es ihm bei seiner persönlichen Zurückhaltung und selbst einer gewissen Schüchternheit in seinen jüngeren Jahren sonst wohl beschieden gewesen wäre. Die Historische Zeitschrift aber übernahm Meinecke alsbald ganz selbständig, als Sybel 1895 gestorben war und der auf Meineckes Vorschlag als Nachfolger gewonnene Treitsdike bereits nach einem halben Jahr ebenfalls aus dem Leben schied. Nim trug man Meinecke die alleinige Herausgeberschaft unter Mitwirkung eines ständigen Mitarbeiterstabes an, der ihn indessen nur unterstützte, nicht aber bestimmenden Einfluß hatte. Damit war Meinecke verhältnismäßig früh an eine entscheidende Position innerhalb der Historikerzunft gelangt, die ihm Einfluß und Einblick gewährte in die sachlichen und persönlichen Verhältnisse der zeitgenössischen Geschichtsschreibung, und hier hat er, noch ehe er seine eigenen großen grundlegenden Werke geschrieben hatte, eine deutlich ausgeprägte selbständige Stellung eingenommen, deren Auswirkung mit der zunehmenden Bedeutung seiner Leistung unmerklich aber stetig wuchs. Natürlich hat dabei das Sybelsche Erbe anfangs stark nachgewirkt. Aber Sybel war überhaupt, wie sich Meinecke späterhin noch erinnerte und stets dankbar anerkannte, ein guter Lehrmeister in den praktischen Dingen der Wissenschaftspflege gewesen, und Meinecke wußte sich mit ihm im tiefsten seiner Ansichten über die Aufgaben der Geschichtsschreibung einverstanden, und dies gerade auch gegenüber den zeitgenössischen Strömungen, die zu neuen Ufern strebten. Inwiefern Meinecke selbst mit seiner eigenen Leistung etwas Neues in der Historio7
Vgl. jetzt Waltraud Reichel, Studien zur Wandlung von Max Lehmanns Geschichtsbild. Göttingen 1963 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 34), S. 176 f. Dazu die Briefe in den Anlagen zu: Theodor Schieder, Die deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der HZ, im Jubiläumsband zum 100jährigen Bestehen der Historischen Zeitschrift, Bd. 189 (1959), S. 75 ff.
Einleitung des Herausgebers
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graphie bedeutete, das trat in den Anfängen seiner Laufbahn noch nicht recht in Erscheinung und war ihm selbst audi trotz selbständiger Regungen nodi keineswegs bewußt. Ihm sdiwebte eine »psychologische Vertiefung in die Seelen der einzelnen Staatsmänner« zur besseren Erfassung historisdier Phänomene vor8. Das hatte er dann audi schon am Boyen bewiesen. Indessen blieb er damit in der Hauptsache in den Bahnen der bisherigen großen deutschen Gesdiiditstradition, die für ihn vor allem durch den Namen Rankes gekennzeichnet wurde, und wenn andere über Ranke hinauskommen zu müssen meinten, so war er in Übereinstimmung mit Max Lenz, Hans Delbrück, Otto Hintze, Erich Mardks eher der Meinung, daß die anderen eben Ranke nicht richtig und in der Tiefe begriffen hätten. Es versteht sich, daß die Historisdie Zeitschrift, die er herausgab, seine öffentliche Stellungnahme zu derartigen Fragen nicht nur nahelegte, sondern geradezu forderte, zum mindesten mußte er sich über die in dieser Beziehung einzuhaltende Linie entscheiden, und es konnte nicht ausbleiben, daß er, audi wenn er vieles an Mitarbeiter vergab, dodi audi selbst das Wort nahm. Und es ergab sich als ebenso selbstverständlidi, daß er audi außerhalb der Zeitschrift sich in demselben Sinne äußerte. Das hat sich in mehrfacher Weise ausgewirkt, einmal in eigener Beschäftigung mit den Problemen der klassischen deutschen Geschichtsschreibung, dann aber in der fortgesetzten Beobachtung, Berichterstattung und Auseinandersetzung mit den Streitfragen der Zeit, wozu schließlich als drittes, und das in steter Zunahme mit dem Wachstum der eigenen Bedeutung als profilierter deutscher Historiker, die Aufgabe kam, in Nachrufen für Verstorbene und in Festsdiriftbeiträgen und Glückwunschadressen für Lebende die Linien der zeitgenössischen Historiographie sichtbar werden zu lassen, mit denen jeweils die persönliche Leistung der einzelnen Individuen verbunden war. Mit alledem waren bei seinem Eintritt in die Redaktion der Historischen Zeitschrift die Weichen dort durch Sybel einigermaßen gestellt. Aber es war doch der eigene Elan und die eigene Nuance, die er darin sehr bald und immer stärker zur Geltung brachte. So fand er die Polemik mit Karl Lamprecht bereits vor, 8
Vgl. Meineckes Erinnerungen »Erlebtes 1862-1901« (1941), S. 169. Dazu etwa sein Brief an Erich Mareks v. 1.10.1897, Briefwechsel a.a.O., S. 14.
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Einleitung des Herausgebers
der mit seiner sogenannten kollektivistischen Geschichtsauffassung eine neue Richtung der Geschichtsschreibung in Deutschland heraufführen wollte. Heute ist der Streit verblaßt, ja man kann hier und da sogar gelegentlich der Meinimg begegnen, Lamprecht habe eigentlich so Unrecht nicht gehabt, was freilich auch wieder ein Mißverständnis ist. Natürlich war manches ganz richtig, was er sich vornahm. Selbst die Überheblichkeit, mit der er sich als Künder neuer Wege und Ziele hinstellte, mochte nodi hingehen. Aber zweierlei brachte die Mehrheit der Zunftgenossen gegen ihn auf; das war einmal die uferlose Spekulation und die gedankliche Unklarheit, die ihm nicht einmal eine geradlinige Argumentation in der Polemik möglich machte, und andererseits die Fülle von faktischen Unrichtigkeiten, die ihm unterliefen. Er war ausgegangen von Studien zur mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte und dabei auf die Bedeutung überindividueller Faktoren in der Geschichte aufmerksam geworden, die ihm in der Rankeschen Geschichtsschreibung nicht genügend zur Geltung gekommen zu sein schienen. Seit 1890 waren die ersten Bände seiner »Deutschen Geschichte« erschienen, in denen er in der Praktizierung seiner kollektivistischen Geschichtsauffassung bis zu begrifflich schematischer Festlegung einzelner Zeitalter und sich weit von der Empirie entfernender Spekulation ging. Die ersten drei Bände übernahm Georg von Below zur Besprechung, was von vornherein bei der Natur und Einstellung Belows einen frischen Kampf erwarten lassen mußte, gewiß mit Billigung Sybels. Meinecke hat das eingegangene Manuskript dem hohen Chef vorgelegt. Jedenfalls haben sich die Begleitzeilen erhalten, mit denen Sybel unter dem 21. Juli 1893 zwei Beiträge für die Zeitschrift an Meinedce zurücksandte, darunter: »2) Belows Recension über Lampredit, die ich mehrfach polirt habe. Ich denke, sie kann so hinausgehn. Sagen Sie mir Ihre Meinung darüber·.« Womit Meineckes diesbezügliche Bemerkung in seinen Erinnerungen eindeutig belegt wird, nur daß wir die Änderungen Sybels nicht im einzelnen nachweisen können. Meinedce sagt, Sybel habe »noch einige grundsätzliche Schärfen« eingefügt. Damit hatte die Historische Zeitschrift Stellung genommen, und Meinedce war durchaus gewillt, die Polemik gegen Lamprecht im • Nachlaß Meinedce Nr. 41, dazu Meinedces Erinnerungen »Erlebtes 1862-1901«, S. 195.
Einleitung des Herausgebers
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Sinne Sybels fortzuführen. Gerade sie war für ihn bei seiner Stellungnahme in der Nachfolgefrage Sybels bestimmend gewesen: Karl Lamprecht hätte die Zeitschrift gern übernommen und bemühte sich sehr darum. Das hatte Meinecke damals verhindert, und es zeugt von dem Gewicht, das seine Persönlichkeit bei aller ihm eigenen Bescheidenheit ganz unwillkürlich bereits besaß, daß er sich ohne weiteres hatte durchsetzen können10. Allerdings war Treitsdike auch ein wirkungsvoller Gegenkandidat gewesen, aber der Nachfolger Treitschkes ist er dann selbst geworden, und die Historische Zeitschrift wurde damit für rund vierzig Jahre seine eigenste und persönlichste Domäne, neben die später die Akademie der Wissenschaften und die verschiedenen Historischen Kommissionen mit wechselnder Bedeutung traten. Doch fällt das mehr in das Gebiet der Wissenschaftsorganisation, das hier nicht weiter behandelt zu werden braucht11. In der Lamprecht-Diskussion hat Meinecke sich zunächst persönlich zurückgehalten. Er wollte mit seiner Boyen-Biographie fertig werden und sich nicht oder dodi möglichst wenig ablenken lassen. Da war er dankbar, daß Max Lenz den fünften Band der Deutschen Geschichte sehr zu seiner Befriedigung kritisierte12, daß Otto Hintze unmittelbar darauf eine grundsätzliche Auseinandersetzung »Über individualistische und kollektivistische Geschichtsauffassung« beisteuerte13 und Georg von Below noch einmal in einer längeren Abhandlung alles zusammenfaßte14. Meinecke war der Ansicht, daß sich die Zunftgenossen zu wenig mit den Grundsatzfragen ihrer Wissenschaft beschäftigt hätten: »Nationalökonomen, Philosophen und Juristen denken mehr über die allgemeinen geschichtlichen Probleme nach, wie die Durchschnitts " A u ß e r Meineckes Erinnerungen die diesbezügliche Korrespondenz, die Theodor Sdiieder im Jubiläumsband der Historischen Zeitschrift, Bd. 189 (1959), S. 79 ff., abgedruckt hat. 11 Dazu vorläufig Hermann Heimpel, Ober Organisationsfonnen historischer Forschung, in: Historische Zeitschrift, Bd. 189 a.a.O., S. 139 ff. " Historische Zeitschrift, Bd. 77 (1896). 11 Historische Zeitschrift, Bd. 78 (1897), wiederabgedruckt: Hintze, Ges. Abhandlungen, Bd. II, 2. Aufl., hrsg. von Gerhard Oestreich (1964), S. 315-322. 14 »Die neue historische Methode«, Historische Zeitschrift, Bd. 81 (1898), dazu Meinedce an Below 1. 12. 1897, Briefwechsel (Werke, Bd. VI), S. 15.
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Einleitung des Herausgebers
historiker. Lamprecht würde sich nie so breit haben machen können, wenn es damit besser bestellt wäre15.« Dodi wurde Meinecke persönlich in die Fehde hineingezogen, weil er in seinem Nachruf auf Sybel eine Bemerkung über »eine stark positivistisch denkende« Riditung der modernen Geschichtswissenschaft gemacht hatte, die Lamprecht sofort auf sich bezog und mit einem direkten Gegenangriff beantwortete, so daß sich in Replik, Duplik und Schlußwort eine unmittelbare Polemik ergab1·. Die hier angeschnittenen Streitfragen hingen für Meinecke zuletzt alle mit dem Problem von Willensfreiheit und Notwendigkeit in der Geschichte zusammen, das Meinecke von jeher lebhaft beschäftigte17, und die Anwendung des Terminus »Positivismus« oder »positivistisch« auf derartige Standpunkte in der Wissenschaft zeigt, wie sehr für ihn dies alles in eine große Richtung, zusammen mit Henry Thomas Buckle gehörte, den seiner Zeit schon sein Lehrer Droysen abgelehnt hatte. Meinecke hat ebenso audi Breysigs Eliminierung der Willensfreiheit durch die »entwicklungsgesdiiditliche Methode« zurückgewiesen18 und hat ihm später noch ganz allgemein einen »verfeinerten Positivismus« vorgeworfen". Allerdings hat Meinecke wohl gewußt, daß Breysig sehr viel feiner gewesen ist als Lamprecht, aber sie sprachen beide von »Kulturzeitaltern«, auch wenn sie diese sehr verschieden faßten und bezeichneten, und es ist charakteristisch für Meinecke, daß er die Übereinstimmung oder den Parallelismus beider in dieser Beziehung sofort bemerkte. Speziell auf die Geschichtsschreibung gesehen, handelte es sich um den Zwiespalt zwischen politischer und Kulturgeschichte, und es war gewiß kein grundsätzlicher Unterschied, wenn Lamprecht dabei von der Kulturgeschichte als dem höchsten Ziel aller Geschichtsschreibung, die alles andere in sich schließe, Breysig dagegen von einer »Geschichte der Seele« 15
An Below 9. 8. 1896, ebda. S. 12. Vgl. unten, S. 321 ff. 17 Vgl. »Willensfreiheit und Geschichtswissenschaft«, Werke IV 3 ff. 18 Notiz in der Historischen Zeitschrift, Bd. 78 (1897), S. 344 im Anschluß an eine Anzeige von Breysigs Betrachtungen »Über Entwicklungsgeschichte« in der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft N. F., Bd. I, durch Meineckes Mitarbeiter Ewald. " Vgl. Meineckes Briefe an Breysig von 1936, Briefwechsel a.a.O., S. 166 und 169. 18
Einleitung des Herausgebers
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gesprochen hat. Freilich subsummierten beide das Staatliche mit unter ihre Oberbegriffe, und Lampredit erkannte das X der Individualität durchaus an, nur meinte er eben, daß es als irrationale Größe nicht Gegenstand der Wissenschaft sein könnte. Andererseits aber hat Meinecke niemals die Wirksamkeit kollektiver Kräfte in der Geschichte geleugnet, er faßte sie nur als zusammengesetzte oder übergeordnete und höhere »Individualitäten« auf, die als soldie aus sich heraus verstanden werden müßten. Außerdem spielte noch die zwischen Meinecke und Otto Hintze in lebhaftem Freundesgespräch diskutierte Frage nach den Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte hier mit hinein*0. Trotzdem konnte man in der Theorie weitgehend zusammenkommen. Das Problem war, wie man die Kulturen und überhaupt alle möglichen kollektiven Gebilde und Bewegungen verständlich machen und in der einleuchtenden Darstellung zur Anschauung bringen konnte. Daß die wirtschaftlichen Kräfte in der Geschichte einen wichtigen Faktor bedeuteten, hat niemals jemand ernsthaft bestritten, aber man durfte sie nicht als die allein ausschlaggebenden ansehen. Meinecke hat in dieser Beziehung alle willkürlichen Abstraktionen abgelehnt, in denen sich sowohl Lampredit wie Breysig, ein jeder in seiner Weise, großzügig ergingen. Doch hat er Lamprechts Publikationen und auch sein Wirken in dem 1909 von ihm neu geschaffenen Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte mit lebhaftem Interesse weiterverfolgt 11 und ihm schließlich sogar selbst den Nachruf in der Historischen Zeitschrift geschrieben, als der viel Umstrittene vorzeitig auf der Höhe seiner Tätigkeit, noch nicht 60 Jahre alt, plötzlich aus dem Leben gerufen wurde. Meinecke hat ihn da »als unersetzliche Individualität großen Stiles und als Ausdruck gärender Bedürfnisse unserer Zeit« gewürdigt, audi hier bemüht, dem Wesensfremden in der Eigenart seiner Erscheinung und seines Strebens gerecht zu werden 0 . Meinecke bemerkte außerdem, daß gerade diejenigen Historiker, die wie Max Lenz oder Hans Delbrück anfangs besonders "Vgl. Meinedces Erinnerungen »Erlebtes 1862-1901«, S. 157f. Dazu jetzt auch Gerhard Oestreich in der Einleitung zu Bd. II von Otto Hintzes Ges. Abhandlungen, 2. Aufl., 1964. »Vgl. unten, S. 328 ff. » Vgl. unten, S. 331 f.
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Einleitung des Herausgebers
energisch gegen Lamprecht und die »kollektivistisdie Geschichtsauffassung« aufgetreten waren, ihrerseits selbst den kollektiven Faktoren in der Geschichte allmählich weitgehend Rechnung trugen, ja dazu neigten, die Individualität geradezu aufgehen zu lassen in dem Wirken der »Großen Mächte«, wie etwa bei Napoleon I. oder Friedrich Wilhelm IV.: »So tritt also das Individuelle zurück hinter dem Allgemeinen; das Subjekt wird, um aus Rankes Wallenstein zu zitieren, der Ausdruck einer audi außer ihm vorhandenen allgemeinen Tendenz.« Dies alles aus einem an sich korrekten Streben nach möglichst unvoreingenommener objektiver Betrachtungsweise heraus, aber: »Der Scylla des politischen Vorurteils sind sie glücklich entronnen, um dafür an der Charybdis eines spekulativen Vorurteils zu stranden.« Beide Gefahren gilt es zu meiden. »Ruhiges Vergleichen von Individuum und Umwelt mit der Absicht, beiden gerecht zu werden«, das hat Meinecke demgegenüber als Ziel der Geschichtssdireibung proklamiert 15 . Man sieht, daß das Problem der kollektiven Mädite in der Geschichte ein sehr viel mehrgestaltiges ist, als es nach den Forderungen Lamprechts den Anschein haben konnte. Es war nicht nur der Gegensatz oder Unterschied von politischer und Kulturgeschichte, der damit angesprochen wurde, vielmehr handelte es sich dabei um alle möglichen, zum Teil sehr verschiedenartig strukturierten überindividuellen Gebilde, die sich zudem untereinander mannigfach überschneiden können. Nicht nur nach dem Standpunkt des Geschichtsschreibers, schon nach seiner Forschungsrichtung oder audi nur der Themasetzung im konkreten Fall tritt das eine oder andere stärker hervor, und die Kunst der Geschichtssdireibung besteht nicht zuletzt eben darin, trotz solcher stoffgebunden notwendigen Einseitigkeit doch den Gegenstand plastisch zur Wirkung kommen zu lassen. Zuletzt steht dahinter das Problem der Verschmelzung von Forschung und Darstellung in der Geschichtsschreibung; Erzählung und Urteil, Tatsachenbericht und Problemgeschichte, Ereignis- und Zustandsschilderung, Personen- und Institutionengesdiidite, Fakten- und Ideen28 Vgl. die Abhandlung »Friedrich Wilhelm IV. und Deutschland«, Historische Zeitschrift, Bd. 89 (1902), wiederabgedruckt : »Preußen und Deutschland«, S. 212 ff.
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gesdiichte, das sind die Pole, zwischen denen sich die moderne Geschichtsschreibung bewegt, und schon die einfachste Erzählung historischer Begebenheiten ist nicht möglich, ohne daß das Urteil des Erzählers die Fäden der Vorgänge an den geeigneten Punkten überschaubar zusammenfaßt. Meinecke hat wiederholt davon gesprochen, wie Heinrich von Sybel einmal zu ihm gesagt hätte": »Ihr Jungen könnt nicht mehr erzählen...« Damit hat er den Unterschied einer erörternden Problemforschung und einer erzählenden Tatsachengeschichte hervorgehoben, der in der Tat, wie Meinecke bewußt war, eine gewisse Wendung in der Entwicklung der Geschichtsschreibung der Zeit bedeutete. Er selbst bekannte sich gewissermaßen zur Partei der Problemgeschichtsschreibung, indem er sich auf dem Felde der Ideengeschichte spezialisierte. Der Herausgeber erinnert sich eines Gesprächs aus den dreißiger Jahren darüber, in dem Meinecke erwiderte, eine jede Zeit habe nun einmal ihre besondere Aufgabe, und im Augenblick sei dies auf dem Felde der Historie die Problemgesdiidite. Zuletzt aber ist er dann doch wieder dahin gekommen, für die Zukunft so etwas wie eine Synthese von beidem zu fordern, ohne freilich sich genauer dazu zu äußern: » . . . das ferne Ziel einer anschaulich erzählenden und problemgeschichtlich vertiefenden Geschichtsschreibung taucht auf25.« Auf jeden Fall hat er den Wert der erzählenden TatsachenGeschiditsschreibung im Stile von Ranke, Treitschke und Sybel immer hoch gehalten, und auch seine eigene Ideengeschichte strebte nach »Darstellung« und unmittelbarer Anschaulichkeit, nur daß es sich eben hier um ein anderes Objekt der Erzählung handelt, als wenn man Vorgänge der äußeren Realität zu schildern hat. Überhaupt aber hat er seine »Einseitigkeit« bei der Ideengeschichte, die er wohl kannte, als eine Notwendigkeit empfunden und nur davor gewarnt, daß man als Historiker seine im Arbeitsvorgang unvermeidliche Einseitigkeit verabsolutiere. So wollte er auch seine Art, Ideengeschichte zu treiben, wie er sie zugleich in seinen großen Hauptwerken immer feiner und stärker ausbildete, keinesfalls zum allgemeinen Maßstab für die Geschichtsschreibung » Vgl. unten über Sybel, S. 181 f.
,s
So in der »Gesdiichte und Politik« übersdiriebenen Ansprache an seinem goldenen Ordinariatsjubiläum 1951, die schon in: Werke, Bd. II, S. 494 ff. abgedruckt ist, aber audi in unseren Zusammenhang gehört.
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der Zukunft erheben. Er hat eher davor gewarnt, als zur Nachahmung aufgerufen. Er wußte, daß es vielerlei Arten geben müßte, Geschichte zu erforschen und darzustellen. Dann, und nur dann könne aus der Fülle individuell unendlich nuancierter Behandlungsweisen der Historie eine wirkliche Universalgeschichte erwachsen. Eben deshalb nahm er für seine Art das Redit in Anspruch, neben den anderen ihre Aufgabe wahrzunehmen, wie er das, bescheiden und selbstbewußt zugleich, vielleicht am klarsten in der Antrittsrede in der Berliner Akademie 2 ' und später noch einmal in der Ansprache bei seinem goldenen Ordinariatsjubiläum zum Ausdrude gebracht hat. Er suchte die Ideen anschaulich zu machen, so wie sie in der Wirklichkeit der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse wirksam geworden sind. Und audi die Historiker, audi die Zeitgenossen, wenn er sie würdigte, waren ihm in ihrer individuellen Eigenart Träger von Ideen, ohne deren Erfassung eine wahre und adäquate Geschichtsschreibung audi auf diesem Felde nicht möglich ist. In dieser Art der Historiographie bestand das eigentlich Neue, das heraufzog, Individualismus und Kollektivismus in eins, wenn man so will, und nicht in den verschiedenen Verwirrungen und Verirrungen, die unter mancherlei Anregung dodi wieder retardierend wirken konnten, so viel Neuartiges im einzelnen dabei mit unterlaufen konnte. Meinecke hat das, fest in den Traditionen Rankes und Sybels wurzelnd, mit den Besten seiner Zeit lebhaft empfunden und frühzeitig deutlich erkannt, und so sehen wir denn audi in seinen Studien zur Historiographie zugleich ein Spiegelbild dessen, was sich in ihm selbst vollzog. Meinedee hat dabei das »Alles-Verstehen« mit der Behauptung der eigenen Individualität zu vereinigen gewußt und auf diese Weise gewissermaßen praktisch einen »Historismus« betätigt, der, indem er alles und jedes an seinem Ort gelten läßt, dennoch oder vielmehr gerade deshalb ganz fest die eigene Position wahrt und ein selbständiges Urteil ermöglicht. Das zeigte sich schon in den frühen Besprechungen Meineckes, die er mehr referierend in ausführlicher Aufsatzform in Zeitungen und Zeitschriften wie der Täglichen Rundschau, dem Deutschen Wochenblatt, aber auch den «· Vgl. unten, S. 1 ff.
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Göttinger Gelehrten Anzeigen oder der Deutschen Literaturzeitung in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat erscheinen lassen17. Vollends die Historische Zeitschrift hielt er offen f ü r alle Spielarten der zeitgenössischen Wissenschaft und hat ihr dodi zugleich für mehr als vierzig Jahre den Stempel seines Wesens aufgeprägt, ein offenes Wort der Kritik nicht scheuend und nur bestrebt, keine endlosen unfruchtbaren Diskussionen aufkommen zu lassen. Dabei hat in Besprechungen und Nachrufen, ähnlich in den Glückwunschadressen für die Akademie der Wissenschaften speziell die zeitgenössische Geschichtsschreibung in Meinecke ihren Interpreten gefunden, und weiter zurück ist er, abgesehen von den Historismusstudien, nur bis zur großen klassischen Historiographie des 19. Jahrhunderts gegangen. Auch stand bei alledem die deutsche Geschichtsschreibung und Wissenschaft im Vordergrund, obsdion ganz selbstverständlich die Zeitschrift die gesamte internationale Forschung spiegelte, woran sich Meinecke in den ihn besonders interessierenden Fällen selbst beteiligte 28 . Aber es war nun einmal so, daß die Zeitschrift als Organ der deutschen Geschichtswissenschaft im Mitarbeiterkreis und in der Thematik entsprechend bestimmt wurde. Zudem konnten die politischen Ereignisse, die während Meineckes Lebenszeit das historische Weltbild entscheidend veränderten, nicht spurlos an den Heften der Zeitschrift vorübergehen. So zeigen sie deutlich die nationalpolitische Komponente der deutschen Geschichtsschreibung der Zeit. Nicht daß die Historie in Deutschland und speziell die Wissenschaft gänzlich dadurch beherrscht worden wäre. Meinecke konstatierte anfangs sogar das Auseinandertreten von Geschichtsschreibung und Nationalpolitik in der Nadi-Reichsgründungs-Epoche mit einem gewissen Bedauern. Es fehlte der nationalpolitische Impuls, den die vorangegangene Generation gehabt hätte, so meinte Meinecke. Dennoch war er da, wie wir hinterher deutlich sehen können, und wurde immer wieder geweckt durch die tief ein,7 D i e Bibliographie von Anne-Marie Reinold in der Historischen Zeitschrift 174 (1952), S. 503 ff., verzeichnet diese frühen Aufsätze in der Regel nicht und bedarf, wie überhaupt für die Besprechungen, der Ergänzung.
18 So Rezensionen der Bücher von G. P. Gooch, Koppel S. Pinson, Thomas Preston Peardon u. a.
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schneidenden Vorgänge, die Meinecke erlebte. Aber die Geschichtsschreibung mußte sich frei zu halten suchen von den verzerrenden und verfälschenden Einflüssen, die von jenem Impuls ausgehen konnten. »Das Eiland reiner Wissensdiaft, reiner und strenger geschichtlicher Betrachtung der Dinge"« galt es zu bewahren. Meinedces historiographische Studien dienten vorzüglich der Erkundung, aber audi der Erhaltung und der Befestigung dieses Eilandes. Dodi soll die Geschichtsschreibung, gerade indem sie den Geist reiner Betrachtung wahrt, gleichzeitig auch den Bedürfnissen des Tages dienen. Es versteht sich damit von selbst, daß sie den nationalpolitischen Impuls als solchen nicht verachtet. Nur darf sie den Einbruch der Politik in ihren Bereich nicht dulden. Freilich gibt es fast unmerkliche Verbindungen, und schon die Forderung nach Befriedigung der Tagesbedürfnisse konstituiert bis zu einem gewissen Grade eine Abhängigkeit der Geschichtsschreibung von der Politik. Meinecke hat diesen unentrinnbaren Zirkel klaren Blickes erkannt und leidend erfahren. Das »Eiland der Wissenschaft« bedeutete für ihn keineswegs Selbstisolierung, sondern den festen und unberührbaren Punkt inmitten des Getriebes der Welt, das eben gerade von diesem Punkte aus wahrgenommen und gedeutet werden sollte. Daß diese Deutung im Verlauf der Zeiten mannigfache Tönung und Abwandlung erfuhr, ist selbstverständlich, und es ist schon oft geschildert und gerade als ein rühmendes Merkmal seiner Geschichtsschreibung gewertet worden, wie Meineckes eigenes Lebenswerk auf das feinste die Regungen seiner Zeit in sich aufgenommen hat. Sehr deutlich sprechen das besonders seine programmatischen Äußerungen aus, wie er sie vor allen den Jubiläumsbänden der Historischen Zeitschrift mit auf den Weg gab, die denn auch unter seinen kleinen Schriften zur Historiographie nicht fehlen dürfen. In diesen Geleitworten kommt unmittelbar der historische Moment zur Zeit ihrer Abfassung zu Worte, und so gehören sie mit zu dem Vergänglichsten an materialem Gehalt. Aber es handelt sich in ihnen doch audi wieder nicht um rein politisch beeinflußte Publizistik, von der Meinecke die Historische Zeitschrift 19 »Die deutsche Geschichtswissenschaft und die modernen Bedürfnisse«, zuerst 1916, Werke IV, S. 172.
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stets grundsätzlich frei gehalten hat. So finden wir denn audi in dem Geleitwort zum 100. Bande überhaupt kein politisches Wort, und nur der Dank an den Verleger für die Wahrung der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Redaktion gegenüber allen unsachlidien Einflüssen könnte daran denken lassen, daß darunter auch eine politische Einwirkung zu verstehen wäre. Es war ganz selbstverständlich in der Situation von 1908, daß sie ferngehalten wurde. Das war anders, als 1934 der 150. Band erschien. Der Totalitarismus des Nationalsozialismus konnte vor der Geschichtswissenschaft nicht halt machen, und es war die Frage, wie die führende deutsche historische Zeitschrift dabei ihren Platz behaupten konnte. Der Anstoß, das Anderthalbhundert der bisher erschienenen Bände und den in dasselbe Jahr fallenden 100. Geburtstag Treitschkes zum Anlaß einer programmatischen Äußerung zu nehmen, ging vom Verlag aus, und Meinecke griff die Anregung auf, um die Manen des Geschichtsschreibers des 19. Jahrhunderts gegen die antihistoristischen Tendenzen der Zeit heraufzubeschwören. Er versuchte ihn, wie er an Kaehler schrieb'0, »als toten Cid Compeador auf der Mauer erscheinen zu lassen«. Dabei hat Meinecke die Einseitigkeiten von Treitschkes Borussismus, die er sonst wohl als Schattenseiten seiner glänzenden Darstellungskunst empfunden hat, übergangen und sich wesentlich auf Treitschkes »Vorbemerkung« zu Band 76 (1896) der Zeitschrift bezogen, die sehr eindringlich Staat und Persönlichkeit als die Brennpunkte der Geschichtsschreibung, wie sie sein sollte, hervorgehoben hatte. Das war eine Auffassung, der Meinecke selbst an sich gar nidit so fern stand. In dem Aufsatz »Kausalitäten und Werte in der Geschichte« hat er den Staat »den kausal wirksamsten Faktor des geschichtlichen Lebens«, und die politische Geschichte »die lebensnächste der historischen Wissenschaften« genannt und damit tiefer, als es sonst wohl gesdiehen war, »die zentrale Bedeutung der politischen Geschichtsschreibung innerhalb der historischen Wissenschaften« begründet31. Seine im Herbst 1932 erschienene neue Sammlung kleiner Schriften aber ließ er im offenen Bekenntnis, worauf es ihm ankam, unter dem Titel »Staat und Persönlichkeit« hinausgehen. 10 11
Briefwechsel, Werke, Bd. VI, S. 347. Werke, Bd. IV, S. 86 f.
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Man hätte deshalb denken können, daß für Meinecke in der Situation von 1934 nidits näher gelegen hätte, als den Primat der politischen Geschiditssdireibung im Anschluß an Treitsdike zu verkünden. Gerade das aber hat Meinecke nicht getan, sondern er hat im Gegenteil eine Einseitigkeit Treitsdikes »in der engen Begrenzung dessen, was er >historisdi< nennt«, aufgezeigt. Er wiederholte das Bekenntnis zum Staate mit dem die staatliche Verpflichtung des Individuums charakteristisch einschränkenden Zusatz, daß »es — nächst den Pflichten, die der Einzelseele gegenüber allem Göttlichen obliegen — die höchste und dringendste aller sittlichen Aufgaben ist, für Staat und Volkstum zu leben«. Und dann hat er die einseitige Betonung des Staatsgedankens in Treitsdikes Geschichtsschreibung benutzt, um dagegen einer Ausweitung des Begriffs des »Historischen« in die weiteren Lebensbereiche hinein das Wort zu reden, wofür er dann sogar den Nationalsozialismus, oder richtiger: vom Nationalsozialismus besonders geförderte und aufgewertete Gebiete der Geschichte angeführt hat. Dai konnte auf den ersten Blick wohl wie eine »Konzession« an die nationalsozialistische Weltanschauung wirken", war es aber doch nicht; denn die Einbeziehung möglichst weiter Lebensbereiche in die geschichtliche Betrachtung entsprach einer grundsätzlichen und tiefen Überzeugung Meineckes. Seine eigene Forschung hatte von dem Zentrum des Politischen aus immer weitere Kreise geschlagen, so daß seine Entstehungsgeschichte des Historimus schließlich in Goethe gipfelte, und es gab für ihn letztlich keinen Bereich des Menschlichen, der nicht der historischen Betrachtung zugleich würdig und bedürftig wäre, so daß in seiner Erfassung als historischer Erscheinung immer ein Gewinn für die Erweiterung des Geschichtsbildes und der Universalgeschichte besteht. Wenn dabei irgendeine politische Bewegung, und sei es die des Nationalsozialismus, aus ihren Bedürfnissen heraus bisher vernachlässigten oder weniger beachteten Sparten der Historie das Interesse zuwandte, so war damit durchaus nicht etwa etwas Abträgliches für den Geist der Wissenschaft geschehen, im Gegenteil immer Anregung und Bereicherung zu erwarten; dies allerdings 32 Waither Hofer, Geschichte zwischen Philosophie und Politik. Stuttgart 1956. S. 93, Anm. 31: »Seine relativ größte geistige Konzession an den Nationalsozialismus... nur zu verstehen aus der Situation heraus...«
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unter einer Voraussetzung: » . . . nur das aus reinem wissenschaftlichen Wahrheitsbedürfnis Geschaffene wird dabei auf die Dauer von Bestand bleiben.« Insofern konnte dann sogar der Nationalsozialismus mit der Befruchtung peripherer historischer Gebiete über Treitschke mit seiner einseitig auf den Staat eingestellten Geschichtsschreibung hinauskommen. So wurde aber gleichzeitig audi der nationale Heros der deutschen Historie in den gefährlichen Konsequenzen in bezug auf die Omnipotenz des Staates mit den Mitteln nationalsozialistisch durchaus anerkannter Werte bekämpft. Meinecke nannte damals Praehistorie, Heimats- und Volkstumsgesdiidite, Genealogie und Erforschung der Ahnen als solche Forderungen an die Geschichtswissenschaft, die die neue Zeit mit Nachdruck stellte, und mochte dabei wohl auch insgeheim an die eigenen mythologisch-volkskundlichen Bestrebungen seiner Jugend zurückdenken. Bei der nachträglichen Aufnahme des Aufsatzes in seine Sammlung »Vom geschichtlichen Sinn« in der 3. und 4. Auflage hat er dann hinzugefügt, »daß diese neu an uns herantretenden Forderungen auch in dem Erbgute unserer Wissenschaft wurzeln«. Offen, wie Meinecke persönlich allen Lebensäußerungen und menschlichen Bereichen war, hielt er auch alledem die Hefte der Historischen Zeitschrift offen, und sein Geleitwort von 1934 war ein Appell an das Wahrheitsgewissen der Wissenschaft, den er mit der sonst in seinem Munde ungewöhnlichen Berufung auf das Johannes-Evangelium ausklingen ließ: »Die Wahrheit wird euch frei machen.« Das war keine Konzession, sondern eine Mahnung, und der Verlag erbat mancherlei Änderungen und Milderungen an dem Wortlaut, geleitet von dem Bestreben, möglichst wenig Anstoß zu erregen und doch auch wieder dem Anliegen des Herausgebers gerecht zu werden. Man ließ sich dabei auch von Karl Alexander von Müller beraten, der in München an Ort und Stelle war und das feinere Ohr für die jetzt notwendigen Töne hatte. Man kann nicht einmal sagen, daß diese Änderungswünsche sehr wichtige Dinge betrafen, und Meinecke hat ihnen denn audi in den meisten Fällen entsprochen, soweit sie nicht gegen seine Überzeugung gingen". Konzessionen konnte es für ihn höchstens in 33 Die Änderungen bzw. Änderungswünsche sind unten, S. 14ff.,vermerkt.
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Personalfragen geben, und audi dann nur, wenn sie absolut zwingend waren. Dazu gehörte die ihm bitter schwer gewordene Entlassung von Hedwig Hintze, der Frau seines alten Freundes Otto Hintze, aus dem Kreis der ständigen Mitarbeiter der Zeitschrift'4. In ähnlicher Weise hatte er Gustav Mayer gebeten, aus der Historischen Reichskommission auszutreten. Er war aber niemals gewillt, politische Einflüsse auf die wissenschaftliche Arbeit selbst zu dulden, und ihr wollte er die Zeitschrift erhalten, um die nunmehr der Kampf ging. Meineckes tiefster Schmerz war, daß ihn die Fachkollegen in diesem Kampf nur unvollkommen unterstützt haben. Überall machte sich das Bestreben geltend, mit der Zeit mitzugehen. Deshalb konnte Meinecke einer Erweiterung des Herausgebergremiums der Zeitschrift auch nur zustimmen, wenn sein absolutes Veto bei der Annahme der Beiträge gewahrt blieb. Daran ist damals die Hereinnahme des Althistorikers Helmut Berve in den Editorenkreis gescheitert, mit der die Zeitschrift gegenüber dem Andrängen der Anhänger der neuen Zeit legitimiert werden sollte®5. Es ist freilich sehr die Frage, ob damit in der Situation von 1934 wirklich viel geholfen gewesen wäre. Meinecke konnte jedenfalls in diesem Punkte nicht nachgeben. Damit war das Schicksal der Zeitschrift besiegelt. Gewiß kam dabei mehreres zusammen. Auch der Verlag war mit Meineckes Redaktionsführung nicht mehr ganz einverstanden, man fand, daß er mit über 70 Jahren nun dodi bald einmal jüngeren Kräften Platz machen müßte. Der Mitherausgeber Brackmann wollte sich nicht mit ihm solidarisch erklären. Im Ganzen war es doch die neue politische Richtung, die den Ton angab und Meinecke als Herausgeber der Zeitschrift nicht länger dulden wollte. Dem fügte sich der Verleger und der Mitherausgeber. Es blieb nur der Verzicht, zu dem sich Meinecke schweren Herzens verstehen mußte, nicht ohne Bitternis in der ®4 Gemeinsames Schreiben von Meinedce und Brackmann an Hedwig Hintze vom 20. 5.1933 im eigenhändigen Konzept Meineckes im Nachlaß, Nachtrag Nr. 23. Ebda. Otto Hintzes Aufsagung seiner Mitarbeiterschaft vom 18.11.1933. 85 Nach der Korrespondenz im Nachlaß Meinecke. Im übrigen darüber soeben detailliert, wenn auch nicht überall atmosphärisch richtig getroffen mit einer Fülle unglücklicher Seitenhiebe: Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands. Stuttgart 1966.
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Seele, die erst mit der Zeit überwunden werden konnte und audi um deswillen nicht geringer wurde, daß nidit ein aufsteigender Stern am näditlidien NS-Himmel, sondern ein alter Kollege in der Person von Karl Alexander von Müller in Mündien an seine Stelle trat, der sich durch seine politische Willfährigkeit und nationale Gesinnung in gleicher Weise empfahl. Die politische Mentorschaft nahm von Anfang an Walter Frank in Anspruch, eine Art Wunderkind der Wissenschaft, voller Tatendrang und Selbstbewußtsein, ein alter Schüler Müllers, dem auch Meinecke in den Anfängen seiner Laufbahn nicht die Anerkennung versagt hatte. Er ritt scharfe Attacken gegen verschiedene Vertreter der älteren Generation, vor allem 1935 gegen Hermann Ondeen und erzwang dadurch dessen abrupte Emeritierung. Meinecke führte nodi die Auseinandersetzung mit der »neuen Richtung«, für die angeblich generell »die Jugend« war, in den letzten Rezensionen, die er für die Historische Zeitschrift beisteuerte, und trat dabei entschieden für Ondeen ein". Aber die Aufnahme des Akademievortrags Onckens über die »Wandlungen des Geschichtsbildes in revolutionären Epochen«, der den Angriff Franks hervorgerufen hatte, in das letzte nodi von Meinecke herauszugebende Heft scheiterte an dem Widerspruch des Verlages. Der Vortrag ist erst nachträglich 1959 von Theodor Schieder in den Jubiläumsband aus Anlaß des hundertjährigen Bestehens der Zeitschrift mit aufgenommen worden. Meinecke hatte vergebens gewarnt und gemahnt. Aber im Grunde war das keine Frage der Historiographie, es ging vielmehr um die politische Entscheidung, und die Geschichtswissenschaft war nur insofern davon betroffen, als ihre Träger sich politisch entscheiden mußten, ob sie den Weg ins Verderben lobpreisend mitmachen wollten oder nicht. Es war gar nicht die Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft, die in einer Wandlung begriffen war, sondern eine neue politische Richtung kam zur Herrschaft, die von einem ausgesprochenen Antihistorismus geprägt war, und diejenigen, die sie bejahten und mitmachten, konnten infolgedessen überhaupt keine Geschichte mehr schreiben, weil ihnen die Geschichte fremd geworden war. Das hat nidit jeder sogleich richtig gesehen, und mancher, der anfangs M
Vgl. unten, S. 447 ff.
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mitmadite, ist später umgekehrt. Audi Menschlichkeiten konnten dabei mit unterlaufen. Unter den Älteren aber haben diejenigen die neue Zeit begrüßt, die in ihr die Rückkehr zu nationalistischen Parolen, zu nordischer Heldenhaftigkeit und germanischer Tradition sahen, die die »Realitäten« anerkannten, die einem »Ideenhistoriker« natürlich wesensfremd bleiben mußten, wie man meinte. Das hat Meinecke zu spüren bekommen, obwohl dieselben Stimmen dann audi wieder die Verbundenheit mit ihm betonten und die Ehrenrettung versuchten, wenn aus dem Lager der Radikalen dieUnbedingtheit entschiedener Konsequenz auch und gerade mit Meinecke ins Gericht ging. Man konnte es sehr anerkennenswert finden, wenn etwa Heinrich von Srbik gegen das »Reichskrankheitsbuch« von Steding, wie wir damals spotteten, Stellung und Jacob Burckhardt in Schutz nahm, wenn er Meinecke gegen einen Gerhard Schröder verteidigte, wenn Karl Alexander von Müller Meinedces kleine Aufsätze in der Sammlung »Vom geschichtlichen Sinn« pries als feinste Blüten, und man hat dabei wenig beachtet, daß diese Lobespillen fein dosiert waren mit peinlich wirkender Distanzierung von seiner demokratischen Haltung und mit Kritik an seiner Unterscheidung von Ethos und Kratos mit der Gefahr der »gedanklichen Überfeinerung«, die ein spätes Epigonentum verrate, gewiß die feinste Blüte des Epigonenzeitalters, aber etwas, was nicht oder nicht mehr unsere Meinung sein könne, audi wenn man voll Ehrfurcht eine Weile im stillen Gedenken davor stehenbleibt und die Lästerer verabscheut: Im Grundsätzlichen weiß man sidi mit ihnen doch eins und verurteilt nur die Übertreibungen. Das gilt für Srbik wie für Müller, audi wenn sie sich von allzu scharfen Invektiven hörbar distanzierten". Selbst Walter Frank bezeigte doch bei aller Gegnerschaft gelegentlich persönliche Hochachtung". Im Juli 1936 begegneten sich Meinecke und Walter Frank am Sarge der Tochter Treitsdikes und hielten nacheinander ein jeder eine Gedenkrede: Meinecke »mußte an die Legende vom Grabe
®7 Vgl. vor allem die Rezensionen Srbiks über Schröder und Müllers über Meineckes Aufsatzsammlung in der Historischen Zeitschrift, Bd. 162 (1940), S. 335 ff., dazu in Bd. 163 das Vorwort des Herausgebers. 58 Vgl. den Briefwechsel zwischen Frank und Meinecke, den Schieder im Jubiläumsband 189, S. 102 ff., abgedruckt hat.
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Mosis denken, um das die Geister streiten".« Historismus und Antihistorismus standen sich unmittelbar gegenüber. Karl Alexander von Müller freilich versuchte es mit beiden Lagern zu halten und brachte es fertig, Meinecke zum 80. Geburtstag in Band 167 der Historischen Zeitschrift eine Festschrift darzubringen, ohne daß — abgesehen von einigen vergleichsweise harmlosen Anpassungsfloskeln — ein ausgesprochen nationalsozialistischer Beitrag darin enthalten gewesen wäre. Aber da war Walter Frank persönlich bereits internen Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen, und die große Politik interessierte sich im Moment nicht für die Querelen der Wissenschaft, in der Jahreswende von 1942/43 vollzog sich die große Peripetie des nationalsozialistischen Schicksals. Karl Alexander von Müller war indessen zweifellos der ehrlichen Überzeugung, mit der Uberleitung der Historischen Zeitschrift aus der »alten« in eine »neue« Zeit der deutschen Wissenschaft und ihren bewährten Traditionen den besten Dienst zu leisten. Meinecke war darin anderer Ansicht, weil er vom »Brükkensdilagen« nichts hielt, wenn die Kluft so tief und so breit war40. Mit der Historischen Zeitschrift aber fehlte Meinecke die ständige Veranlassung zu Stellungnahme und Mitwirkung am Fortgang der kritischen Diskussion und der referierenden Beobachtung, wie er sie bisher geübt hatte. Er zog sidi auf die Akademie zurück, die ihm »ein willkommenes Altmännerasyl« wurde, und führte auf dieser »schmelzenden Eisscholle nodi ein unbehelligtes Dasein41«, bis er nach Krieg und Zusammenbruch 1950 dann auch dieses Band aus politischen Gründen löste. So sind die letzten kleinen Schriften Meineckes zur Historiographie für die Akademie und für Festschriften und Zeitungen geschrieben worden, zum Teil immer noch Gelegenheitspublizistik, veranlaßt durch eine Aufforderung oder durch eine Buchveröffentlichung, aber stets mit einer im Alter und in der Absonderung vom bisherigen Getriebe noch stärker hervortretenden eigenen Note. Die letzte umfangreichere Arbeit, die er aus eigenem « A n Srbik 5.7.1936, Briefwechsel, Werke VI, S. 168 f. Leider hat sich im Nachlaß keine Aufzeichnung von dieser Gedenkrede feststellen lassen. 40 Vgl. an Srbik 8.11. 1935, ebda., S. 164. 41 Vgl. an Srbik 5. 7.1936, Briefwechsel a.a.O., S. 168.
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Antriebe vornahm, richtete sidi noch einmal auf die größten Geschichtsschreiber und Geschichtsdenker im deutschen Sprachraum, auf Ranke und Burckhardt, die er in historischer Würdigung nebeneinanderstellte und denen er auf diese Weise in Gegensätzlichkeit wie Übereinstimmung neue Seiten von für das Grundproblem des »schaffenden Spiegels« entscheidender Bedeutung abgewann 0 . Und audi dies geschah nach alter Überlieferung aus der Vereinigung von Forschung und Lehre heraus, denn er hatte nach der Katastrophe des Nationalsozialismus seine Lehrtätigkeit in Berlin wiederaufgenommen und dabei das Thema in einem Kolloquium mit seinen Studenten behandelt. Damit hat Meinecke die zentrale Bedeutung der Geschichtsschreibung für das 19. Jahrhundert noch einmal von hoher Alterswarte aus ins Auge gefaßt, für die Burckhardt, wie er sagte, immer deutlicher neben den Altmeister Ranke getreten war, ja ihn in der Aktualität der Fragestellung überragte. Wir bedauern deshalb, daß es ihm nicht möglich war, die Themastellung noch zu erweitern, vor allem auch die angelsächsische und französische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts nodi miteinzubeziehen, und so hat uns Meinecke nichts über Freeman und Seeley, nichts über Henry Adams und vor allem nichts über Tocqueville gesagt. Es ist an uns, den »goldenen Eimer«, wie er mit dem Platonischen Bilde zu sagen pflegte, von ihm zu übernehmen und an die nächste Generation weiterzureichen. Was Meinecke im übrigen nodi zur zeitgenössischen Geschichtsschreibung zu sagen hatte, das steckt zu einem wesentlichen Teile in seinen beiden Erinnerungsbüchern, die er während des Krieges bis zum Jahre 1919 niedergeschrieben hat. Darin waren die Gedanken und Erinnerungen von der nahen Gegenwart fort in die Vergangenheit der Wilhelminischen Epoche und der Reichsgründung zurückgelenkt worden, die Meineckes Jugend und wichtigstes Mannesalter bestimmt hatten, auf die Lebensjahre »zwischen 50 und 60« sdiließlich, die nach Treitschkes Meinung die maßgebenden Männer für die Nation stellen, ein Lebensalter, in das für Meinedce und seine Generation der erste Weltkrieg fiel: »Wir waren fünfziger, als der Krieg ausbrach. Man wird von uns sagen: Wir seien die Generation, die den Krieg verlor...« "Unten, S.9Sff.
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So lesen wir es auf einem — vielleicht nachträglich — auf den 11. März 1939 datierten Blatt in Meineckes leichter etwas schräg nach oben strebender Handschrift auf der Rüdeseite irgendwelcher geschäftlicher Korrespondenz in Übereinstimmung mit dem Wortlaut der 1941 veröffentlichten Erinnerungen43. Aber dann weicht die Aufzeichnung ab vom Tenor der publizierten Form und faßt, festgehalten wohl aus Anlaß mündlicher Mitteilung im kleinen Kreise der Altersgenossen, ganz allgemein das Phänomen des Kulturwandels in Historie und Wissenschaft im 19. Jahrhundert ins Auge, und zwar an Hand zweier Zeugen: Karl Hillebrand und Theodor Mommsen. Über beide hat sich Meinecke sonst wenig geäußert; Mommsen hatte er persönlich gekannt, aber doch nur aus der Entfernung, bei der Übernahme der Historischen Zeitschrift durch Treitschke stellte Mommsen jegliche Mitarbeit ein, und auf Hillebrand ist Meinecke erst gestoßen, als er im hohen Alter nicht mehr auf bestimmte Dinge konzentriert arbeitete, sondern dazu überging, »Lücken in der eigenen Anschauung und Bildung auszufüllen44.« Es sind offenbar gleichgerichtete Bedürfnisse gewesen, die Meinecke 1938/39 zu Hillebrands wie zu Mommsens kleinen Schriften haben greifen lassen, und wir finden das Ergebnis seiner Beschäftigung damit nicht mehr in irgendwelchen Ausarbeitungen, audi nicht in den Erinnerungen, die sich vielmehr auf das gleichzeitig »Erlebte« und nicht auf das nachträglich »Erlesene« erstreckten, sondern eben hier in dieser flüchtigen Aufzeichnung: da erscheint die eigene Lebensarbeit, die Geschichtsschreibung und der Wissenschaftsbetrieb eingebettet in einen allgemeinen kulturellen Niedergang »von Hochkultur zur Halbbildung«, speziell Hillebrand: »Das neue reale Leben in Wirtschaft und Technik hat den Mittelstand umgewandelt...«, dazu Mommsen: »Steigen des Arbeitsergebnisses und Sinken des einzelnen Arbeiters«, und: »Die Besten von uns empfinden es, daß wir Fachmänner geworden sind. Wir klagen nicht und beklagen uns nicht45.« Da sehen wir denn zugleich die Erschwerung gekenn4 * Aufzeichnung im Nachlaß Meinecke Nr. 184 auf den freien Rückseiten von aus der Zeit zwischen dem 13. 6. 1938 und 10. 2. 1939 stammenden Schriftstücken. Offenbar Keimzelle und Ausgangspunkt der eigenen Erinnerungen. 44 Vgl. den Brief an Steffens 5.11.1938, Briefwechsel a.a.O., S. 183. 45 Meinecke zitiert nodi mehrere Lesefrüdite aus Hillebrands »Zeiten,
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zeichnet, die dem modernen Geschichtsschreiber den schöpferischen Spiegelungsvorgang notwendigerweise ungeheuer kompliziert hat. Das findet im einzelnen in den Erinnerungen, wie sie Meinedke dann veröffentlicht hat, anschauliche Darstellung am selbsterlebten Objekt, obschon Meinecke in seinen Jugendjahren, als er die Zeiten des Jahrhundertendes durchlebte, mit seiner ganzen Generation doch von einer frohen Zukunftszuversicht getragen war, die bezeichnenderweise die damals ältere Generation eben nicht gehabt hat, wie Meinecke aus seiner Altersperspektive mit einigem Erstaunen feststellte. Immerhin zeigen die Erinnerungen etwas Entsprechendes: Meinecke hat die Kärrnerarbeit, zu der Max Lehmann, Otto Hintze und Krauske und viele andere jahrelang im Dienst ihrer Editionsarbeiten verurteilt waren, als ein Hemmnis für die eigentliche Produktion im Dienste der Kunst der Geschichtsschreibung angesehen. Zwar sah er auch etwas Positives in solcher Tätigkeit, aber im ganzen scheint er es als vorwiegend negativ für den Historiker empfunden zu haben, mit »seelischen Nöten«, die dadurch hervorgerufen wurden48. Im einzelnen betrifft das Fragen der Wissenschaftsorganisation, die hier nicht zu erörtern sind. Im ganzen aber handelt es sich dabei um das Problem der Stoffmassenbewältigung für den Geschichtsschreiber, die nun auf sehr vielerlei, und auch individuell nuancierte Art geschehen kann, und vielleicht hat Meinecke den Weg über die Durcharbeitung großer Stoffmengen für eine Edition zur Darstellung hin mit der unerschöpflichen Fülle der Anregungen und der intimen Vertrautheit mit dem Material, die daraus hervorgehen, etwas zu gering eingeschätzt. Aber die Notwendigkeit der Spezialisierung birgt immer die Gefahr der Verengung, und diese Gefährdung teilt die Geschichtsschreibung mit der gesamten modernen Kulturentwicklung. Meineckes Antwort auf solche Fragen war, daß immer nur eine individuelle Lösung der Problematik möglich ist. Ein Rezept kann es da nicht geben. Die Fülle der Möglichkeiten aber, wie sie sich in der Realität des Lebens darbietet, hat er in den Bildern eingefangen, die er den Lebenden und den Toten in den BesprechunVölker und Mensdien« und »Zwölf Briefe eines ästhetischen Ketzers«: »mit ihrer Kritik des Wissenschaftsbetriebes und der Volksbildung«, wie Meinecke schreibt. Dazu aus Mommsens Reden und Aufsätzen (1905). " V g l . »Erlebtes 1862-1901«, S. 150f.
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gen ihrer Werke, in den Glückwünschen und Nekrologen gewidmet hat. Dem Leser wird in diesen einprägsamen Einzelbildern die ganze Historikergeneration der Zeit in der Vielfalt ihrer Erscheinungen vor Augen geführt, die selbst in den weniger bedeutenden Gestalten noch die Höhe des Gesamtniveaus und der Leistung der so häuftig verkannten und gering geschätzten Epoche erkennen lassen. Allerdings hat die Reihe der Namen, die uns begegnet, audi Lücken. Das hängt mit zuweilen sehr verschiedenen, manchmal sehr natürlichen, manchmal audi zufälligen Gründen zusammen. Die persönlichen Beziehungen zu dem einen oder anderen spielen ganz selbstverständlich eine Rolle dabei. Aber Meinecke hat zum Beispiel auch darauf verzichtet, etwa seinem Lehrer Reinhold Koser 1914 den Nachruf in der Zeitschrift zu widmen, obwohl er es anfangs vorhatte 47 : er hat ihn dann Otto Hintze schreiben lassen48. Andererseits hat er seinem alten Freund und Mitarbeiter Georg von Below ein zwar sehr herzliches, aber vergleichsweise dodi nur sehr kleines Epitaph in der Zeitschrift gesetzt 4 '. Hierfür und überhaupt sei zur Ergänzung generell auf die Erinnerungen verwiesen. Sie schildern bei aller Verhaltenheit, die ihnen eigen ist, doch die Dinge und vor allem die Personen offener und gewissermaßen ungenierter, als das in gleichzeitigen Veröffentlichungen geschehen konnte 60 . Mit ihnen kehrte Meinecke gewissermaßen zu seinen Anfängen zurück, und er hat sie auch nicht über das Weltkriegsende hinaus fortgeführt, so daß sie tatsächlich das Bild der »Generation, die den Weltkrieg verloren hat«, wiedergeben. Einer epigonenhaften Generation, wie man gesagt hat, und gewiß ließ sie sich nicht mit der vorangegangenen Epodie als gleichwertig vergleichen. D a f ü r hat gerade Meinecke 47
Vgl. Briefwechsel, S. 45, an Dove 1.9. 1914. Historische Zeitschrift, Bd. 114 (1915), S. 65-87. *' Vgl. unten, S. 436. 50 Der Schwiegersohn Georg von Belows bat denn auch brieflich Meinecke wegen seiner Darstellung Belows in »Erlebtes«, S. 195 und 223, wo Meinecke von »schwadien Seiten seines Wesens« gesprochen hatte, um Auskunft und meinte schließlich: »Meine Schwiegermutter, die über Ihre Äußerungen sicher außer sich gewesen wäre, kann Ihnen, verehrtester Herr Geheimrat, ja nicht mehr die Hölle heiß machen; aber später im Himmel gehen Sie ihr vielleicht dodi vorsichtshalber zunächst aus dem Wege« (Nachlaß Meinecke Nr. 43). 48
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ein sehr starkes Empfinden gehabt. Aber wenn die nationalsozialistische Bewegung nun gerade der Geschichtsschreibung der Epoche und in dieser ausgeredinet Meinedce sein »Epigonentum« vorhielt, da war das eine seltsame Umkehrung der Begriffe, und ein großes Mißverständnis war es außerdem, wenn Meinedce selbst die Bezeichnung hinnahm und sie nur durch die Hinzufügung des Adjektivs »schöpferisch« ergänzte und dadurch milderte. Denn nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ist Epigonentum eben nicht schöpferisch, und ein »schöpferisches Epigonentum« ist im Grunde eine contradictio in adjecto. Die Geschichtsschreibung der Zeit vollends hatte sich eben nicht in epigonenhafter Nachahmung und Nacharbeit erschöpft, sondern war neu vorangetrieben worden, nicht zuletzt durch Meineckes Ideengeschichte selbst. Die Größe der Geschichtsschreibung Rankes, Burckhardts und Droysens hatte man gewiß nicht erreicht, aber, wie Ranke mit Recht hervorgehoben hat, auch die Größe des Thukydides war nie wieder erreicht worden und ist insofern schlechthin unerreichbar. Die Gegenseite aber untergrub die wesentlichen Voraussetzungen jeder echten und tiefgreifenden Geschichtsschreibung durch das diktatorische Regime und die vorgezeichneten Praemissen. In dieser Hinsicht blieb Meinedce audi nicht in der einfachen Abwehr, er gab das Zeichen zum Angriff : Ohne Freiheit und Wahrheit ist eine echte Geschichtsschreibung unmöglich. Ihr konnte die Bahn in Deutschland erst wieder eröffnet werden, nachdem das nationalsozialistische System gestürzt war, freilich audi nur in Westdeutschland, und so wechselte Meinecke zuletzt von der Humboldt-Universität nach der Freien Universität über, deren Rektorat er im Zeichen der Freiheit und Wahrheit übernahm51. In diesem Sinne erhoffte er einen neuen Anfang audi der Historie, und er glaubte audi bereits die ersten Anzeichen des Wiederaufstiegs der deutschen Geschichtswissenschaft erkennen zu können, ehe er aus dem Leben schied: »Es sind erfreuliche Anzeichen, die ich an meinem Lebensabend mit Befriedigung in mich aufnehmen kann, und da werde ich an ein Goethewort erinnert, das mir im Alter jetzt etwas bedeutet hat: wenn man sich gewärtigen muß, vom Schauplatz abzutreten, so ist das schönste Gefühl, daß unsere Überzeugungen in anderen 51
Vgl. die Rede bei der Gründungsfeier, Werke II, S. 490 f.
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fortleben, freilich nicht im Sinne eines iurare in verba magistri. Und nun möchte ich mit einem noch größeren Goethewort schließen: Bleibt uns nur das Ewige jeden Augenblick gegenwärtig, so leiden wir nicht an der vergänglichen Zeit52.«
Damit ist der Umkreis dessen, was in diesem Band an kleinen Schriften zur Geschichte der Geschichtssdireibung aufzunehmen war, umschrieben. Die Gliederung ergab sich daraus einigermaßen von selbst. Es handelt sich zunächst um zwei große Hauptgruppen, nämlich um Studien zur großen deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und um Beiträge zur zeitgenössischen Geschichtsschreibung, wobei die erstere wieder zwedcmäßigerweise unterteilt werden mußte in eine Gruppe, die speziell die Aufsätze über Ranke und Burckhardt, und die andere, die die Arbeiten zur nationalpolitischen Geschichtssdireibung des 19. Jahrhunderts umfaßt. Dabei wurde eine weitere Gruppe eingefügt, in der Meineckes Besprechungen mit Betrachtungen über die Geschichtssdireibung der Staatsmänner und Politiker zu Worte kommen sollen. Hier ist natürlich die Beziehung zur politischen Geschichte besonders eng, und durch diese Überschneidung wird nun audi wieder der Gesamtzusammenhang dieser Studien mit den anderen Arbeiten zur Geschichte des 19. Jahrhunderts sinnfällig gemacht, so daß es gut schien, diese Gruppe hier einzufügen. Schließlich mußte an den Anfang eine Gruppe mit den programmatischen Selbstaussagen gestellt werden, an die Spitze die AkademieAntrittsrede, zu deren Ergänzung audi die Erwiderung des Sekretars, des Germanisten Gustav Roethe hinzugefügt wurde. Im übrigen wurde innerhalb der Gruppen eine chronologische Anordnung nach dem Stoff angewandt, die bei der letzten Gruppe, betreffend die zeitgenössische Geschichtsschreibung, einigermaßen wenigstens mit der Chronologie der Entstehung der Studien abgestimmt worden ist. Dabei wurden auch einige der wichtigeren und längeren Rezensionen Meineckes, wie auch schon bei Bd. IV der Werke, mit aufgenommen. In diesen Fällen sind die Überschriften vom HerausM
Vgl. die Ansprache beim Ordinariatsjubiläum, Werke II, S. 497.
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Einleitung des Herausgebers
geber hinzugefügt, es sei denn, Meinecke hätte sie schon selbst bei einer von ihm vorgenommenen Aufsatzsammlung unter einem selbständigen Titel mit aufgenommen. Am Kopf jeden Stückes werden in Petit die bisherigen Druckorte und, soweit nodi nötig, spezielle Erläuterungen gegeben. Die Texte folgen im allgemeinen dem letzten Drude, dodi wurden in widitigen oder charakteristischen Fällen etwaige Abweidlungen notiert. Einfügungen des Herausgebers stehen in eckigen Klammern, dabei Wortlaut des Herausgebers immer kursiv. Die ursprüngliche Planung des Bandes geht noch auf Entwürfe von Professor Walther Hofer zurüdc, der sich durch inzwischen eingetretene anderweitige Beanspruchung leider außerstande sah, sie selbst durchzuführen. Ihm sowie dem uns am 6. März 1962 durch den Tod entrissenen Professor Carl Hinrichs und Professor Herzfeld, der weiterhin die Arbeit mit Rat und Tat begleitete, sei aufrichtig gedankt. Ebenso gebührt Dank Frau Geheimrat Meinedce und Fräulein Ursula Meinecke für tatkräftige Hilfe und wichtige Hinweise, dazu den Beamten des Geheimen Staatsarchivs in Berlin, besonders Direktor Dr. Zimmermann, Archivrat Dr. Branig und Fräulein Dr. Cécile Hensel für liebenswürdige Auskünfte und Unterstützung bei der Benutzung des Nachlasses. Außerdem danke ich den Bibliotheken und ihren Beamten, die bei der Beschaffung entlegener Drucke geholfen haben, insbesondere der Universitätsbibliothek und der Westdeutschen Bibliothek in Marburg, der Universitätsbibliothek und Stadtbibliothek in Mainz und der Frankfurter Stadt- und Universitätsbibliothek. Wichtig war ferner die Unterstützung des R. Oldenbourg Verlags in München; ihm und speziell Herrn Dr. K. Cornides sei für mündliche Auskünfte und Mitteilungen aus dem Verlagsarchiv besonders gedankt. Für Hilfe bei der Korrektur bin ich außer meiner Frau und Frau Erika Bittner den Herren Dr. Ekkhard Verdiau, Dr. Peter Bucher und cand. phil. Helmut Prantl zu Dank verpflichtet. Die Register besorgte Dr. Peter Bucher.
ERSTE
GRUPPE
Allgemeines und die eigene Stellung in der Geschichtsschreibung
Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften Sitzungsberidite der Königl. Preuß. Akademie der Wissensdiaften. Phil.-Hist. Kl. 1915 S. 496-198 mit der Erwiderung des Sekretärs Gustav Roethe S. 498-499. öffentliche Sitzung vom 1. Juli 1915.
I A n t r i t t s r e d e des H e r r n
Meinecke
Wenn idi heute, wo idi zum ersten Male die Ehre habe, in diesem Kreise zu sprechen, die Einflüsse nennen darf, die meine wissensdiaftlidie Entwicklung bestimmten, so habe idi voran den Namen des hochverdienten Forschers zu nennen, dessen Andenken wir heute ehren werden, — Reinhold Kosers. Er wurde mir zum verehrten Führer durch die Sicherheit seiner methodischen Kritik und durch die Helligkeit seiner Betrachtungsweise. Meine historischen Interessen, die bisher schon durch die in meinem Elternhause sehr lebendigen Erinnerungen der Befreiungskriege und der christlich-germanischen Romantik und durch die frischen Erlebnisse von 1870/71 erregt waren, richtete er auf das 17. J a h r hundert, dem meine ersten kleineren Arbeiten gewidmet sind. Sie sind noch beherrscht von der Geschichtsauffassung J . G. Droysens, von einer allzu idealen und isolierenden Auffassung der brandenburgisch-preußischen Politik. In meinen späteren Arbeiten glaube ich mich von ihr befreit zu haben, aber unverlierbar blieb mir stets die gesdiichtsphilosophisdie Anregung, die ich von Droysens letzter von mir nodi gehörten Vorlesung über Methodologie erhielt. Indem dann die ardiivalisdie Berufstätigkeit, in die ich 1887 trat, mir eine Fülle konkreter Anschauung von Einrichtungen und Zuständen des alten Brandenburg-Preußens gab, empfand ich immer stärker das Bedürfnis, hinter den Handlungen der Politik und den Institutionen des Staates die lebendigen Menschen zu erkennen, die großen historischen Charaktere und ihre eigentümliche Denkweise zu verstehen. Mit unzureichender Kraft faßte ich nodi 1889 den Plan, eine Geschichte des politischen Denkens und der öffentlichen Meinung Deutschlands im 19. J a h r -
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Allgemeines
hundert zu versuchen. Nodi im selben Jahre aber wies mir Heinrich vonSybel ein Thema, das meine Wünsche erfüllte, aber ihnen einen festeren Boden gab. In der Biographie Boyens konnte ich eine staatsmännische Persönlichkeit erforschen, die von den geistigen Mächten ihrer Zeit aufs stärkste erfüllt war und ihre eigene Individualität dem großen Werke der allgemeinen Wehrpflicht, das sie durchzuführen berufen war, aufprägte. Persönlichkeiten und Ideen traten mir immer deutlicher als die wertvollsten Träger des geschichtlichen Lebens entgegen; jedenfalls zogen sie midi am stärksten an. Diese Neigung zeigen meine Monographie über das Zeitalter der deutschen Erhebung, meine Untersuchungen über nationalgeschichtliche Probleme, die ich unter dem Titel »Weltbürgertum und Nationalstaat« veröffentlichte, und meine letzte größere Arbeit über Radowitz und die deutsche Revolution. In allen diesen Arbeiten konnte idi zugleich früheste Lebenseindrücke wissenschaftlich formen und midi mit ihnen innerlich auseinandersetzen. Ich weiß sehr wohl, daß meine Betrachtungsweise der Ergänzung bedarf durch eine realistischere, die die harten sachlichen Notwendigkeiten und Zwangsgewalten des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in den Vordergrund rückt. Aber in unserer Wissenschaft darf auch eine gewisse Einseitigkeit, wofern sie sich ihrer Schranken bewußt bleibt, sich zu entfalten wagen und Nutzen zu stiften hoffen; ich machte damit nur von dem Rechte der Individualität Gebrauch. Audi führte midi die Entwicklung meiner Interessen, gefördert durch die heilsamen Anregungen des akademischen Lehrberufs, immer mehr von den Persönlichkeiten zu den Ideen hinüber. Es lockt midi, diese in immer weiterem und universalerem Rahmen und in immer engerer Verknüpfung audi mit den gröberen Realitäten der Geschichte zu erforschen. Zwei Aufgaben fesseln midi heute und sind mir durch das Erlebnis unserer Tage immer wichtiger geworden: die Wandlungen in Wesen und Geist der Machtpolitik seit den Tagen der Renaissance zu verstehen und der Entstehung unserer modernen Geschichtsauffassung nachzugehen. Ich möchte damit beitragen zu der hohen Aufgabe der Historie, Denken und Handeln der eigenen Generation auf seine geschichtlichen Voraussetzungen zurückzuführen und aus den Stürmen der Gegenwart hinaufzuführen in die reine Luft einer alles Menschliche verstehenden und umfassenden Betrachtung.
Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften
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II E r w i d e r u n g des H e r r n Roethe Die preußische Akademie, die niemals vergessen darf, welche Neugeburt ihr aus der Erhebung der Befreiungskriege erwachsen ist, begrüßt den Geschichtsschreiber dieser Erhebung, der sie vor allen andern auf ihren geistig-sittlichen Elementen, auf ihren Persönlichkeiten und Ideen aufzubauen wußte, mit besonderer Genugtuung in ihrer Mitte. Persönlichkeiten und Ideen sind, wie Sie, Herr Meinecke, uns bekannt haben, die Angelpunkte Ihrer Geschichtsauffassung; wir wissen aus unserer eigenen akademischen Geschichte, daß jeder Fortschritt, jede lebendige Kraft auf Persönlichkeiten und Ideen ruht. Die Kunst des Biographen, wertvolle Menschen der Vergangenheit aus verstaubten Papiermassen zu neuem Leben zu beschwören, ist eine wundervolle Gabe. Nicht wenige Glieder unseres Kreises wissen Ihnen, Herr Meinecke, längst lebendigen Dank für die beiden schönen Werke, durch die Sie uns, zugleich wissenschaftlich und künstlerisch gestaltend, bedeutende Männer der preußischen Geschichte in ihrer Zeit wiedergewonnen haben. Viele, denen in diesem Kriege die kleine Feste zwischen den masurisdien Seen mit ihren sinnvoll getauften Bastionen den tapferen Durchkämpfer der allgemeinen Wehrpflicht wieder ins Gedächtnis gerufen hat, werden auch seines Geschichtsschreibers gedacht haben, der so ernst und klar, oft wahrhaft ergreifend hineingeleuchtet hat in die schweren äußern und innern Konflikte, die den Erneuerern des preußischen Geistes vor und nach 1813 beschieden waren. Und Boyen, dem schlichten, treuen, festen Ostpreußen, vermochten Sie später in Radowitz jene komplizierte rätselreiche Gestalt anzureihen, die den Zeitgenossen von fast dämonischem Zauber umflossen schien. Freilich vor Ihrer lichten Darstellung verliert General Voland von der Hahnenfeder Hörner und Pferdefuß: das scheinbar Unberechenbare seines Wesens verschwindet vor der beherrschenden nationalen Idee, der auch Ihr zweiter Held auf seine Weise mit echter Treue gedient hat. Es war mir ein großer Genuß, midi dieser Durchdringung von Persönlichkeit und Idee zu erfreuen.
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Allgemeines
Sie haben unsers unvergeßlichen Freundes Koser gedacht, mit einfachem Danke für die »Helligkeit seiner Betrachtungsweise«. Sie hat uns allen in ihrer schlichten Gesundheit wohlgetan. Wie freute er sich darauf, mit Ihnen hier zustimmen zu wirken, einig mit Ihnen zumal audi in der heißen, aber nicht blinden Liebe zur preußischen Heimat. Und dodi wie verschieden sind Sie beide! Kosers Helligkeit war geneigt, psychologisch zu vereinfachen; Sie wissen die verschlungensten Seelenpfade als die erkenntnis- und ertragreichsten zu schätzen. Anderseits sucht Ihr Helligkeitsdrang gerne jene begriffliche Klarheit, die aus den großen Tagen deutscher Aufklärung bis heute herüberwirkt. Es war Ihnen eine Befriedigung, auch in den nationalen Ideen der Romantik gerade die Züge zu unterstreichen, die aus dem verstandeshellen Weltbürgertum des 18. Jahrhunderts sich ableiten ließen. Aus dieser Vorliebe heraus haben Sie die Wege zum Nationalstaat gerade bei den politischen D e n k e r n aufgesucht. Aber Gedanke und Idee sind zweierlei: die politische Theorie einer fruchtbaren Zeit wird deren lebendige Triebkräfte so wenig erschöpfen, wie die ästhetische Theorie eines schöpferischen Künstlers sich jemals mit seiner Produktion deckt. Hatten die Romantiker nicht doch redit, denen an der I d e e das Geschaute, Geahnte, Gelebte wesentlicher schien als das Gedachte, begrifflich Faßbare? Die Geschichte des deutschen Nationalstaates steht heute wieder am Eingang eines neuen Teiles. Die warmen, schauenden und erlebenden Seelenkräfte haben wieder einen großen Vorsprung gewonnen vor dem ruhig kühlen Denken; die bedingten Erkenntnisse der Geschichte verblassen vor der notwendigen Unbedingtheit nationalen Wollens und Handelns. Welch ein Glück für den deutschen Historiker, der sich unbefangen hinzugeben vermag an die Größe der Zeit, den geschichtlicher Besitz mehr befreit als bindet, zugleich Mitlebender und Beobachter solcher umgestaltenden Tage zu sein, die Antwort geben auf alte Fragen, indem sie eine Überfülle neuer Fragen aus sich gebären. So begrüße ich Sie, Herr Meinecke, in dieser Stunde nicht nur mit der dankbaren Freude über Geschaffenes, sondern zugleich in der vertrauenden Hoffnung, daß Ihr erprobter Geist, erfahren und bildsam, feinsinnig und kräftig, auch neue glückliche Bildungen deutscher Geschichte unserm willigen Verständnis zu deuten berufen sein möge.
Geleitwort
zum 100. Bande der Historischen
Zeitschrift
Historische Zeitschrift Bd. 100 (1908) S. 1-10. Meinedce führte damals die Redaktion bereits fünfzehn Jahre, davon zwölf Jahre ganz selbständig, vgl. die Einleitung.
Unsere Zeitschrift hat erst vor kurzem einen Einschnitt in ihrer Geschichte gemacht durch die Begründung einer dritten Folge. Aber sie darf wohl den Moment, wo sie den 100. Band ihrer ganzen Reihe beginnt, nicht vorübergehen lassen, ohne einige Worte der Erinnerung an ihre Vergangenheit und an den Zusammenhang dessen, was sie einst gewesen ist, mit dem, was sie heute ist und sein möchte. Was sie einst gewesen ist, gehört schon in jeder Hinsidit selbst der Geschichte an, so daß auch ihr jetziger Herausgeber davon ohne Ruhmredigkeit sprechen kann. Sie ist die Schöpfung eines der bedeutendsten Historiker, die Deutschland im 19. Jahrhundert gehabt hat, eines Mannes, der zur Organisierung wissenschaftlicher Unternehmungen ungewöhnlich begabt war, Kunst der Menschenbehandlung, sicheren Blick für die verschiedenen Begabungen, Festigkeit und Leichtigkeit der Hand besaß. Ich habe in den zwei Jahren von 1893 bis 1895, in denen idi unter seiner Leitung die Redaktionsgeschäfte besorgte, so manche Probe dieser Regierungskunst, die das Wesentliche kräftig anpackte und das Nebensächliche, das sich als wichtig aufdrängte, gleichmütig beiseite schob, erlebt. Aber nicht in ihr allein lag das Geheimnis des großen Erfolges, den die Historische Zeitschrift unter ihm gehabt hat. Sie war schon durch den Moment, dem sie entsprang, ein Glückskind. Sie hatte in Männern wie Ranke, Mommsen, Waitz und Droysen eine erlauchte und reiche Patenschaft, mit deren Angebinden sie ihre ersten Jahrgänge schmücken durfte, und sie genoß, wenn man so sagen darf, die Vorrechte und Sympathien, die man dem lange erwarteten Stammhalter einer Familie, dessen ältere Geschwister früh gestorben sind, widmet. Rankes Historisch-politische Zeitschrift, an sich geistreich geplant und durchgeführt, hatte dodi keine Teilnahme finden können, die sie dauernd trug. Adolf Schmidts Zeitschrift für Gesdiichtswissen-
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Allgemeines
sdiaft hatte in den Jahren 1844 bis 1848 eine Reihe bedeutender Mitarbeiter, audi Sybel selbst schon darunter, vereinigen können, aber war dann untergegangen in einer erregten Zeit, die mehr Geschichte machen, als Geschichte hören wollte. Dann kamen ruhigere Jahre, in denen die deutsche Geschichtsschreibung wieder hoch emporblühte, aber sie entbehrte eben in dieser Zeit, wo Sybels Revolutionsgeschichte, Mommsens römische Geschichte und Droysens Geschichte der preußischen Politik begonnen wurden, des vermittelnden periodischen Organs und des Gefäßes, um diejenigen Teile der reichen Ernte, die nicht in jenen großen W e r ken Platz fanden, aufzunehmen. Es kam noch mehr hinzu, um die Gunst der Konstellation f ü r das neue Unternehmen zu erhöhen. Es traf genau in eine Zeit hinein, wo in Deutschland die geschichtswissenschaftliche und die nationalpolitische Bewegung sich so nahe wieder berührten, daß eine zur anderen hinüberwirken konnte. Die Gründung der Historischen Zeitschrift gehört audi zu jenen Symptomen neuen nationalen Lebens, die zu Ende der fünfziger Jahre allenthalben zu spüren waren. Obgleich Ranke selbst sich bei dieser Berührung von Wissenschaft und nationalpolitischem Ideal behutsam zurückhielt und seine alte Weise nicht aufgab, so waren es dodi seine Schüler, die jetzt in der Historischen Zeitschrift wieder zusammentraten, und seine Aussaat, die in ihr aufging. Es trat vielleicht jetzt erst ganz zutage, daß es bei uns nicht bloß einzelne Forscher, sondern eine Berufsgenossenschaft der deutschen Historiker gab. Jeder von uns fühlt heute eine solche korporative Zusammengehörigkeit, beruhend auf gleichartiger wissenschaftlicher Erziehung und gemeinsamen großen Traditionen. In der Historischen Zeitschrift fand sie damals einen ersten Ausdruck. Aber während heute dieses korporativen, zünftigen Meister- und Gesellenwesens eher schon zu viel ist, empfand man damals das wissenschaftlich Einigende vor allem als eine Aufforderung, damit auf den freien Marktplatz der Nation zu treten, die falsche Wissenschaft durch die echte Wissenschaft zu schlagen, und mit der echten Wissenschaft, so hoffte Sybel, dann einzuwirken auf »Leben, öffentliche Meinung und allgemeine Bildung«. Das war die »neue Position unserer Wissenschaft im Leben«, von der es, so schrieb er 1857 an Waitz zur Begründung seines Planes, jetzt gelte, Zeugnis abzulegen. »Jeder Bedeutende unter unseren Fachgenossen hat bereits das Streben
Geleitwort zum 100. Bande der Historischen Zeitschrift
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betätigt, bei möglichst tiefgelehrter Grundlage sein Werk in die Strömung der freien nationalen Atmosphäre und nicht in ein kleines Museum der Auserwählten zu stellen1.« Er war des freudigen Glaubens, daß sich die »wahre Methode historischer Forschung« und die Ausübung großer nationaler Funktionen durch sie leicht und glücklich vereinigen lasse. Wer von uns wollte auch heute diesen Glauben nicht teilen? Wenn man ihn aufgäbe, würde unsere Forschung verdorren. Aber wir halten freilich das Ziel für schwerer erreichbar als damals Sybel, weil wir die Klippen nur allzu deutlich gewahr worden sind, die auf seinem Wege lagen. Sybels Optimismus hat schon die »wahre Methode« für leichter gehalten, als sie wirklich ist. Er betonte in seinem der Zeitschrift vorangehenden Rundsdireiben vom Juli 1858 wohl so energisch wie möglich, »daß der Forscher zunächst nicht die Ereignisse selbst, sondern ihren Eindruck auf den Geist der Gewährsmänner kennenlernt, daß er also die Dinge stets durch getrübte Medien sieht«, aber er überschätzte die Fähigkeit des Forschers, dieses Bild zu »rektifizieren«, er unterschätzte das subjektive Apriori, das auch die Auffassungen des abgeklärtesten Forschers bestimmt und färbt. Er glaubte auf dem rechten Wege zum unbefangenen geschichtlichen Urteil zu sein, wenn er die drei großen Befangenheiten seiner Zeit, den Feudalismus, den Radikalismus und den Ultramontanismus, fernhielt von der neuen Zeitschrift — daß audi die politische Historie, wie er sie vertrat, ihr Maß von Befangenheit hatte, ist heute eine Binsenwahrheit. So ist der Bund von Geschichtsforschung und Nationalleben, der für dieses ein reiner Segen gewesen ist, für jene kein unbedingter Segen gewesen. Wer ihn heute erneuern will, muß sich bescheiden, auch wird er durch den heutigen Zustand des politischen und geistigen Lebens von vornherein zur Bescheidenheit genötigt. Sybel durfte damals die Notwendigkeit des neuen Unternehmens mit der Beobachtung begründen, »daß mit jedem Jahre mehr die Geschichte in Deutschland für die öffentliche Meinung und als Ferment der 1 Varrentrapp in der Einleitung zu Sybels »Vorträgen und Abhandlungen« S. 86. Meine Absidit, einiges Neue über die Gründung der Historischen Zeitschrift zu bringen, war leider unausführbar, da Sybels Nachlaß zur Zeit nicht benutzbar ist und das Verlagsardiiv audi nichts enthielt.
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allgemeinen Bildung in die Stelle einrückt, welche vor 20 Jahren die Philosophie einnahm«. Man könnte heute beinahe den Satz schon umkehren. Die Philosophie, oder richtiger gesagt der philosophische Sinn, hat heute jedenfalls mehr Aussicht, wieder Ferment der allgemeinen Bildung zu werden als die Geschichte. Allerdings hat dieser neue philosophische Sinn, der sich heute wieder regt, den geschichtlichen Sinn selbst in sich aufgenommen und würde ohne ihn gar nicht wirken können, und so steckt überhaupt in allen Zweigen unseres geistigen und selbst wohl auch politischen Lebens etwas von dem historisdien Sinne, den Ranke und seine Nachfolger ausgebreitet haben, aber nun auch derart ausgebreitet haben, daß er nicht mehr das besondere Charisma der Geschichtswissenschaft ist. Das, was einst Ferment insbesondere der übrigen Geisteswissenschaften war, ist heute derart von ihnen benutzt, daß die Schüler den Lehrer zu überflügeln drohen. Ein geistvoller Freund und Fachgenosse konnte mir einmal sagen: Heutzutage studiert man Geschichte am besten, wenn man nicht Geschichte studiert, sondern etwa Philosophie, Staatswissenschaften, Literatur-, Kunst- und Religionsgeschidite. Sei uns das ein Ansporn, unser Stammgut wieder in die Höhe zu bringen. Lernen wir nun wiederum von den so kräftig aufgeblühten Nachbardisziplinen, und hat insbesondere die Philosophie historisdien Sinn in sich aufgenommen, so müssen wir nun von einer so umgewandelten Philosophie uns tiefer berühren lassen. Es ist heute schon besser damit als vor 20 Jahren, wo die kleineren Handwerkskünste unserer Methode übermäßig in Ansehen standen. Worauf anders beruht denn die laute Siegesgewißheit, mit der vor 12 Jahren die sogenannten »neuen Richtungen« in unsere Wissensdhaft sich einzuführen versuchten, als darauf, daß sie schon eine, allerdings hybride Verbindung historisdien und philosophischen Sinnes darstellten. Immer haben sie ja audi das Verdienst, uns auf vernachlässigte Tatsachen und Zusammenhänge hingewiesen und das historische Arbeitsgebiet im allgemeinen erweitert zu haben. Die Hauptobjekte unserer engeren Disziplin sind und bleiben darum doch Staat und Nation, auf die wir uns konzentrieren müssen, wenn wir nicht einem vagen Dilettantismus verfallen wollen. Universalgesdiiditlidie Arbeit besteht uns nicht in der äußerlichen Zusammenschleppung und Meisterung heterogenster Materien durch ein paar schematisierende Be-
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griffe, sondern in der inneren Beseelung und Erwärmung jeglichen Forschungsgegenstandes, die aus universalem Mitgefühl für alle geschichtlichen Werte fließt. Und wohl ist ein solches universales, philosophisches ebensowohl wie historisches Interesse heute nötig als Gegengewicht gegen eine an sich gesunde Erscheinung unseres heutigen wissenschaftlichen Betriebes. Es ist unsere Neigung, im kleinsten Punkte die größte Kraft zu sammeln. Wir haben dadurch selbst innerhalb unserer engeren Disziplin ein Bündel von energisch durchgebildeten Einzeldisziplinen, Schulen und Richtungen erhalten, und wer sich einmal klarmacht, welche Fülle nicht bloß von zünftigem Können, sondern von individueller Lebensart und von Charakteren hinter diesen Studien steht, wird von Respekt erfüllt. Wir sind, wo so viel männlicher Arbeitsmut lebt, noch lange nicht am Ende mit unserer deutschen Geschichtswissenschaft. Aber freilich, wir haben schwer zu ringen mit den Bergen von Arbeit, die wir selbst auftürmen. Wir häufen sie auf durch große Organisationen, durch Publikationsinstitute, Kollektivunternehmungen, überhaupt durch den wissenschaftlichen Großbetrieb. Aber der einzelne, der sich in seinen Dienst stellt, um dem Ganzen der Wissenschaft dadurch zu nützen, läuft Gefahr, an seiner eigenen Seele Schaden zu nehmen, und kämpft sich jedenfalls sehr viel später, als es einstmals möglich war, zu innerer Selbständigkeit, eigener Bildung und persönlichem Arbeitsziele durch. Ein zweiter Mangel, den wir heute im Vergleiche zu dem Zustande von vor 50 Jahren empfinden, ist, daß unsere historischen Studien nicht mehr wie damals das Ohr der Nation haben, nicht mehr getragen sind von einer allgemeineren Teilnahme. Aber dieser zweite Mangel ist nicht so schwer zu nehmen wie der erste. Wie die Religion die große Landeskirche entbehren kann, so kann auch die Wissenschaft in kleinen Gemeinden gedeihen, wofern nur diese in sich ein intensives Leben führen und für sich selbst den Zusammenhang mit der nationalen Gesamtkultur behaupten. Wir stellen diese Vergleiche zwischen jetzt und einst an, weil audi die Historische Zeitschrift davon berührt wird. Sie steht längst nicht mehr an so weithin sichtbarer Stelle, wie in den ersten Zeiten Sybels, und sie erlaubt es sich, diesen Verlust an Geltung wesentlich mit auf jene Veränderung der allgemeinen
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Allgemeines
Lage der Geschichtswissenschaft zu schieben. Wie sie im Auslande Nachahmungen gefunden hat, die es heute mit ihr aufnehmen, so hat sie auch in Deutschland selbst eine Reihe von periodischen Organen der historisch gerichteten Geisteswissenschaften aufkommen sehen, die von ihr vielleicht einst gelernt haben und jetzt mit ihr wetteifern. Sie nimmt diesen Kampf auf und darf sich jedenfalls dessen heute freuen, daß ihr Leserkreis sich noch stetig vergrößert. Viel mehr Pein als die Konkurrenz anderer Organe und Richtungen macht ihr die Aufgabe, der so außerordentlich differenzierten Arbeit innerhalb der Geschichtswissenschaft selbst gerecht zu werden. Man vergleiche nur den Umfang dessen, was auf eine Berücksichtigung und Würdigung in der Historischen Zeitschrift Anspruch hätte, mit dem, was sie davon wirklich bewältigen kann. Sie muß auf äußere Universalität verzichten, aber um so mehr nach jener inneren Universalität streben, von der ich sprach. Und hierin hat sie eine ganz feste und sichere Tradition von Sybels Zeiten her in der Bevorzugung solcher Stoffe, die, wie Sybel sich in seinem Rundsdireiben von 1858 ausdrückte, »mit dem Leben der Gegenwart einen noch lebenden Zusammenhang haben«, und in der Pflege des wissenschaftlichen Essays, der auch den härtesten Stoff vergeistigen und beleben will. Als mir Sybel im Frühjahr 1893 die Redaktion antrug, wandte idi zweifelnd ein, daß ich unmöglich den wissenschaftlichen Wert von Aufsätzen aus mir ganz fernliegenden Gebieten beurteilen könne. »Das kann idi auch nicht«, antwortete Sybel mit größter Ruhe. »Prüfen Sie nur jeden Aufsatz darauf hin, ob er in sich vollkommen klar und durchdacht ist und ob er das auch durdi die äußere Form zeigt, dann werden Sie in der Regel das Rechte treffen.« Und anders läßt es sich wirklich audi nicht machen. Sybel hat selbst, wie mir sein Sohn jetzt schrieb, es nicht zu hoffen gewagt, daß die Zeitschrift den 100. Band erleben würde. Er hat aber auch in Zeiten vorübergehender Depression niemals daran denken wollen, eine äußere pekuniäre Unterstützung, wie er sie leicht hätte erlangen können, sich zu holen. Eine Zeitschrift wie die unsere soll, so sagte er zu mir einmal, durch eigene Kraft leben, oder sie soll gar nicht leben. Ich verkenne keinen Augenblick, daß in der eigenen Kraft, die sie heute hat, ihre große Vergangenheit steckt. Eine Zeitschrift, die unter Sybels und Treitsdikes Namen gegangen ist, besitzt damit ein Pfund, das nicht so
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leicht verwirtschaftet wird. Nächst diesen beiden Großen ist die Zeitschrift vor allem zwei heute nodi Lebenden ihrer früheren Redakteure Dank schuldig: Konrad Varrentrapp, der sie von 1867 bis 1874 (Bd. 17-31) redigierte und nodi heute zu ihren treuesten und verständnisvollsten Freunden gehört, und Max Lehmann, der über ein Drittel der 100 Bände (Bd. 36—71, 1), von 1875 bis 1893, redigierte und seine kraftvolle Persönlichkeit in ihr zur Geltung brachte2. Wenn ich anfangen wollte, audi den Mitarbeitern der letzten Jahrzehnte zu danken und das Besondere, was sie uns gegeben haben, zu bezeichnen, so würde ich kein Ende finden. Nur einen Namen muß ich nennen, der zur neueren Geschichte unserer Zeitschrift vor allem und unbedingt gehört: Louis Erhardt, dem es ganz wesentlich zu danken ist, daß die 1893 mit vielen Zweifeln begonnene Abteilung der Notizen und Nachrichten lebensfähig wurde, der jahrelang die ersten drei Gruppen derselben (Allgemeines, alte Geschichte, frühes Mittelalter) ganz allein bearbeitet hat und durch sein unbestechliches Urteil in den Jahren des Methodenstreites den Charakter der Zeitschrift und die gesunden Grundsätze unserer Wissenschaft hat verteidigen helfen. Weiter ist die Zeitschrift dem ganzen Kreise derer, die als ihre unterstützenden Freunde auf dem Titelblatte genannt sind, verpflichtet, aber von Rechts wegen müßte nodi manch anderer guter Name in ihre Reihe aufgenommen werden. Und schließlich darf ich es wohl aussprechen, daß an der Selbständigkeit und Unabhängigkeit, die die Historische Zeitschrift gegenüber allen unsachlichen Einflüssen wahrt, auch die Verlagshandlung mit ihr Verdienst hat durch die Art, wie sie die Aufgabe der Redaktion immer nur erleichtert und nie erschwert hat. So war es von Anfang an, als ihr Begründer Rudolf Oldenbourg, der weitblickende, hochgebildete Freund Sybels, damals Teilhaber der Cottasdien Firma, den Verlag der jungen Zeitschrift übernahm. Die Leiter der Verlagshandlung wie die Leiter der Redaktion haben stets das Glück gehabt, jeweils durch vieljährige persönliche Fühlung mit ihren Vorgängern ein Stüde lebendiger Tradition zu gewinnen. Möge diese auch weiter Vergangenheit und Zukunft der Zeitschrift miteinander verbinden. * Die übrigen Redakteure der Sybelsdien Zeit waren: Kluckhohn 1859 bis 1861 (Bd. 1-6), Maurenbredier 1861-1862 (Bd. 7 und 8), Theodor Bernhardt 1862-1866 (Bd. 8-16), K. Menzel 1874-1875 (Bd. 32-35).
Die Redaktionsführung der Historischen Zeitschrift Notiz in der Historisdien Zeitschrift Bd. 103 (1909) S. 425. Entgegnung auf einen Angriff von Hans Delbrück, den dieser in eine Sammelbesprechung mit einer rühmenden Anzeige von Meinedces »Weltbürgertum und Nationalstaat« eingefloditen hat, »erstens um der Historisdien Zeitschrift selber einmal den Spiegel vorzuhalten, zweitens um einem lange aufgesammelten Ärger Luft zu machen, drittens, um auf dieser Folie Meineckes Werk zu besprechen, damit niemand meine, ich sei für den Verfasser eingenommen«. Preuß. Jbb. Bd. 136 S. 444. Das übrige ergibt sich aus Meineckes ebenso entschiedener wie vornehmer Erwiderung, und es wäre nur noch darauf hinzuweisen, daß Meinecke Delbrück gegenüber stets sehr positiv eingestellt gewesen ist (vgl. unten S.308), ohne freilich seine Extravaganzen und den Doktrinarismus seiner »Schulbildung« unbedingt mitzumachen. Die Sache ist weniger wegen der Plumpheit des Delbrückschen Angriffs, sondern vielmehr deswegen interessant, weil sie Meinetke veranlaßt hat, einmal in sehr klaren und knappen Formulierungen den Standpunkt seiner Redaktionsführung zu kennzeichnen. I n einem Aufsatze der Preußischen Jahrbücher, Juni 1909, handelt Delbrück im Anschluß an Gierkes, Bailleus und meine Schriften » V o n der Königin Luise, dem Minister Stein und dem deutschen Nationalgedanken« 1 , unterbricht aber plötzlich den Fluß seiner interessanten Bemerkungen mit einer schnurrig motivierten Expektoration seines lange aufgesammelten Ärgers über die H i storische Zeitschrift und meine Redaktionsführung. Idi hätte nicht die Gabe, die Geister sicher zu unterscheiden; unter den Mitarbeitern machten sich, so drückt er sich mit hauptstädtischer U r b a n i t ä t aus, die »Schaumschläger« und »Leimsieder« übermäßig breit; so ziemlich für alle großen und schönen Entdeckungen in Deutschland habe gerade in der Historischen Zeitschrift immer wieder das Verständnis gefehlt. Lamprecht und Sombart werden dies letzte U r t e i l gewiß unterschreiben, aber werden nur in Zweifel sein, ob sie sich auf die neue Tripelentente verlassen [» Preuß. Jahrbücher Bd. 136(1909) S. 441-Ì58. Delbrück hatte in dem Artikel Otto Gierkes Kaisergeburtstagsrede »Die Steinsdie Städteordnung« (Berlin 1909), Meineckes »Weltbürgertum und Nationalstaat« und die Biographie der Königin Luise von Paul Bailleu besprochen.]
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dürfen und ob Delbrück gerade sie mit den verkannten Entdeckern gemeint haben sollte. Näher liegt, wenn man Delbrücks Art und herrisches Temperament kennt, eine andere Vermutung. Er ist ungehalten darüber, daß seine Fachgenossen die Entdeckungen, die er selbst, seine Freunde und seine Schüler gemacht haben, nicht immer mit unbedingter Zustimmung aufgenommen haben und daß die Historische Zeitschrift diese Zweifel und Vorbehalte wiederholt hat zu Worte kommen lasssen. Delbrück kann, und darin liegt eine wesentliche Schranke seiner glänzenden Begabung, einen Rest von intolerantem Dogmatismus nun einmal nicht überwinden. Er neigt dazu, die geschichtliche Welt auf ein System von bestimmten Wahrheiten zu bringen, die von den großen Forschern, ζ. B. Ranke, Lehmann, Delbrück, nach und nach »entdeckt« werden, und das Kriterium, nach dem er dann die übrigen Geister scheidet, ist, ob sie das, was als Entdeckung zu gelten hat, anzuerkennen und anzuwenden befähigt sind. Nach ihrer Stellung zu bestimmten Resultaten und Meinungen klassifiziert er unwillkürlich seine Mitforscher in kluge und dumme, beschränkte und helle Köpfe. Wer nicht an Friedrichs des Großen Eroberungspolitik von 1756, an die Fälschung des Wrangeischen Tagebuches von 1812, an Bismarcks Staatsstreichpläne von 1890 sogleich glauben will, steht zum mindesten im Verdachte mangelhaften historischen Instinktes und umgekehrt, so daß Mediokritäten, die mit ihm durch dick und dünn gehen, sich eines unverhältnismäßigen Ansehens bei ihm erfreuen können. W i e sollte ich nun im Ernste daran denken dürfen, diese doch ganz unleidliche Art auf die Historische Zeitschrift zu übertragen? Sie würde dadurch binnen kurzem zuerst isoliert, dann ruiniert werden. Sie soll, so fasse ich ihre Aufgabe auf, in erster Linie nicht nach den Schulmeinungen, sondern nach der wissenschaftlichen Persönlichkeit fragen, sie soll allen lebendigen und gesunden Richtungen unserer Wissenschaft offenstehen und für Freiheit und Unabhängigkeit der Meinungsbildung wirken. So bin ich auch durchaus empfänglich für das Bedeutende, was Delbrück und auch, trotz schwerer Bedenken gegen seine Abrichtungsmethode, für das mancherlei Gute, was seine Schüler geleistet haben, aber seinen Schul- und Parteigeist lasse ich nicht Herr werden über die Historische Zeitschrift. Hinc illae lacrimae.
Geleitwort zum 150. Bande der Historischen Zeitschrift und zum 100. Geburtstage Heinrich von Treitsdikes Zuerst in der Historisdien Zeitschrift, Bd. 150 (1934), S. 1-9, mit einigen kleinen Änderungen wiederholt in der 3. und 4. Auflage der Aufsatzsammlung »Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte« (1941). In der 5. Auflage (1951) hat Meinecke den Aufsatz, »der mir heute nicht mehr ganz genügt«, wie er im Vorwort sagte, wieder fortgelassen. Wenn er trotzdem hier mit aufgenommen wurde, so deshalb, weil er zum Gesamtwerk Meineckes unbedingt dazugehört und im Rahmen seiner kleinen Schriften zur Geschichtsschreibung nicht fehlen durfte. Bezeichnet er doch einen besonderen Moment, der in der Einleitung näher erläutert worden ist. Deshalb sind auch die Änderungswünsche des Verlages vor der Erstveröffentlichung auf der Grundlage der im Verlagsarchiv befindlichen diesbezüglichen Korrespondenz vermerkt worden, im übrigen wurde der Zweitdrude zugrunde gelegt, doch wurden die Abweichungen des Erstdrucks, soweit sie jedenfalls nicht rein stilistischer Natur waren, in der Weise berücksichtigt, daß einfache Auslassungen in spitzen Klammern in den Text gesetzt, andere Abweichungen in den Fußnoten notiert wurden. Der 150. Band einer wissenschaftlichen Zeitschrift darf nach heutiger Sitte nicht ohne ein Geleitwort in die Welt gehen, das Rückblick und Ausblick auf ihre Aufgaben und auf die Lage der Wissenschaft, der sie dient, enthält. Eine besondere 1 Freudigkeit, dieses Geleitwort zu schreiben, gab mir dabei die Erinnerung an den großen Mann, der in seinem letzten Lebensjahre 1895/96 noch an die Spitze unserer Zeitschrift getreten ist und, während dieser 150. Band noch erscheinen wird, durch die Feier seines 100. Geburtstages (15. September 1934) der ganzen Nation sich wieder einprägen wird. Des 100. Geburtstages des Begründers der Historisdien Zeitschrift, Heinrich von Sybels, konnte in den Stürmen des Weltkrieges 1917 nur in der Stille von uns gedacht werden. Heute aber fordert gerade der Sturmwind, der durch unser Vaterland geht, dazu auf, des einstigen Vorstürmers der nationalen Einheit zu gedenken und den Dank zu erneuern, den die Histof 1 Meinecke hatte zuerst geschrieben: Die rechte, und der Verlag hatte stattdessen vorgeschlagen: Die Niederschrift eines solchen Geleitworts erhielt für mich einen besonderen Reiz durch die Erinnerung an . . . ]
Geleitwort zum 150. Bande der Historischen Zeitschrift
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risdie Zeitschrift und die deutsche Geschichtswissenschaft Heinrich von Treitschke schuldet. Als durch den Tod Heinrich von Sybels am 1. August 1895 das Schicksal der Historischen Zeitschrift ungewiß wurde, schrieb ich als damaliger Redakteur dem Verleger, daß meines Erachtens der einzige Ebenbürtige, der als Nachfolger jetzt in Betracht käme, Treitschke sei. Ich zweifelte zwar, ob er zu gewinnen sein werde. Aber es war der uns alle, Alte und Junge, in der Wissenschaft damals schlechthin Überragende. Er ragte durch das, was er als heroischer Prophet in den Jahren der Reichsgründung und als Wortführer und Erzieher der Nation in den ihn folgenden Zeiten geleistet hatte, weit hinaus über den eigentlichen Bezirk der Wissenschaft, aber er durfte in ihr den ersten Platz unter den großen deutschen Geschichtsschreibern nächst Ranke beanspruchen. Die Grundidee, in der Sybel die Historische Zeitschrift 1859 geschaffen hatte, erhielt durch ihn, wenn wir ihn zum Nachfolger gewannen, eine neue kraftvolle Bestätigung. Sie hieß, um Sybelsche Worte von 1857 zu wiederholen, daß es das Streben jedes bedeutenden Fachgenossen jetzt sei, »bei möglichst tiefgelehrter Grundlage sein Werk in die Strömung der freien nationalen Atmosphäre und nicht in ein kleines Museum der Auserwählten zu stellen«. Die Luft von 1895 war wohl schon anders als die von 1859. Es war nicht mehr so selbstverständlich wie damals, daß strenge historische Wissenschaft auch die nationale Arena nicht scheuen dürfe. So notwendig für sie nicht nur damals, sondern dauernd die Fühlung mit dem Pulsschlage der Zeit war und ist, ebenso notwendig ist auch ihre Selbstbesinnung darüber, wie weit sie diesen Impulsen folgen darf. Die Kritik an dem vielfach zu eng gewordenen Bündnis von Geschichtsschreibung und Nationalpolitik hatte nun um 1895 schon eingesetzt und die unvermeidlichen Verzeichnungen des Geschichtsbildes, die aus ihm folgten, nachzuweisen begonnen. Da kam es nun gleich wieder zur extremen Pendelschwingung nach der anderen Seite. Ein »kleines Museum der Auserwählten«, eine Zunft der saubersten, nur dem Objekt und seinen Kausalitäten hingegebenen Forschung war in der Bildung begriffen. Nodi erinnere ich mich, wie idi damals diesen Gegensatz und die Gefahren Treitsdhkescher Einseitigkeiten erwog. Dennoch durfte ich nicht einen Augenblick in meinem Vorschlage schwanken. Er war der vom Schicksal jetzt gewiesene Führer für unsere Zeit-
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schrift. Einem solchen ordnet man sich unter, wenn er in den höchsten Lebensfragen der Wissensdiaft die Fackel voranträgt. Der Dienst, den nach ihm die Wissensdiaft dem nationalen Staatsleben zu leisten hatte, sollte nach seinem Willen — das wußte ich aus seinen eigenen Äußerungen genau — aus freier, spontaner, nidit aufgedrängter Gesinnung fließen. Man konnte frei neben ihm atmen, audi wenn es dabei, wie idi es denn wohl audi einmal zu erleben hatte, aus ihm herausbrauste 2 . Es kam noch ein Letztes, aber nicht Geringstes hinzu. Der Abwehrkampf der idealistischen, von der Individualität alles historischen Geschehens und der schöpferischen Bedeutung der Persönlichkeit überzeugten Geschichtsauffassung gegen die von Lamprecht mit Schwung vertretene kollektivistisch und naturalistisch geriditete hatte sdion unter Sybel begonnen. Treitschke wurzelte tief und ursprünglidi im deutschen Idealismus. Er vergaß Goethe nicht über Bismarck. Er war audi kein blutloser Epigone des Idealismus, sondern der Mann, der ihn in starken sittlichen Willen und schaffende Tat für Staat und Volk stets umzusetzen ermahnte. Unter diesem Zeichen durften wir dem Ansturm des Kollektivismus mit Siegeshoffnung entgegensehen. Treitschke nahm die Aufforderung des Verlegers, die idi ihm zu überbringen hatte, trotz seines Bedenkens, daß er auch auf heftige Gegnerschaft unter den Fachgenossen stoßen würde, ohne Zögern an. Ihm war es eine Genugtuung, weil er nicht lange zuvor aus den Preußischen Jahrbüchern herausgedrängt worden war. In der ersten, mir unvergeßlichen Unterredung, die ich darauf in seinem Arbeitszimmer in der Hohenzollernstraße mit ihm hatte — der sonst so Heißblütige konnte audi sehr vornehm, ruhig und freundlich sich geben —, äußerte er seine Absicht, mit einem Worte über seine Auffassung von Geschichtsschreibung vor die Leser der Zeitschrift zu treten, skizzierte sie gleich mit wenigen kräftigen Strichen und versprach auch einen Aufsatz über das Gefecht von Eckernförde 1849, das ihm wegen der Teilnahme seines Vaters an ihm etwas Besonderes bedeutete, zu schreiben. Es sollte der Auftakt zum sechsten Bande der deutschen Geschichte, der Darstellung der Revolutionszeit 1848/50, zu der er das Material schon gesammelt hatte, werden. Beides, Vorbemerkung und [* Vgl. die Szene in den Erinnerungen Meineckes »Erlebtes 1862 bis 1901«, S. 198.]
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Aufsatz, findet man im 76. Bande unserer Zeitsdirift und danach im 4. Bande seiner Historischen und Politischen Aufsätze. Es war das Letzte, was er geschrieben hat. Die zum Tode führende Erkrankung nahm ihm bald nach Beginn des Jahres 1896 die Feder aus der Hand. Wie mag die »Vorbemerkung« über die Aufgabe des Gesdiichtsschreibers heute auf die Jüngeren unter uns Historikern wirken? Uns berührte sie damals als die abgeklärte Alterssprache eines von mächtigen Leidenschaften bewegten, aber nun stark, stetig und gesammelt dahinströmenden Geistes. Der feste und zugleich schwingende Rhythmus seines Stils hatte das Heftige früherer Zeiten nicht mehr, und obgleich der energische Ausdruck seiner Gedanken erkennen ließ, daß er sich auch jetzt nicht das Geringste von ihrem Inhalte abdingen lassen wolle und zu jeder Abwehr bereit sei, so atmeten sie doch voran edle Schlichtheit und eine am Anblick der Jahrtausende gewonnene ruhige Gewißheit. Uns mögen sie heute als eine Art Pharus dienen, den der ins Unbekannte Segelnde solange wie möglich im Auge behält, um seines Kurses gewiß zu bleiben. Wir können nicht mehr zurück zu ihm, aber wir können an ihm ermessen, ob und worin sich die Aufgaben wissenschaftlicher deutscher Geschichtsschreibung, denen unsere Zeitschrift zu dienen hat, gewandelt haben. 'Treitschkes Blick war damals ganz wie der des alten Goethe auf das Dauernde im Wechsel gerichtet. Die drei idealen Zweige der Literatur, Poesie, Philosophie und, wie er stolz hinzufügte, Geschichtsschreibung hätten ihr innerstes Wesen nie verändert, die Historie habe nodi denselben Schwerpunkt wie im Altertum: denkendes Bewußtsein unseres Werdens zu erwecken, und da dies Werden in der Welt der sittlichen Freiheit, des Wollens und Handelns sich vollzöge und die Völker nur in politischer Ordnung zu wollenden Persönlichkeiten werden, so sei von jeher die breite Mitte jeder historischen Darstellung von den Taten der Völker und Staaten und ihrer führenden Männer eingenommen worden. Von den Gewaltigen der Kunst und Wissenschaft aber ließe sich nur immer sagen, daß die neuen Gebilde des Völkerlebens nicht ohne sie möglich geworden seien. [* Den ursprünglichen Anfang des Absatzes: Fester und vertrauensvoller, als dies uns heute möglich i s t , . . . hat Meinedte auf Vorschlag des Verlages hin gestrichen.]
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Man weiß, daß er damit nicht etwa alle diejenigen Bestrebungen, die sich auf den Nenner Kulturgeschichte bringen lassen, zurückscheuchen wollte. In seiner eigenen Geschichtsschreibung spiegelte sieh audi seine eigene Persönlichkeit, die in fruchtbarem, niemals problematisch werdenden Wachstum den festen Kern des ethisch-politischen Willensmenschen von den feineren Organen eines ungewöhnlich aufgeschlossenen Geistesmenschen zu nähren vermochte. »Wer heute die Geschichte einer Nation schreibt«, heißt es, »kann an allgemein menschlicher Bildung nie genug besitzen; er darf keine Scheuklappen vor den Augen tragen, er soll den Flügen der Denker zu folgen und die Sorgen des Arbeitsmannes in der Hütte zu verstehen suchen.« Nebenher gesagt, wie unmittelbar menschlich und von allen lästigen -ismen frei, wußte er nodi von dem zu sprechen, was wir Geistes- und Sozialgeschichte nennen. Den Begriff der Geistesgeschichte verwandte er, was doch auch bemerkenswert ist, in diesem Zusammenhange überhaupt nicht, obwohl sein Freund Dilthey schon lange neben ihm wirkte — sondern sprach nach alter Weise von den Forschungen der Literatur-, Kunst- und Wirtschaftsgeschichte und der vertiefenden Erkenntnis, die von ihnen letzten Endes auch für das Verständnis des Staates als des rechtlich geeinten Volkes ausgegangen sei. Aber daran hielt er fest, daß alle diese Forschungen, deren Eigenwert er dabei nicht antastete, für den eigentlichen Geschichtsschreiber nur Hilfsdienste zu leisten hätten für seine eigene Aufgabe, die »Welt der politischen Taten und der in ihr waltenden sittlichen Gesetze« darzustellen. »Im Grunde läßt sich jede bedeutsame menschliche Tätigkeit in ihrer zeitlichen Entwicklung — also, wie man gedankenlos zu sagen pflegt, historisch — darstellen; doch je weiter sie vom Staate abliegt, um so weniger gehört sie der Geschichte an.« Hier ist der Punkt, wo seine und der Nachfahren Wege sich trennen. Betonen wir aber zuerst noch einmal das Gemeinsame, das Bleibende im Wandel, das durch Jahrtausende Bewährte. Große Geschichtsschreibung mit dem Zentrum des Staates und der für ihn handelnden Männer gab es immer seit Thukydides und muß es immer geben, weil — hier weiche ich in der Begründung allerdings schon etwas ab — der Staat und erst recht der tief in einem Volkstum verwurzelte Staat der mächtigste kausale Faktor für alles Gemeinschafts- und Kulturleben ist und weil es — nächst
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den Pflichten, die der Einzelseele gegenüber allem Göttlichen obliegen — die höchste und dringendste aller sittlichen Aufgaben ist, für Staat und Volkstum zu leben. Ich stehe auch nicht an zu sagen, daß es ein höchstes Ideal von Nationalgeschichtsschreibung ist, was Treitsdike selbst verwirklicht hat. Und daß zugleich auch eine Universalgeschichte gar nicht anders kann, als den Spuren Rankes zu folgen und in den Verwebungen der Staatenschicksale, durch sie hindurchblickend, die Entwicklung des menschlichen Geistes in der zusammenhängenden Fülle seiner individuellen Hervorbringungen ahnend zu verstehen. Noch etwas weiter als ich in der letzten Zielsetzung, Staatsgeschichte und Kulturgeschichte zur Einheit zu verschmelzen, geht Benedetto Croce, der kürzlich in der American Historical Review ([vol. 39] Januar 1934, Seite 230) schrieb: »Nella sua eterna qualità, essa (la buona storiografia) è la storia dell' anima umana e dei suoi ideali in quanto si concretano in teorie e in opere d'arte, in atti pratici e morali.« Ich kann mir diese alles verschmelzende Einheit (von ihm storia eticopolitica im Gegensatz zur alten storia politica o storia degli stati genannt) nur unter dem fest durchgeführten Primate der Staatenschicksale denken. Ohne den steten Aufblick zu ihnen und ihren Auswirkungen ist keines der übrigen historischen Gebilde voll zu verstehen. Die anima umana ist ein Proteus. Der Historiker darf jede seiner Verwandlungen liebevoll verfolgen. Aber zum Verkünden der Sdiidcsale muß er ihn bei seiner politischen Erscheinungsform festhalten. Wohl aber gibt die Entwicklung der Geisteswissenschaften seit Treitschke ihm Unrecht in der engen Begrenzung dessen, was er »historisch« nennt. »Bei der Geschichte der Chemie«, meint er, »liegt der Ton unzweifelhaft auf Chemie, nicht auf Geschichte.« Wer wird das heute in allen Fällen zugeben wollen? Selbst eine überwiegend auf praktisch-pädagogische Zwecke ausgerichtete Geschichte der Chemie verrät schon ein echtes historisch-genetisches Bedürfnis. Greift sie tiefer und erläutert sie die Fortschritte der Wissenschaft aus den geistigen und womöglich auch politischen Wandlungen, so kann sie zu einem, wenn auch naturgemäß unvollständigen Gleichnis und Symbol von Universalgeschichte werden. Man denke etwa an die neueren Arbeiten von Sudhoff und Diepgen. So hat schon Goethe die Geschichte der Farbenlehre behandelt und an dem einsamen englischen Mönche Roger Bacon
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sogar die durch die Klostermauern dringende politische Atmosphäre der Zeit gespürt. Alle Hergänge der Vergangenheit, auch die an sich ganz unpolitischen, hängen miteinander zusammen, deuten aufeinander, sind symbolisch füreinander. Mag das staatliche Schicksal als klarstes Deutungsmittel für sie überall unentbehrlich sein, so bilden sie doch alle miteinander ein untrennbares Gesamtgewebe, das der Forscher nur deswegen für seine Zwecke auseinander schneiden darf, weil es menschliche Kraft übersteigt, die Totalität des Werdens zu erfassen. Er muß sich mit Symbolen für sie begnügen. Und deines Geistes höchster Feuerflug Hat schon am Gleichnis, hat am Bild genug4. Keine Untersuchung der Entwicklung irgendeiner bedeutsamen menschlichen Tätigkeit läßt sich heute das Ehrenwort »historisch«, das Treitschke ihr bestreiten wollte, mehr rauben. Die vier Jahrzehnte seit Treitschkes Tode bedeuten zunächst — von den Hemmungen wird nodi zu sprechen sein — einen großen Siegeszug des historischen Sinnes, dessen was mit positiver Wertung Historismus heißt, auf allen Gebieten menschlicher Kulturtätigkeit. Jede von ihnen sdiaut heute noch eifriger, als es früher der Fall war, nach ihren Vorstufen aus, begnügt sich nicht mehr so häufig, wie es früher geschah, mit der antiquarischen Zusammenstellung von Tatsachen, sondern sucht den kausalen Zusammenhang mit den anderen Lebensgebieten und, wenn der Forscher besonders modern gestimmt ist, den geistigen Gehalt und Sinn der Erscheinungen zu deuten. Staatenschicksale, Wandlungen von Redit, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst usw. lassen sich nicht verstehen ohne die leisen Wandlungen der Denk- und Empfindungsweise, und umgekehrt. Zu dem Faktor des sittlichen Willens und des Handelns der führenden Männer, den Treitschke aus seiner heldischen Natur mit Vorliebe betonte (wirkte nicht auch der ältere Pragmatismus dabei in ihm nach?), trat mehr und mehr das, was wir als geistigen und seelischen Untergrund von Willen und Tat empfinden und als Idee, Zeitgeist, namentlich aber als Menschentum besonderer Art zu bestimmen suchen — wobei dann der gleich [4 Goethe, Gott und Welt:
Prooemion.]
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eintretende Exzeß zu etwas wolkigen Gebilden, wie gotischer Mensch usw.5 zum Glück audi bald wieder auf nüchterne Kritik und Mahnung, hübsch konkret und tatsachenfest zu bleiben, stößt. Letzten Endes sind es Samenkörner aus dem deutsdien Idealismus, die hier aufgingen, aus der Gedankenwelt Herders, Goethes, Wilhelm von Humboldts, auch die freilich zuweilen überschätzte Romantik nicht zu vergessen. In Ranke kam es zu ihrer bisher unerreichten Synthese mit den Staatenschicksalen. Daß Treitsdikes Reichtum ohne das Erbe Goethes, das er in sich aufnahm, nicht möglich war, sagten wir. Die positivistisch gerichtete Strömung innerhalb seines Zeitalters, der er selbst als Anwalt der freien und schöpferischen Persönlichkeit entgegenstand, wurde dann überwunden durch den Neuidealismus seit der Wende des Jahrhunderts, hat aber das eine Gute hinterlassen, daß der nüchterne Sinn für die Tatsachen, häßlich oder schön wie sie sein mögen, inmitten des Abstrahierens und Hypostasierens, zu dem die moderne Geistesgeschichte neigt, nicht ganz erstorben ist. Kein bloßes Abstrahieren aber ist es, wenn wir heute die goldene Kette großer Traditionen, die schon Herder immer erahnen wollte, wieder leuchtender durch die Jahrhunderte wirken sehen. Als ein Goetheforscher vor drei bis vier Jahrzehnten einmal zuerst von einem Zusammenhange Goethes mit Plotin zu reden wagte, wurde er, wie mir Burdach einmal erzählte, ausgelacht. Seitdem hat ihn Burdach (und nadi ihm Franz Koch) überzeugend gezeigt, und die oft verdunkelte, aber immer wieder auflebende Macht gerade der neuplatonischen Tradition wird immer sichtbarer, . Fügen wir hinzu, daß auch verschollene Kulturtraditionen, von denen unsere literarischen Quellen nichts wissen, die aber als Quellgewässer in den Gesamtstrom der antik-abendländischen Entwicklung mit hineingehören, wieder entdeckt worden sind, daß eine unbekannte Weltgeschichte hinter der bekannten aus den Ausgrabungen im Orient, auf Kreta, aus den prähistorischen Funden allenthalben und zumal im eigenen Vaterlande® wenigstens in Schattenbildern aufzusteigen beginnt. Der Rat, den Ratzel [5 Hier hatte Meinecke ursprünglidi geschrieben: nordischer, gotischer usw. Mensch.] [· Oer Hinweis auf das eigene Vaterland ist auf Anregung des Verlages eingefügt.]
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1904 in dieser Zeitschrift (93, 1 ff.)7 den Historikern gab, ihre gewohnten Perspektiven um Jahrtausende zu verlängern, ist befolgt worden. Und mit demselben Entdeckungseifer werden die fremden Kulturen und vergrabenen Kulturreste Asiens, Amerikas und selbst Afrikas aufgespürt, analysiert und in genetische Zusammenhänge gebracht. Der ganze Erdball ist in derselben Zeit, in der ihm das nivellierende Gewand der modernen Zivilisation übergeworfen wurde, auch gewissermaßen historisiert, d. h. um die Geheimnisse vergangener und vergehender Eigenkulturen befragt worden. Es ist, als ob nodh rasch ein Generalmuseum für sie errichtet werden müßte, bevor einmal neue welthistorische, kulturumwälzende Entscheidungen fallen. Damit ist schon leise angedeutet, daß auf das lichte Bild historischer Forschung, wie es uns bisher überwiegend vor Augen trat, auch tiefe Schatten fallen. Die schwere Frage, die sich uns aufs Herz legt, ist, um nodi einmal an die Worte Sybels von 1857 anzuknüpfen: Arbeiten und wirken wir heute für ein Museum, oder in jener freieren nationalen Atmosphäre, in der allein eine mit dem Leben verbundene Wissenschaft gedeihen kann? Ohne Freiheit — alle echte Freiheit ist dabei eine sich selbst beschränken müssende Freiheit — und ohne nationalen Wurzelboden mit seinen erfrischenden Antrieben ist auch der Drang ins Universale und Allmenschliche, den wir in der modernen Forschung gewahrten, zu erstarrender antiquarischer Museumsgelehrsamkeit verurteilt. Die Tendenz zu einer solchen und zu einem technischen Virtuosentume war als Gefahrenquelle von vornherein mit jenem Drange verbunden, weil die ungemeine Ausdehnung der Arbeitsgebiete zugleich zu immer engerer Spezialisierung zwang. Der Außenstehende, der geistige Bedürfnisse hatte und dabei den harten und engen, aber schließlich dodi, wenn man nur will, wieder ins Freie führenden Weg der Forschung scheute, wurde ungeduldig, setzte seine unbefriedigte Subjektivität gegen uns ein und forderte rasche und blendende Synthesen zur Stillung seines Kulturhungers, die ihm denn audi reichlich geliefert wurden. So begann, in kleinen Anfängen schon vor dem Kriege, das, was man die Krisis des Historismus bei uns genannt hat. Die seelischen Erschütterungen des Weltkrieges, der Friede von Ver[7 Friedrich, Ratzel, spektive.]
Geschichte, Völkerkunde
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sailles, der unserem Volke den Stachel der Unfreiheit und Demütigung eingesenkt hat, die sozialen Zermürbungen und der zum Mißglücken verurteilte Versuch 8 einer staatlichen Neubefriedung auf demokratisch-parlamentarischer Basis haben dann eine geistige Lage bei uns geschaffen, die auch zum vollen Ausbruch dieser Krisis des Historismus geführt hat. Benedetto Croce hat in seiner Critica vom 20. Mai 1933, S. 211, richtig bemerkt, daß es in England und Frankreich zu einer solchen Krisis nicht gekommen sei und daß hier weiter gearbeitet werde wie bisher, freilich auch ohne neue Vertiefung. Für Italien darf er sich rühmen, sie geleistet zu haben. Ich unterlasse es, die Erscheinungsformen dieser Krisis im einzelnen zu schildern. Sie ist nun auch in ein völlig neues Stadium getreten durch den Umschwung, der in Deutschland 1933 erfolgt ist. In dieser Lage aber darf man nun wieder an die Impulse erinnern, unter denen die Historische Zeitschrift 1859 gegründet worden ist®. Sybel verhieß damals, solche Stoffe zu bevorzugen oder solche Beziehungen in den Stoffen behandeln zu lassen, »welche mit dem Lesen der Gegenwart einen noch lebenden Zusammenhang haben«. Heute darf dieses Wort noch ergänzt und vertieft werden. Denn dieser »lebende Zusammenhang« ist [8 Der Verlag hatte stattdessen vorgesdilagen: der mißglückte Versuch . . . ] [· In der Erstfassung stattdessen: Die Erscheinungsformen dieser Krisis im einzelnen zu schildern, geht über den Rahmen dieses Geleitwortes hinaus. Sie hat zwar nur wenige unter uns Forschern innerlich ganz unberührt gelassen, aber die Kernwerke unserer Arbeit noch nicht zerstört. Ich habe es für die Aufgabe unserer Zeitschrift gehalten, den Gang der Krisis zwar aufmerksam zu verfolgen, aber das Schwergewicht auf die Pflege positiver Forschung, so kritisch und zugleich so lebensvoll wie möglich zu legen. Der Kampf der Zeitschrift gegen die üble historische Belletristik Emil Ludwigs und die Auseinandersetzungen Bradcmanns und Hampes mit der geistig ernster zu nehmenden mythisierenden Geschichtsschau der Georgesdiule sind, wie ich glaube, nicht ganz unwirksam geblieben. Der Aufsatzteil der letzten 75 Bände aber mag zeigen, daß sowohl die universale wie die nationale Lebensader unserer Wissenschaft in ihm geschlagen hat.]
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reicher und unberechenbarer, als man es damals wohl ahnte. Er wandelt sich nämlich selbst von Generation zu Generation, und eine Vergangenheit, die gestern noch tot und gleichgültig für uns erschien, kann heute schon zu neuem Leben erwachen10. Selbst die entfernte prähistorische Vergangenheit ist nichts endgültig Totes, sondern kann ungeahnt neue Strahlen in unser Leben aussenden. Über dieses schlummernde und dann plötzlich wiedererwachende Leben in allem Vergangenen hat Heussi in seiner Schrift über die Krisis des Historismus" 1932 Schönes gesagt. Die nationalsozialistische Revolution hat es gleich darauf bestätigt. Sie fühlt sich getragen von Kräften des Bluts und der Rasse, die aus fernster Vorzeit stammen. Sie fordert Liebe für den deutschen Boden und alles heimatliche Erbgut von Kultur, das auf ihm gewachsen ist. Sie fordert dieselbe Liebe für die Inseln deutschen Volkstums, die jenseits der Reichsgrenzen liegen. Sie erinnert den einzelnen deutschen Menschen nachdrücklich an seine eigenen Ahnen, an ein Urmoment also, aus dem historischer Sinn entspringen kann12, wie denn schon Leibniz seine genealogischen Studien auch mit dem tieferen Interesse, die connection naturelle des hommes geschichtlich zu begreifen, getrieben hat. Dürfen wir nicht überhaupt sagen, daß diese neu an uns herantretenden Forderungen audi in dem Erbgute unserer Wissenschaft wurzeln15? Darum wird sie jeder deutsche Historiker, mag er denken, wie er will, mit Freuden anerkennen und fördern können. Aber nur das aus reinem wissenschaftlichen Wahrheitsbedürfnis Geschaffene wird dabei auf die Dauer von Bestand bleiben. Inhaltsschwer und verpflichtend bleibt das Wort des Johannesevangeliums [8,32] : »Die Wahrheit wird Euch frei machen.« [io In der Erstfassung nur: Wie denn überhaupt die Vergangenheit und selbst... mit geringfügiger stilistischer Änderung.] [u Vgl. Meineckes Rezension und sein eigener Aufsatz »Von der Krisis des Historismus« Werke, Bd. IV, S. 196 ff.] ["Die vom Verlag erbetene Streichung des kann hat Meinecke abgelehnt.] [" Diese Frage beim Wiederabdruck neu hinzugefügt.]
Geschichte und Kirchengeschichte Besprechung des Buches von Walter Nigg »Die Kirdiengeschichtssdireibung. Grundzüge ihrer historischen Entwicklung.« München 1934. Historische Zeitschrift Bd. 150 (1934) S. 315-318. Der Wiederabdruck erfolgt hier wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Besprechung, dabei ist der Titel hinzugefügt und der erste Satz, der nur ein allgemeines Lob des Buches aussprach, fortgelassen worden.
Das hohe Ziel einer Geschichte der Geschichtsschreibung ist, zunächst einmal das Individuelle der einzelnen Leistung scharf zu erfassen, was schon nicht möglich ist ohne einen an universalem Geschichtsverlauf und durch bestimmte Zeitkenntnis geschulten Blick. Die zweite Aufgabe ist, das einzelne Phänomen als Welle im Strom, als Moment eines übergreifenden geistig-geschichtlichen Gesamtverlaufs, der dann wiederum als Individualität höherer Art erscheinen wird, zu verstehen. Was dann an diesem Prozesse lediglich sichtbare Kontinuität, langsames An- und Abschwellen bestimmter Tendenzen ist, läßt sich dann leicht und quellenmäßig greifbar bestimmen. Das Neue dagegen, das Umwälzende und andere Wege Einschlagende, obgleich es zutiefst ebenfalls auf Kontinuität, aber auf einer durch dialektische Gegensätze sich fortpflanzenden Kontinuität beruht, bedarf recht oft, weil die Quellenaussagen nicht ausreichen, einer kühneren und leicht dann subjektiv werdenden Deutung seiner Ursachen und Motive. Wer vor ihr zurückscheut, liefert nur Materialien, aber keine Geschichtsschreibung. Die Auswahl des Stoffes darf sogar auf solche Erscheinungen konzentriert werden, in denen der Werdestrom, vielleicht durch unsichtbare Barrieren gezwungen, seinen Lauf verändert. Es ist dann nicht tinbedingt nötig, vollständig und erschöpfend zu sein in der Angabe aller Mittelglieder und Vorstufen, aller kleinen Geister also etwa der Geschichtsschreibung, die hier und da eine Nuance beisteuern könnten. Die größeren Autoren, wenn man sie nur gebührend gründlich betrachtet, enthalten und repräsentieren auch die Leistung der kleineren. Ohne solche Repräsentation des Kleinzeugs durch das Große ist gute Geschichtsschreibung nicht möglich.
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Damit ist schon die Methode des Verfassers beschrieben. Er ist audi hinter seinem Ziele nicht allzuweit zurückgeblieben. Er hat sich von allen theologischen Befangenheiten freigemacht und sieht die Kirchengeschichte und ihre Historiographie mit den Augen des reinen Historikers an, was durchaus nicht ausschließt, sogar auf unserer heutigen Erkenntnisstufe fordert, hinter der Immanenz audi die Transzendenz der historischen Phänomene durchschimmern zu lassen. Das drängt sich ja gerade bei seinem Thema, das im Grunde ein Ausschnitt aus einer allgemeinen Religionsgesdiidite ist, gebieterisch auf. So läuft denn die Darstellung nicht nur in einer warmen Anerkennung der Verdienste von Troeltsch um eine Historisierung der Kirchengeschichte, sondern auch in dem Postulate aus, dem Begriffe der »christlichen Kirche« selbst, der unter den neueren historisierenden Behandlungen verlorenzugehen droht, eine neue feste, natürlich nicht dogmatisch, wohl aber religionsgeschiditlidi und letztlich metaphysisch gestützte Basis zu geben, eine zusammenfassende »Idee« der christlichen Kirche also wiederzufinden. Der Verfasser wählt also sehr stark aus unter den Autoren, stützt sidi auf zahlreiche monographische Vorarbeiten, hat aber auch, soweit man sieht, durch eigenes Lesen und Durchdenken der Autoren überall ein selbständiges Bild von ihnen sich zu formen verstanden. Er gliedert seinen Stoff folgendermaßen: die mythische Geschichtsschreibung (Eusebios und seine Fortsetzer), dann mit einem großen, aber wohlmotivierten Sprunge über das Mittelalter hinüber die konfessionelle Geschichtsschreibung (Magdeburger Genturien und Baronius), die spiritualistisdie Geschichtsschreibung (Gottfried Arnold), die pragmatische Geschichtsschreibung (Mosheim, Semler, von Schroeckh zu Planck), die romantische Geschichtsschreibung (Neander und Karl von Hase), die idealistische, d. h. von Hegel stark beeinflußte Geschichtsschreibung (Baur), und schließlich die profane Geschichtsschreibung unserer Tage, aus der nach kurzer Behandlung von Ritsehl, Harnack und Troeltsch Karl Müller als Repräsentant herausgegriffen wird. Der Verfasser hat eine frische und lebhafte, beinahe muntere Art des Charakterisierens und überall einen scharfen Blick für das Individuelle im Rahmen des Zeitgebundenen. Mit besonderem Vergnügen schaut man sich zumal das von ihm mit Liebe und dabei nicht ohne leise Ironie gemalte Porträt von Karl von
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Hase an, der dabei freilich, neben Neander in die romantische Geschichtsschreibung eingereiht, in eine geistesgesdiiditlich nicht ganz passende Nachbarschaft geraten ist. Bei Hase macht sich vielmehr schon der auch vom Verfasser nicht unbeachtet gebliebene Einfluß von Rankes Richtung geltend. Die Pragmatiker finde ich etwas überschätzt. Ich würde überhaupt die Linien, die vom 18. zum 19. Jahrhundert führen, etwas anders ziehen und die Bedeutung Herders für das neue Sehen der Dinge noch stärker, als es schon geschehen ist, betonen. Auch die Richtungen der Forschung im späteren 19. und beginnenden 20. Jahrhundert könnten m. E. noch tiefer auf dem Hintergrunde der allgemeinen Entwicklung aufgefaßt werden. Hier und da befriedigt auch der sonst sehr ausdrucksvolle, klare und sichere Stil nicht ganz und berührt etwas salopp. Ein wichtiger und interessanter Grundgedanke des Buches ist nodi hervorzuheben. »Während sich die Idee der Kirche bis zu Baronius in unverminderter Kraft entfaltet und erst in der Neuzeit ihren großen Sturz erlebt, bleibt die historische Methode lange Zeit in primitiven Anfängen stecken und ersteigt, als die Idee der Kirche ihren Tiefstand erreicht, ihren Höhepunkt. Wie die beiden Teile einer geöffneten Schere überschneiden sich die einander entgegengesetzten Entwicklungsreihen an einem Punkt. Dieser Schnittpunkt in der Kirchengeschichtsschreibung liegt bei Gottfried Arnold« (S. 249 f.). Bei Arnold nämlich habe sich der Begriff der Kirche derart spirituell ins Unsichtbare verflüchtigt, daß er als Gegenstand der Untersuchung nicht mehr recht tragfähig werde. Zugleich aber tauche in ihm eine erste dunkle Ahnung der (selbstverständlich immer nur zu erstrebenden, niemals ganz zu verwirklichenden) Objektivität der modernen Wissenschaft auf, wenn er »mit Hintenansetzung aller vorgefaßten Meinungen« und »ohne Absehen auf menschliche Autorität« zu Werke gehen wolle (S. 85). Dazu ist freilich zu bemerken, daß diese Worte auch von dem naiven Realismus der älteren Historiker, die die geschichtliche »Wahrheit«, falls man nur sine ira et studio vorgehe, für leicht erreichbar hielten, hätten gesprochen werden können. Wichtiger für die Anbahnung einer neuen historischen Methode scheint mir ein anderer, auch vom Verfasser bemerkter Zug bei Arnold zu sein, daß er nämlich den Schwerpunkt der geschichtlichen Betrachtung auf das Individuum, auf »das
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menschliche Herz und sein Leben« (Seeberg) zu verlegen beginnt. Der Weg zu einem neuen Gesdbichtsverständnis mußte eben, wie idi es in meiner Studie über Arnolds Zeitgenossen Shaftesbury (Sitzungsberichte der Preuß. Akad. d. Wiss. 1934, VII) 1 zu zeigen versucht habe, von einem tieferen Erleben und Verständnis der menschlichen Seele aus gebahnt werden. Der Durchgang durch die Subjektivität war es also eigentiimlidierweise, der das neuere geschichtliche Denken zu demjenigen Grade von Objektivität geführt hat, der überhaupt dem menschlichen Geiste möglich ist.
f1 Erweitert übergegangen in das Hauptwerk »Die Entstehung Historismus« (1936) Werke Bd. III (1959) S. 13-27.]
des
Archivberuf und historische Forschung Stellungnahme zu dem in einem Aufsatz der Beilage der Münchener Allg. Ztg. vom 11. Jan. 1901 gemaditen Vorschlag auf Umwandlung des bisher der preußischen Archiwerwaltung unterstellten Preußisdien Historischen Instituts in Rom in ein Reichsinstitut, hinter dem Paul F. Kehr stand und der in der Folge durdi eine von etwa 600 deutschen Historikern unterzeichnete Petition Marburger Historiker vom 1. April 1901 unterstützt wurde. Die Stellungnahme ist damals nicht veröffentlicht worden, und Meinecke hat sich auf eine kurze Notiz in der Historischen Zeitschrift Bd. 86 (1901) S. 532 beschränkt, die er immerhin so wichtig nahm, daß er in der Historischen Zeitschrift Bd. 112 (1914) S. 417 noch einmal darauf verwies, als er in dem Streit zwischen Kehr und Dietrich Schäfer über die hilfswissenschaftliche Ausbildung des historischen Nachwuchses sich wiederum gegen Kehrs zentralistische Tendenzen wandte. Sein ausführlicher Aufsatz von 1901 ging aber weit über den speziellen Anlaß hinaus und ist deshalb postum in der Zeitschrift »Der Archivar« Jg. 10 (1957) Sp. 1-6 gedruckt worden. Wir folgen hier diesem Abdruck.
Die deutschen Historiker sind alarmiert worden durch die Marburger Petition, welche die Umwandlung des Preußisdien historischen Instituts in Rom in ein Reichsinstitut fordert. Ein schwerer Mangel der Organisation läge vor, wird ihnen gesagt, durch die Eingliederung des Instituts in den Verband und die Anciennität der preußischen Archivverwaltung, die seit einigen Jahren besteht. An die Spitze des Instituts gehöre eine bedeutende und anregende Persönlichkeit; um ihn herum müsse man sich eine Reihe junger Stipendiaten wünschen, die ihre »römischen Lehrjahre« nutzbringend sowohl für ihre eigene Ausbildung wie für die praktischen Aufgaben historischer Forschung in Italien verleben und, in die Heimat zurückgekehrt, den verschiedenen Berufen, die ein Historiker ergreifen kann, frisches Leben zuführen. Das klingt sehr plausibel und verlockend, und wer dagegen für eine Beibehaltung des Instituts auf dem Etat der Archivverwaltung plädiert, mag, wenn er selbst Archivbeamter ist, leicht in den Verdacht kommen, mehr an seinen Beruf als an die Bedürfnisse der Wissenschaft zu denken. Mir liegen aber beide gleich sehr am Herzen, und ich weiß mich zudem völlig frei und unabhängig in meiner Meinung über diese Dinge.
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Die Frage muß in einem viel weiteren Rahmen erörtert werden. Es handelt sich nidit nur um die beste Methode für »römische Lehrjahre« deutsdier Historiker und für die Ausbeutung archivalischer Schätze Italiens, sondern um die Organisation der historischen Arbeit in Deutschland überhaupt. Genauer begrenzt: der Berufsstellungen, in denen ein Historiker heutzutage seiner Wissenschaft dienen kann. In erster Linie sind das der akademische und der ardiivalische Beruf, in zweiter Linie Bibliotheksberuf und Lehramt an Mittelschulen. Und zwar in zweiter Linie, weil das Schwergewicht dieser beiden Berufe im Laufe der letzten Jahrzehnte mehr und mehr auf die praktische Seite sich geneigt hat. Die Anforderungen des Dienstes sind hier allmählich derart gesteigert worden, daß ein ungewöhnliches Maß von Energie und Arbeitsfreudigkeit nötig ist, um nebenher intensive wissenschaftliche Forschung zu treiben. Der Pädagoge und der Beamte hat den Gelehrten zwar nidit ganz verdrängt, aber doch stark in den Hintergrund geschoben, und der tiefgelehrte, stillsinnige Bibliothekar, früher ein Typus des deutschen Gelehrtenstandes, gehört fast schon der Vergangenheit an. Es ist nicht einmal bloß die bürokratische Verwaltung, die darauf hingewirkt hat. Die ganze Lebensrichtung des jüngeren Nachwuchses hat sich gewandelt, ist praktischer, realistischer, resoluter geworden. Dem amerikanischen Beobachter deutscher Mittelschulen, über den jüngst in diesen Blättern berichtet wurde, ist schon der Unterschied zwischen dem jüngeren Gymnasiallehrer, der straff und bestimmt vor seiner Klasse steht, und dem älteren, vielleicht gelehrteren, aber viel weicheren und unentschiedeneren Lehrer aufgefallen. Kurzum, wer heute sein Leben wissenschaftlicher Arbeit widmen will, wird sich dreimal besinnen, ehe er den Stand des Mittelschullehrers oder Bibliotheksbeamten ergreift. Das ideale Ziel wird für ihn wohl immer der Beruf des akademischen Lehrers sein, der durch seine Verbindung von Lernen und Lehren, Rezipieren und Produzieren, intensiver Vertiefung und Umspannung weiter Gebiete wie kein anderer geeignet ist, die wissenschaftliche und geistige Persönlichkeit zu entwickeln. Es ist aber heute nicht mehr möglich und auch nicht einmal wünschenswert, daß die Universitäten die alleinigen Pflegestätten selbständiger und intensiver wissenschaftlicher Arbeit sind. Es müssen neue Organe geschaffen werden, um den frischen Kräften, die sich ihr
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widmen, Raum zur Entfaltung zu geben. Idi will gar nicht einmal von der rein äußerlichen Tatsadie sprechen, daß der Andrang zum akademischen Beruf speziell auf dem Gebiete der Geschichte heute übermäßig stark ist, daß es ausgeschlossen scheint, auch nur allen den Tüchtigeren unter den jungen Bewerbern mit der Zeit befriedigende Lebensstellungen zu geben. Das Versorgungsprinzip darf in dieser Frage nicht entscheiden. Rein aus den Bedürfnissen der Wissenschaft selbst muß unsere Forderung begründet werden können. Wir dürfen uns auf das gewichtige Votum Adolf Harnacks berufen, der in den Preußischen Jahrbüchern vom Mai 1898 den Gedanken entwickelt hat, daß die Universitäten heute nicht mehr ausreichen, um die gesteigerten Aufgaben der Wissenschaft zu bewältigen. Er fordert, daß den Akademien Männer beigegeben werden, die ihre ganze Kraft bestimmten wissenschaftlichen Aufgaben widmen können, er legt der Unterrichtsverwaltung ans Herz, daß hier ein neues, unabweisbares Bedürfnis in großem Sinne aufgefaßt und befriedigt werden müsse. Seiner Initiative wird es vielleicht zu danken sein, daß die preußische Regierung bei der Jubelfeier der Berliner Akademie die Schaffung einiger wissenschaftlicher Beamtenstellen bei derselben versprochen und dann auch vollzogen hat. Ein verheißungsvoller Anfang, der nun die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen vor die Frage stellt, wie sie sich den weiteren Ausbau für ihre besonderen Zwecke zu denken haben. Und hier wird nun die deutsche Geschichtswissenschaft, soweit es sich um Mittelalter und neuere Zeit handelt, durch die Statur der ihr jetzt gestellten Aufgaben auf die Archive und auf die Archivare aufs stärkste hingewiesen. Es hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten auf einigen Gebieten mittelalterlicher Forschung ein Wandel vollzogen, der den Archivar etwas ins Hintertreffen geschoben hat. Er ist nicht mehr wie früher der eigentliche Träger systematischer Urkundenforschung und hilfswissenschaftlicher Studien überhaupt: der Diplomatiker von Fach, der durch vielfache Archivreisen versiert ist, der über ein viel reicheres Vergleichungsmaterial verfügt, hat den an sein Archiv gebundenen Archivar überholt. Dieser Verlust ist aber reichlich wettgemacht durch die Aufgaben der Aktenforschung, die heute in erster Linie dem Archivar mit obliegen. Wir erinnern an die großen, grundlegenden Publikationen zur politischen Geschichte, wir erinnern
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ferner daran, daß s idi ihm neuerdings, durch die Wendung des geschichtlichen Interesses zur inneren Geschichte, ein neues Arbeitsfeld eröffnet, das er unter den Pflug nehmen kann, das ihm und der Archivwissenschaft die reichsten Ernten verspricht, wenn, — ja über das Wenn gleich nachher. Dies neue Forschungsgebiet ist, wie wir Historiker alle wissen, die innere Geschichte der deutschen Territorien, keine antiquarische am Einzelnen klebende, sondern eine von großen Gesichtspunkten ausgehende Erforschung auch des scheinbar Kleinen, die vergleichende Verfassungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des deutschen Volkes, erfaßt an ihren historischen Trägern, den Territorien. Kollektivisten und Individualisten sind heute mit gleichem Eifer bemüht, hier in die Tiefe zu dringen, aber es müssen noch viel mehr Arbeiter in diesen Weinberg kommen, wenn das Ziel einigermaßen erreicht werden soll. Und weitere, ebenso hohe und schwierige Aufgaben werden die nächsten Jahrzehnte dann stellen! Nachdem das ancien régime Deutschlands aufgehellt ist, muß das 19. Jahrhundert in der Fülle seiner Erscheinungen, seiner großen und charakteristischen Gestalten, seiner so mannigfach verzweigten Entwicklungen uns zur wissenschaftlichen Erkenntnis gebracht werden. Und alle diese Studien sind ohne Archive wie die Mühle ohne Wasser. Man wende nun nicht ein, daß Archivverwaltung und Archivbenutzung getrennte Dinge seien. Heutzutage steht es für die großen historischen Publikationen vielmehr so, daß der ständige Archivbenutzer zugleich ein Stüde Archivbeamter, das heißt ein Mann, der sich in die organische Struktur des von ihm benutzten Archivs hineinlebt, sein muß, und umgekehrt der Archivbeamte sich in die wissenschaftlichen Ziele seines Benutzers hineinarbeiten und mit ihm mitforschen muß. Wo diese beiden Bedingungen nicht erfüllt werden, bleibt die Publikation ein zufälliges Stückwerk. Geben doch auch, wie oben erwähnt, die Veranstalter der Marburger Petition zu, daß für die Arbeiten beim historischen Institut in Rom die Mitwirkung geschulter Archivbeamter auf die Dauer nicht zu entbehren sei. Soll nun aber der Archivbeamte die Arbeiten anderer Forscher mit vollem Verständnis unterstützen, so muß er selbst in eigener Tätigkeit seine Kräfte geübt, seinen Gesichtskreis erweitert haben. Tut er das nicht, so sinkt er auf die Dauer mit innerer Notwendigkeit zum wissenschaftlich gedrillten
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Registrator und Bürobeamten herab und kann den Aufgaben nicht gerecht werden, welche die wissenschaftliche Benutzung an ihn stellt. Lebendige Wechselwirkung zwischen Archivberuf und historischer Forschung ist ein unumgängliches Postulat der modernen Geschichtswissenschaft. Tatsächlich wird denn auch von den deutschen Archivbeamten eine rege wissenschaftliche Tätigkeit entfaltet. Von den Publikationen, welche die Akademien, die preußische Archiwerwaltung, die historischen Kommissionen der verschiedenen deutschen Landschaften veranstaltet oder begonnen haben, ist ein beträchtlicher Teil in die Hände von Archivaren gelegt. Sind doch manche Publikationen bei der Eigenart des Materials überhaupt nur von einem ganz erfahrenen und findigen Archivbeamten durchzuführen. Genügt aber diese Beteiligung an den Editionsarbeiten auf die Dauer für die wissenschaftliche Entwicklung des Archivbeamten? Ich antworte mit einem entschiedenen Nein. Ohne die selbständige geistige Verarbeitung des Gesammelten und ohne lebendigen Konnex mit den allgemeinen, die Forschung leitenden Fragen und Interessen entartet die Publikationstätigkeit entweder zur Handwerksroutine oder zum antiquarischen Sammeleifer. Gothein hat zuerst von dem Fehler gesprochen, »in den publizierende Archivare so leicht verfallen, das Bedeutende und Bedeutungslose, das nirgends ununterschiedener als inVerwaltungsakten zusammenliegt, mit gleicher Liebe zu behandeln«. So leidet also nicht nur der Editor, sondern die Edition selbst, wenn das Schwergewicht der wissenschaftlichen Tätigkeit des Archivars auf dem Edierten liegt. Selbständige freie Forschung und Produktion ist das einzige Mittel, um den Geist frisch und den Blick hell zu erhalten. Wer hindert, wird man fragen, den Archivar daran? Er ist vielleicht nicht in dem Grade wie der Lehrer und Bibliotheksbeamte durch die laufenden Berufsgeschäfte überlastet, diese selbst berühren sich auch reger mit den Aufgaben der Forschung und wirken selbst nicht selten unmittelbar anregend auf sie. Aber dennoch wird der Zwang und Druck des täglichen Berufes auf die Dauer empfunden. Die Zersplitterung, die gerade die Art des Archivdienstes mit sich bringt, hemmt jede innere Sammlung, ohne welche die geistige Durchdringung des Stoffes nicht gelingen kann. Jahrelange ruhige Vertiefung in eine eigenartige geschichtliche Erscheinung, verbunden mit lebendiger Anteilnahme an den
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großen, die Wissenschaft bewegenden Problemen, das allein bringt uns wissenschaftlich vorwärts. Harnadc zweifelt schon, daß der Universitätslehrer nodi in der Lage sei, so zu arbeiten; er weist nachdrücklich darauf hin, wie zufällig und unsystematisch dieser jetzt oft seine Studien treiben müsse. Wieviel ungünstiger ist die Lage des Archivars. Diesem Mangel an Bewegungsfreiheit, diesem Drucke des Berufes ist es wesentlich zuzuschreiben, daß sich die literarische Tätigkeit des Archivars vorwiegend auf das Edieren und Sammeln und auf die mehr antiquarisch gerichtete Untersuchung gelegt hat, daß höhere Leistungen der Forschung und Darstellung verhältnismäßig selten geboten werden. Wem der Ehrgeiz danach steht, der wendet sich eben von vornherein, wenn er irgend kann, dem freieren akademischen Berufe zu. Der Archivar kann auf die Dauer im wissenschaftlichen Wettkampf mit den Universitätslehrern nicht konkurrieren, weil die äußeren Schaffensbedingungen von vornherein ungleich sind, und indem dies wieder auf die Berufswahl des Nachwuchses zurückwirkt, sinkt das Niveau noch tiefer. Der deutsche Archivar ist heute, im Durchschnitt genommen, dem Universitätslehrer wissenschaftlich nicht ebenbürtig. Das mag ja immer so gewesen sein, aber es ist nicht wünschenswert, daß es so bleibt. Eben die gesteigerten und vermehrten Aufgaben der geschichtlichen Forschung erheischen unbedingt eine regere Teilnahme gerade des Archivars, aber eines Archivars, der die Vorzüge seiner speziellen Berufserfahrung verbindet mit vollwertiger wissenschaftlicher Befähigung, der seine Kräfte freier regen und entfalten kann, als des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr gestattet. Und da die Erfüllung der ardiivalisdien Berufspflichten darunter nicht leiden darf, da der tägliche Dienst getan werden muß und soll, so bleibt nur übrig, neue Formen des ardiivalisdien Berufs neben den alten zu schaffen, kurz gesagt, einen Generalstab neben der Truppe, wissenschaftliche Beamtenstellen neben den Berufsstellen im Rahmen des Archivetats zu schaffen. Damit jedem Talente die Möglichkeit wird, für größere wissenschaftliche Aufgaben einmal alle Kraft zusammenzunehmen. Die Berufung in eine staatliche wissenschaftliche Beamtenstelle muß ebenso wie die in den Generalstab als eine Auszeichnung gelten, die verdient sein will allein durch wissenschaftliche Begabung und Tüchtigkeit. Damit wird ein belebender Ansporn geschaffen,
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damit werden aber audi solche Kräfte, die bisher allein im akademischen Berufe sich glaubten ausleben zu können, für den Ardiivberuf gewonnen und kommen nun audi wieder den praktischen Aufgaben desselben zugut. Überhaupt ist es ein großer Irrtum, zu glauben, daß der beste Ardiivbeamte derjenige ist, der sich eng auf seinen unmittelbaren Beruf beschränkt. Die genaueste Archivkenntnis, die rationellste Behandlung von Recherchen und Ordnungsarbeiten habe ich in meiner Praxis wenigstens immer bei denjenigen Kollegen gefunden, die audi als Gelehrte Hervorragendes leisteten. Die Belebung der wissenschaftlichen Tätigkeit, die Zuführung frischer Talente kommt also der Archivverwaltung ebenso zustatten wie der Wissenschaft. Idi denke mir die Organisation etwa so: Die neuen Stellen bilden keine abgeschlossene Kaste, sondern nach einer Reihe von Jahren kann der Inhaber auch wieder in den praktischen Beruf zurücktreten. Es ist unumgänglich, daß den Inhabern dieser Stellen bestimmte größere Aufgaben gestellt werden, die ihrer Neigung und Begabung entsprechen, am besten von ihnen selbst vorgeschlagen werden; es können das ebensowohl Publikationen als Untersuchungen über größere Materien oder selbständige größere Darstellungen sein. Ferner aber sind diese neuen Stellen dazu bestimmt, feste Kadres für die historischen Institute im Ausland abzugeben, denn wir haben nicht nur ein Institut in Rom, sondern zum mindesten ebenso dringend eines in Paris nötig. Der alte Baumgartensdie Gedanke, historische Attachés im Auslande für die Zwecke der deutschen Geschichtswissenschaft arbeiten zu lassen, kann dann endlich verwirklicht werden. Zu den ein bis zwei Beamten, die den Kadre des römischen Instituts bilden, mögen dann, wie die Petition will, noch recht viel junge Stipendiaten treten, die hier ihre »römischen Lehrjahre« absolvieren. Es ist selbstverständlich, daß zur Leitung solcher Institute nur bedeutende Persönlichkeiten taugen. Und überhaupt wird das reine Anciennitätsprinzip unmöglich auf diese neuen Stellen übertragen werden können. Sie sollen in erster Linie ja dem Archivar offenstehen, aber es darf für sie ebensowenig eine chinesische Mauer aufgerichtet werden wie für den akademischen Beruf. Sonst erstarrt die Einrichtung sogleich. Wir denken uns zum Beispiel, daß den jungen Kräften, die jetzt auf eine Reihe von Jahren in den Dienst von Publikationsinstituten treten und die sich in
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ihm bewähren, hier eine Möglichkeit geboten werde, eine feste und befriedigende Lebensstellung zu erlangen. Es wäre sogar nicht ausgeschlossen, daß diese Publikationsinstitute, soweit sie über sichere und dauernde Einkünfte verfügen, finanziell mitwirken zur Schaffung fester wissenschaftlicher Beamtenstellen. Denn das jetzige System, junge Historiker auf ein paar Jahre anzuwerben, ihre frischeste Arbeitskraft für engumgrenzte Aufgaben auszunutzen und dann sich selbst zu überlassen, ist eine Art Raubbau. Wir hören nun freilich gleich die besorgte Frage der Archivare: Also eingeschoben soll werden? Diese Abneigung gegen Einschiebungen ist j a berechtigt in einer reinen Beamtenlaufbahn, deren Avancementsverhältnisse ungünstig sind und deren Aufgaben nur ein mittleres Maß von Wissen und Können verlangen. Durch die von uns vorgeschlagene Organisation werden aber ganz neue Verhältnisse entstehen, der Beruf im ganzen wird dem akademischen angenähert werden, und dieser Gewinn wird reichlich entschädigen für etwaige kleine Verluste der Anciennität, die den einzelnen einmal treffen könnten. Man wird uns weiter fragen, ob die Archiwerwaltung auch dauernde Garantien für die Auslese der Tüchtigsten böte, ob nicht einem wissenschaftlich hochstehenden Leiter derselben vielleicht einmal ein reiner Bürokrat folgen könne, ob nicht deshalb die neuen Stellen besser den Akademien unterstellt würden. Wir antworten mit dem Hinweise darauf, daß tatsächlich schon jetzt das der preußischen Archiwerwaltung angegliederte Institut in Rom unter Mitwirkung einer Kommission der Akademie der Wissenschaften verwaltet wird. Es hindert nichts, diese Mitwirkung auch auf die zu schaffenden Stellen auszudehnen. Unsere Wünsche und Hoffnungen knüpfen sich, wie man sieht, in erster Linie an die preußische Archivverwaltung. Die »Publikationen aus den preußischen Staatsarchiven«, ein Ehrendenkmal ihres hohen wissenschaftlichen Sinnes, weisen ja schon direkt dahin. Hier wäre es am ersten möglich, unsere Gedanken zu verwirklichen, denn je größer der Verband, um so größer nicht nur die Mittel, sondern auch die Auswahl tüchtiger Elemente. Darum wünschen wir dringend, daß zum mindesten das Historische Institut in Rom der preußischen Archiwerwaltung als eine erste der neu zu schaffenden wissenschaftlichen Positionen erhalten bleibe. Der Übergang des römischen Instituts in Reichsverwaltung
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schützt an sich durdiaus nicht vor Mißgriffen in der Wahl der leitenden Persönlichkeiten und setzt es wahrscheinlich eher unangenehm politischen Einflüssen aus als der jetzige Verwaltungsmodus. Sollten die Ardiivverwaltungen der Mittel- und Kleinstaaten, in denen ja audi schon mancher Ansatz zu einer freieren und höheren Auffassung des Archivberufes existiert, mit gutem Beispiel vorangehen, so kann man sich darüber nur freuen. In einzelnen Stadtarchiven ist schon jetzt der Zustand nahezu verwirklicht, den wir uns wünschen; hier gilt es also nobile officium des Archivars, Wissenschaft auch von Berufs wegen zu treiben, soweit der spezielle Archivdienst nicht darunter leidet. Möchte es also audi der Staat nicht für einen Raub halten, Beamte zu besolden, von denen er keinen unmittelbaren Nutzen hat. Es würde einen großen Sieg über den öden Utilitarismus bedeuten, wenn er es über sich gewänne, der freien Wissenschaft neue Stätten zu eröffnen.
ZWEITE G R U P P E
Ranke und Burckhardt
Ranke in der Auffassung von Ottokar und die
Lorenz
Generationenlehre
Besprechung des Budies von Lorenz: »Die Geschichtswissenschaft in Hauptriditungen und Aufgaben. Teil 2: Leopold von Ranke, die Generationenlehre und der Geschichtsunterricht« (1891) in: Deutsches Wochenblatt Jg. IV 1891 S. 502-504.
Das vorliegende Buch behandelt vier verschiedene Gegenstände der Geschichtswissenschaft. Es versucht zunächst eine Charakteristik der Forschungsweise und geschiditsphilosophisdien Anschauungen Leopold von Rankes, führt dann den schon im ersten Teile des Werkes 1 behandelten Gedanken einer neuen natürlichen Einteilung des geschichtlichen Stoffes auf genealogischer Grundlage weiter aus, kritisiert sodann ungemein scharf eine heutige Richtung des Gesdiidhtsbetriebes, ermahnt dabei die Wissenschaft eindringlich zur Umkehr und nimmt schließlich Stellung zu der Frage, in welcher Auswahl und Gliederung Geschichte an Mittelschulen und Gymnasien gelehrt werden soll. Alle vier Teile aber sind von einem einheitlichen Gedanken oder eigentlich zwei, einem positiven und einem negativen, getragen. Leopold von Ranke ist der Schild, den der Verfasser emporhält zum Schutze beider. Von ihm leitet er seine Generationentheorie ab, von deren Befolgung er eine neue Blüte der historischen Wissenschaft, falls man dem falschen Götzen des »kritischen Scholastizismus« abschwören würde, erwartet, und ebenfalls soll sie auch den geschichtlichen Unterricht, der ihm zum Teil auch durch den falschen Kritizismus entgeistet scheint, befruchten. Es sind Fragen, welche die Teilnahme jedes gebildeten Laien erwecken müssen. Ist die These richtig, daß infolge einer falschen Richtung das allgemeine Interesse an der Geschichte jetzt wieder abnehme und eine teilweise Erstarrung eingetreten sei, so wäre dies eine sehr betrübende Tatsache. Es ist eine der besten und zu1 Die Geschichtswissenschaft in Hauptriditungen und Aufgaben, kritisch erörtert. Berlin 1886.
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Ranke und Burckhardt
treffendsten Ausführungen des Buches, daß politischer Sinn und Vermögen nur denkbar sei in Verbindung mit historischem Bewußtsein und Interesse. Wir würden die Wurzeln unserer Kraft verlieren, wenn uns jenes nadi und nadi geschwächt würde. Wenn der Verfasser dann ein Heilmittel vorschlägt, welches zugleich auch dem, wie er meint, unserer Zeit vorschwebenden Bildungsideale einer Versöhnung historischer und naturwissenschaftlicher Denkweise zugute kommen würde, so greift er damit in den Mittelpunkt der uns heute am tiefsten beschäftigenden wissenschaftlichen Erörterungen. Freilich ist zu fragen, bevor wir dieses Heilmittel prüfen, ob das vorausgesetzte Übel wirklich vorhanden und dann, ob es in seinem eigentlichen Kerne erfaßt ist. Mit Recht aber ist Ranke als Ausgangspunkt genommen. Nicht daß man bei ihm viel zusammenhängende Erörterungen über die Grundfragen der Geschichtswissenschaft fände, an die jede weitere Untersuchung anzuknüpfen hätte. Es war ein Grundzug Rankes, sie eher zu vermeiden, weil er in überwältigender Klarheit die Gefahr sah, durch eine Einpressung in ein System diesen Fragen Gewalt anzutun und ihnen ihren tiefen und unausmeßbaren Hintergrund zu nehmen. Er hat sie alle erwogen und sehr bestimmte Überzeugungen darüber gehabt, die nun freilich schwer mit Worten wiederzugeben sind und über deren Sinn man sich hier und da streiten kann, aber nur eben, weil ihre unendliche Fruchtbarkeit es den verschiedensten einseitiger ausgebildeten Richtungen erlaubt, in ihnen sich schon angedeutet zu finden. Mit Vorliebe hat man von jeher die quellenkritische Methode auf Rankes erste Untersuchungen über die italienischen Geschichtsschreiber des 15. und 16. Jahrhunderts zurückgeführt. Aber mit vollem Recht weist Lorenz darauf hin, daß von einer lehrund darstellbaren Methode der Quellenkritik bei Ranke gar nicht die Rede sein könne. »Wenn jemand sagen sollte, welche Merkmale es eigentlich seien, die der einen oder der anderen historischen Schrift nach Rankes kritischen Überzeugungen den Vorzug erteilen, so wäre man in der größten Verlegenheit.« Erkennbar ist nur, daß er sich immer ein möglichst lebhaftes Bild von der Individualität des Verfassers macht und danach seinen Wert bestimmt. Er hätte wohl auch sagen können, was Goethe den Diogenes erwidern läßt, als ihn die Leute fragen: »Wo denken und wie denken wir?«
Ranke in der Auffassung von 0 . Lorenz u. die Generationenlehre 43
»Der Denker denkt vom Hut zum Schuh, Und ihm gerät, wie Blitzes Nu Das Was, das Wie, das Beste.« So wenig man aus der Rankeschen Schriftstellerkritik einen festen Kanon von Regeln entnehmen kann, so schwer ist audi, seine geschichtsphilosophischen Ansichten genau und erschöpfend auszudrücken. Er meinte, der Historiker müsse vor allem die Ideen als das Wirksame in der Geschichte aufsuchen. Sehr entschieden lehnte er dabei die Vorstellung ab, daß diese Ideen ein selbständiges Leben hätten und die Menschen »bloße Schatten oder Schemen wären, welche sich mit der Idee erfüllten«. Die »leitenden Ideen« seien »die herrschenden Tendenzen in jedem Jahrhundert«. Aber wo der Ursprung dieser für jedes Jahrhundert charakteristischen Tendenzen zu suchen sei, das bleibt dunkel. Er sagte von diesen Ideen, »Kräften des lebendigen Geistes«: »Vorbereitet durch die vorangegangenen Jahrhunderte erheben sie sich zu ihrer Zeit, hervorgerufen durch starke und innerlich mächtige Naturen, aus den unerforschten Tiefen des menschlichen Geistes.« Wie weit geht da der Anteil der »starken und innerlich mächtigen Naturen«, wie weit sind sie »vorbereitet«? Rankes Art war es, gegenüber diesen tiefsten Fragen sich mit einer weiten Vieldeutigkeit des Ausdrucks zu helfen, welche nichts verdarb, nichts einzwängte, eigentlich mehr künstlerisch als wissenschaftlich ist, aber dadurch stärker und eindrucksvoller die Unendlichkeit solcher Fragen widerspiegelt, als eine mit genauer philosophischer Terminologie geführte Untersuchung. Sicher aber darf man den Sinn der Rankeschen Worte nicht verengern, um ihn verständlicher zu machen, wie es Lorenz leider tut, wenn er meint, daß die welthistorischen Ideen Rankes sich eigentlich mit dem deckten, was man Motivierung der Tatsachen nennen könne, und daß sie ganz mechanisch wirkten. Eben einer solchen genaueren Definition ihrer Wirksamkeit hat Ranke selbst gegenüber Lorenz in einem Gespräch, das sie darüber führten, vorbeugen wollen mit den Worten: »Weiter geht es nicht.« Ihr rechtes Licht erhält die Rankesche Ideenlehre erst, wenn man sie verbindet mit seinen Ansichten über den Fortschritt in der Geschichte. Er hat sie wirklich ganz klar und bündig niedergelegt in den 1854 gehaltenen, aber erst nach seinem Tode heraus-
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Ranke und Burckhardt
gegebenen Vorlesungen für den König Max von Bayern über die Epochen der neueren Gesdiidite. Es sind Sätze, von denen Lorenz mit Redit sagt, daß sie eine ganze Zukunftswissenschaft enthalten, das erlösende Wort und unendlich befriedigend für den, dem weder die theologische Geschichtsphilosophie nodi der mechanische Atomismus genügen können. Es gibt keinen Fortschritt der Menschheit, lehrte er, in dem Sinne, daß die folgende Generation die vorhergehende moralisch oder intellektuell übertreffe. Nur in Hinsicht des Materiellen und namentlich Technischen ist ein unbedingter Fortschritt erkennbar. »Es wäre lächerlich, ein größerer Epiker sein zu wollen, als Homer, oder ein größerer Tragiker, als Sophokles.« Jede Epoche hat ihren Wert, ihren eigentümlichen Genius für sich, und »vor Gott erscheinen alle Generationen der Menschheit als gleichberechtigt, und so muß audi der Historiker die Sache ansehen«, und die Geschichte der Menschheit ist eben nur der Komplex der verschiedenen Tendenzen der Jahrhunderte. Die Menschheit birgt »eine unendliche Mannigfaltigkeit von Entwicklungen in sich, welche nach und nach zum Vorschein kommen, und zwar nach Gesetzen, die uns unbekannt sind, geheimnisvoller und größer, als man denkt«. Ranke hat nachdrücklich den Pantheismus von sich gewiesen, der die Menschheit, als den werdenden, durch einen geistigen Prozeß sich selbst gebärenden Gott betrachte. Aber will man gerecht sein, so muß man zugeben, daß seine Lehre mit einer anderen Art des Pantheismus starke Verwandtschaft hat, mit dem Spinozas und Goethes. Diese unendliche Mannigfaltigkeit von nach und nach sich erhebenden Tendenzen, von denen keine besser ist wie die andern, jede ihr unmittelbares Verhältnis zur Gottheit hat, die sie hervorbrechen läßt und durch einen inneren Zusammenhang verknüpft, wie nahe klingt das an die göttliche Substanz Spinozas an, aus der auch unendlich viele endliche Einzelerscheinungen hervorgehen, von denen im Verhältnis zur Gottheit keine sich rühmen kann, besser zu sein wie die andere. Und ähnlich sagt Goethe von der Natur: »Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie; was war, kommt nicht wieder... auch die plumpste Philisterei hat etwas von ihrem Genie.« Mit der weiteren systematischen Ausbildung von Spinozas Lehre haben ja Rankes Ansichten nichts mehr gemein, aber jedenfalls wäre es eine höchst fruchtbare Aufgabe, die gemeinsame Grund-
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anschauung der Drei näher zu untersuchen und die Punkte zu bestimmen, wo Zeittendenz und Individualität ihre Wege auseinanderführen. Was läßt sich nicht alles aus der Rankeschen Ideenlehre folgern. Gestehen wir nur zu, daß auch die Generationentheorie von Ottokar Lorenz, die man, als er sie zuerst äußerte, meist ungläubig und ablehnend aufnahm, sich auf sie berufen kann. Freilich kann er selbst nicht von der Schuld freigesprochen werden, sie durdi seine Übertreibungen in Mißkredit gebracht zu haben. Ranke hatte 1874 in einem Zusätze zu seinem Erstlingswerke, der Geschichte der romanischen und germanischen Völker, es als eine Aufgabe bezeichnet, die Generationen, soweit es möglich sei, nacheinander aufzuführen, wie sie auf dem Schauplatz der Weltgeschichte zusammengehören und sich voneinander sondern. Man würde so eine Reihe der glänzendsten Gestalten darstellen können, die jedesmal untereinander die engsten Beziehungen haben und in deren Gegensätzen die Weltentwicklung weiter fortschreite. Er meinte offenbar damit, daß man zu den von ihm so hochgehaltenen leitenden Tendenzen der Jahrhunderte auch ihre Träger, die Generationen und ihre führenden Geister sich recht deutlich vor die Augen führen müsse. Der Einwand, daß ja nicht immer nur eine, sondern sehr viele Generationen oder Jahrgänge gleichzeitig in geschichtlicher Wirksamkeit stehen, würde dieser Aufgabe gegenüber noch nicht gelten können, denn in der Tat sehen wir, daß Gruppen von Zeitgenossen sich durch bestimmte gemeinsame Charakterzüge deutlich abheben von Vorfahren und Nachkommen. Wie aber diese Gemeinsamkeit zustande kommt, das ist die von Lorenz noch keineswegs befriedigend gelöste Hauptfrage. Jedenfalls sind es Gründe von der größten Mannigfaltigkeit. Ereignisse, Ideen und Institutionen, die ja ihren Ursprung immer in den Eigentümlichkeiten vorangegangener Generationen haben können, werden, wenn sie einmal in die Erscheinung getreten sind, doch selbständige Ursachen für sich, die den Charakter der nachfolgenden Generation mit bestimmen, und keineswegs darf man daher den Ideen als solchen eine gewisse selbständige Wirksamkeit absprechen, wie es Lorenz tut. Daraus folgt aber, daß die bisher geltende Gliederung des historischen Stoffes nach einzelnen hervortretenden Ereignissen oder nach Ideen, die einen längeren Zeitraum beherrschen, durchaus nicht
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so ungegründet ist. Faßt man diese Grenzscheiden plump und grob auf, läßt man, wie Lorenz spottet, das Mittelalter reinlich und genau von 476 bis 1492 reichen, so tut man natürlich den Dingen Gewalt an, aber jeder Verständige weiß ja, daß diese Zahlen nur cum grano salis zu verstehen sind. Eine Teilung des Stoffes nur nach den Generationen, etwa in der Weise, wie er sie selbst in seinem Buche skizziert hat, würde als einmaliger Versuch — wie ihn auch Ranke gewünscht hat — höchst interessant und lehrreich sein, wenn er mit Geist und ohne Gewaltsamkeit gemacht würde. Ein dauerndes und allgemein gültiges Prinzip für die Einteilung daraus zu machen, hat schon Ranke in einem Gespräch mit Lorenz abgelehnt mit den die beste Kritik des Gedankens enthaltenden Worten: »Man darf die Sache nicht zu systematisch betreiben.« Dafür aber ist es allerdings Pflicht, auch innerhalb der alten Einteilungen die Mahnung Lorenz' zu beherzigen: »Lebensläufe, Personenkenntnis, kein dürres Tatsachenschema!« Nur in einer solchen freieren und zwangloseren Weise betrieben, würde die Generationenlehre ein wohltätiges Gegengewicht gegen den »kritischen Scholastizismus« der Spezialforsdiung sein. Sonst wäre sie nur ein neues Sklavenjoch für uns an Stelle des alten, das ihm so drückend erscheint. Dies Gefühl ist sehr wohl verständlich, aber vielleicht befreien positive Taten der Geschichtsschreibung besser von diesem Drucke, als theoretische Polemik, die, wie uns scheint, den Kern des Übels wohl noch schärfer treffen könnte. Er meint, wir hätten gar kein Recht, uns einer besseren kritischen Methode zu rühmen, als sie Laurentius Valla, Madiiavell und Leibniz geübt hätten; alle kritischen Erwägungen, die wir heute gegenüber einer Geschichtsquelle anzustellen pflegten, seien den großen Denkern der früheren Jahrhunderte ebenso geläufig gewesen. Das braucht man nicht zu leugnen und kann doch zugeben, daß ein wesentlicher Unterschied gegen früher besteht. Alle jenen Regeln der kritischen Methode, die Fragen: Wer war der Verfasser, unter welchen Umständen schrieb er, inwiefern verdient er Glaubwürdigkeit usw. einzeln genommen, sind nichts Neues, denn es sind einfache Grundsätze des gesunden Menschenverstandes. Aber sie im Zusammenhange stets vor Augen zu haben, sie in jedem Augenblick der geschichtlichen Arbeit bewußt und konsequent anzuwenden,
Ranke in der Auffassung von O.Lorenz u. die Generationenlehre 47 das ist doch etwas Neues, früher nicht so Dagewesenes und eine nicht geringe geistige Tat derer, die zuerst dies lehrten. Freilich ist diese Errungenschaft den späteren Generationen unserer modernen Historiker mehr durch Übung und Dressur zugekommen, und darin liegt allerdings die große Gefahr, daß nun eine mechanische und geistlose Handhabung erlernter Kunstgriffe Platz greift. Hier wäre es Aufgabe von Lorenz gewesen, diese Gefahr durch eine Reihe gut gewählter Beispiele handgreiflich und überzeugend zu beleuchten. Aber in seinen eifrigen, fast heftigen Erörterungen vermißt man gerade dieses, und den Gegner, den er bekämpft, sieht man nicht deutlich vor Augen. Das eine Beispiel des katholischen Forschers, der mit Hilfe eines angeblich allgemein geübten Grundsatzes der kritischen Methode es fertiggebracht hat, die Wunder des heiligen Bernhard von Clairveaux zu beweisen, besagt nichts, denn hieran ist weniger die kritische Methode, als die gut katholische Gesinnung des Forschers schuld, wie Lorenz schließlich auch selbst zugibt. Am nächsten kommt Lorenz dem Grunde des Übels mit der sehr richtigen Bemerkung, daß die kritischen Grundsätze an sich noch gar kein ausreichendes Ergebnis geben, daß es Werkzeuge sind, die in der Hand des einen viel, in der des anderen unendlich wenig besagen, daß das Ausschlaggebende zuletzt die ganz individuellen Eigenschaften des Forschers seien. Setzen wir hinzu, nicht nur die Eigenschaften, sondern auch die individuellen Ziele und Aufgaben, die er sich stellt. Es fehlt einem leider sehr großen Teile unserer fleißigen Quellenforscher und Urkundenmänner das Bewußtsein dessen, was Droysen die »historische Frage« zu nennen pflegte. Die Regierungsjahre eines Regenten, die Quellen irgendeines Schriftstellers festzustellen, so pflegte er seinen Schülern auseinanderzusetzen, ist eine Aufgabe für den Fleiß, aber keine historische Frage. Diese ist erst da, wo sich das lebhafte persönliche Erkenntnisbedürfnis regt und nach ursächlicher Begründung und Vertiefung der uns von außen beigebrachten Vorstellungen von geschichtlichen Ereignissen und Persönlichkeiten verlangt. Lorenz redet ja auch einmal, in anderem Zusammenhange, von dem durchaus subjektiven Grundcharakter der historischen Wissenschaft. Darin liegt dieser zunächst, daß jeder wahre Forscher, von persönlichen Impulsen getrieben, nach Dingen forscht, nicht »im der Dinge willen, um deren Kunde zu
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mehren, sondern um seiner selbst willen, um seinem eigensten Erkenntnisdrange zu genügen. Wer daran zweifelt, lese den ersten Monolog des Faust. Bei der historischen Wissenschaft kommt nodi als besonderes subjektives Moment hinzu, wie schon oft und jetzt audi wieder von Lorenz auseinandergesetzt ist, daß ihr Material, die Oberlieferung, nicht durch exakte naturwissenschaftliche Methoden, sondern nur durch persönliches Verständnis bearbeitbar ist. Es leuchtet ein, wie abhängig dieses wieder ist von der Begabung des Forschers, von den persönlichen Zielen, die er sich gesetzt, von den Anschauungen und Bestrebungen seiner Zeit. Darum ist es Torheit, zu glauben, daß die Resultate der geschichtlichen Forschung sich so ergänzend eines auf das andere aufbauen, wie die der exakten Wissenschaften. In der Geisteswissenschaft — und hier greift wieder die große von Ranke gefundene Wahrheit ein — gibt es eben keinen Fortschritt im eigentlichen Sinne, sondern ein Nacheinander verschiedener Forschungsideale und Forschungsweisen, von denen jede ihre Zeit und ihren Wert für sich hat. Daß dies von den Historikern nur zu oft übersehen wird, das ist der springende Punkt in dem Problem des »kritischen Sdiolastizismus«. Sie meinen, audi durch Untersuchungen über kleine und kleinste Fragen, die an sich ein persönliches Erkenntnisbedürfnis nie erregen würden, die Wissenschaft zu fördern, weil so nach und nach ein solider Unterbau geschaffen würde, auf dem die Folgezeit weiter bauen könne. Vorn zur Tür hinaus hat man die Anmaßung der Naturwissenschaft, der Geschichte ihre Methoden zu bestimmen, gewiesen, von hinten her und ohne daß man es sich klarmachte, hat man sie wieder eingelassen. Sagen wir noch kurz, was Lorenz über den geschichtlichen Unterricht in den Schulen denkt. Er meint, daß der historische Sinn am natürlichsten gepflegt werde durch Anknüpfung an die Taten der jüngsten Generationen. Man sieht die Verwandtschaft mit den Gedanken unseres Kaisers, und wenn man den geographischen Unterricht von der Heimatkunde ausgehen läßt, so sprechen in der Tat dieselben Gründe auch für den Vorschlag von Lorenz, der übrigens für die Oberstufe der höheren Lehranstalten einen weltgeschichtlichen Unterricht von sechs bis acht Semestern in der natürlichen zeitlichen Folge, nur mit starker Einschränkung der alten Geschichte, durchaus beibehalten wissen will.
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Mag man sich nodi so oft zum Widerspruche gegen die Ausführungen des Verfassers veranlaßt finden, jedenfalls sind sie von der Gesinnung erfüllt, die allein das Weiterblühen der historischen Wissenschaft sichert. Ohne individuellen Erkenntnisdrang trägt alle historische Forschung, und mag sie nodi so sauber sein und nodi so treu ihre Pflicht zu erfüllen glauben, taube Früchte.
Zur Beurteilung
Rankes
Besprediung in Aufsatzform des Buches von Otto Diether: »Leopold von Ranke als Politiker. Historisch-psychologische Studie über das Verhältnis des reinen Historikers zur praktischen Politik.« Leipzig 1911. Zuerst: Historische Zeitschrift Bd. 111 (1913) S. 582-600. Wiederabgedruckt : Preußen und Deutschland (1918) S. 361-379, und noch einmal: Schaffender Spiegel (1948) S. 121-145.
Ranke hat immer nodi nicht aufgehört, der große, ja der größte Lehrer unserer Wissenschaft zu sein, aber er beginnt daneben etwas ganz Neues zu werden, ein großes geistesgeschichtliches Phänomen, das wir aus geschichtlicher Distanz und mit geschichtlichen Erkenntnismitteln zu begreifen versuchen. Das beanspruchte schon Lamprecht vor IV2 Jahrzehnten zu leisten, als er den Methodenstreit gegen die sogenannten Jungrankeaner führte und sie als Epigonen eines großen, aber veralteten und überwundenen Meisters charakterisieren zu können glaubte. Sein Versuch mußte scheitern, weil er nicht vom reinen Erkenntnisbedürfnis, sondern von dem praktischen Bedürfnis, sich selbst auf den Stuhl des Meisters zu setzen, ausging. Dem Verfasser des obengenannten Buches über Ranke liegen solche Velleitäten fern. Er ist ein Anfänger, dessen Buch nur seine erweiterte Dissertation bildet. Er ist ein sehr begabter Vertreter der allerjüngsten Generation deutscher Historiker, die eben erst in unsere Arbeitsgemeinschaft eintritt, und da die Älteren es sich nie verdrießen lassen dürfen, die eben keimenden Regungen der Selbständigkeit in ihrem Nachwüchse zu beobachten, so hat es einen eigenen Reiz, dieselben Waffen, die Diether gegen Ranke kehrt, auch gegen ihn zu kehren, sein Buch so historisch wie möglich zu nehmen und als Produkt des 20. Jahrhunderts und der jüngsten Jugend zu begreifen. Daß es audi in seiner Form an gewöhnlichen Jugendfehlern leidet, überflüssig breit geraten und nicht immer wählerisch in Sprache und Ausdrucksmitteln ist, wollen wir nur nebenher anmerken. Es hat dafür auch alle Vorzüge jugendlicher Vitalität, energischen Ringens nach neuer und tieferer Anschauung und freudigen Schwelgens in ihr. »Man liebt«, um mit Ranke zu
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sprechen, »Jugendlichkeit und Frische, selbst wenn sie mit einigen Mängeln verbunden ist.« Inwieweit nun auch das, was uns an dem Inhalte des Buches nicht gefällt, auf bloße Jugendlichkeit oder auf modernste Denkweise zurückzuführen ist, läßt sich heute nodi nicht übersehen. Ich neige zu der Meinung, daß Diether, von dem wir noch etwas erhoffen dürfen, in zehn oder zwanzig Jahren vieles anders auffassen wird. Aber der Grundfehler, den idi ihm vorwerfen möchte, hat charakteristische Analogien auf anderen Gebieten moderner Literatur-, Kunst- und Kulturbetrachtung, wie sie sich heutzutage in den Revuen und Feuilletons der Ästheten und der sogenannten Kulturpolitiker regt und nunmehr, wie es scheint, Einlaß in die Wissenschaft sucht. Man trifft hier auf eine starke Neigung, große Kulturerscheinungen zu stilisieren und auf überraschende und einheitliche Formeln zu bringen. Zwar pflegt man dabei ursprünglich auszugehen von einer oft bohrenden Analyse ihrer besonderen Einzelzüge, von einer beinahe ungeduldigen Durchwühlung und Zerfaserung ihres komplizierten Inhaltes, aber die Ungeduld treibt dann auch zu raschen Resultaten, zu starken, übertreibenden Umrissen, die den verwickelten Inhalt wieder zu packender und einheitlichster Anschauung bringen sollen, und zur Ignorierung dessen, was den einmal gewonnenen Eindruck stören könnte. Man versucht, das Bedürfnis der Analyse und der Synthese geradezu krampfhaft miteinander zu vereinigen. Wer sidi etwa an Friedrich Naumanns Art erinnert, historische Dinge zu begreifen und zu malen, weiß, was idi meine. Alle Fähigkeiten und Schwächen, alle Leiden und Wünsche unserer aufgewühlten Zeit mit ihrer Unrast und ihrem Lebensdrange, ihrem Hin und Her zwischen breitester Expansion und straffster Zusammendrängung, spiegeln sich in dieser Methode. Die reinere und ruhigere Wissenschaft wird sich sagen müssen, daß auch sie, da sie von dem Leben ihrer Zeit nicht losgelöst sich denken kann, bis zu gewissem Grade hineingerissen werden kann in diese Strömung. Sie wird vielleicht sogar manchen neuen Erkenntnisgewinn von ihr zu erwarten haben, aber sie muß sich hüten, sich ihr zu weit hinzugeben, weil die Gefahr einer vorschnellen Vergewaltigung der Dinge hier allerwegen lauert. Mit dem Dietherschen Buche mich auseinanderzusetzen, habe idi deswegen nodi eine besondere Veranlassung, weil sidi der
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Verfasser auch mit meinem Budie »Weltbürgertum und Nationalstaat«, das in seinen Gegenständen streckenweise mit dem seinen zusammentrifft, in der Vorrede auseinandersetzt. Trotz der freundlidien Anerkennung, die er mir zollt, läßt er doch erkennen, daß die von ihm gezeichnete Entwicklungsreihe ihm wesentlicher und wichtiger zu sein scheint als die von mir gezeichnete. Während idi midi — so meint er — mit dem Wechsel gedanklicher Gebilde beschäftige, wolle er an dem Beispiel Rankes und der Zeiten, in die Rankes Leben hineinragt, den Wandel im Unterbewußtsein der Generationen aufweisen, den »Übergang von reiner Denker- und Dichterleidenschaft zu absolutem politischen Wollen«. Während ich Ranke und Bismarck in einem Kapitel zusammenfasse als diejenigen, die das universalistische Gespinst der politischen Romantik, der Restaurationszeit durchbrachen und die autonome Realpolitik des modernen Nationalstaates zur Geltung brachten, sieht er von seinem Standpunkt aus Ranke und Bismarck eher als Gegenfüßler wie als Geistesgenossen an. »Denn während der eine sein politisches Wollen von den Bedürfnissen reinster Erkenntnisleidenschaft ableitet und tragen läßt, schreibt bei dem anderen gerade umgekehrt die titanische politische Leidenschaft der historisch-politischen Einsicht ihre Art und ihren Umfang vor.« Ich muß ihm zunächst entgegenhalten, daß ich keineswegs nur den Wechsel gedanklicher Gebilde und die Auswirkung intellektueller Kräfte darstellen wollte. Wenn Diether meint, daß die Welt der »esoterischen Ideen« eingeengt, umgestaltet und beherrscht werde von einer anderen Welt, die ich ignoriert hätte, von der Welt der »oft dunklen Mächte des Empfindens und Wollens« —, so antworte ich, daß ich unter »Ideen« eben mehr verstehe, als Diether annimmt. Historische Ideen sind nicht bloße Gedanken, sind in erster Linie vielmehr Tendenzen, an denen die Bedürfnisse des Willens und Gefühls im Grunde mehr Anteil haben als der Intellekt. Und der ganze Befreiungs- und Reinigungsprozeß der nationalen Ideen, den ich zu zeigen versuchte, bedeutet j a gerade eine allmähliche Erstarkung der politischen und nationalen Energien zu dem Ergebnis hin, daß die volle Selbstbestimmung des nationalen Staatswillens errungen wird. Das Mißverständnis Diethers rührt daher, daß ich diesen gewaltigen Umbildungsprozeß lediglich auf dem schmalen Gratwege verfolge, den die Tendenzen der großen
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politischen Denker Deutsdilands darstellen, und daß idi, mit erlaubter Abbreviatur, meist nur von ihren »Gedanken« spreche. Was ich in Wahrheit darstellen wollte, ist die allmähliche Wandlung und Erneuerung des Lebensblutes in diesen Gedanken, überhaupt ihr Zusammenhang mit Leben und Persönlichkeit. Aber Diether meint ferner, daß idi der Massenbewegung zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe. »Wenn auch die plumpe Öffentlichkeit«, sagte er Seite VIII, »für die Fortbildung der rein geistigen Ideen direkt nur wenig leistet, so bringt sie dodi, indem sie sich in immer tieferen Schichten mit politischem Wollen, mit politischer Massenenergie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen erfüllt, historische Wirkungen von ganz gewaltiger Art hervor. Dieses neue liberale und nationale Massenwollen stellt dem 19. Jahrhundert überhaupt erst seine eigentümlichen politischen Aufgaben, mit welchen sich jene Denkergehirne theoretisch abmühen.« Kollektive und individuelle Faktoren des Geschehens gegeneinander abzugrenzen, wird in exakter Weise niemals möglich sein, wird immer nur eine Sache des historischen Taktes, der gesamten Bildung und Lebenserfahrung, der jeweiligen Entwicklungsstufe, auf der die Persönlichkeit des Forschers steht, sein. Ich bekenne gern, daß ich heute die Bedeutung der kollektiven Mächte höher zu schätzen geneigt bin als vor zwanzig Jahren — insbesondere ihre kausale Bedeutung. Von der ungeheuren Masse des durch Ursache und Wirkung miteinander verknüpften menschheitlichen Geschehens ist aber nur ein kleiner Teil historisch wertvoll, und innerhalb dieses kleinen Ausschnittes, den wir allein zu untersuchen, zu verstehen und darzustellen bemüht sind, können die individuellen Faktoren einen verhältnismäßig hohen Eigenwert beanspruchen. Ich habe das, was Diether »theoretische Bemühungen der Denkergehirne« nennt, vor allem deswegen herausgehoben und der Betrachtung unterworfen, weil ich in diesen Ideen der geistigen Führer der Nation allerdings einen unvergleichlich hohen Kulturwert sehe, der unter allen Umständen anzuerkennen ist, ganz unabhängig zunächst von der Frage, wie er kausal entstanden ist, ob mehr durch Eigenleistung der einzelnen, ob mehr durch Zusammenwirken vieler, — ganz unabhängig ferner auch von der weiteren Frage, in welchem Umfange diese Ideen ihrerseits kausal weitergewirkt haben. In den ehernen Kausalzusammenhang reiht sich das Größte wie das
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Kleinste im Leben ein, aber das Größte gehört zugleich noch einem anderen Zusammenhange an, eben dem der großen Kulturwerte, deren Betrachtung und Würdigung uns von der Qual der bitteren Erkenntnis erlöst, daß audi alles geistige Geschehen eingespannt ist in den Mechanismus des allgemeinen Naturverlaufes. Ich meine aber weiter, daß innerhalb des nach Wertgesichtspunkten abgesteckten Arbeitsgebietes der Geschichte den individuellen Faktoren auch eine verhältnismäßig große kausale Bedeutung zukommt. Im vorliegenden Falle kann ich also der apodiktischen Fassung Diethers, daß erst das neue Massenwollen dem deutschen 19. Jahrhundert seine eigentümlichen politischen Aufgaben gestellt habe, nicht ohne Einschränkung zustimmen. Diese »eigentümlichen politischen Aufgaben« sind vielmehr erwachsen aus einem sehr komplizierten Zusammenwirken von Massenregung, Bedürfnis der Staaten und Leistung der Einzelnen. Selbst wenn man annähme, daß auch der Inhalt der neuen Aufgaben wesentlich schon bestimmt würde durch die Lebensregungen in den breiteren Schichten der Nation, so ist dodi ihre geistige Klärung, ihre wirksamste Vertretung und ihre praktische Durchführung in der Regel das Werk einzelner bedeutender Individuen. Ich bin aber geneigt, in diesem Falle ihrer Leistung noch mehr zuzuschreiben. Was Fichte und die Romantiker in der Zeit der Befreiungskriege, was Hegel, Ranke und Bismarck in der Übergangszeit von der Spekulation zum Realismus audi zum Inhalte der politischen und nationalen Ideale des deutschen Volkes beigetragen haben, ist ganz gewaltig. Dabei weiß ich sehr wohl und habe es audi betont, daß die hochgelegenen Quellen dieser Ideale zum breiten Strome nur werden können durch die unzähligen konvergierenden Zuflüsse aus den verschiedenen Schichten des Volkslebens. Die Untersuchung dieser Massenströmungen ist eine große und wichtige Aufgabe für sich, an der jetzt von vielen Seiten mit Eifer und Erfolg gearbeitet wird. Aber es ist bezeichnend und rechtfertigt zugleich meine Methode, daß die instruktivsten Einzelarbeiten dieser Art in der Regel anknüpfen an bestimmte einzelne Persönlichkeiten und Kreise. Überall, wo man in den Grund und Ursprung der Massenbewegungen einzudringen versucht — und welche Epoche böte dafür reichere Möglichkeiten als das 19. Jahrhundert —, stößt man nicht nur auf die Wirkungen vorhandener Zustände, Einrichtungen und Uber-
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lieferungen, sondern audi auf die belebenden Impulse einzelner Persönlichkeiten. Der Begriff der »Massenbewegung« und der »kollektiven Kräfte«, mit dem wir zu operieren pflegen, ist ja wissenschaftlich unentbehrlich, um die großen Einheiten zu bezeichnen, die aus dem Konflux unzähliger Einzelkräfte entstehen, aber er ist, bei Licht besehen, dodi zugleich audi nur eine Abbreviatur, die den Ursprung dieser Einheiten nur summarisch zum Ausdruck bringt und deshalb leicht zu mißbräuchlicher Anwendung führt. Innerster Kern alles geschichtlichen Lebens ist und bleibt, wenn man dies Wort Rankes im Sinne moderner Erfahrungen interpretiert, »lebend Leben des Individuums«. Zu diesen modernen Erfahrungen gehört insbesondere audi die genauere Würdigung dessen, was Diether das »Unterbewußtsein«, die Sphäre der dunklen triebartigen Willens- und Gefühlsregungen nennt, und die erste Aufgabe seines Buches ist, das Unterbewußtsein Rankes in seinem Werden und seiner Eigenart zu erklären. Ranke wurzelt, so ist seine Hauptthese, durchaus im Boden des deutschen 18. Jahrhunderts, des »intellektualistischen« Geisteslebens »autonomer« Denker und Diditer. Ich vermisse zunächst eine genaue Inhaltsbestimmung des vom Verfasser bis zum Überdruß gebrauchten Schlagwortes »autonom«. Bald scheint es die einseitige Herrschaft des Intellektes und die Fernhaltung trübender Leidenschaften und Willensregungen aus der reinen Sphäre des intellektuellen Schaffens bezeichnen zu sollen, bald den souveränen Individualismus, der sich seitab vom Staate hält. Diese Unklarheit und Zwiespältigkeit der Bedeutung zieht sich durdi das ganze Buch und trübt nicht selten auch die einzelnen Urteile des Verfassers. Vorwiegend aber wird das »intellektualistische 18. Jahrhundert« gegen das »voluntaristische 19. Jahrhundert« ausgespielt, und Ranke wird, wie gesagt, in das erstere verwiesen. Der »Intellektuelle«, heißt es in mannigfachen Variationen, erschrickt vor dem neuen Zeitgeiste mit seinen Massenleidenschaften; die wahre Eigenart des Jahrhunderts bleibt ihm ewig fremd. Es ist etwas Richtiges daran, aber es ist ungebührlich übertrieben. Es ist ganz richtig, daß Ranke, als er in der Historisch-politischen Zeitschrift den Kampf gegen die Tagestheorien des Liberalismus und der Volkssouveränität führte, das »Gewand für den Körper hielt« und die popularen Gewalten, die hinter jenen Theorien standen, nicht voll würdigte. Schon
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Dove hat mit unvergleichlicher Feinheit den schwachen Zug in der Rankeschen Geschichtsschreibung charakterisiert: »Diese mächtigen Ströme seiner Historie münden nicht selten wie der Rhein, weil er Bedenken trug, sie voll und frei ins politische Gewoge der modernen Folgezeit zu ergießen.« Daß Ranke keine politische Leidenschaft hatte, ist eine Binsenwahrheit. Aber kann politische Leidenschaftslosigkeit und reiner, um mit Diether zu sprechen, »autonomer« Erkenntnisdrang hier nur aus den Nachwirkungen des deutschen 18. Jahrhunderts erklärt werden? Vita contemplativa und vita activa sind zeitlose Gegensätze menschlicher Geistesart überhaupt. Sie können zugleich auch einen zeitgeschichtlich bestimmten Charakter annehmen, und ich leugne natürlich keinen Augenblick, daß die besondere geistige Welt des deutschen Idealismus, aus der Ranke hervorging, kontemplativ im höchsten Sinne war. Ich leugne ebensowenig, daß Ranke ihre Spuren allenthalben an sich trug, aber man soll dieses Urteil nicht übertreiben und nicht übersehen, daß beschauliche Denkernaturen auch in bewegteren Zeiten sich entwickeln können. Burckhardt, Justi und Dilthey wuchsen auf, umbrandet vom Wogenschlage des 19. Jahrhunderts, und haben dodi ihre stille Insel in ihm gefunden, von der aus sie auch das Schauspiel der Stürme ihrer Zeit in sidi aufnahmen. Es kann Rankenaturen zu jeder Zeit geben — so wie es sogenannte »Renaissancemenschen« zu jeder Zeit geben kann. Die Sucht zu historischen Etikettierungen, die der Erforschung des Verhältnisses von Mittelalter und Renaissance gefährlich geworden ist, hat auch die Diethersdien Auffassungen geschädigt. Er hätte unseres Erachtens sich bei jedem einzelnen Zuge, den er an Ranke charakterisiert, fragen müssen, ob er zeitgeschichtlichen oder individuellen, persönlichen Ursprunges ist. Wenn man beides audi nicht immer scheiden kann, so hätte allein schon die Fragestellung ihn behutsamer stimmen müssen. Das voreilige Abstempeln und Etikettieren gehört zu jenen modernen Zeitfehlern, von denen idi oben sprach. Es trübt nicht nur den Blick für das wunderbare Nebeneinander von Zeitlosem, ewig Menschlichem, zu allen Zeiten Möglichem und von zeitgeschichtlich Bestimmtem in der Geschichte, sondern es schwächt auch das Verständnis für die leisen kontinuierlichen Abwandlungen dessen, was zeitgeschichtlich bestimmt ist. Diether tut eine
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große Kluft auf zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert, er schwelgt förmlich in dem Anblick dieser Kluft, wo drüben die reine Stille des Denker- und Diditerlebens und hüben das leidenschaftliche Drängen der Massen und der Tatmenschen erscheint. Er ignoriert ja nidit ganz die Verbindungsglieder beider Epochen und läßt sie auch bei Ranke hier und da hervortreten, aber nicht mit dem Nachdrucke, den man wünschen müßte. Denn die Keime dessen, was man als eigentümlich für den Geist des 19. Jahrhunderts ansieht, liegen bereits massenhaft ausgestreut im deutschen Idealismus und in der deutschen Romantik. Die Aufstellung der neuen ethischen, politischen und nationalen Ideale zu Beginn des Jahrhunderts und in den Jahren der Befreiungskämpfe und ihre Anwendung auf den preußisdien Staat ist nichts anderes als der erste Akt des modernen Realismus und Voluntarismus in Deutschland. Fichte, Adam Müller, Wilhelm v. Humboldt, so verschieden unter sich geartet, sind einig darin, daß die Wissenschaft nicht in reiner Selbstgenügsamkeit verharren dürfe, sondern das Leben ergreifen und gestalten müsse. Sie sind zugleich diejenigen Denker, deren Arbeit, wie ich an einem einzelnen Probleme zu zeigen versucht habe, die unmittelbare Vorstufe der Rankeschen Geschichtsauffassung bildet! Es ist ein Mangel des Dietherschen Buches, daß er diese Fäden zwischen 18. und 19. Jahrhundert nicht genügend beachtet hat. Der neue politische »Tatmensch« also war schon vor Ranke in voller Entwicklung und wurde nicht nur von den Denkern postuliert, sondern von den Reformern Preußens in großer Weise realisiert. Reaktion und Restauration haben diese Entwicklung dann allerdings wieder aufgehalten. Zugleich wurden die Geister der Tiefe, die in der Französischen Revolution an das Licht gedrängt hatten, gebändigt, die Massenbewegungen niedergehalten und alle alten aristokratischen Gewalten in Staat und Gesellschaft wieder zur Geltung gebracht. Diesen quietistischen und aristokratischen Duft der Restaurationszeit hat Ranke mit Behagen in sich eingeatmet. Seine persönliche Lebensstimmung und seine eigenen politischen Wünsche behielten zeitlebens die Spuren ihres Geistes. Daß dies auch von seiner Geschichtsschreibung bis zu gewissem Grade gilt, ist niemals verkannt worden. Sie beleuchtet vorzugsweise die Höhen des Staatslebens und der Gesellschaft — nicht nur, weil die diplomatischen und literarischen Quellen, die
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er bevorzugte, dies schon taten, sondern er bevorzugte diese Quellen wesentlich auch deswegen, weil es ihn innerlich immer hinzog zu eben diesen Höhen. »There is a tendency«, sagt der Engländer Gooch in seinem eben erschienenen Buche über die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts (S. 101) ganz richtig, »to survey events too much from the windows of the council-chamber, to neglect the masses, to overlook the pressure of economic forces.« Nun aber ist diese aristokratisch sich abschließende Welt der Restaurationszeit, die Ranke umfangen hielt, keineswegs nur Restauration des 18. Jahrhunderts, sondern eine besondere Welt für sich, in der audi die neuen stärkeren Impulse der Revolutionsund Erhebungszeit, wenn audi gedämpft, weiterlebten. Das Wesen dieser Zeit ist also eine fortwährende geistige Auseinandersetzung und Wechselwirkung zwischen dem, was Diether den Intellektualismus des 18. Jahrhunderts und den Voluntarismus des 19. Jahrhunderts nennt. Und obwohl nun Diether im einzelnen keineswegs blind ist für diese Wechselwirkung, macht er sich doch grundsätzlich nicht klar, daß Ranke nur vom Boden dieser Obergangsepoche, aber nicht von dem des reinen 18. Jahrhunderts aus zu verstehen ist. Weil er ihn gewaltsam in dieses zurückzudrängen versucht, muß er sich fortwährend abmühen, die Regungen des neuen Jahrhunderts in ihm umzudeuten und abzuschwächen. Er zitiert selbst (S. 233) Rankes Wort über Capefigues Auffassung der Bartholomäusnacht: »Wir sind jetzt geneigter, die Dinge überhaupt von unbewußten Antrieben herzuleiten, als von Absicht und vorbedachter Leitung. Es ist der Tribut, den wir unserem Jahrhundert zahlen, wo die populären Bewegungen so oft die Oberhand behalten haben.« Aber er verwertet dieses Wort und die ihm vorhergehende Auseinandersetzung nicht. Sie zeigt, daß Ranke grundsätzlich bereit und imstande war, die Bedeutung der Massenbewegungen anzuerkennen und nur vor ihrer Übertreibung warnte: »Es ist gewiß falsch, die Ereignisse jener Zeit allein von Politik und dem Einfluß der Persönlichkeiten herzuleiten: die geistlichen Antriebe hatten noch eine eigentümliche, ihnen innewohnende Kraft. Aber ebenso falsch ist es, diesen eine absolute Herrschaft zuzuschreiben, die Ursachen der Ereignisse allein in der Meinung zu suchen.« Audi heute würde man nicht wesentlich anders urteilen dürfen. Man lese ferner Rankes von Diether S. 227 zitierte, im Jahre 1834 geschriebene Apotheose des
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»Genius des Occidentes«: »der die Völker zu geordneten Armeen umschafft, der die Straßen zieht, die Kanäle gräbt, alle Meere mit Flotten bedeckt und in sein Eigentum verwandelt, die entfernten Kontinente mit Kolonien erfüllt, der die Gebiete des Wissens eingenommen und sie mit immer frischer Arbeit erneuert«, — ist sie nicht zugleich audi ein glänzendes Bild der expansiven Energie des 19. Jahrhunderts? Diether (S. 248) gibt wohl audi zu, daß Ranke den Wert politischen Massenbewußtseins kenne, aber seine »moralische Energie« sei nicht ein leidenschaftliches, vorwärtstreibendes Willens-Agens im politischen Individuum, sondern ein »geheimnisvolles, transzendentales Etwas, das nur dann wirksam wird, wenn sich Regierende wie Untertanen ihm gegenüber in leidenschaftsloser Rezeptivität verhalten«. Wiederum eine unzulässige Übertreibung. Man nehme dodi nur das »Politische Gespräch« Rankes von 1836 zur Hand. Die »moralische Energie«, die er dort vom Staatsbürger verlangt, soll dahin führen, daß »die Zwangspflicht sich zur Selbsttätigkeit, das Gebot zur Freiheit erhebe«. Diether selbst muß einräumen, daß Ranke hier eine Politisierung des Individuums fordert. Wenn Ranke seine politische Willensforderung in vergeistigter Sprache ausdrückte, so gibt das noch kein Redit dazu, sie in das »Transzendentale« — wir wollen über den irrigen Gebrauch dieses philosophischen Begriffs nicht mit dem Verfasser rechten — umzudeuten. Idi würde es geradezu für einen Verfall und für eine Unfähigkeit historischen Verstehens halten, wenn man in den Vergeistigungen der Rankeschen Ideen nicht mehr den vollen Pulssdilag des ganzen Lebens spüren könnte. Jeder Kenner Rankes weiß, daß die »moralischen Energien«, die er in der Geschichte aufsucht und darstellt, nicht nur höhere geistige Werte, sondern audi Anspannung aller menschlichen Kräfte für sie umfassen. »Die Erforschung der Geschichte«, sagt Ranke in seinem Aufsatz über die Kammer von 1815 (S. W. 49/50, S. 176), »hat es mit Dingen, die nicht leicht anzufassen, mit den moralischen Kräften und ihrem verwickelten, verborgenen Getriebe zu tun.« Das ist das unzweideutige Bekenntnis zu einer realistischen, das ganze Spiel der geschichtlichen Willenskräfte erfassenden Geschichtsbetrachtung und zugleich die unzweideutige Erkenntnis ihrer komplizierten Verwurzelungen. Was Ranke hier im Auge hat, umfaßt auch schon alles das, was Diether unter der »Sphäre des
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Unterbewußtseins« versteht. Wenn Ranke bescheiden hinzufügt, daß es der Forschung nur selten gelinge, dieses Dunkel zu erhellen, so hat auch die moderne Wissenschaft trotz ihrer verfeinerten Methode in der Analyse komplexer und »unterbewußter« Vorgänge alle Veranlassung zu ähnlicher Bescheidenheit. Den Weg zu dieser analytischen Methode hat gerade Ranke schon gebahnt. »Wäre es möglich«, heißt es in demselben Aufsatze S. 194, »die politischen Parteien durch eine geistige Anatomie bis in ihre geheimsten Bestandteile zu zerlegen, so würde man, glaube ich, auf ein irrationales Element stoßen.« Damit leitet er über zu einer Charakterisierung der blinden zerstörenden Leidenschaften, die sowohl in der revolutionären Bewegung von 1789 wie in der royalistischen Gegenbewegung des »weißen Schreckens« von 1815 sich auswirkten. Diether, S. 194, bemerkt dazu: »Als eigentliche materia peccans erkennt er auch hier wieder das unheimliche X , das er sich immer erst auf Umwegen konstruieren muß: die politische Leidenschaft, zunächst die der Parteien . . . Dieser >dunkle, vernunftlose Antrieb< verschuldet die Greuel des weißen Schreckens, er ist überhaupt der Quell alles politischen Unheils im Staate, möge dieser eine Form haben, welche er wolle.« Wieder übertreibt er etwas an sich Richtiges. Wohl läßt Ranke seine eigene politische Empfindung, die den Exaltados von hüben wie drüben gleich abhold war, hier deutlich durchschimmern, aber als Historiker sieht er ihrem Treiben sdiarf in das Auge, und es kann gar keine Rede davon sein, daß er sich dieses »unheimliche X « immer erst auf Umwegen konstruieren müsse. Richtig ist auch, was Diether des weiteren ausführt, daß Ranke seine Aufmerksamkeit lieber den Bewegungen der Staaten im ganzen als denen der Parteien widmet. Aber falsch ist es, dies in erster Linie aus einer politischen Abneigung Rankes gegen die »subalternen Egoismen« der Parteien zu erklären. Gewiß soll diese Abneigung nicht geleugnet werden, aber sie ist hier nicht Ursache, sondern Wirkung von etwas anderem. Das primäre Motiv ist vielmehr jener große und fruchtbare Grundsatz der Rankeschen Geschichtsbetrachtung, daß die zentralen Träger der politischen Geschichte die Staatsindividualitäten sind. Natürlich kennt auch Diether diesen Gedanken, aber er muß ihn, um seine These von Rankes Intellektualismus und Fremdheit im voluntaristischen 19. Jahrhundert zu retten, umdeuten und verschleiern.
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Er nennt das Rankesche Staatsindividuum »etwas geheimnisvoll«; er meint, daß Ranke, indem er das Werden und Vergehen der »großen Mächte« immer mehr in den Vordergrund gestellt habe, sidi zu »sublimen Höhen«, hoch über alles politische Parteibedürfnis hinaus, erhoben habe. Nun, »geheimnisvoll« ist das Rankesche Staatsindividuum nicht mehr und nicht weniger wie jede andere historische Individualität, vom einzelnen Individuum angefangen, und das irrationale Element in den Parteigebilden hat ja gerade Ranke, wie wir eben hörten, hervorgehoben. Aber vielleidit meint Diether, daß das »Geheimnisvolle« des Rankeschen Staatsindividuums nicht etwa irrationaler, sondern sagen wir einmal überrationaler, mystischer, transzendenter Art sei. Dann müßten wir ihm erst recht widersprechen. Die Rankeschen Staatsindividuen sind zuerst und vor allen Dingen sehr reale und gewaltige, immerdar wirkende und schaffende Komplexe von Energien, und Diether hat gar nicht erkannt, daß Ranke, indem er das Willensleben der großen Mächte und Staatspersönlichkeiten zur unvergleichlichen, nie vorher gebotenen Anschauung brachte, einer der größten Führer und Bahnbrecher des modernen voluntaristischen Geistes geworden ist — als Erkennender und Zeigender natürlich nur, nicht als Handelnder. Ein Erkennender muß — und mag seine Aufmerksamkeit auch den triebartigsten Kräften und dem untersten »Unterbewußtsein« zugekehrt sein — immer in gewissem Sinne auf »sublimen Höhen« wandeln, wenn er seiner Aufgabe ganz gerecht werden will. Wenn Ranke nicht die Lebenstriebe der Parteien und der Massen, sondern die Lebenstriebe der Staaten sich zu seinem Objekte wählte, so spricht sich in erster Linie darin das Werturteil aus, daß diese eben geschichtlich mehr bedeuten als jene. Aber ist dieses Urteil etwa falsch? Wohl sind die politischen Parteien und die wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Massenbewegungen innerhalb der Staaten seit Rankes Zeit immer stärker, auch für die Staaten selbst immer wichtiger geworden — aber sie haben dadurch die Bedeutung des Staatsganzen nicht herabgedrückt, sondern eher noch gesteigert. Allen Ansprüchen der Parteien, allen Fluktuationen der Massen gegenüber macht sich immer wieder das geltend, was man heute die »Staatsnotwendigkeit« nennt und im Rankeschen Sinne den Lebenstrieb der individuellen Staatspersönlichkeit nennen kann. Und gerade, wenn sie zur Herrschaft im Staate gelangen, müssen
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die Parteien in gewissem Grade aufhören, Parteien zu sein, und anfangen, dienende Organe des Staates und seiner geschichtlichen Überlieferungen zu werden. Jakobiner als Minister, hat schon Mirabeau gesagt, sind keine Jakobinerminister mehr. Und wenn auch der Ausgleich zwischen Massenleben und Staatsleben immer schwieriger wird und die Gefahren für den Staat dabei immer größer werden, so wächst dodi dem Staate, der ihrer Herr wird, auch neue Kraft zu, weil seine Wurzeln nun tiefer in das Erdreich der Nation gehen und seine Daseinskämpfe von Millionen, statt wie früher von Zehn- und Hunderttausenden ausgekämpft werden. Es ist nun ganz richtig, daß Ranke, umgeben von den halkyonischen Zuständen der Restauration, das volle Bild dieser gewaltigen Wechselwirkung zwischen Macht und Masse noch nicht hatte und schon deswegen in ein stärkeres Interesse für das moderne Massenleben nicht mehr hineinwachsen konnte. Dafür hat er in anderer Hinsicht die Schranken jener halkyonischen Zeit durchbrochen, indem er — ich darf hier an die Ausführungen meines Buches erinnern — den Gedanken der unbedingten staatlichen Selbstbestimmung und der realistischen Machtpolitik in seiner Geschichtsbetrachtung wieder zu Ehren brachte gegenüber allen ideologischen Dogmen von rechts und links. Freilich sagt Diether (S. 248f.): »Dieser Rankesche >Kampf< ist in Wahrheit nur ein von den »großen Mächten< aufgeführtes Schauspiel, angeschaut mit den Augen des Intellektuellen, empfunden mit seinen Erkenntnisnerven: ein historisches Gesetz, aber keine aktive Willensforderung. Dieses Rankesche Kampfprinzip trägt für die Praxis höchstens defensiven Charakter.« Die Farben zu diesem Bilde machen den Eindruck, dem modernen Ästhetentum entnommen zu sein. Aber vor allem muß man geltend machen, daß Fragen, die man an den Historiker Ranke stellt, nicht von vornherein mit solchen vermischt werden dürfen, die an den Politiker in ihm zu stellen sind. Rankes Geschichtsschreibung ist grundsätzlich rein kontemplativ. Gooch sagt mit Recht, daß der erste der Dienste, den er der Historie erwies, darin bestand, to divorce the study of the past from the passions of the present. Deshalb darf man von seiner Geschichtsschreibung auch keine aktive Willensforderung verlangen. Genau ebenso grundsätzlich kontemplativ will aber auch die moderne Geschichtswissenschaft sein. Sie erklärt den Historiker von stärkerem politischen Tem-
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perament zwar nicht für unfähig zu reiner historischer Erkenntnisarbeit, denn sie würde sich damit eines Teiles ihrer Wurzelsäfte berauben. Aber sie fordert von ihm eine stetige strenge Selbstprüfung, ob die eigenen Willensforderungen, die ihn erfüllen, nicht etwa das Bild der Vergangenheit trüben. Da nun Ranke dieses stärkere politische Temperament nicht besaß, so hat er es als Historiker allerdings leicht gehabt, sich der Politik zu erwehren; dafür aber hat er als Politiker zu wenig von seiner eigenen Historie gelernt und hat das Kampfprinzip, das er als Grunderfahrung des geschichtlichen Staatenlebens verkündete, da, wo er zu handeln hatte, nicht immer mit derjenigen stählernen Energie verwirklicht, die er in seiner Geschichtsschreibung so großartig zur Anschauung brachte. Seine eigene P r a x i s war also meinethalben, um Diethers Ausdrude zu gebrauchen, »defensiv«; aber sein »Kampfprinzip« war es durchaus nicht. Hätte sich Diether auf die Aufgabe beschränkt, diesen Dualismus des Rankeschen Wesens herauszuarbeiten, so würden wir ihm rückhaltlos zustimmen. Statt dessen verwischt er ihn durch seine unklare und zweideutige Formulierung, die den Charakter dieses Kampfprinzips und damit auch die geistige Empfänglichkeit Rankes für die voluntaristische Seite des geschichtlichen Lebens abschwächt. In den späteren Partien des Buches ist es Diether viel besser gelungen, die historische und die politische Seite des Rankeschen Wesens auseinanderzuhalten. Die Darstellung seiner politischen Betätigung unter Friedrich Wilhelm IV. ist zum Teil vorzüglich. Hier tritt es auch ganz klar und unwiderleglich hervor, daß die konservativen Ideologien, die Ranke in seiner Geschichtsauffassung überwunden hatte, seine politische Praxis noch leise mitlenken konnten. Deswegen konnte er sich so heimisch fühlen im Kreise Friedrich Wilhelms IV., deswegen konnte er auch später, als er über ihn historisch zu urteilen hatte, sich nicht ganz von dem Banne befreien, der seine politischen und persönlichen Empfindungen über ihn beherrschte. Anderseits war er dodi auch wieder in den Jahren 1848/50 in entscheidenden Momenten imstande, die Prinzipien der Machtpolitik, die er als Denker verkündigte, auch für die Praxis zu fordern. In der großartigsten Weise hat er im September 1850 inmitten der schwächlichen Schwankungen der Unionspolitik ausgeführt, daß die preußische Politik, wenn sie die Verbindung mit revolutionären Elementen
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nicht gescheut hätte, zwar sich größten Gefahren ausgesetzt haben würde, — »aber Kühnheit und Macht überwinden alles«. Was er in der damaligen Situation dann forderte, berührt sich aufs engste mit den Ansätzen zu einer großpreußisch-konservativen Realpolitik, die ich in meinem Buche über Radowitz darzustellen versucht habe. Als dann Bismarcks Erscheinung aufstieg, als er das Kampfprinzip des Staates, das Ranke in der Geschichte nachgewiesen hatte, zu neuer Geltung brachte und den Geist der »Großen Mächte« Rankes in sich inkarnierte und potenzierte, gingen in Ranke freilich der Historiker und der Politiker wieder auseinander. Diether zeigt, daß Ranke über Bismarck eine Art von doppelter Buchführung trieb. Seine persönlichen Äußerungen über Bismarck, die er zu seinem Amanuensis Wiedemann in den siebziger Jahren tat, klingen sehr viel schärfer und ablehnender als seine Tagebuchaufzeichnungen, in denen er an Bismarck doch immer wieder seine alte Kunst des historischen Verstehens übte. Man darf überhaupt wohl sagen, daß Ranke als historischer Denker sehr viel größer war wie als Mensch und daß seine politischen Schwächen zum Teil auf menschliche Schwächen zurückgingen — ähnlich wie bei Gentz. Wie dieser fühlte er sich am wohlsten in einer weichlichen Anlehnung an die Aristokratie. Wenn es nicht auch zu den zeitlosen und immer wiederkehrenden Erscheinungen im Gelehrtenleben gehörte, daß Mensch und Denker auseinanderfallen können und daß über der mächtigen Entwicklung des Geistes das Mensdilich-Charakterliche oft zurückbleibt, so wäre man fast versucht, zu sagen, daß diese Spaltung von Mensch und Denker in Ranke mehr in das 19. als in das 18. Jahrhundert weist. Der klassische Idealismus des 18. Jahrhunderts vereinigte grundsätzlich und praktisch großes Denkertum und große, reiche und harmonische Menschlichkeit. Das 19. Jahrhundert aber, das Jahrhundert der Arbeitsteilung, machte den Menschen nur zu leicht zur Funktion und zwang ihn, mehr mit dem zu zahlen, was er leistete, als mit dem, was er war. Aber lassen wir es, wie gesagt, dahingestellt, ob Ranke auch in diesem Wesenszuge dem neuen Jahrhundert seinen Tribut gezollt hat. Mag man nun zugeben, daß er uns nicht das sein kann, was uns Goethe, Schiller und Wilhelm v. Humboldt bedeuten, so muß man doch sofort geltend machen, daß menschliche Größe auch in der Kraft liegt, mit der
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Ranke sich über sich selbst hinaus erhoben hat. Alle Hüllen und Fesseln streifte er ab, wenn er in das Heiligtum der Historie trat. Das ist der tiefere Sinn seines Wortes, daß er sein Selbst auslösdien möchte. So war und blieb er imstande, als historischer Denker die Energie des neuen Jahrhunderts zu befruchten und die ideologischen Nachwirkungen des 18. Jahrhunderts zu überwinden, und als einer dieser Überwinder und Heraufführer einer neuen geistigen Epoche lebt er für uns und in der Geschichte weiter. Wohl jeder Überwinder einer alten Zeit aber trägt noch ein Stüde von ihr in sich. Indem wir die Übertreibung des Dietherschen Buches zurückweisen, erkennen wir sein Verdienst, auf diesen Rest des Alten und überhaupt auf jeglichen Erdenrest in Rankes Wesen die Aufmerksamkeit gerichtet zu haben, bereitwillig an. Wir schließen mit den Worten, in denen Ranke selbst gegen seinen Bruder Heinrich am 28. November 1874 den Dualismus in sich zwischen 18. und 19. Jahrhundert und die Überwindung dieses Dualismus durch die Anerkennung der neuen Zeitgewalten berührte: »Auch du bist, so wie ich, noch ein Geschöpf des vorigen Jahrhunderts, und wie weit sind wir nun in dem neunzehnten vorgerückt! Es ist ein bedeutender Teil der Weltgeschichte, was wir seitdem erlebt; höchst unerwartet die Wendung, welche die Dinge gerade in den letzten Jahren genommen haben. Es k ö n n t e s c h e i n e n , als m ü ß t e n wir sie u n s e r e r Ü b e r z e u g u n g u n d N a t u r n a c h v e r w e r f e n . D o c h sei d a s f e r n e !«
Rankes »Große Mächte« Einleitung zu der Insel-Bücherei-Ausgabe von Rankes »Großen Mächten« (1916), gekürzt um die rein bibliographischen Angaben, dort S. 9 f. Die Abfassung während des ersten Weltkrieges madit sidi geltend, wie ohne weiteres zu erkennen ist. Daß Rankes Lehre von den »Großen Mächten« noch in ganz anderer Weise, als es Meinedce hier angedeutet hat, auf den speziellen Moment des ersten Weltkrieges bezogen werden kann, liegt auf der Hand und braucht hier nidit näher ausgeführt zu werden.
Rankes Aufsatz »Die großen Mächte«, der zu den Kleinodien unserer Nationalliteratur gehört, erschien im Jahre 1833 und eröffnete den zweiten Band der von ihm herausgegebenen »Historisch-politisdien Zeitschrift«. Er trat mit dieser Zeitschrift aus der Stille der Forschung, in der er bisher gelebt hatte, auf den Kampfesboden der politischen Parteien in Preußen und Deutschland, nicht um sich einem der beiden miteinander ringenden Heerlager anzuschließen, sondern um beiden einen höheren Punkt zu zeigen, von dem aus die beanspruchte Allgemeingültigkeit und dogmatische Sicherheit der hüben und drüben aufgestellten Parteiideale verblassen mußten und viel größere und lebendigere Erscheinungen dem Blicke aufstiegen. Hie Autorität, hie Volkssouveränität, so war nach der Julirevolution der Gegensatz der Meinungen. Alles politische Leben sollte darin aufgehen, sei es den von Gott gewollten, sei es den vom Volke gewollten Staat zu verwirklichen. Im letzten Grunde kämpften dabei die alten und die neuen Schichten der Gesellschaft um die Macht im Staate. Aber sie führten diesen realen Kampf mit einer Ideologie, die das Wesen des Staates selbst gefährdete, schon weil sie den innern sozialen Gegensätzen eine politische Schärfe und geistige Unduldsamkeit gaben, die ihr Zusamenwirken im Dienste des Ganzen unmöglich machten. »Die Extreme geben den Ton an«, schrieb Ranke in dem Plane für die neue Zeitschrift1, »das eine f1 Mit geringen Abweichungen dem ersten Heft der Zeitschrift als »Einleitung« mit auf den Weg gegeben, vgl. Ranke, Werke, Bd. 49/50 S.3 und Conrad üarrentrapp, Rankes Historisch-politische Zeitschrift, in: Historische Zeitschrift, Bd. 99 (1907) S. 53 f.)
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vielstimmiger als jemals: trotzig auf die Siege, die es erfochten hat, und auf den Beifall der großen Menge; das andre zwar in heftiger, aber unleugbar schwacher und nur immer aufreizender Opposition. Es sind zwei Schulen, die sich bekämpfen: weit und breit, in mancherlei Nuancen, haben sie den Boden eingenommen. Die Scholastik der mittlem Jahrhunderte beschäftigte sich, die intellektuelle Welt ihren Distinktionen zu unterwerfen: diese neue Scholastik ist bemüht, die reale Welt nach ihren Schulmeinungen einzurichten.« Ranke war nicht gemeint, den Wahrheitsgehalt, den die damalige liberale wie die damalige konservative Staatsansicht in sich hegen mochten, zu bestreiten; nur ihrem Anspruch auf Alleinherrschaft wollte er sich widersetzen. Er wollte ihnen zeigen, daß der Staat nicht nach Schulmeinungen, sondern durch reale Kräfte geschaffen wird, daß es deswegen keinen Normalstaat gibt, sondern daß jeder Staat eine lebendige, individuelle Wesenheit für sich ist, die sich nach eigenen Gesetzen und Bedürfnissen entwickelt. Dies Programm des modernen historischen Realismus wurde damals nur von wenigen verstanden. Aber es wurde von Bismarck in die Tat umgesetzt und ist durch Ranke zur Grundlage alles echten historischen, durch Bismarck zur Grundlage alles unbefangenen politischen Denkens geworden. Neue Schulmeinungen und Ideologien sind seitdem wohl wieder aufgestiegen und haben es zurückdrängen wollen. Die neueste Ideologie dieser Art ist uns im Weltkriege entgegengetreten, wo unsre Gegner aus dem Versuche der alten fundierten Weltmächte, die neue werdende Weltmacht zu unterdrücken, einen Kreuzzug der internationalen Demokratie gegen den rückständigen autoritären Militarismus machen möchten. Aber diese neuen Ideologien sind viel dünner und dürftiger gewebt als die alten, mit denen Ranke und Bismarck sich auseinanderzusetzen hatten. An der Wahrheit der Dinge zerreißen sie. Die damaligen Ideologien waren ganz ehrlich gemeint; an die heutigen können nur die beschränktesten unter unsern Gegnern ehrlich glauben. Die Melodie der Rankeschen »Großen Mädite« und ihrer Kämpfe um Existenz, Individualität, Unabhängigkeit und Ausbreitung tönt so gewaltig wie noch nie aus diesem Weltkriege. Die Rankeschen Lehren sind in Deutschland reicher aufgegangen als in andern Ländern. Man fühlt das dort wohl, aber man
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macht uns daraus den Vorwurf, daß wir uns einem naturalistischen Kultus der Macht ergeben und die frühere deutsche Geistigkeit eingebüßt hätten. Rankes Aufsatz beleuchtet das wahre Verhältnis der beiden großen, durch die Namen Goethe und Bismarck bezeichneten Epochen unsres modernen Nationallebens und ist ihr organisches Bindeglied. Er zeigt, daß im Völkerleben geistige Werte nicht ohne Machtwerke und dauerhafte Madbtwerte nicht ohne geistige Werte erzeugt werden und, um mit ihm zu sprechen, beide »auf das genaueste zusammengehören«. Die Machtpolitik der einzelnen Staaten erscheint in dieser Skizze wie überglänzt von den geistigen Kräften der Nationen. Ranke gibt in ihr wie überhaupt in seinen Darstellungen der auswärtigen Politik den breitesten Raum. Dabei kommen neben den politischen Momenten die literarischen stärker zum Ausdrude als die wirtschaftlichen und sozialen, die uns heute unentbehrlich scheinen zum vollen Verständnis der Staats- und Nationalentwicklungen. Aber Geschichtsschreibung im höhern Sinne ist nun einmal individuelles Bedürfnis und individuelle Kunst. Ebensowenig wie es Normalstaaten gibt, gibt es eine normale Behandlung der Geschichte. Ebenso wie der wirkliche Staat, muß die Geschichtsschreibung auf besonderen, einheitlichen und fruchtbaren Prinzipien beruhen, muß aber auch dabei wie dieser die Gesamtheit aller Lebensgebiete vor Augen haben. Sie ist, wie der Staat, Individualität, die nach Totalität strebt, aber in den Schranken ihrer Individualität nicht anders kann, als die ihr als Dominanten des Geschehens erscheinenden Dinge herausgreifen und die übrigen Kräfte bald leiser, bald vernehmlicher mitschwingen lassen. Nur so kann die unübersehbare Fülle des Geschehens gemeistert und zu einem Kosmos geordnet werden. Und die Dominante der auswärtigen Politik, die Ranke — sehr schon gegen den Geschmack seiner auf Verfassungsideale erpichten Zeit—herausgriff, hat sich als fruchtbarer erwiesen als jede andre, um das Staatenleben im großen zu verstehen. Es war ein genialer Griff, auszugehen von den ersten und unabweisbarsten Bedürfnissen der Staaten, von ihren Kämpfen um Existenz und Lebensraum, denn ihre innere Struktur ist zum größern Teile Anpassung an diese Kämpfe. Die Machtbedürfnisse bestimmen wie nichts anderes die besonderen Verfassungsformen der Staaten. Es ist hier nicht der Ort, die ideengeschichtliche Genesis der
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Rankeschen Lehren von der Individualität der Staatspersönlichkeiten und dem'Primate der auswärtigen Politik zu zeigen. Man müßte dafür zurückgreifen auf die Romantik, auf Wilhelm von Humboldt und Herder. Unter den Romantikern kommt, wie ich an andrer Stelle gezeigt habe 2 , namentlich Adam Müller als Vorläufer Rankes in Betracht. Insgesamt war diese Entwicklung und Vertiefung der Geschichtsauffassung von Herder und Ranke hin eine der größten Leistungen des deutschen wissenschaftlichen Geistes. Sie w a r nicht denkbar ohne das Erwadien der Nationen, ohne die Idee der Nationalität und das neue Licht, das diese Idee auf alle individuellen Erscheinungen im geschichtlichen Leben warf. Tiefer und origineller als irgendwo ist in Deutschland die Nationalität als große Individualität begriffen worden. Auch die Bedeutung der Nation für den Staat hat Ranke, wie dieser Aufsatz zeigt, nicht im normalen und schematischen Sinne der Französischen Revolution, sondern ganz individuell und konkret erfaßt, ohne dodi das Generelle an ihr dabei zu übersehen. Rankes Geschichts- und Staatsauffassung war aber, über das Zeitalter der Romantik und der Erhebung der Nationen hinüber, auch noch befruchtet durch die Eindrücke und Überlieferungen des Zeitalters vor 1789, der sogenannten Kabinettspolitik. Die »Großen Mächte« erinnern selber an Friedrichs des Großen Jugendschrift Considérations sur l'état présent du corps politique de l'Europe von 1738 (nicht 1736, wie Ranke noch annahm), in der auch schon, freilich für rein praktische Zwecke, die Kunst geübt wurde, die individuellen Interessen und Tendenzen der einzelnen Großmächte zu charakterisieren und sie zugleich als Glieder einer einheitlichen Staatenfamilie zu behandeln. Es gab eine ganze Literatur dieser Art im 17. und 18. Jahrhundert, die mit kühler Klugheit und Klarheit die »Interessen der Fürsten« ihrer Zeit studierte und berechnete. Ranke lernte diese Kunst vor allem aus den Relationen der venezianischen Gesandten. An realistischer Menschen- und Weltkenntnis konnte er es bald mit ihnen aufnehmen. Er überflog sie weit, weil er den philosophischen Geist hinzutun konnte, den das Deutschland seiner Jugendzeit erzeugt hatte. Die erhabenen, geheimnisvoll-durdisiditigen Schlußworte
[* Weltbürgertum, und Nationalstaat, Werke Bd.V 244 ff.]
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des Aufsatzes hätte audi der feinste politische Kopf des Ancien Régime nicht sdireiben und empfinden können. E s stedkt unglaublich viel in diesem Aufsatze. Ranke sdirieb ihn auf der Jugendhöhe seiner Kraft, reich an schon gewonnener universalhistorischer Anschauung, reicher noch an Ahnungen und Entwürfen für künftige Studien. Alle seine späteren großen Werke, voran die preußische, französische und englische Geschichte, in gewissem Sinne audi die Weltgeschichte, sind schon, wie man mit Recht bemerkt hat, in dieser Skizze keimhaft enthalten. Man muß sie wieder und wieder lesen und erwägen und findet dodi immer wieder verborgene Einsichten und Winke, die Ausgangspunkt für ganze Reihen von Studien und Auffassungen geworden sind oder noch werden können. Auch im heutigen Weltmomente, der die Nationen ganz auseinanderzureißen droht, kann uns sein großartiger Optimismus trösten, der das »System des Rechtes« in der europäischen Ordnung der Dinge immer wieder emportaudien, nach immer neuer Vollendung streben sah. Dieser Optimismus entsprang der tiefen Kenntnis der gewaltigen Quadern und Fundamente, die das europäische Gesamtleben trotz aller untereinander geführten Kämpfe um die Macht im Grunde tragen. Alle Kenntnis der Dinge aber steigert sich bei Ranke zu Anschauung und Mitgefühl, die das Besondere in seinen geheimsten Falten und das Allgemeine in seinen höchsten Beziehungen umfaßt. Weil beides bei ihm in jedem Augenblicke ineinanderlebt, ist auch das Besondere immer etwas von allgemeiner Bedeutung und das Allgemeine niemals eine bloße Abstraktion, sondern nur die höchste der verschiedenen ineinander verkapselten Individualitäten. Und über der höchsten Allgemeinheit der Geschichte, die sich schauen läßt, liegt immer noch ein geistiger Äther philosophisch-religiöser Ahnungen, der alles umhüllt. Keinem Historiker der Welt ist es je gelungen, zugleich so realistisch und so transzendent die Dinge zu behandeln. Man wird einwenden, daß sich die realistischen Bestandteile seiner Geschichtsauffassung als dauerhafter erweisen werden wie die transzendent-spekulativen. Ohne Zweifel ist auch das gesdiichtsphilosophische Element in unserm heutigen historischen Denken schon etwas anders zusammengesetzt wie bei Ranke. Aber Rankes Geschichtsphilosophie hat nirgends seinen Realismus beeinträchtigt und war doch, so
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wie sie war, elastisch, behutsam und gläubig zugleich, notwendig, um einen Realismus von dieser Schärfe und Tiefe hervorzubringen. Doch wir wollen hier nur erste Andeutungen zum Verständnis Rankes und seiner »Großen Mächte« geben. Im freundlichen Gewände der Inselbücherei, die schon so manche Perlen unsrer Literatur umschließt, werden die »Großen Mädite« hoffentlich Gemeingut aller derer werden, die es mit historisch-politischem Denken ernst nehmen und es nicht nur stofflich bereichern, sondern schulen und verfeinern wollen. Möchten sie audi den historisch-politischen Geschmack überhaupt heben, der heute bei uns nicht auf der Höhe der weltgeschichtlichen Entscheidungen unsrer Tage steht. Ein Wort von Novalis — auch einem der Denker, die der Rankeschen Geschichtsauffassung vorgearbeitet haben—mag diese Einführung beschließen: »Was bildet den Menschen, als seine Lebensgeschichte? Und so bildet den g r o ß a r t i g e n Menschen nichts, als die W e l t g e s c h i c h t e . «
Rankes »Politisâtes Gespräch« Einleitung zu der Sonderausgabe des »Politischen Gesprächs«, München und Leipzig 1924, S.5-15 unter Fortlassung der »Vorbemerkung« zum Text selbst, die sich auf Zitate aus Doves Einleitung zu Bd. 49/50 von Rankes Sämtlichen Werken beschränkt. Wiederabdruck: »Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte« (1939) S. 23-38.
Zwischen politischer Geschichtsschreibung und Politik besteht ein ganz eigenes, zart verwobenes Verhältnis. Es ist anders als etwa das des Kunst- und Literaturhistorikers zur Kunst und Poesie. Betrachtende und schaffende Tätigkeit stehen sich hier in der Regel streng geschieden einander gegenüber, und eine Personalunion zwischen Kunsthistoriker und Künstler ist etwas Seltenes und Zufälliges. Dagegen gibt es unzählige Übergänge zwischen politischem Historiker und handelndem Politiker. Wohl besteht das Gesetz der reinen Wissenschaft audi für den politischen Historiker und sagt ihm, daß er das Hödiste in seinem Berufe nur leisten kann, wenn er den Spiegel seiner Betrachtung nicht trüben läßt durch Tendenzen der praktischen Politik. Er weiß es, wenn er es ernst mit seiner Aufgabe nimmt, ganz genau, daß er, um mit Ranke zu sprechen, eigentlich sein Selbst auslöschen müsse — und vermag es dodbi nicht und dürfte es audi nicht einmal völlig wünschen, weil er sich eben dadurch audi einer Erkenntnisquelle berauben würde. Eine der tiefen Antinomien, die unser Leben durdiziehen, offenbart sidi hier. Nur ein Mitleben mit den Dingen, die er erfassen will, erschließt ihm ihr Wesen. Mitleben ist aber auch Mitstreben. Ohne einen solchen Anteil des ganzen Menschen ist die Welt des Handelns, und insbesondere des politischen Handelns, nicht geistig zu bemeistern und in eine wissenschaftliche Form zu bringen. Ohne einen gewissen Zusatz von eigenem Wollen und Wünschen ist nodi keine politische Historie von Rang und Bedeutung geschrieben worden. Ihn nicht Herr werden zu lassen, ihn in Schranken zu halten, fordert dann wieder sofort das Gesetz des reinen Erkennens. Wo und wie diese Schranken zu ziehen sind, kann keine begrifflich gefaßte Theorie lehren, können nur Takt und Selbstzucht angeben.
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Ja, selbst von derjenigen Geschichtsschreibung, die diese Schränken am engsten zieht und sich verhältnismäßig am freiesten hält von praktischer Tendenz, kann noch ein eigener Impuls ausgehen, doch wieder einzugreifen in das Leben. Denn sie sieht tiefer und klarer in dieses hinein und erfaßt die in ihm wirkenden Kräfte mit größerer Unbefangenheit und Sadilichkeit. Sie erkennt die Irrtümer und Illusionen der Parteien früher als diese selbst, weil sie über ihnen steht und die individuellen Lebensbedingungen der Staaten im ganzen zu erforschen sucht. Sie kann auch nicht mit der bloßen Abspiegelung der Vergangenheit sich begnügen, denn Vergangenheit und Gegenwart bilden einen einzigen Lebensprozeß, in den man nur eindringen kann, wenn man ihn von allen Seiten erfaßt. Mag dabei audi die Gegenwart ihres unfertigen und undurchsichtigen Charakters wegen zum Gegenstand der eigentlichen Geschichtsschreibung sich nicht eignen, so muß sie doch der Historiker als eine ungeschriebene Historie in Kopf und Herzen tragen, weil ihre Lebenskräfte auch seine Arbeit nähren, weil ihre Erfahrungen, Maßstäbe und Möglichkeiten, methodisch gereinigt, ihm das Verständnis der Vergangenheit erschließen helfen. Wenn aber dergestalt Gegenwart und Vergangenheit, Leben und Geschichte im Geiste eines genialen Historikers intensiv und großartig ineinander wirken und ihren verborgenen Sinn wechselseitig enthüllen, dann kann in ihm, aller Beschaulichkeit zum Trotz und sogar durch die Beschaulichkeit genährt, ein Drang erwachsen, den Zeitgenossen vom eigenen Lichte politischer Erkenntnis mitzuteilen und die höheren W a h r heiten, die er fand, ihren Leidenschaften und Irrtümern entgegenzuhalten. Warum sucht' ich den Weg so sehnsuchtsvoll, Wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll?1 Mag auch der Drang nicht von Dauer sein und die Hoffnung, zu nützen, rasch entmutigt werden, weil die Ohren der Zeitgenossen noch zu stumpf sind für eine feinere politische Weisheit, so kann doch der Augenblick des Wirkens selbst von einem gewissen Enthusiasmus getragen sein, von dem Gefühle, etwas Einziges, Großes und Unersetzliches zu sagen und zu leisten, nämlich [' Goethe, Zueignung.']
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über Vergangenheit und Gegenwart und den bloßen Fluß der Dinge hinauszuführen und das Sein und Werden, die zeitlosen Urbilder und Ideen der geschichtlichen Dinge und damit auch der gegenwärtigen Politik zu enträtseln und zu deuten. Mögen sie dann von den Zeitgenossen als Leitsterne anerkannt werden oder nidit, sie bleiben dodi in ihrem Glänze am Firmamente stehen, beherrschen weiter die Welt und beruhigen und beseligen den beschaulichen und empfänglichen Geist. Das ist der spezifische Enthusiasmus, der von dem »Politischen Gespräche« Leopold von Rankes ausströmt. Dieses Gespräch, das er 1836 auf der Höhe seiner Lebenskraft als 41jähriger Berliner Professor niederschrieb, war das Höchste und Bedeutendste dessen, was er als Politiker und Publizist je geboten hat, die reifste und süßeste Frudit gleidisam eines nur kurze Zeit von ihm bestellten Nebengärtchens. Denn mit dem Politischen Gespräche nahm er zugleich auch Abschied von der öffentlichen politischen Arena und beschränkte seine politische Tätigkeit auf Ratgeben an die Regierenden, wenn es von ihm, wie etwa in den Revolutionsjahren 1848/50, gelegentlich gefordert wurde. Das Politische Gespräch erschien im August 1836 im vierten und Schlußhefte des zweiten und zugleich letzten Bandes der Historisch-politischen Zeitschrift, die Ranke seit 1832 herausgab. Diese Zeitschrift hatte einen offiziösen Charakter. In den unruhigen Zeiten, die der Julirevolution von 1830 folgten, empfand die preußische Regierung das Bedürfnis, die öffentliche Meinung aufzuklären nicht nur über ihre einzelnen Maßnahmen, sondern über den Zusammenhang ihres Tuns überhaupt, über »diejenige allgemeine Handlungsweise und Richtung, welche Recht, vernünftige Freiheit und gemeinsame Wohlfahrt in ruhiger und besonnener Entwicklung sudiend und begründend durch die Geschichte Preußens und besonders durch dessen Geschichte unter Seiner jetzt regierenden Königlichen Majestät sich im ganzen und großen hindurchzieht«. So formulierte Graf Bernstorff, der Minister des Auswärtigen, die Aufgabe der Zeitschrift. Sie sollte einen gemäßigten, etwas patriarchalisch gefärbten Konservatismus vertreten, der die liberalen und demokratischen Zeitforderungen an den preußischen Beamten- und Militärstaat ablehnte, aber auch den feudalen, zu ständischen und patrimonialen Bindungen zurückstrebenden Geist der äußersten Rechte nicht über
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sich Herr werden lassen wollte. Ranke nahm mit innerster Überzeugung diese Aufgabe auf sich, hielt audi die Zeitschrift auf einem sehr hohen, aber selbst für das damalige, sehr gebildete Publikum zu hohen Niveau. Nicht nur die Abonnenten, sondern audi die Mitarbeiter ließen ihn bald im Stiche; die Hefte erschienen immer seltener, und er selber mußte schließlich das meiste schreiben. Das Unternehmen schlug also äußerlich völlig fehl. Daß Ranke innerlich nicht erlahmt war in dem Glauben an den Wert seiner politischen Mission, zeigt die Tatsache, daß er gerade in dem Epilog an die Leser die tiefsten und zugleich persönlichsten Töne anzuschlagen vermochte. Wenden wir uns nunmehr dem Gespräche selbst und seinem gedankenschweren Inhalte zu. Schon der persönliche und zeitgeschichtliche Rahmen des Gesprächs ist einer Betrachtung würdig. Ranke hat es allem Anschein nach, wie Varrentrapp glaubhaft gemacht hat (Historische Zeitschrift 100, 335), vor der Drucklegung mit seinem Freunde Savigny, dem großen Begründer der historischen Rechtsschule, durchgesprochen, und die Namen der beiden Freunde Carl und Friedrich, die er im Gespräche auftreten läßt, sind wahrscheinlich eine kleine Huldigung an Savigny, dessen Vornamen sie bilden. Die eigenste Atmosphäre der Zeit, die nebeneinander noch eine tief kontemplative Lebensführung, glänzend bewegte Geselligkeit der obersten Schichten und Wetterleuchten mit fernem Donner imStaatenund Völkerleben vereinigen konnte, durchweht ungesucht die Szene des Gesprächs, das der aus vornehmer Gesellschaft eben kommende Staatsrat Carl mit seinem »benediktinisdien Bruder« Friedrich ( = Ranke) in dessen Gelehrtenzimmer führt. Carl, der salonmüde, nach tieferer Anregung dürstende Welt- und Geschäftsmann, muß sich von Friedrich sagen lassen, daß auch in den oberflächlichen Gesprächen der Salons bedeutendere Kräfte des Lebens sich spiegeln. Denn Rankes Weitabgewandtheit war ganz frei von Weltverachtung oder gar Blasiertheit. Sie war ihm vielmehr ein Mittel, um dem Treiben der Welt desto unbefangener und heller auf den Grund zu schauen. Von Krieg und Kriegsgesdirei haben die jungen Offiziere in den Salons eben gesprochen, während die höheren Beamten gerade auf langen Frieden wieder hoffen, weil der Hexenkessel Frankreich sich zu beruhigen und Louis Philipps vorsichtige Politik des Juste Milieu sich durchzusetzen scheint. Die Kriegsgerüchte dagegen beziehen
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sich auf die englisdi-russische Spannung. Seitdem Rußland durch das Schutzbündnis von Hunkiar-Iskelessi 1833 die Türkei in Patronage genommen hatte, war England von tiefem Mißtrauen gegen Rußland erfüllt. 1834 hatten die Russen, als sie die Donaufürstentümer räumten, Silistria davon ausgenommen. Diese Frage wird im Gespräche nur leicht berührt. Bedeutsamer aber ist die Anspielung auf das Portfolio. Seit 1835 gab der Russenhasser David Urquhart in London das Portfolio, eine Sammlung geheimer zeitgeschichtlicher Aktenstücke zum Teil von abenteuerlicher Herkunft heraus, die die russische Politik belasten, die verborgenen Risse in der Allianz der konservativen Ostmächte enthüllen und der Sache des Liberalismus dienen sollte. Während sie auf das große Publikum als Sensation und als Wetterzeichen eines vielleicht heraufziehenden englisch-russischen und auf die Welt dann übergreifenden Krieges wirkte, lehrt Ranke den Freund mit überlegener Kunst, wie man sie als Erkenntnismittel, als Lichtstrahlen, die auf die wirkliche Politik der großen Mächte hier fielen, benutzen müsse. Zwei Erkenntnisse, die er sich selber schon im stillen gebildet hatte, sah er namentlich durch die Pariser Depeschen des russischen Gesandten Pozzo di Borgo aus den zwanziger Jahren bestätigt. Einmal, daß die Politik der drei konservativen Ostmächte gegenüber den revolutionären Bewegungen Westeuropas nicht so blind reaktionär gewesen sei, wie die Tagesmeinung es auffaßte. Und zweitens, daß der Gegensatz im inneren Staatsleben zwischen Revolution und Reaktion überhaupt sekundär sei gegenüber den großen Fragen der Machtpolitik und der auswärtigen Verhältnisse. Diese seien das eigentliche Zentrum aller Politik. Die Interessen sind stärker als die Meinungen. Damit sind wir auch schon im Zentrum der Rankeschen Geschichtsund Staatsauffassung. Diese Erkenntnis war es, durch die er sich seinen Zeitgenossen überlegen fühlte, die er ihnen lehren, durch die er sie auf höhere und geistigere Stufen politischen Verständnisses führen wollte. Es ist die am leichtesten zu fassende, am anschaulichsten und überzeugendsten historisch zu beweisende und darum auch am stärksten durchgedrungene der Lehren Rankes, daß die auswärtige Politik den Primat hat vor der inneren Politik, daß die innere Verfassung und Ausgestaltung des Staates unter dem Zwangsgebote steht, das die Behauptung der Macht und Un-
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abhängigkeit nach außen und in der Welt auferlegt. Der Staat muß sidi im Inneren so einrichten, daß er sich nach außen möglichst gut behaupten kann. Wieder und wieder hat seitdem die historische Forschung und die Erfahrung des Lebens bis zur heutigen Stunde die Einsicht bestätigt, daß Ranke hier ein Naturgesetz des Staatenlebens aufgefunden hat, das, von vorübergehenden Schwankungen abgesehen, sich immer wieder zwangsläufig durchsetzt. Es war gleichsam eine neue Brille, die Ranke den Zeitgenossen bot und durch die sich nun die Kämpfe der Meinungen und Parteien um die beste Verfassung des Staates ganz anders ansahen. Ihr alle, so klingt es durch das Gespräch hindurch, die ihr ein bestimmtes allgemeingültiges Verfassungsideal für den Staat empfehlt, geht von falschen und irrealen Voraussetzungen aus. Das Problem der Verfassung ist vielmehr für jeden Staat nach seinen besonderen Bedürfnissen, unter denen die der auswärtigen Politik die wichtigsten sind, individuell zu lösen. Überträgt man Einrichtungen, die sich in dem einen Lande bewährt haben und deswegen als mustergültig angesehen werden, auf ein anderes Land, so muß man gewärtig sein, daß sie in der fremden Umwelt sofort ihren Charakter verändern. Denn jenes Gesetz der Selbst- und Machtbehauptung, das jeden Staat zwingt, seine Inneneinrichtung ihr anzupassen, ist nur die Wirkung und der Ausfluß einer noch höheren und umfassenderen Tatsache des Staatenlebens, nämlich der, daß jeder Staat sein eigentümliches, unnachahmliches Leben in sich hat, daß er eine besondere geistige Wesenheit, ein Individuum bildet mit eigenen Daseins- und Wachstumsbedingungen, mit einem von verborgener Lebenstiefe aus gestaltenden und formenden Prinzipe — mit einer bestimmten Entelechie, hätte Ranke auch sagen können. Ein jeder Staat sucht sein eigentümliches, ihm innewohnendes Ideal zu verwirklichen. Er kann dabei entarten, erkranken, altern und zugrunde gehen, aber er wird zunächst nichts anderes tun und können, als seine Individualität ausbilden zum Maximum ihrer Möglichkeiten. Eine Lehre von ungeheurer Bedeutung und Tragweite! Sie warf eine andere Lehre vom Staate, die seit Jahrhunderten geherrscht hatte und auch im Liberalismus jener Zeit fortwirkte, über den Haufen, nämlich diejenige des Naturrechts, die von der allgemeinen Idee des Staates an sich ausgegangen war und nach
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dem Modell eines »besten Staates« gesucht hatte, die immer und überall zuerst mit allgemeinen Begriffen und Idealen operierte und die Besonderheiten der Staaten dabei zwar nicht ignorierte, aber nur äußerlich und schematisch zu erklären vermochte. Sie hatte ferner — und dadurch war sie für den Liberalismus der Zeit brauchbar geblieben — auf der Suche nach dem Zwecke des Staates das Interesse und die Wohlfahrt der Regierten, der Individuen in den Vordergrund gestellt, während Ranke, ohne die Pflicht des Staates zu leugnen, für Wohlfahrt zu sorgen, sein tiefes Auge vielmehr auf den inneren Lebensquell richtete, der in jedem Staate besonders sprudelte und allen allgemeinen Anforderungen an den Staat erst wirkliche Realität und besondere Farbe und Richtung gab. Nun stellte sich auch von hier aus das Problem der konstitutionellen Verfassung, die der Liberalismus damals von Preußen verlangte, ganz anders als für diesen. Gewiß, gab Ranke zu, sie kann nützen, aber sie ist nicht unentbehrlich, sie ist nur eine mögliche Form, um Staat und Volk enger miteinander zu verbinden, neben anderen, die vielleicht dem betreffenden Staate viel individueller entsprechen. Diese enge Verbindung zwischen Staat, Volk und Individuum gehörte auch für ihn zum Wesen des lebendigen und gesunden Staates. Die historisch so überaus fruchtbare Konzeption, daß alle Verfassungsformen und Einrichtungen des Staates geprägt würden durch sein eigenartiges Lebensprinzip und ein einziger individueller Strukturzusammenhang durch alles ginge, mußte j a auch zu dem Gedanken führen, daß auch das gesellschaftliche und private Dasein in diesen Zusammenhang gehöre und daß die höchste Lebendigkeit im Staate auf der Solidarität, Spontaneität und Selbsttätigkeit aller seiner Glieder und Organe beruhe. Man muß dies Idealbild des besten Staates, das also auch Ranke, freilich von ganz historischer und empirischer Basis aus, schließlich entwirft, als Nationalstaat bezeichnen, obwohl er nicht identisch ist mit der gewöhnlichen Vorstellung vom Nationalstaate. Denn so hoch er auch im Sinne der Romantik und der Volksgeistlehre seines Freundes Savigny die schöpferische Kraft der Nationalität schätzte, noch höher schätzte er die der in den einzelnen Staaten wirksamen individuellen Lebensprinzipien und leugnete darum auch die Notwendigkeit, daß Nation und Staat sich immer decken müßten.
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Audi die Lehre von den individuellen Lebensprinzipien der Staaten floß aus der Romantik. Diese hatte das Weltall als einen Abyssos von Individualität verstehen lehren. Ranke unterwarf ihre oft diffuse Schwärmerei für die Individualität einer straffen wissenschaftlichen Zucht, aber hütete sich dabei, die strenge wissenschaftliche Begriffsbildung übermäßig auszudehnen auf Dinge, die sidi nur anschauen und letzten Endes oft nur ahnen ließen. Unmerklich gehen auch seine konkreten und realen Vorstellungen vom Staatenleben ins geheimnisvoll Transzendente über, in die »Gedanken Gottes«, die in den einzelnen Staatsindividualitäten sich offenbaren. Und wie man eine ganze Staatslehre aus den knappen und doch so schwellenden und triebkräftigen Sätzen Rankes herausentwickeln könnte, so auch eine ganze Philosophie, die nun im engsten Zusammenhange steht mit den großen philosophischen Systemen der Identitätsphilosophie Schellings und Hegels, ja darüber hinaus auch mit der Monadenlehre von Leibniz und der phantastischen Lehre Spinozas, daß alle Einzeldinge nur Modifikationen und Individuationen der einen allgemeinen göttlichen Substanz seien. Ranke war nun wohl zu realistisch, um alles geschichtliche Leben schlechthin zu spiritualisieren und zu vergöttlichen. Der Geist des Staates war ihm »zwar göttlicher Anhauch, aber zugleich menschlicher Antrieb«, und gegen den konsequenten Panlogismus Hegels hat er sich immer gewehrt. Andererseits aber befähigte ihn wieder auch sein philosophischer Idealismus dazu, die rein realistische, schon von den Praktikern der Politik im 17. und 18. Jahrhundert scharf erfaßte Erkenntnis, daß die besonderen egoistischen Machtinteressen der einzelnen Staaten die eigentliche Springfeder der Politik seien, ihres utilitarisdien Charakters zu entkleiden und in den Zusammenhang eines großen, geisterfüllten Weltbildes zu erheben. Von bloßer nationalistischer Verherrlichung der Macht blieb er weit entfernt, und die Vergröberungen des Machtstaatsgedankens, die Deutschland im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts erlebt hat, dürfen ihm am wenigsten zur Last gelegt werden. Erst Entwicklungskräfte, die nach ihm einsetzten, haben dazu geführt. Dann konnte ferner seine und der Romantiker Lehre von dem Entstehen, Leben und Vergehen der geschichtlichen Individualitäten nach eigenen inneren Lebens- und Wachstumsgesetzen audi einmal in das Biologische und Pflanzenhafte umgedeutet werden, wie das in
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der morphologischen Geschichtsauffassung Spenglers jetzt geschehen ist. Aber auch dasjenige moderne Denken, das sidi in reinerer und geraderer Kontinuität in den Bahnen Rankes, des deutschen Idealismus und der Romantik weiter entwickelte, hat nicht bei allen seinen Positionen stehenbleiben können. Prüft man das von Ranke entworfene Idealbild des lebendigsten Staates auf seine geschichtliche Herkunft, so sieht man gleich, daß er hier, ohne es zu wollen — denn er durfte es ja nach seiner historisch relativierenden Theorie von der unaufhörlichen Entwicklung des Staates eigentlich nicht tun —, einer bestimmten Stufe der preußischen Staatsentwicklung einen übermäßigen Wert, wenn auch nicht einen absoluten, so dodi einen bleibenderen Wert beigemessen hat, als es historisch-politisch gerechtfertigt war. Die von ihm gepriesene Leitung des Staates allein durch das aufgeklärte, staatsbewußte, geistig hochstehende Beamtentum, wobei dann Städteordnung und allgemeine Wehrpflicht, die Errungenschaften der einst schon viel weiter drängenden Reformzeit, als Abschlagszahlungen an die neue Idee des Verfassungsstaates gelten mochten, war geschichtlich nicht mehr lange haltbar gegenüber den sehr realen Entwicklungskräften des Bürgertums. Das hat Ranke verkannt. Nicht weil es Westeuropa so vormachte, sondern weil es das eigene individuelle Bedürfnis des preußischen Staates war, hätte die Bahn zum Verfassungsstaate früher beschritten werden müssen. Ebenso hat Ranke auch die Triebkraft der nationalen Idee im deutschen Staatsleben zu gering eingeschätzt. Er hatte eine übermäßige Scheu vor allen denjenigen politischen Ideen und Anforderungen an den Staat, die nicht in dessen zentraler Sphäre, im Kreise der Regierenden selbst erwachsen waren, sondern aus den Tiefen der Gesellschaft und des Volkslebens her an ihn herandrängten. Und so doktrinarisierte er hier schließlich etwas seine eigene geniale Entdeckung von der eigengesetzlichen Bewegung der großen Staatsindividuen. Der Anblick dieser geistigen Wesenheiten und der Sternenbahnen, die sie durchliefen, begeisterte ihn. Er sah ja »Gedanken Gottes« in ihnen. Warum sie nicht fortschreiten lassen nach eigenem inneren Gesetze, warum ihnen Dinge zumuten, die nicht aus ihrem schlagenden Herzen selber stammten? Störe ihre Kreise nicht, rief er den Liberalen seiner Tage gleichsam zu. Es ist doch ein leiser Zug von jenem Quietis-
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mus und ruheseligem Beharren in dem naturgewachsen schönen Zustande in ihm, der auch seinem Freunde Savigny eigen war. Herrlich war ihnen beiden der Anblick des Werdens und Wachsens der Dinge von innen heraus, unbehaglich und zweifelhaft aber der Anblick desjenigen Werdens, das in der Form des groben »Madiens« vor sidi ging. Ranke hat zwar als Historiker retrospektiv audi dieses grobe Madien immer einzugliedern gewußt in den großen Strom der weltgeschichtlichen Entwicklung, aber, vor die Probleme seiner Zeit gestellt, die aktive Willensstimmung nicht aufbringen können, die auch die Mittel des Madiens nidit verschmähen darf und innerliche Lebensbedingungen durch äußerliche Mittel vollzieht. Die »verborgene Harmonie« zwischen Staat und Volk dünkte ihm für Preußen schöner und tiefer als die offenbare, die durch eine liberale Konstitution geschaffen werden sollte, erschien ihm wie das Wunderwerk eines Genius gegenüber einem kitschigen Bilde. Es werden hier Züge jener übermäßigen Geistigkeit, wie sie dem ganzen deutschen Geistesleben damals noch eigen war, sichtbar. Aber die großen Leistungen, die aus ihm hervorgegangen sind, wären ohne sie nicht denkbar. Und ebensowenig wären sie denkbar ohne jene großartige optimistische Weltstimmung, die in dem objektiven Idealismus Goethes und Rankes und in der Identitätsphilosophie sich ausprägte. Da traten dann freilich die Nachtseiten des Lebens zurück in dem Bilde der Gottnatur, das man entdeckt hatte. Damit hängt es zusammen, daß die Maditpolitik der Staaten, die auch eine sehr grobe und elementare Seite hatte, bei Ranke mehr in ihrer geistigen als in ihrer naturhaften Seite erscheint. »Macht an sich tut es nicht«, heißt es wohl im Politischen Gespräch. Aber die »Gedanken Gottes«, die in den großen Staatsindividualitäten sich offenbaren, adeln auch ihr elementares Ringen um die Macht. Und durch diese weitgetriebene Vergeistigung und Sanktionierung elementarer Gewalten haben allerdings Ranke und der deutsche Idealismus überhaupt gewisse Voraussetzungen geschaffen für die spätere Vergröberung des Machtstaatsgedankens. Als der tiefe geistige Hintergrund des objektiven Idealismus verschwand und der Voluntarismus des späteren 19. Jahrhunderts sich ausbreitete, nahm er die Sanktionierung der Madit als willkommenes Erbteil der verflossenen Epoche an sich und vergaß nun vielfach ihren idealistischen Ur-
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sprung. Das ist ein tragischer [und erschütternder] Hergang, der im Rahmen dieser Einleitung nur eben angedeutet werden kann. Die eigenartige Synthese des Realen mit dem Geistigen, die Ranke in seiner Staatsanschauung und seiner Geschichtsschreibung durchführte, hatte also das Schicksal aller großen geistigen Konzeptionen. Ist der Moment, dem sie entsprungen, geschichtlich verflossen, so lockert sich in ihrer Fortwirkung auch das geistige Band, das sie zusammenhielt, und die einzelnen Teile des Gedankengebildes können als Bausteine für neue Gebilde gebraucht und oft auch mißbraucht werden. Blidct man dann aber auf Ranke selbst wieder zurück, so überkommt einen jenes gleiche hinreißende Gefühl, das er im Anblick der geistigen Wesenheiten der Staaten empfand. »Das Real-Geistige steht in ungeahnter Originalität dir plötzlich vor den Augen.« Dies Wort gilt audi von seinem eigenen Politischen Gespräche.
Jacob Burckhardt, die deutsche Geschichtsschreibung und der nationale Staat Besprechung der 1905 erstmalig erschienenen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« von Jacob Burckhardt in der Historisdien Zeitschrift Bd. 97 (1906) S. 557-562, wiederabgedruckt unter dem obigen Titel in der Aufsatzsammlung »Von Stein zu Bismarck« (1907). Den von Meinecke im Text in Klammern eingesetzten Seitenzahlen der Erstausgabe sind die entsprechenden Seitenzahlen der Ausgabe in der Burckhardt-Gesamtausgabe Bd. VII (1929) hinzugefügt worden. Dazu aus der Rückschau Meineckes Brief an Walter Goetz vom 22. März 1943 Briefwechsel (Werke VI) S.215.
Der Grundstock der »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« ist ein Kollegheft Burckhardts für seine zuerst im Winter 1868/69, dann nur nodi einmal im Winter 1870/71 gehaltene Vorlesung »über Studium der Geschichte« ; ein Teil davon bildete außerdem einen Zyklus von drei im November 1870 gehaltenen Vorträgen »über historische Größe«, und das Schlußkapitel wurde zu einem Vortrage vom November 1871 benutzt über »Glück und Unglück in der Weltgeschichte« — etwas altfränkisch klingende Themata, wie sie schon der Geschmack der vorrankeschen Geschichtsschreibung liebte. Den Vorträgen über »historische Größe« hat der Herausgeber den moderneren Titel »Das Individuum und das Allgemeine« gegeben, aber verwischt damit vielleicht etwas die ursprüngliche Fragestellung. Auch der übrige Inhalt der Vorlesung über das Studium der Geschichte ist etwas anderes, als was ein zünftiger deutscher Historiker darin wahrscheinlich bieten würde. Es ist nicht Anleitung zu gelehrter Forschung und Methode, es ist auch nicht philosophische Grundlegung der Methode, sondern es sind Beobachtungen, die den Sinn für das Geschichtliche überhaupt wecken wollen. Sie sind dann in der Hauptsache eingeordnet in einen ganz festen und übersichtlichen Gedankengang, indem er ausgeht von den drei großen Potenzen der Geschichte: Staat, Religion und Kultur und dann nacheinander die Bedingtheiten der einen durch die anderen abhandelt — aber systematisch geschieht auch das nicht, und das Aphoristische überwiegt. Aber wie einfach und natürlich ist gerade diese Art, zum
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historischen Studium anzuleiten. Der Trieb des wißbegierigen Anfängers ist mehr auf das historische Schauen als auf das historische Forschen, mehr auf das Ziel als auf die Hilfsmittel zum Ziele gerichtet. Es wird ihm bei uns zwar bald und mit Recht klargemacht, daß dies dilettantisch sei, aber es ist einem jeden zu wünschen, daß ihm während seiner kritisch-methodischen Erziehung diese dilettantische Begierde nicht ganz verlorengehe, daß ihm die Ursprünglichkeit eines universalen historischen Interesses nicht geraubt werde. Diese Ursprünglichkeit besaß Burckhardt im höchsten Grade, und darauf beruht seine Größe und auch seine Sonderstellung inmitten der deutschen Geschichtsschreibung. Gestehen wir es uns nur ruhig ein, daß die nachrankische Geschichtsforschung in Deutschland Lasten zu tragen gehabt hat, die einen Burckhardt nicht gedrückt haben. Er ging frei seinen eigenen Weg, unbekümmert um das, was seine Kollegen in Deutschland um der strengen Wissenschaft willen für nötig hielten zu betreiben. Er überließ mit großartiger Nachlässigkeit seine »Kultur der Renaissance« einem ihm selbst nicht entfernt ebenbürtigen Forscher, um ihre späteren Auflagen dem Stande der Forschung anzupassen, und entwarf dafür eine griechische Kulturgeschichte, die von den heutigen Philologen als dilettantisch gescholten wird und es von ihrem Standpunkte aus gesehen auch sein mag, — hätten wir nur mehr solcher Dilettantenwerke! Die Lasten, denen Burckhardt sich entzog, waren aber noch andere als solche der methodischen Forschung. Und damit kommen wir zu dem, was den Leser seiner »weltgeschichtlichen Betrachtungen« vielleicht am meisten frappieren und aufregen kann. Weltgeschichtliche Betrachtungen, angestellt in einem Zeitpunkte weltgeschichtlicher Umwälzungen, erregen die Erwartung, daß der Sinn des Betrachters auch durch die großen Vorgänge der Zeit angezogen werde, daß er sich mit ihnen abzufinden, sie in den Zusammenhang seiner geschichtlichen Auffassung zu stellen versuchen werde. Die Erwartung wird auch nicht getäuscht, und es findet sich ein besonderes Kapitel über die »geschichtlichen Krisen« und Zusätze dazu aus den Jahren 1871 und 1873 über »Ursprung und Beschaffenheit der heutigen Krisis«. Audi die Hoffnung, etwas ganz Bedeutendes und Eigenes hier und in den Blicken auf seine Zeit überhaupt zu finden, wird nicht ent-
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täuscht. Aber man sieht sofort dabei die Kluft, die seinen historischen Standpunkt von dem seiner deutschen Zeitgenossen trennt. Unser historisches Denken ist im großen und ganzen durch den Kampf um Staat und Nation entwickelt worden. Die Schule dieses Kampfes hat Burckhardt nicht mitdurchgemacht. Er hat sie sich wohl mit teils interessiertem, teils skeptischem Blicke mitangesehen, aber er hat sidi wohl gehütet, audi nur so weit daran teilzunehmen, wie etwa sein Landsmann Conrad Ferdinand Meyer, der doch mit starker Gemütsbewegung die großen Geschicke der deutschen Nation miterlebt hat. Damit ist gesagt, daß eine Fülle von Erfahrungen, Eindrücken und Idealen, aus denen sich unsere historischen Begriffe und Urteile genährt haben, für Burckhardt nicht existiert. Weder atmet er die Luft der großen politischen Weltverhältnisse, die Ranke geatmet hat, nodi hat er sein Herz an die Vervollkommnung des Staates überhaupt gehängt, und die Macht, die das Wesen des Staates ist, nennt Burckhardt mit Schlosser, aber in größerem und zugleich stedienderem Sinne als dieser, »böse an sich«. Mit charakteristischer Kälte sagt er (S. 32)1 von dem Großstaate, daß er in der Geschichte vorhanden sei »zur Erreichung großer äußerer Zwecke«, während der Kleinstaat da sei, damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die größtmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinne seien; durch seine wirkliche tatsächliche Freiheit wiege der Kleinstaat »die gewaltigen Vorteile des Großstaates, selbst dessen Macht, ideal völlig auf«. An dem Zeitalter des Absolutismus ist ihm der »bloße öde Machtgenuß« widerwärtig, aber man würde fehlgehen, wenn man nun etwa für den modernen liberal reformierten Nationalstaat wärmere Worte erwartete. Macht ist ihm eben »böse an sich«, gleichviel wer sie ausübe, und das moderne Treiben der Völker zur Einheit und zum Großstaate sei »einstweilen in seinen Gründen noch streitig und der Ausgang noch dunkel« (S. 96)'. Man perhorresziere das kleinstaatlidie Dasein wie eine bisherige Schande, man wolle nur zu etwas Großem gehören und verrate damit deutlich, daß die Macht das erste, die Kultur höchstens ein ganz sekundäres Ziel sei. Unfehlbar, meint er, gerate man dabei in die Hände ehrgeiziger Dynastien oder
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einzelner »großer Männer«, d. h. »soldier Kräfte, welchen gerade an dem Weiterblühen der Kultur am wenigsten gelegen ist«. Das sei, wird man vielleicht sagen, die Abneigung des Kulturmenschen und des Kulturhistorikers gegen den Politiker und den politischen Historiker. Aber wie anders und eigenartig ist nun audi der Kulturbegriff Burckhardts gegenüber der gewöhnlidien Kulturschwärmerei. Audi die sogenannte moderne Kultur findet in ihm einen hödist pessimistischen Beobachter. Er spöttelt über die modernen großstädtischen Konzentrationen, er spöttelt über Buckles Erkundigung nach moral progresses. »Gegenwart galt eine Zeitlang wörtlich gleich Fortschritt, und es knüpft sich daran der lächerliche Dünkel, als ginge es einer Vollendung des Geistes oder gar der Sittlichkeit entgegen« (S. 258)'. Kultur ist ihm vielmehr »die ganze Summe derjenigen Entwicklungen des Geistes, welche spontan geschehen und keine universale oder Zwangsgeltung in Anspruch nehmen«. Das heißt, es bäumt sich audi der Kulturmensch gegen diejenige Kultur auf, die sich anschickt, Macht zu werden und den einzelnen zu regieren und zu zwingen, und er sieht im Gegensatz dazu echte Kultur audi in ganz primitiven Zeiten eines »einfachen, kräftigen Daseins« lebendig. »Der Geist war schon früh komplett!« Man wird nach solchen Einblicken in seine persönlichsten Werturteile den besonderen Boden, auf dem seine großen Werke gewachsen sind, erst ganz verstehen. Es würde eine Aufgabe von höchstem Interesse sein, diesen Boden auf seine geistigen Bestandteile hin näher zu untersuchen. Carl Neumann hat früher schon auf merkwürdige Anklänge an die Geschichtsauffassung der Aufklärungszeit in den moralisierenden Urteilen Burckhardts hingewiesen; audi seine Antipathie gegen den Machtstaat könnte daran erinnern. In seinen Vorstellungen vom Wesen der Kultur und ihres Verhältnisses zum Staate glaubt man bald Rousseau, bald Wilhelm von Humboldt nachwirken zu sehen. Audi die Romantik hat mitgewirkt, und man kann — ich hoffe das an anderer Stelle zu zeigen — höchst interessante Berührungen mit den Urteilen des Restaurators der Staatswissenschaften, seines Schweizer Landsmanns Karl Ludwig von Haller, nachweisen. Daß überhaupt der besondere und zur selbständigen Fortentwicklung älterer Keime hödist geeignete Boden der Schweiz bei Burckhardt [» Ebda. VII 196. Zu Budde vgl. Meinecke, Werke IV S. 7 ff.]
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überall durchschimmert, braucht kaum gesagt zu werden. Hier genoß er zugleich Deckung vor den politischen und nationalen Machtkämpfen des übrigen Europas und freie Aussicht auf alles Kulturleben der Gegenwart und Vergangenheit. Ein für die Kontemplation ungemein günstiger Standpunkt, und Burckhardt hat diesen Vorteil mit voller Seele genossen. Er sah in der Kultur des 19. Jahrhunderts den höchsten, eigentlich den einzigen reinen Gewinn »auf Seite der Betrachtenden« und in der Fähigkeit des universalen Mitgefühls, die sie entwickelt hat, und er hat, obgleich ihm alle übrigen Resultate dieser Kultur mehr oder weniger zweifelhaften Wertes waren, doch diese Betrachtung in großem und freiem, allem Menschlichen sich öffnenden Geiste geübt. So spüren wir in allen seinen Urteilen und Auffassungen eine Frische und Ungebrochenheit, eine Freiheit von Schulmeinung und Konvention, eine Selbständigkeit gegenüber den großen Zeitströmungen, wie wir sie seit Ranke bei keinem deutschen Historiker wieder erlebt haben. Wir tragen alle in unserem historischen Denken die Spuren und Narben der politischen und sozialen Kämpfe einer großen Nation — Burckhardt war von ihnen frei. Wir sind alle »kollektiver« in unserem Denken als er. Das ist es, was ihn für uns so ungemein lehrreich und ergiebig macht. Aber indem wir seine Stärke bewundern, brauchen wir uns auch unserer eigenen Schwachheit nicht zu schämen, denn sie ist die Folge einer auch in Burdkhardts Sinne unabweisbaren und großen geschichtlichen Notwendigkeit. Und wir können ihm vielleicht auch das dabei entgegenhalten, daß man nicht nur durch reines Betrachten, sondern auch durch Miterleben zur Erkenntnis kommen kann, daß manche Seiten der Dinge sich nur dem aufschließen, der an ihnen mitgestrebt und geschaffen hat. Mit der reinen Kontemplation ist es eben auch nicht immer getan. Sie kann, wenn sie sich gar zu fern vom Leben ihrer Zeit hält, zu einer egoistischen Selbstgenügsamkeit werden, und mancher wird vielleicht schon finden, daß Burckhardt dieser Gefahr unterlegen ist. Wir glauben das nicht, wir halten seine weltgeschichtliche Betrachtungsweise zwar nicht für die einzig berechtigte, aber für eine überaus wertvolle. So wird unsere deutsche, am Staate und an der Nation orientierte Geschichtsauffassung zwar von der Kulturgeschichte im Burckhardtschen Sinne immer zu lernen haben, aber auch sich selbständig neben ihr behaupten können.
Carl Neumann über Jacob Burckhardt Besprechung des Budies von Carl Neumann: »Jacob Burckhardt.« Mündben 1927. Historische Zeitschrift Bd. 138 (1928) S. 79-83. Dazu
unten der Nekrolog Meineckes über Carl Neumann S. 442.
Carl Neumann, der noch zu den unmittelbaren Hörern Burckh a r d t gehört, hat sich seit dessen Tode immer wieder die Aufgabe gestellt, sein Wesen und Werk zu erfassen und zu enträtseln. Eine ganze Reihe von Burckhardtaufsätzen ist so entstanden, die er nun, vielfach geändert und vermehrt, vor allem jetzt vermehrt durch einen neuen Einleitungsaufsatz »Schicksal und Anteil«, zu einem Buche zusammenfaßt. Mehrere dieser Aufsätze sind den Lesern dieser Zeitschrift, deren Zierde sie einst bildeten, bekannt. Mag sich nun hier und da einmal eine Wiederholung des schon früher Gesagten finden. Das nimmt man nicht nur hin, sondern freut sich sogar darüber, weil diese wiederkehrenden Grundgedanken in jedesmal neuer und interessierender Richtung angewandt und weitergeführt werden. Aus einer Lebensbeschäftigung mit Burckhardt ist ein wirkliches Lebensbuch geworden, ein tiefes und schönes, bewegendes und ergreifendes Buch. »Jedes Buch«, heißt es hier (S. 356), »läßt sich nach zwei Richtungen lesen, einmal auf seinen Inhalt hin, von dem wir Belehrung, Unterhaltung usw. wünschen, dann aber wegen seines Verfassers, für dessen Charakter, seine Art zu formen, zu urteilen, das Buch ein halb unbewußtes und deshalb sehr zuverlässiges Dokument bildet.« Diese zwei Richtungen lassen sich, wenn man Burckhardtsche Bücher liest, ziemlich genau auseinanderhalten. Die Subjektivität des Autors ist hier dermaßen gebändigt, Form und Inhalt derart ineinander aufgegangen und die sinnliche Anschaulichkeit des Dargestellten so groß, daß man zuerst nur von der Sache selbst eingenommen wird, — bis man entdeckt, daß hinter diesen Büchern einer der merkwürdigsten und größten Menschen des 19. Jahrhunderts steckt und ihm nun nachzuspüren beginnt. Bei Neumanns Buche aber lassen sich diese zwei Richtungen des Lesens nicht so leicht voneinander trennen. Zwar
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bändigt audi er mit Bewußtsein seine Subjektivität, zwar hat audi er eine Form für seine Inhalte gefunden, die sie ganz umschmilzt, aber die prachtvolle sinnlidi-geistige Kunst Burckhardts ist ersetzt durch eine nidit minder glänzende, aber überwiegend geistige Kunst, mit der ein ringender Mensch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert versucht, seinen festen Punkt für das eigene Leben und für die künstlerisch-wissenschaftliche Betrachtung fremden Lebens zu gewinnen. Damit ist gesagt, daß das Buch fast in jedem Atemzug nicht nur das Problem Burckhardt, sondern audi die eigenen persönlichsten Probleme des Verfassers wollend oder nicht wollend behandelt und damit den Leser hineinzieht in seine Selbstgespräche. Selbstgespräche und Gespräche mit verstehenden Freunden glaubt man überall zu hören. Die Darstellung hat nicht den ebenmäßig von einer Kausalität zur anderen schreitenden Charakter der gewöhnlichen wissenschaftlichen Schreibweise, sondern Stil und Ausdrude, Begründung und Durchführung der Urteile erinnern an jene lebensvolle, aber logisch nicht immer geglättete Art, in der hochgebildete und von ihrer Sache ganz besessene Menschen im Gespräch ihre Ideen miteinander austauschen. Da kommt es dann oft zu blitzenden Improvisationen des Augenblicks, an die kein Sdireibtisdigedanke heranreicht. Derart funkelnd ist audi die Schreibweise Neumanns, was nidit ausschließt, daß der bewußte Künstler in ihm jedem Satze die feinste und reichste Prägung zu geben vermag. Man kann nidit viel davon auf einmal zu sich nehmen. Das kann ebensowohl als Tadel wie als Lob verstanden werden. Audi seine eigenen Urteile schweben zuweilen zwischen Tadel und Lob dahin, weil sie immer den vollen seelisdien Eindruck der Sadbe wiederzugeben versuchen, der bei solchen hochentwickelten Objekten, wie es Burckhardts Persönlichkeit und Geschichtsschreibung sind, niemals ganz einfach ist, sondern unzählige Resonanzen enthalten kann. So will dieses Buch nicht nur einmal, sondern öfter gelesen sein, und jedesmal wird es das Nachdenken von neuem befruchten. Neumann teilt mit Burckhardt die Andacht vor dem Walten des Geistigen im gesdiiditlidien Leben und die Skepsis gegen alle schon von andern geformten und konventionell zu werden drohenden Wertungen. Und diese Skepsis Neumanns richtet sich sogar in erster Linie gegen die wirksamste der von Burckhardt
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selber vorgenommenen Wertungen, gegen seine Auffassung der Renaissancekultur. Das hängt nun mit Wandlungen zusammen, die sowohl Burckhardt wie Neumann während ihres Lebens in sich selber erfahren haben. Burckhardt war in seiner Jugend — idi erinnere an den erst vor zwei Jahren hier (H. Z. 134) veröffentlichten Aufsatz Neumanns über den »jungen Burckhardt« — deutsch und romantisch gestimmt, um dann nach einer Krisis, über der immer ein Schleier liegen bleiben wird, in der Anschauung des Höchsten, was die italienische Renaissance hervorbrachte, seinen dauernden Frieden zu finden. Neumann hat den umgekehrten Gang getan. »Langsam machte ich mich«, so erzählt er in seiner Selbstbiographie (in der »Kunstwissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen«), »von meinem Lehrer Jacob Burckhardt und seinem Kult der Renaissance los, im selben Maß, wie ich die Besonderheit u n s e r e r nordischen Welt, des deutschen Geistes und die Mutterkräfte des Mittelalters verstehen lernte, welches von der italienischen Renaissance in Acht und Bann getan war.« Dieser dem Wesen nach vielleicht ähnliche, im Inhalte aber umgekehrt verlaufende Gesinnungswechsel Neumanns gibt ihm den nötigen Abstand von seinem Lehrer, so daß sein Buch ein eigentümlich spannendes Ineinander von liebendem Verstehen und kritischem Verwerfen geworden ist. Es soll uns von Burckhardt, dem Entfacher der Renaissancebegeisterung in Europa, befreien und zu dem großen Menschen, Denker und Künstler wieder hinführen. Das zweite ist wundervoll gelungen, dem ersten möchte ich doch nur mit Vorbehalt zustimmen. Ich kann nicht finden, daß die seit drei Jahrzehnten überall, nicht nur von Neumann betriebene Kritik der Burckhardtschen Renaissanceauffassung immer glücklich gewesen ist. Sooft ich etwa von der Lektüre der Burdachischen Studien zu Burckhardt zurückgekehrt bin, finde ich, daß Burckhardt zwar nicht alles gesehen hat — genauer gesagt, nicht hat sehen wollen —, was in Italien zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert geistig gelebt hat, aber was er gesehen hat, hat er so gesehen, daß es Bestand hat. Er kann ergänzt werden, aber seine Thesen selber bleiben in der Hauptsache richtig. Auch seine vielgescholtene Verkennung des mittelalterlichen Wurzelbodens der Renaissance ist nicht so arg gewesen, wie auch Neumann es auffaßt. Burckhardt, so urteilt er (S. 111), entreißt dem Mittelalter kostbare Provinzen und bildet aus Annexionen das Gebiet
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der italienischen Renaissance. Viel gerechter und richtiger finde idi Burckhardts Verhältnis zum Mittelalter auf S. 266 charakterisiert: Während die Männer der Renaissance selber das Mittelalter verachtet hätten, sei »bei ihm das offenste Verständnis für das >Individuelle< und Freie im Mittelalter«. »Vielleicht würde man seinem Empfinden nahekommen, wenn man sein Interesse für Renaissance als Neigung für dasjenige Mittelalter bezeichnen würde, das aus der Scheu und Bevormundung der Hierarchie herausgewachsen war.« Mit vollem Rechte warnt Neumann auch davor, von dem verführerischen Renaissancebilde, das Burckhardt gemalt hat, Rückschlüsse auf den Menschen zu ziehen und ihn als Renaissancemenschen, etwa als bloßen Genußmenschen aufzufassen. Burdchardt faßte seinen Beruf als ein Priestertum für eine hohe Sache auf und übte die strenge Askese, die dafür erforderlich ist (S. 94 ff.). Und den »Granitboden seiner eigenen Moral« habe er auch gegenüber der Renaissance niemals preisgegeben (S. 138). Das scheidet ihn tief von Nietzsche. Wie Burdchardt auf Nietzsche und Nietzsche auf Burdchardt wirkte, wird überaus fein erörtert. Sehr tief und weit greift dann die Analyse der auf Burdchardt wirkenden und in ihm zu individuellem Leben gelangenden geschichtlichen Zeitmächte, also dessen, was er etwa der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und was er der großen historischen Schule des 19. Jahrhunderts verdankt (S. 300). »Eben auf dem Unvermittelten verschiedener Bildungsniederschläge, auf den Widersprüchen beruht der Zauber und das Geheimnis des Lebens.« Daß diese Analyse nicht etwa aufgeht in einer bloßen Addition oder Subtraktion von Zeiteinflüssen, daß die spontane und schöpferische Genialität der Burckhardtschen Persönlichkeit zu ihrem vollen Rechte kommt, versteht sich bei Neumann von selber. Schließlich fällt auch auf die einsame Stellung Burckhardts innerhalb der historiographisdien Richtungen des 19. Jahrhunderts helles Licht. Auf Grund seiner eigenen akademischen Jugenderinnerungen und mit höchster Anschaulichkeit kann Neumann die so grundverschiedenen Typen von Geschichtswissenschaft charakterisieren, die damals in Berlin durch Waitz, Droysen, Nitzsch und Treitschke vertreten waren (S. 260 ff.). Ich finde nur, daß Droysen dabei zu schlecht weggekommen ist. Wer, wie ich, noch seine Vorlesung über Enzyklopädie und Methodologie
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der Gesdiidite hören konnte1, wird nicht zugeben, daß »überhaupt in seinen Urteilen und Polemiken ein Ton der Erbitterung und Verbitterung lag«. Vielmehr wirkte er auf midi gerade durch den reinen und abgeklärten Enthusiasmus einer tiefsinnigen historischen Denkweise. Worauf beruht nun eigentlich diese einsame Stellung Burckhardts inmitten des sonstigen historischen Betriebes? Ich darf hier vielleicht an meine Betrachtung über »Kausalitäten und Werte in der Geschichte« anknüpfen 2 und darauf hinweisen, daß Burckhardt derjenige unter den großen Historikern des 19. Jahrhunderts gewesen ist, der am entschiedensten den Schwerpunkt von den Kausalitäten auf die Werte verschoben hat. Eben darauf beruht es, daß seine Kultur der Renaissance keine erschöpfende Kulturgeschichte Italiens geworden ist, sondern ein Ausschnitt aus ihr, nämlich ein Ausschnitt dessen, was Burckhardtscher Wertempfindung als höchste und wertvollste Gipfelung der Kultur erschien. Das hat auch Neumann gesehen. »Immer sind es die Burckhardt am Herzen liegenden Probleme, die herausgearbeitet werden: gegenüber der historischen Wirklichkeit zeigen sie nur eine Hauptseite der Dinge, wie auch ein plastisches Kunstwerk auf e i n e Ansicht berechnet sein kann« (S. 50). Und ferner sein Wort S. 306, daß Burckhardt die Aufgabe der Kulturgeschichte darin sah, »für jede Epoche die Sphären intensivsten Lebens zu erkennen und darzustellen«. Das bedeutet, daß Burckhardt auch eine dominierende Behandlung des Staates in der Geschichtsschreibung keineswegs schlechthin verworfen, sondern da für berechtigt gehalten hat, wo das höchste Lebensgefühl einer Epoche eben im Staate zum Ausdruck kommt. Ihn selber zog es ja freilich innerlich nie zur politischen Geschichte hin, und das versteht man aus seiner ablehnenden und mit den Jahren immer kritischer und erbitterter werdenden Stellung zu den Mächten, die damals in dem ihn umgebenden europäischen Staatenleben obenauf kamen. So schuf er sich souverän sein eigenes Arbeits- und Interessengebiet und trennte sich damit von der allgemeinen Richtung der historischen Studien.
[* Vgl. unten S. 168 ff. Meineckes Essay über Droysens Historik.] [* Vgl. Werke IV 61 ff., dazu in der Einleitung ebda. S. XIX.]
Ranke und Burckhardt Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Vorträge und Schriften Heft 27, Berlin 1948. Wiederabdruck: »Aphorismen und Skizzen zur Geschichte« 2. Aufl. [1952] S. 143-180.
Ranke und Burckhardt sind die beiden größten historischen Denker, die das 19. Jahrhundert innerhalb der deutschen Kulturnation hervorgebracht hat. Es müßte einmal ein Buch geschrieben werden: Berlin und Basel im Zeitalter der Reichsgründung. Es müßte gezeigt werden, wie hier zwei Kulminationspunkte geisteswissenschaftlicher Leistung sich bildeten, die in einen Gegensatz zueinander traten. Man müßte sie aus ihrer geschichtlichen Umwelt herauswachsen sehen, der preußisch-deutschen hier, der schweizerischen und doch dem gesamtdeutschen Geistesleben zugekehrten dort. Hochgefühl des nationalen Aufstieges hier — Kritik, Mißtrauen und Sorge vor eben diesem Aufstiege dort. Neben Ranke kämen auch Droysen, Treitschke und Dilthey dabei zu Worte, neben Burckhardt der junge Nietzsche, Overbeck und Bachofen. Ein solches Buch könnte ein Symbol unseres geistigen Schicksals werden. Ich verzichte darauf, auch nur annähernd diese beiden Welten und Umwelten in ihrer Farbigkeit anschaulich zu machen. Nur eben eine Bleistiftskizze kann ich bieten, nur auf das Wesentliche und Kernhafte im Denken und Gestalten der beiden Großen aufmerksam machen. Erschöpfendes werde ich auch darin nicht bieten. Ranke ist mir seit meiner Studienzeit ein Leit- und Polarstern gewesen. Burckhardt hat erst später für mich zu leuchten begonnen, zuerst natürlich durch die Kultur der Renaissance, dann durch die großen und überraschenden Veröffentlichungen aus seinem Nachlaß, die Griechische Kulturgeschichte 1898, die Weltgeschichtlichen Betrachtungen 1905, die Historischen Fragmente, d. h. die Reste seiner Kolleghefte, die erst 1929 in der großen Gesamtausgabe seiner Schriften ans Licht traten und nun noch schärfer als selbst die Weltgeschichtlichen Betrachtungen die eigensten historischen Gedanken Burckhardts zum Ausdruck brin-
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gen — schließlich nodi die kostbaren Briefe, vor allem die an Preen im Alter gerichteten, nicht zu vergessen. Audi bei Ranke geben die Briefe, soweit wir sie kennen, vielfach unmittelbarer und deutlicher als die Werke die innersten Herztöne seiner Historie zu erkennen. Seine Werke insgesamt aber in ihrer zusammenhängenden Fülle von der jugendlich genialen Einleitung über die Einheit der romanischen und germanisdien Völker an bis zur Altersweisheit der Weltgeschichte, haben — bis in die Zeiten des Dritten Reiches hinein —das historische, j a audi das historischpolitische Denken und Forschen in Deutschland stärker beeinflußt als die historischen Werke Burckhardts vom Zeitalter Konstantins an, die als einsam-singuläre Hervorbringungen eines seltenen Genius gewiß wohl Bewunderung und zum Teil audi Tiefenwirkung erzielten, aber jenes innersten Zusammenhanges der Wirkungen wie bei Ranke entbehrten. Heute aber beginnen wir uns zu fragen: Wird uns und den nach uns historisch Forschenden nicht Burckhardt am Ende wichtiger werden als Ranke? Sie ahnen, was diese Frage bedeutet. Geschichtliche Betrachtung und Miterleben der eigenen Zeit und ihrer Schicksale bilden eine untrennbar innere Einheit im Geiste des Historikers, die befruchtend und beschränkend, fördernd und hemmend zugleich sein Geschichtsbild gestaltet. Was wir erlebt haben in den letzten 14 Jahren, zwingt uns ganz neue Aspekte und Probleme für unsere eigene geschichtliche Vergangenheit auf. Wir müssen vielfach umlernen und uns doch dabei hüten, der bloßen Konjunktur und den emotionalen Eindrücken des neu Erlebten zu erliegen. Aber mit aller Behutsamkeit darf man doch sagen: Burckhardt hat tiefer und schärfer in das geschichtliche Wesen der eigenen Zeit hineingesehen, hat infolgedessen auch das Kommende bestimmter und sicherer voraussehen können als Ranke. Aber wird dadurch nun unser Urteil über das Geschichtsbild, das der eine und der andere über die vorhergehenden Jahrtausende abendländischer Entwicklung gestaltet hat, ebenfalls zugunsten Burckhardts revidiert werden müssen? Hier, bei der Beantwortung dieser Frage, werden wir zu einem merkwürdigen Ergebnis, zu einer Antinomie gewissermaßen kommen. Dodi zuerst muß idi sagen, worin die Überlegenheit Burckhardts im Urteil über Gegenwart und Zukunft besteht.
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Ranke bekannte 1854 in seinen Vorträgen vor König Max von Bayern: Es ist ein Glück, in dieser Zeit zu leben. Er war zwar aufgewachsen in dem ruhigeren Zeitalter der Restauration, dessen »halkyonische« Atmosphäre in seinem Wesen tiefe Spuren hinterließ. Aber er war weit davon entfernt, als politischer Reaktionär zu ihm zurückzustreben. Er sah in der stärkeren Bewegung aller historischen Kräfte, die um die Mitte des Jahrhunderts wieder einsetzte, ganz positiv auch »ein großes Lebenselement«. Als das Wichtigste an ihr erschien ihm die Auseinandersetzung der beiden Prinzipien der Monarchie und der Volkssouveränität. Sein Herz schlug für die alte Monarchie, aber seine historische Einsicht verwies ihn auf das, was man historische Dialektik nennen kann, daß nämlich kämpfende Gegensätze sich einander befruchten, steigern, lebendig erhalten und zu neuen Synthesen führen können. Die alte Monarchie also, lehrte er, nehme auch vom Feinde das an, was sie mit ihrem eigenen Wesen verschmelzen könne, um der Zeit zu genügen, und bekämpfe nur entschieden alles Destruktive, was in der revolutionären Gedankenwelt auch liege. Erst in zweiter Linie nannte er dann unter den großen Tendenzen der Zeit »die unendliche Entfaltung der materiellen Kräfte«. Es kam das Zeitalter Bismarcks, die Aufrichtung des preußischdeutschen Bundesstaates durch die Machtmittel der alten Monarchie. Die konservativen Empfindungen Rankes konnten nur zögernd den Gewalt- und Machtmethoden Bismarcks folgen, aber ihr Ergebnis befriedigte ihn doch schließlich wieder tief. Im letzten Abendschimmer seines Lebens, an seinem 90. Geburtstage 1885, sprach er es aus: »In den Ereignissen, die wir erlebt haben, läßt sich vor allem eine Niederlage der revolutionären Kräfte erkennen, welche die regelmäßige Fortentwicklung der W e l t geschichte unmöglich machen. Hätten diese den Platz behauptet, so würde von einer Fortbildung der historischen Kräfte, selbst von einer unparteiischen Anschauung derselben nicht die Rede gewesen, eine Weltgeschichte im objektiven Sinne unmöglich geworden sein. Ich, meines geringen Orts, würde nicht daran gedacht haben, eine Weltgeschichte zu verfassen, wenn nicht für mich im allgemeinen das Problem der beiden großen Weltgewalten nach langen Kämpfen und Abwandlungen wäre entschieden gewesen, so daß es einen imparteiischen Rückblick auf die früheren J a h r hunderte gestattete.«
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Ein merkwürdiges Bekenntnis. Erst heute vielleicht geht uns das Auge dafür auf, daß hier ein schwacher Punkt in Rankes Position sich enthüllt. Steht es denn wirklich so, daß bei einem vollständigen Siege des Prinzips der Volkssouveränität, wie wir ihn doch durch die beiden Weltkriege erlebt haben, eine Fortbildung der historischen Kräfte, ja selbst nur eine unparteiische Anschauung derselben nicht mehr möglich sein würde? Man könnte zwar wohl einiges auch zugunsten Rankes geltend machen, daß er hier nämlidi wohl nur an die äußerste Gefahr eines allgemeinen revolutionären Chaos gedacht habe. Aber es bleibt doch dabei, daß er den Sieg des altmonarchischen Prinzips in Deutschland, den er erlebt hatte, und die Möglichkeit, unparteiisch die Geschichte anzuschauen, Weltgeschichte im wahren Sinne zu schreiben, in einen gar zu engen Konnex miteinander bringt. Hieß das nicht gerade wieder parteiisch werden für eine der beiden kämpfenden Fronten des Jahrhunderts? Gewiß wird audi jeder lebendige Historiker sein eigenes politisches Ideal im Herzen hegen, und seine Schau der Geschichte wird audi immer etwas von der Farbe dieses Ideals an sich tragen. Aber er muß sich audi bereithalten, den Untergang seines Ideals zu überstehen und die gewandelte und verdunkelte Welt mit allen seinen Denkmitteln so frei über ihr schwebend, so unparteiisch wie eben irgend möglich anzuschauen. Ranke aber bildet sich da, sehr charakteristisch für ihn, den Begriff einer »regelmäßigen Fortentwicklung der Weltgeschichte«, die nach seiner Meinung durch einen Sieg der revolutionären Kräfte unmöglich werde. Aber wer verbürgt es, daß die Weltgeschichte nicht einmal unregelmäßig werde und Sprünge und Abstürze sich leiste? Wir haben sie erlebt und die Nachtseite der Weltgeschichte in einem Umfange erfahren, den Ranke noch nidit kannte oder auch nur ahnte. Aber auch in der Nacht bleibt Weltgeschichte eben Weltgeschichte und will als solche, soweit nur unsere schwachen Organe reichen, verstanden werden. Man wende nicht ein, daß es dann schon äußerlich unmöglich werden könne, Weltgeschichte zu schreiben. Solange er atmen kann, wird dodi der wahre Historiker nie aufhören, nach innerer Freiheit zu streben und weltgeschichtlich wenigstens zu denken. Bei all diesen Zweifeln, die wir gegen Rankes ehrwürdiges Altersbekenntnis vorzubringen haben, steht uns nun heute Burckhardt innerlich näher als Ranke. Sein tief gewurzelter Pessimis-
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mus, der ihn nadi seinem eigenen Geständnis schon von Jugend auf an die Hinfälligkeit alles Irdischen mahnte, ließ es zu keinem solchen Idealbilde von regelmäßiger Fortentwicklung der Weltgeschichte kommen, wie Ranke es hoffend und glaubend im Herzen trug. Ja, eben das, was Ranke als das Unregelmäßige empfand, wurde ihm zur düstern Regel, nach der sich die Geschicke des Abendlandes im 19. und 20. Jahrhundert vollziehen würden. Denn er sah schreckliche Zeiten der Barbarei für dieses heraufziehen in unausweichlicher Notwendigkeit. Seine eigenen und eigensten politischen Wünsche aber begegneten sich dabei durchaus mit denen Rankes — denn sie gingen auf Erhaltung der alten konservativen Welt und ihrer Autoritäten gegenüber dem Ansturm der Massenbewegungen, der seit der Französischen Revolution sie bedrohte. Er lehnt diese sogar viel radikaler und hassender ab als Ranke, der dodi in dem Kampfe der beiden feindlichen Prinzipien von Monarchie und Volkssouveränität ein positives Lebenselement sah und Synthesen der alten Monarchie mit gewissen bestimmten Forderungen der Massenbewegung für möglich, ja sdion für erreicht und lebensfähig hielt. Burckhardt würde diese Synthesen belächelt und Principas obsta gedacht haben. Es ist ja eigen genug, daß dieser verbissene Feind moderner Demokratie uns in unserer heutigen demokratischen Ära wieder nähergerückt ist als Ranke, und es läßt sidi vielerlei auch zur Kritik Burckhardts und zugunsten einer gesunden und lebensfähigen Demokratie hier sagen. Sicher aber ist, daß er, fester als Ranke in seiner preußisch-deutschen Geborgenheit und Sekurität es tat, der eigenen Zeit an den Puls gefaßt hat. Da kommen zunächst seine Urteile über das Werk Bismarcks in Betracht. Während Rankes Unbehagen über Bismarcks revolutionäre Gewaltmethoden sich wieder beruhigte im Anblick des anscheinend erreichten konservativen Endeffekts, leuchtete Burckhardt dem revolutionären Charakter seines Werkes viel sdiärfer auf den Grund. Es war für ihn von Anfang an eine Revolution von oben, nur eben der erfolgreichste Konkurrent anderer, damals drohender Revolutionen. »Bismarck hat«, schrieb er 1872, »nur in eigene Hand genommen, was mit der Zeit dodi geschehen wäre, aber ohne ihn und gegen ihn. Er sah, daß die wachsende demokratisch-soziale Woge irgendwie einen unbedingten Gewaltzustand hervorrufen würde, sei es durch die Demokraten
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selbst, sei es durdi die Regierungen, und sprach: Ipse faciam und führte die drei Kriege 1864, 1866, 1871.« Und nach dem Gesetz, wonach er angetreten, mußte er, nach Burckhardts Meinung, weiterleben. So sagt er etwa von dem Kulturkampf: daß er »eine ermutigende Wirkung für jede Art von Verneinung und Auflösung gehabt« habe. Revolutionäre Neugründungen stehen in der besonderen Gefahr, daß die von ihnen begangenen Rechtsverletzungen und Umstürze alter Autoritäten sich gegen sie selber einst kehren. »Man wird eben nidit sicherer«, bemerkt er darüber, »wenn man seinesgleichen verjagt und die Länder erbt.« Seine tiefe Antipathie gegen Bismarck hinderte ihn dabei nicht, dem Gestürzten 1890 das Lob zu spenden, daß er »für Deutschland geradezu Anhalt und Standarte jenes Mysteriums Autorität« gewesen sei. Das bedeutete für sein eigenes Empfinden nicht etwa eine Autorität im alten guten Sinne, sondern nur eine Ersatzautorität, die besser war als gar keine. Wir ziehen damit die Konsequenzen aus einer Reihe verstreuter Urteile in den Burckhardtsdien Briefen. E r hat sie selbst nie in den Zusammenhang einer allgemeinen Kritik Bismarcks gebradit. Aber ein soldier innerer Zusammenhang besteht. Diese Kritik ist keineswegs das letzte Wort, das über Bismarcks Werk heute gesprochen werden könnte, und es müßte vieles zugunsten Bismarcks audi jetzt noch gesagt werden. Aber unsere schwere und schmerzliche Aufgabe nach dem Zusammenbruch des Bismarckschen W e r kes ist es doch nun einmal, die inneren Risse und Gefahrenkeime, die in ihm von vornherein steckten, genauer zu erforschen, gerecht abwägend, aber auch entschlossen urteilend und den Bruch mit alten Konventionen nicht scheuend. Für diese Aufgabe zeigt uns die Burckhardtsche Kritik einen Weg. Und nun seine Urteile über die Massenbewegung selbst. W i e ein empfindlicher Seismograph spürt er hier die schlimmsten Möglichkeiten, die in ihr schlummerten, das Aufkommen schlechtester Subjekte als Führer der Massen. Er sah es sdion kommen, daß der Massenansturm gegen die Autorität, zum Entsetzen auch solcher, die anfangs da noch mitstürmten, noch einmal jählings umschlagen würde in die Bildung einer neuen und fürchterlichen Autorität usurpatorischer Machthaber, der terribles simplificateurs. Diese, und nicht schon die alten völlig erledigten Dynastien, würden dann das Heft in die Hand nehmen und, gestützt auf
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militärische Korporationen, den Massen kommandieren: Maulhalten, verzichten auf alle eigenen Begehrlichkeiten, uniformiert unter Trommelschlag antreten zur Misere ihres täglichen Daseins, um abends mit Trommelschlag wieder nach Hause geleitet zu werden. Wir haben es ungefähr so erlebt, dieses schreckliche Zukunftsbild, das Burckhardt in den 70er und 80er Jahren nicht müde wurde, sich auszumalen. Und mit gewissen Variationen und Abschwächungen stecken wir sogar noch heute mitten drin und wissen nicht, wann und wie es sich einmal aufhellen wird. Aber war die Weltgeschichte für Burckhardt damit zu Ende? Oft genug scheint es wohl so, als ob sein Kassandrablick nur bis zur Erhebung und dem ungehemmten Walten der neuen schrecklichen Autoritäten und nicht darüber hinausreiche. Aber es war seine Art, alles, was von Hoffnungen auf ein Höheres in ihm lebte, in die Tiefe seines Busens zurückzudrängen und nur ganz bescheiden und demütig einmal zu verraten. Er hätte nicht, wie Ranke in den »Großen Mächten« es tat, »getrost« dem Genius Europas vertrauen können, der dieses noch immer vor der Herrschaft jeder einseitigen und gewaltsamen Richtung beschützt habe. »Banal ist«, sagt er, »der Einwurf, der Geist sei unüberwindlich und werde immer siegen.« Aber er gab doch zu, daß Europa in den großen Momenten noch häufig große Individuen und Retter gehabt habe und daß zum Untergang die Menschheit noch nicht bestimmt sei. Es sei audi möglich, meint er, daß mit dem an sich blinden Willen der Veränderung, die jetzt mit landläufigem Optimismus als Fortschritt betitelt werde, »etwas Dauerndes, d. h. relativ Dauerndes beabsichtigt ist, daß ein Stärkeres und Höheres in und mit uns will.« Wie bezeichnend hebt sich nun von dem helläugigen Vertrauen Rankes auf den Retter Europas der seiner Blindheit sich bewußte und dennoch leise hoffende Zukunftsblick Burckhardts ab. Lenken wir noch einmal von den Prognosen den Blick wieder zurück auf die Diagnosen, die die beiden am Wesen des 19. Jahrhunderts geübt haben. Ranke betonte vor allem als sein Lebenselement den Gegensatz von Monarchie und Demokratie und stellte in zweite Linie die unendliche Entfaltung der materiellen Kräfte. Er hat, was diese betrifft, noch einmal, als er 1879 sein Buch über Serbien und die Türkei neu herausgab, dem vorwärts-
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stürmenden zivilisatorischen »Genius des Okzidentes«, der die Welt sich dienstbar madie, eine auffallend starke, selbst bei ihm unerwartet optimistisdie Huldigung ausgesprochen. Auch Burckhardt blieb nicht stehen bei dem politischen Gegensatz von alter Autorität und demokratischem Massenwillen, sah nun aber der materiellen Entfaltung des 19. Jahrhunderts wieder viel tiefer und skeptischer auf den Grund. Er erkannte, daß eine Veränderung des Menschentums überhaupt seit der Französischen Revolution vor sich gegangen sei, und zwar in übler Richtung — zunächst durch die grundfalsche und verderbliche Lehre von der angeborenen Güte der menschlichen Natur, die Rousseau in die Köpfe getrieben habe und die in ihnen unbegrenzte Begehrlichkeiten und Glauben an ungehemmten Fortschritt geweckt habe. Dazu aber die Wirkungen des englischen Vorbilds im Wirtschaftsleben durch Maschine, Kohle und Eisen. Höchst unerfreuliche, j a verhaßte Dinge für ihn. Ein Macht-, Geld- und Genußrummel sei so entstanden und treibe die Menschen vorwärts, dem Abgrunde zu. Der Staat aber solle dabei nadi dem Verlangen der Massen immer mächtiger werden, um die Ansprüche der Begehrlichen befriedigen zu können. Damit kommen wir zum Problem der Macht und des Maditstaates überhaupt, das beide Denker wieder grundverschieden beantworten. Burckhardt datiert den modernen Machtstaat natürlich nicht erst von 1789 an, wo ihm nur eben neue Quellen zuströmten, sondern schaut schon seinen Anfängen seit Ausgang des Mittelalters mit unverhohlener Antipathie ins Auge. Denn die Macht an sich ist böse, sagt er ja mit Schlosser. Das ist das furchtbare Grundgefühl Burckhardts, mit dem er den Staat überhaupt und seine Bedeutung für die Menschheit betrachtet. Wie ein immer wieder angeschlagener dunkler Akkord klingt es durch alle seine Urteile über die politische Geschichte der Völker hindurch. Der Staat an sich aber verblaßt ihm darüber zum bloßen »Notinstitut«, zu einem »negativen Sturmdach«, wie er sagt, und müßte, wenn er so wäre, wie er ihn sich eigentlich wünscht, sich auf die Wahrung von Recht, Ordnung und Ruhe im Innern beschränken. Also der Nachtwächterstaat, wie ihn der junge Wilhelm von Humboldt gewollt hatte. Wie anders da Ranke! Die Staaten sind, so heißt es im Politischen Gespräch von 1836, Individualitäten, »geistige Wesen-
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heiten«, originale Schöpfungen des Menschengeistes — man darf sagen »Gedanken Gottes«. Göttlichen Anhauch und menschlichen Antrieb zugleich nennt er den Geist des Staates. Daß audi der Madittrieb des Staates entarten und hybrid werden könne, wußte er freilich auch und hat es oft in seinen historischen Werturteilen anerkannt. Aber im großen gesehen, wird bei ihm die Macht verklärt und vergeistigt. »In der Macht an sidi«, sagt er, »erscheint ein geistiges Wesen, ein ursprünglicher Genius, der sein eigenes Leben hat.« Ganze Weltanschauungen und völlig verschiedene Lebensstandpunkte stehen hinter den auseinanderklaffenden Urteilen der beiden. Und doch wurzeln beide in demselben geistigen Mutterboden — im deutschen Idealismus. Die humanistische Bildung beider trägt dessen Farbe. Wie Goethe in Ranke, Wilhelm von Humboldt in Burckhardt fortlebten, ist neuerdings besonders beleuchtet worden. Man sieht, wie ganz verschiedene Möglichkeiten der Einstellung zum Staate im deutschen Idealismus angelegt sein mußten, um diese Divergenz der beiden möglich zu machen. Ich muß mich hier mit bloßen Andeutungen darüber begnügen. Dilthey hat in seiner Lehre von den Typen der Weltanschauung bekanntlich einen objektiven und einen subjektiven, genauer: einen Idealismus der Freiheit unterschieden. Der eine, in Goethe lebendig und von Hegel dann hinaufgesteigert und übersteigert, geht gläubig davon aus, daß die Welt, wie sie ist, und die Gebilde des Menschen in ihr einen vernünftigen Sinn haben, den wir durch Objektivität erfassen oder doch wenigstens erahnen können. »Die Welt ist die Explikation Gottes«, sagt Dilthey von dem Grundgedanken dieses Idealismus. Der andere geht aus vom Individuum, von dem subjektiven Bewußtsein der sittlichen Freiheit des einzelnen, von dem Rechte und der Pflicht der Persönlichkeit, diese Freiheit gegenüber dem Drucke einer feindlichen Umwelt zu wahren. Ranke ist ohne Mühe dem objektiven Idealismus zuzurechnen, Burckhardt dem Idealismus der Freiheit. Das soll kein bloßes Etikettenankleben sein, sondern zum Nachdenken anregen über die Vielfalt der Wege zur Wahrheit, über das Recht und über die Schranken des einen wie des anderen Lebensstandpunktes. Das führt uns nun zu der weiteren Frage, wie sich die Verschiedenheit der beiden Standpunkte in ihrem Geschichtsbild —
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dies nur ganz summarisch miteinander verglidien — ausgewirkt und welche Frudbt es für tiefere Erkenntnis getragen hat. Ranke trat als frommer Christ, als Priester im Dienste Gottes, dessen Vorsehung er über der Geschichte walten sah, an seine Aufgabe als Geschichtsschreiber. Wunderbar, wie er dabei der Gefahr entgangen ist, mit theologischer Zudringlichkeit die Geschichte zu meistern und die Pläne Gottes in der Geschichte im einzelnen nachzuweisen. Das tiefe Bewußtsein einer ungeheuren Distanz zwischen der unerferschlichen Gottheit und dem forschenden, zwar gottverwandten, aber kreatürlidi schwachen und irrsamen Menschengeiste bewahrte ihn vor jener Gefahr. Streng kritisch und empirisch verstand er seine priesterliche Mission. Sein eigenes Selbst wünschte er dabei gleichsam auslöschen zu können, um nur die Dinge rein, wie sie waren, anzuschauen — ein merkwürdiges Wort, weil es priesterlich und kritisch zugleich, die eigene Begrenztheit erkennend, empfunden war. Aber sein Vorsehungsglaube tauchte nun auch die Weltgeschichte in ein sonnigeres Licht, als wir es heute zu sehen vermögen. Diese »Mär der Weltgeschichte«, soweit es menschlich-kritischem Auge möglich sei, zu entdecken, war sein jugendlicher Ehrgeiz und das beinahe ganz erreichte Hochziel seines Alters. Alle die einzelnen großen Werke dazwischen, die Nationalgeschichten, Monographien usw. sind als Wege zum Emporklimmen auf den höchsten Grat einer Universalgeschichte gemeint gewesen. Alles Besondere in der Geschichte, so scharf er auch seinen individuellen Charakter erkennt und darstellt, hat auch einen allgemeinen Sinn und Bezug. Nur am und im Besonderen läßt sich das Allgemeine erkennen — dieses selbst aber ist nichts anderes als die jeweilig erkennbare höchste aller Individualitäten der Geschichte. Sie alle sind aufs engste miteinander verwoben und wirken ineinander — Staaten, Völker, Ideen, Institutionen usw. —, in jedem dieser Gebilde steckt ein besonderes Prinzip, das von innen her formend, aber zugleich audi den Wandlungen der Umwelt gehorchend sich auswirkt. Eine großartige Dynamik schöpferischer Kräfte mit immer neuen Antithesen, Synthesen und Polaritäten durchwogt so die Rankesche Geschichtsschreibung, und überall wird das Reale in die Höhe des Geistigen erhoben, zum »Real-Geistigen«, ein von Ranke neu geschaffener, sehr charakteristischer Begriff. Er kam auch, wie wir schon sahen, der Würdigung von Macht,
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Maditstaat und Machtpolitik zugute. Auch sie also wurden geistig überglänzt. Uns freilidi will dieser Glanz heute nicht mehr ganz verdient erscheinen. Sollen wir darum aber nun zu Burckhardt übergehen und die Madit an sich als böse, als den Unheilsfaktor schlechthin in der Geschichte ansehen? Dann kämen wir, um konsequent zu bleiben, zu einer lediglich moralisierenden Geschichtsauffassung, die auf Schritt und Tritt Anklage erheben müßte gegen das böse Prinzip. Aber Burckhardt war nicht konsequent, sondern ein lebendiger, genial reich ausgestatteter Mensch mit seinem Widerspruch. Er war j a audi der unmittelbare Schüler Rankes und genoß wie dieser, sogar nodi mehr ästhetisch gerichtet als er, die unendliche Vielfalt und Buntheit der geschichtlichen Gebilde wie eine unentbehrliche geistige Nahrung. Das ästhetische und das moralische Element im Urteil waren dabei auf das wunderbarste und oft fast ununterscheidbar miteinander verwoben. Denn das Moralgesetz schwieg auch im Genüsse niemals in ihm und verführte ihn auch hier und da einmal zu herber Einseitigkeit. So geschah es z. B. in seinem Urteil über die Reformation in Deutschland, das fast nur von den Egoismen neuerungssüchtiger Menschen zu sagen weiß und den Einschlag echter Religiosität nicht recht sehen will. Die böse Welt blieb zwar immer böse für ihn, aber aus ihr entsprangen dodi nun einmal auch die höchsten Werte, die er in der Geschichte suchte — d i e K u l t u r . Ein gewaltiges Thema rühren wir damit an und können es hier dodi nur in abgekürzter und vereinfachender Form behandeln. Gar zu vereinfachend aber würde es sein, wenn man, wie es oft geschieht, den Gegensatz zwischen Ranke und Burckhardt nur als den von politischer und Kulturgeschichte sehen wollte. Denn so sehr auch die politische Seite des Geschehens in Rankes Geschichtsschreibung dominiert, so bildet es doch auch für ihn »die vornehmste weltgeschichtliche Frage«, wie sich das Element der Kultur in den Wechselfällen der Völkerschicksale zu erhalten und fortzupflanzen vermocht habe. Sein tiefes und begeistertes Verhältnis zur Kultur und zu dem »Juwel« dieser Kultur, den »unsterblichen Werken des Genies in Poesie und Literatur, Wissenschaft und Kunst« bedarf wahrlich keines besonderen Nachweises. Er bevorzugt in seiner Darstellung nur deswegen den politischen Teil des Geschehens, einmal, weil er die stärksten Kausalitäten
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für die Schicksale der Kulturwelt enthält, und weiter, weil er auch die politische Geschichte gewissermaßen in Kulturgeschichte umschmilzt durch die Vergeistigung der Macht und der Machtstaaten, die er, wie wir sahen, vornahm. D a aber scheiden sich nun die Wege der beiden Denker genau voneinander. Denn Ranke, harmonisierend und überbrückend, läßt die Kulturwelt auch Religion und Staat und überhaupt alles im edlen Sinne Menschliche mit umfassen. Burckhardt aber, mit scharfem Schnitt und kämpferisch gestimmt, trennt die Kultur von Religion und Staat, schützt sie gewissermaßen vor ihnen und erklärt: »Die drei Potenzen sind unter sich höchst heterogen und nicht koordinierbar.« Denn Religion und Staat seien beide stabil und verlangten universale Geltung wenigstens für das betreffende Volk. Kultur aber sei etwas wesentlich anderes. »Kultur nennen wir die ganze Summe derjenigen Entwicklungen des Geistes, welche spontan geschehen und keine universale oder Zwangsgeltung in Anspruch nehmen.« Zu solchen abstrakten Formulierungen ist Burckhardt sonst nicht gern bereit. Und doch haben wir in dieser, wenn nicht den ganzen, so doch den innersten Burckhardt vor uns, dies in sich ganz souveräne und freiheitsbedürftige Individuimi, und hören es zu Religion und Staat sprechen: Idi erkenne euch zwar als geschichtlich wirksame Potenzen ersten Ranges an, erkenne auch ein besonderes nahes Verhältnis von Religion und Kultur noch an, aber Kultur schafft ihr nicht, denn ihr fordert eine universale oder Zwangsgeltung für euch. Kultur ist nur das, was frei und spontan aus schöpferischem Drange erwächst, voran Kunst, Poesie, Philosophie, Wissenschaft. Auch das Wirken für materielle Zwecke, insofern es spontan erfolgt, rechnet er noch zur Kultur. Kunst und Poesie aber erhielten dabei für sein Bedürfnis noch einen besonderen Vorrang. Nur die Verluste von Werken der Kunst und Poesie, heißt es in der griechischen Kulturgeschichte, sind unersetzlich. Was die Forschung betrifft, so würden spätere Zeiten schon einholen, was frühere versäumt haben. Hätte dodi Goethe, klagt er einmal, die Nausikaa zu Ende gedichtet, statt im Garten von Palermo die Urpflanze zu entdecken. Denn die Nausikaa konnte nur er allein uns dichten, das andere hätten andere Forscher auch schon besorgt. Die stille Glut, mit der Burckhardt das Schönste des Schönen nicht nur genoß, sondern audi heilig verehrte und die seine Lei-
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stung audi als Kunsthistoriker so groß macht, wirft nun aber audi ein versöhnendes Lidit auf sein Bild der Weltgesdiidite überhaupt, das dodi sonst so dunkel gefärbt ist als Tummelplatz der bösen Macht und aller menschlichen Egoismen. J a , im Anblick dieses Schauspiels, daß ein und derselbe geschichtliche Boden Fürchterlichstes an Machtgier, namenloses Unglück und doch zugleich auch herrlichste Blüten der Kultur hervorgebracht habe, kommt ihm die Ahnung, daß ein geheimnisvoller Lebenszusammenhang zwischen Licht und Finsternis bestehe. Das leuchtende Bild der Kultur der Renaissance mit seinem tiefdunklen Hintergrunde läßt schon etwas von dieser Ahnung spüren. Deutlicher noch spricht sie aus der Griechischen Kulturgeschichte. Er schrieb sie in jener gesteigert pessimistischen Stimmung, als er nach den Ereignissen von 1866 und 1870/71 eine Ära von Kriegen, wachsenden Massenbegierden und Zusammenbrüchen kommen sah. Furchtbar erscheint nun das Bild der griechischen Polis mit ihren zerrüttenden Kämpfen, mit ihrer weit über das Vermögen der normalen Menschennatur hinaus geschraubten Staatsidee. Unglücklich waren die Griechen, so lautet j a eine seiner Hauptthesen. Und dabei nun ihre Wunderleistung von Mythos, Kunst und Poesie, die doch ohne die Polis gar nicht möglich gewesen wäre. Und da findet sich denn mit einem Male der Satz: »Die Macht kann auf Erden einen hohen Beruf haben; vielleicht nur an ihr, auf dem von ihr gesicherten Boden können Kulturen des höchsten Ranges emporwachsen.« Sogar noch weiter, was die befruchtende Wirkung der an sich doch bösen Macht anbelangt, wagten sich seine Gedanken bis zur engsten Berührung mit Ranke. Dieser beginnt die Französische Geschichte mit dem Satz: »Mancherlei Kriege gibt es und mancherlei Heldenruhm; das vornehmste Lob gebührt denen, welche der Kultur der Menschheit durch siegreiche Waffen neue Schauplätze eröffnet haben.« Dies Lob verdiente nach Ranke Cäsar, als er Gallien eroberte. Und Burckhardt sagt zugunsten Alexanders: »Und nun ist es nach unserm schwachen Ermessen immer ein Glück, wenn eine höhere Kultur über eine geringere, ein begabteres Volk über ein unbegabteres Eroberungen macht.« Auch noch ein weiterer gemeinsamer Grundgedanke Rankes und Burckhardts gehört jetzt hierher. Das ist die hohe Befriedigung der beiden im Anblick der weltgeschichtlichen Kontinuität
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vom nahen Orient zur griechisch-römischen Welt und weiter zum romanisch-germanischen Abendlande hin. Denn auf dieser Kontinuität beruhte die abendländische Kultur. Ranke legte dabei den Hauptnachdruck auf die Brücke, die vom Römerreich und Christentum zu den Germanen führte, Burckhardt auf das unglaubliche Glück, daß die erobernden Römer den Philhellenismus besessen hätten. Beide Kontinuitäten aber wurden nur möglich durch die Wirkung der in Burckhardts Augen an sidi doch bösen Macht. Für Ranke war es eine Bestätigung seines Glaubens an die göttliche Providenz. Menschlicher Antrieb war überall, aber audi göttlicher Anhauch überall. Für ihn kam das Licht in der Weltgeschichte von oben — für Burckhardt kam es von innen, aus der Spontaneität schöpferischer, kultursdiaffender Menschen. Kultur als Ergebnis und Macht als Mittel wirken dabei nicht so harmonisch und gottgewollt zusammen wie bei Ranke, bilden nur eben ein merkwürdiges und erregendes Neben-, Gegen- und Miteinander. Der Geist des späteren, metaphysisch zurückhaltenden 19. Jahrhunderts, in dem Burckhardt lebte, ließ es zu solcher frommen Gläubigkeit wie bei Ranke nicht mehr kommen. Aber ohne eine keusch verhüllte Religiosität, ohne eine ganz bescheidene stille Hoffnung auf ein Uberweltliches konnte auch ein Burckhardt nicht leben. Es gibt einige durch ihre Seltenheit ergreifende Zeugnisse dafür, daß er über dem Auf und Nieder und allen Abgründen der Weltgeschichte, die unsere schwachen Augen zunächst nur sehen, letztlich doch eine »höhere Notwendigkeit«, eine »allmächtige Hand«, eine uns unzugängliche Ökonomie vermutete. Eine Gemeinsamkeit der beiden in den letzten und höchsten Fragen ist also doch vorhanden, darf aber nur leise ausgesprochen werden. Ihre Art, den geschichtlichen Stoff zu formen, bleibt dabei immer noch verschieden genug. Von den beiden Grundgedanken des modernen Historismus, Individualität und Entwicklung, im Besonderen jedes Gebildes wie im allgemeinen Gange der Weltgeschichte, betont Ranke den zweiten, den Entwicklungsgedanken, nach meinem Gefühl stärker als den ersten der Individualität, dem er dabei doch auch überall gerecht werden will. Er schmilzt die Individualitäten, so hell beleuchtet sie bei ihm auch hervortreten, schließlich doch alle ein in den einen mächtigen Strom einer Gesamtentwicklung. Burckhardt dagegen mit seinem eigen-
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sten künstlerischen Bedürfnis nach Bild und Anschauung läßt den Entwicklungsgedanken ganz zurücktreten vor der Gestaltung dessen, was jeweilig als Zustand und Typus eines Volkes und Zeitalters erfaßt werden kann. Ranke sah die Geschichte in Längsschnitten, d. h. in der zeitlichen Entwicklung bestimmter historischer Gebilde und Tendenzen, Burckhardt sah sie lieber in Querschnitten, die dann, um mit ihm selber zu sprechen, »das sich Wiederholende, Konstante, Typische« herausbrachten. D a vermochte nun aber Ranke mit seiner Versenkung in die Entwicklungsvorgänge selbst und zugleich getragen von seinem objektiven Idealismus in die Gebilde dessen, was man seit Hegel den objektiven Geist nennt, sich inniger einzufühlen und ihr schlagendes Herz unmittelbarer zu belauschen, als der vergleichende und typisierende Burckhardt. Alle überpersönlidien Gebilde, wie Staaten, Völker, Religionen, Institutionen, geistige Richtungen usw., gehören dieser Sphäre des objektiven Geistes an. Sowohl die besonderen Prinzipien, die diese Gebilde von innen her gestalten, wie der allgemeine Werdestrom, der sie in eine wunderbare Wechselwirkung bringt, werden von Ranke mit einer hingebenden Liebe und großartigen Unbefangenheit dargestellt, deren Burckhardt mit den ihm immer bereitliegenden Maßstäben seines Kultur- und Moralbegriffes nicht immer fähig war. Rankes Urteile über den Wert oder Unwert geschichtlicher Gebilde fallen deswegen in der Regel milder und vielfach auch gerechter aus als die scharf einschneidenden und herben Burckhardts. Dafür enthüllt dieser die partie honteuse, das Menschlich-Allzumenschliche in der Geschichte mit einer Unbarmherzigkeit, deren wieder Ranke nicht fähig war. Im Grunde stellten die beiden verschiedene Fragen an die Geschichte überhaupt. Wenn man es so recht überspitzen wollte, könnte man meinen: Der eine fragt: Was bedeutet der Mensch für die Geschichte?, der andere: Was bedeutet die Geschichte für den Menschen? Vorsichtiger formuliert kann es heißen: Ranke und seine ganze Richtung bis zu unserer Zeit hin fragen: Was bedeutet der geschichtlich handelnde Mensch für die überpersönlichen Gebilde des objektiven Geistes, die es primär zu verstehen gilt? Umgekehrt ist es die Grundfrage Burckhardts und seines subjektiven Idealismus: Was bedeuten diese Gebilde und das welthistorische Geschehen überhaupt für den Menschen, voran
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für den sdiöpferisdien, kultursdiaffenden Menschen? Mit klassischer Kürze hat er selbst wiederholt diese seine Grundfrage, die er an die Gesdiidite richtet, verraten. Von allen Fragen zum Beispiel, die die Geschichte der griechischen Religion aufgebe, wolle er nur eine einzige beantworten, nämlich die, »was diese Religion und diese Götter den Griechen waren«. Und ein andermal: »Uns interessiert nicht sowohl zu sehen, wie weit es die Griechen in der Philosophie, als wie weit es die Philosophie mit ihnen gebracht hat.« Der griechische Mensch, der Mensch des sinkenden Heidentums und aufsteigenden Christentums, der Mensch der Renaissance, der entartete moderne Massenmensch, das sind doch die stärksten und bleibendsten Erinnerungen, die seine Werke und Briefe in uns hinterlassen. Zwei verschiedene Grundeinstellungen zur Geschichte also, deren jede ihr inneres Recht und ihre Notwendigkeit hat. Und ihre Verschiedenheit ist zugleich Polarität und Aufeinanderangewiesensein. Denn jede der beiden Fragen läßt sich nur gründlich beantworten, wenn auch die andere Frage beantwortet wird. Wer den einen Weg sucht, muß auch den anderen Weg immer mit seinen Blicken verfolgen und darf deswegen nicht zu weit sich von ihm entfernen. Geschieht dies dennoch, so verwandelt sich, wenn man den objektiven Idealismus überspannt, der Mensch in eine bloße Funktion im Dienste allgemeiner Mächte und verliert die Gottesgabe der Persönlichkeit. Das war die Gefahr der Hegeischen Geschichtsphilosophie und ist zugleich dauernd die Gefahr der kollektivistischen Geschichtsauffassungen — auch solcher, nebenher bemerkt, die nicht mehr dem objektiven Idealismus, sondern dem Naturalismus, dem dritten der Diltheyschen Weltanschauungstypen, angehören. Setzt man aber umgekehrt dem Idealismus der Freiheit keine Schranken, so verlieren die allgemeinen Mächte der Geschichte ihre innere Notwendigkeit und Festigkeit und unterliegen der Willkür der Subjekte. Zum Ruhm Rankes und Burckhardts darf man sagen, daß sie, im großen gesehen, diesen Gefahren entgangen sind und ihre Wege nicht zu weit voneinander getrennt haben. Man kann sich dankbar lernend von dem einen zu dem anderen begeben und hier wie dort Höhenluft einatmen. Und je nach der geschichtlichen Situation wird die eine oder die andere Frage an die Geschichte dominieren. Zeiten des Auf-
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stieges, der Sicherheit, des ruhigen Genusses werden sich mit Befriedigung in den Anblick der Werke versenken, die der menschliche Geist geschaffen hat. Zeiten des Niederganges und der Zusammenbrüche werden umgekehrt ihren Blick vom Geschaffenen wieder auf den Schaffenden, in Sorge und Angst, wie es ihm künftig ergehen möge, zurücklenken. Mit den Gebilden des objektiven Geistes steht es nun heute für uns Deutsche schlecht. Wir leben auf einem Trümmerfeld von Staat und N a tion, und auch alles, was unsere Kultur betrifft, ist schwer bedroht. Es müssen überall neue Wege gesucht werden, und es liegt überall Dunkel auf diesen Wegen. Zwar dürfen wir auch, wie wir uns sagten, in der Nacht der Weltgeschichte nicht aufhören, weltgeschichtlich zu denken. Aber wir entbehren dabei jener Ruhe der Seele und Klarheit des Blickes, die uns befähigen, den Entwicklungsgang des objektiven Geistes, d. h. Weltgeschichte im Sinne Rankes, mit den Erfahrungen unserer Zeit neu zu gestalten. Eines aber ist uns geblieben, unser eigenes deutsches Menschentum. Audi dieses zeigt sich uns heute in ungeahnter, dunkelster Problematik, und die inneren Schwierigkeiten, es wissenschaftlich zu ergründen, sind nicht etwa geringer. Aber die Aufgabe, es doch damit zu versuchen, ist auch dringender. Wir müssen uns gewissermaßen selbst erst wieder kennenlernen, indem wir die geschichtlichen Wandlungen unseres Menschentums und die Verwebungen von Schuld und Schicksal in ihnen aufhellen. Auf dem besonderen Menschentum jeder Nation beruht j a auch jedes Gebilde des objektiven Geistes, das sie hervorbringt und in dem sie sich charakteristisch ausprägt, glücklich oder unglücklich. Eine ganz große Aufgabe ist damit unserer deutschen Geschichtsforschung gestellt — nicht nur wissenschaftlich, sondern auch pädagogisch. Aber sie kann ihre pädagogische Wirkung nur erreichen, wenn sie rein wissenschaftlich, und das heißt für den Historiker kritisch streng und liebevoll einfühlend zugleich, gelöst wird. Mit universalhistorischer Schau müßte es geschehen, in steter Vergleichung mit anderen Volkscharakteren und Volksschicksalen, auch mit steter Frage, was aus ererbter Anlage oder aus geschichtlichem Erlebnis stammt — wobei die Antwort j a oft eine untrennbare Verwebung von beidem zeigen würde. Eine solche Forschung wäre dann die Grundlage, auf der eine glücklichere Zeit unter uns auch eine neue Weltgeschichte im
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Sinne Rankes wieder aufbauen könnte. In ihr würden die Geister Burdchardts und Rankes vereint aufgehoben weiterleben. Aber nicht auf eklektischem Wege wäre ihre Vereinigung denkbar, sondern durch eine tiefere Neubesinnung über das Verhältnis von Macht und Kultur, von Elementarem und Geistigem in Leben und Geschichte. Nur eben bis zur Schwelle dieses Postulats mödite idi heute die Blicke lenken.
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Anhang 1. Ein Wort über Kultur und Zivilisation im Anschluß an Ranke und Burckhardt Die verschiedene Antwort, die Ranke und Burckhardt auf die Frage geben, was denn eigentlich »Kultur« sei und welche Bedeutung sie innerhalb der weltgeschichtlichen Entwicklung habe, kann den heutigen Leser wohl beunruhigen und in ihm Fragen aufwühlen, die auf das Letzte und Entscheidendste im menschlichen Leben gehen. Denn das Schicksal der abendländischen Kultur liegt heute auf der Waagschale, und wir wollen — ja, wir müssen uns darüber klarwerden, um was es sich dabei eigentlich handelt. Nicht nur der erkennende, sondern audi der handelnde Mensch verlangt heute eine solche Klarheit über das Wesen dessen, was wir Kultur nennen und für das höchste gemeinsame Gut des Abendlandes halten. Unzählige Antworten sind auf die Frage freilich schon gegeben, und es ist nicht zu erwarten, daß ein allgemeiner Konsensus darüber zustande komme. Aber man darf wohl versuchen, geschichtlich denkende Menschen für diejenige Antwort zu gewinnen, die wir selbst uns, eben in Auseinandersetzung mit Ranke und Burckhardt, schließlich gegeben haben. Hören wir zuerst Ranke. Die wichtigsten Stellen finden sich in der Vorrede zu Band 1 und in der Einleitung zu Band 8 (=Band 7 der 4. Auflage) der Weltgeschichte. Er bemerkt an der ersten Stelle mit Recht, daß das Wesen der Kultur nur unvollkommen durch ein einzelnes Wort ausgedrückt werde. Historische Allgemeinbegriffe müssen eben nadi ihrer innersten Natur unvollkommen und logisch mangelhaft sein, »wo alles in der Geschichte«, wie Burckhardt (in Weltgesdi. Betr.) sagt, »schwebend und in beständigen Übergängen und Mischungen existiert«. Das Wort Kultur umfaßt nun nach Ranke »zugleich das religiöse und das staatliche Leben, die Grundlagen des Rechts und der menschlichen Gesellschaft«. Er scheidet nicht Kultur als etwas Höheres von Zivilisation als etwas minder Hohem, sondern hält beide Ausdrücke für gleichbedeutend, er bevorzugt aber im eigenen
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Sprachgebrauch das Wort Kultur. Und daß er in der Tat audi diejenigen Gebiete mensdblidier Tätigkeit, die wir uns heute im großen und ganzen gewöhnt haben als Zivilisation von Kultur zu unterscheiden, mit zur Kultur redinet, geht klar aus der Einleitung zu Band 8 hervor. Denn hier werden zu ihr auch gerechnet »alle die Kenntnisse, die einmal erworben, nicht wieder untergehen, die Fertigkeiten, die ein Jahrhundert von dem andern überkommt und herübernimmt«, also damit auch das ganze Gebiet der Technik. Ausdrücklich lehnt Ranke auch die viel zu enge, aber, wie er meint, herrschende Meinung ab, die für die Kultur nur einen auf Wissenschaften und Künste beschränkten Horizont ergeben würde. Kultur begreift nach ihm letztlich alles, »was dem Menschen als solchem Ehre macht und geziemt«. Ein großer und tief berechtigter Versuch, alles Gute am Menschen, was ihn über das animalische Dasein emporträgt, in einem einzigen Worte anklingen zu lassen und als eine Einheit reichsten und mannigfaltigsten Inhalts zu empfinden. Er erklärte es auch für die vornehmste weltgeschichtliche Frage, wie sich dies Element der Kultur in den Wechselfällen der Völkerschicksale allen blutigen Zerstörungen zum Trotz zu erhalten und fortzupflanzen vermocht habe. Dennoch aber ging für ihn, wie wir im Vortrage bemerkten, die Weltgeschichte nicht auf in der Kulturgeschichte. Vielmehr dominierten die politischen Schicksale der Völker in ihr. Und nun kam es dabei doch zu einer Diskrepanz zwischen seiner Kulturtheorie und seiner historiographischen Praxis. Denn während seine Theorie den Staat schlechthin mit zur Sphäre der Kultur rechnete, erklärte er doch gleichwohl, daß die aus dem Antagonismus der Nationen entspringenden Machtkämpfe dem Wesen nach verschieden von den Kulturbestrebungen seien. Er bevorzugte sie in seiner Geschichtsschreibung, wie wir im Vortrage sagten, nicht nur, weil sie die stärksten Kausalitäten für das Schicksal der Kultur enthielten, sondern auch, weil er in der Macht selbst auch ein geistiges Element sah, durch das sie nach seiner Meinung der Kultur verwandt wurden. Warum nun aber trotzdem Machtkämpfe und Kulturbestrebungen so scharf voneinander trennen? Wir vermuten, daß hier ein sehr richtiger, aber von ihm nur dunkel gefühlter, nicht klar zu Ende gedachter Gedanke Rankes vorliegt. Wir beziehen uns auf das, was wir in der »Idee der Staatsräson« einst ausgeführt haben. Der Staat ist ein
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Amphibium, er lebt in einer niederen, mehr elementaren, naturhaften, und in einer höheren, mehr geistig-sittlichen Sphäre zugleich, er steht teils näher, teils ferner dem, was wir Kultur nennen. D a s mag audi Ranke gefühlt haben, als er den Staat zur Kultur rechnete und dennoch seine Machtkämpfe als nidit zur Kultur gehörig bezeichnete. Tief berechtigt aber war es, wie wir sagten, alles dem Menschen als solchem Ehre Machende und Geziemende in einen einzigen Begriff zusammenzudrängen und als eine geschichtliche Einheit aufzufassen. Ob man dafür, wie in Deutschland überwiegend das Wort Kultur, oder wie bei den westlichen Völkern überwiegend das Wort Zivilisation wählte, wäre an sich ganz nebensächlich und ist nur dadurch historisch bedeutsam geworden, daß die westlichen Völker ihre Kritik an den ihnen unangenehmen Zügen des deutschen Geisteslebens auch mit dem Spotte über unser vieles Kulturgerede würzten. Den Rankeschen Kulturbegriff müssen sie jedenfalls von dieser Kritik und diesem Spotte ausnehmen, denn er dedct sich, soweit wir sehen, durchaus mit ihrem Zivilisationsbegriffe. Aber die Einheit, die er damit ausdrücken wollte, ist eine zwiespältige Einheit! Sie reicht vom Höchsten, was Geist und Seele des Menschen erstreben, von Religion, Kunst, Philosophie herab bis zum alltäglichen Handwerk und Ackerbau. Sie umfaßt das Heiligste, wie das nur Nützliche, das aus freiem schöpferischen Willen Geschaffene wie das aus Zwang oder aus bloßer Konvention von Menschen Geleistete. Müssen hier nicht Scheidelinien auch innerhalb des Allgemeinbegriffs von Kultur und Zivilisation gezogen werden, die sozusagen den Verwandtschaftsgrad der einzelnen Kulturphänomene miteinander genauer bestimmen? Der deutsche Geist mit seiner grüblerischen Neigung zu radikaler Vertiefung hat sich dieser Aufgabe bereitwilliger unterzogen als der westliche Geist, der aus praktischem Instinkte lieber bei dem bequemen Begriff der Zivilisation, die alles spezifisch Humane umfaßte, es bewenden ließ. So kam es bei uns zu einer Zweiteilung des humanen Gesamtlebens in zwei Stockwerke, in ein höheres der eigentlichen Kultur und ein niederes, breit darunterliegendes, das man gemeinhin Zivilisation nannte. Die Zweiteilung müßte, wenn sie nur nach äußerlichen Merkmalen der Stoffgebiete und Themen, auf die sich menschliche
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Arbeit richtet, vorgenommen würde, in Zufälligkeiten und Willkür auslaufen. Nur innerliche und seelische Merkmale dürften hier entscheiden. Mit einem kühnen und großen Griffe hat da Burckhardt die Scheidelinie gezogen und die Spontaneität im menschlichen Handeln, verbunden mit dem Verzicht auf universale oder Zwangsgeltung, als das der Kultur eigentümliche Merkmal bezeichnet. Wir beziehen uns auf das, was im Vortrag darüber schon gesagt ist, daß nämlidi das hochpersönliche Freiheitsbedürfnis Burckhardts darin sidi widerspiegelt. Aber in welche schwer zu ertragende Konsequenzen führt es! Die von der Kultur ausgeschlossenen Lebensgebiete hießen für Burckhardt nun nicht etwa Zivilisation, sondern hießen Religion und Staat, eben diejenigen Gebiete, die Ranke mit so großem Eifer gerade für die Kultur in Anspruch nahm. Daß Burckhardt selbst bei seiner scharfen Grenzziehung nicht ganz froh wurde, zeigt sein mehrfaches Bemühen, den besonders nahen Beziehungen zwischen Religion und Kultur gerecht zu werden. Sogar daß in früheren Stadien Religion und Kultur zusammenfallen könnten, gab er zu. Und waren denn überhaupt Religion und Staat derart stabile und auf universale oder Zwangsgeltung erpichte Mächte, wie die Burckhardtsche Theorie sie sich konstruierte? Ohne ein gewisses, wenn auch vielleicht oft nur geringes Maß von Spontaneität im Handeln derer, die ihnen dienen, können sie sich doch wohl nicht am Leben erhalten. Jede Institution, die auf die besondere Hingabe der ihr Dienenden angewiesen ist, erfordert dabei ein gewisses Etwas von Spontaneität, von selbständigem freien Wollen, das dabei nidit einmal an universale oder Zwangsgeltung zu denken braucht. Kultur also im Burckhardt-Sinne erstreckt sich weit in die Regionen von Religion und Staat hinein — ohne sie freilidi jemals ganz ausfüllen zu können. Nodi ein weiteres läßt sich gegen ihn einwenden. Die Konsequenz seines Kulturbegriffes zwingt ihn dazu, audi das Handeln für rein materielle Zwecke, sofern es spontan und ohne Anspruch auf allgemeine oder Zwangsgeltung geschehe, als Kultur anzusehen. Also audi Schmiede und Weberinnen gehören, wie er erkennen läßt, dazu, und bei den Phöniziern, sagt er, sei Kultur gleich Geschäft gewesen. Wenn denn nun einmal Kultur etwas Höheres im menschlichen Leben darstellen soll, sträubt man sich gegen diese Nobilitierung des bloßen Geschäftssinns. Ja, Burck-
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hardt selbst mag es nicht ganz wohl zumute gewesen sein, als er den von ihm so gehaßten und verachteten Erwerbssinn des 19. Jahrhunderts »die Hauptkraft der jetzigen Kultur« nannte. Aber er blieb dabei seiner eigenen, wie uns scheint, nicht geglückten Theorie getreu. Wir müssen also nach anderen seelischen Merkmalen suchen, um der Kultur ein wirkliches Höhengebiet zu sichern. Idi beziehe mich auf denVersuch, den idi vor zwei Jahrzehnten gemacht habe, Kultur und Zivilisation voneinander abzugrenzen, in dem Aufsatz: »Kausalitäten und Werte in der Geschichte« (Histor. Zeitschrift Band 137, wieder abgedruckt in der Aufsatzsammlung »Staat und Persönlichkeit«) 1 . »Kultur tritt erst da ein«, sagte idi damals, »wo der Mensch etwas Gutes oder Schönes um ihrer selbst willen schafft oder sucht oder das Wahre um seiner selbst willen sucht.« Ich füge heute hinzu, daß auch das Heilige, also die Religion im innerlichsten Sinne, zu diesen idealen Hochzielen gehört, zu denen der Mensch um ihrer selbst willen emporstrebt. Um ihrer selbst willen! Das ist das entscheidende Merkmal, durch das sich alles Streben, Kultur zu verwirklichen, unterscheidet von dem Streben nach dem Nützlichen und Vorteilhaften, auf dem das ganze breite Gebiet dessen, was wir nun Zivilisation nennen, beruht — mag es nun Wirtschaft und Technik, Staatsräson, Macht, Geltung, Reichtum und Genuß sein. Dieser selbstischen Sphäre in Leben und Geschichte tritt damit eine uns entselbstende, dem Dienste an idealen Gütern gewidmete Sphäre gegenüber. Niemals entselbstet sie uns vollständig. Ein Erdenrest von selbstischen Motiven bleibt immer, wenn wir um uns und in uns blicken, dabei mit wirksam. Kultur und Zivilisation sind in der Wirklichkeit des Lebens immer miteinander verflochten, oft sogar ununterscheidbar für unser Auge miteinander verschmolzen. Mit den selbstischen Motiven steigen dabei oft audi die rein animalischen Triebkräfte im Menschen empor und trüben vollends seine Handlungsweise. W i r nennen diesen Hergang dämonisch, und der vielfach dämonische Charakter weltgeschichtlicher Hergänge zwingt in unserer heutigen Zeitenwende mehr und mehr das erschütterte Gemüt zu dunklen Betrachtungen. Ich habe eine solche einst an dem Beispiel der Staatsräson versucht. [» Werke IV S. 76.]
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Aber kehren wir nodi einmal zu Burckhardt und seiner Lehre von der Spontaneität als einem Hauptmerkmal der Kultur zurück. Gewiß, nur durdi spontanes Handeln werden audi nach unserer Auffassung Kulturwerte des Wahren, Guten, Schönen und Heiligen verwirklicht werden. Aber spontan und selbst ohne den Anspruch auf universale oder Zwangsgeltung kann auch in der Sphäre der Zivilisation vielfach gehandelt werden. Burckhardt selbst gibt j a , wie wir sahen, solche Beispiele aus Handel und Gewerbe, die er zwar zur Kultur rechnet, wir aber als zur Zivilisation gehörig ansehen. Spontanes Handeln ist möglich ebensowohl aus selbstischen wie aus entselbstenden idealen Motiven. Sind diese Motive auf den Wert des Guten geriditet, so entsteht das, was Kant die autonome Moralität nannte, im Gegensatz zur heteronomen Moralität, die aus irgendwie selbstischen Motiven etwas sittlich an sich Gutes tut und damit im äußeren Effekt mit der autonomen Moral übereintrifft. Wir würden eine solche heteronom entstandene, äußerlich sittlich aussehende Handlung zur Zivilisation zählen. U n d genau so hat es auch Kant getan. Denn er ist vielleicht, soweit wir sehen, der erste gewesen, der das Gebiet der Kultur von dem der Zivilisation grundsätzlich geschieden hat. Er tat es im Zusammenhang mit der geistigen Bewegung, die Rousseaus radikale Kritik an der modernen Kultur überhaupt in Deutschland hervorrief, in seinem Aufsatze von 1784 »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weitbürgerlicher Absicht«. D a heißt es am Schlüsse des 7. Satzes: »Wir sind in hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft k u l t i v i e r t . Wir sind z i v i l i s i e r t bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns schon für m o r a l i s i e r t zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört nodi zur Kultur, der Gebrauch dieser Iden aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung aus. Solange aber Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eiteln und gewaltsamen Erweiterungsabsichten verwenden und die langsame Bemühung der inneren Bildung der Denkungsart ihrer Bürger unaufhörlich hemmen, ihnen selbst audi alle Unterstützung in dieser Absicht entziehen, ist nichts von dieser Art zu erwarten: weil dazu eine lange innere Bearbeitung jedes gemeinen Wesens zur Bildung seiner Bürger erfordert wird.
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Alles Gute aber, was nidit auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend. In diesem Zustand wird wohl das menschliche Geschlecht verbleiben, bis es sich auf die Art, wie ich gesagt habe, aus dem chaotischen Zustande seiner Staatsverhältnisse herausgearbeitet haben wird.« Diese Worte, schon vor der Französischen Revolution und der ihr folgenden Ära von Kriegen niedergeschrieben, müssen uns heute erschüttern. Der chaotische Zustand der Staatsverhältnisse das Hemmnis dessen, was Kant und wir mit ihm unter Kultur verstehen! Ranke hat, wie wir sahen, dieses Hemmnis nicht so hoch angeschlagen. Denn für ihn bildete es ja die vornehmste weltgeschichtliche Frage, wie das Element der Kultur »all den blutigen Zerstörungen, den gewaltsamen Gründungen neuer Zustände zu Trotz sich dennoch behauptete«. Burckhardt aber sah ebenso düster wie Kant auf die Machtpolitik der Staaten und Völker, nur daß er zugleich auch den dämonischen Zusammenhang zwischen Unheil und Heil in den Einwirkungen der Machtpolitik auf die Kultur erkannte. Dieser Zusammenhang gehört nun auch wieder zu jenen geheimnisvollen Verflechtungen von Kultur und Zivilisation, von denen wir sprachen. Das historische Urteil, und wenn es noch so streng die Wahrheit um der Wahrheit willen sucht, darf nicht immer wagen, den Schleier zu lüften, der über solchen Verflechtungen liegt, und die selbstischen, auf Nutzen, Vorteil oder Genuß gerichteten Motive des geschichtlich Handelnden von den entselbstenden und idealen Motiven bestimmt zu unterscheiden. Diese Zurückhaltung im Anblick namentlich des Dämonischen in der Geschichte haben sowohl Ranke wie Burckhardt zu üben vermocht. Der handelnde Mensch dagegen, der durch sein Handeln Kultur zu schaffen berufen ist, darf nur auf die mahnende Stimme Kants hören und muß mit ihm, wie aussichtslos es auch scheinen mag, gegen die chaotischen Staatsverhältnisse ankämpfen, die damals wie heute das schwerste und furchtbarste Hemmnis wahrer Kultur sind. Blicken wir von der Kultur noch einmal zurück auf die Zivilisation, um dem Geheimnis ihrer Verflechtung etwas näherzukommen. Dieses überaus breite Gebiet alles dessen, was um des Nutzens und Vorteils willen von Menschen erstrebt und verwirklicht wird, kann und muß audi in sich noch gegliedert werden.
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Es ist ein Unterschied zu machen zwischen dem, was den menschlichen Gemeinschaften und dem, was nur dem einzelnen Menschen nützlich und vorteilhaft ist. Dem für die Gemeinschaft Nützlichen (Erfindungen, technische Fortschritte, staatliches Wirken für Salus publica usw.) haftet dabei noch ein besonderer höherer Wert an. Es gehört, um mit Ranke zu sprechen, zu dem, was dem Menschen als solchem Ehre macht und geziemt. Aber schon in der Staatsräson und dem Machtstreben des Staates kommt es dabei zu einer sittlichen Zwiespältigkeit und Problematik und damit zu jenen »chaotischen Staatsverhältnissen« Kants. Und im Nutzen und Vorteil des einzelnen fließt und wogt es erst recht hin und her zwischen dem sittlich Zulässigen und dem sittlich Unzulässigen, zwischen legitimem Gebrauch von Lebensgütern und schnödem Mißbrauch durch Gier und Genuß. So zerfällt also das Reich der Zivilisation selbst wieder in eine hellere, zwar nicht moralisch im Sinne Kants zu nennende, aber doch sittlich einwandfreiere und in eine dunklere, sittlich gefährdetere Sphäre. Immer aber werden die Lebensgüter, die die Zivilisation hervorbringt, nicht um ihrer selbst willen, sondern um des Vorteils willen erstrebt, den, sei es die Gemeinschaften, sei es die einzelnen von ihnen genießen. Das unterscheidet j a die Zivilisation von der Kultur. Die Lebensgüter der Zivilisation sind Mittel zum Zweck des eigenen Wohlbefindens, die Werte der Kultur aber entselbsten uns und bilden, um mit Kant zu sprechen (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten), »das herrliche Ideal eines allgemeinen Reichs der Z w e c k e a n s i c h s e l b s t « . Und das Schicksal der abendländischen Kultur hängt nach unserer Meinung davon ab, daß dieses als ihr wahres und eigentliches Wesen erkannt und durch bewußtes Handeln verwirklicht werde, soweit es die menschliche Schwäche irgend vermag. Kant sah dabei die Herzwurzel der Kultur in der Idee der autonomen Moralität. Wir sehen sie in der Religion, die diese Idee zugleich in sich einschließt und steigernd erhöht. Ein leidiger Umstand im Gebrauche der Worte und Begriffe Kultur und Zivilisation wird dabei, wie wir schon andeuteten, wohl nie zu beseitigen sein, ist aber im Grunde nur von sekundärer Bedeutung. Unter Kultur und Zivilisation werden die einen immer dasselbe Einheitsphänomen menschlicher Emporarbeitung über das bloß animalische Dasein erblicken und die beiden Aus-
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drücke, wie Ranke es tat, promiscue anwenden — während die anderen, dem Beispiel Kants folgend, diese Einheit innerlich gespalten sehen und Kultur von Zivilisation genau unterscheiden. Aber dieser Streit um Worte, den die Armut der Sprache verschuldet, dürfte niemals die Arbeit für wahre Kultur selbst beeinträchtigen. 2. Ein Wort über Rankes und Burckhardts Sprache Es gibt ein rationales Gelehrtendeutsch, am schärfsten wohl ausgeprägt bei den Juristen, aber audi bei den Historikern im Durchschnitt zu beobachten. Es ist klar, präzis, zuweilen nüchtern, mit einem wohlgeordneten und leicht übersehbaren Periodenbau, aber mit einem nicht besonders reichen Wortsdiatze. Es vermeidet Ausdrücke und Wendungen, die etwas Ahnungsvolles und deswegen nicht gleich Klares und rasch Auszumessendes dem Leser zumuten. Es will aber audi nicht trivial werden und vermeidet deshalb audi Ausdrücke aus der Sprache des täglichen Umganges. Zuweilen schreibt derselbe Autor in Briefen, wo diese Tagessprache sich durchsetzt, ganz anders als in seinen gelehrten Schriften. Dieses rationale Gelehrtendeutsch kann sich zu einem klassischen Gelehrtendeutsch auch mit reicheren Sprachmitteln steigern, wenn eine starke Persönlichkeit wie Mommsen es formt. Aber es hat audi die Tendenz, abzusinken zu einer nivellierten, abgeschliffenen, unpersönlichen Sprache, die dem Leser keine Anstrengung zumutet, aber audi keine freudige Überraschung zu bereiten vermag. Weder Ranke nodi Burckhardt schreiben dies rationale Gelehrtendeutsch. Jeder schreibt als homo sui generis. Gemeinsam haben sie wohl mit dem rationalen Gelehrtendeutsch den wohlgegliederten und übersichtlichen Periodenbau. Rankes Sätze und Perioden fließen dabei in der Regel dahin wie lange, sanft ineinander übergehende Wellen eines gleichmäßig bewegten Meeres. Die Wellen der Burckhardtschen Perioden werden oft wie von plötzlichen Windstößen überraschend in eine andere Richtung gedrängt. Sein Satzbau gleicht oft scharfen Einschnitten in ein großes, unendlich inhaltsreiches Ganzes. Der Unterschied vom rationalen Gelehrtendeutsdi liegt hauptsächlich in der Wahl der Worte und in der Fülle des dafür zur
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Verfügung stehenden Wortschatzes. Rankes Wahl der Worte vermeidet nicht nur das Triviale und Alltäglidie, sondern, wie mir scheint, oft audi die klaren, runden, glatten, scharf abgezirkelten und bequem sich darbietenden Ausdrücke für die Charakterisierung dessen, was geschieht. Er bevorzugt dafür gerade solche Ausdrücke, die etwas Schwebendes, Ahnungsvolles, nicht leicht Auszumessendes haben, jedenfalls aber dem geschichtlichen Geschehen einen edleren und geistigeren Charakter geben. Er ist der Vates schon in seiner Sprache. Sie schwebt etwas, obwohl er nie den Erdboden der Wirklichkeit verlassen will. »Realgeistig« will auch seine Sprache sein, aber die Geistigkeit dominiert in ihr. Das Unschöne der Wirklichkeit wird durch sie leicht verhüllt. Sein Wortschatz ist trotz manches Verzichts auf durchschnittlich übliche Ausdrucksmittel reicher als der des gewöhnlichen rationalen Gelehrtendeutsch und beherbergt hauptsächlich edlere und seltene Bestandteile des allgemeinen deutschen Wortschatzes. Aber gerade diese seltenen Ausdrücke werden mit großer Ökonomie und niemals verschwenderisch gebraucht. Ich verglich sie früher einmal mit einzelnen Edelsteinen, die auf ein sonst schlichtes einfarbiges Gewand gesetzt werden. Von Fremdwörtern, namentlich solchen bei uns noch wenig gebrauchten und deshalb noch nicht abgenutzten, wird an wirksamer Stelle ein entschlossener und sehr überlegter Gebrauch gemacht. Noch reicher ist der Wortschatz Burckhardts sowohl an Fremdwörtern namentlich romanischen Ursprungs wie an Wörtern des täglichen Umgangs und Gesprächs mit gleichgesinnten Freunden, selbst auch des Jargons, des Börsen jargons sogar. Aber mit welcher Ironie, mit welchem Spott und Hohn werden sie nun auf die geschichtlichen Hergänge, die Ranke in einen feinen, wie seine Kritiker behaupteten, parfümierten Duft hüllte, angewandt! Bei Burckhardt steigen dadurch gerade die unedlen und gemeinen Düfte der historischen Wirklichkeit empor und erinnern den Leser daran, daß die ideale Sphäre Wunderkinder inmitten der Durchschnittsmenschheit emporhebt und umhegt. Das Verhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit ist j a ganz anders bei Ranke und bei Burckhardt. Himmel und Erde sind sich bei Ranke näher als bei Burckhardt. Reales und Geistiges verschmolzen zum Realgeistigen bilden eine Einheit. Es ist etwas vom Geiste der deutschen Identitätsphilosophie auch in Rankes Sprache.
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Burdchardts Sprache aber ist der Widersdiein der naturalistischer oder dualistischer werdenden Weltaspekte des späteren 19. Jahrhunderts. Skepsis und Gläubigkeit ist bei ihm immer zugleich. Aber die Gläubigkeit ist die des Eremiten in der höchsten reinlichsten Zelle, der für das Erdentreiben, auf das er herabschaut, dann freilich auch nur die Ausdrücke des Jargons mit Ironie, Spott und Hohn anzuwenden vermag. Auch ganz gewöhnliche Wörter bekommen dabei oft einen ungeahnten stechenden Charakter. Das Feierliche in der Diktion liegt ihm eigentlich gar nicht — während es bei Ranke zwar durchaus nicht etwa dominiert, aber in den dafür ihm gewählten Momenten ergreifende Adagios bildet. Burckhardt schreibt auch, vom französischen Stil beeinflußt, zu pointiert, zu sehr als Gesellschafter im Gespräch, um den Ubergang in die Diktion des Vates so leicht finden zu können wie Ranke. Aber wie feierlich wirkt trotzdem Burckhardts Diktion so oft unwillkürlich auf uns! Wir sprechen hier nur von seinem historischen, nicht von seinem kunsthistorischen Stile, in dem seine religiöse Verehrung für das Schöne auch dem Leser ununterbrochene Feierstunden bereitet. Aber auch in seiner Historie schimmert durch alle Ironie und Resignation ob des bösen Erdentreibens der innerste Burckhardt, der Eremit in seiner höchsten reinlichsten Zelle überall hindurch, und zuweilen hört man ihn, und dann besonders ergreifend, feierliche Töne in der Wahl seiner Worte anschlagen. Schopenhauer teilt einmal die Schriftsteller ein in die schlechten, die mit ungewöhnlichen Worten gewöhnliche Dinge sagen, und in die guten, die mit gewöhnlichen Worten ungewöhnliche Dinge sagen. Das trifft in der Mehrzahl der Fälle wohl zu, und die Kategorie der schlechten Schriftsteller grassiert in unserer heutigen, aus dem Gleichgewicht gefallenen Katastrophenlage nur zu sehr. Von Ranke und Burckhardt aber kann man sagen, daß sie immer Ungewöhnliches zu sagen haben und es mit ungewöhnlichen Sprachmitteln oft auch tun. Die Geister zweier recht verschiedener Epochen des 19. Jahrhunderts stehen sich in ihnen gegenüber. Nur auf dem Hintergrunde derWeltanschauungen sollte man Untersuchungen über die Sprache der Schriftsteller anstellen. Unser Versuch soll keine »Untersuchung«, sondern nur eine erste Anregung zu einer solchen sein.
DRITTE G R U P P E
Die nationalpolitische
Geschichtsschreibung
Johann Gustav Droysen 1. J o h a n n G u s t a v Droysen, sein B r i e f w e c h s e l und seine Geschichtsschreibung Niedergeschrieben nadi der Publikation des Briefwedisels (2 Bde. Hrsg. von Rudolf Hübner. 1929) 1929/30. Zuerst veröffentlicht: Historische Zeitschrift Bd. 141 (1930) S. 249-282. Wiederabdruck mit Streichung einzelner Anmerkungen, von denen eine hier in eckigen Klammem wiedereingefügt wurde, in den Aufsatzsammlungen »Staat und Persönlichkeit« (1933) und »Schaffender Spiegel« (1948).
I Ein übermächtiges Schicksal hat den Aufschwung der deutschen Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert mit dem politischen Aufschwünge der Nation, mit der in schweren und langen Wehen und schließlich wunderartigen Lösungen sich vollziehenden Schaffung des Nationalstaates untrennbar verknüpft. Audi die universal gerichtete Geschichtsschreibung Rankes ist ohne die Ideen, die die Anschauung des individuellen preußischen Staatslebens ihm gab, schwer denkbar. Die norddeutsch-protestantische wie die großdeutsch-katholische Historie lebte in einer Symbiose von Wissenschaft und Politik, die wohl sehr verschiedene Formen und Abstufungen annehmen konnte, aber überall den Atemzug neuer werdender Dinge spüren läßt. Eigentlich nur Jakob Burckhardt stellt einen ganz anderen Typus von großer Geschichtsschreibung dar. Aber er lebte jenseits der deutschen Grenzen und der deutschen Wünsche, und schließlich wissen wir jetzt, daß audh er einmal in seiner Jugend den deutschen Stimmenchor vernommen hat und daß seine deutschen Bildungsjähre »aufgehoben« weiterwirkten in seiner Wendung zur italienischen Renaissance.
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Die Nationalpolitisdie Geschichtsschreibung
Die Erfüllung der nationalen Hoffnungen schuf dann für die deutsche Geschichtsschreibung, wie wir Nachfahren in unserer Jugend bereits dunkel gefühlt haben, eine kritische Situation. Schon Heinrich von Sybel hat das auf der Höhe des Sieges einmal blitzartig empfunden. »Wie wird man nachher leben?« schrieb er am 27. Januar 1871, »woher soll man in seinen Lebensjahren noch einen neuen Inhalt für das weitere Leben nehmen?«1 Sehnsucht und Hoffnung sind stärkere Impulse zu schöpferischer Arbeit als Genuß erreichter Wünsche. Die ecclesia pressa leistet innerlich oft mehr als die ecclesia triumphans. Die großen noch lebenden Geschichtsschreiber vermochten wohl auch noch in den ersten Jahrzehnten des neuen Reiches, getragen von ihrer in den Jahren des nationalen Darbens erwachsenen Schwungkraft, die Höhenlinie zu halten oder gar wie Treitschke jetzt erst zu erreichen. Aber der Nachwuchs konnte fortan von der stillen Frage gepeinigt werden, ob noch etwas anderes als Epigonenkunst möglich sei. Viele freilich trösteten sich oder blähten sich gar mit der Hoffnung, daß jetzt erst die Tage der reinen, der saubersten, von politischen Strebungen freiesten Forschung und methodischen Kritik gekommen seien. Wir verachten es nicht, was nun mit hingebendem Fleiß in Massen geschaffen wurde. Es kamen ja dann geistige Wandlungen seit 1890 und der Wende des Jahrhunderts, die auch der Geschichtsforschung neue Fermente und Ziele gaben. Und heute, wo wir von neuem auf die Stufe der nationalpolitisch Darbenden zurückgeworfen sind, könnten sich in unserem jüngsten Nachwüchse am Ende einmal wieder ähnliche Strebekräfte entwickeln wie vor einem Jahrhundert — vorausgesetzt, daß man aus der politischen Katastrophe zu lernen versteht und daß die schwere Krisis des Geisteslebens, in die wir gleichzeitig gestürzt sind und die gerade das historische Denken und Forschen in Frage stellt, sich irgendwie günstig löst. Wie man aber auch die Leistungen und die Aussichten der letzten Generation deutscher Geschichtswissenschaft einschätzen möge, es bleibt dabei, daß sie ein gewisses starkes Etwas nicht gehabt haben, was den Generationen von Ranke bis Treitschke eigen war, jenes eigentümlidje Vitamin, das durch die damalige [' Heyderhoff-Wentzcke, Deutscher Liberalismus im Zeitalter marcks. Bd. I (1925) S. 494.]
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Symbiose von Wissensdiaft und Politik erzeugt wurde und in der politischen Luft seit 1871 nicht mehr voll gedieh. Um es etwas kraß auszudrücken, es begann Laboratoriumsgeschmack anzunehmen. Denn die bloße Pflege überlieferter und erfüllter politischer Ideale, mochte sie in noch so treuer und warmer Gesinnung erfolgen, drohte zur Konvention herabzusinken, und die strengere Methodik, die sich jetzt verbreitete, konnte aus sich heraus neue Ideen nicht erzeugen. Die im großen formende, gestaltende und beseelende Kraft der Älteren ist unerreicht geblieben. Dem goldenen Zeitalter der deutschen Historie ist ein silbernes Zeitalter gefolgt. Es muß noch eines gesagt werden, um den Vorsprung der Älteren verständlich zu machen. Sie hatten audi das weitere Glück, die großen Gedanken des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik, die sie fast noch unmittelbar aus der Hand ihrer Schöpfer empfingen, zum ersten Male wissenschaftlich in großem Stile auf die geschichtliche Welt anwenden und dadurch von ihrer spekulativen Einseitigkeit befreien zu können. Eine neue Weltanschauung und ein neues zukunftsreiches Staatsideal erfüllte sie zugleich und in jugendlicher Frische. Es war eine der schönsten Konstellationen, die je auf deutschem Boden eintrat. Und wenn etwas den Nachfahren zum Tröste gereichen kann, so ist es die Erkenntnis, daß die Wirkungen der neuen Weltanschauung weiterreichen, tiefer Wurzel fassen und sich länger bewähren konnten, als die Wirkungen des neuen Staatsideals. Die neue aus Idealismus und Romantik entspringende Weltanschauung führte in das Unbegrenzte, das neue nationale Staatsideal zu einem Begrenzten hin. Jenes Unbegrenzte aber war nicht ein luftleeres, ein abstrakt Absolutes — wo es dazu etwa wie bei Hegel zu werden drohte, wurde es bald wieder verlassen —, sondern die uns gegebene Wirklichkeit selbst, der Lebenszusammenhang von Geist und Natur, aber aufgefaßt sub specie aeterni und eben darum unbegrenzt und mit der Perspektive auf immer neue lebendige Gestaltungen aus Geist und Natur. Vom Standpunkt der neuen Weltanschauung aus, die die gegebene und durch Ideale zu erhöhende Wirklichkeit immer nur als ein Moment des Unendlichen anzusehen hatte, hätte von Rechts wegen auch das neue fruchtbare Staatsideal — der nationale Einheitsstaat in kleindeutscher Abgrenzung mit historischer Monarchie und freiheit-
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lichen Institutionen — nur als ein solches Moment, das heißt als ein Relatives erscheinen dürfen, das einmal durch neue, ebenso relative Gestaltungen abgelöst werden würde. Das ist aber nidit geschehen. Der neue ersehnte monarchisch-liberale Nationalstaat wurde tatsächlich fast als ein absoluter Wert behandelt, und zwar nicht über alle übrigen Lebenswerte überhaupt, so dodi über alle sonstigen politischen Werte, Formen und Möglichkeiten hoch erhoben. Eine tatsächlich vorhandene mächtige und lebensvolle Tendenz der deutschen Geschichte geriet in Gefahr, übermäßig kanonisiert zu werden und den unbefangenen historischen Blick für alles übrige geschichtliche Leben zu trüben. Derjenige, der sich davon am freiesten hielt, war Leopold von Ranke; darauf beruht seine wissenschaftliche Überlegenheit über die Richtung der sogenannten »politischen Historiker«. Darum konnte sein Einfluß auf den wissenschaftlichen Nachwuchs dann erst fast allmächtig werden, als die großen Tage jener vorüber waren. Die Symbiose von Wissenschaft und Politik, an der audi er teilnahm und die audi für ihn eine Kraftquelle war, trug bei ihm eben einen anderen Charakter. Frei von der Leidenschaft nationalpolitischen Wollens, innig befriedigt durch den Anblick eines durch Nationalität, wie er meinte, bereits genügend verjüngten Staatslebens, vermochte sein Genius die herrlichen Möglichkeiten, die die neue idealistisch-romantisch genährte Weltanschauung für das Verständnis der geschichtlichen Welt bot, ungestört auszuschöpfen und das »Real-Geistige« allenthalben »in ungeahnter Originalität« aufblitzen zu lassen. Und solange die tiefen weltanschaulichen Grundgedanken des deutschen Historismus nicht abgelöst sind durch bessere Erkenntnismittel — vorläufig sieht man deren in der trüben Gärung dieser Tage nicht —, kann audi die historische Arbeit der Nachfahren sich getrösten, aus unversieglichen Quellen zu schöpfen und den Fluch des bloßen Epigonentums zu vermeiden. Haben wir also recht gesehen, so war es die Polarität von Staatsideal und Weltanschauung, sei es mit der Dominante des einen oder des anderen Elements und oft mit engster Verschmelzung beider Elemente, was den Aufschwung der deutschen Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert gebracht hat. Allem großen Tun aber haftet irgendein Mangel, irgendeine Kehrseite an. Die »politischen Historiker« vermochten es nicht, zur vollen Empfäng-
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lichkeit und Gerechtigkeit für diejenigen geschichtlichen Bildungen zu gelangen, die jenseits der Sphäre ihres politischen Ideals lagen. Dafür war die Wirkung ihrer Wissenschaft auf das Leben, auf die Schaffung des Nationalstaates und seine ethische Fundierung in der Gesinnung der Nation um so stärker. Eben diese nationale und sittliche Wirkung vermißten sie an der Geschichtsschreibung Rankes, vermißten Herz und Charakter an ihr. Die große und schwere Frage nach den letzten Aufgaben der Geschichtswissenschaft drängt sich da auf. Wie steht sie zum schaffenden Leben? Hat sie es nur vergeistigt widerzuspiegeln, nur zu erkennen und nichts weiter? Dann würde jener Vorwurf gegen Ranke gegenstandslos sein. Oder steckt in der Forderung der »politischen Historiker«, dem schaffenden Leben zu dienen und Wege zu weisen, doch ein berechtigter Kern? Haben sie nicht eben dadurch auch, wie wir im Eingang sagten, eine innere Lebendigkeit und formende Kraft erhalten, die sich minderten, als das Ziel, für das sie arbeiteten, erreicht war und der reine Zunftbetrieb aufkam? Eine Generaltheorie der Geschichte, die auf alle solche Fragen ein glattes Ja oder Nein sagen kann, gibt es nicht — oder sie müßte die wirkliche Geschichtsschreibung vergewaltigen. Denn das Lebendige, das diese erfassen und zu dem sie selbst gehören will, ist letzten Endes inkommensurabel. Jede, auch die größte Leistung in der Geschichtsschreibung bleibt irgend etwas schuldig, läßt irgendein lebendiges Bedürfnis unerfüllt. Dies im Einzelfalle festzustellen, ist das Recht und die Pflicht der Kritik. Zuvörderst aber hat sie die lebendige große Leistung selbst zu würdigen. Eine besondere Aufgabe hat sie heute zu lösen. Johann Gustav Droysens Gestalt, an die man schier zuerst denken muß, wenn man von Licht und Schatten der »politischen Historiker« spricht, steigt mächtig wieder auf aus dem gewaltigen Briefwechsel, den sein Enkel Rudolf Hübner uns geschenkt hat.
II Gewaltig ist er dem Umfange und dem Inhalt nach. Uberwältigt und zunächst fast ratlos steht man vor der Fülle der Gesichte, wenn man ihn gelesen hat. Man hat den Anblick eines
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mäditigen Stromes, der anfangs malerisch rein, verhältnismäßig ruhig und breit ausladend beginnt, dann aber in stürmischen Katarakten herabdonnert, bis er wieder die ruhigere Ebene erreicht und nun gesammelt und gerade, aber tief flutend bis zuletzt sein Ende erreidit. Die Sammlung beginnt 1829 in einem Brief des einundzwanzigjährigen Philologen mit Lebensregeln für seine Schwestern, die altklug und jugendlich vital zugleich schon das bleibende Thema seines eigenen Lebens anschlagen: die Seele, »tief in sich hineinzuleben«, feurig zu empfinden, straff zu dienen, »zu Gottes Ehre zu sein und zu leben«. Es war das christlich motivierte Lebensideal der preußischen Reformzeit, wie es Clausewitz einmal ausgesprochen hat: Alle Leidenschaften in ein Strombett einzuschränken, das, gegen die Räder der Staatsmaschine gerichtet, kraftvoll, aber ruhig große Empfindungen fortwälze*. Unter den ersten Korrespondenten begegnen Heinrich Heine und Felix Mendelssohn. Ästhetische und philologische, aber sehr rasch ins rein Historische sich wendende Interessen erfüllen das Leben des jungen Berliner Gymnasiallehrers und unbesoldeten Extraordinarius zuerst: Der Übersetzer des Äsdiylus und Aristophanes, der Geschichtsschreiber Alexanders und des Hellenismus tritt auf, der mit F. G. Welcker in intensiven Gedankenaustausch tritt, aber auch mit seinem Verleger, dem alten Perthes, »über die ernstesten Fragen, die des Menschen Brust bewegen mögen«, sidi auseinandersetzt und mit Felix Mendelssohn in einem musikalisch tönenden Briefwechsel alle Akkorde romantisch vergeistigter Freundschaft anschlägt. Dann kommt die Kieler Zeit seit 1840, und nun beginnt neben der Fortführung des Hellenismus der Strudel der politischen Dinge ihn zu erfassen, das Schicksal der Herzogtümer, die deutsche und preußische Frage ihn immer leidenschaftlicher zu beschäftigen, worauf dann von 1848 an ein aufregender und stürmischer Briefwechsel mit einer Fülle bedeutender und führender Persönlichkeiten bis zum Jahre 1866 etwa dahinbraust. Er war inzwischen 1851 nach Jena, 1859 nach Berlin gegangen. Jeder der sich jagenden Momente im deutschen und europäischen Leben wurde heftig erfaßt und oft auf die kühnsten und gewaltigsten welthistorischen Konsequenzen hin gedeutet. Es
[ 2 Mein Leben Boyens I 167 nadi Schwartz, Leben Clausewitz' Bd.. I S. 268.]
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düstert, stürmt, blitzt und donnert andauernd in diesen Bildern des eben Erlebten. Die Gedanken greifen oft ins Nebelhafte, zeigen aber gelegentlich ein erstaunlich feines Wettergefühl für das Kommende. Da ist es nun von höchstem Reize, wie er, der auf seiner Wetterwarte meist ohne exakte Meßinstrumente arbeiten und deshalb zuweilen phantasieren mußte, mit einem interessanten, in Deutschland fast unbekannt gebliebenen Manne sich austauschen konnte, der den Meßinstrumenten, das heißt den Quellen europäisch-politischer Information, ganz nahe saß. Das war sein Studienfreund Wilhelm Arendt (1808—1865), der zum Katholizismus übertrat, nach Belgien ging und als Professor der politischen Wissenschaften in Löwen eine große Rolle spielte. Durch seine sehr nahen Beziehungen zum König Leopold und den belgischen Ministern erfuhr er andauernd wichtigste Dinge, die seinen Briefen an Droysen allein schon einen hohen Quellenwert geben. Aber man möchte ihn fast audi als politischen Erzieher Droysens ansehen. Denn er war es, der das oft evagierende und konstruierende Denken des Freundes, dessen geistige Größe er dabei genau empfand, immer wieder auf das Maß der gegebenen Dinge zurückführte durch nüchternste und schärfste Abwägung der jeweiligen Machtverhältnisse. Hat Arendt doch schon ganz früh im Jahre 1848, als Droysen noch sinnbefangen in den heißen Dämpfen des Frankfurter Parlamentes saß, den Freund darauf vorbereitet, daß das Ende vom Liede die Rückkehr zum Bundestage sein werde. Den Deutschen, sagte Droysen einmal (1845), bin idi zu preußisch, den Preußen zu deutsch. Man weiß, wie er 1848 Preußen in Deutschland aufgehen lassen wollte. Das ging so weit, daß er am 12. Juli 1848, nach der Wahl des österreichischen Johanns zum Reichsverweser, auf das Berliner Auswärtige Amt dringend einredete, jetzt sofort die ganze auswärtige Politik rückhaltlos nach Frankfurt zu verlegen. Aber sobald audi nur wieder der andere Weg zum Ziel der preußisch-deutschen Einigung einmal sichtbar wurde, durch selbständige preußische Machtpolitik voranzukommen, jubelte er audi dem zu. Das Jubeln hörte bald auf, und die preußische Politik versank, um mit ihm zu sprechen, »in Fäulnis«. Berlin wurde »eine in Gärung übergehende Miststagnation« oder wie sonst die Ausdrücke seines aristophanischen Scheit- und Schimpflexikons lauten. 1847 hatte es geheißen: Die
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Nadit hat ein Ende, der Tag bricht an; 1851 hieß es dafür: Ι Α habe etwas von der Zuversicht, die man hat, wenn man nachts auf der Heide reitend die Sterne kennt. Sein Stern war die Idee des Staates Preußen mit der Richtung auf ganz Deutschland, wie sie in der Reformzeit sich geoffenbart hatte, durch den von Junkertum und Friedrich Wilhelm IV. wieder künstlich erzeugten Ständehaß wohl jetzt verdunkelt worden sei, notwendig und sidier aber eines Tages, wenn auch vielleicht durch ein neues 1806 hindurch, wieder siegreich hindurdibredien werde. In diesem fast fanatischen Schicksalsglauben — mehr noch ein Ideenglaube als ein Schicksalsglaube — formte und härtete er seine Art endgültig. So begann er in diesen qualvollen fünfziger Jahren mit heroischer Konzentration seine Geschichte der preußischen Politik, die der historiographische Auftakt wurde zum Werke Bismarcks, des zuerst auch von ihm Verabscheuten, dann 1864 mit Schicksalsgefühl, aber ohne Liebe Respektierten, schließlich Bewunderten. Im Oktober 1866 sprach er ihm dann den Spruch: »Dieser Kaltglühende, leidenschaftlich Gemessene, von Freund und Feind, um Partei und Prinzip Unbekümmerte, ganz in der Sache, in der Realität dieses Staates Wurzelnde« war der »Herkules im Augiasstall«. Nun legten sich die Wogen seines Innern. Man kann sich keinen großartigeren Gang eines Manneslebens denken, als das, was man durch zwei Jahrzehnte unter bewölktem Himmel mit fast übermenschlicher Glaubenskraft und Verzweiflungsmut erstrebt hat, erfüllt zu sehen und am Lebensabend zu den eigensten Aufgaben gesammelt und getröstet zurückkehren zu können. Die Briefe werden seltener, ruhiger und kürzer, die politischen Ergüsse summarischer. Die alten Freunde sind entweder gestorben oder werden auch wortkarger, sogar förmlicher, wie etwa Heinrich v. Sybel. Das Leben versachlicht sich nach außen hin allenthalben. Welch ein Wandel nicht nur der natürlichen Altersstufen, sondern auch des allgemeinen Seelenlebens, wenn man jetzt wieder zurückdenkt an den Anfang, an die Mondscheinnächte und Seelenergießungen mit seinem musikalischen Freunde. Aber immer glüht es in dem alten Manne weiter, fühlt er fröhlich sich bergauf steigend, nur vom Großen des Lebens und der Geschichte noch gereizt, demütig und zuversichtlich zu dem alten Gott, der immer noch am Regimente stehe, stolz seines Wertes
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gewiß und äußerer Ehren nicht bedürftig. Die allgemeinen Dinge sah er mit Ruhe, das einreißende Kleinmeistertum und Forschungsvirtuosentum in der Zunft mit Spott und Verachtung an. Er kannte auch seine eigene Schwache und wußte, daß er seine Individualität, seine Auffassungen und den Stil seines Lebenswerkes, der Preußischen Politik, wohl etwas zu spröde, exklusiv und schroff ausgebildet habe. Er ähnelt sich dem alten Friedrich dem Großen an, von dem die Seele ihm voll wurde, als er die letzten Bände seines Werkes schrieb. Aber er war auch voll von tiefer und abendlicher Altersweisheit, die er zuletzt in den Briefen an seinen Sohn Gustav aussprach. Das Riesenkorpus des Briefwechsels mit seiner unvergleichlichen, hochindividuellen Spiegelung von drei Perioden deutscher Geschichte, literarisch-geistiger Freuden, nationalpolitischer Leiden, Kämpfe und Siege, Ausklingens und Abebbens großer erlebter Dinge — möchte man am liebsten allein dem empfänglichen Leser in die Hand wünschen. Denn man zittert schon etwas vor dem Schwärm von Dissertationen, der sich darüber hermachen wird. Schließlich gehört es zum Wesen unseres Betriebes, wie es auch Droysen an den Wirkungen des von ihm mit angebahnten Großbetriebes der Wissenschaft (Münchener Historische Kommission 1858 u. a.) erfahren mußte, daß der Gewinn von nahrhaften Körnern mit viel Spreu erkauft werden muß. Und in dem Kreuzfeuer der Untersuchungen, das nun losgehen mag, wird sich auch das Wort bewähren, mit dem der junge Droysen einmal sein ganzes Werk merkwürdig treffend gezeichnet hat: »Ich der Brennende in solcher Hitze unverbrennlich wie Asbest.« Nur ganz obenhin haben wir zuletzt andeuten wollen, wie sehr sich unser Bild von der Nationalpartei, die die Gründung des Reiches geistig vorbereitet hat, vertiefen wird. Zu dem Vulkan Treitschke, wie wir ihn aus seinen Briefen kennen, tritt jetzt weiter zurückliegend, aber ebenso mäditig, der Vulkan Droysen. Aber wir gingen nicht von der Politik, sondern von der politischen Historie dieser Männer aus und wollen zu ihr zurückkehren. Befragen wir also jetzt die Briefe, wie sich die Polarität von universaler Weltanschauung und nationalem Staatsideal in der Entstehung und dem Charakter seiner historiographischen Konzeptionen darstellt.
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III Drei soldier großen Konzeptionen hat er gehabt, auf denen sein wissenschaftlicher Ruhm beruht: die hellenistische, die preußisch-nationale und die historistische, die der Historik als eines Organon für historisches Denken und Forschen. Die erste steht in der Ausführung des Werkes als ein großer Torso da, der aber schon die Grundidee des Ganzen vollständig ausspricht. Er verließ die Arbeit an ihm (Geschichte des Hellenismus Band 2, 1843), um dem Rufe der Zeit zu folgen und in charakteristischer Reihenfolge zuerst das allgemein europäische, aber schon sehr deutschpreußisch gemeinte Buch über die Freiheitskriege (1846), dann die noch an frische Erinnerungen anknüpfende Yorck-Biographie (1851 ff.) und schließlich die tief ins Mittelalter zurückgreifende, aber immer straffer sich auf ihren Gegenstand konzentrierende Geschichte der preußischen Politik zu schreiben, die auch in ihren vierzehn Bänden (1855 ff.) ein Torso blieb. Von der Historik ist nur der knappe Grundriß (3. Auflage 1882) mit einigen wichtigen beigefügten Aufsätzen erschienen. Aber daß man ihn jetzt (1925 durch Rothacker) neu gedruckt hat, ist ein Zeichen dafür, daß er lebendig geblieben oder richtiger wieder geworden ist®. Von der Geschichte des Hellenismus kann man dasselbe sagen. Ungünstiger steht es mit den Werken der mittleren Gruppe. Das Buch über die Freiheitskriege sieht man heute mit mehr historischem Auge als einen der vormärzlichen Sturmvögel, wie sie auch Dahlmann damals hervorbrachte, an. Der Yorck war Jahrzehnte hindurch ein nationales Lese- und Erhebungsbuch, aber Wissen und Auffassung von der Reformzeit haben sich seitdem derart bereichert und vertieft, daß die Farben seines Bildes nicht mehr durchweg genügen. Vor der Zyklopenmauer der preußischen Politik, die man früher scheu bewunderte, steht man heute staunend und erschrocken. Ihr Grundgedanke gilt als verfehlt, ihre Lektüre als unmöglich, und nur der Spezialforscher greift noch nach ihr. Eine wahrhaft historiographische Würdigung darf nicht nur fragen, was heute gilt und gewußt wird. Immer, wie in aller Historie, ist die doppelte Frage an das Vergangene zu richten: Wirkt es lebendig auf die Gegenwart fort, und hat es in sich [3 Vgl. unten Droysens
Historik.]
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Lebendigkeit, Wert und Größe, ganz unabhängig von seiner bisherigen Wirkung nah und fern? Droysen selber würde die Aufgabe des Historikers so nicht formuliert haben, und dodi hatte er eine verwandte Grundauffassung. Das Entscheidende ist, daß er sich losmachte von der einseitigen Frage nadi dem Erfolge großer historischer Gebilde und Tendenzen. Gewiß, sie streben nach Erfolg, müssen es tun, um sich ganz auszuleben. Aber wenn sie dabei scheitern, so sind sie nicht etwa abzusetzen in eine Rangklasse tiefer, sondern es ist, wie Droysen meinte, zu fragen, ob sie überhaupt einen »Fortschritt in der Entwicklung« bedeuteten. Und er war kühn genug zu behaupten, daß sehr wohl auch der Weg zum Untergang einmal einen solchen Fortschritt bedeuten könne. Denn er war gepackt von der ruhelosen Dynamik der Geschichte, die zerstört, um aufzubauen, und aufbaut, um zu zerstören. Und er war zugleich erfüllt von dem Pathos des Kämpfers für Ideale, der es nicht darauf ankommen lassen darf, ob er selber, ja ob auch seine Ideen scheitern könnten. Man spürt den Einfluß seines Lehrers Hegel, aber er gab seiner Dynamik einen originellen Zug von Trotz und Verbissenheit. Das alles kam zur Sprache, als er sich 1837 mit F. G. Welcker über Kleon und die seit Thukydides übliche Verurteilung Kleons unterhielt und ihn verteidigte. »Da mag nun jeder nach seiner Weise diese oder der Gegner Partei für sich wählen, aber der Historiker hat doch wohl vor allem dem Fortschritt in der Entwicklung das größte Gewicht zu leihen, u n d f ü h r t d e r s e l b e a u c h , wie in K l e o n s F a l l , g e r a d e w e g s z u m U n t e r g a n g ; nicht Kimon und die beiden Thukydides, sondern Themistokles, Perikles, Alkibiades vertreten die Größe Athens und haben sie geschaffen, und wenigstens in diesem Prinzip ist Kleon.« Die Energieentfaltung einer historischen Idee, so dürfen wir nun interpretieren, ist das erste, die Frage ihres eigenen Erfolges und ihrer Lebensdauer erst das zweite. Fortschritt aber ist Energieentwicklung. Sie mag den Untergang riskieren, aber sie wird in der Regel die Gedanken der Zeit realisieren. »Sie wissen schon«, schrieb er 1834 an F. G. Welcker, »daß idi Verehrer der Bewegung und des Vorwärts bin: Cäsar, nicht Cato, Alexander und nicht Demosthenes ist meine Passion. Alle Tugend und Moralität und Privattrefflidikeit gebe idi gern den Männern der Hem-
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mung hin, die Gedanken der Zeit aber sind nicht bei ihnen. Weder Cato nodi Demosthenes begreifen mehr die Zeit, die Entwicklung, den unaufhaltsamen Fortschritt, und der Historiker, meine idi, hat die Pflicht, diese Gedanken einer Zeit als den Gesichtspunkt zu wählen, um von dort aus das andere alles, denn es gipfelt sich dorthin, zu überschauen. So bin idi für Athen der entschiedenste Demokrat.« Deswegen war er für den Demokraten Kleon. Deswegen aber audi gegen Demosthenes, der nur nodi den Schemen der Demokratie vertrat, für Alexander. Es ist bekannt, daß das Alexander-Buch, das Werk des Fünfundzwanzigjährigen (1833), einen politischen Sinn hatte, ein Symbol dafür war, daß der Zeiger der eigenen Zeit auf die Einigung Deutschlands durch die straffe preußische Militärmonarchie stand. Er hat das schon 1831 als Forderung der Geschichte, »mühevoll, vielleicht blutig und voll Schande« zu verwirklichen, genannt. So hat denn sdion an der Wiege seiner großen Werke sein preußisdi-deutsdies Staatsideal gestanden. Aber Staatsideal und historische Weltanschauung erscheinen hier audi von vornherein als in eins verschmolzen. Die strömende Dynamik seines Geschichtsbildes rechtfertigte auch sein politisches Wünschen und Wollen. Und wer will entscheiden, welcher dieser beiden Gedanken in dem feurigen Jüngling, der einst als Kind von Blüdier aufs Pferd gehoben war, zuerst aufgeleuchtet ist. Sein Alexander-Buch war damals neu durch die Rechtfertigung des monarchisch-militärischen Prinzips, fiel aber in der Wahl des Stoffes aus dem gewohnten Interessenkreise der damaligen Altertumswissenschaft noch nicht heraus. Aber schon vorher hatte er als Student einen Vorstoß gemacht in die bis dahin mißachtete Welt nach Alexander, hatte die griechisch-ägyptische Literatur, die Hermetischen Bücher — sieben bis acht Jahrzehnte vor Reitzenstein! — sich angesehen, über die Berliner Papyri 1830 seinen ersten Aufsatz geschrieben und 1831 mit einer Dissertation über das Lagidenreich unter Ptolemäus VI. promoviert. 1830 schon stand sein Entschluß fest, ein größeres Werk über die Zeit n a c h Alexander zu schreiben. Und 1831 wandte er zum ersten Male das Schlagwort des Hellenismus, das bis dahin nur für die Sprache4 4 Wie Droysen und andere damals meinten, für die Sprache der späteren Zeit der Völkermischung. Laqueur, Hellenismus (Gießener Rektoratsrede 1925), zeigt, daß Hellenismus ursprünglich lediglich Ausdruck
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gebraucht worden war, zur Bezeichnung einer ganzen Kulturwelt und Kulturepoche an — eine geniale Tat des jungen Menschen. Das historische Vakuum, das zwischen der sogenannten griechischen Blütezeit und der römischen Weltreichsbildung bis dahin für das geschichtliche Interesse bestanden hatte, begann sich damit für ihn zu füllen, ein universalhistorisch wichtiges und eigenen individuellen Inhaltes volles Bindeglied zwischen den Zeiten taucht auf. Wilhelm von Humboldt hatte wohl auch schon, wie Welcker seinem jungen Freunde nach Erscheinen des ersten Bandes der »Geschichte des Hellenismus« 1836 mitteilte, geplant, über decline and fall der griechischen Nation zu schreiben. Aber sein Entwurf, den wir noch haben, brachte eben nur den Untergang des Alten, nicht das positiv Neue der hellenistischen Zeit zum Ausdruck. Wie kam nun Droysen zu dieser Entdeckung? Hier kann man nicht mehr wie bei dem Alexanderbuch, den Hebel seines politischen Staatsideals vermuten. Auch der aktivistiscfa-heroische Zug seines historischen Denkens kann als Erklärungsgrund nicht recht ausreichen. Das stürmende Vorwärts in der Entwicklung, das ihn an Themistokles, Alkibiades, Kleon und Alexander entzückte, will als Motiv für sein Interesse an der Kriegführung der Diadochen, so sorgsam er sie auch, einmal in die Arbeit versunken, darstellte, nicht ganz genügen. Und er selber gibt audi, sowohl in seinen Briefen, wie in dem Werke selbst andere Hinweise. »So herzlich liebe ich meine Griechen«, schrieb er 1836 einem Unbekannten, »daß ich ihnen gern in ihr schwaches und versiechendes Alter nachgehen, auch da noch in ihren letzten Atemzügen das kaum vernehmliche Wort, in dem noch ein Nachklang ihres herrlichen Geistes sein mag, von ihren sterbenden Lippen erlauschen möchte.« Damit wäre immer noch kein über den Neuhumanismus Humboldts und über das Klassizitätsideal hinausgehendes Motiv angegeben. Nun aber folgen Worte, die uns den Wegweiser zum Wege, den seine Entdeckung nehmen mußte, geben. »Gott ist zu keiner Zeit unbezeugt geblieben, und die Jahrhunderte, die seiner Gnade und Offenbarung die Stätte bereitet, müssen mehr als nur Verderben, Sünde und Gottlosigkeit für das Gemeingriechisdie im Gegensatz zu den Dialekten und dem Ungriediisdien war.
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enthalten. Das ist mein Wunsch zu erforschen; und auf wie weite Umwege es mich audi führt, diesen Gedanken will idi, so Gott will, festhalten.« Wir blättern zurück zu dem Briefe von 1831 (31. Juli an Arendt), in dem er zum ersten Male vom Hellenismus als einer Kulturwelt sprach. Audi hier sieht man nun plötzlich ein Bogengewölbe vom Griechentum zum Christentum hinübergeschwungen, ja sogar zum Mohammedanismus, darin wieder spätere Forsdiungsfragen antizipierend, weitergeführt. Es lag ihm daran, seinem Freunde die weltgeschichtliche Bedeutung Westasiens, besonders im Verhältnis zum Christentum, darzulegen. »Hier in Westasien«, schrieb er, »findest du später das Griechentum heimisch, und n a t ü r l i c h , wo d a s g e w e s e n , darf das Christentum, darf später der Mohammedanismus nicht f e h l e n . . . Es scheint mir charakteristisch zu sein, daß in den Ländern des Hellenismus, will sagen, des Anthropomorphismus, wesentlich das Christentum nicht über die zweite Person in der Gottheit hinaus kann, sondern in der höchsten Stufe dieser Entwicklung nicht zum heiligen Geist, sondern nur mit Erhöhung zur quantitativen Unendlichkeit zum Gott ist Gott und Mahomet sein Prophet kommt, in Wahrheit zur höchsten Erhebung, wenn man wurzelt in dieser Welt des Fleisches.« Einen Monat später (31. August 1831) verteidigte er bei der Promotion die These, daß die Religion der Griechen der christlichen Lehre näherstünde als tlie der Juden 5 . Er rückte Christentum und Griechentum einander näher, weil für beide sein Herz schlug. Man sieht ein innerstes Gemütsbedürfnis wirken. Die Brücke aber zwischen beiden, die er suchte, konnte nur in den Ländern Westasiens, in den Ländern dessen, was er Hellenismus nannte, liegen. Das, was in diesen Ländern in den Jahrhunderten vor Christus vorging, gewann damit eine neue Dignität. Aber war der Entwicklungszusammenhang, den er damit zwischen Griechentum und Christentum statuierte, ein vollständiger und ein rein empirisch-historisch zu verstehender? Das Eigentümliche ist doch, daß er einen Zusammenhang und eine Zäsur zugleich annahm. Wir hörten ja, daß der Hellenismus aus eigener Kraft nicht zum vollen und ganzen Christentum kommen konnte. Damit leuchtet der Offenbarungsglaube, der über diese Welt des 5
G. Droysen: J. G. Droysen, 1/69.
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Fleisches nadi oben bildet, auf; der Finger Gottes zeigt sich in der Geschichte. Das wird bestätigt durch die grundsätzlichen Urteile im Droysensdien Werke selbst. »Die Vermischung des abendund morgenländischen Wesens«, heißt es in der Vorrede zum ersten Bande, »hat einen unendlichen Reichtum neuer Erscheinungen hervorgerufen, hat in dem Zerstören der alt-nationalen, mit dem heimischen Boden verwachsenen Zustände den Untergang des Heidentums vermittelt, hat in das Leben der Völker jenen Bruch gebracht, aus dem sich das Bedürfnis des Trostes und einer Religion, die über das traurige Hienieden emporhob, entwickeln mußte.« Man beachte nun weiter die eigentümliche Art, wie der positive Inhalt der Zeit angedeutet wird: »Was Jahrhunderte hindurch zu bestehen, neue Formen zu gestalten, Fremdes in den Kreis der eigenen Weise zu ziehen und sich anzuähneln vermag, muß außer der Schwäche auch Kraft enthalten u n d w ä r e es n u r d i e d e s V e r n e i n e n s u n d d e r Z e r s t ö r u n g , des Leidens und der Trägheit, und es kommt darauf an, aus diesem eigensten Prinzip heraus die Geschichte des Hellenismus zu begreifen.« Nodi deutlicher wird dann die Einleitung zum zweiten, 1843 erschienenen Bande. Danach erscheint es als der Sinn der alten Geschichte, daß das naturhafte Sonderleben der einzelnen Völker mit innigster Verschmelzung von Staat und Religion zuerst zu Siegen der höher berufenen, aber immer nodi naturbestimmten Völker über die niederen Völker führte. Aber dabei konnte es nicht bleiben. »Es gilt jene Sonderungen zu ü b e r w i n d e n . . a n die Stelle der nationalen Entwicklung die persönliche und damit die allgemein menschliche zu gewinnen. D a s H ö c h s t e , w a s d a s A l t e r t u m a u s e i g e n e r K r a f t zu e r r e i c h e n v e r m o c h t h a t , i s t d e r U n t e r g a n g d e s H e i d e n t u m s . — Es drängt alles zu diesem Ziel unablässig mit steigender Gewalt hin.« Ihren vollendenden Ausdruck finde dann die Vorstellung der Einen Menschheit, des Einen Reiches, das nicht von dieser Welt ist, in der Erscheinung des Heilandes. » D a s i s t d e r P u n k t , zu d e m h i n d i e E n t w i c k l u n g d e r a l t e n , d e r h e i d n i s c h e n W e l t s t r e b t , von dem aus ihre Ges c h i c h t e b e g r i f f e n w e r d e n muß.« Also die heidnische Welt strebt hin zu einem Ziele, dem sie durch eigene Kraft, nämlidi durch die Kraft der Selbstvernichtung,
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sidi nur nähern kann, das sie erst erreicht durch Gott. »Gottes ewiger Ratschluß«, so heißt es in der damals nur in wenigen Exemplaren gedruckten Vorrede zum zweiten Bande", »hat von Anbeginn an zu diesem Punkte hin die Völker, Juden wie Heiden, geleitet, erzogen und geweiht.« »Die erhabene Aufgabe wissenschaftlichen Strebens ist«, schrieb Droysen 1836 an Perthes, »von dem endlichen und menschlichen Standpunkt aus uns dem zu nähern, was uns die Lehre Christi als Wahrheit geoffenbart hat. Und näher: Der Historiker ist nicht imstande, bis ins einzelne hinein die Notwendigkeit des Geschehens zu begreifen . . . , aber wir g l a u b e n , daß in allem bis auf das Kleinste hin die ewige Führung Gottes mächtig und sorglich ist.« Es kann kein Zweifel mehr sein: Mag Droysens ursprüngliches Interesse an der hellenistischen Zeit audi die ausdauernde, bis zum Letzten treue Liebe für das sterbende Griechentum gewesen sein, zu der großartigen welthistorischen Entdeckung ihres eigenen, neuen und großen Gehaltes und ihrer Mittlermission zwischen Antike und christlich-abendländischer Welt kam er als gläubiger Christ7 — wohlgemerkt, nicht als orthodoxer Christ; das wies er von sich, aber als ein im Sinne etwa des späteren Sdileiermadber gläubiger Christ. Aber die alte Idee des christlichen Heilsplans, die in mannigfachen Säkularisierungen schon die Anfänge des deutschen Historismus von Herder bis Fichte und Hegel mitbestimmt hatte, bricht hier noch einmal, sogar in christlicher Reinheit, durch. Dem beginnenden Historismus mußten mancherlei Dinge zum besten dienen, die er später, Stüde für Stück, wie ein entbehrlich gewordenes Baugerüste, wieder abtragen konnte. Viel gefährlicher als der christliche Gottesglaube in der Form, in der Droysen ihn hegte, war damals für die reine historische Forschung und Erkenntnis die spekulative Methode der großen idealistischen Philosophie. Gewiß hat Droysen, wie 8 E r nannte sie charakteristisch »Theologie der Geschichte«. Wiederabgedruckt in den Kl. Schriften Droysens I (1893) und dem Rothackersdien Neudruck des Grundrisses der Historik. 7 Laqueur, a. a. O., hat dies bereits erkannt. Aber es muß jetzt nodi stärker betont werden, als er es tut. Die Nuancen und Wandlungen im Begriffe des Hellenismus, die er bei Droysen noch feststellt (mehr griechisch im Alexander-Budhe, griechisch-orientalisch in der Geschichte des Hellenismus) können hier ebenso beiseite gelassen werden wie die weiteren Wandlungen in der Auffassung des Hellenismus überhaupt.
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wir schon andeuteten, von Hegel viel gelernt. Aber die Überhebung der philosophierenden Subjektivität und die Vergewaltigung der Wirklichkeit durch sie stießen ihn ab. Das Wirkliche in seinem Eigenwerte begann die jungen Geister zu beschäftigen. Es ist denkwürdig, daß Droysen noch bei Lebzeiten seines Lehrers sich mit aufquellendem Generationsbewußtsein von ihm und Fichte abkehrte. »Sieh die Philosophen seit der Revolution«, schrieb er am 28. Mai 1831, »sie bemühen sich, irgendeinen Zusammenhang des Ich zur Welt zu wissen oder kritisch zu ergründen, dann phantastisch sich im Zusammenhange der Welt zu wissen, dann in schneidender Schärfe sich über ihm und als dessen Basis und Spitze zu begreifen... Man muß beginnen, ephemer und empirice zu leben, zu denken, zu hoffen und zu verzweifeln.« Empirisch zu forschen und an Gottes Leitung der Geschichte zu glauben, war und blieb bis zuletzt, wie die Briefe beweisen, der Wille Droysens. Es war bei Ranke nicht anders. Gerade der Gottesglaube in der lutherischen, aber von Orthodoxie befreiten Form, in der ihn beide in sich aufnahmen, stimmte sie enthaltsam und beßcheiden gegenüber der abgründigen Unerforschlichkeit des göttlichen Willens, befähigte sie, dem neuen realistischinduktiven Zuge der Geister sich hinzugeben, nicht mit der überheblichen Meinung des späteren Positivismus, durch Empirie und Methode das Ziel des Wissens zu erreichen, aber mit dem sicheren Tröste einer Auflösung aller Welt- und Forschungsrätsel in Gott und mit der inneren Berufsfreudigkeit im strengen Forschen, die lutherischer Art entsprach. So gilt also auch von Droysen, was ich von Ranke früher zu sagen gewagt habe, daß sein Glaube an den persönlichen Gott seiner Wissenschaftlichkeit zustatten kam (Idee der Staatsräson, S. 471 [ = Werke I 444]). Diese Symbiose von Glauben und Wissenschaft trat bei den beiden hinzu zu jener Symbiose von Politik und Wissenschaft, von der wir ausgingen, und vervollständigte die Gunst der Konstellation, unter der sie schufen. Eine kleine Einschränkung ist j a wohl zu machen. Droysen gab in seiner großen Konstruktion der alten Geschichte und ihrer Konvergenz auf das Christentum dem spekulativen Verfahren, von dem er sich grundsätzlich freimachen wollte, stärker nach, als das Ranke in seiner späteren weltgeschichtlichen Deutung des Christentums getan hat. Die letzte Probe aufs Exempel, wie weit
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er rein empirisdi-historisdi den Hellenismus als Vorstufe des Christentums zu begreifen imstande war, hätte er zu liefern gehabt, wenn er sein Werk bis zu diesem durdigeführt hätte. Jedenfalls reizte ihn, als er die Vorarbeiten zum zweiten Bande begann (1837), gleich die Zeit um Christi Geburt. Er warf sidi auf die »wenn man so sagen darf ethnische Literatur«, die Hermetischen Schriften. Er wollte gerade »diese obskuren Äußerungen des barbarischen Aberglaubens und Hochmutes kennenlernen«. Aber er gestand, daß er keinen Ariadnefaden in ihnen fände. ErstReitzenstein war es, in ganz verwandelter geistiger Luft, beschieden, einen solchen zu finden. Und sdiließlidi ist auch ein Blick auf eine andere Region des Droysenschen Denkens noch einmal nötig, um den W e g ganz zu erkennen, den seine Entdeckung des Hellenismus nahm. W i r sagten, daß der aktivistisch-heroische Zug in seinem Bilde von historischer Dynamik nicht recht ausreicht, um sein besonderes Interesse an den Kämpfen der hellenistischen Zeit verständlich zu machen. Und doch lassen die angeführten Stellen aus seinem Werke auch einen Zug von eigenster Droysenscher Dynamik erkennen. Auch die Kraft des Verneinens und der Zerstörung ist eine Kraft und kann einen Fortschritt der Entwicklung bedeuten. Auch der Untergang in eigener Kraftentwicklung ist eine Tat, sogar die höchste, die dem Heidentum beschieden war. Das ist ein gewaltiges historisches Pathos und hilft seine hellenistische Konzeption zu begreifen, hilft weiter auch den Bruch zu verstehen, den er dadurch mit der Konvention und dem Klassizitätsideal der Philologen vornahm. Sein großer Lehrer Boeckh hatte ihm in der historisierenden Behandlung der Antike wohl schon vorgearbeitet, aber er ging weiter. Von der Philologie konnte er 1843 sagen, daß wohl keine Disziplin der Gefahr des geschäftigen Müßigganges näher sei als sie. Als er gleichzeitig für seine Freunde die Vorrede zum zweiten Bande schrieb, schlug er etwas mildere Töne an und erkannte die Pflicht an, die Ideale des klassischen Altertums auch als Ideale und vor allem in der Jugendbildung hochzuhalten. »Aber ebenso gewiß ist das ewig irrationale Verhalten der empirischen Wirklichkeiten zu jenen (Idealen), eben die Unruhe, die Lebendigkeit, das stete Weiterdrängen alles menschlichen Daseins, das in der Fülle seiner Bewegungen zu verfolgen der Geschichte obliegt.« Darum konnte er großartig
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Leben und Tod, Bewegung und Untergang in eins sehen und dem wilden Kleon, der die athenische Demokratie in den Untergang führte, heftig applaudieren; er würde es audi wohl einem Ludendorff getan haben. Sein historisches Pathos war audi sein politisches Pathos. Von diesen Gedanken aus fällt ein Licht auf seine preußische Politik, auf die grimmigeEntschlossenheit, mit der er später (1855) seinem preußischen Staate den Schicksalsgang durch die »allerheillosesten Dinge«, durchs Fegefeuer, auf die Schlachtbank, in ein zweites 1806 prophezeien konnte, mit der er 1861 für den Fall eines Krieges mit Frankreich selbst das linke Rheinufer und noch mehr verlorengehen lassen wollte — »wenn es mit Kampf und mit Ehren geschieht, rettet man in dem Rest Preußens und Deutschlands die Kraft, sich zu ermannen«. Damit gewinnen wir nun audi den Schlüssel zum Verständnis der preußisch-nationalen Gruppe seiner Werke. IV Übersieht man die Entwicklung seiner nationalgesdiiditlidien Konzeptionen und Werke, so werden diese, die Werke, wohl immer gewaltiger und massiger durch ihr zunehmendes archivalisches Quaderwerk, aber die Konzeptionen selbst, die Grundgedanken und -absiebten, gleichen umgekehrt einer Pyramide, die weit ausladend beginnt, immer spitzer wird und schließlich im abstrakten Punkte endigt. Und doch lebt die breite Basis auch im Punkte weiter, werden die weiterreichenden Konzeptionen der früheren Zeit nicht vergessen und brechen, zwar nicht in der Ausführung des streng gegipfelten Werkes selbst, aber in begleitenden Altersbekenntnissen ergreifend durch. Und wiederum ist der Keim zu den späteren Einseitigkeiten und Zuspitzungen schon in der frühen Zeit sichtbar. Dieser Feuerkopf hatte etwas Inkommensurables und blieb auch in der straffsten Zusammendrängung, zu der sein preußisch-sittlicher Charakter ihn zwang, geistig immer vulkanisch und eruptiv. Noch während der Arbeit am zweiten Bande des Hellenismus packte ihn bei den Vorlesungen, die er 1841 in Kiel über neuere Geschichte zu halten hatte, das »volle, buntbewegte, luftnähere« Leben der neueren Zeiten. »Ich bin eigentlich ein rechter Narr
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gewesen, daß idi midi an das alberne, abgebröckelte Altertum gemacht habe.« Indem er aber dann dodi wieder Feuer an ihm fing, gestand er seine »unselige Unfähigkeit« ein, »anders als mit krasser Gewaltsamkeit midi zu interessieren«. So kraß gewaltsam sah audi schon sein erster Plan zu einem neugesdiichtlidien Werke aus. »Meine alte Neigung ist«, schrieb er schon im Dezember 1840, »Geschichte Deutschlands seit dem Westfälischen Frieden. Pfui, sagst du. Darum eben, antworte ich. Ich möchte, die das Unheil verschuldet haben, ideellerweise bei ihren Gedärmen historisch aufhängen. Idi könnte das Buch dann auch Schandbuch oder Pranger nennen.« Aber Meister Badi sollte eine Ehrensäule in diesem Buche erhalten. Droysen wußte, was die Kunst der Musik im deutschen Gesamtleben bedeutete. Von hier aus begriff er, der später für die katholische Welt nicht immer ein unbefangenes Verständnis mehr zeigte, damals audi ihren Beitrag zur neueren deutschen Kultur. Wir verdanken dem katholischen Deutschland, schrieb er 1844, die große Entwicklung der Musik seit den beiden Haydns. Von der Schönheitswelt des süddeutschen Barock konnte er nodi nichts wissen. Jedenfalls aber mußte auch die Literatur mit der Kunst in das Geschichtsbild der neuen Zeit hinein. »Man muß einmal von der Historie aus Ernst damit machen, in diesen Gestaltungen beiden ihr inneres und höheres Leben zu betrachten und in ihnen die Beantwortung für eine Menge von Fragen zu suchen, die auf dem Felde der politischen Bewegungen rein unbegreiflich bleiben.« Und nicht nur sie, sondern auch die sozialen und rechtlichen Verhältnisse verlangten, fuhr er fort, stete Beachtung. Und schließlich durfte es auch nicht bei einer, wenn audi in sich noch so reich ausgestatteten Geschichte eines Staats- und Volkstums verbleiben. Schon als universalhistorischer Geschichtsschreiber des Hellenismus durfte er seine dort gestellten Fragen nicht bei der Übertragung seiner Methode auf die neuere Geschichte vergessen, mochte er hier auch auf Widerspruch bei Fachgenossen stoßen. »Nach meinem Dafürhalten«, schrieb er 1845 an Max Duncker, »fordert die Wissenschaft der Geschichte auch für die einzelnen Zeitalter, Völker, Entwicklungen eine allgemeine, eine weltgeschichtliche Betrachtung. Mein Kollege Waitz freilich zankt einigermaßen dagegen, aber in der Geschichte ist nodi weniger wie in der Natur ein relativ in sich beruhendes Einzelnes.
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Erst im Gesamtverlauf und in der Gesamtaufgabe, die sidi in der Geschichte eben nicht verbirgt, gewinnt jedes Besondere seine redite Bedeutung.« Man sieht abermals, daß er von Hegel gelernt hat. In der Waitzschen Isolierung der einzelnen Volkstümer wirkte die romantische und von der historischen Rechtsschule einseitig fortgebildete Lehre vom Volksgeiste, den man nur gründlich zu studieren habe, um über alles, was in diesem Volke geworden sei, Auskunft zu erhalten. Aus der politisch angewandten und mißbrauchten Romantik aber stammte auch die abschätzige Gesamtzensur über die neuere Geschichte, als sei sie, im großen gesehen, nur die Auflösung und Verderbung einer alten besseren Ordnung. Auch mit diesem Verdikt gedachte Droysen, der schon beim Hellenismus die Konvention der Philologen, als sei er nur eine Verfallsepoche, zerbrochen hatte, abzurechnen. Und auch das politische, das preußische Blut wallte in ihm auf, wenn er an den Aufschwung der Befreiungskriege dachte. »Ich langweile mich«, schrieb er 1845, »an der ewig negativen Fassung der neuesten Zeit, als sei sie die Geschichte der Revolution, der Zerstörung, da sie doch die der Befreiung ist.« So entstand an Stelle der zuerst geplanten, als national-politisches Strafgericht gedachten Deutschen Geschichte seit 1648 durch ein Zusammenwirken politischer, kultur- und universalgeschichtlicher Impulse 1846 das in Vorlesungen des Winters 1842/43 zuerst entworfene Werk über das Zeitalter der Freiheitskriege. Das ganze alte und neue Europa mit seinen Staatsgedanken und seinem Staatensystem, mit seinem Handel, seinen Finanzen und Kolonien, mit seiner Bildung und Literatur und Kunst wurde gezeigt, und Bach erhielt hier die ihm zugedachte Ehrensäule als »rechter Wunderbau des lutherischen Wesens«. Die Einzelheiten des bedeutenden Werkes sind durch die emsige Forschung von acht Jahrzehnten selbstverständlich weit überholt worden. Aber es leistete im Gesamtplane und in Auswahl wie Ausdehnung des Stoffes etwas, was seither von der großen Geschichtsschreibung, soweit ich sehe, nie wieder geleistet worden ist. Er gab eine gesamtabendländische Geschichte des Revolutionszeitalters, zeigte den gemeinsamen, aber in sich reich differenzierten Unterbau des alten Europa und spannte nun die drei großen Freiheitsbewegungen Nordamerikas, Frankreichs und
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Preußen-Deuts Alands in einen einzigen universalen Rahmen. Freiheit aber bedeutete ihm in erster Linie Staatserneuerung. Vollkommen richtig, denn das war das gemeinsame Problem, das den europäischen Völkern am Ende des 18. Jahrhunderts gestellt war. Aber bei der Wesensbestimmung dieser Staatserneuerung beginnen Droysens und die modernen Wege historischer Auffassung sich leise zu scheiden. Zwei Fragen stellte er, die uns heute noch genauso bewegen wie ihn damals (2, 360 ff., 2. Auflage 2, 257 f.). Einmal: Ist es die Aufgabe des Staates, Macht zu sein? Ist das der Lebensinhalt der Völker, Gewalt zu üben oder zu leiden? Und dagegen aber: Heißt es nicht alles Höchste und Herrlichste der Vergangenheiten preisgeben, wenn man den Ruhm der Gewaltigen und die Größe der Völker mit dem engherzigen Maßstab privater Tugend abmißt? Aber seine Antwort darauf war eine hochcharakteristische Verbindung streng historischen und absolutierenden, teleologischen Denkens. Es ist nicht möglich, sagte er, daß die höchste sittliche Ordnung, in der der Mensch zu leben hat, andere Aufgaben, Normen und Grundlagen als die der Gerechtigkeit, der Freiheit, des Friedens, andere als sittliche könne haben wollen und andere Machtmittel benutzen könne als die solchen Aufgaben entsprechenden. In der Wirklichkeit freilich trete das w a h r e W e s e n des Staates nur tausendfach entstellt oder entartet, unentwickelt oder verpuppt in die Erscheinung. Aber historisierend und teleologisch zugleich fügte er hinzu, daß jede dieser Formen im Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit ihre Stelle und ihre Rechtfertigung habe. »Wenn aber einmal der Staat nach dieser seiner sittlichen Natur erkannt und von dieser Erkenntnis bedingt ist — u n d e b e n d a s i s t es, w a s d a s Z e i t a l t e r d e r F r e i h e i t s k r i e g e b e g o n n e n h a t —, dann erst mit Bewußtsein, ja dann um so mehr wird er auch seine geschichtliche Bedeutung erfassen und erfüllen«, das heißt eben, er wird sittlich werden, was natürlich auch den Willen einschließt, ihn, wenn er in Gefahr ist, durch Opfer zu retten. Das also, was sein soll und was auch heute nach unserem Wunsche sein sollte, wird von ihm gläubig als ein wirklich schon Werdendes aufgefaßt. Die schwere Frage, ob nicht die elementaren Naturgrundlagen des Staates und der Menschen eine volle und dauernde Versittlichung des Staates dauernd verhindern
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werden, wird nicht gestellt. U n d das Zeitalter der Freiheitskriege wird als der Beginn eines goldenen Zeitalters des Staates überhaupt gedacht. Die geschichtliche Entwicklung des Staates hat also ein deutliches Telos von absolutem Werte. Weiter und höher geht es nicht, aber es geht auch wirklich bis dahin. Es handelt sich nicht nur, wie wir heute sagen möchten, um einen unendlichen, ebenso wie das Streben nach W a h r h e i t letztlich unerfüllbaren Exzelsiordrang, den nur der müde und ungläubig gewordene Mensch als Sisyphusarbeit diffamiert. Sondern bereits inmitten der wild bewegten empirischen Wirklichkeit der Geschichte gibt es erreichbare Höhepunkte erfüllter Ideale. Der sittliche Staat ist zwar noch nicht ganz erreicht, aber man kann zum Gipfel jetzt emporsteigen. Das geoffenbarte Christentum aber w a r und ist schon ein erreichter absoluter W e r t , wie wir hörten. Der Konstruktion der alten Geschichte mit ihrer teleologischen Konvergenz auf das Christentum sehen wir nun eine ebenso teleologische Konstruktion der modernen Staatsentwicklung zur Seite treten. »Mein alter unvergeßlicher Hegel«, meinte er 1846, »hat wohl nie mich mehr als zu den άυρσοφόροι gezählt.« Aber der abtrünnige, empirisch gewordene Schüler Hegels hatte auch die spekulativen Lehren des Meisters nicht ganz vergessen. *
W i r versagen es uns, zu untersuchen, wie in den heißen politischen Kämpfen Droysens seit 1848 sein sittlicher Staatsgedanke mit dem Machtstaatsgedanken ringen und sich mehr und m e h r verschmelzen mußte 8 , und verfolgen den Faden seiner nationalpolitischen Geschichtsschreibung weiter. E r stand nach Abschluß der »Freiheitskriege« vor der W a h l zwischen zwei W e g e n , und alles, was ihn f r ü h und spät von historischen Erkenntniszielen erfüllte, gärte in ihm auf, um schließlich in einer straffen u n d begrenzten Leistung sich zu konzentrieren. »Es schwebt m i r so etwas«, schrieb er im September 1846, »von einem großen und klaren Plane vor, wovon ich schon seit J a h r e n träume: noch viel ruhiger, massiger, gediegener zusammengehalten als meine V o r 8 Vgl. R. Hübner, J. G. Droysens Vorlesungen über Politik. Zeitschrift für Politik 10 (1917), S. 346ff.
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lesungen, audi tiefer in die Spekulation hinab, etwas von Theodizeenstil usw.« In den Vorlesungen über die Freiheitskriege hatte er sehr energisch und wegweisend in die Wirtsdiafts- und Finanzgeschichte vorgestoßen, mit der Bank von England und den Métalliques der Französischen Revolution sich herumgeschlagen, aber mit heimlichem Grauen davor. »Es ist mit diesen Dingen wie mit den Virtuositäten überhaupt; sie machen erstaunen, bis man sieht, sie sind erlernbar; dann kann eine Drehorgel noch geschwinder fingern und ein Daguerrotyp nodi fixer konterfeien; aber es gibt ein Etwas, welches man den Geist zu benennen beliebt, und das ist es am Ende, worauf es ankommt, wenn man selber ein Genüge will und wieder Geist wecken will. Darum habe ich midi naTatsadiendie Geschichte« in den aufgefangenen Regentropfen, in den Urkunden und den Quellen und wie das Zeug weiter heißt, finden und werden bloß langweilig, rechthaberisch und immer konfuser.«
V Diese Worte der Leidenschaft und Sehnsucht, des Unmutes und Aufschwungs führen schon in das Herz seiner Historik, der dritten seiner großen Konzeptionen, über die man aus den Briefen etwas Neues erfährt. Droysens Beginnen, das vielumstrittene und immer wieder ins Schwanken geratene Wesen der Geschichtsschreibung zu festigen und zu klären und eine philosophisch haltbare Theorie ihrer Methoden, Aufgaben und Leistungsfähigkeit zu schaffen, wird heute mehr und mehr als eine epochemachende Tat anerkannt. Sie war längere Zeit über einer breiteren und für den Durchschnittsgeschmack bequemeren Ausführung seiner Absicht etwas vergessen worden. Ich erinnere mich nodi, wie Simmel vor etwa zwanzig Jahren betroffen aufhorchte, als ich ihn auf einen Droysenschen Gedanken, der seinen eigenen geschichtsphilosophischen Intentionen entsprach, aufmerksam machte, wie Ernst Troeltsch während des Krieges mir freudig erstaunt mitteilte, was er soeben in Droysens Historik für Schätze gefunden habe. Daß der ganze Aufbau der neueren Historiologie — so könnte man sie vielleicht nennen, weil der Ausdrude Geschichtsphilosophie zu vieldeutig, der Ausdruck Geschichtslogik zu mager ist — von Dilthey, Windelband und Rickert an bis zu Spranger und Rothacker mit Droysens Gedanken unmittelbar oder tatsächlich zusammenhängt, ist hier nur eben anzudeuten. Auch Droysens große Leistung besteht nicht in der Aussprache ganz neuer Grundgedanken, sondern, wie er es selbst in der »Historik« sagt, in der Wiederbegehung des Weges, den Wilhelm von Humboldt, der »Bacon für die Geschichtswissenschaft«, erschlossen
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habe. Diesen Zusammenhang Droysens mit Humboldt, ferner mit Schleiermacher und erst in zweiter Linie und bei wesentlichen Abweichungen audi mit Hegel hat kürzlich Ernst Meister (Historische Viertel jahressdirift 23) klar auseinandergesetzt. Aber weder ist Droysen bei Humboldt einfach stehengeblieben, nodi ist die moderne Historik eine einfache Erneuerung Droysens. Jede der drei Etappen ist, trotz der Befruchtung der späteren durch die früheren, ein originelles Gebilde, in dem die spontanen und ursprünglichen Antriebe der Geister mit Vergangenheit und Umwelt sich auseinandersetzen, Verwandtes an sich ziehen, Feindliches bekämpfen und zu widerlegen suchen, um jedesmal die schöpferische Selbständigkeit des Geistigen im Menschen innerhalb des Kausalmechanismus der Natur als Grundposition des historischen Denkens zu behaupten. Verschieden ist also jedesmal die geistige Umwelt, verschieden die freundlichen oder feindlichen Elemente aus dieser, die jedesmal verarbeitet werden, verschieden danach die Ausprägung des gemeinsamen Grundgedankens. Auf allen drei Stufen wird die Forderung, empirisch nüchtern die Kausalitäten zu erforschen, vereint mit der Anerkennung der Tatsache, daß es Dinge in der Geschichte gibt, ja daß es die höchsten und entscheidenden Dinge in der Geschichte sind, die in gewöhnlicher Kausalität nicht aufgehen, sondern einen metaphysischen Hintergrund haben. Aber die Dosierung empirischer und metaphysischer Elemente in der Gesdiichtsauffasung verschiebt sich stetig. Droysen ist schon empirischer gestimmt als Humboldt, die neuere Historik ist es noch mehr als Droysen, aber ohne deshalb in die Gefahr zu geraten, in reinem Empirismus zu enden. Das alles kann hier nicht im einzelnen erörtert werden, sondern unsere Frage ist hier: Wie ist Droysen auf den Gedanken gekommen, die in seiner Geschichtsschreibung lebenden, bereits praktisch angewandten Gedanken in einer Theorie der Historik zusammenzufassen? Jeder große Geschichtsschreiber, Ranke voran, hat seine ungeschriebene, nur praktisch angewandte Historik und hat in der Genugtuung des Schaffens selten das Bedürfnis, anders als durdi gelegentliche Bekenntnisse den inneren logischen Zusammenhang seiner Prinzipien sich klarzumachen. Der Himmel muß, wenn er mehr darüber hinaus tut, bewölkt sein, die schaffende Arbeit des Geschichtsschreibers muß Gefahren aufsteigen sehen, die, sei es seiner Wissenschaft im besonderen, sei
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es dem ganzen geistigen, und vielleicht nicht nur diesem, sondern dem ganzen geschichtlichen Leben überhaupt drohen; oder er muß, wie etwa Lamprecht, den Glauben haben, etwas ganz Neues zu sagen, und die Wissenschaft für dieses gewinnen wollen. Alle diese Motive haben zu Droysens Entschluß, eine Historik zu versuchen, mitgewirkt, aber in sehr eigentümlicher Weise, nämlich nacheinander und so, daß bald das eine, bald das andere mehr hervortrat. In drei Etappen entwickelte sich sein Entschluß, und die Geschichte dieses Entschlusses war ein Stück von allgemeiner Geistesgeschichte. Zum ersten Male forderte er eine »Historik, eine Wissenschaftslehre der Geschichte« 1843 in der nur für die Freunde gedruckten Vorrede zum zweiten Bande des Hellenismus. Er hatte neue Wege in der Wissenschaft beschritten, hatte einer Periode, die bisher allgemein als Verfallsperiode gegolten hatte, einen positiven Inhalt und Wert gegeben, ohne leugnen zu wollen, daß sie audi Verfallserscheinungen aufwies. Damit brach er mit der Konvention, die in der Geschichte schematisch Blüte- und Verfallszeiten unterschied. Der unendliche und irrationale Strom des Werdens verlangte andere Maßstäbe. Sofort wurde er sich seines Gegensatzes zur romantischen Volksgeistdoktrin bewußt, die nur den Lebenslauf naturbestimmter Volkstümer in Blüte und Verfall kannte. Und sofort lehnte sich auch sein politisches Gewissen dagegen auf. Am Schluß der Geschichte des Hellenismus heißt es (2, 582), daß es keine Theorie gebe, die hemmender auf die Erkenntnis der Geschichte, störender in die Entwicklung der Gegenwart einwirke als die Lehre, daß die Geschichte jedes Volkes ein organisches, das in ihm Liegende hinausgestaltendes Leben sei. Aus demselben Lager der politischen Romantik kam die Klage über den Eudämonismus der Moderne, der die organischen Werte der Vergangenheit zerstöre. Droysen fühlte sich abermals als Ketzer, weil er zu dem positiven Inhalte der hellenistischen Zeit gerade die eudämonistische Pflege der materiellen Interessen gerechnet hatte. Dieses Problem reichte über das rein Historische in das Gebiet der Ethik hinein. Nimmermehr, meinte er kühn und revolutionär, werden wir es zu einer höheren christlichen Moral bringen, wenn nicht auch dem Eudämonismus sein Recht werde; mahne doch das Wort des Apostels, dem Fleisch seine Ehre zu geben.
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Fragen dieser Art also, in denen der wachsende Historismus durch bisherige Hemmungen hindurdibrach, waren es, die in ihm 1843 das Bedürfnis nach einer Historik weckten. Diese erst könne sie, meinte er, mit der vollen Kraft des Beweises beantworten, und ein neuer Kant täte dafür not. Audi die Rechtfertigung seiner historischen Denkweise sowohl gegen Hegels logistisdie Behandlung der Geschichte wie gegen das Klassizitätsideal der Philologen stand ihm als Aufgabe der Historik vor Augen. Der reine Historiker — freilich doch nicht ganz rein dabei, weil auch politisches Wollen mitwirkte — rief den Systematiker zu Hilfe, um weiterzukommen. Vielleicht überschätzte er in diesem Falle die Kraft des Systems, denn der Historismus, den er vertrat, hat, um durchzudringen, dessen nie bedurft. Er hat ohne den künstlidien Stauweiher des großen Systems schließlich das allgemeine Denken befruchtet, indem er allenthalben durchsickerte. Aber prophetisch war es, wenn Droysen sagte, »daß der tiefer erfaßte Begriff der Geschichte der Gravitationspunkt sein wird, in dem jetzt das wüste Schwanken der Geisteswissenschaften Stetigkeit und die Möglichkeit weiteren Fortschritts zu gewinnen hat«. Und nun die zweite Etappe seiner Konzeption. Er dachte in noch stärkerem Grade als zuvor nicht nur an die Wissenschaft, sondern an das ganze geistige und öffentliche Leben seiner Zeit, als er im Februar 1852 zum ersten Male die Absicht aussprach, über Methodologie und Enzyklopädie der historischen Wissenschaft zu lesen. Dieser Entschluß hängt zusammen mit der Katastrophe, die 1850 durch Olmütz über die Nationalpartei hereinbrach, mit der siegenden Reaktion in Preußen, mit allen geistigen wie politischen Gefahren, die nun aufstiegen, letzten Endes mit der allgemeinen Wendung im europäischen Geistesleben zum Positivismus und Materialismus, die Droysen, wiederum im Zusammenhange mit einem politischen Ereignis, mit dem Staatsstreiche Napoleons III. vom 2. Dezember 1851, kommen sah. Das ist die überraschende und bedeutsame Lehre seiner Briefe. Staatsideal und historisch-idealistische Weltanschauung wirkten wieder einmal polar zusammen. Der Abwehrkampf aber, für den die Historik jetzt Waffe werden sollte, hatte, wie man schon ahnen kann, nunmehr unmittelbar eine doppelte Front, einmal gegen alles, was mit der preußischen Reaktion zusammenhing, und dann gegen den eindringenden westeuropäischen Positivismus. Von
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dieser doppelten Front aus werden audi gewisse, zunächst rein theoretisch anmutende Züge seiner Historik erst ganz verständlich. Es werden dann sogar nodi weitere Fronten sich wieder ergeben. Beginnen wir mit einigen Sätzen aus seinem Briefe an Th. v. Schön vom 1. Februar 1852. Eben hatte er die Marwitzschen Memoiren, deren reaktionärer Inhalt durch die von ihm schon durchschauten Fälschungen des Herausgebers Marcus Niebuhr noch outriert worden war, gelesen. »Diese geflissentliche und rohe Abkehr von dem, was nach 1807 als ein wesentliches Moment der Rettung erkannt und betätigt wurde, diese fredistolze Gedankenarmut, die bereits zum Stil der dominierenden Clique gehört, macht mir schwere Sorge. Der krasse Positivismus findet in dem Gang der deutschen Wissenschaften selbst leider große Unterstützung. Die glänzenden Resultate, welche die physikalische Methode, die der Waage und des Mikroskopes, die mit ihrem Recht materialistische, in den ihr zukommenden Bereichen gewonnen hat, versuchten mit größtem Erfolg die anderen Disziplinen.« Ob und was er von Comte, dessen Cours de philosophie positive seit 1830 bekannt wurde und dessen Système de politique positive 1851 zu erscheinen begonnen hatte, damals schon gelesen hatte, erfährt man nicht; denn von Comte sprach er erst später in den sechziger Jahren (vgl. Grundriß 3, 48). Es waren, wie die folgenden Zeilen erkennen lassen, Beobachtungen im höheren Schulunterricht Thüringens, die ihm die Sorge erregten, daß das, was er Positivismus oder polytechnischen Geist nannte, den Unterricht in den alten Sprachen und in der Geschichte überfluten und das heranwachsende Geschlecht schädigen werde. »Schon merkt man, wie daraus ein aberwitziges und altkluges, ein intellektuell überreiztes und an Willensstärke, Pflichtgefühl und höherer Geisteszucht verkommenes Geschlecht wird, voll Eitelkeit, Selbstsucht und Lüsternheit, ohne Strenge, ohne Idee und Ideal.« Er sah die Regierenden diesen traurigen Prinzipien verfallen, die Philosophie durch die Hegelsdie Schule zerrüttet, bis zum Feuerbadischen Wahnwitz getrieben, »der methodisch und ethisch jener polytechnischen Richtung völlig entspricht«, die deutsche und preußisch-evangelische Richtung in Geschichte und Politik aber durch die Ereignisse seit 1850 Lügen gestraft. Die schmerzlichen Niederlagen der preußischen Politik seien noch nicht einmal die
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Hauptsache. »Aber diese tiefe, bis in die letzten Wurzeln zerstörende und vergiftende Umwandlung der Gedanken, in denen Preußens Hoheit und Beruf bestand, raubt mir die Hoffnung, die idi lange festgehalten habe.« Am 13. Februar 1852 in einem Briefe an Sybel heißt es dann: »Schon glaubt niemand mehr an die idealen Mächte, und die napoleonisdie Polytechnik mischt sich in die deutsche Wissenschaft ein. Ad vocem. Um gegen diese hier überhandnehmende Richtung — unsere weisesten Männer in Jena lehren bereits, daß nur Mikroskop und Waage Wissenschaft sei — anzukommen, werde idi im Sommer »Methodologie und Enzyklopädie der historischen Wissenschaft lesen.« Man konnte nicht großartiger Kleines und Großes, Nahes und Fernes zusammenschauen, nidit schärfer die Wetterscheide erkennen, die die Mitte des Jahrhunderts in jeder Hinsicht bedeutete. Man könnte fragen, ob er in dieser Zusammensdiau, in dem Versuche, den Geist der preußischen Reaktion mit dem Geiste des Positivismus auf einen Generalnenner zu bringen, nicht etwa zu weit gegangen sei. Das doch audi idealistische Pathos der Stahl und Gerlachs hat er nie redit anerkennen und verstehen können. Aber audi die Gerlachs klagten bekanntlich über den in Preußen seit 1850 eindringenden westeuropäisch-bonapartistisdien Geist. Damals, 1852, blieb es bei der Absidit, die neue Vorlesung zu halten. Die Gedanken mußten erst langsam ausreifen, ehe er den dritten und entscheidenden Anlauf wagte. Auch als er es im Sommer 1857 wirklich zum ersten Male versuchte, nannte er es immer noch einen tollkühnen Entschluß. Die besonderen wissenschaftlichen Gesichtspunkte setzten sich nun wieder stärker durch. Die analoge Vorlesung der Philologen über Enzyklopädie und Methodologie ihrer Wissenschaft, die er einst bei Boedch gehört und als folgenreich für den philologischen Betrieb kennengelernt hatte, stand ihm vor Augen. Ferner aber auch sein alter Gegensatz zu Ranke. Das sehr merkwürdige Verhältnis Droysens zu Ranke, schon von Diether einmal gut beleuchtet, bedürfte einer besonderen, über den Rahmen dieses Aufsatzes hinausgehenden Untersuchung; deshalb hier nur wenige Andeutungen. Droysen stand von vornherein kühl zu Ranke, was vielleicht auch persönliche Ursachen hatte. Die Größe seiner geistigen Leistung hat Droysen allmählich achten gelernt, aber zwei Dinge wollte er ihm
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nie verzeihen, einmal den Mangel an ethischem Wollen, die Fernhaltung von den großen Lebensfragen der Nation, die höfische Leisetreterei und dann den einseitig auf Quellenkritik und Tatsadienermittlung gerichteten Schulbetrieb. Der erste Vorwurf verkannte das Eigenrecht des Rankeschen Genius. Der zweite Vorwurf traf eine tiefere Differenz der Methode. Droysen sah skeptisch auf Rankes Vorhaben, zu zeigen, »wie es eigentlich gewesen«, und auf sein Streben nach Objektivität. »Der Ausdruck objektiv«, sagte er im Kolleg, »ist eine contradictio in adjecto, denn wir haben nur ein Bild von dem Realen, und ein Bild ist niemals objektiv.« Diese Skepsis hing merkwürdigerweise wieder mit seinem stärkeren ethischen Wollen zusammen. Er schätzte große Willensstärke allein schon als sittlichen Wert und wußte, daß es der Wille ist, der die Auffassungen formt. Durch diese starke Betonung des subjektiven Apriori im Denken des Historikers, das er natürlich nicht zur subjektiven Willkür ausarten lassen wollte, kam er der modernen Historik sogar näher als Ranke. Und ferner traf seine Kritik auch vielleicht einen schwachen Punkt in Rankes Unterricht. Dieser, der sein Bestes und Höchstes den Schülern wohl zeigen, aber nicht lehrhaft beibringen konnte, mag es zuweilen für Pflicht gehalten haben, das Technische der kritischen Methode im Seminar einseitig zu pflegen. Die Schule der »Jahrbücher«, der Monumenta und die Art von Waitz setzte das dann fort. »Wir sind in Deutschland«, schrieb Droysen (20. März 1857), »durch die Rankesche Schule und die Pertzischen Arbeiten auf unleidliche Weise in die sogenannte Kritik versunken, deren ganzes Kunststück darin besteht, ob ein armer Teufel von Chronisten aus dem anderen abgeschrieben hat. Eine Weisheit gerade so groß, als wenn die Philologie im Konjekturenmachen ihr dünnes Leben hinspinnt. Es hat schon einiges Kopfschütteln veranlaßt, daß ich feliciter behauptet habe, die Aufgabe des Historikers sei Verstehen oder, wenn man will, Interpretieren. Aber idi hoffe, daß dieser Gedanke ein sehr fruchtbarer ist, wie es denn seit Thukydides jedem ordentlichen Historiker darum und nur darum zu tun war; die höhere, sogar die niedere Kritik ergibt sich auf dem Wege dazu.« » Forschend zu verstehen«, wurde dann der Leitsatz der Droysenschen Methodenlehre. Außer von Humboldt hatte er dafür Anregungen von der Schleiermadiersdien und Boedchschen Herme-
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neutik erfahren*. Mit der neuesten Kunst, das Verstehen zu verstehen und logisch begreiflich zu machen, hat er sich noch nicht übermäßig geplagt, obgleich er auch darüber Bedeutendes zu sagen vermochte. Aber er hat das eine schon erkannt, was heute das Abc der Geschichtslogik ist, daß das Verstehen geistiggeschichtlicher Dinge etwas anderes ist als Erklären, als bloßes Ableiten von Wirkungen aus Ursachen. Nicht die Front gegen Ranke wurde der wissenschaftlidi wirksam bleibende Grundgedanke der Droysenschen Historik — Ranke hat die Kunst des Verstehens doch noch größer und reiner geübt als Droysen —, sondern die 1852 eingenommene Hauptfront gegen den westeuropäischen Positivismus, die seitdem dauernd in Atem gehalten worden ist —während eine weitere Front der Droysenschen Historik, die gegen die spekulative Philosophie Hegels, einer schon schwindenden Richtung gilt. Die beiden letzten Fronten faßte Droysen zusammen ins Auge in dem Worte an seinen Sohn von 1864: »Überhaupt, unsere Wissenschaft will nicht erklären, sie darf nidit konstruieren, sie muß lernen und verstehen.« Inzwischen hatte Droysen den Grundriß zu seiner Vorlesung von 1857 im folgenden Jahre als Manuskript drudken lassen, war ferner Buckles History of civilisation in England 1856 und 1861 erschienen und hatte Droysen seinen klassischen Aufsatz »Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft« gegen Budde in der Historischen Zeitschrift (Band 9) veröffentlicht, der den drei Auflagen des »Grundrisses der Historik« (1867, 1875, 1882) beigefügt wurde. In ihm wurde das wichtigste Ergebnis der Vorlesung, die Begründung und Abgrenzung einer besonderen Methode der Geschichtswissenschaften gegenüber den Herrschaftsansprüchen der Naturwissenschaften und des Positivismus, mit unvergeßlichen, an das Tiefste im Menschen rührenden Worten festgelegt. Wenn wir Droysens Historik epochemachend nannten, so war es wegen dieser aus der geistigen Not der Zeit geborenen Tat. »Vielleicht wird man«, meint Droysen 1881, »wenn ich tot bin, sehen, daß etwas in dem Grundriß steht.« Alle Einzelfragen der Historik, die nodi in den Briefen angeschlagen werden, lassen wir hier beiseite, so die von Droysen • Vgl. J. Wach, Das Verstehen I. passim, und Spranger, Historische Zeitschrift 137, 270.
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zuerst gestellte, von Simmel wieder aufgenommene, neuerdings von Masur behandelte Frage, wie aus Geschäften Geschichte wird, so die umkehrende Frage, wie das Vergangene überhaupt verstanden werden kann, da wir doch nur Gegenwärtiges mensdilicherweise fassen können. In moderner Begriffssprache, die idi nicht durchgängig als einen Fortschritt ansehen kann, sehen alle diese Fragen etwas anders aus als bei Droysen. Dieser ging über logisdie Schwierigkeiten gern bildlich, geheimnisvoll und fast apokalyptisch andeutend hinweg und blieb deshalb audi dann, wenn er begrifflich wurde, leicht etwas dunkel und unabgeschlossen, konnte dafür aber seine Sprache ganz anders als der moderne Logiker mit Phantasie und Empfindung laden und so das Unaussprechliche, das am Ende aller geschichtlichen Probleme liegt, unvergleichlich ahnen lassen. Nur eine Frage noch, die in der Zeit, als die Historik als Kolleg entstand, in den Briefen nicht mehr berührt wurde, aber zu den Motiven der ursprünglichen Konzeption gehört, soll besprochen werden. 1852 hatte er den Geist der siegreichen preußischen Reaktion in einer hybriden Gemeinschaft mit Positivismus und Polytechnik gesehen. Als er das Kolleg dann 1857 las, gingen die Tage Friedrich Wilhelms IV. dem Ende zu und war schon ein leises Morgengrauen zu· spüren. Der Anlaß fehlte, um den Kampfesgedanken von 1852 weiter zu pflegen. Aber die Vorlesung enthielt trotzdem auch eine abwehrende Wendung gegen die in der preußischen Reaktion lebenden Ideen, nämlich gegen diejenigen, die weiter zurückreichten in die politische Romantik. Das wäre also die vierte der Fronten, gegen die er kämpfte, die erste und ursprüngliche aber, wenn wir an die Konzeption von 1843 zurückdenken. Alles Nötige darüber hat bereits Ernst Meister in seinem oben angeführten Aufsatz über Droysens Historik gesagt, ohne zu wissen, daß sie einen politischen Hintergrund hatte. Er führt nämlich aus, daß sich Droysen sdiarf unterscheidet von der quietistischen Richtung der historischen Rechtsschule, die den einmal gewordenen Schöpfungen des Volksgeistes ihre Ehrfurcht widmete und in der Umbildung zur Stahlsdien Lehre alle überkommenen Autoritäten politisch sanktionierte. Droysen kämpfte in der Vorlesung gegen »die falsche Idee der Naturwüchsigkeit und der organischen Entwicklung«. Er nannte nodi in seiner letzten Vorlesung dabei den Namen Heinrich Leos,
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gegen den schon die Gedanken von 1843 sidi gerichtet hatten. Der Mensdi müsse die Kraft haben, die Gegebenheiten der Zeit zwar nicht außer adit zu lassen, aber sie zu gebrauchen, sie zu zwingen, ihm zu dienen. Der aktivistische, ethische und heroische Zug seines historischen wie politischen Denkens tritt damit noch einmal vor Augen. Er hat ihn verhindert, das zu leisten, was Ranke leisten konnte. Aber er hat ihn befähigt, Werke von innerer Größe zu schaffen, deren Einseitigkeit ihre Rechtfertigung findet in den höchsten geistigen und politischen Bedürfnissen ihrer Zeit. Ihr geistiger Gehalt ist so reich, daß man selbst für die Geschichte der preußischen Politik die Zeit kommen sieht, wo man sie wieder studieren wird, nicht um von ihr anzunehmen, was er selber angenommen wissen wollte, sondern um einen großen Wert der Vergangenheit wieder zu beleben und von einem genial produktiven Kopfe auch da zu lernen, wo er irrte oder anders dachte als wir. Durch Hellenismus und Historik wirkt er auch heute noch unmittelbar als Lehrer. Sei es erlaubt, noch etwas aus persönlicher Erinnerung hinzuzufügen. Im Winter 1882/83 las er zum letzten Male sein Lieblingskolleg, die Methodologie und Enzyklopädie der Geschichte10. Das sei eigentlich nichts für junge Semester, sagte mir ein älterer Zunftstudent und ließ merken, daß es sich um etwas brotlose Künste handle. Idi hörte es und habe es nie vergessen in meinem Leben. Mit einem freundlichen Worte drückte er mir, wie jedem Hörer der Vorlesung, seinen Grundriß der Historik, eben in dritter Auflage erschienen, in die Hand. Der kleine, alte und altmodisch gekleidete Mann mit den hinter der Brille blitzenden Feueraugen tat es der nicht zahlreichen, aber treuen Hörerschaft an. Der spätere Erlanger Philosoph Paul Hensel saß damals hinter mir. Der Literarhistoriker Richard M. Meyer, schon damals darauf aus, alles in der Wissenschaft zu inspizieren, steckte auch einmal seinen Kopf in die Vorlesung und hat es später (Historische Zeitschrift 106, 389) erzählt, wie er es nie wieder vergessen habe, als Droysen den Satz sprach: »Die Geschichte hat es nur zu tun 10
Sie ist inzwischen 1937 nach dem Manuskript unter dem Titel »Historik« von seinem Enkel Rudolf Hübner herausgegeben worden. Vergleiche meinen Aufsatz darüber in »Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte« [unten S. 168 ff.].
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mit dem Lebendigen.« Alfred Dove meinte zwar von seinen Vorlesungen, die er an das Heft gebunden hielt, daß sie zu sehr den kalten Glanz des Fertigen gehabt hätten. Meine Erinnerung an diese, die einzige, die idi von ihm hörte, ist anders. Ich weiß nur, daß die abstrakten, komprimierten und uns zuerst ganz unverständlichen Leitsätze des Grundrisses sich auflösten in einen Funkenregen lebendiger, sofort ergreifender Bekenntnisse und Erkenntnisse, in eine wundervoll ansdiaulidie und lehrreiche Auswahl von Beispielen aus der ganzen Weltgeschichte und Forschungswelt. Statt der schweren Regentropfen des Grundrisses erhielt man schließlich, um sein Bild zu wiederholen, einen herrlichen Regenbogen. Auf den Höhepunkten war er eine johanneische Erscheinung — denn so sagt audi sein Grundriß: »Die Geschichte ist nicht das Licht und die Wahrheit, aber ein Suchen danach, eine Predigt darauf, eine Weihe dazu; dem Johannes gleich: ονκ 7¡v το φως, αλλ' δτι μαρτνρήστ] περί τον φωτός. [Εν. Joh. 1, 8} Die letzten Sätze meines nachgeschriebenen Kollegheftes lauteten: »Zweierlei sollte aus meiner Darstellung besonders klar hervortreten. Einmal, daß wir nicht, wie die Naturwissenschaften, das Mittel des Experimentes haben, daß wir nur forschen und nichts als forschen können. Dann, daß auch die gründlichste Forschung nur einen fragmentarischen Schein von der Vergangenheit erhalten kann, daß die Geschichte und unser Wissen von ihr himmelweit verschieden sind. Kunststücke der Phantasie helfen da nicht. Die Griechen hatten sich da ein wunderschönes harmonisches Bild von ihrer Vergangenheit ausgemalt — zu dem, was davon wirklich echt erhalten, stimmt es herzlich wenig. Es würde uns entmutigen, wenn nicht eins wäre. Die Entwicklung der G e d a n k e n in der Geschichte können wir allerdings verfolgen, auch bei lückenhaftem Material. So gewinnen wir nicht ein Bild des Geschehenen an sich, sondern unserer Auffassung und geistigen Verarbeitung davon. Das ist unser Surrogat. Das zu gewinnen, ist nidit so leicht, und das Studium der Geschichte ist nicht so heiter, wie es sich dem ersten Blicke darstellt.«
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Die Nationalpolitische Geschichtsschreibung 2.
Droysens Historik Frankfurter Zeitung 69. Jg. Nr. 13 vom 28. März 1937. Wiederabgedruckt: »Vom geschichtlichen Sinn« 5. Aufl. 1951 S. 40-46.
In dem Viergestirn der großen deutschen Gesdhiditssdireibung des 19. Jahrhunderts, das durch die Namen Ranke, Mommsen, Treitschke, Droysen bezeichnet wird, konnte Droysen eine Zeitlang dem Blicke etwas schwächer erscheinen, weil seine erste Großtat, die Entdeckung des Hellenismus als einer weltgeschichtlich schöpferischen Epoche, erst einer spät nachkommenden Forschung wieder aufgegangen ist und weil seine letzte Leistung, die eigenwillige Konstruktion der brandenburgisch-preußisdien Geschichte, in Mißkredit kam durch die kritische Zurechtrückung der Jüngeren. Aber der geschichtliche D e n k e r in Droysen war größer und universaler als der Geschichtsschreiber der peußischen Politik. Das wußten die, die seine Vorlesung über Methodologie und Enzyklopädie der Geschichte gehört hatten, und das fingen in der Nachkriegszeit diejenigen, von Troeltsch ab, zu begreifen an, die den kurzen, für die Zwecke jener Vorlesung hergestellten »Grundriß der Historik« studierten und nun erstaunt waren über die Fülle leuchtender, aber komprimiert und schwer verständlich ausgedrückter Gedanken in ihm. Rothacker hat ihn dann neu herausgegeben. Und Rudolf Hübner, der Enkel Droysens, schon hoch verdient durch Herausgaben aus seinem Nachlaß, vor allem seines großartigen Briefwechsels, schenkt uns nun jetzt auch den vollständigen Text jener Vorlesung nach dem letzten, von Droysen selbst 1881 vollständig ausgearbeiteten Kollegheft. Er fügt auch den »Grundriß der Historik« in seiner letzten Form von 1881 bei, verzeichnet die Varianten der beiden ersten Auflagen und läßt die kleineren Aufsätze Droysens über allgemeine Fragen der Geschichtswissenschaft folgen. So daß wir nun das gesamte Korpus der Droysenschen Historik beieinander haben. (Johann Gustav Droysen, Historik — Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Rudolf Hübner, München, R. Oldenbourg, 1937.)
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Das letzte Mal las Droysen, anderthalb Jahre vor seinem Tode, das Kolleg im Winter 1882/83. Idi habe es als junger Student gehört und bewahre in meinem Hefte nodi manche kleine, mündlich improvisierte Pointe, die in dem jetzt gedruckten Texte fehlt. Dodi ist nidits so Wesentliches darunter, daß ihr Fehlen als Mangel der Edition erscheinen würde. Idi habe damals gleichzeitig audi Scherer, Mommsen und Treitschke gehört und Dilthey früh zu lesen angefangen und von allen tiefe Eindrücke gehabt. Aber dieser alte, kleine Droysen mit den blitzenden Augen und energischen Zügen erschien mir schon damals als ein merklich anderer, aus einer älteren, vielleicht höheren Zeit in die Gegenwart hinüberragender Typus. Er hatte noch in dem letzten Stadium der Goethezeit zu denken, zu forschen und zu sprechen gelernt. In Stil und Gedankenbildung war noch etwas von der kühn sich gipfelnden Dialektik und dem spekulativen Befehlshaberton Fidites und Hegels. Griechentum, Preußentum, deutschen Idealismus und Christentum, diese vier Mächte, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts so großartig ineinandergewirkt haben, kann man überhaupt als die konstituierenden Elemente seiner Gedankenwelt bezeichnen. Daß deutscher Idealismus mit Christentum eigentlich sich nicht vertrage, würde er zornig abgelehnt haben. Denn er konnte, wenn seine sittlichen und religiösen Ideale ihm bedroht schienen, eifervoll zürnen, ganz anders als sein Lehrer Hegel und sein Rivale Ranke. Die Hegeische Dialektik der geschichtlichen Bewegung, wie sie ruhelos Gegensätze entfesselt und wieder miteinander zu höheren Gestaltungen verbindet, nahm er zwar ganz in sein Blut auf. »Rastlos« war eines der Lieblingsworte seiner Vorlesung. Aber er bildete diese Dialektik um im Sinne des sittlichen Aktivismus Fichtes, und der frei aus dem Innersten der Persönlichkeit im Dienste höherer sittlicher Mächte handelnde geschichtliche Mensch trat an die Stelle des dirigierenden Weltgeistes Hegels. Die Lehre von dem inneren Heiligtum der Persönlichkeit und die Lehre, daß sie zur geschichtlichen Persönlichkeit nur werde als Soldat im Dienste der höheren sittlichen Gemeinsamkeiten von Staat, Volk, Religion usw. gehörten zu den stärksten Momenten in der Vorlesung. Dann kam über die kämpferische und oft trotzige Gesinnung, mit der er, darin so ganz anders wieder als Ranke, die Turbulenz der geschichtlichen Bewegung wiedergab, etwas von priesterlicher Weihe.
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Und beides vereinigte sich mit dem strengen Ernste des Forschers und der pädagogischen Eindringlichkeit dessen, der F o r s c h e r erziehen wollte. Von Hegel hatte er sich schon früh geschieden gefühlt durch den Willen der damals jungen Generation, rein empirisch und mit unverdrossener Hervorholung jedes Lichtstümpfchens, das unbekannte Zusammenhänge der Geschichte erhellen konnte, zu forschen. Das Sich-Heranschleichen an die Probleme und dann divinatorisch sie Durchschauen reizte ihn. Wie der individuelle Wille des Menschen alles, was er in der Natur berühre, »ätze« und zu einem geformten Ausdrude seines Innersten, von der Prähistorie an bis heute, mache, das war ein Phänomen, dessen tiefe Bedeutung er uns unvergeßlich einprägte. So entwickelte er eine eigentümliche Kunst, alles Handwerksmäßige in der Arbeit des Forschers zu vergeistigen. Keines seiner historischen Werke läßt auch so die universale Vielseitigkeit, Fülle und Feinheit seines historischen Wissens erkennen wie der Funkenregen erleuchtender Beispiele, den er zumal in dem methodologischen Teile der Vorlesung gab. Da hörte man vom »Handgemal« der germanischen Bauern, von dem gerade heute wieder die Rede ist, von den überraschenden Schlüssen, die man aus Münzfunden mit ihrer oft bunten Zusammensetzung ziehen könne. Man wurde darauf hingewiesen, wie verschieden sich Wilhelm von Humboldt in seinen Briefen an Schiller und an Goethe gebe, wie in Beethovens Eroica die Wirkung Napoleons stecke und in dem Neubau von Sankt Peter nach Michelangelos Plan die Verherrlichung des Papsttums. »Man sieht«, fügte er hinzu, »diese künstlerischen Darstellungen enthalten immer etwas Irrationales und damit Unbestimmtes; je idealer sie verfahren, um so mehr, und wenn sie es mit Realismus kurieren wollen, sind sie in der Gefahr, ihr Bestes zu verlieren.« Dieser feurige Forschungswille, der immer sehen wollte, was andere noch nicht gesehen hatten, verband sich nun sehr eigentümlich mit einer strengen kritischen Resignation, in der der erkenntnistheoretisdie Kritizismus Kants nachwirkte. Nie und nimmer, so war ein Hauptgedanke seiner Historik, können wir die »Geschichte an sich«, die Vergangenheiten selbst wiederherstellen, sondern immer nur unsere durch »forschendes Verstehen« zu gewinnenden Auffassungen von ihr berichtigen, erweitern und steigern. Über das »Verstehen« — einen heute viel erörterten
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philosophischen Begriff —, »das vollkommenste Erkennen, das uns menschlicherweise möglich ist«, weil es, von der ganzen geistig-sinnlichen Natur des Menschen geübt, zeugend und empfangend immer zugleich sei, sprach er ahnungsvolle Worte, die tiefer drangen, als es irgendeine abstrakte Zergliederung des Prozesses vermag. Und dennoch, so hoch er den Erkenntnisweg des Verstehens über den bloß kausal erklärenden des Naturforschers erhob, konnte er bescheiden auch von der »Unzulänglichkeit unserer Wissenschaft« und von den Grenzen unseres Könnens, von dem immer nur vorläufigen und annähernden Werte unserer geschichtlichen Erkenntnisse sprechen. Die Forderung nach »Objektivität« des Historikers wollte ihm, der den drängenden sittlichen Willen in seiner Brust empfand, gar nicht gefallen, und das Wort von »eunuchischer Objektivität« entschlüpfte ihm einmal. Streben nach Wahrheit, ja, aber in immer neuen Anläufen und mit vollem Bewußtsein, nur relative Wahrheit finden zu können. Es war ein kritisch und weltanschaulich gebändigter Subjektivismus, den er lehrte und der die Gefahren der Subjektivität dadurch zu überwinden versuchte, daß er tief eintauchte in das Bewußtwerden einer allgemeinen Kontinuität der menschlichsittlichen Entwicklung und der Gliedschaft des einzelnen in ihr. So wurde uns in seiner Vorlesung nicht nur das geschichtliche Leben selbst, sondern auch das geschichtliche Denken, das Ringen um die Wahrheit in der Seele des Forschers, zum Schlachtfeld, wo Wolken des Kampfes aufstiegen und am Horizont doch schon die Glorie des Sieges leuchtete. Die Härte und Gewaltsamkeit der wirklichen miteinander kämpfenden Lebensmächte kam oft schroff zum Ausdruck, aber noch stärker erklang sein absolut gläubiger Idealismus der Freiheit, der eine banale Fortschrittsideologie zwar nicht aufkommen ließ, aber von einer trotz oder gerade durch Tod, Verwesung und Untergang wirkenden und hindurchbrechenden Kraft der Menschheit, immer höhere Gestaltungen des geschichtlichen Lebens hervorzubringen, überzeugt war. Er hatte sein Geschichtsbild geformt, noch bevor die ganze Problematik der modernen Kultur und Zivilisation an das Licht getreten war, und so waren zum Beispiel seine Gedanken über die Entwicklung der Wirtschaft und der menschlichen Arbeit in ihr nodi von einem merkwürdigen Optimismus gefärbt. Aber er hatte als einer der Allerersten die verhängnisvollen Wirkungen des neuen
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technischen Geistes, des Positivismus und des absoluten Glaubens an die naturwissenschaftlichen Methoden auf die geistige Bildung und die Geisteswissenschaften erkannt, und seine Historik war die erste mäditige Reaktion des deutsch-idealistischen Geistes dagegen. Die volle Frische dieses Geistes in ihm unterschied ihn auch von dem verblaßten Epigonen-Idealismus der damaligen zünftigen Geschichtsforschung, die unbewußt selbst durdi eine mechanische Auffassung und Handhabung der Quellenkritik dem positivistischen Zuge der Zeit sich anpaßte. So war dieser Zunftgeist die zweite der Fronten, gegen die seine Historik ankämpfte. Schade, daß seine Vorlesung nicht gleich nach seinem Tode schon das Licht erblickt hat. Sie hätte die Rückkehr der Geisteswissenschaften zu ihrer inneren Heimat, die seit der Jahrhundertwende einsetzte, beschleunigen können. Aber sie wird audi heute trotz mancher Zeitbedingtheit, die ihr unvermeidlich anhaftet, jedem, der historisch denken und forschen will, etwas von der beseelenden Kraft geben können, die sie einst seinen Hörern einhauchte.
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3. Droysens Vorlesungen über das Z e i t a l t e r der Freiheitskriege Besprechung der posthum erschienenen 2. Auflage des Werkes (2 Bde. Gotha 1886) in der Deutschen Literaturzeitung Jg. 1888 Nr. 25 Sp. 908 f.
Im Winter 1842/43 hat Droysen in Kiel seine Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege gehalten, die er dann 1846 veröffentlichte. Aus Berichten der Fremden mußte er sie, wie er damals klagte, zusammenlesen, da »deutsche Quellen, deutschgesinnte Zeugen« damals fehlten. Im letzten Winter seines Lebens legte dann Droysen die bessernde Hand an das Jugendwerk, und sein Sohn Gustav hat danach die neue Ausgabe veranstaltet. Sehr eingreifend sind, soweit wir verglichen haben, die Umgestaltungen gegenüber der ersten Auflage nicht; doch da das Buch gar nicht mit der Prätension auftritt, in den Einzelheiten der Darstellung dem jetzigen Stande der Forschung zu entsprechen, so hat die Kritik nicht die Aufgabe, ihm das im einzelnen nachzuweisen. Droysens Stärke ist überhaupt nie das Detail der Erzählung gewesen; seine unruhige, zerrissene Art spannt ab, ohne immer ein klares Bild zu geben, und daß audi seine Geschichte der preußischen Politik in den Einzelheiten nicht überall zuverlässig ist, ist ein offenes Geheimnis. Aber herrlich und bewunderungswürdig ist Droysen, sowie es den Ideengehalt ganzer, großer Entwicklungen darzustellen, das innerste Wesen historischer Persönlichkeiten zu verstehen gilt. Die einleitenden Abschnitte des ersten Bandes, »Die materiellen Interessen«, »Die geistige Entwidmung«, dann in dem zweiten Bande vor allem die wundervolle Charakteristik Napoleons (S. 90 ff. und S. 241 ff.) rechtfertigen es allein schon, daß man der heranwachsenden Generation von Historikern das vor 40 Jahren erschienene Werk wieder nahebringt. Es ist ein Jugendbad für jeden, der im Detail der Forschung einmal zu ermatten fürchtet. Vor allem möchten wir das Budh in den Händen der Lehrer der Jugend sehen. Droysen hat schon als Universitätslehrer gerade auf diese ganz ungemein gewirkt, und mandier hat in seiner Schulzeit Droysensdies Pathos
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und Droysensdie Gedanken mitgeteilt erhalten, ohne zu wissen, aus welcher Quelle sie stammen. In wie vielen anderen Beziehungen ist es nodi interessant, das Buch zu studieren, — so vor allem, zu beobachten, wie der leitende Gedanke seiner Geschidite der preußischen Politik hier noch nicht so scharf herausgearbeitet ist (vgl. ζ. Β. I 131 ff.), sodann, wie sich seine Geschichtsphilosophie — vielleicht das Größte, was er überhaupt geleistet hat, — hier auch schon theoretisch in einzelnen Äußerungen angedeutet findet. Das Kapitel über die materiellen Interessen (I 48 ff.), die wirtschaftlichen Bewegungen der westeuropäischen Völker im 18. Jahrhundert erinnert an die fruchtbaren Anregungen, die Droysen, auch wieder als Universitätslehrer vor allem, für die Verbindung von wirtschaftlicher und politischer Geschichtsforschung gegeben hat. Das feine Kunsturteil in der Würdigung Händeis und Haydns rückt uns die Zeiten seiner in Berlin verlebten ersten Mannesjähre und den Verkehr im Hause der Mendelssohn nahe. Aber was zunächst ja auf den jetzigen Leser wirken wird, das ist die politische Stimmung, in der das Buch geschrieben ist, der starke, freudige Glaube an die Zukunft, der stärker ist als die Trauer über alle die nicht erfüllten Hoffnungen der Zeit, die er schildert.
Heinrich von Sybel 1. Nachruf Historische Zeitschrift Bd. 77 (1896) S. 86-90.
Ein Meister und Bahnbrecher unserer Wissenschaft, einer der kraftvollsten Führer der geistig-politischen Bewegung, aus der das neue Deutsche Reidi hervorgegangen ist, der Begründer und Leiter unserer Zeitschrift ist von uns geschieden. Eine tiefe Bewegung ging durch Deutschland, da wieder einer der wenigen noch ragenden Wipfel jener glänzenden Zeit dahingesunken ist, deren Inhalt er, früher ein Streiter mit scharfem Schwerte, uns jetzt in seinen letzten Jahren noch zum abgeklärten Kunstwerk geformt bieten konnte1. Die historische Betrachtung sinnt sogleidi, dieses reiche und fruchtbare Leben in seine Wurzeln zurückzuverfolgen, es zu verknüpfen mit dem allgemeinen Gange der Dinge, und welches Gelehrtenleben wäre wohl geeigneter als das seinige, den großen Absdinitt der deutschen Geschichte von 1840 bis 1871 im Spiegel einer wachsenden und wirkenden Individualität vorzuführen, [' »Die Begründung des Deutschen Reiches durch. Wilhelm /.«, 7 Bde. 1889-1894, vgl. die unten S. 181 f . abgedruckte Anzeige Meineckes von der 3. Auflage der Volksausgabe. Auch hat Friedrich Meinecke 1914 in seiner Besprechung des Buches von George Peabody Gooch »History and Historians in the Nineteenth Century« in der Historischen Zeitschrift Bd. 112, S. 152, weil Meineckes Wertschätzung von Sybels »Begründung des Deutschen Reiches« von 1895 als zu enthusiastisch kritisiert wurde, gesagt, er wolle »gern einräumen, daß ich damals in der Stimmung des Verlustes mehr auf die Stärken als die Schwächen der Sybelschen Geschichtsschreibung sah. Trotzdem und obgleich meine Studien mich seitdem zu eingehender kritischer Auseinandersetzung mit Sybels Buche geführt haben, stehe ich nicht an, es noch heute f ü r ein Meisterwerk zu halten, dessen anregende und belehrende Wirkung noch lange nicht erschöpft ist.«]
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deren eigenste Idee es war, ihr Bestes an die hohen Aufgaben ihrer Zeit zu setzen. Als er emporwuchs, standen sich zwei geistige Mächte in Deutschland gegenüber, die gar nicht miteinander kämpfen konnten, ohne sich fortwährend gegenseitig zu befruchten, und deren jede erst dann erfolgreich wirken konnte, nachdem sie sich auch einen Teil der Gedanken des Gegners zu eigen gemacht hatte. Auf ihrer harmonischen Verbindung beruht die große geschichtliche Leistung Bismarcks, beruht audi das Lebenswerk Sybels. Merkwürdig, wie schon in seiner Jugendentwicklung diese Verbindung von Liberalismus und historisch-konservativer Staatsansdbauung sich vorbereitet. In liberaler Umgebung aufgewachsen, von Hause aus frei von den Fesseln dogmatischen Denkens, wurde er von Ranke und Savigny nicht nur zur strengen wissenschaftlichen Arbeit, sondern, was ebenso wichtig war, zum Verständnis der reichen Mannigfaltigkeit des historischen Lebens erzogen. Er lernte von ihnen, aber er ging nicht in ihnen auf, und mit kräftigem Selbstbewußtsein sprach er es, kaum aus ihrer Schule entlassen, in seinen Doktorthesen aus, daß der Geschichtsschreiber cum ira et studio schreiben solle, daß eine große Zeit auch große Geschichtsschreiber hervorrufe, daß die Menschen und nicht die Institutionen die Geschicke der Völker machen. Ein tatkräftiger, politischer Zug regt sich ja selbst schon in seiner ersten großen historischen Studie2. Statt der romantischen Kreuzzugshelden der Legende schuf er hier scharfe politische Charaktere vom Schlage eines Boemund von Tarent. Eine politische Frage stellte er sich audi in dem Buche über die Entstehung des deutschen Königtums [1844]. Waren die ältesten germanischen Institutionen politisch lebensfähig, konnten sie sich durch eigene Kraft weiterentwickeln? Er verneinte die Frage und reagierte damit zugleich gegen die antiquarische wie gegen die romantische Auffassung, die an die Urwüchsigkeit der deutschen Entwicklung glaubte. Unwiderstehlich zog es ihn von seinen kritischen Arbeiten in die Kämpfe der Gegenwart. Jetzt gelte es, sprach er in einer Marburger Rede von 1846 aus", jedes Studium mit der Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten zu durchdringen [s »Geschichte des ersten Kreuzzuges« (1841).] [s »Über die heutigen Tories«, Rede gehalten zur Feier des Geburtstages des Kurfürsten am 28. Juli 1846. Marburg 1847.]
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und in jedem Fache den Wert desselben für die gegenwärtigen Nationalinteressen im Auge zu behalten. Im Sinne des aufstrebenden Geschlechtes der vierziger Jahre erklärte er es für die beiden Hauptaufgaben der Zeit, den politischen Geist zu entfesseln und das Nationalbewußtsein zu stärken, und in die Stürme des Jahres 1848 brachte er bereits ein fertiges politisch-historisches Glaubensbekenntnis mit, dessen Grundzüge er festgehalten hat bis an sein Lebensende. Während Ranke, von seiner höheren Warte aus, wesentlich audi noch beeinflußt durch die Gedanken der Restaurationszeit, in dem Kampfe des Prinzips der Volkssouveränität mit den alten legitimen und historischen Gewalten die Signatur der Zeit erblickte, glaubte Sybel, frisch und zuversichtlich in die Zukunft strebend, diesen Gegensatz bereits aufgehoben in dem modernen Rechtsstaate, der, stark und einheitlich, zugleich dem Individuum freiesten Raum zur Entfaltung gewähre. Von diesem festen Punkte aus machte er nun nach rechts wie nach links hin Front. Mit der historischen Schule und mit seinem politischen Lehrmeister Burke verabscheute er den Despotismus der radikalen Theorien. Als rechtes Kind des rheinischen Bürgertums forderte er, daß die Monarchie sich auf den kapitalkräftigen, erwerbenden Mittelstand stütze, und unterschätzte freilich dabei damals noch die politische Kraft des Grundbesitzes. Aber noch gefährlicher als der Kommunismus erschien ihm doch damals vor 1848 der Ultramontanismus, der im Bunde mit der feudalen Partei die Einheit des Staates und das Redit der freien Forschung bedrohte. »Ich weiß nicht«, hatte Sybel 1846 gesagt, »ob etwa das religiöse und philosophische Interesse für sich allein im Stande ist, den wissenschaftlichen Arbeiten die Frische und Wärme einzuhauchen, die sie aus einer engen Verbindung mit den praktischen Angelegenheiten des Volkes gewinnen.« Damals glaubte er noch an ein gemeinsames Emporsteigen von Staat und Wissenschaft. Wenn nun nach dem traurigen Scheitern der politischen Hoffnungen in den fünfziger Jahren doch eine politische Historie in Deutschland emporblühte, die an Gewissenhaftigkeit der Forschung, Kraft und Feuer der Darstellung, Entschiedenheit und Einheitlichkeit der politischen und sittlichen Maßstäbe ihresgleichen nicht hatte, so ist das ein Beweis, wie tief sie vorbereitet war in den Persönlichkeiten, die sie übten, und in den Bedürfnissen
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der Zeit. Und es war geradezu ein Segen für das wissenschaftliche und in letzter Linie auch für das Staatsleben, daß jetzt eine Zeit der ruhigen, inneren Konzentration folgte, und die Talente, statt sich an den nodi unlösbaren politischen Aufgaben aufzureiben, sich innerlich ganz entfalten durften. Jetzt konnte sich das liberale und konservative Element verschmelzen, und dieser Bund, für die Zukunft unendlich folgenreich, belebte sogleich auch die Historie. Der liberal-konservative Zug, konnte Sybel 1856 konstatieren, ist das vor allem treibende Moment in den Werken Mommsens, Dunckers, Waitz', Giesebredits, Droysens und Haussera; alles, was redits und links davon für die Geschichtsschreibung geleistet wird, reicht nicht heran an sie 4 . Als Kunstwerk, als umwälzende wissenschaftliche Forschung und als politische Tat trägt wohl Sybels Revolutionsgeschichte unter diesen Werken die Palme davon, namentlich in ihrer letzten Gestalt, die ihr nach 30jähriger Arbeit wurde. Der Historiker, sagte Sybel einmal später, soll kritischer Forscher, politischer Sachverständiger, darstellender Künstler sein. Hier zeigte er, was die harmonische Vereinigung der drei Eigenschaften leisten konnte. Die Gründlichkeit der kritischen und archivalischen Vorarbeit war selbstverständlich bei einem Schüler Rankes. Darüber erhob sich nun eine festgeschlossene Komposition, eine Erzählung, welche zugleich episch und ungezwungen dahinfließt und nie die allgemeinen Gedanken vergißt, deren Beweis dem Autor am Herzen liegt. Aber sie aufdringlich zu betonen, ist er viel zu sehr gestaltender Künstler. W e n n man die französischen Darstellungen der Revolutionsszenen farbenreicher und packender gefunden hat, so entschädigt er dafür durch die straffe Durchführung eines inneren Pragmatismus, durch die genaue Zerlegung der Faktoren, die bei jedem politischen Ereignis mitwirkten, und nicht in letzter Linie durch die wuchtige Erfassung der handelnden Persönlichkeiten. Eine tatkräftige, klare, dem philosophischen Spekulieren abholde Natur, wie er war, der den eigenen sittlichen und politischen Uberzeugungen immer den Sieg erkämpfen wollte, trug er sein Idi auch in die Dinge hinein und setzte den freien Willen [4 »Über den Stand der neueren deutschen Geschichtsschreibung«, Rede gehalten zur Feier des Geburtstages des Kurfürsten am 20. August 1856. Marburg 1856. Wiederabgedruckt in den Kleinen Historischen Schriften, Bd. /1863.]
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der Menschen und nidit die Ideen überall als die wichtigste Ursadie voraus. So offenbarte sidi ihm die sittliche Verderbnis des vorrevolutionären Frankreidi, der Zusammenhang der inneren revolutionären Zerstörung mit der Kriegslust der Girondisten und die Verkettung von Schuld und Strafe bei den Gegnern der Revolution. Das wichtigste und aus den persönlidien Ideen Sybels hervorgegangene Ergebnis war politischer Art. Wenn man die Geschichte des deutschen Liberalismus als einen Reinigungsprozeß ansehen kann, als eine allmähliche Ausscheidung des fremden, französisch-radikalen Elements aus dem deutschen Blute, so kommt dem Sybelsdien Budie ein ganz bedeutender Anteil des Verdienstes daran zu. Und so pulsiert in allen historischen Schriften Sybels ein politischer Herzschlag. Er fehlte j a selbst bei der Gründung unserer Zeitschrift nicht. Seine alten Feinde, Radikalismus, Feudalismus und Ultramontanismus, sollten von ihr verbannt sein, und den lebendigen Zusammenhang des Vergangenen mit der Gegenwart zu pflegen, war und blieb das ausgesprochene Ziel unserer Zeitschrift. Ihrem Begründer war es vergönnt, die von ihm selbst mit ausgestreute Saat reifen zu sehen und dann am Abend des Lebens seiner Zeit ein von der reifen und milden Weisheit des Alters erfülltes Denkmal zu setzen. Alle seine Ideen konnten hier noch einmal zusammenklingen in beruhigter Harmonie: der starke, nationale Staat mit seinen historischen Wurzeln, das freie Verfassungsleben, das auf den realen Kräften der Nation beruht, die siegreich durchgreifende staatsmännische Persönlichkeit, die Herrschaft der sittlichen Gesetze in der Geschichte. Ein wunderbar schöner Abschluß seines Lebenswerkes. Nicht ebenso beruhigt sah er in die Zukunft. Er, der jedem Dogma widerstrebte, aber aus einer zwar einfachen, doch sehr bestimmten und festbegründeten idealistischen Weltanschauung die Kraft zum Handeln schöpfte, sah mit Trauer in unserer Wissenschaft den Einbruch materialistischer Gedanken. Eine historische Fachwissenschaft mit zünftigem Charakter, wie sie sich neuerdings mehr und mehr entwickelt, war ihm ein Greuel, und über Lehrbücher der historischen Methode lächelte er. Schon als Künstler spottete er über die, welche über den Geheimnissen der Zeugung brüteten, statt frisch darauf los zu produzieren. Vor allem aber beklagte er die Lockerung des Bündnisses zwischen Politik und Historie.
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Sie war ja eine unvermeidliche Folge unserer inneren Entwicklung, aber mancher von uns Jüngeren hat sie wohl schon schwer empfunden. Wir bemühen uns, die politische Weisheit der Sybelschen Generation als Erbe festzuhalten, aber es fehlt uns dabei der unmittelbare politisdhe Impuls, und so versiegt eine Quelle des Lebens für uns. Unsere Wissenschaft spaltet sich jetzt in eine mehr zu Ranke zurücklenkende Richtung, welche in dem Reichtum der Jahrhunderte schwelgt, aber die Geschichte mehr wie ein ästhetisches Schauspiel genießt und deswegen in der Gefahr der inneren Erschlaffung steht, und in eine stark positivistisch denkende, welche sich allerdings des belebenden Zusammenhanges mit den sozialen Fragen des Tages berühmt, aber an innerer Klarheit weit zurücksteht hinter den Leistungen der Sybelschen Generation, zu einer wirklich harmonischen Erfassung des historischen Lebens noch nicht gelangt ist und bei der Einseitigkeit ihrer Voraussetzungen auch wohl schwerlich gelangen wird 5 . Wir, die wir meinen, daß die idealistische Weltanschauung und das intensive Staatsgefühl des älteren Geschlechtes sich noch keineswegs ausgelebt haben, wollen sein Vermächtnis in Treue pflegen, ohne daß wir es deswegen epigonenhaft zum unverrückbaren Dogma erstarren zu lassen brauchen. Es wird dann schon die Stunde schlagen, wo wieder ein frischerer Wind in die Segel weht, wo wir mit den uns überkommenen und von uns weitergebildeten Ideen wieder hervortreten können aus der Stille des Gelehrtenlebens, um der Nation zu beweisen, daß unsere emsige Arbeit auch für die Aufgaben der Gegenwart nicht fruchtlos geblieben ist.
[5 Diese Bemerkungen Meineckes riefen den Widerspruch von Karl Lamprecht hervor, der sidi durch sie getroffen fühlte, vgl. neben der Einleitung unten S. 321 ff. Meineckes diesbezügliche Aufsätze.]
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2.
» D i e B e g r ü n d u n g des D e u t s c h e n R e i c h e s d u r c h W i l h e l m I.« Aus der Anzeige der 3. Auflage der Volksausgabe (München, R. Oldenbourg 1913) in der Historischen Zeitschrift Bd. 112 (1914) S. 454 f. unter Fortlassung der rein bibliographischen Angaben.
Die Lebenskraft des Werkes beruht nicht nur darauf, daß es für die ereignisreiche Zeit zwischen 1859 und 1866 immer noch das einzige ist, das auf unmittelbarer Kenntnis der preußischen Staatsakten beruht und deswegen aller weiteren Forschung als Quelle gedient hat und noch dient. Es ist seitdem so viel anderweitiges wichtiges Quellenmaterial hinzugeflossen und so viel verfeinernde und vertiefende Forschung darübergekommen, daß das Sybelsdie Werk, wenn es nicht noch andere Qualitäten hätte, jetzt doch schon in den Schatten treten würde. Sein dauernder Wert aber liegt darin, daß es das Geschichtswerk des bedeutenden Zeitgenossen über die von ihm mit durchlebte und durchkämpfte große Zeit, und nicht nur ein Monument für diese Zeit, sondern auch ein Monument dieser Zeit selbst ist. Wie sehr entbehren wir es heute, daß die Erhebungszeit vor hundert Jahren keinen zeitgenössischen Geschichtsschreiber großen Stils gefunden hat. In Sybels Werk spricht sich das Geschlecht, das in den Parlamenten der Märzrevolution, der Konfliktszeit und des konstituierenden norddeutschen Reichstags saß, mit der Abgeklärtheit des Alters über seine Manneskämpfe aus und belehrt und fesselt uns durch alle Spuren lebendigen Erlebnisses und durch seine unwillkürlichen Befangenheiten ebensowohl wie durch das ernste Ringen nach wissenschaftlicher Unbefangenheit. Dieser erste und bisher immer noch unerreichte Versuch eines vergeistigten Totalbildes der Einigungsgeschichte seit 1848 mit seiner Helle und Durchsichtigkeit, mit seiner souveränen und eleganten Gliederung der gewaltigen Stoffmasse, mit der oft entzückenden Leichtigkeit und zugleich ganz ungesuchten Prägnanz seiner Darstellung übt auch durch seine künstlerischen Qualitäten auf unser unruhiges und tastendes Geschlecht einen besonderen Reiz aus. Heute kann man wohl analysieren, aber man kann nicht mehr erzählen, sagte mir
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Sybel einmal vor zwanzig Jahren. Als er noch an seinem Werke arbeitete und idi ihm diesen und jenen Auszug aus den Akten dafür liefern mußte", belohnte er midi gern damit, daß er mir im Plaudertone den Inhalt ganzer Kapitel erzählte, genau so sicher, leidit und anmutig wie die Schrift der Manuskriptblätter, die auf dem Schreibtische lagen. Einmal erzählte er mir dabei, daß er jetzt eben Abschnitte aus Thukydides übersetze, um seinen historischen Stil zu bilden — ein schönes Zeichen, mit welchem künstlerischen Ernste er noch im hohen Alter an der Ausbildung seiner eigensten Gabe arbeitete.
[e Vgl. dazu die Erinnerungen von Friedrich, Meinecke »Erlebtes 1862 bis 1901« (1941) S. 169 f.]
Heinrich von Treitschke 1. Nachruf Historisdie Zeitsdirift Bd. 77 (1896) S. 86-90.
Zum zweitenmal binnen Jahresfrist sieht sich die »Historisdie Zeitsdirift« ihres leitenden Herausgebers beraubt, jetzt, wo es ihr mehr als je nötig war, unter der Ägide eines wahrhaft schöpferischen Geistes die großen Traditionen der deutschen Historie zu wahren. Nodi haften in dem Gedächtnis unserer Leser die ebenso allgemein bedeutenden, wie ganz persönlichen Worte, mit denen er sich vor wenig Monden bei ihnen einführte. Er erhob nicht den Anspruch, den Schwerpunkt der Historie verrückt zu haben. Die Weisheit und Bescheidenheit des gereiften Genius weilte lieber bei dem ewig Dauernden im Wechsel, und über die Jahrtausende hinweg reichte er den großen Geschichtsschreibern des Altertums die Hand. Alt und ewig neu, sagte er, ist auch die Historie. Und wie ganz eigenartig, so nie wiederkehrend, war dodi audi seine ebenso weitherzige wie zusammengefaßte Art, Geschichte zu schreiben. Wer will sich vermessen, so wie er die gesamte weitverzweigte Kultur seines Volkes zu umfassen und zugleich so klar und entschieden sie zu begrenzen und unterzuordnen unter die Führung des Staates? Wie das Talent nicht wiederkehrt, so wird audi die Gunst der Zeit nicht wiederkehren, dieser ganz bestimmte Abschnitt unserer politisch-geistigen Entwicklung, von dem aus man das Verhältnis von Staat und Kultur so und nicht anders sah. Aber was klagen wir um den eigenen Verlust und selbst um den Verlust unserer Wissenschaft, wo ein viel größerer Besitz uns geraubt ist, wo einer der herrlichsten Männer, die über deutschen Boden je gewandelt sind, hochsinnig, feurig, glaubensstark, furchtlos und großmütig, ein Führer vieler Tausende zu den Höhen des
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Lebens, sein Auge gesdhlossen hat. Der Widerspruch von Unendlichkeit und Endlichkeit im menschlichen Leben drängte sich erschütternd dem Bewußtsein auf, als wir diesen aus unerschöpflicher Fülle lebenden, immer wieder in den Gluten des Schaffens sich verjüngenden Helden sein brechendes Auge mit tiefer Lebensleidenschaft noch zum Lichte wenden sahen, wo die ihm Nahestehenden schon lange wußten, daß die Lemuren das Grab gruben. Wo sollen wir beginnen, um zu sagen, was er war, wie er sich entwickelt und was er geleistet hat? Ist es nicht ein einziger strahlender Glanz, der von allen seinen Schöpfungen ausgeht, von seinen ersten imponierend hervortretenden Aufsätzen aus der Zeit, da der deutsche Geist nach kurzer Ruhepause wieder nach Wehr und Waffen suchte, bis zu dem letzten, wunderbar reichen und reifen Bande seiner Deutschen Geschichte, der selbst viele seiner Gegner wieder mit ihm versöhnt hat. Ein ganz ehrlicher, gar nicht blind ihn bewundernder Kenner seiner Werke hat gemeint, diesen 5. Band habe er auch schon vor dreißig Jahren so schön und vollendet schreiben können, wenn es seine Aufgabe damals gewesen wäre. Und scheint es nicht ebenso mit seiner nationalpolitischen Wirksamkeit zu sein? Wie er als junger, noch nicht dreißigjähriger Mann den deutschen Turnern die Festrede zum fünfzigjährigen Gedächtnis der Leipziger Schlacht hielt, da war es den Hörern, wie ein Zeuge damals schrieb, bald als ob der Sonnenschein über ihnen leuchte, bald wie Frühlingswehen und schließlich wie reißender Gewittersturm. Auch die Geringsten unter seinen »deutschen, geliebten Landsleuten« wollte er damals ergreifen und hat es auch getan; und hat er nicht ebenso elementar noch im vorigen Jahre, als das Gedächtnis des großen Krieges und der Reichsgründung gefeiert wurde, Hoch und Gering gepackt und entzündet zu allen männlichen Gefühlen, vom jubelnden Stolze bis zur ernsten Einkehr? Dennoch sieht das schärfer blickende Auge sogleich auch hier Abwandlung und Entwicklung. Anders war die Mischimg seiner Empfindungen zu Beginn und zu Ende seiner Laufbahn. Damals, als noch so vieles unklar und ungewiß war und der Schutt der Vergangenheit nodi bergehoch in Deutschland lag, rief er, überströmend von zukunftsvollen Gedanken und Tatkraft, aus, es sei eine Lust zu leben in dieser Zeit. Und die damalige Atmosphäre,
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die damalige politisch-nationale Aufgabe der Deutsdien, weldie feurige Begeisterung, strenge Selbstzucht, nüchternen realistischen Blick und unangekränkelten Willen zur Tat zugleich von ihnen verlangte und ihnen dabei ein sichtbares, festes Ziel zeigte, war allerdings die Lebensluft, in der allein diese Natur sich so entfalten konnte. Er taugte für Zeiten der heroischen Tat, wie sie hervorbricht nach langer, säkularer Vorbereitung. Zu ihrem Herold war er geschaffen, aber nicht für verworrene Ubergangsperioden, wie die heutige, die ihn drückte und bekümmerte. Als ihm unlängst ein jüngerer Freund sagte, auch in dieser Zeit sei es ihm eine Lust zu leben, da sah er ihn mit jenem freundlichen tiefen Blicke, der uns alle immer ergriff, aber doch traurig an. Seine Gegner haben audi die Schwächen seiner Geschichtsschreibung daraus herzuleiten gesucht, daß er über die Aufgaben der Zeit, in die er hineinwuchs, nicht hinausgekommen sei, daß er seine Gedanken übermäßig unter das eine Thema der nationalen Staatsgründung, der Einigung Deutschlands durch Preußen konzentriert habe und bei seiner nun einmal eingeborenen Leidenschaftlichkeit ungerecht geworden sei gegen alles, Menschen und Ideen, was sich in jenes Thema, wie er es verstand, nicht gefügt hätte. Gegen Angriffe, die selbst seine Wahrheitsliebe erfahren hat, hat man wahrlich nicht nötig, ihn zu rechtfertigen, von dessen hoheitsvoller Gesinnung alle kleinlichen Mittel und Schlidie weitab lagen, der eben durch seinen innerlichen Freimut die Gemüter der Jugend an sich riß. Aber audi jene Einseitigkeit der politischen Energie, mit der er in seinem Heldenepos der deutschen Geschichte, zuweilen mit der für das Epos charakteristischen Verbindung von Wucht und Monotonie, sein Thema durchgeführt hat, ist nicht das vornehmlich Charakteristische seines Wesens. Wer hat, wie er, den Reichtum des deutsdien Lebens erfaßt? Er hat sie alle in sein Herz geschlossen, den markigen und straffen Heerführer, den stillen Künstler, der seines Gottes voll über die heimatlichen Fluren wandelt, den zähen, weitblickenden Kaufmann, den himmelan dringenden Philosophen. Wie leben und atmen sie alle durch ihn, eine unübersehbare Schar, aber er kennt jeden von ihnen, im Kerne des Wesens und in der farbigen Kleidung; wo irgendeine bescheidene Tüchtigkeit im Verborgenen sich hält, da zieht er sie hervor auch vor den Großen und Mächtigen, die sie überschatten, und löst ihnen die Zunge. Das ist nicht
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bloß gottbegnadete dichterische Phantasie, die diese ohne ihn vielleicht für immer vergessene Fülle der Gestalten hervorzaubert. Es war der tiefe, leidenschaftliche Drang nach Idealen einer wahren und editen Lebensführung, einer harmonisdien Menschlichkeit, der ihn von Jugend auf trieb. Die königliche Freiheit des sittlichen Menschen erstrebte er, nicht asketisch oder reflektierend, sondern mit der Glut einer Natur, die den künstlerischen Drang, die Welt in sich zu spiegeln, mit intensivem Pflichtgefühl für das Allgemeine verband. Unendlich mannigfaltig, mußte er sich als liebevoll die Welt umfassender Künstler sagen, sind die Wege, zu jener sittlichen Freiheit zu gelangen. Mit ebenso freudiger ethischer wie ästhetischer Teilnahme folgte er allen diesen verschlungenen Pfaden strebender und ehrlicher Menschen. Aber ihm ward das Geschick, in einem Gemeinwesen aufzuwachsen, das von unten her voll gesunden, praktischen Lebens, von oben her geistig gedrückt und verkümmert wurde durch ein kleinliches und schwungloses Regierungssystem. Ideenlosigkeit und materielle Wohlfahrt, diese Verbindung war ihm das Grab aller Humanität und Sittlichkeit. Zu klar war die Wurzel des Übels, die ungesunde politische Existenz, als daß er nicht fortan mit aller Energie, mit heiliger Überzeugung, den großen nationalen Staat erstreben sollte, der »etwas Größeres ist als ein Mittel zur Erleichterung unseres Privatlebens«, der Macht und Geist in sich vereinigt, der die sittliche Freiheit seiner Bürger achten und pflegen muß, weil er sich auf ihre sittliche Pflicht stützt. Unlösbar, sagte er, ist die Verbindung politischer und persönlicher Freiheit. Das war das Ideal der Menschlichkeit, wie er es, durch Natur und Schicksal bestimmt, für sich gefunden und so verwirklicht hat, wie überhaupt ein Ideal auf Erden verwirklicht werden kann. Die Flammen sind erloschen, in denen dieser gewaltige Geist die widerstrebenden Elemente seiner Natur in täglicher Arbeit zusammenzuschmelzen bemüht war zum rein und voll klingenden Metall. Mit ehrfürchtiger Scheu treten wir, die wir im Leben bewundernd zu ihm hinaufgesehen haben, an sein Grab.
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2.
Treitschke und die deutsche B u r s c h e n s c h a f t Niedergeschrieben im Frühjahr 1914 für ein ursprünglich geplantes Jubiläumswerk »Hundert Jahre deutscher Bursdiensdiaft«, dessen Erscheinen der Krieg verhinderte. Deshalb zuerst veröffentlicht in der Aufsatzsammlung »Preußen und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert« (1918) S. 380-401. Wiederholt: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Bursdiensdiaft Bd. VII (1921) S. 191-203.
Die größten Leistungen der Bursdiensdiaft für die deutsche Einheitsbewegung liegen in ihren ersten Jahrzehnten. Ein erheblicher Teil der Gedanken, die in der Nationalpolitik des Frankfurter Parlamentes zum Ausdrude kamen, stammt aus dem gärenden Durcheinander der Ideale und Impulse ihrer Frühzeit und wurde im Jahre 1848 vertreten von einer nicht geringen Zahl ehemaliger Burschenschafter. In der zweiten und entscheidenden Epoche unserer Einigungsgeschichte haben anders geartete Kräfte den Vorsprung gewonnen. Bismarck und der preußische Staat warfen ihr Schwert in die Waagschale, und mancher für Freiheit und Volksrecht glühende Burschenschafter glaubte aus dem Munde des stolzen Edelmanns und einstigen Korpsstudenten ein hartes vae victis für sich zu vernehmen. Die inneren Gegensätze, in denen die Einigung der Nation sich vollzog, beherrschen, wenn auch vielfach anders gewendet, noch heute unser öffentliches Leben und werden doch zu unserem Heile im entscheidenden Augenblick immer wieder überwunden durch die Liebe zum gemeinsamen Vaterlande und durch jene Großherzigkeit, die vielleicht der gemeinsame und schönste Charakterzug seiner besten Söhne ist. Großherzig hat später Bismarck den Anteil der Bursdiensdiaft an der Einigung Deutschlands erkannt. Großherzig hat Heinrich von Treitschke, der herrlichste Vertreter burschenschaftlicher Ideale, in der zweiten Epoche unserer Einigungsgeschichte die Hand des preußischen Staates ergriffen, zu einer Zeit, als dieser sich noch ganz zu versagen schien. In Treitschke gipfelt der Anteil, den die deutsche Burschenschaft an den Einigungskämpfen von 1866 und 1870 genommen hat. Man darf ihn freilich nicht in dem Sinne, wie man in dem Heinrich von Gagern von 1848 den einstigen Burschenschafter wiedererkennt, mit sei-
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ner burschenschaftlichen Jugendzeit verknüpfen, denn er wuchs rasch über sie hinaus und in die weitesten Sphären des deutschen Staats- und Kulturlebens hinein. Aber darin eben gab er die Art der jüngeren Bursdiensdiafì wieder. Sie war nicht mehr und konnte nicht mehr sein die enthusiastische und zeugungskräftige Urgemeinde eines neuen nationalen Glaubens, sie war jetzt nur nodi ein Träger dieses Glaubens neben anderen. Darum konnte sie ihren Angehörigen nicht mehr so tiefe und eigenartige Spuren für das Leben eindrücken. Aber wie sie von vornherein zugleich ein Nährboden der freien Persönlichkeit gewesen war und ihre Mitglieder hinauswandern sali in die verschiedensten Parteilager, so war sie auch zu der Zeit, als Treitsdike ihr angehörte, eine Stätte des Wachstums edler Triebe, kühner Ideale und selbständig ringender Charaktere. Treitsdike hat das weißrotgoldene Band der Bonner Frankenia mit herzlicher Begeisterung getragen und später gesagt, daß er ihr noch mit grauen Haaren dankbar sein werde für das, was er ihr schulde. Die deutsche Burschenschaft dankt ihm in ihrem Säkularjahre für das, was er dem deutschen Volke gegeben hat. Sie will sein Lebensbild heute auf sich wirken lassen, gewiß auch, um zu erfahren, was die Burschenschaft für ihn bedeutet hat, vor allem aber, um zu lernen, was er für die Burschenschaft bedeuten kann. Heinrich von Treitsdike ist am 15. September 1834 in Dresden geboren als Sprößling einer sächsischen Offiziersfamilie. Sein Vater, der es später zum General und Kommandanten des Königsteins brachte, war ein ritterlicher, königstreuer und frommer Mann, an dem der Sohn, wenn auch ihre politischen Wege früh sich trennten, doch in jedem Augenblicke seines Lebens mit tiefer Verehrung gehangen hat. Im neunten Lebensjahre wurde er in Nachwirkung einer Masernerkrankung harthörig und trat damit in eine Lebensschule der Entbehrung, die den leidenschaftlichen Knaben schwer traf. Aber früh lernte er in ihr nicht nur jene Selbstzucht, die dem Sprößling einer Offiziersfamilie sicheren Halt im äußeren Leben zu geben vermag, sondern auch, was noch viel mehr bedeutete, die innere Konzentrierung aller Gemüts- und Geisteskräfte. Was er erlebte, lernte er bewußter zu erleben, und die Idee der Pflicht begann bald sein Leben zu beherrschen. Er war ein musterhafter, lernbegieriger und trotz seines aufwallenden Temperaments leicht zu lenkender Sohn und
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Schüler, ungewöhnlich früh reif im Wollen und Denken. So konnte der 16jährige Primaner der Dresdener Kreuzschule von den Ereignissen der Revolutionsjahre, dem nationalen Einigungsversuche des Frankfurter Parlamentes, dem blutigen Dresdener Maiaufstande von 1849, der vor seinen Augen sich abspielte, wohl mächtig ergriffen, aber nicht überwältigt und verführt werden. Seine Schwärmerei für die Schönheit und Erhabenheit der Republik legte er sich mit etwas altkluger Vernunft sogleich in das richtige Fach eines unerfüllbaren und für Deutschland nicht möglichen und nicht wünschenswerten Ideals — denn »Ordnung und Gesetzlichkeit«, so schrieb er dem Vater, »mußten sein«. Mit echtem und unbeirrbarem Enthusiasmus dagegen ergriff er das Ideal des einigen, mächtigen und freien Deutschlands und verfolgte Gagerns und Dahlmanns Wirken in Frankfurt mit steigender Leidenschaft. Partikularistische oder dynastisch-konservative Hemmungen empfand er dabei nicht. Der geistige Bruch mit seinem sächsisch-aristokratischen Milieu vollzog sich mit einer naiven Selbstverständlichkeit. Das war redit eigentlich das entscheidende Ereignis seiner inneren Entwicklung. Es ist bemerkenswert, daß dieser mächtige Kämpfergeist den Leitstern seines Lebens ohne inneren Kampf mit unschuldig-hellem Jünglingsblicke entdeckt hat. Auch seine Religiosität entwickelte sich aus der kirchlichen Gebundenheit der Schülerzeit rasch und ohne Aufregung und Skrupel zu dem freien und frommen Glauben an den göttlichen Sinn alles hohen menschlichen Strebens, an den Gott, der in der Geschichte der Menschheit sich offenbart. Im Frühjahr 1851 bezog er voller Wissens- und Lebenslust und mit ernsten und tapferen Vorsätzen die Universität Bonn, um Staatswissenschaften und Geschichte zu studieren und um in Dahlmann, dem Führer der Frankfurter Erbkaiserlichen, einen Führer in Leben und Wissenschaft zu gewinnen. Auch zu dem älteren berühmten Geschichtslehrer der Bonner Hochschule, zu Ernst Moritz Arndt, sah er mit Freuden auf. Die drei Generationen der großen deutschen Nationalführer von 1813, von 1848 und 1870 waren also damals unter dem Dache des Bonner Kurfürstenschlosses vereint. Von den Vorlesungen seiner Lehrer hatte Treitschke bei seiner zunehmenden Schwerhörigkeit freilich nicht viel; aber er verstand trotzdem aus dem Wenigen, was er hörte, den Saft herauszuholen, den er brauchte, und lebendig
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zu kombinieren mit der Lektüre, die er mit eisernem Fleiße betrieb. Man muß seine entzückenden Briefe lesen, um sein reines, freudiges und kräftiges Studentenleben mit zu genießen. Sein Auge half ihm schon hier ersetzen, was das Ohr ihm versagte; er nahm die rheinische Landschaft mit ihren leuchtenden Farben und geschwungenen Linien in sich auf und schwärmte, sang und disputierte mit seinen Freunden. Als ein Teil von ihnen wegzog, andere in die Frankonia traten, entschloß er sich, von Professor Perthes dazu noch ermuntert, im Februar 1852 ihr beizutreten. »In meinem Studium«, schrieb er dem Vater, »hindert mich die neue Stellung durchaus nicht, denn der Umgang ist ganz unbeschränkt, und nur zweimal wöchentlich ist offizieller Kneipabend. Für meine Gesundheit braucht Ihr auch nichts zu befürchten; denn es wird Bier gekneipt, und jeder kann trinken so viel er will.« Zur Beruhigung der Eltern konnte er hinzufügen, daß die Frankonia durchaus keine politische Tendenz verfolge, obgleich begreiflicherweise die meisten Gleichgesinnte seien. Sympathisch war ihm auch ihre Auffassung des Paukwesens. »Wir treten den Raufereien der Korps prinzipiell gegenüber und suchen das Duell dadurch wieder zu Ehren zu bringen, daß wir keine Händel suchen und nur in ernsten Fällen, nach dem Ausspruche eines Ehrengerichts, dann aber ordentlich losgehen: das wissen die Korps und binden deshalb nicht so leicht mit uns an.« Bonn gab ihm alles, was er damals brauchte für Arbeit und Lebenspoesie; nachdem er vom Herbste 1852 an zwei Semester in Leipzig studiert hatte, flog er im Herbste 1853 mit Freuden in das alte Nest und in den Kreis der Bundesbrüder zurück, und der anspruchsvoller und reifer gewordene Student wurde durch das Wiedersehen nicht enttäuscht. »Soviel ich jetzt urteilen kann, ist der Sinn für Poesie und Wissenschaft in der Verbindung noch ebenso lebendig wie die Lust an einem frohen und freien Leben.« Die Freundschaften, die er in der Burschenschaft schloß, hielten zum großen Teile sein Leben hindurch stand. An dem feinen Badener Wilhelm Nokk, der später zum Minister seines Heimatstaates aufstieg, lernte er den Reiz süddeutscher Art kennen; in Alfons Oppenheim gewann er einen Juden zum Herzensfreund, dessen liebenswürdiger Radikalismus und ehrlicher Glaube an die Menschheit ihm audi später, als er gegen die Auswüchse des Judentums kämpfte, unvergessen vor Augen standen. Auch solche
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Freunde, die im späteren bürgerlichen Leben weit hinter ihm blieben, wie der westfälische Jurist Bachmann, die Mediziner Schelske und Frantzius, konnten ihn dauernd fesseln durch geistige Schärfe und Empfänglichkeit. Freundschaft und Verkehr pflegte er schon damals genau in derselben Art wie später. Alle ordinären Elemente hielt er sich fern, aber ohne Hochmut war er Mensch unter Menschen. In der Kneipsprache seiner Burschenschaft war »Bin« das Wort für selige Kommersstimmung, und Treitschke war mit Behagen »urbinvoll«. Aber wenn die Burschenschaften damals rheinaufwärts zum Kommerse fuhren, zogen sie auch an Dahlmanns Hause vorbei und begrüßten ihn mit Hoch und Fahnenschwenken. Treitschke, der Redner und Dichter seiner Burschenschaft, pflegte wohl auszuführen, daß der unmittelbare politische Beruf der Burschenschaft sich überlebt habe. Doch an der indirekten Aufgabe, das akademische Leben zu vergeistigen und durch Bildung tüchtiger Charaktere auch die politische Zukunft sicherzustellen, hielt er fest. Er offenbarte schon jetzt die Herzwurzel seines Lebens mit dem Worte, daß »die sogenannten politischen Ansichten für jeden, der sein Vaterland liebt, mehr sein sollen als bloße Ansichten, weil sie einen Teil seines innersten Wesens, seines tiefsten Denkens bilden sollen«. Es kamen in jenen Jahren nach der Niederwerfung der Revolution und der Enttäuschung der nationalen Hoffnungen flaue Stimmungen obenauf. Philosophie und politischer Idealismus gerieten in Mißkredit, und eine materialistische Lebensauffassung wurde Zuflucht für die müden und kleinen Geister. Poetischer Gestimmte begnügten sich mit der sanften, von den Tiefen des Lebens nichts ahnenden Lyrik Geibels und Roquettes. Treitschke hielt mit eingeborenem Instinkte diese schwächlichen Regungen sich fern. Bei aller Hingabe an die frohe Außenseite des Lebens nährte er in sich als stärkstes Gefühl den Ingrimm über die nationale Schmach Deutschlands. Er hoffte damals ein Dichter zu werden, aber das Ideal des Dichters war ihm der Vaterlandsdichter von erhabenster Haltung, der das Denken der Nation repräsentiere. Seine eigenen Versuche, den Schmerz seines Volkes zu besingen, immer wieder aufgenommen, genügten ihm doch selbst nie ganz. Zum reinen Künstler, der alles Erlebte von sich abzulösen und in die überpersönliche Form zu bringen vermag, hatte er in der Tat, wie ihm sein Bonner Lehrer Simrock sagte, zu viel Vollblütigkeit;
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man darf hinzusetzen, auch zu viel persönliches Ethos und Leidenschaft. Aber diese Leidenschaft wurde damals wie auch später immer in Schranken gehalten durch das, was von Künstlertum in ihm steckte, durch eine herrliche Aufgeschlossenheit für die tausend Gestalten des schönen, reichen und bunten Lebens. Darum wollte er auch in Politik und Geschichte nicht durch die Durchführung eines toten Prinzips, sondern durch die Beobachtung des lebendigen Wechsels der wirklichen Zustände zur Erkenntnis gelangen. Überall regt sich knospenhaft schon sein eigener individueller Genius. Dahlmannsdie Anregungen wirkten dabei allenthalben wohl mit und erhielten doch in seinem Munde sofort einen neuen, helleren und freudigeren Klang. Geschichte wollte er nicht als Raritätenkrämerei treiben, sondern scharf und kühn mit der Gegenwart verbinden; in dieser wiederum nahm er seinen Weg auf einer Mittellinie zwischen Demokratie und Reaktion, die nicht in schwächlicher Vermittlung versumpfen, sondern zur stolzen Höhenlinie werden sollte, um das zu verwirklichen, was über Demokratie und Reaktion hinaus lag: die Einheit und Macht der deutschen Nation. Man muß sich klarmachen, aus welcher eigentümlichen Legierung radikaler und konservativer Gedanken er sein Nationalprogramm bildete und die Gedanken der 48er Führer fortbildete. Schon diese waren recht unitarisch gewesen, aber hatten doch den Einzelstaat in gewissen Grenzen respektiert. Treitschke war gänzlich respektlos, wenn nicht gegen den Einzelstaat, so doch gegen ihre Träger, die Dynastien. »Die Verehrung der angestammten Fürstenhäuser ist mir stets lächerlich gewesen«, bekannte er im November 1854. Aber vom tiefsten Respekte war er erfüllt vor dem Staate, dem tiefsinnigsten Gedanken, den die Menschheit je gedacht habe. Und ein wirklicher Staat war ihm, trotz aller zornig gescholtenen Reaktionswirtschaft dieser Jahre, Preußen. Er hat früh den Schlüssel zu historisch-politischer Einsicht gefunden, unterscheiden zu lernen zwischen dem dauernden historisch geformten Wesen eines Staates und seiner augenblicklichen Regierung. Das hatte schon der liberale Schwabe Paul Pfizer getan, als er 1831 dem preußischen Staate trotz seiner illiberalen Augenblickspolitik die Aufgabe, Deutschland zu einigen, zuerkannte. Treitschke trat 1854 in seine Spuren auch mit dem starken Worte, daß ihm der rascheste Weg zur Einigung der liebste sei und sollte es der Despotismus sein. Er war schon da-
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mais zweifelhaft, ob das Unternehmen der Erbkaiserlidien und der Radowitzsdien Politik, einen deutschen Föderativ- und Bundesstaat aus Monarchien zu bilden, ausführbar sei. Noch mehr quälte ihn die Sorge, ob Preußen, wenn es fortfahre in der Demoralisierung seiner Verwaltung, noch imstande sein werde, Deutschlands Geschicke zu leiten, und ob die Umwälzung, die zur Herstellung einer preußischen Hegemonie nötig wäre, nicht auch zugleich das monarchische Prinzip stürzen würde. Der Vertraute, dem er diese Gedanken ausschüttete, war sein Bundesbruder Bachmann. »In dem Kampfe«, schloß er, »den wir junges Volk stündlich mit den tausend Rätseln des Daseins durchkämpfen, sind mir nur zwei Dinge unangefochten geblieben, an denen ich mit ungeteilter Begeisterung hänge, die Kunst und das Vaterland.« Man darf es der Burschenschaft, deren Farben er trug, nachrühmen, daß sie ihm geboten hat, was er brauchte: mitschwingendes Verständnis und Streben; deutsche Menschen, wie er sie liebte, mit poetischem Gemüte und politischer Leidenschaft. Sie war ihm gleichsam eine erste Repräsentation der Nation, zu deren Idealen er sie mit frühem Führertritt hinleitete. Sein Studiengang führte ihn vom zweiten Bonner Aufenthalte noch nach Tübingen und Heidelberg. Mit einer volkswirtschaftlichen Arbeit promovierte er im November 1854 in Leipzig. Sein Ziel war nunmehr das akademische Lehramt, aber er hatte, bevor er sich zu habilitieren wagte, einige schwere Jahre inneren Drukkes zu durchleben, Strudel und Klippen in dem bisher so gleichmäßig strömenden Lebenslaufe. Die Zeit, die er in Göttingen vom Herbste 1855 bis Frühjahr 1857 verlebte, war stark umschattet. Er war in zweifelndem Schwanken zwischen dem wissenschaftlichen Berufe und dem fast unwiderstehlichen Drange zur Poesie, den er jetzt durch Veröffentlichung seiner Gedichte vor der Welt zu bekennen wagte. Diese Unsicherheit gab ihm den Anstoß zu einer schmerzlichen Revision seines innersten Menschen. Treitschke war keine Faustnatur mit problematischem und dämonischem Untergrunde. Er hat nie an dem Sinne der Welt und den heiligen Aufgaben des ihn tragenden Lebens gezweifelt, und sich nie in eine mephistophelische Allianz begeben wollen, um der Welt beizukommen. Zum verwegenen Spiel mit höllischem Feuer war er viel zu ernst. Um so tiefer empfand er jetzt das, was man das Sündengefühl des modernen Menschen und eines
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modernen, ganz zur Bildungs- und Tatreligion gewordenen Christentums nennen könnte. In sich und nicht in der Welt sudite er die Schuld. »Wer aufrichtig gegen sidi ist«, schrieb er im Juli 1856 wieder an Badimann als Vertrauten, »klagt sich selbst an, und wahrlich, es ist niemand, der an seiner Bildung nicht schwer gesündigt hätte.« Wir sollen und müssen, meditierte er, uns als dienendes Glied dem großen Ganzen der menschlichen Bestrebungen einfügen, aber wie weit sind wir entfernt von der Klarheit darüber und von der Aufgabe des Mannes, aus den Zufällen seines Lebens eine Notwendigkeit zu machen. Auch in der düsteren Depression verlor er nicht seine innere Straffheit und die genaue Kenntnis dessen, was seiner Natur lag. »Das positive Ziel männlichen Denkens ist doch die Tat, die freilich ohne eine Beschränkung auf einen engen Gedankenkreis nicht möglich ist.« Die Elendigkeit der damaligen öffentlichen Verhältnisse mag seine trüben Stimmungen noch verschärft haben. Aber die schlimmen Zeiten des reaktionären Druckes gingen jetzt zu Ende, und der männliche Geist Heinrich von Treitsdikes reifte der Entfaltung zu. Am 8. September 1858 reichte er seine in mühseliger Arbeit entstandene Habilitationsschrift über die »Gesellschaftswissenschaft« der Leipziger philosophischen Fakultät ein, am 24. Januar 1859, dem Geburtstage Friedrichs des Großen, begann er seine erste Vorlesung. In der Zwischenzeit war der entscheidende Umschwung in Preußen eingetreten, der Prinz von Preußen hatte die Regentschaft angetreten und am 8. November 1858 sein Programm verkündet, das trotz aller behutsamen Vorbehalte wie ein erquickender Regen nach langer Dürre wirkte. Treitschke jubelte: »Es gibt wieder ein Preußen.« Wohl ging es von jetzt an wieder aufwärts mit der preußischen Machtentfaltung in Deutschland, aber sehr viel zögernder, als der heißblütige Patriot es ertragen konnte. Während des italienischen Krieges sah er schon im Geiste das preußische Heer auf dem Marsche, um Österreich aus Deutschland zu jagen und den Bundestag mit den 34 Raubstaaten zu vernichten, und leerte am Silvesterabend des Jahres auf dem Königstein, wo sein Vater kommandierte, »in diesem k. sächsischen Burgverließ« sein Glas auf den deutschen Einheitsstaat. Er verlangte den revolutionären Weg, den Sardinien gegangen war, um Italien zu einigen, auch von Preußen und schloß dabei in
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seinen innersten Gedanken audi den Weg einer revolutionären Massenbewegung nicht aus. Aber wo sollte sie, bei der Indolenz der Massen, herkommen? Treitsdike sah es ein und verstand es, seine Leidenschaften den Pflichten des Tages und allen höheren Pflichten eigener innerer Lebensvertiefung einzufügen. Mag das ceterum censeo seiner Briefe, die Einigung Deutschlands durch Preußen, fast wie eine Monomanie berühren — er war zu reich, zu begierig nach Lebensfülle, zu sehr Künstler und Mensch, um aufzugehen nur in einem Gedanken. Ein spezifisch modernes Lebens- und Bildungsideal begann in ihm aufzusteigen, die Vereinigung stärkster Konzentration auf ein großes praktisches Ziel mit weitester Aufgeschlossenheit des Geistes, Leidenschaft zum Schauen wie zum Handeln, rascheres und heißeres Blut in allen Adern. Er spürte wohl, daß seine Generation berufen sei, mit festerem Schritte zu marschieren als die vorangegangene, jetzt müde gewordene der 48er. Es waren die Jahre, in denen auch Bismarck anfing, am alten zu rütteln. Gleichzeitig erhoben sich in der Sphäre des preußischen Staates und des deutschen Geistes zwei stürmende Helden. Ein elementares Feuer durchglühte die wissenschaftliche und künstlerische Betätigung Treitschkes in diesen Jahren. Dem akademischen Lehrer, der jugendliche Leidenschaft so merkwürdig verband mit einer Fülle von farbenprächtigen historischen Anschauungen, strömten die Hörer zu. Als Schriftsteller trat er in den neubegründeten Preußischen Jahrbüchern mit einer Reihe glänzender Aufsätze auf. In Anknüpfung an Gneist behandelte er die Grundlagen der englischen Freiheit. An Milton und Lord Byron und an dem deutschen Landsmann Uhland konnte er das ihm so homogene Thema des Dichters, der zugleich politische Leidenschaft in sich hegt, darstellen. Noch tiefere Töne fand er bei demselben Probleme für Heinrich v. Kleist, und mit seinem Herzblute schrieb er über Fichte und die nationale Idee. Andere Aufsätze sollten dem größeren Werke über die Geschichte des deutschen Bundes, das er plante, den Weg bahnen. An dem deutschen Ordensland Preußens, dem einzigen Stoff aus dem Mittelalter, den er je behandelte, zeigte er im Freskostile eine schon einmal wirksam gewesene Vereinigung deutscher und preußischer Kräfte. Und schließlich griff er auch aus den dichterischen Erscheinungen seiner Zeit drei Gestalten heraus, deren Größe er als
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einer der ersten erkannte: Hebbel, Otto Ludwig und Gottfried Keller. Der damalige literarische Tagesgeschmack war glatter und konventioneller. Auch Treitschke holte aus Gottfried Keller nodi nicht alle ästhetischen Werte heraus, die wir heute an ihm empfinden. Und dodi konnte ihn die Lebensbeichte des Dichters im Grünen Heinrich wunderbar ergreifen und seine eigenen Erlebnisse aufrühren. In erster Linie war es doch die Wahlverwandtschaft des ganzen Menschen, die ihn zu diesen drei Diditern hinzog. Sie gehörten zu dem, was er das »Salz der Erde, die starken, eigentümlichen, ganz auf sich selbst stehenden Menschen« nannte. Ober den Aufgaben des Staates vergaß er nie die Aufgaben der freien Persönlichkeit. Ihre Aufgaben zu vereinigen, wurde sein Lebensgedanke. Er schlug darin mit Bewußtsein die Β rüde e zwischen zwei Zeitaltern der deutschen Geschichte. Das Zeitalter Goethes, Kants und Wilhelm v. Humboldts hatte die höchste Form von persönlicher Freiheit gefunden, die auf sittlicher Selbstbestimmimg, auf Ausbildung der eigentümlichen Kräfte des Individuums beruhte. Die Zeit aber, in der Treitschke lebte, baute am Staate und verlangte als höchstes Gut vom Staate die politische Freiheit und Einheit der Nation. Diese politischen Güter aber waren, wie Treitschke keinen Augenblick verkannte, nur durch Massenbewegungen, durch große geschlossene Parteien zu erreichen, denen der einzelne sich anzupassen hatte, wenn er wirken wollte. Und dieser Verlust an persönlicher Freiheit, den die neue Zeit forderte, war nicht auf das Gebiet der politischen Wünsche beschränkt. Der aufsteigende Mittelstand, der Träger der politischen Bewegung, bedrohte, indem er die Massen audi zu den Gütern der Bildung führen wollte, die Bildung selbst mit Verflachung und konnte unduldsam gegen diejenigen werden, die sich über das konventionelle Niveau zu erheben wagten. Treitsdike sah alle diese Gefahren des demokratischen Zeitgeistes und empfand sie als Bildungsaristokrat am eigenen Leibe. Und doch wurde er nicht bitter und hochmütig. Denn er hatte den großen historischen Blick, der die Kräfte seiner Zeit trotz aller Sorge zu bejahen wagt, und er vertraute darauf, daß schließlich doch nodi immer die wertvollsten Antriebe des geschichtlichen Lebens nicht von den Massen, sondern von den einzelnen lichten Häuptern ausgingen. Sein Glaube, daß persönliche Freiheit im Sinne Humboldts audi im
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modernen Massendasein sich behaupten könne und müsse, klingt audi uns Menschen des 20. Jahrhunderts noch als frohe Botschaft. Kann sie sich aber auch gegenüber dem modernen Staate behaupten? Treitschke leugnete auch hier nicht die Gefahren, die von seiner gesteigerten Tätigkeit drohen. Er sah aber audi hier sichernde Gegenkräfte wirksam. Der Staat strebt nadi Macht, er erreicht im modernen Leben nur dann den höchsten Grad von Macht, wenn er sich auf seine Bürger stützt. »In der sittlichen Welt aber stützt nur, was frei ist.« Politische Freiheit erschien ihm dabei als schlechthin untrennbar von persönlicher Freiheit, denn die höchste Ausbildung der Persönlichkeit verlangt audi die Entwicklung aller männlichen Tugenden, und im Staate werden diese Tugenden entwickelt. Alles hängt innigst zusammen: Freier Staat, politische Freiheit von Volk und Individuum, persönliche Freiheit des Individuums. Diese Gedanken, in seinem klassischen Aufsatze über die Freiheit (1861) niedergelegt, sind vielleicht sein dauerhaftestes Vermächtnis. Sie haben unzähligen modernen i Renschen den Weg gezeigt, die unveräußerlichen Rechte der fr«.'en Persönlichkeit, verwegenen Denkermut und starke Leidenschaften zu vereinigen mit der freudigen Hingabe an die große Gemeinschaft von Staat und Nation. Man wird der Treitsdikesdhen Lehre von der Freiheit nur gerecht, wenn man sich klarmacht, daß alle Freiheit, politische wie persönliche, daß auch die Ideale von Staat und Nation, zu deren Dienste er das Individuum aufruft, nur eben Idealgebilde von dem, was sein soll, darstellen. Aber alle Kulturideale haben es an sich, daß sie nur in unendlicher Annäherung erreichbar sind. Treitschkes Sehnsucht nach dem echten Staate entsprang aus der Abkehr von dem Staate, wie er nicht sein sollte. Die Eindrücke seiner sächsischen Heimat haben früh und sehr tief auf seine Welt- und Staatsanschauung eingewirkt. Er sah hier in der Verwaltung des Ministers v.Beust ein kleinlichgehässiges Regierungssystem mit demoralisierenden Wirkungen. Unbekümmert um die Gunst dieser Machthaber lehrte und schrieb er in Leipzig seine Ketzereien und entschädigte sich für allen Ärger über die heimatlichen Verhältnisse durch den kleinen Kreis gleichgestimmter Freunde, der im »Kitzing« verkehrte und dem Mathy, Freytag und Hirzel angehörten. Daß er, noch nicht ein Dreißiger, eine Macht in Deutschland schon geworden war, erlebte man auf dem
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Feste der deutschen Turner in Leipzig 1863 zum Gedächtnis der Völkerschlacht von 1813. Seine Rede wirkte auf die Hörer, wie die »Grenzboten« erzählten, wie Sonnenschein, Frühlingswehen und reißender Gewittersturm. Gleich darauf, im Herbste 1863, folgte er dem ersten akademischen Rufe auf eine staatswissenschaftlidie Professur in Freiburg. Wohl war das damalige Baden Großherzog Friedrichs ein freierer und frischerer Staat als Sachsen, aber die schlimmen Wirkungen der staatlichen Zersplitterung glaubte er audi hier in der pfäffisdien Stickluft, die er im damaligen Freiburg traf, im zuchtlosen Maulheldentum und der dünkelhaften Überhebung der Süddeutschen zu finden. Und doch sind sie, brach er dabei wieder heraus, herrliche Menschen. Aus ehrlichem Hasse und großherziger Liebe zugleich entstand 1864 seine bedeutendste historisch-politische Schrift »Bundesstaat und Einheitsstaat«. Wie einst Luther gegen die drei Mauern der Romanisten Sturm gerannt war und Hutten in der Trias Romana Stück auf Stück der feindlichen Rüstung dem Gegner vom Leibe gerissen hatte, so tat es hier Treitsdike Punkt für Punkt mit allen Vorurteilen und Vorwänden des deutschen Partikularismus. Er führte Axthiebe gegen einen morschen Baum, der freilich doch nicht ganz so morsdi war, wie er vermeinte. Aber ohne historische Ungerechtigkeiten ist wohl noch kein Geisterkampf gegen Überlebtes geführt worden. Er traute den deutschen Dynastien nidit zu, daß sie sich mit derjenigen Rechtlichkeit und eidgenössischen Gesinnung, die die Voraussetzung eines echten Bundesstaates bilde, zu einem deutschen Bundesstaate zusammenschließen könnten. Und selbst wenn Preußen durch Waffengewalt den Bundesstaat begründe, traute er dem preußischen Staate nicht zu, daß er ihn ohne Herrschsucht leiten würde. Er war ja immer nur aus deutscher, nicht aus schwarzweißer Gesinnung für Preußen eingetreten. Darum wollte er ganze Arbeit getan wissen und einem schädlichen preußischen Partikularismus von vornherein dadurch vorbauen, daß Deutschland ein Einheitsstaat unter preußischer Dynastie würde. Denn, so sagte er, man gehorcht freudiger einem Könige als einem Protektor. Treitschke meinte, daß audi die historischen Entwicklungslinien Deutschlands mehr auf einen künftigen Einheitsstaat als auf einen künftigen Bundesstaat hinwiesen, aber er hatte zu viel Sinn für die Unberechenbarkeit historischer Entwicklungskräfte,
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um apodiktisch prophezeien zu wollen. Die Dynastien und Einzelstaaten haben sich schließlich als lebensfähiger und vor allem als bundesstaatsfähiger erwiesen, als Treitsdike in der Kampfesstimmung am Vorabend des deutschen Krieges glaubte. Das erkannte er selber später freudig an, wie er denn immer bereit war, aus den Ereignissen zu lernen und alle Leidenschaft des Wollens und Hoffens, Zürnens und Kämpfens zu bändigen durch Erfahrung und politische Vernunft. Immer bereit war er dazu, und doch, wie unermeßlich schwer wurde diese Pflicht für Treitschke und sein Geschlecht in den Jahren von Bismarcks Aufstieg. Seine leidenschaftliche Liebe für Preußen wurde auf die härteste Probe gestellt durch die tödliche Verletzung aller liberalen Empfindungen, die Bismarck im Kampfe um die Heeresorganisation gegen das preußische Abgeordnetenhaus beging. Als im Juni 1863 die nach Treitsdikes Meinung verfassungswidrigen Preßordonnanzen ergingen, glaubte er in aller Bedächtigkeit das schwere Wort sprechen zu müssen: »Die Revolution ist in meinen Augen nur nodi eine Zweckmäßigkeitsfrage; sobald sie Aussicht auf Erfolg hat, muß sie gewagt werden.« Aber die Empörung über Bismarcks innere Politik hinderte ihn nicht, den Siegeszug der preußischen Waffen in Schleswig-Holstein zu bejubeln und die Annektierung der Herzogtümer durch Preußen zu fordern. Der ganze große und freie Charakter Treitsdikes entfaltete sich am Vorabend der entscheidenden deutschen Kämpfe von 1866. Bismarck, aufmerksam geworden auf diesen kühnen und geistvollen Vorkämpfer preußisch-deutscher Nationalpolitik, forderte ihn auf, nach Berlin zu kommen und das preußische Kriegsmanifest zu entwerfen. »Sie kennen und fühlen selbst«, schrieb er ihm am 11. Juni 1866, »die tieferen Strömungen des deutschen Geistes, an welche man sich in so ernsten Augenblicken wenden muß, um den rechten Anklang zu finden.« Treitsdike durfte, wenn er dem Rufe folgte, audi auf eine preußische Professur hoffen, eben jetzt, wo der Übergang Badens in das österreichische Lager ihn zu dem Gewissensentschluß führte, seine Freiburger Professur aufzugeben, und zugleich heischten in diesem Augenblicke die Empfindungen persönlichsten Lebens ihr Recht von ihm. Am 18. Juni 1866 verlobte er sich mit Emma v. Bodman. Tags darauf legte er sein Freiburger Lehramt nieder. Den preußischen Waffen wünschte er Sieg, den Antrag Bismarcks aber lehnte er ab, denn
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»idi konnte nicht einer Regierung dienen, deren innere Politik idi bekämpfe«. Als unabhängiger Mann und mit unsicherer Zukunft ging er nadi Berlin, um die Redaktion der Preußischen Jahrbücher zu übernehmen. Er traf in der Nacht vom 3. zum 4. Juli 1866 dort ein, inmitten des Jubels über die Kunde von Königgrätz. Jetzt glaubte er den Augenblick gekommen, wo es politische Vernunft sei, die Leidenschaft ungebändigt ausströmen zu lassen. So rücksichtslos führte er wohl nie wieder seine Feder wie in diesen Wochen; denn die Gelegenheit schien unwiederbringlich, mit der deutschen Vielstaaterei abzufahren und den deutschen Einheitsstaat, wenn audi zunächst nur für Norddeutschland, zu begründen. Nicht nur Hannover und Kurhessen, sondern auch Sachsen, sein eigener Heimatstaat, sollten verschwinden aus der Reihe der deutschen Einzelstaaten. Dies forderte seine Schrift »Über die Zukunft der deutschen Mittelstaaten«. Sie führte den lange schon vorbereiteten Bruch mit seinem tiefverletzten Vater herbei. Dieser erließ eine öffentliche Erklärung, daß er mit Entrüstung und tiefem Schmerze die Äußerungen seines Sohnes über das sächsische Königshaus gelesen habe. Treitsdike, wehe dadurch getroffen, wurde dodi nicht einen Augenblick irre an der Berechtigung seines Handelns, und der Vater, der die reine Grundnatur des Sohnes kannte, vermochte es auch nicht lange, den Groll zu nähren. Eine ebenso freimütige wie liebevolle schriftliche Aussprache zwischen beiden stellte das Verhältnis wieder her. Die hochgehenden Wellen seines Lebens legten sich jetzt. Er erhielt bald eine Professur in Kiel, die er schon im folgenden Jahre 1867 mit der von Baden ihm angebotenen Professur in Heidelberg, dem Lehrstuhle Ludwig Häußers, vertauschte. Sechs Jahre beglückender Arbeit folgten hier. Die historische Muse, die gern auf dem Boden Heidelbergs wandelt, berührte auch seine Stirn jetzt mit besonderer Gunst. Fast alle seine früheren Arbeiten hatten etwas von der Aufregung und Spannung eines großen Kampfes mit unsicherem Ausgange an sich, und der historischpolitische Streiter dominierte über den reinen Historiker. Zu einem solchen wurde er auch jetzt noch nicht, aber doch zeigen seine hier entstandenen oder zum Abschluß gelangten großen Essays über Frankreichs Staatsleben und den Bonapartismus, über Cavour und über die Republik der Niederlande ein reiferes Ebenmaß von farbiger und liebevoller Schilderung und ethisch-
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politischem Pathos. Die Heidelberger Jahre wurden gekrönt durch die unerwartet schnelle Erfüllung seiner nationalen Wünsche. Es war eine schöne Fügung, daß er die Zeit von 1870/71 gerade in Süddeutschland verbrachte als ein Leben und Begeisterung um sich verbreitender Lichtquell. Unvergessen sind noch heute am Oberrhein die mächtigen Worte, mit denen er seine Heidelberger Hörer in das Kriegslager hinaussandte. Treitsdike ist ja wohl niemals ganz auf die Eigenart süddeutscher Kultur und Empfindungsweise eingegangen, und seine Neigung galt mehr den »hellen Augen und starken Armen unserer dem Lichte zugewandten rührigen Norddeutschen«. Dennoch wollte und konnte er immer als »Deutscher schlechtweg« empfinden und die intensivere Wechselwirkung süddeutscher und norddeutscher Art als eine besonders wertvolle Errungenschaft des neuen politischen Einheitslebens begrüßen. Sein ganzes Leben war seit der Studentenzeit darauf eingestellt, Volk und Land in Deutschland zu durchwandern, es in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte zu erfassen und den besonderen Genius jeder Landschaft zu belauschen. Als Mensch, als Deutscher und als Künstler fühlte er sich überall zu Hause, aber sein Wille drängte ihn zum schlagenden Herzen des Ganzen. Darum zögerte er nicht, als ihn 1874 die lange von ihm schon erhoffte Berufung an die Berliner Universität traf. Er löste hier in gewisser Weise Leopold von Ranke in der Funktion ab, der größte Geschichtslehrer der deutschen akademischen Jugend zu sein. Von Ranke war das reinere Himmelslicht echter historischer Anschauung und Vergeistigung ausgegangen. Treitsdike entwickelte die stärkere Glut des nicht nur mitfühlenden, sondern mitkämpfenden, leidenden und jubelnden Gemütes. Er riß audi solche hin, denen das Organ für die Rankesche Kunst fehlte, alles Körperliche in die Schwingung sichtbar-unsichtbarer Ideenwellen zu verwandeln. Dafür verwandelte er vor den Augen seiner Hörer alles vergangene Menschentum in sieht- und greifbare Wirklichkeit und ringende Gegenwart. Man kann seine Wirkung als politisch-historischer Lehrer der Generation, die zwischen 1874 und 1896 akademische Bildung genoß und in das politische Leben hinaustrat, kaum hoch genug anschlagen. Diejenigen, die ihn ganz verstanden, waren davor gefeit, durch seine stolze und oft schroffe Verkündigung deutschen Wesens und preußischer
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Macht zu einem groben Chauvinismus verführt zu werden, denn er gab gleichzeitig audi genug Gegenmittel auf den Weg mit. Aber es gab freilich auch solche, die ihn nicht ganz verstanden und nur seine Einseitigkeiten auf sich wirken ließen. Wer ihn zuerst hörte, war erstaunt über das dumpfe Organ und die merkwürdigen Akzente seiner Rede, die eine Folge seiner Taubheit waren. Aber man gewöhnte sich bald an sie und hatte dann den vollen Genuß seiner padkenden Rede. Seine Lieblingsvorlesung war die über »Politik«. Er hoffte sie einmal zu einem tiefer fundierten Werke auszugestalten und alles Letzte und Höchste über den Staat, was er im Leben gelernt hatte, hineinzulegen. Die nach seinem Tode aus Niederschriften der Hörer zusammengestellten Vorlesungen über Politik geben einen freilich nicht vollkommenen Ersatz dafür. Doch werden sie noch heute der akademischen Jugend, die nach lebendig einführender historischpolitischer Lektüre sucht, immer in erster Linie mit empfohlen werden können. Dasselbe gilt von seinen Schriften zur Tagespolitik, die unter dem Titel »Deutsche Kämpfe« in zwei Sammlungen erschienen sind, und von den Reden, die er als Mitglied des deutschen Reichstages in den Jahren von 1871 bis 1884 gehalten hat. Aber sein eigentliches Lebenswerk wurde die »Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert«, die von 1879 bis 1894 in fünf Bänden erschienen ist und bis zum Vorabend der deutschen Revolution von 1848 reicht. Sie war ursprünglich, wie wir sagten, zu Beginn der sechziger Jahre nur als eine Geschichte des Deutschen Bundes und der Kleinstaaten von 1815 bis 1848, als ein politisches Erweckungsbudi zur Aufrüttelung der Gedankenlosen geplant, aber doch schon mit dem Wunsche, die Wandlungen des Volksgeistes und alle in ihm liegenden köstlichen Kräfte zur Anschauung zu bringen. Es gereichte dem Werke zum Heile, daß die unerwartet rasche Erfüllung seiner nationalen Hoffnungen die erste Absicht in den Hintergrund drängte. Und während er anfangs mit geringem Quellenmaterial das Buch rasdi herrichten zu können geglaubt hatte, führte ihn bald jeder Zuwachs seines Wissens auf das höhere und strengere Ziel, eine breit fundierte, alle Seiten des Volks- und Staatslebens umfassende Gesamtdarstellung zu geben. Es wuchs aus der nationalpolitischen in die wissenschaftliche Sphäre hinüber, aber verlor freilich nie die
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Spuren seines Ursprungs. Darum gehört es zur Gattung der historia militans, wie sie in Deutschland Gervinus, in mannigfacher Hinsicht sein Vorläufer, in England Macaulay und in Frankreich eine ganze Gruppe politisch-rhetorischer Geschichtsschreiber vertraten. Aber es wudis über sie alle hinaus durch die geistige Macht, die sich in ihm entfaltete, durch die unvergleichliche Stärke des Talentes, durch die ganz ungewöhnliche Verbindung höchster sinnlicher Anschaulichkeit und Farbenpracht mit allen Herzenstönen der Liebe und des Hasses. Überall rauscht es von Phantasie und von Energie. Gervinus war vorangegangen mit dem Unternehmen, die geistige Bewegung in Literatur und Kunst zu verknüpfen mit den politischen Abwandlungen. Treitsdike, moderner, realistischer und weniger doktrinär als Gervinus, verstand es, die Fülle der Erscheinungen auf beiden Gebieten mit suggestiver Leibhaftigkeit vor das Auge zu zaubern und durch die Kontrastwirkungen der politischen und der literarischen Abschnitte den Leser beinahe atemlos zu fesseln. In einem Atemzuge kann er schelten und spotten, karikieren und lieben, und ganz eigen ist es, wie zuweilen durch das schwere Gewölk wuchtiger und drastischer Urteile ein versöhnender Sonnenstrahl poetischer und menschlicher Mitempfindung bricht. Treitschke hatte es in seinem Jugendaufsatz über die Freiheit als »eine höchste Blüte feiner und dennoch kräftiger Bildung« bezeichnet, mit dem raschen Mute der Tat die überlegene Milde des Historikers zu verbinden, »um sich zu schlagen in dem schweren Kampfe der Männer und dennoch... mit liebevollem Blicke auch unter der wunderlichsten Hülle der Torheit das liebe traute Menschenantlitz aufzusuchen«. Daß er beides vermochte, macht den Reiz seiner Geschichtsschreibung aus. Aber er vermochte es freilich nidit immer, weil sein Blut zu heiß war. Sein Werk hat, als es erschien, ebensoviel enthusiastische, nicht selten kritiklose Bewunderung wie leidenschaftlichen Protest wider die Ungerechtigkeit und Parteilichkeit seiner Urteile erweckt. Gewiß wurde sein nationalpolitisches Ideal der Einigung Deutschlands durch den preußischen Staat ihm nur zu leicht zum Maßstab des historischen Urteils überhaupt, so daß ihm die Welt in die beiden Heerlager der Förderer und der Hinderer dieses Ideals zerfiel. Das relative historische Lebensrecht, das auch den Bestrebungen der politisch Überwundénen innewohnt, wurde nicht immer erkannt und an-
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erkannt. Das gilt in gewisser Beziehung auch von der Darstellung, die er der Frühzeit der Burschenschaft widmete. Darum konnten sidi ferner in der harten Beurteilung der deutschen Mittel- und Kleinstaaten und des süddeutschen Liberalismus jene Jugendstimmungen wieder geltend machen, die wir oben kennenlernten. Aber audi hier war er wie damals dodi immer wieder imstande, dem Gescholtenen großherzig die Hand entgegenzustrecken. Seine hohe Schätzung der preußischen Staatsleistungen, ebenfalls in Jugendmeinungen schon vorbereitet, konnte sich mit guten wissenschaftlichen Gründen auf die Durchforschung der preußischen Verwaltungsarbeit nach 1815, die er als erster vornahm und bisher unerreicht durchführte, berufen. Seine Stellung zur Monarchie, einst ganz frei von dynastischer Gesinnung, war im Laufe der Zeit unter dem Eindrucke der Persönlichkeit Kaiser Wilhelms I. und der Bundestreue der deutschen Fürsten seit 1871 konservativer geworden. Er wurde durch ein ähnliches Gefühl von nationaler Dankbarkeit und durch die irreführenden Forschungen Max Dunckers verleitet, den König Friedrich Wilhelm III. zu idealisieren. »Ihr vergeßt alle, daß dieser König den Staat gerettet hat«, sagte er mir einmal ganz erregt, als er midi auf Seiten derer fand, die in dem Könige mehr das retardierende Element in der Erhebungszeit von 1813 sahen. Aber mit rücksichtslosem Freimute stellte er Wesen und Politik des unglücklichen Nachfolgers, Friedrich Wilhelms IV., dar. Er wurde, während er an den Akten seiner Geschichte studierte, oft zur Verzweiflung gebracht und hat es dann doch gerade in dieser tragischen Erscheinung verstanden, ergreifende Töne menschlicher und künstlerischer Empfindung anzuschlagen. Es war ihm nicht beschieden, sein Werk in die Zeit hineinzuführen, die er schon selber mit sehenden Augen miterlebt hatte. Als er nach jahrelangen Vorarbeiten darangehen wollte, die deutsche Revolution von 1848 zu erzählen, wurde er im Winter 1895/96 von einer unheilbaren Nierenkrankheit ergriffen. Er rang düster und schwer mit dem Schicksal, das seine gewaltige Kraft zerstörte, als sie eben zur höchsten Leistung sich anschickte. Am 28. April 1896 brach er zusammen. Treitschke gehört zu den Großen unserer Geschichte, nicht zu jenen Großen, die ihrer Generation vorauseilen und deren Werk darum von dieser nur halb aufgenommen werden kann, sondern
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zu denen, die ganz und herzhaft ihre Zeit umfassen und deren eigensten Reiditum herausholen und ausdrücken. Die doppelte Leistung seines Lebens war, Deutschland zur Einheit zu erziehen und ihm den herrlichsten Spiegel seiner Vergangenheit vorzuhalten. Ein Obermensch wollte er nicht sein und hat nie versäumt, »die Pflicht des Mannes zu erfüllen«. Darum war er bescheiden in allem Stolze, gütig und großmütig bei aller Leidenschaft, von großen Gedanken und reinem Herzen in jedem Augenblicke seines Schaffens. Nie aber möge man vergessen, daß er nur deswegen sein Volk einig und mächtig wünschte und nur deswegen seinen Ruhm und seine Größe verkündete, damit ihm Mut und Möglichkeit erwachse, seinen eigentümlichen Genius im Dienste der höchsten Menschheitsgüter zu entfalten. Der deutsche Staat war ihm ein Staat der Humanität, der Freiheit und der Kultur.
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Briefe
Besprechung der Brief-Publikation hrsg. von Max Cornicelius, 3 Bde. Leipzig 1912-1920. Bd. I und II zusammen in der Historischen Zeitschrift Bd. 114 (1915) S. 147-151. Bd. III ebda. Bd. 123 (1921) S. 315-321. I In dreierlei Weise strahlt ein Leben, wie es Treitsdike geführt hat, aus — in den Werken seines Geistes, die aus den drängenden Leidenschaften des Augenblicks sich schließlich erhoben zur gewaltigsten Umfassung und Darstellung der deutschen Volksgeschichte —, in dem lebenswarmen Wirken von Mensch zu Mensch auf Familie, Freunde, Genossen, Schüler und schließlich die N a tion — und endlich für die Nachlebenden in dem vollständigen, unverhüllten Anblicke seines inneren Entwicklungsganges, wie er uns jetzt durch die Ausbreitung seiner Briefschätze geboten wird. In dieser dritten Wirkungsweise berühren sich die erste und die zweite miteinander; das W e r k und der Mensch sind in ihr innigst verbunden, wir stehen gleichzeitig unter dem Banne des Schaffenden und des von ihm Geschaffenen. W i r wollen uns nicht zu der Übertreibung hinreißen lassen, daß man erst jetzt Treitsdike recht verstehen, lieben und bewundern lerne; aber Treitsdike hat doch, wie ungoethisch er auch angelegt war, das mit Goethe gemeinsam, daß alles Wirken und Schaffen nur Konfession des Menschen war. Darum bildet die Veröffentlichung seiner Briefe von der Knabenzeit an bis zum Lebensende den notwendigen Abschluß alles Wissens über ihn. Das Monument seines Lebens und seiner W e r k e wird dadurch vollendet. Es ist auch von mächtiger Wirkung, daß wir in diesen Briefen nur ihn sprechen hören. Den weitaus meisten derer, an die er sie richtete, war er um Haupteslänge überlegen, und ihre Stimmen würden nicht ankommen gegen die seinige. Vielleicht ist auch die Kenntnis der an ihn gerichteten Briefe für das Verständnis seiner inneren Entwicklung deswegen nicht unbedingt erforderlich, weil er früh lernte und durch seine Taubheit gezwungen wurde, sich geistig auf sich selbst zu stellen und trotz eines leidenschaft-
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lichen Freundschafts- und Verkehrsbedürfnisses doch die entscheidenden geistigen Anregungen aus einer viel weiteren und größeren Sphäre, als sie der Kreis der Lebensgenossen bot, sich zu holen. Er wurde schon sehr früh der große Nationalmensch, der das Schicksal seines Volkes zu seinem eigenen Schicksal machte und alles Persönliche des Lebens sub specie der Nation aufzufassen sich gewöhnte. Dennoch wird man wünschen müssen, daß mit der Zeit auch die engeren Kreise, in denen er lebte, helleres Licht empfangen durch Veröffentlichung einer Auswahl der an ihn gerichteten Briefe. Denn einmal werden auch sie einen Widerschein seines Wesens und Wirkens geben, und ferner wird auch das Eigene, was sie ihm gegenüber behaupten und darstellen, uns lehrreiche Einblicke in die Welt geben, aus der Treitschke seine persönlich-menschlichen Eindrücke erhielt. Treitschke verschwendete seine Briefe nicht an unbedeutende und gleichgültige Menschen. Auch diejenigen Jugendfreunde aus der Bonner Franconia, die wie Bachmann, Frantzius, Schelske später in das Dunkel des Privatlebens traten, müssen ihm etwas gewesen sein. Die Briefe seines Jugendfreundes Alfred v. Gutschmid an ihn werden zusammen mit den zur Zeit nicht auffindbaren Briefen Treitschkes an ihn vielleicht noch einmal eine interessante Ergänzung der jetzigen Publikation geben können. Diese beiden extremen Typen deutschen Gelehrtenlebens möchte man noch einmal miteinander freundschaftlich fechten sehen. Aus dem Kreise der späteren Genossen und Mitkämpfer Treitschkes hat uns Dove bereits den Briefwechsel mit Freytag geboten und durch ihn gezeigt, wie auch hier erst durch Rede und Gegenrede das volle Leben sich erschließt. Daß der Herausgeber auch innerhalb der Treitschkeschen Briefe strenge Auswahl übte, Wiederholungen derselben Gedanken, die sich in gleichzeitigen Briefen fanden, strich, auch Personalien im gewöhnlichen Sinne wegließ oder kürzte, ist zu billigen. Er hat, unterstützt von der Tochter Treitschkes, mit großer Liebe und Sorgfalt sich seiner Aufgabe gewidmet und durch gute Einleitungen und Anmerkungen das Verständnis erleichtert. Man wird diese Briefe lesen, solange die Ideale und Kämpfe des 19. Jahrhunderts den Nachkommen etwas bedeuten werden und solange man wünschen wird, ihren inneren Lebensgrund zu kennen. »Aus den Überzeugungen und Hoffnungen eines bedeu-
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tenden, vorwärts strebenden Mannes läßt sich das Herzensgeheimnis einer Epoche weit sicherer erraten als aus dem sorgfältigsten Bericht über die Staatsaktionen« (14. August 1862; 2, 228). Die äußere und innere Umgestaltung der deutschen Nation, die dem schematisierenden Ausländer so leicht als ein Abfall von der idealistischen Kultur der klassischen Epoche, als eine Vergröberung und selbst Verrohung des deutschen Wesens erscheint, wird hier erläutert, gerechtfertigt und geadelt durch den Einblick in ihre Herzenstiefen. Wohl tritt Treitschke von vornherein als ein Glied des neuen willensstarken Geschlechtes auf, das auf steilem und engem Wege zur Tat drängt und die Ruhe sich nicht mehr gönnt zu stiller Menschheitsentfaltung. Und dennoch wird das deutsche Humanitätsideal in keinem Augenblicke dabei preisgegeben, und eine Unterströmung von starker Sehnsucht nach ihm wird immer wieder sichtbar. »Es ist unendlich schwer«, schrieb er dem Vater am 12. Februar 1860, »bei dieser Vielseitigkeit und dem jähen Wechsel der Interessen zu jener ruhigen harmonischen Menschenbildung zu gelangen, die dem Leben seinen Wert gibt.« Das Große und Eigene an ihm aber war, daß dieses Bedürfnis niemals sein Frohgefühl an der eigenen, unruhig vorwärtsdrängenden Zeit geschwächt hat. Den angeführten Worten geht der Satz vorher: »Ich möchte in keiner anderen Epoche leben! Es ist etwas Großes in dem stürmischen Fortschreiten dieser Zeit, die bereits gleichgültig über Bord wirft, was vor 10, 20 Jahren noch alle Gemüter entflammte«, und von allen unwillkürlichen Selbstbekenntnissen dieser Briefe berührt vielleicht keines unmittelbarer, als das schlichte Wort vom 10. Juni 1864: »Ich gehe doch recht herzlich in Genuß und Arbeit des Augenblicks auf.« Er hatte die ganze mächtig bewegte Lebensstimmung des modernen Menschen, der Bildungs- und Tatmensch zugleich sein will und die Vergangenheit sich lebendig macht, nicht um ihr nachzuträumen, sondern um ein Maximum von Welt- und Lebensinhalt zu gewinnen. Dabei war er insofern begnadet vor vielen anderen Mitstrebenden seines und unseres Geschlechtes, als er alle Zwiespältigkeit und Zersplitterung der modernen Kultur gleichsam nur an der äußeren empfindlichen Haut, aber nicht im Kerne seines Wesens erfuhr. Seine tiefe und von großer Leidenschaft durchglühte Natur ist nie eigentlich problematisch gewesen und hat nie den Leitstern verloren, der auf mutige und
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freudige Einordnung in das Ganze der Lebenspflichten ihn wies. Seine politische Entwicklung führte, wie man jetzt ganz klar übersehen kann, in fast unmerkbarem Wachstum und in gerader Linie von den Jugendeindrüdcen des Frankfurter Erbkaisergedankens über den radikalen, selbst die Revolution als Mittel nicht verschmähenden Unitarismus zum Banner des neuen Reiches, und die konservativere Richtung seines Alters war vielfach schon vorgebildet in den Maximen seiner Jugend- und Manneszeit. Sein religiöser Glaube, in der Schülerzeit positiv christlich, vermenschlichte sich schon in der Studentenzeit ohne Riß und Zweifel zum »Glauben an den hohen Beruf eines ewigen Strebens und Sichbildens« (1, 152). Wohl ist auch ihm eine Epoche innerer Kämpfe und schwerer gemütlicher Depressionen nicht erspart geblieben. Auf den Briefen aus Göttingen, wo er sich 1855—1857 auf die Habilitation vorbereitete, ohne doch dabei auf den Beruf zur Dichtkunst schon verzichten zu können, liegt eine dunkle und trübe Farbe, wie sonst auf keiner Epoche seines Lebens. Niemals zweifelte er aber auch in dieser Zeit an den großen Zusammenhängen und Aufgaben des Lebens, immer nur vielmehr an sich und seinem Berufe, und er empfand dabei selber diese krankhafte Zersetzung seines Ichs als etwas ihm innerlich eigentlich Fremdes. »Es lag«, schrieb er an Wilhelm Nokk am 20. September 1856, »ein böser Geist auf mir in diesem ganzen Sommer; mir fehlte, was die Grundbedingung jedes gesunden Lebens ist, die Notwendigkeit, ich möchte sagen, die Bewußtlosigkeit des Handelns, wo man alles, auch das ruhig Überlegte, so tut, als sei es selbstverständlich, wo man keine Zeit hat, sich selbst zu belauschen. Ich dachte nur zu viel an mich, und oft genug klang mir jene gräßliche Frage durchs Herz: Hast du deinen Beruf verfehlt?« Treitschkes Briefe werden auch viele derjenigen ergreifen, die nicht auf dem Boden seiner nationalen und politischen Überzeugungen stehen, vielleicht ihm gar auch die eigentliche Wissenschaftlichkeit absprechen. Andererseits ist unter seinen Bewunderern und Freunden die Zahl derer, die kritiklos auf ihn eingeschworen sind, glücklicherweise nur klein. Aber immer größer wird der Kreis derer werden, die in ihm eine notwendige und große Form modernen Menschentums vorgebildet sehen. Die Art, wie er historische Wissenschaft und nationalpolitisches Streben
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miteinander verband, war wohl zeitlich und individuell bedingt und mit allen Gebrechen soldier Bedingtheit behaftet, aber sie entsprang auch einer höheren, allgemeinen und immer wiederkehrenden Notwendigkeit unserer Kultur. Eine solche geht mit jener »Bewußtlosigkeit des Handelns«, von derTreitsdike sprach, ihren Gang, ohne nach den Klippen zu fragen, an denen sie stranden könnte. II 1912 und 1913 erschienen die beiden ersten Bände dieses Briefwerkes, 1917 die erste und jetzt 1920 die zweite Hälfte des Schlußbandes. So trat uns Treitschkes Geist immer jeweilig wieder nahe in den großen kritischen Stunden unseres Schicksals, und jedesmal erhebt sich ein neues und anderes Zwiegespräch zwischen ihm und uns, dem ihm nachfolgenden Geschlechte, das heute auf die Trümmer des von Treitsdike mit aufgerichteten und verteidigten Werkes schauen muß. In Treitsdike sah das feindliche Ausland während des Krieges einen der drei falschen Propheten des neuen Deutschlands, die ihm den Geist der brutalen Maditpolitik und nationalistischen Uberhebung eingeimpft hätten. Wir konnten und können nicht leugnen, daß Treisdike wie kaum ein anderer die Gesinnungen und Ideale der vor der Novemberrevolution führenden sozialen Schichten Deutschlands beeinflußt hatte, aber wir protestierten entrüstet gegen die Gehässigkeit, die das Bild seiner großen und edlen Persönlichkeit zu trüben versuchte, und waren doch zum Teile uns darüber klar, daß ein Körnchen Wahrheit in der Karikatur der Feinde schon steckte. Alfred Dove schrieb mir schon am 2. November 1914: »Niederträchtig geschickt — aber nichts weiter! — ist die Oxforder Pharisäerschrift >Why we are at war