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German Pages 222 Year 2014
Kai Mitschele, Sabine Scharff (Hg.) Werkbegriff Nachhaltigkeit
Kai Mitschele, Sabine Scharff (Hg.)
Werkbegriff Nachhaltigkeit Resonanzen eines Leitbildes
Publiziert mit der Unterstützung durch die Stadt Karlsruhe, in Verbindung mit Sebastian Felzmann.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort
Kai Mitschele & Sabine Scharff | 7
SCHÖNHEIT Modewort mit tiefen Wurzeln. Über die langsame Entdeckung der Nachhaltigkeit
Ulrich Grober | 13 Was heißt nachhaltig in Architektur und Städtebau?
Susanne Hauser | 39 Designaufgabe Nachhaltigkeit. Vom Marketingmumpitz zum Gestaltungsprinzip
Moritz Gekeler | 57
EINZIGARTIGKEIT Wovon reden wir überhaupt? Zur Kritik des Überlebens
Wolf Dieter Enkelmann | 75 Mit Energie zur nachhaltigen Entwicklung
Armin Grunwald | 95
Mutterleib und kaltes Herz. Helfen intelligente Küchen aus autogerechten Städten?
Bernhard Wiens | 113
FRAGILITÄT Deutschlands Energiewende. Zukunftsweisende Vision oder realitätsferner Sonderweg?
Gerd Ganteför | 145 WACHSTUM ./. KRISE. Zwei antagonistische Modelle zum Thema Nachhaltigkeit
Yana Milev | 171 Von Dodos und Java-Nashörnern – oder auch nicht!
Manfred Niekisch | 195
Autorinnen und Autoren | 207 Personen- und Sachregister | 211
Vorwort K AI M ITSCHELE & S ABINE S CHARFF
»Das ökonomische System fällt auf die Fresse und nur deshalb erfindet man eine Ökologie« (Baudrillard 1978: 119) oder müsste man heute eher sagen ›und nur deshalb erfindet man eine Nachhaltigkeit‹? Gut vierzig Jahre nach Ausrufung der ›Grenzen des Wachstums‹ und zahlreiche Krisen später weiß keiner mehr wohin mit den ganzen nachhaltigen Entwicklungen. Den Fall des ökonomischen Systems mag seit 2009 wohl kaum mehr einer bestreiten und dass dieses Leitbild Nachhaltigkeit einen durchaus zwiespältigen Charakter eingenommen hat, ist dank nicht enden wollender Vorführungen diverser politökonomischer GovernanceSysteme (Yana Milev, S. 171-194) auch schon lange kein Geheimnis mehr. Jedoch kann auch diese Einsicht dem Dilemma aus Handlungsethik, Klimawandel und Wirtschaftskrise kaum Abhilfe verschaffen. Sogar auf Wikipedia – der Plattform par excellence zur homogenen Meinungsdarstellung – finden sich unter dem deutschsprachigen Eintrag ›Nachhaltigkeit‹ Überschriften wie »Definitionsvielfalt« oder »Aktuelle Konzepte der Nachhaltigkeit« (Wikipedia 2013), was verdeutlicht, dass sich die allgemeine Dilemma-Struktur nicht nur auf die Ebenen von Geisteshaltung und Praxis bezieht, sondern tief im Begriff der Nachhaltigkeit selbst verankert ist. Friedrich Nietzsche weist darauf hin, dass die Definition eines Begriff nicht immer das beste Mittel zur Klärung desselben darstellt: »[A]lle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat« (Nietzsche 1999: 317). Nachhaltigkeit hat eine lange Geschichte und nicht etwa erst seit dem Brundtland-Bericht von 1987 oder Carlowitz’
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Sylvicultura oeconomica von 1713. Das Prozesshafte an diesem Begriff mag aufgrund seiner starren Etymologie des ›Haltens‹ (Ulrich Grober, S. 13-37) zunächst irritieren, doch man beachte die enorme Vielfalt an Lebensbereichen und Forschungsdisziplinen – allein in diesem Band –, die sich mittlerweile der Nachhaltigkeit widmen. Im Jahr 2013 und somit bei Carsharing, Cradle-to-Cradle-Visionen und dem Erneuerbare-Energien-Gesetz angekommen, lässt sich also kaum mehr von einem singulären Erscheinen sprechen, denn vielmehr von einem kulturprägendem Merkmal oder einem kulturellen Werk. Mit dem Abschied von einer Definition, aus der sich gewisse, oft tautologische Handlungsanleitungen ableiten ließen, kommen wir an einen Punkt, von dem aus sich zwei Axiome auftun: Zum einen wird oftmals versucht, durch die Nachhaltigkeit an etwas ›festzuhalten‹ oder gar etwas ›aufzuhalten‹, das seinem Wesen nach aber in ständiger Wandlung und Bewegung ist. Die Forderung nach einer Sensibilität für die sehr vitale Diversität unserer Mitwelt (Manfred Niekisch, S. 195-205) wird gerne im Sinne eines verkrampften Innehaltens interpretiert. Nachhaltigkeit bezieht sich jedoch immer auf alle Komponenten des Zeitlichen und wenn sie wirken soll, ist es an der Gesellschaft, die gewöhnliche Ökonomie des Überlebens zu überwinden (Wolf Dieter Enkelmann, S. 75-93) und ihr diese freie Wirkungsspanne zu schaffen. »Die Wahrheit des Werks in der Gemeinschaft und des Werks der Gemeinschaft […] liegt weder in der Vollendung ihres Wirkens noch in der Substanz und der Einheit ihres ›Opus‹« (Nancy 1988: 154). Zum anderen – und wir folgen hier Nancys gelegter Spur – enthüllt und löst sich das Werk erst unter den Werkenden selbst auf, um sich »dadurch der unendlichen Kommunikation der Gemeinschaft« (ebd.) zu eröffnen. Denn nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum bewegt sich die Nachhaltigkeit mehrdimensional. Sie spiegelt ein Verhältnis zwischen Natur und Mensch, dessen Bild sich hier in neun Resonanzen auf das Da–zwischen von ›ungenâtûrter nâtûr‹ und ›genâtûrter nâtûr‹ (Meister Eckhart 1991: 537) mitteilt. Jenseits von Gentrifizierungs- und Genderfragen (Bernhard Wiens, S. 113142) sowie diesseits von Technikoptimismus und Energiesparmodus (Armin Grunwald, S. 95-111) könnte man die Nachhaltigkeit auch als Medium zur Kommunikation verstehen. So denn wir die Nachhaltigkeit als Medium begreifen, gilt für ihren Bericht zur Lage derart auch, dass sich »vor jeder Mitteilung über die uns mitteilenden Medien diese als symbolische Relation ins Reale eingegriffen und
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den Platz, von dem wir sprechen, verschoben [haben]« (Tholen 1997: 107). Ein ›Platzverweis‹ zugleich, der der Rede vom Tag »[that] changed the way we look at our home planet« (NASA Earth Observatory o.J.) vorgängig und gleichsam nicht einzuholen ist. Derart unverortet kann einem die Verfolgungsjagd eines designten Gespenstes (Moritz Gekeler, S. 57-71) oder das behäbige Winden in eine ehrgeizige Energiewende (Gerd Ganteför, S. 145170) schon zweifelhaft erscheinen. Wobei zugleich, remediatisiert, der ›ewige‹, ›natürliche‹ Stoffkreislauf als Ideal der Modellierung, nicht nur in Architektur und Städtebau (Susanne Hauser, S. 39-55), heimisch und auch durchweg sinnstiftend zu sein scheint. Wenn wir also im Titel dieses Bandes von einem ›Werkbegriff‹ sprechen, verstehen wir dies als ein Angebot, den Begriff Nachhaltigkeit in seiner Bewegung an- und wahrzunehmen sowie genau auf das zu hören, was dieses ›gewirkte‹ Leitbild uns von Raum und Zeit zu berichten hat. Ein Leitbild, in dessen zeitgenössischem Ausgang das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ausgerufene Wissenschaftsjahr 2012 – Zukunftsprojekt Erde, aus welchem auch der vorliegende Band hervorgeht, mitschwingt. Die dort gestellten Fragen »Wie wollen wir leben? Wie müssen wir wirtschaften? Und wie können wir unsere Umwelt bewahren?« (BMBF 2013) wie auch die vorliegenden Beiträge dieses Bandes ordnen wir demzufolge jener, inzwischen zur Ikone der Mediengeschichte stilisierten »großen Erzählung« von blue marble und ihren ›drei Schlüsselwörtern Schönheit, Einzigartigkeit, Zerbrechlichkeit‹ (Grober 2013: 30) zu. Die Geschichte und Wirkung dieses Mediums selbst verdankt sich wiederum im Besonderen dem finanziellen sowie ideologisch offenen Bemühen der Stadt Karlsruhe.
L ITERATUR Baudrillard, Jean (1978): »Warum Ökologie. Eine Diskussion zwischen Libération, Brice Lalonde, Dominique Simonnet, Laurent Samuel und Jean Baudrillard«, in: Jean Baudrillard, Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin, S.119-127. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2013): Das Wissenschaftsjahr 2012 – Zukunftsprojekt Erde, http://www.bmbf.de/de/17 858.php vom 01.01.2013.
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Carlowitz, Hans Carl von (2013): Sylvicultura oeconomica. Oder Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur Wilden Baum-Zucht, München. Grober, Ulrich (2013): Modewort mit tiefen Wurzeln. Über die langsame Entdeckung der Nachhaltigkeit, in: Kai Mitschele/Sabine Scharff (Hg.), Werkbegriff Nachhaltigkeit. Resonanzen eines Leitbildes, Bielefeld, S. 13-37. Meister Eckhart (1991): Predigten, Traktate (= Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, Band 2), Aalen. Nancy, Jean-Luc (1988): Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart. NASA Earth Observatory (o.J.): History of the Blue Marble, http://earth observatory.nasa.gov/Features/BlueMarble/BlueMarble_history.php Nietzsche, Friedrich (1999): Zur Genealogie der Moral, in: Giorigio Colli/ Mazzino Montinari (Hg.), Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke (= Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 5), München/Berlin/New York. Tholen, Georg Christoph (1997): »Digitale Differenz«, in: Wolfgang Coy/ Georg Christoph Tholen/Martin Warnke (Hg.), Hyperkult: Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien. Basel/Frankfurt a. Main, S. 99119.
Schönheit
Modewort mit tiefen Wurzeln Über die langsame Entdeckung der Nachhaltigkeit U LRICH G ROBER
Alle reden von Nachhaltigkeit: UN-Gremien und Dorfbürgermeister, Konzernzentralen und Graswurzel-Initiativen, Landfrauenvereine und LifestyleMagazine, Grundschulen und Exzellenz-Universitäten. »Sustainability is the key to human survival.« (Weeramantry 2008) Nachhaltigkeit ist der Schlüssel zum Überleben der Menschheit. So prägnant drückte es Christopher G. Weeramantry aus, der frühere Vizepräsident des Internationalen Gerichtshofes. Erst kürzlich, im Sommer 2012, haben die UN auf ihrer Conference on Sustainable Development in Rio de Janeiro (Rio+20) ihr Leitbild bekräftigt. Im Vorfeld dieses Gipfels hatte der Generalsekretär der Konferenz, der chinesische Diplomat Sha Zukang, formuliert: »Nachhaltige Entwicklung ist nicht optional. Sie ist der einzige Weg, der es der gesamten Menschheit erlaubt, ein gutes Leben auf diesem einzigartigen Planeten zu führen« (UNRIC 2012: 2). Nur ein frommer Wunsch? Alle diese programmatischen Erklärungen und Bekenntnisse bedürfen dringend der Ergänzung durch einen zutiefst beunruhigenden Befund: In den zwanzig Jahren, seitdem im ›globalen Dorf‹ von sustainable development die Rede ist, nahm der ›ökologische Fußabdruck‹ der Menschheit ungebremst weiter zu. Um diese Messgröße zu veranschaulichen, bringen US-Ökologen neuerdings das Denkbild vom Earth Overshoot Day ins Spiel. Das ist der Tag, an dem wir jedes Jahr die Grenzen der Belastbarkeit der planetarischen Ökosysteme überschreiten.
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Im Jahr 2011 fiel dieses Datum nach den – zugegeben: vagen – Berechnungen auf den 27. September, 2012 schon auf den 22. August. So früh wie nie zuvor war die Menge an Naturgütern verbraucht, die der Planet im ganzen Jahr erzeugte. So früh wie nie zuvor war die Menge an Müll deponiert und an Emissionen in die Luft geblasen, welche die Ökosysteme im ganzen Jahr absorbieren konnten. Nur ein Faktor: 2012 kletterte der weltweite Ausstoß an klimaschädlichem Kohlendioxid auf einen neuen historischen Höchststand. Die Kräfte, welche die Erde in Turbulenzen bringen, sind also nach wie vor stärker als die Gegenkräfte. Sie tragen uns weiter weg vom Ziel der Nachhaltigkeit. Aber was ist Nachhaltigkeit? Die am meisten zitierte Formel ist schon fünfundzwanzig Jahre alt. Sie findet sich im Abschlussbericht der UNBrundtland-Kommission von 1987. Unter »nachhaltiger Entwicklung«, so heißt es dort, verstehen wir eine Entwicklung, »welche die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen« (United Nations 1987: 43). Mit diesen Worten hat die Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen vor fünfundzwanzig Jahren den modernen Begriff weltweit eingeführt und dessen Aufstieg zum Leitbild für das 21. Jahrhundert vorbereitet. Diesen Schritt hat der ›Erdgipfel‹ der UN in Rio 1992 vollzogen. Seitdem ist der Rang dieses Begriffs auf internationaler Ebene fest etabliert. Er ist und bleibt Hauptbegriff und Leitbegriff, das Leitbild im Zukunftsdenken der Weltgemeinschaft bei der Gestaltung des 21. Jahrhunderts – und für die Rettung des Planeten aus einer tiefen Krise. Meine These: Die Etablierung dieses Konzepts war ein Ereignis von epochalem Rang, ein großer Wurf. Seine Tragweite und seine Tiefendimension aber haben wir noch längst nicht verstanden. Wie so oft in solchen Fällen ist der Rückgriff auf die Geschichte des Begriffs hilfreich, ja sogar notwendig. Was der Philosoph Werner Beierwaltes für die Philosophie allgemein formulierte, gilt für den Nachhaltigkeitsdiskurs in besonderer Weise: »Die systematischen Grundprobleme der Philosophie sind keine Neuentdeckungen der Gegenwart. Sie werden in ihrer Komplexität überhaupt erst verstehbar, wenn die vielfältigen Aspekte, die zuvor schon von vielen erfasst, bedacht, verworfen oder gebilligt, weiterverfolgt oder aufgegeben worden sind, neu ins Bewusstsein gehoben und bewertet werden.« (Schmitt 2011)
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Mit Erstaunen stellt man dabei fest: Dieses ›neue Denken‹ ist keine ›Kopfgeburt‹ aus den Thinktanks der UN. Es ist mit tiefen Wurzeln in den Kulturen der Welt verankert. Der Begriff selbst hat wesentliche Prägungen in der europäischen und ganz spezifische Ausformungen in der deutschen Kulturgeschichte erhalten. Dieses kulturelle Erbe als eine lebendige Ressource zu nutzen, könnte dazu beitragen, dem Begriff neue Tiefenschärfe zu geben, ihm seine Würde, ja eine ›Aura‹ zu verleihen.
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›Nachhaltigkeit‹ – so lautet ein weit verbreitetes Vorurteil – ist ein total unsinnliches Wort. Nach und halten, -ig und -keit – die Bestandteile des Wortes wirken zusammengenommen zunächst tatsächlich ziemlich sperrig. Doch dieser Eindruck verflüchtigt sich, sobald man in das ›Wildbad‹ der Sprache und der Wortgeschichte eintaucht. Mein Favorit im Dickicht der Definitionen ist schon zweihundert Jahre alt. Er findet sich in Joachim Heinrich Campes Deutschem Wörterbuch von 1809: »Nachhalt… ist das, woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält« (Campe 1809: 403). Nur ein kurzer Satz. Aber er öffnet einen Zugang zur Tiefendimension des Wortes. Nachhaltigkeit erscheint hier als Gegenbegriff zu ›Kollaps‹. Jetzt wird es spannend. Dasselbe Denkbild liegt nämlich dem modernen Nachhaltigkeitsbegriff zugrunde. Zu Beginn dieses Neustarts der alten Idee stand der Bericht an den Club of Rome. Seine Autoren suchten 1972 nach einem Modell für ein ›Weltsystem‹, das ›nachhaltig‹ (sustainable) ist. Und das heißt: Gegen einen »plötzlichen und unkontrollierbaren Kollaps« gefeit und »fähig, die materiellen Grundansprüche der Menschen zu befriedigen« (Meadows et al. 1972: 158). So steht es wörtlich in der berühmten und schnell – vorschnell – für obsolet erklärten Studie über die ›Grenzen des Wachstums‹. Ist das unsinnlich? Wer schon mal ein Haus gebaut oder renoviert hat und an den tragenden Wänden oder am Fundament mit Hand angelegt hat, also an dem, was der Statik ihren Halt gibt, weiß, dass es sich hier um etwas eminent Sinnliches – mit gleich mehreren Sinnen Wahrnehmbares – handelt. Die ›nachhaltenden‹, also dauerhaft haltbaren, tragfähigen Elemente einer Konstruktion vermitteln erst das Gefühl von Bewohnbarkeit. Sie antworten auf das Grundbedürfnis nach Sicherheit. Und umgekehrt: Die
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Bilder und der Krach einstürzender Bauten machen den Sitz und den Wert der tragenden Elemente dramatisch und lautstark bewusst. Ihre Staubwolken und Schockwellen erzeugen einen emotionalen Ausnahmezustand, den wir mit dem englischen Wort thrill – Angstlust – benennen. Nachhaltigkeit als Gegenbegriff zu ›Kollaps‹ neu und umfassend ins Spiel zu bringen, halte ich für brandaktuell. In Zeiten, in denen das Ökosystem Klima in schwere Turbulenzen geraten ist, in denen in den Gesellschaften Solidarität und Gemeinsinn so schnell schmelzen wie die Gletscher der Polarkappen, Global Players über Nacht kollabieren, ganze Staaten zu ›scheitern‹ und im Chaos zu versinken drohen, wird Nachhaltigkeit notwendigerweise zum Mega-Thema. Nicht als Sahnehäubchen auf dem Kuchen einer Überflussgesellschaft, sondern als Schwarzbrot des politischen Handelns auf allen Ebenen und – für den Einzelnen – einer ökologischen Überlebenskunst. Eine solche Bestimmung des Begriffs führt notwendigerweise zu der Frage nach den jeweiligen Ursachen des Kollapses. Dieser Frage ist der amerikanische Historiker Jared Diamond anhand zahlreicher historischer Beispiele, von den Wikinger-Kolonien auf Grönland bis zu den Siedlungen auf den Osterinseln, nachgegangen. Seine Antwort: Zum einen sind es das anhaltende Bevölkerungswachstum und die dauerhafte Übernutzung der Ökosysteme, also der Raubbau an der Natur. Zum anderen ist es die zu große Kluft zwischen arm und reich in den Gesellschaften. Und nicht zuletzt ist es die Folge mangelnder Lernfähigkeit (vgl. Diamond 2005). In genau diesem Kontext von ökologischer und sozialer Krise verweist Nachhaltigkeit auf das, was auf lange Sicht, über die Kette der Generationen hinweg, tragfähig ist. Es bündelt die Lösungsansätze. Es rückt das konstruktive und lebensbejahende Denken und Handeln in den Fokus. Nachhaltigkeit ist im Kern ein ethisches Prinzip. Und zwar – meine These – das wichtigste, das wir im 21. Jahrhundert haben. Halten wir fest: Die Idee der Nachhaltigkeit ist weder eine Kopfgeburt moderner Technokraten noch ein Geistesblitz von Ökofreaks der Generation Woodstock. Sie ist ein elementares geistiges Weltkulturerbe. Es war der britische Thronfolger Prinz Charles, der vor einigen Jahren die Frage aufwarf, ob nicht »tief in unserem menschlichen Geist eine angeborene Fähigkeit schlummert, nachhaltig im Einklang mit der Natur zu leben (to live sustainably with nature)« (HRH The Prince of Wales 1994; Hervorhebung U.G.).
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Im Museum am Rande der Altstadt von Bozen liegt er in einer tiefgekühlten Vitrine aufgebahrt: Der namenlose Mann aus dem Eis, den wir Ötzi nennen. Er war einer von uns, der erste Europäer, den wir von Angesicht zu Angesicht kennen. Die Mumie aus dem 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung ist überraschend schmalschultrig und feingliedrig. Die eingetrockneten Augen sind nach oben gerichtet. Die rechte Hand, mit der Ötzi das Beil führte und den Bogen spannte, greift ins Leere. Rings um den gläsernen Sarg sind die Überreste seiner Ausrüstung ausgestellt. Jedes Stück spiegelt seine halbnomadische Lebensweise. Alles ist bis ins Letzte durchdacht, alles perfekt seiner natürlichen Umwelt, seinen Bedürfnissen, seinen Zielen angepasst. Die Stiefel mit der Sohle aus Braunbärenfell, dem Oberteil aus Rindsleder und dem Innengeflecht aus Lindenbast sind absolut hochgebirgstauglich. Das Kupferbeil ist ein gusstechnisches Meisterstück, der Jagdbogen aus Eibenholz modernen Sportbögen an Reichweite und Durchschlagskraft beinahe ebenbürtig. Die Konstruktion des Außengestells am Rucksack gilt bei heutigen Outdoor-Ausrüstern als optimale Lösung für den Transport schwerer Lasten. Neun einheimische Arten von Holz sind verarbeitet. Für jeden Zweck hat er exakt die am besten geeignete Sorte ausgewählt. Die Sorgfalt, mit der er das volle Spektrum der heimischen Ressourcen nutzte, und die Eleganz der Einfachheit, die jedes seiner Artefakte auszeichnet, geben über die Jahrtausende hinweg den Blick frei – auf einen schöpferischen Geist. Der Gletschermann – der archetypische homo sustinens? Einer aus der langen Ahnenreihe der Erfinder der Nachhaltigkeit? Ein kleines, spät entdecktes Detail stört das Bild. In Ötzis linker Schulter steckt eine Pfeilspitze. Die hat ihn getötet, nicht Kälte, Schnee und Eis. Jäger nennen das einen Blattschuss. Offenbar war er auf der Flucht. Ein Opfer und Täter, Jäger und Gejagter in einer blutigen Stammesfehde? Viele klimahistorische Befunde, so sagen die Gletscherforscher, deuten darauf hin, dass in Ötzis Epoche ein Kälteeinbruch den Alpenraum erreichte. Ötzis gewaltsamer Tod, so eine Hypothese, könnte mit dem Kampf um die schrumpfenden Weidegebiete zu tun haben. Ein Klimakrieg vor über fünftausend Jahren? Ein merkwürdiger Gedanke angesichts der Vitrine im Museum: Sein Sarg aus Eis taut infolge der Erderwärmung auf und entlässt aus der Tiefe der Zeit einen stummen Boten in unsere Gegenwart.
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Um den Zeithorizont zu verstehen: Zu Ötzis Lebzeiten war Babylon erst eine Ansammlung von Lehmbauten im Zweistromland. Aber viel weiter östlich, im Flussgebiet des Indus, besang man möglicherweise schon damals die »alles tragende, fest gegründete, goldbrüstige Mutter Erde« und betete: »Was ich von dir, o Erde, ausgrabe, laß es schnell nachwachsen. Laß mich, o Reinigende, weder deinen Lebensnerv durchtrennen noch dein Herz durchbohren« (Whitney 1905: 667). Kann man nicht auch diese, später in der vedischen Hymne an die Erde überlieferten Verse als eine Formel für Nachhaltigkeit lesen? Kein Begriff, aber eine archaische Beschwörung, die Prozesse des Wachsens und Nachwachsens in der Natur als etwas Heiliges zu respektieren. Indira Gandhi, die damalige indische Ministerpräsidentin, hat sie 1972 in Stockholm auf der ersten großen UN-Umweltkonferenz in diesem Sinne zitiert. Sie rief damit ins Bewusstsein, dass die Idee der Nachhaltigkeit unser ureigenstes Weltkulturerbe ist.
D ER S ONNENGESANG »Laudato si, mi signore, cun tucte le tue creature, / spetialmente messor lo frate sole, / lo qual’è iorno, et allumini noi per loi. […] Gelobet seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, / vor allem dem Herrn Bruder Sonne, der den Tag heraufführt und uns durch sich erhellt.« (Assisi 1997: 518 ff.)
Der fromme Lobpreis versetzt uns in die Welt der mittelalterlichen Klöster und in die Zeit der Kathedralen. Genauer gesagt: in die Parallelwelt der Einsiedeleien auf durchsonnten Berghöhen, der endlosen staubigen Landstraßen Mittelitaliens, der Dorfarmut und ihrer barfüßigen Propheten. Canticum Solis, der Sonnengesang des Franziskus von Assisi, die mittelalterliche Ode an die Schöpfung, ist wie kein anderer Text aus dieser Epoche in unserem kulturellem Gedächtnis präsent. Sein ›ökologischer‹ Gehalt ist schon häufig bemerkt worden. Der Sonnengesang enthält aber auch das begriffliche Grundgerüst der Nachhaltigkeit. Entstanden ist er in der – damals – schlichten, von Olivenhainen und Zypressen umgebenen Klosteranlage von San Damiano am südlichen Abhang des Hügels, auf dem die Stadt Assisi thront. Ein Jahr vor seinem Tod erlebt Franziskus hier einen »strahlenden Sonnenaufgang in der Seele«.
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Die Dichtung aus fünfzig Zeilen nimmt ihren Ausgang vom Allerhöchsten: »Gelobet seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen« – cun tucte le tue creature. Aufschlussreich ist die Vokabel ›tucte‹. Der Aufstieg der Seele führt nicht über die Abwertung der materiellen Welt. Im Gegenteil. Die Seele öffnet sich zu allen Geschöpfen, zur ganzen Schöpfung. Von Anfang an bringen die laudes creaturarum Fülle, Ganzheit, Einheit und immer wieder die Schönheit von scheinbar unbelebter Materie und lebendiger Natur ins Spiel. Tucte le tue creature – in der Sprache der Ökologie und Erdsystemforschung von heute: das ›Netz des Lebens‹. Die Blickachse des Textes verläuft vertikal. Die Anordnung seiner Bilder führt von ganz oben nach ganz unten. Vom Allerhöchsten über die Sonne, den Mond und die Sterne, durchquert sie die Lufthülle der Erde, die Atmosphäre, und erreicht die Biosphäre, die Gewässer und den Erdboden. Doch Franziskus spricht nicht einfach von Sonne, Mond, Wind, Wasser, Feuer… Die Rede ist stets von frate sole, sora luna, frate vento, sora aqua, frate focu. Alles ist Bruder oder Schwester. Mensch und Naturphänomene haben gleichen Ursprung und gleichen Rang. Sie sind Geschöpfe eines gemeinsamen Vaters. Hier geschieht etwas Bedeutendes: Die franziskanische Perspektive hebt die Trennung zwischen Mensch und übriger Schöpfung auf. Sie vollzieht einen radikalen Bruch mit machtvollen Traditionen des antiken und christlichen Denkens – und fordert mindestens ebenso radikal die westliche Moderne heraus. Sich die Natur untertan zu machen. Das war – und ist – im Mainstream der Tradition legitim, ja sogar ein Gebot. Für uns ist es Normalität. Der neue Mensch einer franziskanischen solaren Zivilisation dagegen akzeptiert und feiert seine eigene Naturzugehörigkeit. In dieser Versöhnung liegt die spirituelle Basis für die ›Kommunion‹, für eine universale geschwisterliche Gemeinschaft von Menschen und Mitwelt. Herausgehoben ist die Sonne. Sie ist nicht nur frate. Als unendliche Quelle des Tageslichts, der Energie, des Lebens ist sie gleichzeitig messor – Herr oder (legt man das grammatikalische Geschlecht des deutschen Wortes zugrunde) Herrin. Die Sonne zieht besondere Attribute auf sich: schön, strahlend, glanzvoll. Sie ist Quelle von Freude und ästhetischem Genuss. Ja, sie ist sogar wie in so vielen Kulturen der Welt »dein Gleichnis, o Höchster«, Symbol der Gottheit. Sonne und Mond sind komplementär. Wie Tag und Nacht, hell und dunkel, Klarheit und Geheimnis. Sora luna e le stelle, Mond und Sterne, gehören noch zum himmlischen Bereich.
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In der Schwärze des Kosmos wirkt das Funkeln der Gestirne »kostbar und schön« (pretiose et belle), erscheint der Mond, sein Zyklus, seine sanfte Energie als besonders geheimnisvoll und anziehend. Mit der anschließenden Strophe tritt die Bildfolge des Textes in die Sphäre der vier irdischen Elemente Luft, Wasser, Feuer, Erde ein. »Gelobet seist du, mein Herr, durch Bruder Wind.« Ihm zugeordnet sind die Luft, die Wolken, »heiteres und jedes Wetter«. Die Rede ist also von der Lufthülle der Erde in ihren verschiedenen Erscheinungsformen – also vom Klima. Genau an dieser Stelle taucht im Sonnengesang zum ersten Mal das Ursprungswort von sustainability auf: sustentamento. Franziskus lobt Gott für die Phänomene der Atmosphäre, »durch welche Du Deinen Geschöpfen sustentamento gibst« (per lo quale a le tue creature dai sustentamento) also Halt, Unterhalt, Nachhalt. Wobei sustentamento all das bezeichnet, was zur Erhaltung und zum Fortbestehen von Lebewesen und Dingen notwendig ist: Lebensunterhalt, Existenzgrundlagen. Ihre dauerhafte Sicherung ist eine Gabe Gottes. Er gewährt sie nicht allein durch Bruder Wind. Genauso haben »Schwester Wasser« (charakterisiert als sehr nützlich, demütig und kostbar) und »Bruder Feuer« (schön, angenehm, robust und stark) ihren Anteil. Der Sonnengesang wird nun zum Gesang der Erde. »Gelobet seist Du, mein Herr, durch unsere Schwester Mutter Erde.« Wie die Sonne ist auch die Erde – und damit ist hier vor allem das Erdreich, der Humus, der Mutterboden gemeint – doppelt hervorgehoben. Sora nostra mater terra. Sie ist nicht allein our fair sister wie in dem Doors-Song von 1967. Aber auch nicht nur Magna Mater, die große Mutter, wie in archaischen Kulten, oder Gaia, Erdgöttin. Die mütterliche Erde bekomme bei Franziskus zusätzlich das »Gesicht einer Schwester«, schreibt Eloi Leclerc, und damit eine neue – ewige – Jugendlichkeit. »Das Gefühl von Abhängigkeit und Verehrung, das der Mutter zukommt, wird hier durch das Gefühl geschwisterlicher Zuneigung nuanciert« (Leclerc 1970: 148). Die Erde ist eben auch Schwester und somit Tochter desselben Vaters, selbst ein Geschöpf. In ihrer Eigenschaft als Mutter hat sie freilich eine besondere Macht. »Mater terra, la quale ne sustenta et governa et produce diversi fructi con coloriti flori et herba«. Sie ist die Erde, die uns ›trägt‹ (sustenta = erhält, aufrechterhält) und ›regiert‹ (governa = lenkt, leitet) und ›vielfältige Früchte mit bunten Blumen und Kräutern erzeugt‹. Ein zweites Mal greift Franziskus auf eine Form von sustentare zurück. Was gibt uns ›Halt‹ und
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›Nachhalt‹? Es ist der von Gott geschaffene Erdboden im Zusammenspiel mit der Lufthülle des Planeten. Wir nennen das heute: Biosphäre. Sie bringt unfehlbar Früchte, Fruchtbarkeit, Biodiversität und – damit verknüpft – Farbe und Schönheit hervor. Solange wir uns von ihr ›leiten‹ (governa) lassen. Die Bilder von Fülle und Vielfalt verbinden sich untrennbar mit der Begrifflichkeit von sustentamento. Von diesem Punkt aus verstehen wir erst den Kern des franziskanischen Weltbildes: sein Armutsideal. Zugrunde liegt der unbedingte Wille zur imitatio Christi, der eine forma vitae ohne Eigentum und ohne Vorratshaltung attraktiv macht: ›Nackt dem nackten Christus nachfolgen.‹ Kreuzförmiges Gewand, Strick als Gürtel, Barfüßigkeit sind die Requisiten der »vestimentären Kommunikation« (Bell 2011) dieses Ideals. Doch auch die Freude an der Fülle des Lebendigen ringsum ist Antrieb, den ›Verbrauch‹ von ›Ressourcen‹ auf ein Minimum zu reduzieren. Besitz ist Ballast. Verzicht ist Befreiung. ›Nehmt nichts mit auf den Weg‹, heißt das Gebot im Neuen Testament (Lukas 9,3). Imagine no possessions, sang John Lennon. Wer die Besitzlosigkeit zum Konzept macht, muss wissen, was ihn ohne die Sicherheit des Besitzes ›trägt‹. Was auf Dauer ›tragfähig‹ bleibt, sagt uns der alte Text, ist eine geschwisterlich behandelte Natur. Im Vertrauen auf diesen sicheren Halt sind neue Bilder des guten Lebens zu entwerfen. Der franziskanische Minimalismus ist ein Weg, die Integrität der Mitgeschöpfe – aller Geschöpfe – ihre Schönheit, ihre Robustheit, ihre bunte Vielfalt, zu erhalten und so auf Dauer erleben und behutsam genießen zu können. Der freiwillige Verzicht, nicht der erzwungene, öffnet einen Zugang zur glanzvollen Fülle des Lebens. Die franziskanische Pyramide der Bedürfnisse: einfach leben, egalitär, im Einklang mit der Schöpfung, offen für die Stimme des Allerhöchsten. Das letzte Wort des Sonnengesangs lautet: humilitate – Demut. Nackt ausgestreckt auf nackter Erde sterben, war Franziskus’ letzter Wille. So ist er der Legende nach ›Bruder Tod‹ begegnet.
D IE S CHÖPFUNG
BEWAHREN
…
… ist eine beliebte Kurzformel, um den Grundgedanken von Nachhaltigkeit zu umschreiben und dabei auf dessen ethische – und spirituelle – Dimension zu verweisen. Was dabei kaum noch bewusst ist: Dahinter steht
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ein Denkmodell aus der christlichen Theologie, das tatsächlich als ein ›Urtext‹ unseres modernen Nachhaltigkeitsbegriffs gelesen werden kann: Die Lehre von der providentia – der göttlichen Vorsehung. Ein Blick auf das begriffliche Gerüst dieser Lehre lohnt sich. Der Oberbegriff providentia benennt die Handlung und die Fähigkeit, in die Zukunft hineinzudenken. Die Voraussicht führt zu einem Vorherwissen der Dinge. Das Vorausgesehene, das dem Gewollten entspricht, bedarf der Sorge, dass es auch eintritt, also der Vorsorge. Diese bedingt wiederum ein dem angestrebten Ziel angemessenes Handeln (actio) in jedem gegebenen Moment. Die Struktur des providentiellen Handelns hat drei tragende Elemente. Grundlegend ist die conservatio. Oder auch sustentatio. Hier geht es um die Erhaltung, die Bewahrung aller Dinge in ihrem durch die Schöpfung festgelegten Existenzvollzug. Sie ist Fortsetzung der Schöpfung und verhindert den Rückfall ins Nichts – annihilatio – die Vernichtung. Auch hier: ›conservatio‹ als Gegenbegriff zu ›annihilatio‹ – Kollaps. Die gubernatio meint die Leitung und Lenkung aller Abläufe, die Regierung über die Dinge. Ein Bestandteil ist die cura, die Sorge und Fürsorge, auch der pflegliche Umgang mit der Schöpfung. Zeichen der göttlichen gubernatio sind die gesetzmäßigen Erscheinungen in der Natur: Die Gleichmäßigkeit der kosmischen Bewegungen, die regelmäßige Abfolge der Jahreszeiten, der Wasserkreislauf, die Generationenfolge in den Naturreichen. Drittes Element von providentia ist der concursus, das Zusammenkommen oder Zusammenspiel der verschiedenen Wirkursachen. Hier geht es um die Beziehung zwischen göttlichem Wirken (actio externa), dem Wirken der Naturkräfte und dem freien menschlichen Handeln. Das göttliche Wirken ist prima causa, erste Ursache. Naturkräfte und menschliche Mitarbeit (cooperatio) sind secundae causae, zweitrangige Ursachen, aber durchaus mit Spielräumen, eigenen Wirkungen und Nebenwirkungen. Schließlich behandelt die Lehre vom concursus auch noch die kitzlige Frage, wie das Böse beim Gang der Dinge mitwirkt. Die göttliche gubernatio wechselt zwischen den Optionen: Zulassung (permissio), Hinderung (impeditio), Ausrichtung auf göttliche Ziele (directio) und Begrenzung (terminatio) des Bösen. Der Glaube an die göttliche Vorsehung geriet im 17. Jahrhundert in die Krise. Die Theologie selbst hat sich mehr und mehr davon verabschiedet.
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Aber noch kürzlich sprach Jürgen Habermas von der »Artikulationskraft religiöser Sprachen« (Habermas 2001). Hier liege ein Potenzial für unsere Gegenwart und Zukunft. Und tatsächlich: Das Vokabular der ProvidentiaLehre erscheint heute im globalen Diskurs der Nachhaltigkeit. Der alte Zentralbegriff conservatio blieb im Englischen und Französischen fast bruchlos erhalten. Im Sinne von ›bewahrender Nutzung‹ wurde er zum Gegenbegriff von Raubbau und Umweltzerstörung. Die International Union for Conservation of Nature (IUCN; Hervorhebung U.G.) setzte 1980 ihren Leitbegriff conservation kurzerhand mit sustainable development gleich. Die UN-Brundtland-Kommission hat ihn von dort übernommen. Denkfabriken der internationalen Politik diskutieren vehement über global governance oder earth system governance, die alte Idee der gubernatio – Lenkung – in neuem Gewand. Im ›Dreieck der Nachhaltigkeit‹ geht es um die Integration von Ökologie, Ökonomie und sozialen Wirkkräften, also um die cooperatio von Natur und Mensch. Das hieß früher concursus. Und was sagt uns terminatio – Begrenzung des Bösen? In der internationalen Arena streitet man über die ›Begrenzung‹ des CO2 -Ausstoßes. Wir debattieren – wieder – über die ›Grenzen des Wachstums‹. Filme und Bücher entwerfen immer neue Bilder der annihilatio, der Vernichtung des Planeten – des endgültigen Kollapses. Der Glaube schwand. Das begriffliche Gerüst wurde adaptiert.
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TIME IS OUT OF JOINT ‹
Die Zeit ist aus den Fugen – so artikulierte Shakespeares Held Hamlet um 1600 auf der Bühne des Londoner Globe Theaters das Lebensgefühl seiner Zeit. Und wiederum ist es beherrscht von der Angst vor einem drohenden Kollaps und der Frage nach einer Strategie der Rettung. 1637 im holländischen Leiden heißt es dann Cogito, ergo sum. Ich denke, also bin ich. Auf die Gewissheit, ein denkendes Subjekt zu sein, setzt René Descartes die Hoffnung auf einen Neuanfang. ›Die Vernunft an die Macht!‹ erscheint ihm als letzter Ausweg in einer Zeit, die aus den Fugen geraten war. Die humane ›Selbsterhaltung‹ – conservatio sui – löste den Glauben an die Vorsehung ab wird zum zentralen Projekt der Aufklärung. Der Weg: Die Herrschaft über die Natur gewinnen, sie in Besitz nehmen, ihr eine Ordnung geben. Dies geschieht mit der Methode des rationalen Denkens: Nur
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das als wahr anzuerkennen, was evident und beweisbar ist. Eine Sache in so viele Teile wie nötig zu zerlegen, die Dinge sezieren, analysieren, vermessen, neu ordnen und konstruieren, wird zum Königsweg. Auf diesen Bahnen mache sich der Mensch zum »maître et possesseur« (Descartes 1997: 100), zum Herrn und Meister der Natur. Diese Anschauung ist auch dem Nachhaltigkeitsdenken eingeschrieben. Aber sie ist nicht nachhaltig. Ein Schüler und Kritiker Descartes’ entwarf ebenfalls in Leiden ein Gegenmodell: Aus Spinozas Die Ethik (1677) lässt sich eine hoch entwickelte Theorie der Nachhaltigkeit destillieren (Spinoza 1976). Suum esse conservare – sein eigenes Sein bewahren, Selbsterhaltung sei der Grundtrieb (conatus) des Menschen. Wie bei Descartes. Aber Spinoza formuliert einen radikalen Gegenentwurf zu Descartes. Er vollzieht die größte denkbare Aufwertung der Natur: Er erklärt Gott und Natur für identisch. Deus sive natura. Gott ist Natur. Die Natur ist Gott. Hier liegt die erste Ursache aller Existenz, auch des Denkens. Je mehr wir die einzelnen Phänomene der Natur erkennen, umso mehr erkennen wir Gott. Spinoza betrachtet nun die Natur unter zwei Perspektiven: Die natura naturata ist die ›gewirkte‹, geschaffene, sozusagen die empirische Natur. Davon unterscheidet er die natura naturans, die in der natura naturata wirkende, lebendige, aktive und produktive Kraft. Die Unterscheidung ist wesentlich. Als natura naturata ist die Natur dem menschlichen Willen verfügbar. Sie ist manipulierbar und reproduzierbar. Die vitalen Kräfte der natura naturans aber sind übermächtig und unverfügbar. Sie sind die Fülle des Lebens, die Macht des Lebens selbst. Damit kippt der Herrschaftsanspruch des Menschen. Die Klassifizierung der Naturphänomene in gut und böse, nützlich und schädlich, unentwickelt und entwickelt wird hinfällig. Das unzertrennbare Gewebe des Lebens tritt an diese Stelle. Gegenüber Descartes’ Inthronisierung des Menschen als Meister und Besitzer der Natur beharrt Spinoza darauf, dass der Mensch ›ebenfalls Teil der Natur sei‹. Er gibt damit das Projekt der ›humanen Selbstbehauptung‹ keineswegs auf, sondern bettet es in den größeren, den ökologischen Zusammenhang ein. Suum esse conservare, die Bewahrung des eigenen Seins, dieser natürliche Grundtrieb ist Ausgangspunkt für jedes Begehren und damit auch für das ökonomische Handeln. Seit seiner Vertreibung aus dem Paradies ist der Mensch selbst dafür verantwortlich. Diese ökonomische Absicherung des Daseins kann jedoch nur im Einklang mit der Natur gelingen. Wir finden
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die Schätze der Natur vor und stellen sie nicht her. Unsere Freiheit besteht darin, unser Bestreben mit der Vernunft und das heißt mit der ›Ordnung der gesamten Naturwelt‹ in Übereinstimmung zu bringen. Wo dies gelingt, können wir ›völlig beruhigt sein und in dieser Ruhe dauernd zu bleiben suchen‹. Was heißt das für die Gestaltung eines Gemeinwesens? Die Vernunft gebietet es, die Bewahrung des eigenen Seins nicht nur mit der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, sondern auch mit dem Wohlergehen des Anderen zu verknüpfen. Es sei offensichtlich, »daß die Menschen durch wechselseitige Hilfeleistung ihren Bedarf sich viel leichter verschaffen und nur mit vereinten Kräften die Gefahren, die von überallher drohen, vermeiden können« (Spinoza 1976: 223). Gegen die wölfischen Gesetze der freien Konkurrenz stellt Spinoza die gerechte Verteilung der Güter und die potentia multitudinis, die demokratische Macht der Menge.
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FÄLLEN ALS NACHWÄCHST
Als zentrales ökonomisches und politisches Problem galt im Europa des 17. Jahrhunderts, also zur Zeit von Descartes und Spinoza, eine drohende Ressourcenkrise. Was heute unter Schlagworten wie peak oil, Ende des Öls, diskutiert wird, war damals der ›prognosticirte Holtzmangel‹. La France perira faute de bois, sagte man z.B. im Frankreich des Sonnenkönigs Ludwigs des XIV. Frankreich werde am Holzmangel zugrunde gehen. Das politische und ökonomische Denken richtete sich überall in Europa auf den Umgang mit den Wäldern. Einen ungemein prägnanten Ausdruck fand diese Sorge 1661 in der Forstordnung der von ›holzfressenden‹ Siedesalinen geprägten bayerischen Stadt Reichenhall: »Gott hat die Wäldt [= Wälder; Anm. U.G.] für den Salzquell erschaffen auf daß sie ewig wie er continuieren mögen / also solle der Mensch es halten: Ehe der alte ausgehet, der junge bereits wieder zum verhackhen hergewaxen ist« (zit. nach Meister/Offenberger 2004: 73). Der ›ewige Wald‹ sollte die ›Stetigkeit‹ der Holzversorgung für die nachfolgenden Generationen garantieren. Ein Denken in großen Zeiträumen bildet sich hier ab. Die Zeitbestimmung ›ewig‹ ist der sakralen Sprache entlehnt. Die spirituelle Fundierung von Ökonomie soll hier eine unbegrenzt lange Dauer für den Bestand der Wälder – feierlich – imaginieren und verheißen.
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Eine dementsprechende Vorstellungskraft und die Fähigkeit, in sehr langen Zeiträumen zu denken, fehlt heute – auch im Nachhaltigkeitsdiskurs. Der wachsende Bevölkerungsdruck, die dadurch in Gang gesetzte Umwandlung von Wald in Ackerland, die lang andauernde Übernutzung der standortnahen Wälder durch den Erzbergbau oder durch energieintensive Manufakturen wie z.B. Glashütten und Schiffswerften führten zur Entwaldung ganzer europäischer Landstriche. Im Laufe des 17. Jahrhunderts verstärkte sich in den frühindustriellen Zentren und in den Hauptstädten Europas ein Krisendiskurs, der sich latent bereits durch frühere geschichtliche Epochen auch anderer Kulturkreise hindurchgezogen hatte. In einer langen Kette von Forstordnungen, Edikten, Pamphleten über den ›einreissenden Holzmangel‹ bereitete sich die Begriffsbildung ›Nachhaltigkeit‹ vor. Im Fokus standen dabei nicht unbedingt aktuelle Versorgungsengpässe, sondern vielmehr die Sorge um die ›posterity‹ (John Evelyn), die ›liebe Posterität‹ (Hans Carl von Carlowitz), modern ausgedrückt: die ›future generations‹ (Brundtland-Report). Der unmittelbare Vorläufer von ›nachhaltig‹ in der zeitgenössischen deutschen Terminologie ist ›pfleglich‹. In einem Standardwerk der Kameralwissenschaften des 17. Jahrhunderts, dem Teutschen Fürstenstaat, taucht der Terminus an zentraler Stelle auf. Das Buch erschien 1656, ist also wenige Jahre älter als die Reichenhaller Forstordnung. Sein Autor, Veit Ludwig von Seckendorff, leitete zu der Zeit die ›Cammer‹ im thüringischen Herzogtum Sachsen-Gotha. In diesem kleinen, waldreichen Territorium versuchte Herzog Ernst der Fromme nach dem Kollaps des Landes im Dreißigjährigen Krieg einen lutherischen Modellstaat zu gründen. Sich selbst sah er in der Rolle des ›guten hauß-vaters‹. Sein Programm war eine reformatio vitae, eine Lebensreform auf der Grundlage des Katechismus. »Die gehöltze pfleglich brauchen« bedeutet in Seckendorffs Fürstenstaat, sie »also zu handhaben, daß solche eine beständige revenüe auf lange jahre geben. Es solle über den ertrag der höltzer nicht gegriffen, sondern eine immerwährende beständige holtz=nutzung dem Herrn und eine beharrliche feuerung, auch andere holtz=nothdurfft, dem lande, von jahren zu jahren, bey ihrer zeit, und künfftig den nachkommen bleiben« (Seckendorff 1972: 471).
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D ER U RTEXT Auf dieser Tradition ›pfleglicher‹ Holznutzung fußt die Begriffsbildung von ›nachhaltig‹. Der neue Terminus erscheint zum ersten Mal in gedruckter Form vor dreihundert Jahren in einem 1713 in Leipzig erschienenen Buch des sächsischen Oberberghauptmanns Hans Carl von Carlowitz mit dem Titel Sylvicultura oeconomica (Carlowitz 2013). Gegen den Raubbau am Wald setzt Carlowitz die eiserne Regel: »Daß man mit dem Holtz pfleglich umgehe« (ebd.: 197). Der Wortschöpfer ist Spross eines alten sächsischen Adelsgeschlechts, Manager des erzgebirgischen Bergbaus, eines Montanreviers von europäischem und globalem Rang, ein sächsischer Europäer. In seinem Buch geht er der Frage nach, »wie eine sothane – eine solche – Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen / daß es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe / weil es eine unentbehrliche Sache ist / ohne welche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag« (ebd.: 216; Hervorhebung U.G.). In diesem Satz, verkleidet in dieser barocken Sprache, taucht das Wort zum ersten Mal auf. Ohne den ›nachhaltenden‹ Umgang mit den Wäldern kann das Land in seinem Esse – das heißt in seiner Existenz – nicht bleiben. Schon hier: Nachhaltigkeit als Selbstschutz der Gesellschaft vor dem existenzbedrohenden Kollaps. Verknüpft mit dem Wort erscheint bei Carlowitz in Umrissen das heute so gängige Denkmodell des ›Dreiecks der Nachhaltigkeit‹ aus Ökonomie, Ökologie und Sozialethik. Wie redete er vor dreihundert Jahren über die Natur? Sie ist »milde«. Das bedeutete damals so viel wie freigebig. Es ist eine »gütige Natur«. Mater Natura – Mutter Natur. Die Natur sei »unsagbar schön«. Wie angenehm z.B. »die grüne Farbe von denen Blättern sey, ist nicht zu sagen«. Vom »Wunder der Vegetation« ist die Rede. Von der »lebendig machenden Krafft der Sonnen« und von dem »wundernswürdigen ernährenden Lebens-Geist«, den das Erd-Reich enthalte. Man müsse nur im »Buch der Natur« zu lesen verstehen. Die »äußerliche Gestalt« der Bäume stellt Carlowitz in einen Zusammenhang mit der »innerlichen Form«, mit ihrer »Signatur« und der »Constellation des Himmels, darunter sie grünen« und mit der Matrix, der Mutter Erde und ihrer natürlichen Wirkung. (Carlowitz 2013: 129) Was ist die Matrix? Die Gebärmutter, der Sitz der Fruchtbarkeit. Nachhaltigkeit bedeutet das Primat der lebendigen, der nachwachsenden Ressourcen und erneuerbaren Energien. Hier handelt es sich nicht um tote Materie, wie bei den fossilen Brennstoffen, sondern um
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lebende Organismen. Bei der green economy – so das neueste Stichwort der UNO – geht es um die Naturbindung der Ökonomie. Das ökonomische Denken von Carlowitz hat zum Ausgangspunkt die Feststellung, dass sich der Mensch nicht mehr im Garten Eden befinde. Er müsse der Vegetation der Erde zu Hilfe kommen und »mit ihr agiren«. Er dürfe nicht »wider die Natur handeln«, sondern müsse ihr folgen und mit ihren Ressourcen haushalten. Im Einklang damit formuliert Carlowitz seine sozialethischen Grundsätze: Nahrung und Unterhalt stehen jedem zu, auch den »armen Unterthanen« und der »lieben Posterität«, also den nachfolgenden Generationen (Carlowitz 2013: 95). Carlowitz’ Wortschöpfung etablierte sich in der Fachsprache des Forstwesens, zuerst im deutschsprachigen Raum, dann im 19. Jahrhundert auch international. Ins Englische übersetzte man sie mit sustained yield forestry. In dieser Fassung wurde der Fachausdruck zur Blaupause unseres modernen Konzepts sustainable development. Nachhaltigkeit als Begriff ist ein Geschenk der deutschen Sprache an die Sprachen der Welt.
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Wie kam die Ökologie ins Spiel? Um 1730 begann der schwedische Naturforscher Carl Nilsson Linné die Vegetation nach dem Bau der pflanzlichen Geschlechtsorgane zu ordnen. Über seine ›fieberhafte Sexbesessenheit‹ (Bryson 2004) rätselt, lächelt und lästert man bis heute. Meine Lesart: Über Blütenkelche gebeugt, Staubgefäße und Stempel zählend, zerlegend, vermessend, im botanischen Garten der Universität von Uppsala, an der felsigen Steilküste der Insel Gotland oder in der baumlosen Tundra Lapplands suchte Linné vor allem eins: den Schlüssel für den Flor, das Aufblühen seines Landes. Sein helles Entzücken an der Vielfalt der Arten, seine Leidenschaft für die Prozesse von Befruchtung, Vermehrung, Wachstum und Aufzucht‚ für die ganze ›multiplicatio individuorum‹ (Linné, 1735) entsprang einem vitalen Interesse an der ›nachhaltenden Nutzung‹ (Carlowitz, 1713) ›lebendiger Ressourcen‹ (Weltnaturschutzstrategie, 1980). Linnés lebenslanger Leitbegriff war: Oeconomia naturae. Gemeint war: die Einheit und Ganzheit der Natur, die Mannigfaltigkeit der Arten, die Kreisläufe von Werden und Vergehen, Symbiosen, Nahrungsketten, Energieströme, die Sukzession der Pflanzengesellschaften und ihre Fähigkeit
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zur Regeneration – das Eigenleben der Natur in seiner ganzen Fülle. Mineralreich, Pflanzenreich, Tierreich bilden für ihn ein vernetztes Ganzes. Sie sind ein sich selbst regulierender und erhaltender Organismus. Dieser sorgt dafür, dass das Leben insgesamt aufrechterhalten bleibt und weitergeht. Linné beobachtet sehr genau den ›Krieg aller gegen alle‹ in den Naturreichen. Er beschreibt, wie die Tiere »nicht allein die schönsten Blumen zerstören, sondern auch ohne Erbarmen einander zerreißen« (Linné 1735)1. Aber fressen und gefressen werden, die Nahrungsketten dienen stets der Aufrechterhaltung eines wohlgeordneten Ganzen. Selbstorganisation und Selbsterhaltung, Wachstum und Zerfall, die ganze Dynamik der schöpferischen und zerstörerischen Kräfte wirken beständig und verlässlich – ohne Zutun des Menschen. Die Lösung der heute allgegenwärtigen Frage nach dem Verhältnis von Ökonomie und Ökologie war für Linné noch sonnenklar. Es muss gelingen, die Abläufe ›unserer Ökonomie‹ mit den großen, unwandelbaren, gottgegebenen Kreisläufen der oeconomia naturae zu synchronisieren. Knapp ein Jahrhundert nach seinem Tod wurde sein Leitbegriff zur Blaupause für einen neuen: Oecologie, die Lehre von der Haushaltung der Natur. Die Wortschöpfung vollzog 1866 Ernst Haeckel, Professor der Biologie in Jena. »Unter Oecologie«, so definiert er, »verstehen wir die gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt« (Haeckel 1866: 286). Die Beziehungen des Organismus zu seiner Umwelt sind also das Entscheidende. Nachwachsende Rohstoffe und erneuerbare Energien sind nicht immer und überall nachwachsend, erneuerbar, verfügbar. Es sind living resources – lebendige Ressourcen – Lebewesen! Ihre Regeneration hängt ab von der beständigen Fruchtbarkeit der Böden, vom Wasserhaushalt und all den anderen Faktoren. Sie bedarf einer intakten Umgebung, letztlich einer intakten Biosphäre. Man muss die Eigenzeiten, die Rhythmen und Zyklen der Natur beachten, wenn man sie nachhaltig nutzen will. Das, was uns hält und trägt, sind letztlich immer die Kräfte von Natur und Kosmos, das Licht der Sonne und das von der Sonnenenergie gespeiste Kraftwerk der Biosphäre, jenes planetarische System der Selbstregulierung, das sich wie ein lebender Organismus verhält – Gaia. All das schwingt in dem Wort ›Ökologie‹ – Haushalt der Natur mit. So rückt Ökologie in den inneren Sinnbezirk von Nachhaltigkeit.
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Zu Linné siehe Feuerstein-Herz 2007 und Koerner 1999.
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I KONE E RDE Das Bild der Erde aus dem All, aufgenommen von der Apollo 17-Besatzung aus ungefähr 45.000 Kilometern Entfernung auf dem bis heute letzten Flug zum Mond, ist das meistreproduzierte Foto der Mediengeschichte. Das Bild, blue marble genannt und nach wie vor auf unzähligen Webseiten im Internet jederzeit abrufbar, entstand 1972. In diesem Jahr begann die große Suchbewegung, die Erdpolitik, die bis heute weitergeht und unser Schicksal im 21. Jahrhundert bestimmen wird. Was macht das Bild ikonisch? Die lebenserhaltende Lufthülle der Erde wirkt transparent und hauchdünn, ihr Pflanzenkleid wie ein zarter Flaum. Nirgendwo wird ein Artefakt als Anzeichen menschlicher Existenz erkennbar. Es ist vielmehr die Biosphäre des Planeten, die ihn zu etwas ganz Besonderem macht. Der Blaue Planet schwebt in der Leere des unendlichen schwarzen Alls. Sein Schwebezustand erhöht den Eindruck von traumhafter Schönheit, völliger Einsamkeit und Einzigartigkeit und – nicht zuletzt – großer Verletzlichkeit. Drei Schlüsselwörter gab es in der zeitgenössischen ›großen Erzählung‹ aus wenigen Worten über blue marble und andere Bilder aus dem Weltraum: Man sprach von der ›grenzenlosen Majestät‹ die das ›funkelnde blauweiße Juwel‹ ausstrahle. Als eine zarte himmelblaue Sphäre, umkränzt von langsam wirbelnden Schleiern, steige die Erdkugel wie eine Perle ›unergründlich und geheimnisvoll‹ aus einem tiefen Meer empor. ›Schönheit‹ ist das erste Schlüsselwort: Eugene Cernan, der Kommandant von Apollo 17, sah beim Blick zurück vom Mond den ›schönsten Stern am Firmament‹ (Kelley 1989). Die Augenzeugen berichteten von der zutiefst beunruhigenden ›Schwärze des Weltraums‹. Die kalte Pracht der Sterne mache die absolute Einzigartigkeit der Erde bewusst. Dieses ›einsame, marmorierte, winzige Etwas‹ aus uralten Meeren und Kontinenten, heißt es in einem Bericht, sei ›unsere Heimat‹, während wir durch das Sonnensystem reisten. ›Einzigartig‹ wäre das zweite Schlüsselwort. Only one earth war das bis heute viel zitierte Motto des UN-Umweltgipfels von 1972 in Stockholm. ›Fragil‹ – zerbrechlich, zart, verletzlich – ist das dritte Schlüsselwort bei der zeitgenössischen Deutung des grandiosen Bildes. Da rückt die Biosphäre, die hauchdünne Schicht, die allein das Leben auf dem blauen Planeten trägt, ins Blickfeld. Schönheit, Einzigartigkeit, Zerbrechlichkeit der Erde – im Schoß dieser Anschauung und Vorstellung hat sich das moderne Konzept sustainable
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development und Nachhaltigkeit herauskristallisiert. Diese Vorstellungen, diese Bilder und Denkbilder gehören zum rationalen, emotionalen und spirituellen Kern von Nachhaltigkeit. Sie sind seine Matrix.
D IE B RUNDTLAND -F ORMEL 1987, fünfzehn Jahre nach der Entstehung des ikonischen Bildes, erschien der Brundtland-Report. Er war der Abschlussbericht einer hochrangig besetzten UNO-Kommission unter der Leitung der norwegischen Sozialdemokratin und Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland. Sie etablierte das Konzept sustainable development als neues Leitbild der UNO, das fünf Jahre später, auf dem Erdgipfel in Rio de Janeiro, endgültig verabschiedet wurde. Bezeichnenderweise beginnt dieser Bericht mit einem Blick auf den blauen Planeten, nämlich mit den Worten: »Mitten im 20. Jahrhundert sahen wir unseren Planeten zum ersten Mal aus dem Weltall, und wir sahen eine kleine zerbrechliche Kugel, die nicht von menschlichen Aktivitäten und Bauwerken geprägt war, sondern von einem Muster aus Wolken, Ozeanen, grünem Land und Böden« (United Nations 1987: 1).
In diesem Bericht findet man die klassische und seitdem ständig zitierte Bestimmung von ›nachhaltiger Entwicklung‹. »Nachhaltig ist eine Entwicklung, welche die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation deckt, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu decken« (ebd.: 2/1). Im Brundtland-Report wird diese Bestimmung jedoch gleich im Anschluss an die Definition zweifach präzisiert. Zum einen geht es beim Schlüsselbegriff der Bedürfnisse (needs) vor allem um die Befriedigung der Grundbedürfnisse (essential needs). Entwicklung rückt damit in den Kontext der weltweiten Armutsbekämpfung, der Nord-Süd-Gerechtigkeit. Was brauchen wir wirklich? Zum zweiten betont der Bericht an dieser Stelle die Begrenzungen. Nicht mehr Naturressourcen verbrauchen als sich regenerieren. Wie in der Faustformel der deutschen Forstleute zur Zeit von Carlowitz wird die dauerhafte Tragfähigkeit der Ökosysteme zum Maßstab ökonomischen Handelns –
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und nicht etwa die globalisierten Märkte. Technologie und soziale Organisation haben diese Begrenzungen zu respektieren. Die Brundtland-Formel wird häufig mit einem Denkbild veranschaulicht. Man spricht von den ›drei Säulen‹ oder dem ›Dreieck der Nachhaltigkeit‹. Bestehend aus Ökologie, Ökonomie und Sozialem. Aber wir dürfen dieses Denkbild nicht missverstehen. Es geht hier nicht um ein sozusagen gleichberechtigtes Nebeneinander von Zielen. Nach dem Motto: Eine heile Umwelt ist ebenso erstrebenswert wie andere Ziele, zum Beispiel Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und Wohlstand. Es ist dann mehr oder weniger Ansichtssache, welchem dieser Ziele man den Vorrang gibt. Dieses Verständnis greift entschieden zu kurz. Nachhaltigkeit ist vielmehr ein ganzheitlicher Entwurf. Er zielt auf das große Ganze. Er verbindet die drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales organisch. Und zwar so eng, dass neue Muster des Produzierens und Konsumierens sichtbar werden. Muster, die mit der Tragfähigkeit der Ökosysteme und dem Zusammenhalt der Gesellschaft kompatibel sind, also unseren ökologischen Fußabdruck und die Ungleichheit in den Gemeinwesen drastisch reduzieren. Im Prisma der Nachhaltigkeit erscheint eine andere Ökonomie. Nicht eine, die sich auf die Parole let’s make money reduziert, sondern eine ressourcenleichtere, naturnahe, sozialethisch fundierte Ökonomie. In diesem Sinne wäre auch die neuerdings von der UN propagierte green economy zu verstehen.
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Und dennoch: Nachhaltigkeit ist ein sperriger Begriff. Doch gegen was ›sperrt‹ er sich? Vor allem gegen die Dogmen der neoliberalen Welle, die um 1980 – also kurz nach der Wiederentdeckung der Ökologie und der ›Grenzen des Wachstums‹ – die Welt überrollte und die Form der Globalisierung dreißig Jahre – eine Generation – lang diktiert hat. Gegen das kurzfristige Kosten-Nutzen-Kalkül setzt er auf ein Denken in langen Zeiträumen. Er fasst die Kette der nachfolgenden Generationen ins Auge und das große Spielfeld der Evolution, auf dem der Mensch weiter mitspielen will. Only one earth, die Losung des Stockholmer UN-Umweltgipfels von 1972 ist ein Appell, die Erde und ihre Ressourcen nicht als Privateigentum weniger, sondern als einzigartigen gemeinsamen Besitz der Menschheit und
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ihrer Mitwelt aufzufassen. Gegen den Wachstumszwang setzt Nachhaltigkeit auf den Mut zum Weniger. Dieses Denken ist immer ein Kind der Krise gewesen. Stets geht es im Wesentlichen um eine Reduktion unseres Eingriffs in den Naturhaushalt. Mit weniger auskommen, die Ressourcen weniger, pfleglicher und anders zu nutzen, ist der Königsweg. Gegenüber der aktuellen Welle von Deregulierungen beinhaltet ›Nachhaltigkeit‹ ein ausgefeiltes System von ökologischen und sozialen Regulierungen und Sicherungssystemen. ›Nachhaltige Entwicklung‹ ist eine Strategie, um Lebensqualität und Partizipation, den Zugang zur Fülle des Lebens für alle zu sichern. Der Zusammenprall zwischen den beiden Denksystemen und politischen Strategien ist schon in deren jeweiligen Keimformen im 18. Jahrhundert angelegt. Er hält bis heute an. Das ist der eigentliche clash of cultures, der Kampf der Kulturen, der das 21. Jahrhundert entscheidend bestimmen wird. Wie lässt sich nun nachhaltig und nicht-nachhaltig unterscheiden? Mein persönlicher Lackmustest hat zwei Komponenten: • •
Reduziert sich der ökologische Fußabdruck? Steigt die Lebensqualität – für jeden zugänglich? Alles, was mir als ›nachhaltig‹ vor Augen kommt, muss sich daran messen lassen.
Zunächst muss jede nachhaltige Handlung, Idee und Planung dazu beitragen, die Belastung der Umwelt abzusenken. Je radikaler, desto besser. Diese Priorität ergibt sich schlicht und einfach aus der gegenwärtigen dramatischen Übernutzung der Biosphäre. Den ökologischen Fußabdruck reduzieren heißt: Unsere Lebensweise und unsere Wirtschaftskreisläufe wieder in die Naturzusammenhänge einbetten. Die Tragfähigkeit der Ökosysteme ist Ausgangspunkt jeder Form von nachhaltigem Denken und Handeln. Nachhaltigkeit war immer und bleibt auf unabsehbare Zeit eine Strategie der Bewahrung des Vorhandenen und – gleichzeitig – der Reduktion. Natur bewahren, indem man sie weniger und pfleglicher nutzt. Dazu gehört wesentlich: Etwas nicht tun, obwohl man es tun könnte. Das erfordert nicht nur Mut, sondern auch… Weisheit. Doch Nachhaltigkeit hatte von den Urtexten bis heute noch eine andere Konstante: Die Suche der ›glückseeligkeit‹ (Leibniz), nach der ›Qualität eines lebenswerten Lebens‹ (Willy Brandt). Dieses Streben hat nun sehr wohl mit ›Wachstum‹, ›Aufstieg‹ und ›Fülle‹ zu tun. Ohne diese Dimension
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ist das Leben auf Dauer tatsächlich nicht lebbar und nicht lebenswert. Doch das ist ein qualitativ anderes Wachstum als die Steigerung des Bruttosozialprodukts. Da geht es um das persönliche Wachstum eines jeden Individuums, den Aufstieg zur jeweils höheren Stufe auf der Pyramide der Bedürfnisse, das Erlebnis von Vielfalt und Buntheit in der Natur und den Kulturen der Welt. Um die Möglichkeit der Loslösung von den materiellen Grundbedürfnissen und die wachsende Konzentration auf die immateriellen ›Metabedürfnisse‹ (Abraham Maslow) – mit einem Wort: um ›Lebensqualität‹. Da sind nun keinerlei ›Grenzen des Wachstums‹ gezogen. In diesen Spielraum lockt uns die Verheißung des ›guten Lebens‹ für alle. Es ist spannend, zu verfolgen, wie die Dialektik von Reduktion und Aufstieg im 21. Jahrhundert in neuen Leitbildern aufscheint. Diese werden nicht als starre ›Leitplanken‹ entworfen. Eher wie Landmarken zur Navigation auf einem außerordentlich unübersichtlichen Gelände. Die Ausrichtung auf unterschiedliche und mannigfaltige Bedürfnisse, auf Lebbarkeit und Attraktivität, auf Sinnlichkeit und Ästhetik, kurz: auf das ›gute Leben‹ in der Gegenwart und in einer ›wünschenswerten und machbaren Zukunft‹ ist überall spürbar, wo heute über Nachhaltigkeit diskutiert wird. Der Münchner Öko-Pionier Karl Ludwig Schweisfurth propagiert die Faustregel »halb so viel, doppelt so gut« (Schweisfurth-Stiftung 2013) beim Konsum von Lebensmitteln. Für den 2009 verstorbenen norwegischen Philosophen Arne Næss war die Maxime »einfach an Mitteln, aber reich an Zielen und Werten« (Næss 1995: 46) Essenz einer tiefenökologischen Lebenskunst. Die Toblacher Thesen von Hans Glaubers Südtiroler Ökoinstitut entwerfen als Koordinaten für ein neues solares Zeitalter: »Langsamer, weniger, besser, schöner« (Toblacher Gespräche 1998) Mit dem kleinen Song Reduce, reuse, recycle tourt Surf-Ikone und Pop-Star Jack Johnson seit 2006 durch die Videoclip-Sender der Welt und die Kindergärten seiner Heimat Hawaii. Reduzieren, wiederverwenden, recyceln als selbstverständliche Praxis des Alltags. Um den Kopf freizubekommen für das Warten auf die perfekte Welle. ›Eine Stadt ist erfolgreich, nicht wenn sie reich ist, sondern wenn ihre Menschen glücklich sind.‹ Eine solche Aussage passt nahtlos zu den Thesen aus der Dolomiten-Sommerfrische Toblach. Sie stammt freilich vom Bürgermeister der lateinamerikanischen Metropole Bogotá. Der HimalayaStaat Bhutan misst seinen Erfolg nicht mehr am Bruttosozialprodukt, sondern an einem Glücks-Index. ›Die Welt hat genug für jedermanns
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Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.‹ Der Satz Mahatma Gandhis flimmert seit dem Finanzkollaps über unzählige Webseiten. Das Passwort hier heißt: ›genug‹. Genügsamkeit oder besser: Das Wissen um das Genug ist eine Basistugend einer nachhaltigen Lebenskunst. In der Fachsprache heißt sie: Suffizienz. Reduzieren, ohne abzustürzen in die Verelendung und die Hässlichkeit. Sondern im Gegenteil: Die Fülle des Lebens, den Reichtum der Natur und der Kulturen der Welt in ihrer ganzen Vielfalt für alle zugänglich erlebbar zu machen, wird zur Schlüsselaufgabe der großen Transformation. Eine nachhaltige Gesellschaft wird egalitärer sein – und gerechter – oder ein Traum bleiben.
H INWEIS Der Beitrag basiert auf der Monographie des Autors: Grober, Ulrich (2010): Die Entdeckung der Nachhaltigkeit – Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010. Auf Englisch: Sustainability – a cultural history (translated by Ray Cunningham), Totnes (UK), 2012.
L ITERATUR Assisi, Franz von (1997): Legenden und Laude, Zürich. Bell, Peter (2011): »Franziskus fertigt sein ärmstes Gewand. Vestimentäre Kommunikation in Darstellungen des Heiligen«, in: Nina Trauth/ Herbert Uerlings/Lukas Clemens (Hg.), Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, Darmstadt, S. 170–177. Bryson, Bill (2004): Eine kurze Geschichte von fast allem, München. Campe, Johann Heinrich (1809): Wörterbuch der deutschen Sprache (= Band 2), Braunschweig. Carlowitz, Hans Carl von (2013): Sylvicultura oeconomica. Oder Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur Wilden BaumZucht, München. Diamond, Jared (2005): Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt a. Main. Descartes, René (1997): Discours de la méthode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, Hamburg.
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Was heißt nachhaltig in Architektur und Städtebau? S USANNE H AUSER
Die heutige Prominenz der ›Nachhaltigkeit‹ hat 1987 mit dem sogenannten Brundtland-Bericht an die UN eingesetzt. Als Aufruf zur Wahrnehmung intergenerationeller Verantwortung ist Nachhaltigkeit seitdem zu einer Chiffre für die Bewältigung von Umweltschäden, Klimaveränderungen und erschöpften Ressourcen geworden. 1992 wurden neben die zuerst unter diesem Stichwort thematisierten ökologischen Fragen auch solche gestellt, die sich auf die sozialen und kulturellen Effekte des Wirtschaftens und auf soziales und kulturelles Wohlergehen beziehen.1 Bei aller Unkonkretheit wurde deutlich, dass dieser Gedanke den Abschied von der Vorstellung unerschöpflicher Reserven und Ressourcen auf internationaler Ebene markierte und jene misanthropische Anthropologie herausforderte, die die Unersättlichkeit der Einzelnen als Antriebskraft allen Wirtschaftens ansieht. Wenn der Aufruf zur Nachhaltigkeit nicht unmittelbar zu bestimmten Handlungen treibt, so mag das daran liegen, dass das Konzept für die Umsetzung zunächst wenig Anhaltspunkte oder sinnlich erfahrbare Anreize liefert. Seit es seine heutige Bekanntheit erreicht hat, wird es interpretiert, adoptiert, konkretisiert, abgelehnt, idealisiert und mit Emotionen unterschiedlichster Art besetzt. Der gelegentlich in seiner Rezeption auftauchende mahnend-missionarische Ton hat Nachhaltigkeit für manche zur Chiffre
1
Zur Entwicklung des Terminus Nachhaltigkeit wie auch seiner Prominenz siehe Grober 2010: 16 ff. und den Beitrag von Ulrich Grober in diesem Band, S. 13-37.
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einer hinderlichen Grenzsetzung der persönlichen Entfaltung gemacht. Für andere ruft das Konzept utopische Assoziationen auf: Es bezieht sich immerhin auf das Ziel, dass die Welt ein besserer Ort werden soll. Der utopische Impuls verliert seine Energie gelegentlich in der Konkretisierung, die keine einfache Angelegenheit ist. Nach wie vor ist Nachhaltigkeit in Praktiken, in Konzepte und Haltungen zu übersetzen, doch klare und in sich nicht widersprüchliche Anleitungen dazu gibt es nicht. Dieser Beitrag fragt nach Lösungen von Problemen der Architektur und des Städtebaus, die als nachhaltig verstanden werden, und danach, auf welche Fragestellungen die dann gemachten Vorschläge reagieren. Denn in der Suche nach nachhaltigen Lösungen werden vor allem solche gefunden, denen eine Modellierung ›nachhaltiger‹ Konzepte vorausgegangen ist, die also auf bereits explizit gestellte Fragen antworten. Darüber werden auch ältere Formen des Umgangs mit Stoffen, mit Abfällen und mit Energien als nachhaltig adoptiert, die unter anderen Überschriften teils schon lange erprobt sind. Die Ansätze sind zahlreich, heterogen und setzen auf sehr unterschiedlichen Ebenen an. Es stellt sich an jedem der vorhandenen Versuche, Nachhaltigkeit auszubuchstabieren, die Frage, auf welche Gegenstände er sich bezieht, welches Bild der Natur damit verbunden wird, wie Gesellschaft und Ökonomie vorgestellt werden. Dieser kurze Aufsatz bietet nicht den Platz, für jeden angesprochenen Ansatz diese Implikationen auszufalten.2 Er konzentriert sich vielmehr darauf, an drei Leitgedanken orientiert einige Formen des Nachdenkens von Architektur und Städtebau über Nachhaltigkeit zu charakterisieren: Das Verständnis einer perfekten Stoffökonomie, die sich am Bild des Kreislaufs orientiert, die Idee des Sparens, das sich unter anderem in Optimierungsverfahren niederschlägt und die Suche nach Einfachheit, die gelegentlich mit einer idealen Vorstellung von Ursprünglichkeit und Natürlichkeit von Materialien und Techniken einhergeht. Diese Leitgedanken werden in heutigen Entwürfen in unterschiedlichen Maßstäben durchdacht, wobei die Berücksichtigung des Lokalen und die Idee der dezentralen Organisation von Produktion und Verbrauch für alle drei Zugänge von Bedeutung sind. In konkreten Projekten können zwei
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Beispielhafte Analysen hat die Projektgruppe NEDS (Nachhaltige Entwicklung zwischen Durchsatz und Symbolik) vorgelegt, siehe z.B. NEDS 2007.
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oder auch alle drei der Leitgedanken gleichzeitig und in unterschiedlicher Akzentuierung vorkommen.3 Es gäbe noch einen vierten möglichen Leitgedanken, der die sozialen und kulturellen Aspekte des Nachhaltigkeitskonzeptes aufnehmen würde: die Frage nach der Rolle der Nutzer und Nutzerinnen, der Bürger und Bürgerinnen in der Entstehung und Entwicklung von Architektur und Stadt. Dieser Gedanke erfährt noch eine geringe Repräsentanz in architektonischen und städtebaulichen Diskussionen über Nachhaltigkeit. Das mag daran liegen, dass das Konzept der Nachhaltigkeit hier nach wie vor vorwiegend unter ökologischen Gesichtspunkten aufgefasst wird und keine Positionierung beispielsweise zu Nutzungs- und Aneignungsformen impliziert: Solche Fragen aber wären zu berücksichtigen, wenn auch dieser Aspekt in Architektur und Städtebau weiteres Gewicht bekommen sollte.4
K REISLÄUFE Eine der Großmetaphern der Diskussionen um Nachhaltigkeit ist das Bild des ›Kreislaufs‹. Seit dem 19. Jahrhundert fasziniert es viele Disziplinen, die sich mit der Verwendung von Stoffen auseinandersetzen. Dazu gehören selbstverständlich Städtebau und Architektur. Der Diskurs, der über etwa anderthalb Jahrhunderte über Stoffkreisläufe und in den letzten vier Jahrzehnten über Recycling geführt wurde, ist ein imaginärer und hoffnungsvoller Versuch der Aufhebung obsoleter Momente in einem permanenten Prozess. Kreislaufvorstellungen wie ihre konkreten Neukonstruktionen sind allesamt abgrenzend und bestimmen jeweils einen Geltungs- und Wirkungsbereich, der eine organische oder systemische Ganzheit darstellt. Sie imitieren dabei immer ›die Natur‹. Das Motiv der aktiven Konstruktion von Kreisläufen ist im
3
In ihrer Vielfalt sehr anregende Beispiele und Ansätze finden sich in Drexler/
4
Vgl. dazu z.B. die Literatur und die Kommentare zu den Konzepten ›Kollektivi-
Seidel 2012; siehe auch Arch+ 184 2007. tät‹ und ›Konvivilität‹ in Fezer 2012; in der Stadt- und Regionalplanung wird hingegen diese Diskussion breiter und im Hinblick auf die Agenda 21 geführt, die ja ausdrücklich die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure an Entwicklungsprozessen vorsah.
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19. Jahrhundert die Beherrschung der unerwünschten Folgen von Produktionsverfahren oder Stadtentwicklungen – jeweils über die Rückführung der überhandnehmenden Abfälle in neugeschaffene Systeme. Die Bilder der Stoffkreisläufe ändern sich und entstehen über ihre Identifikation mit den jeweils avanciertesten Vorstellungen des menschlichen oder tierischen Körpers. Im 19. Jahrhundert liefert der Blutkreislauf das Muster, im 20. Jahrhundert sind es Beschreibungen des Metabolismus. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts treten neben noch aktive organische Bilder kybernetisch und systemtheoretisch inspirierte Vorstellungen, in denen Aspekte des Lebendigen eines Kreislaufs allmählich durch die Akzentuierung der Charakteristika von Informations- und Kommunikationsprozessen ersetzt werden, eine Veränderung, die im Übrigen sämtliche wissenschaftlichen Modellierungsprozesse, auch die der biologischen Forschung, erfasst. Kreislaufmodelle tauchen in vielen Vorschlägen für nachhaltige Lösungen auf. Das betrifft das Verhältnis von Stadt und Land, die Stoffströme, die einzelne Bauten auslösen, das Alltagsdesign und einzelne Materialien des Bauens. Auch im Rahmen dieses großen Bildes gilt allerdings, dass Lösungen unmittelbar auf die Fragen antworten, die eine Problembeschreibung liefert – und deutlich abhängig sind von dem verfügbaren Wissen sowie den Kontexten und Zielen, die sie motivieren und ihnen einen Rahmen geben.
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Die Vorstellung eines Kreislaufs, der Stadt und Land(wirtschaft) verbindet, lag schon den Konzepten einer Rieselfeldwirtschaft im 19. Jahrhundert zugrunde. Sie erfuhr beispielsweise eine Umsetzung in der Anlage der Mischwasserkanalisation in Berlin. Ein riesiges System aus Rohren und Pumpstationen wurde gebaut, das das Abwasser der Stadt auf die Felder der stadteigenen Güter lenkte, die weit vor der damaligen Bebauungsgrenze eigens dafür erworben und angelegt waren.5 Die Grundidee war, dass die Abwässer der Stadt als Dünger für die Landwirtschaft dienen sollten, die dann wiederum die Nahrungsversorgung der Stadt sicherstellt. Ein neueres ähnliches Beispiel, das sich auf die Verwertung von Abfall bezieht, nennen
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Zur konzeptuellen und materiellen Konstruktion dieses Kreislaufs siehe Hauser 1992.
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die Vereinten Nationen 1996 in ihrem großen Bericht über urbane Landwirtschaft: Sie führten unter anderem an, dass Shanghai, zumindest zur Zeit der damaligen Bestandsaufnahme, 90 % seiner Abfälle zu Dünger verarbeitete (Lohrberg 2001: 118). In den westlichen Ländern war seit der Etablierung der Wasser- und Abwassersysteme diese Metapher kaum noch in der Betrachtung von Stadt und Landwirtschaft aktiv. Mit dem Interesse an der ›stadtnahen Landwirtschaft‹ ist das Bild des Kreislaufs wieder aufgetaucht. In einer aktuellen Fassung ist die Vorstellung impliziert, dass Stadt und Land einen in ökosystemaren Begriffen beschreibbaren Zusammenhang bilden können, der lokal funktioniert und insgesamt den Austausch von Stoffen, von Wasser und Nahrungsmitteln mit der Außenwelt reduziert und damit »den Naturhaushalt« »entlastet« (ebd.). Das impliziert die Überprüfung der Wege, auf denen Stoff- und Energieaustausch zwischen Stadt und Land(wirtschaft) stattfindet, verlangt aber auch eine Überprüfung der Produktion und des Handels sowie des weiteren Austauschs mit der Außenwelt. Dieses Bild ist derzeit eine der Konkretisierungen von ›Nachhaltigkeit‹ und definiert weitreichende Planungsziele, die für Städtebau und Architektur an Bedeutung gewinnen könnten.
E IN H ÄUSERBLOCK In kleineren Maßstäben ist die Idee von Kreisläufen, die mehr als nur den Umgang mit Wasser und Abwasser regulieren, für die Stadtgestaltung in den 1980er Jahren mehrfach ausprobiert worden, angeregt unter anderem durch die Rezeption der lange unbeachteten Entwürfe einer »Selbstversorgersiedlung mit Kreislaufwirtschaft« (Wilkens 2010), die der Landschaftsgärtner und Architekt Leberecht Migge nach dem Ersten Weltkrieg vorgeschlagen hatte (vgl. ebd.). Ein nach wie vor grundlegendes Projekt dazu ist das heute als vorbildhaft geltende Ökoprojekt Block 6 der Internationalen Bauausstellung (IBA) in Berlin 1984/1987. Es war einer der ersten Versuche, in einem Stadterneuerungsprozess ökologische Kriterien zu formulieren und danach zu bauen. Die Fragen, von denen dieses Projekt ausging, bezogen sich in mehrfacher Weise auf Kreislaufvorstellungen. Besonders entwickelt war das Modell im Hinblick auf den Umgang mit Wasser, dazu kamen aber schon das Recycling von Bau- und Abfallstoffen und die
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Kompostierung organischer Abfälle. Die Stromerzeugung mit einem Blockheizkraftwerk und Sonnenkollektoren, Überlegungen zur Verbesserung des Stadtklimas sowie die Verwendung umweltverträglicher Baustoffe ergänzten das ökologische Konzept.6 Insgesamt war das Ziel, die Beziehung zur Außenwelt so zu gestalten, dass diese möglichst wenig belastet wurde: Das Projekt reduzierte die Entnahme von Wasser aus dem Grundwasser, verbesserte über Dachbegrünungen das Mikroklima der Stadt und führte Müll nach außen nur in sortierter Form ab. Das war damals alles recht neu und trug mit dazu bei, heutige Standards des ökologischen Bauens zu definieren. Die Lösungen bestanden in der Verwendung und Entwicklung damals neuer Technologien, es wurden Wassersparvorrichtungen in allen Wohnungen eingebaut, eine 900 Quadratmeter große Grauwasserpflanzenkläranlage im Hof angelegt, die bis heute funktioniert, und Anlagen zum Auffangen und Nutzbarmachen von Regenwasser geschaffen. Die Lösungen bestanden aber auch in der Einführung alltäglicher neuer Praktiken, etwa der Sammlung und Trennung von Abfällen. 2009, über zwanzig Jahre nach dem Ende der IBA, war dieses Projekt einer der 365 Orte, die im gleichnamigen Wettbewerb das »Land der Ideen« (Land der Ideen Management GmbH 2013) verkörpern sollten.
R ECYCLING Prototypisch für die Suche nach einer ›nachhaltigeren‹ Umgangsweise mit Stoffen aller Art ist das ›Recycling‹, die Wiedereinführung von Objekten und Stoffen in einen Kreislauf (Hauser 2010). Viele Praktiken, die heute so verstanden werden, haben existiert, ohne dass sie je mit Bildern von Kreisläufen oder Konzepten von Nachhaltigkeit verbunden wurden. Der in funktionaler wie materialer Hinsicht unaufwendigste Vorgang ist die ›Wiederverwendung‹: Ein Dachziegel eines Abrisshauses findet neue Verwendung auf einem anderen Haus. Die ›Weiterverwendung‹ dagegen löscht die bisherige Funktion: Eine Bodenplatte mutiert zur Wandplatte, ein Ölfass zur Feuerstelle. Findet Recycling als ›Wieder- oder Weiterverwertung‹ statt, wird das Objekt zum Sekundärrohstoff und tritt damit in die Form- und
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Siehe hierzu Prytula 2004, dort finden sich auch Fotos sowie weitere Links und Informationen.
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Zeitlosigkeit der nur als Stoff wahrnehmbaren Dinge ein. Wo diese Verwertung mit Qualitätseinbußen einhergeht, spricht man von ›Weiterverwertung‹, von Downcycling. Recycling setzt voraus, dass etwas, das Abfall war, neu interpretiert, in neue Bezüge gesetzt und in eine neue Ordnung eingefügt wird.7 Voraussetzung ist die Vorstellung einer Ökonomie der Stoffe, die ihre Konkretionen als bedeutungsvolle Objekte nur zeitweilig finden, um dann wieder zum bedeutungslosen Ding oder zum Stoff zu werden. Viele Wieder-Holungen von Abfallstoffen in Gestaltungsprozessen sind nur wenig über den Kreis von Fachleuten hinaus bekannt, lösen also auch keine öffentlich artikulierten positiven, negativen oder ambivalenten Gefühle aus. Andere Gestaltungen dagegen kokettieren mit der Ausstellung der ökologisch und/oder moralisch ›guten Tat‹ Recycling. Manche Formen, wie die Bevorzugung der Wiederverwendung bereits versiegelter Flächen für Neubauten, sind mittlerweile so selbstverständlich, dass sie keine besondere Aufmerksamkeit finden.8 Der lustvolle und phantasiereiche Beginn eines als solches verstandenen Recyclings in der Architektur, das über vormoderne Praktiken der Wiederverwertung hinausging, liegt in den 1960er und 1970er Jahren in Kalifornien und Neu Mexiko. Als selbstverständlicher Teil einer als ökologisch begriffenen Lebensweise entstanden neue Zugänge zu Materialverwertungen im experimentellen Bauen, die in den 1980er Jahren in Deutschland rezipiert wurden.9 Eine Grundidee war, dass, was in der eigenen Umgebung vorgefunden wird, quasi natürlich zum Material auch des Bauens werden konnte – und das waren in einer Konsumgesellschaft unter anderem ihre Reste. Der Bezug zu Materialien und Stoffen, der in der sogenannten Alternativen Architektur der 1960er und 1970er Jahre vorgeschlagen und ausprobiert wurde, war überdies ästhetisch neu. Die bunten Iglubauten aus Dächern von Schrottautos wie die Adobebauten in den Wüsten der USA,
7
Zur Geschichte und Theorie des Abfalls siehe Hauser 2001, Kapitel 1.
8
Beispiele zu Wiederverwendungen und Formen des Weiterbauens des Bestandes finden sich im Katalog zur Ausstellung Reduce, Reuse, Recycle im deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig 2012; siehe Petzet/Heilmeyer 2012.
9
Shelter, ein Buch, das Lloyd Kahn und Bob Easton 1973 herausgegeben haben, gab den Architekturen der Gegenkultur eine bis heute als Referenz fungierende Darstellung (vgl. Kahn/Easton 2000); siehe auch Schmidt-Brümmer 1983.
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die Müll der Konsumgesellschaft in Klimaregulatoren verwandelten, waren nicht nur technologisch und in ihrem Zugang zu Ressourcen anders als alles bisher Gesehene, sondern auch in ihrem Aussehen – die neuen Intentionen und Materialien verlangten eine neue Ästhetik.
S TOFFKREISLÄUFE Im Design und in der Auseinandersetzung mit Materialien, also auf einer räumlich kleinen Maßstabsebene, geht Recycling heute mit Bestandsaufnahmen, Kontrollen und Analysen einher, die den gesamten Prozess eines Produktes einschließlich seiner Entsorgung modellieren: Manche Entwürfe in Industriedesign und Architektur planen heute Rückholprozeduren oder reversible Konstruktionen schon bei der Herstellung von Produkten oder Bauten ein und suchen so Stoffe und Objekte gleich ›kreislaufgerecht‹ zu bearbeiten und in möglichst geschlossenen Systemen zu erhalten. Cradle to cradle, eine Idee, die der US-amerikanische Architekt William McDonough und der deutsche Chemiker und Verfahrenstechniker Michael Braungart entwickelt haben, ist eines unter mehreren Konzepten dieser Art.10 In den Produkten, die nach diesem Prinzip gestaltet sind, ist alles zerlegbar, Stoffe sind sauber zu trennen, weiter zu verwenden oder zu verwerten. Dabei kommen klassische Wiederverwendungen und -verwertungen ebenso in Frage wie bereits vorbedachte Verarbeitungen zu Kompost. Die Erzeugung von nicht weiter verwertbarem Abfall, also von (Rest-)Müll, ist ein Fehler im Design von Dingen oder im Entwurf der gebauten Umwelt. Die praktische wie konzeptionelle Integration von Stoffen in bewegliche, organisch oder anorganisch gedachte kreisförmige Prozesse kann mit einer Erweiterung der Analyse, der Planung und Kontrolle auf immer weitere Gegenstände und Maßstäbe einhergehen. Sie bedeutet dann ein Eindringen in immer weitere Bereiche, in denen Ungewissheit und Widerstände gegen Prozesskontrollen liegen und macht das dort Vorgefundene zum neuen Rohstoff. Hier trifft sich äußerste Sparsamkeit mit der Ausdehnung und Differenzierung des Zugriffs auf die Ressourcen der Welt.
10 Vgl. Braungart/McDonough 2008; Mulhall/Braungart 2010.
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S PAREN Viele Ansätze, über die Konkretisierungen der Nachhaltigkeit für die Praxis der Architektur versucht werden, sind mit Optimierungsanstrengungen verbunden. Das bedeutet im Kontext der Bemühungen um Nachhaltigkeit zumeist Sparen an Energie und Material bei Erzeugung oder Erhalt bestimmter Funktionen.11 Wenn Prozesse, Objekte oder Funktionen in diesem Sinne optimiert werden sollen, stellt sich die Frage, was genau der Gegenstand des Sparens ist, was fördert den minimal impact? Die Skizze eines konstruierten Beispiels, das relativ wenige Kontexte aufruft, mag zwei Varianten illustrieren. Angenommen, es werde untersucht, wie der Energieverbrauch eines Hauses durch die automatische Steuerung spezifischer Bauteile gesenkt werden kann, etwa von Abblendungen, die den Strahlungseinfall in besonnten Räumen reduzieren und dabei die Klimaanlage entlasten. Idealerweise wird ein optimales Verfahren definiert, entwickelt und ein entsprechendes System gebaut. Das Problem lässt sich allerdings auch anders denken: Es könnte eine Lösung gesucht werden, die beschreibt, wie über die Ausrichtung des Baus sowie die Anordnung seiner Räume und Fenster ein solches System überflüssig wird. Diese Bedingungen werden definiert, entwickelt und verändern Lage, Gestalt und Grundrisse des Hauses. Während im ersten Fall der Verbrauch von Energie reduziert werden soll, den der Betrieb einer Klimaanlage verlangt, wird im zweiten Fall versucht, die ganze Anlage zu vermeiden. Das Problem ›Energieverbrauch einer als notwendig angenommenen Anlage‹ und das Problem ›Energieverbrauch ohne eine solche Anlage‹ führen zu gänzlich anderen Vorgehensweisen. Beide Ansätze können übrigens weitgehend im Rahmen geteilter Vorgaben bleiben: Sie richten sich im Namen der Nachhaltigkeit auf die Einsparung von Energie, sie stellen keineswegs die Grundoperationen eines messenden und an Kriterien der Funktionalität für herkömmliche Nutzungen von Bauten ausgerichteten Zugangs zu Ressourcen in Frage – und beide können vermutlich die Basis der Beschreibung ihrer funktionalen Ziele
11 »Der Bereich des Bauens ist durch große Energie- und Stoffströme geprägt. Nachhaltiges Bauen strebt durch eine optimierte Auswahl der Bauteile und Energieträger eine Minimierung des Verbrauchs von Energie und anderen Ressourcen sowie geringe Umweltwirkungen an und entspricht damit in besonderer Weise der Zielsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie.« (BMVBS 2011: 18).
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in den in technischen Normblättern festgelegten Werten finden, die ›Behaglichkeit‹12 definieren. Die Struktur des hier konstruierten Beispiels ließe sich übertragen und soll deutlich machen, wie sehr Prämissen, die zur Definition und Bewertung einer Situation gewählt werden, das Ergebnis beeinflussen. Die jeweilige Tauglichkeit einer sparsamen Lösung hängt überdies nicht nur von der Bewertung einzelner Details ab, sondern von der Gesamtheit eines Bauvorhabens und dazu den ökonomischen, sozialen und kulturellen Kontexten, in denen energiesparende Bauten realisiert werden sollen.
E NERGIESPAREN Der wohl einflussreichste einzelne Impuls zur Veränderung des Bauens in den letzten Jahren waren EU-weite und nationale Regulierungen, die der Energieeinsparung dienen. Erklärtes Ziel der Bundesregierung ist, bis 2050 einen nahezu ›klimaneutralen‹ Gebäudebestand zu erreichen, also den Ausstoß von Treibhausgasen drastisch zu reduzieren (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2013). Die Verordnungen, die seit 2002 diesem Ziel dienen sollen, enthalten ansteigende Anforderungen und zeigen Wege auf, wie das Ziel zu erreichen ist. Einer der Wege führt über die Einhaltung einer Höchstgrenze für den Jahres-Primärenergiebedarf, ein zweiter wird bestimmt durch den Verweis auf Normen und Vorschriften, die Anforderungen an Bauteile definieren.13 Lösungen bieten zahlreiche Produktentwicklungen, deren Qualität sich an diesen Werten und ihrer Erreichung misst. Darunter sind Dämmstoffe in vielen Qualitäten und Preislagen, neue Kunststoffe, neue Formen von Mauersteinen und dreifach verglaste Fenster mit entsprechend tragfähigen Rahmen, die der in der Verordnung niedergelegten Erfordernis ›luftdichter‹ Außenhäute von Häusern gleich welcher Größenordnung entsprechen können. Dazu
12 Dieser Begriff ist einer der wichtigen Orientierungspunkte für die Beschreibung der Ziele guten, auch nachhaltigen Bauens. Er ist über zahlreiche Normen definiert, eine zentrale ist die internationale Norm ISO 7730. 13 Die derzeitig gültige Grundlage ist die Verordnung über energiesparenden Wärmeschutz und energiesparende Anlagentechnik bei Gebäuden, siehe Bundesministerium der Justiz 2013.
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wird die Einhaltung der Vorgaben durch die Erweiterung und Optimierung eines Maschinenparks im und am Haus unterstützt. Mittlerweile häufig eingebaute automatische Lüftungen, optimierte Heizsysteme, Photovoltaikanlagen und Solarmodule, deren Betrieb die Energiebilanz verbessert, verzahnen das Bauen enger als je zuvor mit Hightech-Geräten und ihrer Überwachung.14 Zu den Effekten der Energieeinsparverordnungen gehört die Entwicklung einer neuen Ästhetik in architektonischen Entwürfen, die sich auf die gesetzlich geschaffenen Bedingungen bezieht. Folgen sind Entwürfe neuer Grundrisse und neuer Kubaturen, die architektonische Interpretation neuer Materialien und die auch ästhetische Integration regenerativer Energien in Bauprojekte. Hochgradig gedämmte Passivhäuser sind Vorzeigemodelle des Energiesparens, denn sie brauchen kaum Heizenergie, enthalten meist nicht einmal klassische Heizungen, verlangen allerdings die Gewöhnung an ein Leben mit gleichbleibenden Temperaturen in allen Räumen. Ausgestochen werden sie von Plusenergiehäusern, die, zumeist über Photovoltaikanlagen, mehr Energie produzieren als ihre Bewohner verbrauchen. Den Zielen der Energieeinsparung entspricht auch die technische Aufrüstung und Nachdämmung älterer Häuser, letztere meist durchgeführt mit geschäumtem Polystyrol, mit Styropor, einem heute sehr billigen Stoff, der in etwa dreißig Jahren als Sondermüll zu entsorgen sein könnte und auch aus baukulturellen Gründen geschätzte Fassaden unter sich begräbt. Deutlich ist, dass die bisher üblichen Maßnahmen zur Energieeinsparung den Bau oder die Nachrüstung von Häusern deutlich verteuern und daher nicht unbedingt auch als sozial nachhaltig verstanden werden können: Mieterverbände weisen darauf hin, dass eine weiter nach den vorgegebenen Mustern vorangetriebene Energieeinsparung durch Umbau und Nachrüstung Mieterhöhungen zur Folge hat, die für ärmere Haushalte nicht zu tragen sind und sie zum Auszug zwingen können. Die hohen Kosten für Neubauten kollidieren außerdem mit dem Bedarf an neuen Wohnungen.
14 Siehe zu einem Konzept ökologischen Bauens, das primär auf diese Technologien setzt, Bauer/Mösle/Schwarz 2007.
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E INFACHHEIT Viele Bemühungen in Architektur, Städtebau und Landschaftsplanung zur Förderung von Nachhaltigkeit führen heute dazu, dass ingenieurtechnische Produkte als Lösungen verstanden werden. Neben dieser seit den 1970er Jahren deutlichen und letztlich überwiegend verfolgten Tendenz entwickelte sich eine andere Richtung der Auseinandersetzung mit dem Bauen, eine Bewegung hin zur Untersuchung von Prozessen, die ohne sonderliche industrielle, wissenschaftliche, ingenieurtechnische und maschinenreiche Einsätze auskommen konnten. Schon in der ersten Hochzeit des Nachdenkens über ökologisches Bauen haben Überlegungen dazu begonnen, wie in diesem Sinne ›einfache‹ Lösungen für die bis dahin definierten Probleme aussehen können. Die Suchorte waren und sind divers und führten in den noch nicht unter Nachhaltigkeitsprämissen stehenden Forschungen zu ökologischen Fragen auf die Spur traditioneller Materialien und Techniken nicht industrialisierter und vorindustrieller Gesellschaften, auch der eigenen. Diese Suche geht zuerst mit einigen bemerkenswerten Bildern um: Mit dem der positiv gesehenen ›Ursprünglichkeit‹, mit einem manchmal schwärmerischen Verhältnis zur ›Natur‹, das einem auf Ressourcenökonomie abstellenden Nachhaltigkeitskonzept sehr fern steht, und mit dem Selbstbild der ›Alternative‹, die sich neben der bestehenden Industriegesellschaft dazu anschickt, ›Anderes‹ zu entwickeln, und zwar aus einer Grassroot-Perspektive.15 Heute sind die Erkundungen, die damals auf das fremde, das alte oder traditionelle ›Andere‹ setzten, zu wichtigen Teilen der Nachhaltigkeitsdebatte und zu Grundlagen der minutiösen Erforschung der damaligen Funde geworden.
B AUSTOFFE Entdeckt wurden Baustoffe, die als ›natürlich‹ verstanden wurden, Werkzeuge und handwerkliche Techniken, die zu ihrer Bearbeitung dienten und an denen sich der Umgang mit ihnen verfeinert hatte. Auch der Reiz von Materialien, die aus der jeweiligen Umgebung stammten und insofern keine
15 Ein bis heute im deutschsprachigen Raum zum Thema viel rezipiertes Buch ist Rudofsky 1989.
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Transportprobleme aufwarfen, wurde geschätzt wie auch eine Ästhetik, die aus den Grenzen der Verwendung und der Verarbeitung dieser Materialien hervorging. Im Zuge dieser Fragen fielen soziale Beziehungen und Verfahren auf, in denen das Baugeschehen stattfand – wie etwa die in unterschiedlichen Varianten verbreitete kollektiv und dörflich erledigte Arbeit des Häuserbauens.16 Alles dies sind Themen der ›alternativen‹ Bewegung der 1960er bis 1980er Jahre, die zu ausführlichen Beschäftigungen mit Stroh, Schafwolle, Schilf, Flachs, mit dem Lehmbau, mit dem Holzbau und anderen wenig modifizierten Materialien führten, die heute im Bauprozess hochindustrialisierter Länder unter der Prämisse der Nachhaltigkeit wieder Eingang gefunden haben.17 Auf dem Weg dahin sind sie einer Erforschung und Entwicklung unterzogen worden, die durch die Kenntnis ihrer Möglichkeiten, aus der Wertschätzung und Förderung des mit ihnen verbundenen Handwerks, eine neue Anerkennung dieser Materialien entstehen lassen konnte. Das Ergebnis ist unter anderem eine Renaissance des Holzbaus und die vermehrte Verwendung von Lehm.18 Beide Materialien haben in diesem Prozess die mit ihnen assoziierte ›einfache‹ oder ›ursprüngliche‹ Ästhetik weit hinter sich gelassen. In den heutigen Adaptionen entstehen oft gestalterisch überragende Ergebnisse.19
D AS K LIMA Einfach, im oben bestimmten Sinne, waren auch die Projekte, die in den 1980er Jahren über die Verwendung von Pflanzen versuchten, gegenüber dem damaligem Standard verbesserte, dazu preiswerte Klimatisierungen von Räumen zu entwickeln. Pflanzen wurden in diesen Konzepten als integraler
16 Siehe z.B. Minke 1980, Andritzky/Burckhardt/Hoffmann 1981; auch die in Fußnote 9 zum ›alternativen Bauen‹ genannte Literatur. 17 Siehe z.B. Holzmann/Wangelin 2009. 18 In Deutschland ist hier einer der Pioniere Gernot Minke, siehe Minke 2009. 19 Beispiele sind die Entwürfe von Hermann Kaufmann, der über fünfundzwanzig Jahre die neuere Entwicklung des Holzbaus mit geprägt hat, siehe Kaufmann 2009; zu neueren Adaptionen des Lehmbaus Roland Boltshausers Haus Rauch (Boltshauser/Rauch 2011).
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Teil des ökologischen Bauens begriffen.20 Vereinzelt finden sich heute verwandte Projekte.21 Die Aufmerksamkeit für Bewältigungsformen klimatischer Gegebenheiten, die ohne den Bezug auf aufwendige technologische Einsätze realisiert werden, ist derzeit groß. Die Fragestellungen haben in vielen Erdteilen eine lange Tradition, auch in den industrialisierten Ländern, die ihre eigenen traditionellen Formen des Umgangs mit Klima und Wetter entwickelt haben, die aber über den industrialisierten Bauprozess der Aufmerksamkeit der Architektur und des Städtebaus entglitten waren. Im Städtebau des frühen 20. Jahrhunderts gab es verbreitet Überlegungen, die an solche Einfachheit anknüpften, etwa dort, wo über die Ausrichtung von Häusern oder Luftschneisen für Städte nachgedacht wurde. Dieses Wissen ist nie ganz geschwunden, aber jetzt besonders anerkannt. Es wird ergänzt um Untersuchungen zur klimatisch optimalen Dichte in Städten, generell um das Bemühen, genau auf lokale Gegebenheiten zu reagieren. Derzeit interessieren außerdem Lösungen, die auch in klimatisch extremen Gebieten für die Erhaltung, Konzentration oder Ableitung von Wärme oder für den Umgang mit Temperaturunterschieden am Tage und in der Nacht bestehen. Von Interesse sind Grundrisse, Öffnungen und Schließungen, auch Vorrichtungen, die die Lüftung fördern wie die ursprünglich persischen Windtürme oder die Einbeziehung der Wirkungen von Wasserbecken in die Klimaregulierung eines Hauses. Es entstehen derzeit Siedlungsprojekte in Entwicklungsländern, die Nachhaltigkeit auf der Basis dieser Erkenntnisse definieren und zu optimieren suchen.22 Die Hoffnung ist, dass traditionelle Formen, in denen mit Kälte und Wärme umgegangen wird, mit Schatten und Sonne, mit Regen und Trockenheit, Anregungen für heutige Lösungen liefern, die unabhängig von komplexen maschinellen Systemen und der mit ihnen verbundenen Kosten wie die der spezialisierten Expertise arbeiten können.23
20 Siehe z.B. Doernach/Heid 1985. 21 Siehe z.B. den Bericht zum im Impulsprogramm Nachhaltig Wirtschaften des österreichischen Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie geförderten Neubau eines Biohofs, Preisack/Holzer/Rodleitner 2008. 22 Ein Vorläufer mit dieser Perspektive war der ägyptische Architekt Hassan Fathy, siehe z.B. Fathy 1987. 23 Siehe z.B. die Bestandsaufnahme in Lauber 2005.
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Die Frage der Definitions- wie der Handlungsmacht ist das wohl wichtigste Thema in der Betrachtung und Beurteilung von Vorschlägen, die die unbestimmte Assoziation von Nachhaltigkeit mit dem ›Guten‹ in Anspruch nehmen. Es ist von Bedeutung, wer, wie, wann, und unter welchen Umständen für wen die Gegenstände und Probleme beschreibt, die im Sinne der Nachhaltigkeit bearbeitet werden können, also die Probleme und Gegenstände identifiziert und umreißt, die Architektur und Städtebau zu ihren Themen machen sollen. Die Frage, ob als nachhaltig vorgeschlagene Lösungen eine lebenswerte Umwelt für künftige Generationen sichern, heutige wie künftige soziale Gerechtigkeit fördern und die Vielfalt kultureller Dimensionen respektieren, ist ein erster Test. Sie liefert Aufschlüsse und Kriterien zur Modellierung von Nachhaltigkeit im speziellen Fall.
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W AS
HEISST NACHHALTIG IN
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Designaufgabe Nachhaltigkeit. Vom Marketingmumpitz zum Gestaltungsprinzip M ORITZ G EKELER
1. G ESPENSTERGESCHICHTEN Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst der Nachhaltigkeit. Seit einigen Jahren hat es die Welt der Unsichtbaren und der Schatten endgültig verlassen und geistert nun verstärkt durch Werbeanzeigen, Politikerreden, Internetforen und journalistische Texte. Einmal in das helle Tageslicht getreten, ist es für alle gut sichtbar geworden. Ähnlich dem kleinen Gespenst des kürzlich verstorbenen Otfried Preußler (Preußler 2005) sorgt es dort, wo es auftaucht, für ein heilloses Durcheinander. In den Strategieabteilungen der großen Unternehmen und Verbände schwebt es im Raum – Kunden und Aktionäre legen scheinbar plötzlich Wert darauf. In den täglichen Schlagzeilen von Lebensmittelskandalen und Umweltkatastrophen huscht es vorbei und eine ganze Batterie von Nichtregierungsorganisationen und Umweltverbänden jagt ihm hinterher. Dieses heute gar nicht mehr so kleine Gespenst scheint dabei sehr wandlungsfähig zu sein, zeichnet doch jeder ein anderes Bild von ihm. Mal erscheint es in Form einer erschreckenden Bedrohung, die mindestens unsere Energieversorgung und damit das Wirtschaftswachstum, wahrscheinlich aber unsere Sicherheit insgesamt aufs Spiel setzt. Mal scheint es zahm und zutraulich als ein gutes Gefühl, das man sich mithilfe der richtigen Produkte einfach mit nach Hause nehmen kann.
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Das nicht mehr so kleine Gespenst hat dabei seit einigen Jahren einen guten Freund gefunden – den Marketingmumpitz. Etymologisch entstammt auch er der Gattung der Gespenster. Konkret wird er auch als eine »vermummte Schreckgestalt« (Bibliographisches Institut GmbH 2013) bezeichnet. Dieser freche Zeitgenosse treibt seinen Schabernack mit all jenen, die dem nicht mehr so kleinen Gespenst helfen wollen, seinen Platz in den Köpfen der Menschen (wieder) zu finden. Jahrzehntelang hat er sich möglichst von Aussagen über Umweltfreundlichkeit und Nachhaltigkeit ferngehalten. Es galt, keine schlafenden Hunde zu wecken und andere (fiktionale) Erzählungen (vgl. Ullrich 2006; Misik 2007; Gries 2008) verkauften sich und die betreffenden Produkte einfach besser. Heute hilft der Mumpitz den Marketingabteilungen der großen Unternehmen aber verstärkt dabei, die bevorstehenden Probleme zu verharmlosen und Scheinlösungen zur Beruhigung des Gewissens der Kunden und Anleger hervorzubringen (vgl. Gekeler 2012: 97 ff.). Das verkauft sich gut. Zugleich fühlen sich heute jedoch immer mehr Menschen im Angesicht des Mumpitz’ der Marketingabteilungen unwohl (vgl. Katz 2004). Viele erkennen gar, dass die schöne bunte Werbewelt womöglich nur oberflächliche Veränderungen heraufbeschwört. Der Begriff »Mumpitz« bezeichnet umgangssprachlich auch jenen »Unsinn, den man nicht zu beachten braucht« (Bibliographisches Institut GmbH 2013). Scheinbar hoffen immer mehr Menschen darauf, dass es auch ihnen gelingen möge, den Werbebotschaften keine Aufmerksamkeit mehr schenken zu müssen. Viele sind skeptisch geworden und die Marketing- und Werbefachleute scheinen zu fürchten, dass ihre Bemühungen zunehmend ins Leere laufen. Seit einigen Jahren versuchen sie daher (speziell in Zusammenhang mit Nachhaltigkeit), ihre Botschaften immer stärker zu ›vermummen‹ und zu verstecken. Nachhaltigkeitswerbung gibt sich seriös. Neben den üblichen bunten Bildchen und hübschen Geschichten untermalen die Werbeautoren ihre Botschaften mit scheinbaren Fakten und wählen immer häufiger eine Kommunikationsform, die eher an wissenschaftliche oder journalistische Genres erinnern soll als an Werbung (vgl. Gekeler 2012: 165 ff.). Es gilt, das Vertrauen der Rezipienten wiederzugewinnen, indem beispielsweise die stetige Reduktion unerwünschter Effekte (wie der Verbrauch von fossiler Energie und Rohstoffen oder Emissionen klimaschädlicher Gase in Produktion und Gebrauch) in bunten Grafiken veranschaulicht oder die eigene Produktbotschaft über die Inszenierung von Affirmation durch Mitarbeiter oder
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glaubwürdige Dritte (z.B. Labels von mehr oder weniger neutralen Zertifizierungsstellen) bestätigt wird. Und so fragt man sich, ob man auch jenen Mumpitz der Marketingabteilungen, der seit ein paar Jahren mit dem nicht mehr so kleinen Gespenst ›Nachhaltigkeit‹ Fang-Mich spielt, nicht zu beachten braucht. Eine Eigenschaft ist ja allen Gespenstern und Geistern eigen. Sie sind körper- und substanzlos. Diese Eigenschaft trifft sowohl auf das nicht mehr so kleine Gespenst ›Nachhaltigkeit‹ als auch auf seinen Kumpel (Marketing-) Mumpitz zu. Nachhaltigkeit ist noch immer ein abstraktes Konzept, dessen Umsetzung schwer zu fassen ist. Keiner kann sich vorstellen, was ein weltweiter Temperaturanstieg von 2 °C und mehr tatsächlich bedeuten wird. Wie wird das Leben sein, wenn Meeresspiegel steigen? Was bedeutet es für jeden einzelnen, wenn Energie immer teurer und wichtige Produktionsrohstoffe immer unzugänglicher werden? Auf der anderen Seite ist auch das gute nachhaltige Leben nicht für uns greifbar. Es wird viel von gestiegener Lebensqualität gesprochen. Hinwendung zu immateriellen Werten gilt als Devise. Doch scheinbar ist der Übergang in dieses irdische Paradies schwerer als gedacht. Selbst die herausragenden Vertreter der Bewegung, die sogenannten LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability), die sich noch vor wenigen Jahren als Retter der Welt feierten, müssen resigniert feststellen, dass eigentlich nichts passiert (Langer 2012). Ihre Kritiker nutzen sogar die Komplexität der weiter gewachsenen Herausforderungen dazu, bisher Erreichtes grundsätzlich in Frage zu stellen (Neubacher 2012) und man neigt dazu, ihnen in einigen Punkten zuzustimmen, wenn man bestimmte Entwicklungen in Betracht zieht, die mit dem Primat der Nachhaltigkeit in Gesetzgebung und Alltagskultur einhergehen. Tatsächlich lassen sich bei manchen Vertretern eines vermeintlich ökologisch-korrekten Lebensstils ein Hang zur Besserwisserei und leicht diktatorische Neigungen feststellen. Das aufgeplusterte Gewissen der Konsumenten von Bioprodukten und Fairtrade-Baumwolle neigt dazu, an anderer Stelle ein bis zwei Augen zuzudrücken (Ullrich 2007). Doch aus dieser Tatsache den Schluss zu ziehen, dass die Anstrengungen für mehr Nachhaltigkeit (und seien sie noch so klein) verfehlt seien, ist ebenfalls zu kurz gegriffen. Stattdessen sollten wir dem kleinen Gespenst ›Nachhaltigkeit‹ helfen, seine Aura des Schreckens loszuwerden. Es sollte den Menschen sein wahres, freundliches Gesicht zeigen dürfen: Das kleine Gespenst ›Nachhaltigkeit‹ muss attraktiv sein, um echte Freunde zu finden.
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2. D ESIGN
IST DAS
P ROBLEM
Das Problem der fehlenden Nachhaltigkeit unserer Kultur lässt sich nicht allein mit Kommunikation lösen. Weder ist es sinnvoll, die Erzählung von der Katastrophe permanent zu wiederholen, noch ist der Sache geholfen, indem man den ewig gleichen Produkten die Fiktion eines irdischen Nachhaltigkeitsparadieses anheftet. Einerseits fühlt sich der einzelne im Angesicht vermeintlich drohender Katastrophen überfordert. Der Zusammenhang zwischen der persönlichen kleinen Handlung und dem großen Ganzen ist schwer zu fassen, auch der Schritt vom Wissen zum Handeln ist weit. Auf der anderen Seite schafft das künstlich erzeugte Scheinparadies aus Bioeiern, Organic Jeans und benzinsparenden Autos ein falsches Gefühl der Sicherheit, das sich kontraproduktiv auf das Gesamtsystem auswirkt. Selbst kleine Einsparungen (z.B. im Verbrauch von Fahrzeugen) werden durch verstärkte Nutzung und gestiegene Komfortansprüche ausgeglichen oder gar überkompensiert (z.B. größere und schnellere Fahrzeuge). Eine Ursache der Probleme liegt im Design begründet. Alle diejenigen, die ein Produkt oder einen Service mitgestalten, tragen eine besondere Verantwortung. In den letzten Jahren haben die Marketingabteilungen verstärkt die Erzählung von der Nachhaltigkeit in ihre eigenen Erzählungen mit aufgenommen. Nun ist es an der Zeit, dass die Designer und alle angrenzenden Disziplinen, die an der Planung, Gestaltung und Entstehung von neuen Produkten und Dienstleistungen beteiligt sind, ihre Verantwortung annehmen und tatsächliche Veränderung bewirken. Um diese Aussage zu verdeutlichen, stellt sich die Frage, wie der Begriff ›Design‹ hier verwendet wird. Wie Erlhoff und Marshall in ihrem Wörterbuch Design darstellen, ist die Definition des Begriffs nicht trivial. Während im deutschen Sprachgebrauch Design meist als Gestaltung im Sinne von Oberflächenverschönerung verstanden wird, bezieht sich der Begriff im »weitaus pragmatischeren englischen Sprachgebrauch […] auf die Konzeption oder auf den mentalen Plan eines Objekts und bezeichnet zugleich alles, was irgendwie gestaltbar ist« (Erlhoff/Marshall 2008: 88).
Wenn man von dieser Definition ausgeht, kann alles designed werden vom Produkt über Dienstleistungen bis hin zu gesetzlichen Rahmenbedingungen.
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Der amerikanische Sozialwissenschaftler Herbert A. Simon beschreibt dementsprechend Design auch global als eine Tätigkeit, »aimed at changing existing situations into preferred ones« (Simon 1996: 111). Design wird damit als eine kreative (Welt-)Verbesserungsstrategie verstanden. Auf dieser pragmatischen, sehr breiten Verwendung des Begriffs basieren auch die folgenden Überlegungen. Obwohl diese Definition aufgrund ihrer Breite vielen Designern zu unscharf erscheinen mag (Kimbell 2012), hilft sie dabei, die Rolle und das Potenzial von Design grundsätzlich zu überprüfen. Wenn man Design in diesem Sinne auslegt, wird deutlich, wo wir ansetzen müssten, um Nachhaltigkeit zu erreichen. Die Nachhaltigkeitsdebatte stellt die gegenwärtige Konsumkultur insgesamt als nicht befriedigenden Zustand dar, der verändert werden soll. Eine nachhaltige Kultur verlangt daher nach einer radikalen Neugestaltung nicht nur der meisten Produkte und Dienstleistungen, sondern der alltäglichen Lebensweise von Grund auf. Diese Aufgabe kann Design teilweise erfüllen. Damit Nachhaltigkeit Realität wird, braucht es konkrete Angebote. Diese Angebote müssen sich radikal von den heutigen unterscheiden. Sie müssen nachhaltiger sein. Darüber hinaus müssen sie aber auch attraktiver sein. Um derartige Angebote zu entwickeln, bedarf es einer konsequenten Innovationsstrategie auf allen Ebenen – wirtschaftlich, politisch und kulturell. Während die bisherige Entwicklungslogik beinahe ausschließlich an materiellen Produkten und zudem ökonomisch orientiert ist, sollten für die Zukunft mehr Faktoren in Betracht gezogen werden, um Nachhaltigkeit zu ermöglichen. Zumindest in den westlichen Ländern sind die wichtigsten materiellen Bedürfnisse längst befriedigt. ›Innovationen‹ bewegen sich daher meist im Bereich der Erneuerung bisheriger Angebote nach Kriterien der Mode. Ein Paar Schuhe wird bunter, ein Fahrzeug schneller oder vielleicht sogar ein bisschen benzinsparender. In dieser Kultur haben Designer lediglich die Aufgabe, um der Neuheit willen Neues zu schaffen. Größere Zusammenhänge – wie beispielsweise die Zukunftsfähigkeit der Welt, auf der wir leben – spielen keine Rolle. Im Vorwort zu seinem Buch Design is the problem, dem auch der Titel für diesen Abschnitt entnommen wurde, bringt es Nathan Shedroff auf den Punkt: »Design that is about appearance, or margins, or offerings and market segments, and not about real people – their needs, abilities, desires, emotions, and so on – that’s the design that is the problem.« (Shedroff 2009: XXVII)
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Wenn wir den Nachhaltigkeitsdiskurs in diesem Sinne als Aufforderung zur zielgerichteten, menschlichen Innovation durch Design verstehen, ergeben sich unendliche Handlungsfelder, die nur darauf warten, bearbeitet zu werden. Nachhaltigkeit wird zur Designaufgabe.
3. N ACHHALTIGKEIT
ALS
D ESIGNAUFGABE
Die Begriffe ›Design‹, ›Designerprodukt‹ oder ›Designerware‹ werden in der Umgangssprache meist mit Luxus in Verbindung gebracht. Während es so scheint, als seien ›einfache‹, kostengünstigere Produkte nicht designed, erkennt man die so genannte Designerware daran, dass meist ein Markenname und ein recht großes Preisschild dazugehören. Dabei sind auch noch die einfachsten Produkte mehr oder weniger professionell gestaltet. Im Diskurs der Innovationsforschung wird nun in den letzten Jahren zunehmend betont, dass dem Design und der Herangehensweise von Designern eine wichtige Rolle zukommt. Der britische Design Council beschreibt in einer Studie aus dem Jahr 2007 sogar, welchen großen Einfluss Design auf den Erfolg eines Unternehmens haben kann. Demnach sind Unternehmen, die Design als einen wichtigen Faktor in ihrer Gesamtstrategie begreifen, deutlich erfolgreicher (Design Council 2007). Dies zeigt auch das gestiegene Interesse an den relativ neuen Herangehensweisen des Service Design (Mager/Gais 2009; Stickdorn/Schneider 2010; Meroni/ Sangiorgi 2011) und den ›designerischen‹ Problemlösungsstrategien insgesamt, wie sie mit dem Begriff Design Thinking (Brown 2009; Plattner/ Meinel/Weinberg 2009; Cross 2011) umschrieben werden. Angesichts der politischen und finanziellen Krisen, denen die westlichen Länder sich in den letzten Jahren ausgesetzt sehen, aber auch vor dem Hintergrund der wachsenden ökologischen Herausforderungen, steigt das Bewusstsein, dass wir neuartige Lösungen für viele Bereiche des menschlichen Lebens brauchen. Die Wirtschaft schreit förmlich danach, neue Methoden und Herangehensweisen zu finden, die dabei helfen, bessere Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Die Suche nach Erneuerung ist allgegenwärtig. Die ›designerische Herangehensweise‹ an diese Probleme bietet großes Potenzial, um Nachhaltigkeit und nachhaltige Angebote attraktiv zu machen. Eine neue Form von Design kann dabei helfen, der Nachhaltigkeit zum Leben zu verhelfen. Die folgenden sieben Thesen verdeutlichen, wieso
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ein neues Designverständnis bei der Umsetzung von Nachhaltigkeit notwendig ist: Design ist optimistisch Wenn man Birgit Mager und Michael Gais folgt, so arbeiten (Service) Designer »mit einem Blick für das Ganze« (Mager/Gais 2009: 62). Das ist eine Grundvoraussetzung für die Umsetzung von Nachhaltigkeit. Anstatt vor den riesigen Herausforderungen zu kapitulieren, stellen sie sich ihnen mit Freude und Optimismus. Das Ziel jeder Designanstrengung sei eine wünschenswerte Zukunft, schreibt Klaus Krippendorff (vgl. Krippendorff 2006: 29). Im Designprozess verlassen sich Designer auf ihre handwerklichen und kreativen Fähigkeiten. Sie vertrauen darauf, durch Ausprobieren vieler verschiedener Lösungsansätze, schon irgendwann den richtigen zu finden. Zukunft wird für sie zum Optionsraum, den es auszuloten gilt. Jegliches Problem wird zur spielerischen Herausforderung und die Suche nach der Lösung zur homerischen Heldenreise, an deren Ende zumindest der Erfolg einer neuen Erfahrung steht. Design hinterfragt Traditionell bekam ein Designer die Aufgabe, ein materielles Produkt neu zu gestalten. Höchstwahrscheinlich stellte er daher am Ende seiner Arbeit auch ein neu gestaltetes materielles Produkt als Lösung der Aufgabe vor. Den neu entstehenden Designdisziplinen, die man unter dem Oberbegriff Human-Centered Design zusammenfassen könnte (z.B. Service Design, Interaction Design, Experience Design und das im Management immer beliebter werdende Design Thinking), fällt es leichter, vorgegebene Pfade zu verlassen. Ihnen wird die Fähigkeit zugesprochen, die von den Unternehmen heiß ersehnten Innovationen hervorzubringen. Mit diesem neu gewonnenen Freiraum können sie es sich erlauben, keine vorweggenommenen Antworten an den Beginn ihres Innovationsprozesses zu stellen (z.B. ›Gestalte ein neues, benzinsparendes Automobil!‹). Stattdessen gelingt es diesen Designdisziplinen, neue Fragen aufzuwerfen (z.B. ›Wie kann man energiesparend und komfortabel von A nach B gelangen?‹). Die Antworten auf beide Fragestellungen werden sehr unterschiedlich aussehen.
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Design ist ein Teamsport Darüber hinaus ist eine Wandlung des Selbstverständnisses von Designern zu erkennen. Anstatt das Bild des genialischen Künstlers zu kultivieren, wird Design in diesen neuen Disziplinen mehr und mehr zu einem Teamsport. Indem Design aus dem Elfenbeinturm des Künstlertums befreit wird, ermöglicht es die Integration anderer Disziplinen. Unter der methodischen Anleitung von Designern arbeiten Ingenieure, Wirtschaftsfachleute, Künstler und Wissenschaftler zusammen an neuen Lösungen. Designer werden zu Moderatoren in diesen Prozessen. Ihr visuelles Gespür dient hierbei als Vermittler zwischen den Disziplinen. Ihre spielerische Neugier für ungewohnte Pfade hilft ihnen dabei. Design ist empathisch In der Literatur zu diesen neuen Designdisziplinen wird besonderer Wert auf die Ausrichtung an den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen gelegt. Der Mensch steht im Zentrum ihrer Bemühungen. Am Beginn einer Entwicklungsphase steht daher auch die (ethnografische) Beschäftigung mit den Menschen, die von der jeweiligen Aufgabenstellung betroffen sind. Es geht darum, zu verstehen, warum eine bestimmte Person sich auf eine bestimmte Weise verhält und die daraus folgende Erkenntnis so einzusetzen, dass die entstehende Lösung zum Nutzen der betreffenden Person ist. Design ist iterativ Da es sich bei den Prozessen und Methoden, die in diesen Designdisziplinen Anwendung finden, um iterative Vorgehensweisen handelt, werden die betroffenen Menschen regelmäßig einbezogen. Es entsteht ein gemeinschaftlicher Prozess, der Experten und Nutzer in möglichst regen Austausch versetzt. Anstatt einen hohen finanziellen Aufwand zu betreiben, werden kostengünstig verschiedene Optionen ausprobiert. Auf diese Weise entstehen Lösungen, die auf den tatsächlichen Nutzungskontext zugeschnitten sind. Durch permanentes Ausprobieren wird sichergestellt, dass die zukünftige Lösung tatsächlich den Gegebenheiten entspricht. Blinde Flecken werden bei dieser Vorgehensweise vermieden oder zumindest verringert.
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Design begeistert (Service-)Designer stellen sich die Frage: »Wie entsteht Begeisterung?« (Mager/Gais 2009: 59). Dies ist auch eine kritische Frage für die Nachhaltigkeit. Solange es nicht gelingt, Begeisterung für andere Verhaltensweisen zu wecken, wird es zu keiner Verhaltensänderung kommen. William McDonough und Michael Braungart weisen darauf hin, dass das Themenfeld der Nachhaltigkeit sehr stark von einem negativen Vokabular geprägt ist: Begriffe wie »reduce, avoid, minimize, sustain, limit, halt« (McDonough/ Braungart 2002: 45) etc. dominieren die Diskussion. Insbesondere im Austausch mit aufstrebenden Schwellenländern wie China, Russland, Brasilien und Indien kann diese Diskussion nicht funktionieren. Sicherlich müssen wir über den Materialeinsatz und den Energieverbrauch unseres Lebensstils wieder Herr werden. Durch den Fokus auf Beschränkung werden wir aber niemanden in diesen Ländern dazu bringen, sich den Idealen einer nachhaltigeren Welt anzuschließen. Auch in Europa und den USA fällt es den strengsten Verfechtern der Nachhaltigkeit schwer, einen nachhaltigeren Lebensstil konsequent umzusetzen. Gelingt es uns aber, attraktive Alternativen zu gestalten, werden selbst Kritiker zu begeisterten Befürwortern von Nachhaltigkeitsstrategien. Design schafft Wandel Die Überschrift dieses Abschnitts – Nachhaltigkeit als Designaufgabe – soll nicht Vorstellungen von Coffee Table Books mit Hochglanzfotos von Ökodesignprodukten wecken, wie sie in den letzten Jahren so zahlreich erschienen sind (z.B. Nachtwey/Mair 2008; Proctor 2009; Fairs 2009). Zwar werden in diesen Büchern häufig schöne und sinnvolle Produkte vorgestellt, zumeist handelt es sich aber um Nischenprodukte, die keinen echten Wandel erzeugen. Wer die Methoden des Designs ausschließlich in diesem Sinne anwendet, verpasst eine Chance. Strategisch eingesetzt, können diese Methoden Lösungen produzieren, die das Verhalten der Menschen gänzlich neu ausrichten, zum Beispiel hin zu einem nachhaltigeren Lebensstil.
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4. B EISPIELE
FÜR DAS NEUE
D ESIGN
Anhand von drei Beispielen werden im Folgenden die neuen Vorgehensweisen des Designs erläutert: Die besondere Energie der kreativen Kollaboration Ein positives Beispiel für die Energie, die entstehen kann, wenn Designmethoden zum Einsatz kommen, um Fragestellungen zur Nachhaltigkeit neu anzugehen, sind die regelmäßig stattfindenden »Global Sustainability Jams« (Hormess/Lawrence 2013a) und »Global Service Jams« (Hormess/ Lawrence 2013b). Die wachsende Gruppe von Service Designern und Design Thinkern trifft sich bei diesen Jams weltweit und versucht, innerhalb von 48 Stunden neue Lösungsansätze zu finden. Auf der Website des Global Sustainability Jam heißt es: »The Global Sustainability Jam is a Non-Profit activity organized by an international network of people, many of them designers, who are interested in exploring approaches to creativity and problem solving.« (Hormess/Lawrence 2013a)
Zahlreiche Fotos und Videos zeugen von der fröhliche Stimmung, die an diesem kollaborativen Wochenende herrschte. Positive Eindrücke konnte man auch auf den Vision Summits der Jahre 2011 und 2012 erleben (Genesis Institute/Spiegel 2013). Auf der Konferenz zum Thema Social Business beschäftigten sich die Teilnehmer jeweils einen Tag lang mit Fragestellungen aus dem Nachhaltigkeitsbereich. In einem Video auf der Website beschreiben Teilnehmer des Jahres 2011 die besondere Energie, die bei dem eintägigen Workshop der HPI School of Design Thinking unter dem Motto Design Thinking for Social Innovation entstand. Besonders hervorgehoben wird dabei die multidisziplinäre und kreative Herangehensweise. Die Teilnehmer können kaum glauben, wie spielerisch und dennoch effektiv sie neue Konzepte entwickeln konnten. Ein weiteres Beispiel zeigen die Workshops und Projekte der jungen Berliner Agentur »creative confidence« (Barrasch/Scheer 2013). Andrea Scheer und Elias Barrasch wenden erfolgreich mit Schülern Designmethoden an, um neue Konzepte (z.B. für den Umgang mit Demokratie in der
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eigenen Stadt) zu entwickeln (Scheer/Barrasch 2012). Was sie schaffen, ist Begeisterung. Die Schüler glühen für die von ihnen entwickelten Stadtführungen, mit denen sie anderen Schülern Demokratie vermitteln wollen. Von derartig kurzen Events kann man keine Wunder erwarten. Natürlich sind die Lösungen, die aus diesen unterschiedlichen Veranstaltungsformaten entstehen, eher rudimentär und sie konnten noch keinen großen Einfluss gewinnen. Die Begeisterung, mit der die Teilnehmer an den gestellten Aufgaben arbeiten, spricht aber für sich. Diese Begeisterung für Themen der Nachhaltigkeit ist das eigentliche Ziel der Veranstaltungen. Der andere Blick auf (nachhaltige) Innovation Auf der Website des Sustainable Everyday Projects (Jégou/et al. 2008), einer vom UNEP (United Nations Environment Programme) geförderten Initiative, finden sich zahlreiche Beispiele für die sinnvolle Nutzung von Designmethoden für die Gestaltung von gesellschaftlichem Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit. Ezio Manzini und François Jégou fassen in einer auf der Website zum Download stehenden Publikation zusammen, wie die Kreativität von Designern innovative Lösungen hervorbringt: »A new, different and fascinating role for the designer emerges from what has been said here. […] More in general, they have to consider themselves part of a complex mesh of new designing networks: the emerging, interwoven networks of individual people, enterprises, non-profit organizations, local and global institutions that are using their creativity and entrepreneurship to take some concrete steps towards sustainability.« (Jégou/et al. 2008: 25)
Anstelle von einzeln gestalteten, materiellen Produkten geht es hier um systemische Lösungen, die verschiedene Betroffene einbeziehen: neue Arten zusammenzuleben (co-housing), lokale Produktionsinfrastrukturen, Initiativen für gesundes Essen, selbstorganisierte Angebote, beispielsweise im Bereich der Kinderbetreuung oder alternative Transportsysteme wie Carsharing. Die bunten Beispiele, die in dieser Publikation zusammengestellt sind, zeigen, wie sehr es sich lohnt, im Innovationsprozess Fragen grundsätzlich neu zu stellen. Sie zeigen auch, dass Design in diesem Kontext nicht mehr nur als spezialisierte Disziplin verstanden werden kann. Stattdessen geht es
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um neue Fähigkeiten, die den Designern abverlangt werden. Sie agieren nun als Katalysatoren der Kreativität. Die Kraft der Offenheit Ein weiteres Beispiel für die erfolgreiche Anwendung von Designmethoden auf Fragestellungen der Nachhaltigkeit zeigt der Open-InnovationAbleger der Innovationsberatung IDEO: Mithilfe einer Gemeinschaft von kreativen, interessierten Nutzern werden auf openideo.com (IDEO 2013) Lösungen für ganz unterschiedliche Probleme gefunden, viele auch nicht explizit aus dem Bereich der Nachhaltigkeit. Ein Beispiel der sogenannten impact stories ist The Locavore Edition (The Locavore Edition 2013). Hierbei handelt es sich um einen Führer, der den Menschen im australischen Bundesstaat Victoria nachhaltige und lokale Lebensmittel näher bringt. Anstatt nur im Kleinen an das Problem heranzugehen, wird hier ein vollkommen neues System geschaffen – ein System, das durch Design am Leben erhalten und attraktiv gemacht wird. »Our aim is to inspire Australians and international visitors to consider new (or old) ideas and perspectives, and to think more clearly about the future food systems we want to create. This reawakening to the value of quality produce and the valuable role that is played by the people that grow it needs to be nurtured and supported. It holds huge economic and social potential for farmers, small businesses and regional communities across Australia.« (IDEO 2013)
Hier geht es nicht mehr darum, einzelne Produkte aufzuhübschen. Stattdessen scheuen sich die Macher nicht davor, ihren hohen Anspruch stolz zu verkünden. Sie wissen: Hinter ihnen steht eine weltweite Bewegung von ähnlich Denkenden, die sich zunehmend über Plattformen wie openIDEO organisieren, um neue, kreative Vorschläge zu machen.
5. L ET ’ S
DESIGN SUSTAINABILITY
– E IN A UFRUF
All diese vielversprechenden Ansätze können als Aufruf verstanden werden. Es hilft nicht weiterhin zu beklagen, dass Versuche, mittels politischen Konsums die Konsumkultur zu verändern, gescheitert oder unbefriedigend
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geblieben sind (Busse 2006). Stattdessen sollten wir uns auf die positiven Beispiele konzentrieren und jene unterstützen, die radikalere Lösungen für eine nachhaltigere Welt entwickeln. Damit das funktionieren kann, bedarf es des Mutes derjenigen, die Entscheidungen treffen. Design und seine Methoden können dabei helfen, diese Entscheidungen systematisch und bewusst zu treffen. Mithilfe der besonderen Methoden, die wir uns von den Designern abschauen können, wird es möglich, positive Visionen für die Zukunft zu entwerfen. Unser aller Aufgabe ist es, eine wünschenswerte Zukunft zu entwerfen und den Weg dorthin einzuschlagen. Design kann dabei helfen.
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Einzigartigkeit
Wovon reden wir überhaupt? Zur Kritik des Überlebens W OLF D IETER E NKELMANN
D IE A NFÄNGER »Bundesliga bestätigt nachhaltiges Wachstum« (DFL 2013). Das wurde am 23.01.2013 auf www.bundesliga.de stolz vermeldet. Die also auch. Was soll man da noch sagen – und was bedenken, das noch nicht ins Kalkül gezogen wäre? Zu diesem Thema? Kaum ein anderes hat selbst noch in den scheinbar am fernsten liegenden Bereichen derartige Unmengen an Reflexionspotenzial absorbiert wie dieses. Wer wollte da nicht all denen Recht geben, die fordern, statt nur endlos darüber nachzudenken, endlich ernsthaft zu handeln und das Nötige, das längst mehr als hinlänglich bekannt ist, auch umzusetzen? Eric Schweitzer, Präsident der IHK Berlin und Chef der Berliner ALBA Group, verdient sein Geld mit Entsorgung und Recycling. Für ihn ist klar, worum es geht: »Bei allem, was man tut, das Ende zu bedenken, das ist Nachhaltigkeit.« (Schweitzer 2010) – Tja, das Ende. Das sagt sich so leicht. Aber bei welchem Phänomen, Ereignis oder Zustand will man es ansetzen? Wie definiert man es? Darauf käme ja nun alles an, damit dieser Gedanke zu einem irgendwie greifbaren, verbindlichen Gehalt kommt. Wie macht man einer Sache überhaupt ein Ende? – Die Neuzeit hat sich in wilder Entschlossenheit zu einer Kultur des Anfangens gemausert: »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat […] die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften,
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unbarmherzig zerrissen […]. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.« (Marx/Engels 1999/2013: 464)
Erfindergeist, Innovationsfreude, mutige Visionen, kühne Geschäftsideen, unternehmerische Entschlossenheit und individuelle Freiheit, Wachstum, höher, weiter, schneller – das sind die Werte, die zählen. Damit kennen wir uns aus. Where is the limit war das Leitmotiv Steve Jobs’. Als wenn das ›Abendland‹ in neidvollem Eifer unbedingt dem ›Morgenland‹ den Rang hätte ablaufen wollen. Aber etwas wirklich zu Ende bringen, etwas so machen, dass wenigstens in dieser Sache endgültig niemand mehr etwas machen muss? Wie macht man das überhaupt? Oder: Wie könnten wir das Machen lassen? Ohne dabei zugrunde zu gehen. Die vor längerer Zeit bereits ausgerufene Postmoderne verharrt in einem permanenten Aufschub. Zumindest, sofern man von ihr mehr als nur einen stilistischen Wandel der Darstellungs- und Selbstversicherungsformen der Moderne erwartet hatte. Die Dinge müssen verändert werden, ›damit sie dieselben bleiben‹ – das scheint dann doch die mächtigere Maxime zu sein, der sich die Zeit verpflichtet fühlt. Ein Ende kontinuierlicher Neuerung und Modernisierung ist nicht in Sicht. Es sei denn, man sieht gerade in dieser Endlosigkeit des Anfangens das Ende der Geschichte erreicht, von dem Francis Fukuyama vor Jahren bereits sprach (Fukuyama 1993). Mehr und anderes als eine alle Differenzierungen und Alternativen in sich aufsaugende fortwährende Ausweitung der Gegenwart (Gumbrecht 2010) gibt es dann nicht mehr und wird es auch nie mehr geben. Alpha und Omega, Anfang und Ende, der Kreis hat sich geschlossen – im Zeitalter der Verwaltung und Reproduktion seiner Ewigkeit. »Auf lange Sicht sind wir alle tot« (Keynes 1997: 83), dekretierte John Maynard Keynes. Seiner Auffassung nach kann man es eigentlich gleich lassen, wenn man anfangen wollte, über diese Grenze, die der Tod dem Leben setzt, nachzudenken. Woran man eh nichts ändern kann, lohnt es nicht, seine Zeit zu verschwenden. Und außerdem: Wo ist das Problem? Solange wir leben, sind wir nicht tot. Und wenn wir tot sind, merken wir davon nichts mehr. Im Übrigen muss man über allem, was man macht, auch überleben, sonst hat man von all den Mühen, die man auf sich nimmt, nichts. Gegenüber Zeiten, in denen die Gewinnträchtigkeit heldischer Opferbereitschaft und
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vaterländischer Todesverachtung – ›Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben‹ – gerühmt wurde, ist Keynes’ Verdikt ein Plädoyer für möglichst friedfertiges Gewinnstreben. Ein Fortschritt. Nach Keynes sind die Grenze, die der (biologische) Tod markiert, und das Ende, das er symbolisch repräsentiert, für Begriff, Theorie und Praxis der Ökonomie irrelevant (vgl. dagegen: Baudrillard 1991). Ökonomie bewegt sich in einem unendlichen Kontinuum. Sie kennt keine Grenze, nur systematischen Bestand und praktische Bestandserhaltung, Stoffwechsel, Entwicklung und Effizienz (vgl. Vogl 2010/11: 83 ff.). Leben eben. Tod, Ende gibt es – zum Beispiel in Form von Schumpeters kreativer Zerstörung (Schumpeter 2005) – nur als inhärentes Moment der Reproduktion dieser grenzenlosen Gedeihlichkeit. Auf der einen Seite, auf der anderen ist das so unabdingbare Wachstum ebenfalls nur ein inhärentes Moment einer Ökonomie, die Keynes zufolge ihrem Wesen nach eine Ökonomie absoluten Überlebens ist. Es gab sie, es gibt sie und es wird sie immer geben. Es ›muss‹ sie geben, denn jenseits ihrer ist Barbarei, Chaos, Finsternis, das Unfassbare. Doch, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. So überwunden der Tod, der persönlichen Biologie- und Schicksalsverwaltung überantwortet, im System der Ökonomie auch scheinen mag, ist ihm doch nur ein Aufschub abgerungen. Er blieb am Horizont, in weiter Ferne zunächst, bis dann doch die sehr unwillkommene Einsicht um die ›Grenzen des Wachstums‹ kam. Man hatte sich, so schien es, verrechnet. Die bis dahin übliche Wachstumsbilanz stimmte nicht. Eine ganze Liste von Kosten war nicht eingepreist. Und es hob die Debatte um ein nachhaltiges Wirtschaften an. Und nun scheint erst recht kein Ende mehr abzusehen. Wie herum auch immer man die Sache anpackt, ob nun vom Anfangen oder vom Ende her, es kommt immer das Gleiche dabei heraus: Es muss etwas geschehen. Wir müssen etwas machen, unbedingt. Etwas, was wir bisher noch nicht gemacht und sträflich vernachlässigt haben. Weniger denn je können wir es uns leisten, die Hände in den Schoss zu legen und die Dinge einfach auf uns zukommen zu lassen. Wir stecken fest in der Endlosschleife eines sich reproduzierenden Handlungsbedarfs. Kein Ende abzusehen – und ebenso wenig ein Anfangen, das diesem Zauber ein Ende machen könnte. Das müsste dann wohl auch ein ganz anderes Anfangen sein, als bisher fortwährend ins Werk gesetzt wird. Eines, das die Welt zumindest der
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Moderne noch nicht gesehen hat, eines, das sich dem Gesetz der Reproduktion, der Diktatur des Es-muss-irgendwie-weitergehen zu entwinden verstünde. Doch hätte für Platon oder Aristoteles etwa ein derartiges, nicht kausal prädefiniertes Anfangen eben auch überhaupt erst diesen Namen verdient. Lang ist’s her. Noch aber untersteht die Spekulation auf nachhaltiges Wirtschaften dem Gebot der Reproduktion. Das Ende, das Eric Schweitzer vorschwebt und für gut befindet, besteht in der Sicherstellung dessen, dass es kein Ende gibt, dass es weitergehen kann und gerade nichts zu einem endgültigen Abschluss kommt. Dass es in naher Zukunft doch einmal nicht weitergehen könnte, das war die große Sorge, die den Club of Rome umtrieb und anschließend die Verantwortungsbewussteren erst der westlichen und dann der ganzen Welt in Aufregung versetzte. Mit der Folge: Alle Welt ist mehr und mehr, wenn auch beklagenswerter Weise mehr schlecht als recht, mit Überleben beschäftigt. Sind die ›Grenzen des Wachstums‹ erreicht und überschritten, folgt Niedergang, Schwund, Aussterben, Ende, Tod. Dann wäre es um Keynes’ ewigen Aufschub geschehen – durch den Aufschub und das, was er in der Zwischenzeit alles möglich gemacht hat, was in der Zwischenzeit dank des Aufschubs alles für richtig gehalten werden konnte und wofür man sich hatte engagieren sollen. Und diese Grenzen sind überschritten. So jedenfalls Dennis Meadows Ende November 2012 auf einer großen internationalen Konferenz der Volkswagenstiftung zum vierzigsten Jahrestag seiner Studie (Volkswagenstiftung 2012, vgl. Welzer 2012). Nach seinen Berechnungen kommen Forderungen, zu einer Cradle to Cradle-Ökonomie zu finden, wie sie etwa Michael Braungart von der EPEA Internationale Umweltforschung GmbH erhebt und Unternehmen wie Alcoa, Procter & Gamble, HeidelbergCement, Puma oder Schwan-STABILO umzusetzen versuchen (Eder 2012), inzwischen zu spät. Alle Hoffnungen, der Betrieb lasse sich wie bisher, nur ein bisschen grüner durchführen, sind demnach blanke Illusion. Die Weltökonomie, wie wir sie bislang kennen, hat sich über ihre erfolgreiche Sicherung eines möglichst allgemeinen Wohlstands ihre eigenen Existenz- und Entwicklungsvoraussetzung abgegraben, und zwar nach Meadows anders als noch vor vierzig Jahren heute unumkehrbar. Zuviel ist bereits verloren auf der einen Seite, zu groß der Schaden auf der anderen. Selbst bessere und nachdrücklichere Bemühungen um ein nachhaltiges
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Wirtschaften, als es bis heute gibt, können daran nichts mehr ändern. Das System erfolgreichen und gedeihlichen Überlebens überlebt sich, und zwar gerade mit den Methoden, die es diktiert, das Ende fest im Blick, das nicht sein darf. Oder ist gerade das alles schon das Ende, das ewig nicht enden will – und das sich nur deshalb nicht als das, was es ist, zu erkennen gibt, weil es schon in Gedanken nur abgewehrt und verschoben, nicht aber erfasst und begriffen werden kann?
P ESSIMISMUS : K EINE L UST
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Bis heute legendär ist jener mythische König Midas, dem, unersättlich in seinen Wünschen, zu Golde wurde, was immer er in die Hand nahm. Aristoteles bemerkte dazu launig, dass es »doch ein unsinniger Reichtum« sei, »bei dessen Besitz man Hungers sterben könnte« (Aristoteles 1973: I 9, 1257b). Unter den Griechen kursierte aber auch noch eine andere Geschichte über diesen König Midas. Auf seine Frage, »was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei«, habe Silen, der Begleiter des Dionysos, so erzählt es Nietzsche, mit den Worten geantwortet: »Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst Du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für Dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein […], Das Zweitbeste aber ist für Dich, bald zu sterben.« (Nietzsche 1980: 35) Tja, hätte er nur nicht gefragt. Die Chance ist nun verpasst. Hier gibt es anders als bei Keynes eine Antwort. Und mit ihr ist für die Ökonomie eine Anforderung gestellt, wie sie dramatischer nicht sein kann: Wenn das Leben letztlich das Leben kostet, dann hilft auch keine Gewinnmaximierung weiter, dann gibt es nur eine Chance, die Situation zu verbessern, nämlich die Kosten weitmöglichst zu senken und dieses am Ende aussichtslose und vergebliche Nullsummenspiel subsistenzieller Selbsterhaltung zu verkürzen. Am besten wäre natürlich in der Tat, sie entstünden gar nicht erst. Auch moderne Ökonomen verweisen gerne auf einen mythischen Ursprung ihrer Kunst, wenn auch nicht auf diesen. Seit der Vertreibung aus dem Paradies muss die Menschheit sich und ihr Dasein im Schweiße ihres Angesichts reproduzieren. Dass der Mythos erzählt, dass es auch anders hätte kommen können, wird allerdings ausgeblendet. Seither gilt die Mühsal als Naturgesetz. Entsprechend besteht das ökonomische Geschäft darin,
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den Notwendigkeiten dieser naturbedingten Mangelwirtschaft einen größtmöglichen Benefit abzuringen. Mit diesem Schicksal zu hadern, hilft nicht und ist auch überflüssig, solange der Betrieb, befeuert von dieser Notwendigkeit, im geschichtlichen Vergleich so phantastisch läuft wie in der Moderne. Betrachtet man sich die Sache hingegen im Lichte des griechischen Midas-Mythos, dann ist allein schon die natürliche Gattungsgeschichte nichts anderes als eine unendliche Reproduktion des Unglücks. Und er macht wenig Hoffnung, dass materieller Reichtum oder was sonst Menschen unternehmen, um es sich im Dasein komfortabel einzurichten und ihrem Leben Augenblicke des Glücks abzuringen, dieses grundlegende Unglück auch nur halbwegs salvieren könnte. Unterm Strich sind das alles nur Kompensationsgeschäfte. Und das Ergebnis sind nicht mehr als Scheingewinne. Sie helfen, sich über die Vergeblichkeit alles Treibens hinwegzutäuschen. Nachhaltiges Wirtschaften ist das nicht. Es bleibt dabei, was einer erreicht, wird ihm unweigerlich wieder genommen. Am Ende triumphiert immer die Macht der Vergänglichkeit. Unter dieser radikalökonomischen Fragestellung, die Nietzsche aus dem Fundus der Antike heraufbeschwört, erscheint aller Nutzen dramatisch entwertet, der in der Zirkulation von Arbeit und Konsum der modernen bürgerlichen Gesellschaft über alle anderen denkbaren Maßgaben hinaus Wertschätzung genießt. Und zu diesen Gebrauchswerten zählt auch die Arbeit, die in sie investiert wird, selbst. Sie ist das Zentralorgan und -integral dieser Ökonomie. Auch Finanzwirtschaftler und die, die nichts anderes tun, als Kapital zu investieren, arbeiten. Jeder arbeitet. Wer es nicht kann, nicht darf oder, am schlimmsten, nicht will, um den ist es schlecht bestellt. Ist aber die Arbeit nicht auch der Urquell der Korruption für jede Spekulation auf nachhaltiges Wirtschaften? Es beginnt mit dem alle anderen Kalküle überwältigenden Bedarf an Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten. Es reicht aber auch schon ihre intrinsische ›stoische‹ (Föllinger 2008) Indifferenz. Ob Heilmittel hergestellt werden oder Waffen, die Codices der Mitarbeiterverantwortung, Qualitätsverbesserung und Innovationsbereitschaft unterscheiden sich nicht. Man macht seinen Job. Das legitimiert fast alles. Schäden welcher Art auch immer erscheinen im Bruttoinlandsprodukt, mit dem sich die Arbeitsgesellschaft ihre Effektivität beweist, nur bilanziert, sofern sie zum Quell neuer Arbeitsverdienste geworden sind. Da hilft keine Moral und auch keine der aktuell empfohlenen Strategien zur persönlichen Selbstoptimierung. Das alles reicht an jene qualitative Gleichgültigkeit alles
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Arbeitens nicht heran, die im Auge des Sturms der, wie Hegel diagnostizierte, in ihre Extreme zerrissenen Sittlichkeit des bürgerlichen ›Systems der Bedürfnisse‹ liegt (Hegel 1970: 339 ff.). Unbeantwortbar bleibt vorerst die Frage: Was wird in Zukunft einmal statt der Arbeit Produktivität gewährleisten? Wie wird man Wertschöpfung verstehen, wenn die Arbeit einmal getan und beendet sein wird oder »die Wirklichkeit […] sich fertig gemacht hat«? (Hegel 1970: 28) »Wenn sie geboren sind, haben sie Willen zu leben und dadurch ihr Todeslos zu haben […] und sie hinterlassen Kinder, dass wieder Todeslose entstehen« (Heraklit 1974: Frg. B20). So greift Heraklit den Mythos auf. Wer lebt, handelt sich sein Ende ein, und, was er dagegen unternimmt, um sich zu verewigen, beschert seinen Nachkommen das Nämliche. ›Sie‹ leben und sterben. Irgendwer also aber auch nicht. Vielleicht er selbst? Jedenfalls artikuliert Heraklit in seiner Erinnerung an Schicksal und Ökonomie des Lebens eine Alternative gleich mit, und zwar eine andere als Keynes’ Angebot der Verdrängung, des Aufschubs, des Vorsichherschiebens. Die Frage ist nur, wie eine solche ›Transsubstantiation‹ jenes Schicksalszirkels der Wiederkehr des Immergleichen wider die Macht der Natur durchgesetzt werden kann. Wo ist der Ausweg? Die Natur als solche bleibt ja allem Anschein nach unbeeindruckt von solchen Aufhebungen ihres Charakters. Unbeirrt setzt sie ihr virtuoses Spiel auf der Klaviatur unvergänglicher Vergänglichkeit fort. Oder beinhaltet doch bereits dieser Zirkel selbst die Option einer Überführung naturbedingter Sterblichkeit in übernatürliche Unsterblichkeit? Sie wollen leben und nehmen den Preis, dass sie sterben werden, hin und in Kauf. Und ihren Nachkommen wird es nicht anders ergehen. Wie sie selbst auch bereits Nachkommen solchen Lebenswillens und seiner intrinsisch-faktischer Todesbereitschaft sind. – Oder: Sie wollen leben, ›um‹ zu sterben. Welch eine Verschwendung! Und welche wäre die größere: Alles zu tun, um dem Tode möglichst lange zu entrinnen? Oder mit dem Sterben unverzüglich anzufangen, das offenbar das Wahre des Willens, das das letzte Wort des Lebens über sich und sein Ziel ist? Warum an sich halten, statt hemmungslos ›sich‹ zu verausgaben, ›sich‹ hin zu geben und aufs Spiel zu setzen? Wer wirklich etwas will, muss ja nun auch in der Tat vor allem von unglaublich vielem lassen können, was ihm unter Umständen nur allzu viel wert ist. Anders ist nicht viel zu wollen.
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Die Ökonomie der Profitmaximierung aber erscheint aus dieser Perspektive als ein überaus aufwendiger Kompensationsbetrieb. Seine Dynamik bezieht er aus dem unbedingten Bedürfnis, eine Entschädigung zu erhalten für einen unaufhebbaren Mangel. Und die Nutzenmaximierung hat keinen anderen Zweck, als das Drama zu invisibilisieren (vgl. Luhmann 1988: 182) und möglichst komfortabel, unbeschwert und unterhaltsam abwettern zu können. Die Alternative, die mehr oder weniger hemmungslose Verausgabung, kennt die Ökonomie kompensatorischer Profitmaximierung zwar auch: Mehr noch, sie basiert sogar darin. Ohne Ressourcenausbeutung, Investition von Kapital oder Arbeitszeit und Leistungsbereitschaft geht gar nichts. Allerdings ist diese Verausgabung hier Mittel zum gegenteiligen Zweck. Was aber, wenn die Gewinnmaximierung umgekehrt dem Zweck als Mittel diente, einer nur umso glorioseren und rückhaltloseren Verschwendung Chancen zu eröffnen? (Vgl. Bataille 2001) Aber die Vorstellung, dass es der Zweck und das Ziel der Menschheit sei, ihr Überleben zu sichern, würde dann wohl eher widernatürlich anmuten. Als einem Verblendungszusammenhang geschuldet, der zwangsläufig entsteht, wenn sich alles Urteilen und Entscheiden seine Maßgaben von der Angst vor dem Tod diktieren lässt. Platon wusste, warum er die Spekulation auf Unsterblichkeit in das Theoriedesign ökonomischer Rationalität eingeführt hatte (Platon 1974).
O PTIMISTISCH
IN DIE
T RANSHUMANITÄT
Ist das aber nicht alles alte Welt? In jeder Beziehung ein Hängen an Diagnosedesigns und Schlussfolgerungen einer Vergangenheit, in der dieser strukturelle Pessimismus noch verständlich und angebracht erscheinen konnte? Aber nun: Überholt, überwunden, unwiederbringlich vorbei. Die Zeiten haben sich geändert. Und dabei mag die Unduldsamkeit der frühen Europäer gegenüber der Schicksalsmacht der Biologie durchaus eine Rolle gespielt haben. In der modernen Welt ist nun aber alle Relevanz über den Handel vermittelt, über Angebot und Nachfrage, über eine nahezu grenzenlose Güterproduktion und -nutzung. Wir sind pragmatisch. Und realistisch. Und wir sind erfolgreich damit. Da erübrigen sich einfach derart dramatische Spekulationen vorangegangener Zeiten, einschließlich der realen Dramen,
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die, so jedenfalls Karl Popper (Popper 1992), aus jenen überzogenen Ansprüchen an Leben und Wahrheit folgten. Truth is what works. Wahr ist, was funktioniert, oder: Eine Überzeugung ist wahr, wenn sie für den, der sie hat, nützlich ist. In Kombination mit der invisible hand, die das eigennützige Streben aller zum allgemeinen Wohlergehen führt, ist damit alles zum Besten gerichtet. Die Europäer, besonders die Deutschen, sind da allerdings noch ein bisschen skeptisch. Doch noch alte Welt eben. Wie die neue Welt auf der anderen Seite des Atlantiks folgen zwar auch sie pragmatischen Maximen, aber immer mit Vorbehalt. Deshalb nehmen ihre Forderungen nach nachhaltigem Wirtschaften gerne eine antiökonomische Stossrichtung an. Sie vertrauen lieber in den Staat und in administrative Verfahren. Dabei wird das, ist man auf der anderen Seite des Atlantiks überzeugt, doch alles der freie Handel viel besser regeln. All die Probleme, die nachhaltiges Wirtschaften erforderlich machen, sind ja nichts anderes als ein neu entstehender Bedarf. Sie kommen, münzt man sie so um, der Wirtschaft und ihren Fähigkeiten sehr entgegen. Und warum sollte sich nicht auch dieser Bedarf wie gewohnt decken lassen? Letztlich gilt auch in Europa: Nachhaltigkeit muss sich rechnen. Um die (Natur-)Gesetze der Marktwirtschaft führt kein Weg herum. Hinzu kommt, dass die Probleme wohl nur mit technischen Mitteln und industriell gelöst werden können. Ressourceneffizienz, regenerative statt fossiler Energien etc. – auf die Ingenieure kommt es an. Der entscheidende kreative Faktor, der die Welt voranbringt, liegt nicht in Politik, Kunst oder Metaphysik, sondern in der Technologie. In ihr vollendet sich alles Wissen. In ihr gipfelt alle Hoffnung auf effektive menschliche Handlungsfähigkeit. Andere als technische Lösungen scheinen gar nicht mehr vorstellbar. Die Techno-Utopisten, die sich etwa im kalifornischen Long Beach zu den alljährlichen TED-Conferences oder weltweit bei den zahlreichen TED-X-Ablegerveranstaltungen versammeln, haben relativ klare Vorstellungen, wie es laufen wird. Sie sehen sich als Zeitgenossen eines radikalen Wandels, der die Technologie überhaupt erst und endgültig zur Vollendung der Welt macht. Das Credo des Machbaren findet sich in der Szene dieser Freakonomics gelegentlich ins Religiöse gesteigert. »Es gibt kein Problem auf dieser Welt, das wir nicht lösen können«, ist Peter Diamandis überzeugt. »Ihr seid die Superstars, ihr seid die Superhelden« (Häntzschel 2012), ruft er seiner Gemeinde zu. Die von ihm und Ray Kurzweil gegründete Singularity
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University ist eine der Keimzellen, sein Buch Abundance. The Future Is Better Than You Think (Diamandis/Kotler 2012) eins der Evangelien dieser Bewegung, die auch die Millionäre und Chefgründer der digitalen Revolution in Scharen auf die Konferenzen treibt. Es gibt keinen Grund zum Pessimismus. Unser Planet verfügt über ein grenzenloses Potenzial, Überfluss zu produzieren. Daran besteht für Diamandis überhaupt kein Zweifel. Und das übersetzt sich für ihn automatisch in die Gewissheit, dass es für jedes Problem der Menschheit eine technologische Lösung gibt. Egal, ob es sich um wirtschaftliche, ökologische, soziale, politische oder kulturelle Konfliktpotenziale handelt, es wird sich für all das ein mathematischer Algorithmus finden. Die Geschwindigkeit technologischer Innovation nimmt nicht linear, sondern exponentiell zu. Und nie zuvor war das Innovationstempo höher als heute. Die Technik wird infolgedessen auch alle Probleme lösen, die uns die Technik bisher eingebrockt hat und in Zukunft noch einbrocken wird. Energie wird es im Überfluss geben, Fleisch wird industriell gezüchtet, Nanoroboter werden uns von den Resten des fossilen Zeitalters befreien. In absehbarer Zeit wird man das Altern aufhalten, wenn nicht endgültig abschaffen können. Krebs wird es nicht mehr geben. Pillen werden unsere Biochemie umprogrammieren. Mikroskopische Nanoroboter, die unseren Körper von innen laufend regenerieren, machen dem körperlichen Verfall ein Ende. Es wird möglich sein, Organe zu züchten. Die großen Mauern, an denen sich jahrtausendelang nichts ausrichten ließ – Grenzen unseres Körpers, Beschränkung seines Geistes, die Unausweichlichkeit des Todes – werden fallen. Denn drei wesentliche, momentan noch getrennte Technologiefelder, Genetik, Nanotechnologie und künstliche Intelligenz, werden mehr und mehr in ein Zusammenspiel von hoher Effektivität eintreten. Das Jahr 2045 wird endgültig die Wende bringen, denn dann wird die zu immer unfassbarerer Leistung fähige Maschinenintelligenz die Intelligenz der Menschen erstmals übersteigen. Die Maschinen werden das Erfinden der für den weiteren Fortschritt nötigen Maschinenkompetenz selbst übernehmen. Menschen werden vom Joch der Arbeit befreit sein und das Glück eines unbeschwerten Lebens genießen können. Twenty-fortyfive, das ist der Code der Geburt des ›Menschen 2.0‹, so Ray Kurzweil bereits 2005 (Kurzweil 2005)1. Sie nennen sich ›Transhumanisten‹ und sie sehen die
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Vgl. auch www.singularity.com 2013.
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Zukunft des Menschen in technisch gesteigerten Versionen seiner selbst. Sie haben die endgültige Verschmelzung von Mensch und Maschine bereits plastisch vor Augen. Dann wird die uralte Sehnsucht des Menschen nach dem Hinauswachsen über sich selbst endlich und endgültig befriedigt werden können. Es wird den ›transhumanen‹ Menschen geben. Der Fortschritt ist schon lange nicht mehr aufzuhalten und die Technik ist sein Ethos. Kurzweil, Diamandis oder Larry Page, Gründer und Vorstandschef von Google, der ehemalige PayPal-Vorstand und heutige Großinvestor in Silicon Valley Peter Thiel, Intels Forschungschef Justin Rattner und viele andere, die auf den TED-Conferences oder den Singularity Summits der Singularity University auftreten, sind überzeugt: Das Zeitalter der Ingenieure fängt gerade erst so richtig an. Und es wird ein Ende erst in der ultimativen Vollendung der Welt, in ihrem vollständigen Aufgehen in Technologie finden. Dann, wenn auch der Mensch in Technik verwandelt und alles gut geworden ist, so gut, wie die Technik ist. Natürlich teilen nicht alle in den Kreisen der technischen Avantgarde vorbehaltlos den fast fanatischen Optimismus dieser unermüdlichen Verkündigungen immer neuer unmittelbar bevorstehender Revolutionen. Aus technischen Gründen. Andere zählen weniger. Die Technik ist eben nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern beherrscht auch die Zweckbildung. Sie setzt die Prioritäten. Man stelle sich vor, Obama setzte die Drohnen, die ihm die Technologie zur Verfügung stellt, nicht ein und es passierte etwas, was mit ihnen hätte verhindert werden können. Undenkbar. Die Technik generiert Ideale, determiniert Bewusstsein und konditioniert die allgemeine Bedürfnislage (vgl. Thomä 2011). Und die Differenz zwischen Mensch und Maschine ist in diesen Visionen längst schon nivelliert. Die Symbiose ist bereits weit fortgeschritten. Das die Maschine denkende Gehirn erfasst sich und arbeitet selbst bereits als Denkmaschine. Was als visionäre Grenzüberschreitung erscheint, ist so im Grunde ausweglos im Reproduktionszirkel der eigenen Voraussetzungen gefangen und träumt nur noch von der endgültigen Realsetzung ihrer Abstraktionen. Es könnte so scheinen, als hätte der technische Optimismus den überwunden geglaubten Pessimismus in sich aufgesogen, um apokalyptisch die so todesverachtende wie todesfürchtige Selbstabschaffung unserer selbst als diejenigen, als die wir uns kannten, nun doch noch ins Werk zu setzen. Das wirtschaftliche System ist auf die technische Produktivität angewiesen. Jeder ist es. Schwer vorstellbar, dass es eine nachhaltige Ökonomie
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geben könnte, die sozusagen unnachhaltig mit der Technik umgeht und sie dem nämlichen Artensterben aussetzt, wie es der Natur widerfährt. Bisher jedenfalls hat das kaum jemand im Plan – wie ebenso wenig die Preisgabe des ökonomischen Systems. So fragt sich stattdessen: Wie wird dann das zukünftige posthumane Wesen die Welt sehen? Im Maschinenmenschen – oder, sollte man besser sagen, in der Menschmaschine? – ist endlich Descartes’ res cogitans mit der res extensa versöhnt. ›We all are Makers‹ (vgl. Anderson 2013). Alle werden, so Chris Anderson, lange Jahre Chefredakteur von Wired, in einem unmittelbaren Zugang zu den Produktionsmitteln leben, sodass dann auch diese marxistische Forderung erfüllt ist. Aufgehoben im Modus des survival of the fittest – der Technologie also – ist die Humanisierung der Natur als Naturalisierung des Menschen ›nachhaltig‹ erfüllt. In diesem vollendeten Einklang zwischen Mensch und Natur in der technischen Transformation beider ist das humanistische Ideal einer den Widersprüchen, also dem Leiden des Daseins enthobenen Existenz endgültig eingelöst. Dafür mag der Preis der transhumanen Abstraktion des Menschen von sich selbst nicht zu hoch sein. Welche Bedürfnisse und Ansprüche wird dieser maschinöse, schmerzfrei numerischer und a-qualitativer Wertschöpfung anheimgegebene ›Un-Mensch‹ an das gute Leben und jene nachhaltige Bewirtschaftung haben, die dank des exponentiellen technischen Fortschritts in Zukunft problemlos sichergestellt sein wird? Anderson sagte bereits 2009 in Wired das Ende der Theorie voraus. Die Algorithmen der Artifical Intelligence würden die Dinge regeln: »Dies ist die Welt, in der Big Data und angewandte Mathematik jedes andere Erkenntnis-Werkzeug ersetzen. Weg mit jeder Theorie zum menschlichen Verhalten – von der Linguistik bis zur Soziologie! Vergesst Taxonomie, Ontologie und Psychologie! Wer weiß schon, warum Menschen sich so und nicht anders verhalten? Der Punkt ist, sie tun es, und wir können es mit beispielloser Genauigkeit messen und erfassen. Wenn wir nur genug Daten haben, sprechen sie für sich selber.« (Graff 2013)
Buchstäblich. Truth is what works. Die Rechenmaschine ersetzt das Denken, ›denkend‹, sie dächte. Schön, nicht mehr gebraucht zu werden. Einen besseren Beweis einer nachhaltig funktionierenden Wirtschaft kann es kaum geben. Nur werden ›wir‹ davon nichts mehr wissen. Muss man aber auch nicht. Denn auch die Technik wird in dieser Aufhebung der Ökonomie des ›Systems der Bedürfnisse‹ an ihrem Ende angekommen sein.
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VON C ARLOWITZ UND DIE B ESITZSTANDSWAHRUNG 1713 hatte Hans Carl von Carlowitz die bis heute gültigen Maßgaben nachhaltigen Wirtschaftens entwickelt. Zu Zeiten des Ancien Régime. 1715 starb Ludwig XIV., 1712 wurde Friedrich der Große geboren. Von den Existenzbedingungen des republikanischen Staats- und Gemeinwesens war weit und breit noch nichts in Sicht. Er war Oberhauptbergmann des kursächsischen Hofes August des Starken in Freiberg. Und die politischen Umstände bestimmten seinen Begriff der Nachhaltigkeit ebenso mit wie auch sein Amt. Er stand in Diensten eines Besitzes an Grund und Boden und hatte sich um dessen vernünftige Bewirtschaftung zu kümmern. Diesen Besitz und seine Wertschöpfungspotenziale zu erhalten, war, so sah er das, seine primäre Aufgabe. Hätte er Abschöpfungsbedürfnissen des Besitzers nachgeben sollen, die zu Raubbau am natürlichen Kreislauf von Werden und Vergehen hätten führen können, hätte er sich diesem Ansinnen widersetzen müssen. Nur dann hätte er im Sinne seiner Dienstverpflichtung und im Interesse des Besitzers – als Besitzer – gehandelt. Unterm Strich ging es dem Forstmann also nicht einfach um den Wald, sondern um den Waldbesitz. Der pflegliche Umgang mit den Kräften der Natur fiel so in eins mit der pfleglichen Erhaltung der Verfügungsgewalt über diese Ressourcen, welche der Grund seiner Amtsverpflichtung war. Diese Verfügungsgewalt, der Besitz war seiner Amtswaltung je schon vorgegeben. Und das determinierte entsprechend auch seinen Naturbezug. Dass es diesen Besitz überhaupt gab, die ursprüngliche Ermächtigung zur Inbesitznahme der Natur, das gehörte nicht zu seinen Obliegenheiten. Das war Sache des Herrn, der ihn beschäftigte, oder war von dessen Vorfahren bereits erledigt worden. Aber auch diese Besitzerzeugung rekurriert noch auf ein weiteres Erzeugnis, nämlich die Erzeugung der Natur selbst. Von dieser Kette sich aneinanderreihender Erzeugungsereignisse sah von Carlowitz seiner Anstellung gemäß bei der Bildung seines Begriffs nachhaltiger Bewirtschaftung ab. In dem Moment, in dem er sich der Produktivkraft der Natur zuwandte, war sie bereits am Werke ebenso, wie die Verfügungsgewalt über die Natur bereits sichergestellt und der Besitz arrondiert war. Dementsprechend ist sein Nachhaltigkeitsbegriff allein reproduktiv orientiert. Er basiert in einer als vorhanden vorausgesetzten Produktion und ›Produktion der Produktion‹ alias Produktivität (vgl.
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Enkelmann 2012), von der er ebenso abstrahiert, wie er sie für seine reproduktiven Zwecke der Bestandserhaltung in Anspruch nimmt, verwertet und ausbeutet. Da von der Entstehung der Reproduktionsordnung abstrahiert wird – also von all dem, was für diesen eben wegen dieser Abstraktion nur reproduktiven Begriff von Nachhaltigkeit konstitutiv ist und diese Reproduktionsordnung erst in Kraft setzt –, haben wir es mit einem unnachhaltigen Begriff von Nachhaltigkeit zu tun. Von diesem reproduktiven Nachhaltigkeitsbegriff einer, wie Georges Bataille sagen würde, ›partialen Ökonomie‹ aufs Ganze zu schließen und ihn damit global oder kosmologisch zu verallgemeinern, ist nicht unproblematisch. Denn dann erscheint die Natur überhaupt und insgesamt als eine Habe. Und das Besitzen wird idealisiert als Grundform nachhaltigen Umgangs mit Natur, Umwelt und Ressourcen. Der landläufig gebräuchliche Begriff der Ressourcen veranschaulicht diesen Effekt plastisch. Rohstoffe, Bodenschätze etc., auch Elinor Ostroms Commons, die Allmende (vgl. Ostroms 2009), sind ihrer eigenen Verfassung nach an sich von verfügbarer Konsistenz und so bereits als Besitzstand der Menschheit präformiert, noch bevor man sich daran macht, all das konkret zu explorieren. Solange die Besitzstandwahrung der Zweck nachhaltigen Wirtschaftens bleibt, ist das funktional gesehen, wenn man also von den ganzen idealisierenden Überhöhungen wie dem summum bonum eines Einklangs mit der Natur etc. absieht, im Sinne des Erfinders. »Ich kann mit meinem Eigentum nicht machen, was ich will […]. Ich muss immer bedenken, was das für meine Nachfahren bedeutet und für das Umfeld, in dem wir leben« (Frank 2013), so Andreas von Bernstorff, der mit der Verwaltung und Wahrung seines Grundbesitzes im Wendland das Seine dazu beigetragen hat, dass das Endlager Gorleben gescheitert ist. Doch hier klingt bereits die politische Seite des Problems an. Der gute Besitzer wird zum Menschheitsideal und die Besitzstandwahrung zum allgemeinen Maßstab des guten Menschen sowie der best practice nachhaltigen Wirtschaftens. Und zwar für alle, vom realen Besitzer bis zum ärmsten Habenichts. Herrschaft und Knechtschaft vereint und verschmolzen im Dienst an der Besitzstandswahrung –: das wird zum neuen Contrat social – der Hab-Gierigen? Die Beziehungsform des Habens darf sich jedenfalls geradezu metaphysisch überhöht und legitimiert sehen. Schon der Erwerbssinn mit seinem Wachstumsstreben ist sehr viel schlechter beleumundet.
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Damit ist es unter der Hand auch um die Armen, die an ihrer Lage etwas ändern und sich von dem neuen Contrat social nicht täuschen lassen wollen, schlecht bestellt. Wer nun aber auf Besitz gar keinen Wert legt und Besitzansprüche nicht erheben will, wer sein Denken nicht der Verlustangst anheimzugeben bereit ist und sein Trachten und Sinnen von anderen Maßgaben leiten lässt, die sich um Haben oder Nichthaben wenig scheren, muss dann gänzlich moralisch verdächtig erscheinen. Eine solche Einstellung ist an sich schon verantwortungslos wegen seiner intrinsischen Gleichgültigkeit gegenüber allem, was Besitzstände betrifft. Das alles hebt in nuce die demokratische Staatsverfassung außer Kraft. Denn sie gründet in der Souveränität des Volkes, nicht der realer oder imaginärer Besitzer. Souveränität und Verlustangst oder Angst ums Überleben, das passt natürlich auch nicht so gut zusammen. Und außerdem: Die Verfassung sanktioniert nicht den Besitzstand, sondern schützt das Eigentum, was einen großen Unterschied macht (vgl. Heinsohn/Steiger 2006). Dass sich Habe und Besitz in die Natur eingenistet haben, hat vielleicht noch tiefgreifendere Folgen. Denn selbst in den Sozial- und Geisteswissenschaften hat die Natur inzwischen die Vernunft, den Logos und die Seele, die einst von den Philosophen als unhintergehbare Wirklichkeitsgewähr ins Spiel gebracht worden waren, als nicht begründungsbedürftiger Referenzwert abgelöst. Dabei ist die verfügbare Habe an Natur natürlich durchgreifend gemäß der menschheitlichen Bedürfnislage funktionalisiert und instrumentalisiert, und zwar einschließlich ihres Begriffs. Das heißt: Dieser instrumentelle Funktionalismus erscheint als ihr Wesen. Nach von Carlowitzens Verständnis von Nachhaltigkeit ist auch der Natur vor allem anderen daran gelegen, sich zu reproduzieren. Sie arbeitet unablässig an ihrer Selbsterhaltung. Entsprechend waltet in all ihren Verkörperungsformen und Erscheinungsweisen ein großer Sinn fürs Nützliche. Ob die instrumentelle Zweckdienlichkeit aber auch die maßgebliche Triebfeder ihrer Entwicklungsgeschichte ist, wie es die biologischen Wissenschaften im Einklang mit den Apologeten eines nachhaltigen alias naturgemäßen Umgangs mit der Natur nahelegen, darf indes bezweifelt werden. Man erhebt damit, was als Mittel fungiert, zum Zweck und macht die Gebrauchswertproduktion zur hauptsächlichen Ursache und zum Wesen des Naturgeschehens. Dass die unbedingte Erhaltung ihres Besitzes an sich selbst tatsächlich ihre vordringliche Triebkraft und der Endzweck all der in ihr wirksamen
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Nutzenkalküle ist, ist damit gleichfalls mehr als fraglich. Kann es sein, dass in der Natur der Welt tatsächlich die Reproduktion der Grund aller Produktion ist – und jeder Freude am Leben sowie all der unendlichen Schönheit und der gleichgültigen Grausamkeiten, die ihr Gestalt geben? Dann müsste sich aber auch sagen lassen, warum diese unselige Ordnung grundloser Selbsterhaltung um der Selbsterhaltung willen überhaupt hat entstehen können und müssen, in der alle denkbaren Veränderungen allein aus der Anpassung auf sich verändernde Umstände erfolgen können. Oder setzt sich damit nur die Arbeitsgesellschaft ein allerdings wahrhaft fulminantes Denkmal? Jedenfalls versichert sie sich so einer Ausweglosigkeit, die ihr die gewissermaßen ewige und universale Legitimation ihrer Notwendigkeiten garantiert. Derart gefangen in einer geschlossenen Reproduktionszirkulation knechtet sich die Natur der Welt stets so in Diensten und ›auf Arbeit‹ an ihrer Selbstverwertung und -ausbeutung um nichts als der Aufrechterhaltung eben derselben willen, wie sie geknechtet, verwertet und ausgebeutet wird. So könnte es sein, dass wir heute, am Anfang des Anthropozäns, noch nicht die blasseste Ahnung haben, wie eine nachhaltige Weltwirtschaft und ganzheitliches Denken wirklich ›funktionieren‹.
E PILOG : T HE A RTIST I S P RESENT Im Frühjahr 2010 setzte sich die Performance-Künstlerin Marina Abramoviü im New Yorker Museum of Modern Art an einen Tisch. Schweigend. Ingesamt 75 Tage hatten die New Yorker Gelegenheit, ihr gegenüber am Tisch Platz zu nehmen, solange sie es wollten oder aushielten. Sie saß, ihr Gegenüber saß, besonders sie sah ihrem Gegenüber ins Gesicht. Ein Still. Umgeben, hinter einer Absperrung, von Museumsbesuchern und Kunstbetrachtern. Es bildeten sich lange Schlangen. Manche warteten stundenlang, Worauf? The Artist Is Present. Die Zeit steht still, sie ist da. Nicht wie sonst, wo sie kommt und geht, allzu schnell verwandet in dies und das und jenes, was gerade notwendig ist oder aus sonst einem Grund alle Aufmerksamkeit absorbiert. Und es passiert viel. Erinnerung – Drama – Versuch, zu sich zu kommen – Menschwerdung. Aus der Zeit. Der Bedarf ist groß.2
2
Siehe hierzu: Abramoviü, Marina (2012): The Artist is Present, www.theartistis present-derfilm.de, v. M. Akers, www.youtube.com/watch?v=ASS7x MOM1EE
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Wo man Produktion nur in Form der Produktion von definierten Produkten oder Dienstleistungseffekten zu schätzen und einzupreisen weiß, ist die Zeit immer der Feind, den es um der Effizienz der Produktion wie der Konsumtion willen zu besiegen gilt. Zwischen der Skylla des Zeitmangels und der Charybdis des Zeitaufwands gibt es keinen Ausweg, ohne zu Schaden zu kommen. Keiner hat Zeit, es sei denn, er erschüfe sie sich – und anderen. Glück braucht Zeit und hat keine Eile. So unverfügbar es auch bleibt, wird doch nur das Glück und nicht der Nutzen den Träumen von nachhaltigem Wirtschaften gute Wege weisen und belastbare Wahrnehmungs-, Handlungs- und Bilanzierungskriterien liefern.
L ITERATUR Anderson, Chris (2013): Das Internet der Dinge. Die nächste industrielle Revolution, München. Aristoteles (1973), Politik, München. Bataille, Georges (2001): Die Aufhebung der Ökonomie, München. Baudrillard, Jean (1991): Der symbolische Tausch und der Tod, München. DFL Deutsche Fußball Liga GmbH (2013): Bundesliga Report 2013, Frankfurt a. Main, http://www.bundesliga.de/de/ vom 03.02.2013. Diamandis, Peter H./Kotler, Steven (2012): Überfluss. Die Zukunft ist besser, als Sie denken, Kulmbach. Eder, Christa (2012): »Der perfekte Kreislauf. Das Prinzip ›Cradle to Cradle‹ setzt auf Kompostieren und Recyceln«, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.11.2012. Enkelmann, Wolf Dieter (2012): »Selbstbehauptung, Nutzwerte und Gewinnaussichten. Grundlinien der philosophischen Ökonomik«, in: Thomas Buchheim/et al. (Hg.), Philosophisches Jahrbuch (= 119. Jahrgang 2012, 1. Halbband), Freiburg/München, S. 94-114. Frank, Charlotte (2013): »Das Salz der Erde. Die Familie Bernstorff hat dafür gesorgt, dass bis heute kein Atommüll im Boden unter Gorleben lagert. Denn ihr gehören hier Land und Wald«, in: Süddeutsche Zeitung vom 10.01.2013 (3).
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Föllinger, Sabine (2008): »Der Einfluss der stoischen Philosophie auf die Grundlagen der modernen Wirtschaftstheorie bei Adam Smith«, in: Barbara Neymeyr/Jochen Schmidt/Bernhard Zimmermann (Hg.), Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne (= Band 2), Berlin/New York, S.1063-1079. Fukuyama, Francis (1993): The End of History and the Last Man, New York. Graff, Bernd (2013): »›Big Data‹. Wenn Daten sprechen«, http://www. sueddeutsche.de vom 02.01.2013. Gumbrecht, Hans Ulrich (2010): Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a. Main. Häntzschel, Jörg (2012): »Superstars und Superhelden. ›Wir haben fan-tasti-sche Zeiten!‹ – Ein Besuch bei South by Southwest, dem wichtigsten amerikanischen Festival der jungen Netz-Avantgarde«, in: Süddeutsche Zeitung vom 17./18.03.2012. Hegel, G.W.F. (1970): Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel (= Werke 7), Frankfurt a. Main. Heinsohn, Gunnar/Steiger, Otto (2006): Eigentum, Zins und Geld. Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaft, Marburg. Heraklit (1974), in: Hermann Diels/Walther Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker (=Band I), Hedingen, S. 155. Keynes, John Maynard (1997): Ein Traktat über Währungsreform, Berlin. Kurzweil, Ray (2005): The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology, New York. Luhmann, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. Main. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1999): Manifest der Kommunistischen Partei, http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm vom 08.03.1999. Nietzsche, Friedrich: (1980): Die Geburt der Tragödie, in: Giorigio Colli/ Mazzino Montinari (Hg.), Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke (= Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 1), München/Berlin/New York. Ostrom, Elinor (2009): »Gemeingütermanagement – eine Perspektive für bürgerschaftliches Engagement [Governing a Commons from a Citizen’s Perspective]«, in: Silke Helfrich/Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, München, S. 218–228.
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Mit Energie zur nachhaltigen Entwicklung A RMIN G RUNWALD
1. E INFÜHRUNG
UND
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›Energie ist nicht alles, aber ohne Energie ist alles nichts‹, so könnte man in Abwandlung eines vielfach für andere Situationen verwendeten Spruches sagen. War bereits historisch die kulturelle Entwicklung der Menschen an die Nutzung von Energie gebunden – die Erlangung der Kontrolle über das Feuer ist eines der bekanntesten Beispiele –, so hat sich die Angewiesenheit der Gesellschaft auf eine sichere Energieversorgung seit der Industriellen Revolution ganz erheblich erhöht. War es damals der Energieträger Steinkohle, der die Industrialisierung ermöglichte, wurde die führende Rolle als Energieträger im 20. Jahrhundert vom Erdöl übernommen. Ob nun das 21. Jahrhundert das Jahrhundert des Erdgases wird, wie es nach den jüngsten und atemberaubenden Steigerungsraten in der amerikanischen Shale Gas-Förderung heißt, oder das Jahrhundert der erneuerbaren Energien, wie es das Programm der deutschen Energiewende erwartet, oder ob andere Entwicklungen mit Überraschungen verbunden sein werden, muss sich zeigen. Aber unabhängig davon, wie die Energieversorgung sichergestellt werden wird, wird es mit Sicherheit dabei bleiben, dass ohne Energie alles nichts ist. Wenn das richtig ist, dann ist auch eine nachhaltige Entwicklung ohne eine nachhaltige Energieversorgung nichts. Die sichere und umweltfreundliche, bezahlbare und gerecht verteilte Bereitstellung von Energie unter Berücksichtigung von Zukunftsverantwortung gehört zu den zentralen Herausforderungen der Nachhaltigkeit – vielleicht ist sie die Herausforderung
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par excellence. Freilich, nicht nur die politische und wirtschaftliche Umsteuerung von nicht nachhaltigen auf nachhaltigere Energieträger ist eine immense Aufgabe. Bereits die begriffliche und kriterielle Bestimmung, was nachhaltige Energieversorgung ist, ist alles andere als trivial. Von daher soll es in diesem Essay um die eher konzeptionellen Aspekte einer nachhaltigen Energieversorgung gehen: darum, wie sie ›gedacht‹, und nicht, wie sie ›gemacht‹ werden kann (vorliegender Teil 1). Eine kurze Einführung in die Begrifflichkeit der Nachhaltigkeit (Teil 2) ermöglicht, die Herausforderung an Nachhaltigkeit im Energiebereich deutlicher zu erkennen (Teil 3). Die Transformation zu einem nachhaltigeren Energiesystem ist weit mehr, als die Ersetzung von alter durch neue und bessere Technik: Es geht um nicht weniger als einen Umbau von großen Teilen der Gesellschaft (Teil 4). Dies impliziert (Teil 5), dass innovative Energietechnik zwar einen Platz in einer ›Kultur der Nachhaltigkeit‹ haben wird, letztere aber nicht darin aufgeht.
2. Z UM B EGRIFF
DER
N ACHHALTIGKEIT
Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung ist zu einem Pflichtbegriff in vielen Bereichen geworden. Umweltschutz und Klimawandel, internationale Gerechtigkeit, Sozialversicherungssysteme, Generationenvertrag, Entwicklung der Arbeitswelt, Ressourcenknappheit und kulturelle Diversität sind nur einige der Felder, in denen über Nachhaltigkeit gerungen und gestritten wird. Die begriffliche Karriere der Nachhaltigkeit begann auf der Ebene der Vereinten Nationen, deren Kommission für Umwelt und Entwicklung unter der Leitung von Gro Harlem Brundtland 1987 die bis heute einflussreichste Definition hervorbrachte. Danach ist nachhaltige Entwicklung dann realisiert, wenn sie »die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können« (Hauff 1987). Politisch geschickt und inhaltlich folgenreich wurden hier Elemente der Zukunftsverantwortung und des Erhalts der natürlichen Lebensgrundlagen mit der Entwicklungsproblematik verbunden. Der Weltgipfel von Rio de Janeiro 1992, eine Versammlung praktisch aller Regierungschefs der Welt, führte auf der politisch-programmatischen Ebene endgültig zum Durchbruch des Nachhaltigkeitsleitbilds – was jedoch nicht bedeutet, dass danach auch entsprechend gehandelt wurde.
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Wenn das Wort ›nachhaltig‹ auftritt, geschieht dies meistens in Form von Diagnosen, dass heutige Zustände oder Entwicklungen nicht nachhaltig seien und man etwas tun müsse, um dies zu ändern. Verbreitet ist der Eindruck, dass die Entwicklung der Menschheit, wie sie sich seit der Industriellen Revolution in puncto Wohlstandsvermehrung und Ressourcenverbrauch immer weiter beschleunigt hat, nicht in gleichem Maße fortgesetzt werden kann, ohne die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören und zukünftige Generationen mit erheblichen, vielleicht gar existenziellen Bedrohungen zu belasten. Die Diskussionen und Überlegungen zur Nachhaltigkeit zielen auf Maßnahmen zur Umsteuerung der bisherigen Umgangsweisen mit den natürlichen und kulturellen Ressourcen ab, um eine gerechte und verantwortliche Entwicklung der Menschheit ›auf Dauer‹ zu ermöglichen. Wie dies begrifflich-konzeptuell vorgestellt (z.B. Kopfmüller/et al. 2001; Ott/Döring 2004; Ekardt 2011) und gesellschaftlich realisiert werden kann (z.B. Coenen/Grunwald 2003, Weizsäcker/Hargroves/Smith 2010), ist Gegenstand kontroverser Debatten. Unbestritten ist nur, dass man ›gegen‹ Nachhaltigkeit eigentlich nicht sein kann. Versuche, gegen nachhaltige Entwicklung zu argumentieren und bewusst eine nicht nachhaltige Entwicklung zu fordern, sind auf der Basis anerkannter Wertmaßstäbe und ethischer Kriterien schwer vorstellbar. Das Gegenteil der nachhaltigen Entwicklung, die globale Katastrophe, ein ausgeplünderter Planet, Weltkriege um Ressourcen oder kollektiver Selbstmord, kann niemand wirklich wollen. Weil jedoch gar nicht so klar ist, wofür das Leitbild der Nachhaltigkeit positiv steht und wie es in konkretes Handeln übersetzt werden kann, sind die hohen Ansprüche und weitreichenden Erwartungen nicht unwidersprochen geblieben. Von ganz unterschiedlichen Gruppen wie Wissenschaftlern, Journalisten, Öko-Bewegten und Wirtschaftsmanagern sind immer wieder grundsätzliche Kritikpunkte vorgebracht worden (nach Grunwald/Kopfmüller 2012): •
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Nachhaltige Entwicklung als inhaltsleere Rhetorik: Manche Kritiker meinen, dass das Leitbild nachhaltiger Entwicklung bloß rhetorisch mächtig, aber inhaltlich leer sei. Unter Berufung auf die BrundtlandDefinition könne man in konkreten Fragen komplett gegensätzliche Positionen vertreten. Nachhaltige Entwicklung als Ideologie: Da der Nachhaltigkeitsbegriff so schwammig sei, könne er leicht ideologisch missbraucht werden. Der
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begriffliche und moralisch positiv besetzte Mantel nachhaltiger Entwicklung diene zur Kaschierung kruder Partialinteressen. Nachhaltige Entwicklung als Selbstbetrug: Das viele Reden über nachhaltige Entwicklung diene der Beruhigung der Gesellschaft, insbesondere in den industrialisierten Ländern. Es habe den Charakter eines kollektiven Selbstbetrugs, um mit einem guten Gewissen im Wesentlichen so weitermachen zu können wie bisher. Nachhaltige Entwicklung als Pathos: Der Nachhaltigkeitsbegriff sei pathetisch aufgeladen und erinnere an säkularisierte Paradieserwartungen. Damit sei er für reale Problembehandlungen nicht praktikabel, sondern bloß Ausdruck moralistischen Gutmenschentums.
Trotz dieser massiven Kritikpunkte ist Nachhaltigkeit erstaunlich präsent auf der politischen Bühne und zunehmend auch in Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Die immer wieder vorgebrachten Diagnosen, die Nachhaltigkeitsthematik sei politisch oder öffentlich ›tot‹, meistens mit einem der obigen Kritikpunkte verbunden, haben sich als voreilig erwiesen. Alle Unkenrufe, dass Nachhaltigkeit ein bloßes Modewort sei und schnell wieder verschwinden werde, haben sich als falsch erwiesen. Dies dürfte zwei Ursachen haben. Zum einen sind die Problemdiagnosen, auf die sich der Nachhaltigkeitsbegriff bezieht, selbst persistent und alles andere als Modeerscheinungen. Zum anderen ist seit den 1990er Jahren vieles unternommen worden, um den Nachhaltigkeitsbegriff aus der oben kritisierten Beliebigkeit zu holen. Wissenschaftliche Konzepte wurden entwickelt und angewendet, Nachhaltigkeit wurde in vielen Bereichen mit Indikatoren ›messbar‹ gemacht, Strategien wurden entwickelt und umgesetzt. Heute kann niemand mehr ernsthaft behaupten, Nachhaltigkeit sei nur ein rhetorischer Begriff und habe keinen Inhalt. Um Nachhaltigkeit zu verstehen, hat sich der Begriff der Gerechtigkeit als Schlüsselwort erwiesen (Kopfmüller/et al. 2001; Ekardt 2011). Dieser hat im Kontext der Nachhaltigkeit zwei Seiten, die einerseits seine Anschlussfähigkeit in unterschiedliche Richtungen ermöglichen, andererseits jedoch auch Quelle von Konflikten und divergierenden Einschätzungen sind. Die eine Seite – die in den westlichen Ländern bevorzugt thematisiert wird – ist die Gerechtigkeit zwischen den heute lebenden Menschen und ›zukünftigen Generationen‹ (intergenerationelle Gerechtigkeit). Sie ist stark auf den Erhalt und die Weiterentwicklung der natürlichen und sozialen
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Lebensgrundlagen ausgerichtet. Die andere Seite bezieht sich auf die Gerechtigkeit unter den ›heute lebenden‹ Menschen (intragenerationelle Verantwortung) mit einem starken Fokus auf der Problematik der Entwicklungsländer, aber auch der sozialen Gerechtigkeit in den industrialisierten Ländern. Diese Dualität durchzieht die gesamte Nachhaltigkeitsdebatte und ist in sich nicht konfliktfrei. Daher gehört die Befassung mit Verfahren und Kriterien zum Umgang mit Ziel- und Umsetzungskonflikten ebenfalls zum Nachhaltigkeitsdiskurs.
3. H ERAUSFORDERUNGEN NACHHALTIGER E NERGIEVERSORGUNG Ist zwar ›ohne Energie alles nichts‹, wie eingangs gesagt, so sind mit dem Energiesektor jedoch erhebliche Nachhaltigkeitsprobleme verbunden, die zu Herausforderungen an eine Umgestaltung des Energiesystems führen:1 Zunächst ist der Zugang zu und die Nutzung von Energierohstoffen global gesehen sehr ungleich bzw. ungerecht verteilt. Etwa 2,5 Milliarden Menschen, vorwiegend in den ärmsten Staaten Afrikas und Asiens, haben keinen Zugang zu einer geregelten Energieversorgung. Sie sind daher auf die Nutzung von traditioneller Biomasse für die existenziellen Aktivitäten wie Kochen oder Heizen angewiesen. Energiemangel einerseits und existenzielle Probleme wie Armut, Mangel an sauberem Trinkwasser, Unterernährung oder Arbeitslosigkeit andererseits sind häufig eng verknüpft. Der Zugang zur Energieversorgung ist so gesehen, neben z.B. Bildung, einer der zentralen Schlüssel für eine Lösung oder Minderung vieler Entwicklungsprobleme. Das Gerechtigkeitsproblem wird besonders daran deutlich, dass in den Industriestaaten pro Kopf rund 25-mal mehr Energie verbraucht wird, als in den ärmsten Ländern. Die mit der Bereitstellung von Energie und energiebasierten Dienstleistungen verbundenen Prozesse der Gewinnung, Umwandlung und Nutzung von Energierohstoffen führen zu Nachhaltigkeitsproblemen auf zwei Ebenen. Einerseits ist hier die Ausbeutung knapper und nicht erneuerbarer Energie und anderer Ressourcen zu nennen. Zwar ist umstritten, welche
1
Dieses Kapitel folgt Grunwald/Kopfmüller 2012, Kap. 6; weitere Literaturhinweise und Belege finden sich dort.
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Mengen fossiler Energieträger (Öl, Gas und Kohle) noch in der Erdkruste vorrätig sind – auf jeden Fall aber sind sie endlich. Die Verlagerung der Energiebereitstellung auf erneuerbare Energieträger entlastet zwar das Knappheitsproblem fossiler Energieträger, kann aber zu anderen Mangelerscheinungen führen. Beispielsweise stößt die Nutzung von Energie aus Biomasse an die Grenzen der verfügbaren landwirtschaftlichen Nutzfläche und die Knappheit seltener Metalle begrenzt die Möglichkeiten massenhafter Produktion bestimmter Batterietypen für die Elektromobilität. Andererseits kommt es zu erheblichen und zum Teil sehr langfristig wirksamen, nicht intendierten Folgen (›Nebenwirkungen‹) der Energiebereitstellung. Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlagen und der menschlichen Gesundheit resultieren aus Schadstoffemissionen, Treibhausgasemissionen beschleunigen den Klimawandel und die Lagerung bzw. Entsorgung gefährlicher Abfälle, vor allem aus der Kernenergie, stellt die Gesellschaft vor erhebliche Probleme. Die globale Energieerzeugung basiert zu über 80 % auf fossilen Energieträgern, mit denen die größten Belastungen wie Luftverschmutzung oder Klimawandel verbunden sind. Auf die Kernenergie entfallen nur etwa 5 %, auf erneuerbare Energien etwa 13 %, von denen wiederum der weitaus größte Teil aus traditioneller Biomasse und aus Wasserkraft stammt. Weltweit ist der Primärenergieverbrauch seit 1990 um rund 40 % gestiegen, seit Mitte der 1970er Jahre um rund 100 %. Im Jahr 2011 ist der globale Energieverbrauch um 5,6 % auf ein Rekordniveau gestiegen. Der Pro-Kopf-Verbrauch an Energie steigt im Durchschnitt seit Jahrzehnten um 0,5 % jährlich. Das ist etwas weniger als das Wirtschaftswachstum, so dass die Energienutzung immerhin etwas effizienter geworden ist. In Deutschland ist der Primärenergieverbrauch seit 1990 sogar um ca. 6 % leicht gesunken, trotz einer geringen Bewölkungszunahme und eines Wirtschaftswachstums von etwa 35 % in diesem Zeitraum. Weltweit wird mit einer weiteren deutlichen Zunahme des Energiebedarfs gerechnet, vor allem aufgrund des nachholenden Wirtschaftswachstums in Schwellen- und Entwicklungsländern sowie des Bevölkerungswachstums von heute circa sieben auf circa zehn Milliarden Menschen im Jahr 2050. Entsprechend ist die Frage, wie das Energiesystem in seinen angebotsund nachfragebezogenen Facetten nachhaltiger gestaltet werden kann, seit Jahrzehnten ein zentrales Thema der öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Debatten zur Nachhaltigkeit (z.B. IEA 2008). Nachhaltigkeitsaspekte der
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Energieversorgung beinhalten Ressourcenschonung, Umwelt-, Klima- und Gesundheitsverträglichkeit, globale Verteilungs- und Zugangsgerechtigkeit, Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit in einem über das betriebswirtschaftliche hinausgehenden, also externe Kosten umfassenden Sinn sowie Risikoarmut und Fehlertoleranz. Eine Verbesserung der Nachhaltigkeitssituation wird vor allem in zwei Richtungen angestrebt, denen auch die deutsche ›Energiewende‹ verpflichtet ist: (1) die Steigerung der Energieeffizienz sowohl auf der Seite der Energieerzeugung bzw. -umwandlung als auch der Energienutzung zur Abkopplung des Wirtschaftswachstums vom Energieverbrauch und zur Verringerung des Energiebedarfs sowie (2) der verstärkte Einsatz erneuerbarer Energiequellen (Sonne, Wind, Wasser, Biomasse, Geothermie usw.) zur Vermeidung oder Verringerung der mit der Nutzung vor allem der fossilen Energieträger verbundenen Nachhaltigkeitsprobleme. Hierzu ist sicher in einem erheblichen Umfang neue und effizientere Technik erforderlich (Weizsäcker/ Hargroves/Smith 2010; Wietschel/et al. 2010). Dies wird jedoch nicht reichen, wenn eine grundsätzliche Umsteuerung auf Nachhaltigkeit hin beabsichtigt wird (Teil 4). Eine ›Kultur der nachhaltigen Energienutzung‹ muss nicht-technische Maßnahmen wie die Veränderung institutioneller Bedingungen und organisatorischer Abläufe, die Veränderung energieintensiver Produktionsweisen und nachhaltigere Lebensstile umfassen. Die gemeinsame Nutzung von Produkten (z.B. Carsharing), veränderte Beschaffungsmodalitäten in öffentlichen Einrichtungen und ein verändertes Verhalten im Umgang mit Energie bzw. mit Energie verbrauchenden Produkten sind Beispiele. Zur Gewährleistung des Zugangs aller Menschen weltweit zu angemessenen Energiedienstleistungen müssen darüber hinaus andere internationale, vor allem politische und finanzielle Maßnahmen ergriffen werden. Den Satz, dass, wie oben gesagt, eine nachhaltige Entwicklung ohne nachhaltige Energieversorgung nicht vorstellbar ist, kann man auch umgekehrt formulieren: Je besser es gelingt, die Energieversorgung in all den hier genannten Aspekten nachhaltiger zu gestalten, desto besser sind auch die Bedingungen und Voraussetzungen dafür erfüllt, dass Nachhaltigkeit in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens umgesetzt werden kann.
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4. D IE ALS
DEUTSCHE E NERGIEWENDE N ACHHALTIGKEITSTRANSFORMATION
Unter der Energiewende versteht man heute in Öffentlichkeit und Politik, teils auch in der Wissenschaft, die energiepolitische Umsteuerung, die nach der Katastrophe von Fukushima 2011 in Deutschland beschlossen wurde: rascher Ausstieg aus der Kernenergie, erhebliche Effizienzsteigerung in allen Prozessen der Energieumwandlung und -nutzung sowie schneller Ausbau der erneuerbaren Energieträger.2 Dabei kommt die Vorgeschichte jedoch zu kurz, die aus heutiger Sicht als eine Suche nach einer nachhaltigeren Energieversorgung beschrieben werden kann (Grunwald 2012a). Sie geht bis in die 1970er Jahre zurück, in die Zeit der beiden Ölkrisen und der beginnenden Anti-Atom-Bewegung weit vor der Klimadebatte. Zentrale Fragen wie die nach der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, sowohl in geopolitischer Hinsicht als auch angesichts ihrer Endlichkeit – ›Die Grenzen des Wachstums‹ des Club of Rome wurden 1972 publiziert – und eine mögliche Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energieträger wurden bereits damals thematisiert. In den 1980er und 1990er Jahren kam es zu einem allmählich erstarkenden Umweltbewusstsein in weiten Teilen der Bevölkerung und einer größeren Relevanz von Umweltthemen in allen politischen Parteien. In Bezug auf die Energieversorgung begannen Vorreiter, alternative Lösungen zu erproben. Während diese zunächst häufig belächelt wurden, so begann sich dies bald zu ändern, insbesondere im Zuge der Unterstützung des Ausbaus erneuerbarer Energieträger durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) und seine Vorläufer. Bürgerbeteiligung an Windparks, Biogasanlagen auf Bauernhöfen und Solarzellen auf vielen Häusern sind die deutlich sichtbaren Anzeichen dieser Diffusion zentraler Gedanken der heutigen Energiewende in weite Teile der Bevölkerung. Diese Historie macht deutlich, dass keineswegs nur das letztlich irgendwie ja zufällige Ereignis von Fukushima zur Energiewende führte. Die Überzeugung, dass eine Umsteuerung zu einer nachhaltigeren Energieversorgung aus Gründen der Zukunftsverantwortung und Gerechtigkeit notwendig sei, hatte bereits lange vor Fukushima breite Zustimmung.
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Dieses Kapitel fasst Aussagen aus Grunwald 2012a zusammen und fokussiert sie auf die Fragestellung des vorliegenden Beitrags.
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Um die Zielsetzungen der Energiewende zu erreichen, muss sich das System der Energieversorgung in Deutschland drastisch ändern. Heute machen fossile und nukleare Energieträger zusammen rund 85 % der Primärenergieversorgung aus. Bis zum Jahr 2022 sollen die Kernkraftwerke abgeschaltet werden, bis 2050 der Anteil fossiler Energieträger auf maximal 20 % sinken. Die damit verbundene Transformation des Energiesystems ist notwendigerweise mit einem dramatischen Umbau der Infrastruktur verbunden. Nun braucht die Gesellschaft unmittelbar weder Kraftwerke noch Solarzellen noch Hochspannungsleitungen, sondern Steckdosen und Tankstellen, aus denen sicher, verlässlich, und zu vernünftigen Preisen Energie der gewünschten Form entnommen werden kann. Die komplexen, vor allem technischen und logistischen Systeme, die sich hinter den Steckdosen und Tankstellen befinden, sind aus Sicht der meisten Verbraucher nicht interessant, Hauptsache, sie erbringen die gewünschten Dienst- und Versorgungsleistungen störungsfrei, zuverlässig und preisgünstig. Auf die Bereitstellungs- und Verteilungstechnologien und die Infrastrukturen werden die Nutzer des Energiesystems vielfach nur dann aufmerksam, wenn sie entweder nicht funktionieren oder in irgendeiner Form ›stören‹, d.h. wenn sie Emissionen verursachen, die Landschaft verunstalten, durch bestimmte Standortentscheidungen in die eigene Lebensumwelt intervenieren oder Umweltschäden und Gesundheitsrisiken verursachen. Dies könnte dazu verleiten, die Energiewende allein durch eine Transformation der technischen Infrastrukturen ›hinter‹ den Steckdosen und Tankstellen zu versuchen, in etwa so, dass die Endkunden diese Transformation letztlich gar nicht bemerken. Für sie würde sich nichts dadurch ändern, dass der Strom aus Windkraft statt aus Kernkraft kommt. Das Ziel dieses Teils ist jedoch gerade, diese Sicht auf die Energiewende als extrem verkürzt zu erweisen. Die technische Umstellung wird vielmehr auch mit erheblichen Veränderungen für die Gesellschaft verbunden sein, da das Energiesystem wie Infrastrukturen generell ein ›sozio-technisches System‹ (Ropohl 1979) ist, dessen Transformation nicht nur technische, sondern eben auch gesellschaftliche Aspekte umfasst (Schippl/Grunwald 2012a; Verbong/Loorbach 2012). Das jetzige Energiesystem besteht in technischer Hinsicht aus Kraftwerken verschiedenster Art, Hochspannungsleitungen, Verteilnetzen, Umspannstationen, Speicherkraftwerken, Erdölraffinerien, Pipelines, Großtankern,
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Förderanlagen für Öl, Gas und Kohle, Tagebau für Uran und Braunkohle, um nur einige Elemente zu nennen. Bereits die Aufzählung dieser Elemente macht deutlich, dass ein darauf aufbauendes Infrastruktursystem nicht rein technisch funktionieren kann, sondern dass eine Fülle von nichttechnischen Anteilen hinzukommen muss. Einige Beispiele sind: Der internationale Handel mit Öl, Gas und Kohle bedarf kooperativer vertraglicher Regelungen, ziviler politischer Rahmenbedingungen und funktionierender staatlicher Autoritäten (die beiden Ölkrisen 1973 und 1980 zeigen die Folgen adverser politischer Konstellationen); die energetische Nutzung der Kernkraft ist gegen den (teils erbitterten) Widerstand großer Bevölkerungsteile nicht auf Dauer möglich, wie das deutsche Beispiel zeigt; die Idee, das Kohlendioxidproblem bei neuen Kohlekraftwerken an der Wurzel zu behandeln, also das Gas im Kraftwerk abzuscheiden und unterirdisch zu verpressen (CCS-Technologie), ist wenigstens in Deutschland vorläufig am Widerstand möglicherweise betroffener Regionen gescheitert; komplexe Kraftwerke, insbesondere Kernkraftwerke bedürfen komplexer Bedienung, Wartung und unabhängiger Überwachung sowie eines adäquaten Krisenmanagements für den Fall der Fälle. Bereits der Normalbetrieb im traditionellen Energiesystem ist durchzogen von nicht-technischen Anteilen: an den Strombörsen wird Handel getrieben und werden Preise beeinflusst, Manager und Ingenieure entscheiden im Zusammenwirken mit technischen Steuerungselementen über das Herunter- oder Hochfahren von flexiblen Kraftwerkselementen oder über den Einsatz von Pumpspeicherkraftwerken; Verbraucher orientieren sich an den Randbedingungen des Energieverbrauchs, z.B. an den Preisunterschieden zwischen Diesel und Benzin beim Tanken; über politisch festgelegte Beimischungsverordnungen entsteht ein Treibstoff namens E10 und führt zu kontroversen gesellschaftlichen Debatten, Wertschöpfungsketten verändern sich mit dem zunehmenden Einzug des Internets in die Energiewelt, Stadtwerke und Energieversorgungsunternehmen bieten den Verbrauchern neue Tarifmodelle an. Bereits das bestehende Energiesystem ist also ein ›sozio-technisches System‹ (Ropohl 1979) und dadurch gekennzeichnet, dass technische Artefakte und menschliche Handlungsmuster aufeinander abgestimmt sein müssen, um im Zusammenwirken die gewünschten Funktionalitäten zu erzielen. Im Rahmen der Energiewende wird der Anteil des ›sozio‹ am zukünftigen Energiesystem, also die Bedeutung nicht-technischer Faktoren, deutlich steigen, so die These (Schippl/Grunwald 2012; Grunwald 2012a). Dies
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liegt zum einen an notwendigen Veränderungen im Bereich ›hinter der Steckdose‹. Neue Akteure, vor allem viele kleine in das Netz einspeisende Anbieter müssen über Regeln, Verträge, Abmachungen über Rechte und Pflichten, Haftungsfragen etc. sozial und rechtlich eingebunden werden. Die Dezentralisierung, wie weit sie auch immer führen mag, führt zur Neuverteilung von Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten: Stadtwerke und lokale Initiativen übernehmen Verantwortung in Bereichen, die bislang eher zentral geregelt waren. Zum anderen jedoch – und dies erscheint als die größere Herausforderung – werden Verbraucher nicht in der rein passiven Rolle als Abnehmer und Zahler von Energiedienstleistungen verbleiben können. Wer Solarzellen auf dem Dach hat und Sonnenenergie ins Netz einspeist, ist bereits jetzt nicht nur Verbraucher, sondern auch Anbieter, nicht nur Konsument, sondern auch Produzent (wofür das Kunstwort Prosumer steht). Stichworte wie Smart Grid, Smart Home oder Internet der Energie zielen in der Regel auf die Schaffung und Realisierung von Lastverschiebungen, d.h. auf eine aktive Beeinflussung der Stromnachfrage. Verbraucher werden sich zwischen mehr Optionen und Modellen ihrer Energieversorgung entscheiden können (und müssen!). Wenn es zu einer starken Expansion der Elektromobilität kommt, werden sie neue Handlungsmuster im Alltag ausprägen müssen, da E-Mobile erheblich andere Eigenschaften im Alltagsbetrieb haben als klassische Automobile mit Verbrennungsmotoren. An vielen Stellen werden die ›Karten neu gemischt‹, werden neue Akteurskonstellationen in Verbindung mit veränderten technologischen Möglichkeiten und Randbedingungen neue und komplexere sozio-technische Systeme der Energieversorgung bilden. Urbane Systeme werden sich verändern, z.B. durch Elektromobilität und die damit verbundenen Infrastrukturen oder auch dadurch, dass Ortschaften durch den massiven Einsatz von Dämmmaterialien optisch eine andere Ausstrahlung haben werden. Hinzu kommen die Veränderungen in den Lebenswelten vieler Menschen durch Veränderungen von Landschaften im Zuge der Errichtung neuer Energieinfrastrukturelemente wie Hochspannungsleitungen, Windparks und Pumpspeicherkraftwerke, welche lokal und regional vielfach Akzeptanzprobleme verursachen. Aus der generellen Zustimmung zur Energiewende folgt nicht die Zustimmung zu einzelnen Maßnahmen ihrer Umsetzung. Infrastrukturen sind, gerade weil sie als sozio-technische Systeme stark mit gesellschaftlichen Praktiken verbunden sind, tendenziell widerständig
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gegen Veränderung. Als Hindernisse gegen eine Transformation des Energiesystems sind vor allem einerseits ›Trägheiten‹ aufgrund der Gewöhnung an traditionelle Infrastrukturen (z.B. an die das benzin- oder dieselgetriebene Auto tragende Infrastruktur) und die Ausbildung entsprechender ›Kulturen‹ (z.B. der automobilen Mobilitätskultur) zu nennen. Andererseits sind ökonomische Interessen der Betreiber und Nutznießer der bestehenden Infrastrukturen (z.B. aufgrund der langen Abschreibungszeiten von Kraftwerken mit teils extrem hohen Investitionskosten) sowie die ganz erheblichen Kosten für die Einrichtung neuer Infrastrukturen (z.B. im Rahmen einer Wasserstoffwirtschaft) von erheblicher, jegliche Transformation erschwerender Bedeutung. Die Transformation von Infrastrukturen stellt damit sowohl in technischer als auch in gesellschaftlicher Hinsicht eine ambitionierte Herausforderung dar. Dies gilt umso mehr, wenn die Transformation einen bisher vielfach als angenehm und komfortabel empfundenen Zustand betrifft. In Deutschland sind hohe Standards der Energieversorgung erreicht worden. Ausfälle im Stromnetz kommen praktisch nicht vor. Strom kann dem Netz jederzeit in (praktisch) beliebiger Menge in gleich bleibender Qualität entnommen werden. Unterschiedliche Lastgänge, die vom Verbraucherverhalten verursacht werden, werden vom System abgepuffert. Übertragen auf Treibstoffe für Mobilität gilt ähnliches. Dass einmal eine Tankstelle ›ausverkauft‹ ist, dürfte man in Deutschland in den letzten Jahrzehnten kaum je erlebt haben. Energieverbraucher haben eine hohe individuelle Autonomie in der Nutzung von Energie. All dies erleichtert nicht gerade eine Transformation, die voraussichtlich oder wenigstens möglicherweise zu einer Entfernung von diesem als angenehm empfundenen Zustand hoher Autonomie und hohen Komforts führen wird. Die seit einiger Zeit laufende Debatte um einen möglichen Anstieg der Strompreise nach beschleunigtem Ausstieg aus der Kernenergie zeigt dies deutlich an. Exzellente Technik ist somit eine zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für einen gelingenden Transformationsprozess. Weitere Felder in dieser Richtung sind zum einen neue Maßnahmen im Bereich des Managements und der politischen Rahmenbedingungen wie z.B. die Entwicklung von Anreizsystemen zur Einrichtung von systemstabilisierenden Elementen wie Speichern und zu ihrer Integration in die Gesamtsteuerung die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und Dienstleistungen im Energiebereich, die Weiterentwicklung von Planungsrecht
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und Beteiligungsverfahren, um sozialverträglich neue Infrastrukturen einrichten zu können und die Ausarbeitung von vielversprechenden Innovationspfaden (Schippl/Grunwald 2012). Zum anderen muss die Gesellschaft einerseits in Form von Energieverbrauchern, andererseits von durch neue Infrastrukturelemente Betroffenen, die Bereitschaft entwickeln, neue Handlungsmuster auszuprägen. Hier ist keineswegs nur eine unidirektionale Überzeugungsarbeit zu leisten, sondern vielfach wird es darum gehen, nach gemeinsam akzeptablen Lösungen zwischen Bürgern, zivilgesellschaftlichen Akteuren, Stadt- und Raumplanern, Kommunal- und Regionalbehörden, Anbietern von Energiedienstleistungen und Betreibern von Energieinfrastrukturen zu suchen. Die bisherige wie zukünftige Entwicklung des Systems wird auf diese Weise von den Wechselwirkungen zwischen technischen und nicht technischen Faktoren, zwischen Innovationen und gesellschaftlichen Entwicklungen geprägt, was in der Literatur vielfach mit dem Begriff der ›Ko-Evolution‹ umschrieben wird (Rip 2007), der die Notwendigkeit betont, technische und nicht technische Aspekte sowohl bei der Erforschung als auch bei der Governance von sozio-technischen Transformationen zusammenzudenken (Verbong/Loorbach 2012). Für eine derartige Transformation kann es keinen vorab festgefügten Plan geben, da viele der notwendigen Elemente und der für den Erfolg wichtigen Rahmenbedingungen heute noch gar nicht bekannt sind. Die Zielvorgaben der Energiewende formulieren eben Ziele und haben visionären Charakter; sie enthalten keine Aussagen über den Weg der Zielerreichung. Dieser ist im Laufe der Transformation selbst immer wieder neu zu bestimmen – vor dem Hintergrund des jeweils aktuellen Wissensstandes, aber auch sich verändernder gesellschaftlicher Relevanz- und Prioritätensetzungen. Die Transformation des Energiesystems kann damit nur als ein ständiger Lernprozess verstanden und betrieben werden, in dem als einziges eine grobe Orientierung in Richtung auf nachhaltige Entwicklung erhalten bleibt und alles andere im Laufe der Transformation selbst verändert werden kann (Bechmann/Grunwald 2002; Voß/Bauknecht/ Kemp 2006; WBGU 2011). Die damit notwendig verbundene Offenheit ist allerdings in einer Gesellschaft, in der Offenheit häufig weniger als Gestaltbarkeit und eher als Unsicherheit angesehen wird, schwer zu vermitteln.
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5. K ULTUR DER N ACHHALTIGKEIT STATT T ECHNIKGLÄUBIGKEIT Die Nachhaltigkeitsdebatte hat seit 1987 mehrere Phasen durchlaufen. War sie zunächst von einem Optimismus geprägt, durch politische Steuerung mehr Nachhaltigkeit zu erreichen, wie dies besonders aus den Dokumenten der Rio-Konferenz 1992 spricht, so wurde nach und nach die Rolle der Wirtschaft, der Einfluss zivilgesellschaftlicher Initiativen, die technische Effizienzsteigerung (Weizsäcker/Hargroves/Smith 2010) und die Rolle der Konsumenten in den Mittelpunkt gerückt (Busse 2006; Grunwald 2012b). In den letzten Jahren ist der kulturellen Basis der Nachhaltigkeit mehr Aufmerksamkeit gewidmet worden (z.B. Banse/Parodi/Schaffer 2010). Grund dafür ist die Erkenntnis, dass eine umfassende Transformation in Richtung Nachhaltigkeit nicht nur in einer reinen Managementaufgabe bestehen kann und sich auch nicht darauf verlassen kann, dass technische oder sozio-technische Lösungen die Wende bringen werden. Vielmehr muss sie begleitet werden von einem breit verankerten Umdenken in vielen Hinsichten, welches die kulturellen Grundlagen des menschlichen Handelns und Entscheidens betrifft. Allerdings ist nach wie vor das Vertrauen in technische Lösungen weit verbreitet. So ist z.B. die Energiewende in Deutschland, der frühzeitige Ausstieg aus der Kernenergie und der rasche Umstieg auf erneuerbare Energie, mit einem erheblichen Vertrauen in deren schnelle Entwicklung und den Aufbau neuer Infrastrukturen und vor allem mit gewaltigen Erwartungen an die technische Effizienzsteigerung gekoppelt. Hier erstaunt gerade in puncto Effizienz der Optimismus. Nicht, dass Effizienzsteigerungen in erheblichem Ausmaß nicht technisch möglich und auch realisierbar wären – die Frage ist nur, ob die Effizienzsteigerungen dann auch wirklich zu einer Verbesserung der Nachhaltigkeitssituation führen oder ob nicht, wie so oft, so genannte Bumerang- oder Rebound-Effekte dazu führen, dass die Steigerungen der Effizienz durch weiteres quantitatives Wachstum sowie mehr Luxus und Konsum kompensiert oder sogar überkompensiert werden. Andere technikoptimistische Thesen setzen auf die Steigerung unserer Ressourcenbasis durch technischen Fortschritt. Technische Entwicklungen werden, so die These von Peter Sloterdijk (2011) dazu führen, dass die Menschheit erheblich mehr als nur eine ›Erde‹ als Ressourcenbasis zu Verfügung haben müsse, um ihre zukünftigen Bedürfnisse zu befriedigen. Die
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starke Steigerung der Förderung von Shale Gas in den USA, die durch neue technische Verfahren ermöglicht wurde, könnte als Beispiel dienen, wie mit neuer Technik bislang unzugängliche Ressourcen zugänglich gemacht werden. Ist sicher seine Kritik an der Vorstellung ›objektiver‹ Grenzen berechtigt, so folgt daraus aber keineswegs, dass man sich auf diese bloßen Möglichkeiten, die ›Potenziale des Erdkörpers‹, verlassen kann, ganz zu schweigen von nicht intendierten Folgen auch neuer Techniken (Shale Gas ist auch in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel) und der weiterhin virulenten Emissionsproblematik. Aus dem zustimmungsfähigen Satz »Bisher hat noch niemand bestimmt, was der Erdkörper vermag« (Sloterdijk 2011), folgt in keiner Weise eine Ethik des ›Weiter so!‹. Auch die Erschließung neuer Ressourcen löst nicht grundsätzlich das Nachhaltigkeitsproblem, sondern kann bestenfalls einen Aufschub bewirken, der im Sinne der geschilderten Transformation genutzt werden kann und muss. Auf längere Sicht muss es wohl darum gehen, eine Kultur der Nachhaltigkeit in einem umfassenderen Sinn einzuüben, die neben technischen Mitteln auch Elemente von Verhaltens- und Konsummustern, Produktionsmustern, entsprechende gesellschaftliche Rahmenbedingungen und neue Formen von Wachstum umfasst (Banse/Parodi/Schaffer 2010; Grunwald/ Kopfmüller 2012). Ihre Entwicklung bleibt eine Aufgabe für die Zukunft (Worldwatch Institute 2010). Es geht darum, gesellschaftlich wie auch individuell so weit zu kommen, dass Nachhaltigkeit als Leitbild und Prüfkriterium das Handeln der Menschen auf den unterschiedlichen Ebenen wie selbstverständlich begleitet und dass es damit integraler Bestandteil von Denk- und Verhaltensweisen sowie von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen wird.
6. H INWEIS Dieser Beitrag fußt auf einer Reihe von Vorarbeiten des Autors, insbesondere auf Grunwald 2012a und 2012b sowie Grunwald/Kopfmüller 2012. Einige Textpassagen und Argumentationen wurden in modifizierter Form übernommen. Zu danken habe ich vielen Kolleginnen und Kollegen für zahlreiche Anregungen und Diskussionen; hervorheben möchte ich an dieser Stelle Jürgen Kopfmüller vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) in Karlsruhe.
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L ITERATUR Banse, Gerhard/Parodi, Oliver/Schaffer, Andreas (Hg.) (2010): Wechselspiele: Kultur und Nachhaltigkeit. Annäherungen an ein Spannungsfeld, Berlin. Bechmann, Gotthard/Grunwald, Armin (2002): »Experimentelle Politik und die Rolle der Wissenschaft in der Umsetzung von Nachhaltigkeit«, in: Karl-Werner Brand (Hg.), Politik der Nachhaltigkeit. Voraussetzungen, Probleme, Chancen – eine kritische Diskussion, Berlin, S. 113130. Busse, Tanja (2006): Die Einkaufsrevolution. Konsumenten entdecken ihre Macht, München. Coenen, Reinhard/Grunwald, Armin (Hg.) (2003): Nachhaltigkeitsprobleme in Deutschland. Analyse und Lösungsstrategien, Berlin. Ekardt, Felix (2011): Theorie der Nachhaltigkeit: Rechtliche, ethische und politische Zugänge – am Beispiel von Klimawandel, Ressourcenknappheit und Welthandel, Baden-Baden. Grunwald, Armin (2012a): »Technikzukünfte in der Energiewende – mehr als Zukünfte der Energietechnik«, in: Ders. (Hg.), Technikzukünfte als Medium gesellschaftlicher Zukunftsdebatten und der Technikgestaltung, Karlsruhe. Grunwald, Armin (2012b): Ende einer Illusion. Warum ökologisch korrekter Konsum die Umwelt nicht retten kann, München. Grunwald, Armin/Kopfmüller, Jürgen (2012): Nachhaltigkeit, Frankfurt a. Main. Hauff, Volker (Hg.) (1987): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven. IEA – International Energy Agency (2008): Towards a Sustainable Energy Future. IEA Programme of Work on Climate Change, Clean Energy and Sustainable Development, Paris. Kopfmüller, Jürgen/et al. (2001): Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet. Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren, Berlin. Ott, Konrad/Döring, Ralf (2004): Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, Marburg.
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Rip, Arie (2007): »Die Verzahnung von technologischen und sozialen Determinismen und die Ambivalenzen von Handlungsträgerschaft im ›Constructive Technology Assessment‹«, in: Uwe Dolata/Raymund Werle (Hg.), Gesellschaft und die Macht der Technik. Sozioökonomischer und institutioneller Wandel durch Technisierung, Frankfurt a. Main/New York, S. 83-106. Ropohl, Günter (1979): Eine Systemtheorie der Technik. Zur Grundlegung der Allgemeinen Technologie, München u.a. Schippl, Jens/Grunwald, Armin (2012): Energieinnovationen zwischen Gesellschaft und Technik: Die HGF-Allianz Energy-Trans, 12. Symposium Energieinnovation, 15.-17.02.2012, Graz, http://portal.tugraz.at/ portal/page/portal/Files/i4340/eninnov2012/files/lf/LF_Schippl.pdf Sloterdijk, Peter (2012): Wie groß ist groß? Wirklich nur eine Erde? Gedankenspiele über die Zukunft, http://www.petersloterdijk.net vom 15.01.2013. Verbong, Geert/Loorbach, Derk (Hg.) (2012): Governing the Energy Transition. Reality, Illusion or Necessity? New York/London. Voß, Jan-Peter/Bauknecht, Dierk/Kemp, Rene (Hg.) (2006): Reflexive Governance for sustainable development, Cheltenham. WBGU – Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltveränderungen (2011): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation, Berlin. Weizsäcker, Ernst Ulrich von/Hargroves, Karlson/Smith, Michael (2010): Faktor Fünf. Die Formel für nachhaltiges Wachstum, München. Wietschel, Martin/et al. (Hg.) (2010): Energietechnologien 2050 – Schwerpunkte für Forschung und Entwicklung. Politikbericht, Stuttgart. Worldwatch Institute (Hg.) (2010): State of the World 2010. Transforming Cultures – From Consumerism to Sustainability, London/New York.
Mutterleib und kaltes Herz Helfen intelligente Küchen aus autogerechten Städten? B ERNHARD W IENS
Überholt die virtuelle Stadt die autogerechte Stadt? Ist es gleichgültig, wo ich mich aufhalte in der ubiquitären Stadt? Löst nicht an jedem Ort das Smartphone ein Schaltungsversprechen ein im Smart Grid intelligenter Städte? Aber wo befinden sich die Schaltzentralen? Sind es die Verkehrsleitstellen mit Batterien von Bildschirmen, sind es die in Irland aufgestellten Server, oder ist es ein E-Government, dem das Rathaus verloren gegangen ist? Niemand weiß, wo die Steuerung ist, und Vermutungen über ihren Umfang reichen von ganz groß bis ganz klein. Es kann die Makro-Zentrale einer ›unsichtbaren Hand‹ sein, die unser Handeln mit einer fast schon numinosen Allmacht leitet, es kann aber auch die Central Control Unit unserer häuslichen Wohnordnung sein, die uns das Feedback gibt, was im Kühlschrank fehlt, während wir auf der Fahrt zur Mall unseren elektronischen Fußabdruck hinterlassen. Die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch im nichtindustriellen Bereich fortschreitende technische Rationalität umfasst jene verschiedenen Ebenen oder Maßstäblichkeiten und die Entwicklung als solche, der ›Geist der Maschine‹ entzieht sich damit dem Blickwinkel einzelner Fachdisziplinen. Die einen entwerfen den Kochtopf, die anderen die Fassade, die dritten die Reißbrettstadt. Immerhin wurde in der Frühzeit der Moderne die Kette vom Mikro- zum Makrokosmos zusammengefügt, vom Stall zum Wohnhaus zur Stadtkrone, alles in der Lichtbrechung des Kristalls enthalten (Bruno Taut, inspiriert von Paul Scheerbart). In den künstlerisch-utopischen
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Aufbruchszeiten der Sowjetunion galt der Architekt als der ›Organisator des Lebens‹. Er sollte die epochale Entität gestalten. Nüchterner gesprochen, sollten Innenausstattung, Architektur sowie Städtebau und -planung aus einer Hand, zumindest aus einem Verstand zu empfangen sein. Die Reihe lässt sich auch wieder rückwärts lesen, von der Stadt über das Quartier und die Straße zur Wohnung. Das gern überschätzte Hauptwerk von Ferdinand Tönnies (Tönnies 1887) könnte auf die Formeln reduziert werden: Das Zentrum der Gesellschaft ist die Gemeinschaft, das Zentrum der Gemeinschaft ist das Haus und das Zentrum des Hauses ist der Herd. Das machte Frank Lloyd Wright zum Programm. Oikos umfasst das Haus als ökonomischen und architektonischen Gegenstand. Er ist der Inbegriff des ›ganzen Hauses‹. John Voelcker schließt an, dass im Haus embryonal alle Funktionen enthalten sind, wie in der Stadt (vgl. Voelker 1961: 157). Daran ließe sich wiederum die Hypothese anschließen, dass der Wandel der räumlichen Funktionsaufteilung im Haus, die jahrhundertelange Wanderung der Küche aus der Mitte an den Rand und wieder zurück, eine Entsprechung in den Funktionsaufteilungen der Stadt findet. Die Küche wurde in den Zwanziger Jahren zum Nucleus einer Involution des Wohnens. Die Verdichtung erst schuf die öffentlichen Freiräume, die nach dem Krieg durch die Privatisierung der Massenmobilität bis zum Ersticken des öffentlichen Lebens eingeengt werden sollten. Der Stadtraum wurde zur Maschinenhalle. Ohne mit neuen Forschungsergebnissen aufzuwarten, ist dies die erste Hypothese dieses Beitrags. Die Küche kann als logisches Bindeglied zwischen Automobil und Stadt eingesetzt werden. Zweitens ist die Küche der Ursprungsort der technischen Rationalisierung des Wohnens in der Moderne. Diese Funktion hat sie auch nicht abgegeben, als sie in den Siebziger Jahren wieder – dem Anschein nach – ›ländlich-sittlich‹ wurde. So wie sie elektrisch aufgerüstet worden war, wurde sie vielmehr zum Hebel der elektronischen Revolution und wird sie zum Knotenpunkt der raumentbundenen Vernetzung werden. Als Speerspitze solchen Fortschritts hat die Küche ihren Preis, bei dem der Kunde letztlich draufzahlt. Denn die technisch-elektronische Rationalität neigt als Markt-Angebot zur ›Selbstverwirklichung‹. Obsoleszenz ist dem Drang der Technik, sich selbst zu überbieten und damit zu entwerten, immanent. Sie ist gleichsam eingebaut. Das Bessere ist des Guten Feind, heuchelte ein Werbeslogan. Der technische Fortschritt als Selbstzweck stößt seit der Postmoderne auf eine allzu menschliche Bedürfnisschicht. Sie
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wird dementsprechend ›Selbstverwirklichungsmilieu‹ genannt. Die technische Küche stößt zwar kaum noch Ruß aus (der einmal zum Räuchern gehörte), bekommt jedoch Schauwert. Darin steht die Küche dem Automobil nicht nach. Erweist sich der zeitlos menschliche Trieb, es ›den anderen zeigen zu wollen‹, als so nachhaltig, dass er jede Nachhaltigkeitsdebatte überdauert? Befindet sich die Küche »mitten unter den Tischgästen« (Hanisch/ Widrich 1999: 17/46) oder abseits? Für Norbert Elias ist es die Gretchenfrage der bürgerlichen Gesellschaft. In der Renaissance setzte ein Verdrängungsprozess ein, der zunächst die höfische Gesellschaft erfasste. Die Verfeinerung von Essmanieren und Besteck distanzierte die Tischgäste voneinander und die Zubereitung des Essens wurde »hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verlegt« (Elias 1997: 254). Die Küche wanderte zur Peripherie, ihr neuer Ort war vorzugsweise das Souterrain der Paläste. Der Gebrauch von Messern wurde durch Regelwerke eingeschränkt und alle Vorgänge, die an das Töten erinnern, Dienstkräften überlassen. Scham und Peinlichkeit kamen auf und wurden zum wirksamsten sozialen Distinktionsmittel. Das Bürgertum übernahm die Zuschreibungen. Wer schlechte Manieren hatte, war als Proletarier etikettiert und von der zivilisierten stadtbürgerlichen Gesellschaft ›automatisch‹ abgesondert. Während sich im ländlichen Raum die Wohnküche weiter hielt, wurde die Küche in bürgerlichen Haushalten etwa der Gründerzeit zum Hof hin verlegt, über separate Dienstbotenaufgänge zu erreichen. Für die Herrschaft war sie – nicht immer respektierte – Tabuzone. Sie war zum Wirtschaftsraum geworden. In ihr befand sich die Kochmaschine. In einem Verschlag neben der Küche oder einem Hängeboden zum Beispiel über dem Klosett war die Schlafstatt der Dienstmagd oder Mamsell. Schon vor dem Ersten Weltkrieg setzte die Abwanderung der Dienstboten in die Industrie ein. Nach dem Krieg waren die Mittelschichten von Verarmung bedroht und mit einem Wohnungsnotstand im unteren Segment konfrontiert, der für das Proletariat und Subproletariat schon längst begonnen hatte und als (Berliner) ›Wohnungselend‹ von den Krankenkassen sowie von Hans Ostwald und Albert Südekum dokumentiert worden war (vgl. Asmus 1982; Ostwald 19801; Südekum 1908). Das Neue Bauen der Zwanziger Jahre ging mit einer Reform der Wohnungspolitik die ›Soziale Frage‹
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Siehe auch die von dems. 1904 ff. herausgegebenen Großstadt-Dokumente.
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an. Der horrenden Überbelegung der meist aus einem Zimmer und Küche bestehenden Wohnungen in düsteren Hinterhöfen wurde die größere ›Wohnung für das Existenzminimum‹ entgegengesetzt und zugleich das Kunststück vollbracht, die Enge etwa der Blockrandbebauung Berlins aufzulösen. Der Kern der Wohnungsbaureform war die Küche. In den Häuserzeilen des Geschosswohnungsbaus zog sich die bekannteste Variante, die Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky, bis auf 6,5 Quadratmeter zusammen (Noever o.J.). Nach außen hin war zwischen den in NordSüd-Richtung verlaufenden Zeilen Raum für ›Licht, Luft und Sonne‹. Die Küche wurde als ›Fabrik des Hauses‹ (Bruno Taut) zum planerischen Ausgangspunkt für Architekten (Taut 2001). Sie war die treibende Kraft einer Funktionsteilung innerhalb der Wohnung, die sich bei anderer Maßstäblichkeit in der Gestaltung der Siedlung und der Stadt reproduzierte. Freilich wurde die Hausfrau nun zur alleinigen Sachwalterin in der Küche, obwohl die Mischung aus Not und industriellem Fortschritt, welche die Weimarer Republik kennzeichnete, die städtischen Frauen nicht mehr grundsätzlich von Berufstätigkeit ausschloss. Die Industrie, welche diese Widersprüche verschärfte, bot zugleich die Lösung. Sie lautete: Efficiency Studies in Home Management. Unter diesem Titel hatte Christine Frederick (Frederick 1922; deutsche Übersetzung: Die rationelle Haushaltsführung) kurz vor dem Ersten Weltkrieg Frederick W. Taylors Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung (Taylor 1913) auf den Haushalt übertragen. In den USA hatte sich bereits Catherine Beecher im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts um eine Reduktion der Wege und Abläufe in der Küche bemüht. In jener Zeit wurde auch die erste ›vollelektrische‹ Küche ausgestellt. Mit der Übersetzung von Fredericks Werk 1922 brach sich der Taylorismus auch in den neuen Sozialsiedlungen Deutschlands Bahn. Schütte-Lihotzkys Küchenentwürfe standen für einen ›Fordismus Frankfurter Prägung‹. Was für die Massenproduktion von Automobilen recht war, war für die Hausfrau billig. Noch ein zweites mobiles Sinnbild stand Pate für den neuen ›Bewegungsraum Küche‹: die Speisewagen der Bahn. Schütte-Lihotzky reduzierte die beim Kochvorgang zurückzulegende Wegstrecke von 19 auf 8 Meter und differenzierte ihre ergonomischen Studien minutiös für die linke und die rechte Hand aus. Sie vergaß die Kochkiste zum Warmhalten nicht, denn es konnte schon in den Zwanziger Jahren passieren, dass die Familie nicht im Gleichtakt zum Mittagessen erschien. Im Unterschied zu ›Arbeiterwohnpalästen‹ mit Gemeinschaftsküchen sollten die Frankfurter Wohnungen
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gleichsam sozialdemokratischen Zuschnitts die Individualität des Wohnens gewährleisten und durch Sozialverträglichkeit der Mieten sowie eine scheinbar wertfreie Zeitökonomie reduzierter Arbeitsbelastung einen Ausgleich sozialer Schichten herbeiführen, aber in anderer Lesart blieb es bei der Verbesserung des »verkochten und verbügelten Lebens« (Leicht-Eckhardt 1999: 191; vgl. auch Aicher 1982: 10 f.). Waren für Taylors Arbeitszeitmanagement bereits Hollerith-Lochkarten eingesetzt worden, so schnallten Lillian und Frank B. Gilbreth, das TaylorSystem ebenfalls auf die Küche übertragend, ihren Versuchspersonen Glühbirnen an und nahmen die Bewegungen dann per Langzeitbelichtung auf. Diese in Lightlines festgehaltene Kinetik vermittelt im Nachhinein den Eindruck einer Ästhetik des (frühen) Funktionalismus. Und soziale Funktionen in Wohnung und Stadt wurden als Handeln definiert. SchütteLihotzky gelang es, ein defizitäres Verhältnis von Funktionalität und Ästhetik zu vermeiden. Damit löste sie einen Anspruch des Werkbunds ein. Die Einbaumöbel standen auf Sockeln. Die Kuben waren von den Begrenzungslinien her gestaltet und rhythmisch gestaffelt. Die dichte orthogonale Geometrie war von der Vertikale dominiert. Struktur und Rhythmik kennzeichnen auch die städtebaulichen Programme der Moderne, die den Raum nicht mehr nach der Maßgabe von Euklid und Newton, sondern relativ gestaltet. Die Grenzen werden fließend und überspringen die Maßstäbe von innen und außen. Die Küche wurde zum Laboratorium und Maschinenraum der Moderne. Die Hausarbeit wurde vermessen und bewertet wie die Ware Arbeitskraft in der Industrie. Taylor suchte sich um die Folgen seines Systems, das ständig Arbeiter in weniger produktiven Tätigkeiten überschüssig machte, herumzumogeln, indem er die Entwertung der Arbeitszeit in einen potenziellen Gewinn an Freizeit umdeutete. Soweit sich diese Möglichkeit realisierte, ergab sich die Notwendigkeit, den Arbeitern erreichbare Erholungsräume zu bieten. Die rationelle Haushaltsführung machte aus der Werkstatt Küche zugleich ein Büro. Exakte Rechnungsführung war von der Hausfrau verlangt. Dem Neuen Bauen entsprach die ›Neue Haushaltslehre‹, unterrichtet in Hauswirtschaftsschulen. Die Küche galt als die kleinste betriebswirtschaftliche Einheit der Volkswirtschaft. Um die war es damals schlecht bestellt, so dass Erna Meyer, die 1927 die von J.P. Oud entworfene, ebenfalls moderne Stuttgarter Küche inaugurierte, ressourcenschonendes Haushalten und die Wiederverwertung von Resten als Lehre aus dem Krieg bezeichnete
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und Heinz Potthoffs Sentenz zu bestätigen schien: »Die Hausfrauen können Deutschland vor dem Bankerott und Untergang retten« (zitiert nach Schlegel-Matthies 1995: 185). Le Corbusier bot anderes an: »Das Auto hat die Großstadt getötet, das Auto muss die Großstadt retten« (Knie/Marz 1997: 10). Ihm möge die Stadt einen Funktionsraum gewähren. Das ist die Horizontale eines Systems von Straßen, von Le Corbusier Verkehrsmaschine genannt.2 Keine Stadt soll größer als eine Stunde sein. Um Platz zu schaffen, muss die Bebauung in die Vertikale gezogen werden. Das Leitbild der Zwanziger Jahre war die ›Maschinenstadt‹ mit ›Wohnmaschinen‹. Der Rhythmus der Maschine gab nicht nur den Takt der Produktion vor, sondern auch der Konsumtion, des Wohnens und des Verkehrs. Es ist nicht von Anfang an ausgemacht, ob der Freiraum hauptsächlich vom Auto kolonisiert wird, es kann auch ›hygienisches Grün‹, kann auch Fußgängerverkehr sein, aber die Funktionsteilung in Wohnen, Arbeiten und ›Sich erholen‹ verlangt nach einer Infrastruktur, welche den täglichen Zyklus der Funktionen mit der effizientesten Zeitökonomie herstellt. »Die Autos beginnen in den Straßen zu defilieren«, so Le Corbusier, und nach F. Tommaso Marinetti symbolisiert die Stadt »die mechanischen Kräfte der Geschwindigkeit« (beide zitiert nach Hilpert 1978: 36/38). Mit der Maison Citrohan entwarf Le Corbusier ab 1920 in mehreren Typen eine Schachtel, deren Affinität zu einer Autofirma nicht nur semantisch ist, sondern auch in der Serientauglichkeit aus vorgefertigten Teilen und Stahlbetonrahmen liegt. »Ein Haus wie ein Auto« (Hilpert 1978: 27) forderte er. Häuser sollten ausdrücklich nach dem Taylorsystem produziert und nach dem Fordsystem standardisiert werden (vgl. Frampton 1995: 134). Spätere Varianten waren auf Stützen gestellt. Le Corbusiers Dom-ino war vollends auf Serienherstellung ausgerichtet. Die Stahlbetonskelette sehen wie die Vorwegnahme von Parkhäusern aus. Mehr noch auf der städtebaulichen Ebene suchte der Architekt die Nähe zur Automobilindustrie. Sein Plan Voisin von 1925 sah für Paris den Abriss von großen Teilen der Altstadt vor.3 Das war emanzipatorisch gemeint: Raum schaffen heißt Licht
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Die Maschinenmetapher ging bis zur ›Girlsmaschine‹. Das waren die Beine der Tiller Girls, unauflösliche geometrische Komplexe. Den Beinen entsprechen die Hände in der tayloristischen Produktion. (Vgl. Kracauer 1977: 50-55)
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Ein Autohersteller unterstützte das Projekt.
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und Luft schaffen. Der Verkehr war je nach Teilnehmern auf mehreren Ebenen getrennt, was in den Stadtutopien der jungen Sowjetunion bis zu schwebenden Städten fortgeführt wurde. Städte selbst sollten in Serie – und auch wieder am Band – produziert werden. Obwohl Le Corbusier zumindest bei kleineren Einzelhäusern mit dem Garten als Wohnraumerweiterung umgeht oder ihm eine panoramatische Funktion zuweist, ist das Grün in seinen städtebaulichen Entwürfen eher abgesondert, weil es trennende Funktion zwischen den Zonen hat. Aus Gartenstädten werden Satellitenstädte für die arbeitende Bevölkerung, so in der Ville contemporaine von 1922. Dass in der Folge eine Konkurrenz von Verkehrsflächen und Grünflächen mit eindeutigem Ausgang aufkam, lässt im Rückblick die städtebaulichen Visionen von Le Corbusier in ihrer Totalität aus Rastern und Größenmaßen noch erschreckender erscheinen, erschreckend gerade in ihrer Rationalität. Dabei kannte Le Corbusier Gartenstädte auch in ihrer deutschen, eher pragmatischen Ausprägung; er hatte das beschaulich sich an die Topographie anschmiegende Hellerau bei Dresden besucht. Wie werden die Gestaltungsprinzipien einer solchen Gartenstadt beschrieben? Haus und Garten sind nach Funktionen aufgeteilt und einander zugeordnet. Die Funktionsorientierung ist zu einer rhythmischen Gestaltfolge vereinheitlicht. Auflockerung durch Gliederung, Rhythmik in der Serie. Hat nicht Le Corbusier diese für Haus und Siedlung geltenden Prinzipien auf den Städtebau insgesamt übertragen? Er spricht selbst von der Küche als »städtebaulichem Prinzip«, bestehend aus »Verkehr und Arbeitsplätzen« (zitiert nach Hilpert 1978: 106). Sind nicht Haus, Siedlung und Stadt, da soziale Ereignisse, auf ein einheitliches gestalterisches Konzept zurückzuführen, wie es Hermann Muthesius verlangte? Handelt es sich lediglich um eine Verschiebung der Maßstäblichkeit – die allerdings, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausstellen sollte, in der Dystopie erstickender Städte endete? Die Zwanziger Jahre hielten jedoch noch an einer ›epochalen Entität‹ fest, ohne die Spirale aus gebauten Straßenkilometern und Verkehrsstaus vorauszuahnen. Alle Lebens- und Kunstformen laufen in einer Totalität ein, die nur je das Universale ausdrückt. Ludwig Hilberseimer fand: »Architecture is placed in space and at the same time encloses space« (Hilberseimer 1956: 41). Das wurde in der Aufbruchszeit der Moderne radikal ausgelegt: Innen und außen sind nicht mehr durch Fassaden getrennte Sphären, sondern beliebige Ausschnitte aus einem All-Raum, der
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das Allgemeine, Besondere und Einzelne menschlichen Hausens und Bewegens umfasst. Dieser Raum ist zugleich Gesellschaft, und Architektur ist Organisation der Funktionen des sozialen Lebens. Für die Küche lässt das alle Möglichkeiten offen. Sie kann, als Reminiszenz an das niederdeutsche Hallenhaus, ihre Stellung als Herzstück des Hauses (vgl. Miklautz/Lachmayer/Eisendle 1999: 71) behaupten. So nutzte Frank Lloyd Wright einen offenen Grundriss, damit die Küche nebst dem Kamin ihre Wärme in die umliegenden Bereiche abstrahlt und Abluft abführt. Wright beherzigte ohne Scheu einen Mythos des Mutterleibs (vgl. ebd.: 76). Die Küche kann sich aber auch nach außen orientieren, zum Kräutergarten hin wie bei Muthesius. Für die ›funktionelle Stadt‹, die in den Zwanziger Jahren mit Gartenstädten und Volksparks durchsetzt wurde, war noch nicht ausgemacht, ob sie ›aufgelockert und gegliedert‹ oder ›zerteilt und zergliedert‹ werden sollte. Der Zweite Weltkrieg endete mit dem Paradox, dem Grün eine Chance zu geben. Die in Schutt und Asche gefallenen Städte konnten »ins Gesicht der Landschaft« (zitiert nach Wiens 2012: 55) eingeschrieben werden. Dass damals der Begriff der Landschaftlichkeit für die moderne Stadtlandschaft in Anspruch genommen wurde, hat heute neue und von zivilgesellschaftlichen Gruppen unterstützte Aktualität bekommen. Der Begriff speist sich aber auch aus totalitären Quellen, hatten doch die Nazis Landschaftlichkeit im Namen des Heimatschutzes als begleitende Maßnahme zum Autobahnbau definiert. Unterliegt auch das Verhältnis von Straßen- und Grünraum einer ›Dialektik der Aufklärung‹?
S TADTKÜCHE Nach dem Krieg galt für alle größeren zerstörten Städte, was ein PlanerKollektiv um Hans Scharoun im Kollektivplan von 1946 umzusetzen suchte. Da die Bombardements in Berlin tiefe Räume und die Topografie des Urstromtals freigelegt hatten, sollte die Stadt nicht nur durch Verkehrswege, sondern auch durch ›grüne Bänder‹ erschlossen werden, die ohne feste Raumkanten den Übergang in die offene Spree-Landschaft bilden. Die Reste des urbanen Lebens sollten in Clustern entlang der geschwungenen Bänder zusammengezogen werden. Dieser offene oder fließende Raum kann sich aus der emanzipatorischen Tradition der Moderne herleiten, die im Hansaviertel schließlich ›grün‹ geworden ist: Etliche der Landschaftsarchitekten,
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die im Kollektiv um Scharoun gewirkt hatten, waren noch an der bis heute attraktiven Freiraumgestaltung der Interbau 1957 beteiligt (vgl. Wiens 2012: 55), die den großen Architekten der Moderne (wie Gropius, Max Taut, Aalto u.v.a.) und ihren Nachfolgern ein Nachkriegsforum bot. Le Corbusier erstellte weit abseits von diesem überzeugenden, weil umbauten und freien Raum gleichermaßen umfassenden Ensemble eine solitäre Unité d’habitation. Das Gefühl der Verlassenheit stellt sich auch innen ein: Die Erschließung durch Korridore lässt Gefühle wie in einem Autobahntunnel aufkommen. Den Ansätzen einer ›grünen Moderne‹ fuhr im selben Jahr ein Wettbewerb in die Parade, der kurioserweise Hauptstadt Berlin überschrieben war, obwohl im Westteil der Stadt veranstaltet. Dabei war es ganz einfach. Wo Grün hätte sein sollen und können, wurde Straße. Die aufgelockerte Stadt war nicht länger die durchgrünte, sondern wurde die fraktale Stadt eines Straßensystems mit neuen Stadtautobahnen. Einerseits folgte der meistdiskutierte Entwurf von Alison und Peter Smithson politischen Vorgaben, andererseits verbreiteten die Architekten selbst den Optimismus einer durch eine Verkehrssystematik komplett erschlossenen Stadt mit der Konsequenz, dass das urbane Leben sich zu künstlichen Clustern zusammenzieht. Das bevorzugte Baumaterial der neuen Architektur des Brutalismus war Beton. Die Smithsons und das um sie gebildete Team X4, welche den Congrès d’Architecture Moderne in Otterlo 1959 vorbereiteten, hatten ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem Übervater Le Corbusier – von dem ebenfalls ein Wettbewerbsbeitrag kam – und der von ihm inspirierten Charta von Athen (CIAM 1933). Sie zitierten zustimmend aus einer Beschreibung seines Plan Voisin: »Der gewaltige Säulengang, der am Horizont als verblassender Streifen verschwindet, ist eine erhöhte Autobahn« und in der Nacht hinterlässt der Strom der Wagen »leuchtende Zeichen, die Sternschnuppen gleichen« (zitiert nach Banham 1966: 73). Für aufgeständerte Straßen ein gewagtes Bild. Von der Rasterung nach Art eines axialen Schachbretts distanzierten sie sich jedoch und passten die Verkehrswegestruktur an die realen Gegebenheiten an. Auto- und Fußgängerverkehr werden auf mehreren Ebenen voneinander getrennt, was dann auch den direkten Zugang zu terrassenförmig
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Wie bei den meisten Architektengruppen ist es jedoch nicht angebracht, Pauschalurteile auf die einzelnen Mitglieder anzuwenden.
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ausgebildeten (größeren) Gebäuden ermöglichen soll. Rolltreppen verknüpfen die Ebenen; die Rolltreppencity betont die Vertikale. Elemente aus Fritz Langs Metropolis (1927) und früheren Stadtutopien des 20. Jahrhunderts scheinen hier aufgegriffen, wenn auch bewusst ohne den zentralistischen Aspekt. Sogar die Funktionsteilung der Charta von Athen wird durch die kleinere Cluster-Bildung aufgegeben, womit sie ein weiteres Mal auf Distanz zu Le Corbusier gehen – oder ihn weiterdenken. Sie setzen eine Hierarchisierung in Haus, Straße, Stadtviertel und Stadt an die Stelle, was für die Straßen noch einmal ausdifferenziert wird. Auch für die Brutalisten ist Architektur ein soziales Ereignis im Raum. »Der Gliederung jedes Gebäudes muss die Erneuerung der gesamten Gesellschaftsstruktur anhaften« (Banham 1966: 73). Es bleibt beim maximalen Anspruch eines ›Architektur-Urbanismus‹. Das Design der Stadt ist ein »Design der Bewegung« (Kahn 1961: 210/214). Die Rolle der Architekten der Moderne und der Nachkriegsmoderne bei der Entstehung der ›autogerechten Stadt‹ gleicht der des Zauberlehrlings. Ausgangspunkt war der Wunsch, das Chaos des aufkommenden Verkehrs zu steuern und zugleich Grünzonen zu schaffen. Angestoßen wurde ein zyklischer Verlauf zwischen den Polen Auto und Grün mit ungleichen Ausschlägen. O.M. Ungers griff 1977 die Idee von verdichteten Wohn- und Geschäftsclustern zwischen Grünzonen auf. Der Bevölkerungsstagnation im Westteil Berlins wollte er mit Städten in der Stadt begegnen (Mikro-Citys). Da stattdessen die ›behutsame Stadterneuerung‹ auf die Tagesordnung kam, wurde der Grüne Stadtarchipel nicht verwirklicht, bekam dann aber eine Chance, als die De-Industrialisierung nach 1989 Brachen zum Vorschein brachte. Die Chance weicht inzwischen dem zunehmenden Druck der Bodenspekulation. Das neue Wachstum der Städte bildet zwar nach wie vor Inseln aus, aber als Clusterstruktur einer sozialen Verzerrung durch Gentrifizierung. Die Besonderheit Westberlins lag darin, dass Brachen von Anfang an vorhanden waren. Die der (späteren) DDR von den Alliierten zugesprochenen, aber kaum genutzten Bahnanlagen im Westteil der Stadt weckten seit den ausgehenden Fünfziger Jahren Begehrlichkeiten von Verkehrsplanern. Das berühmte Gleisdreieck, heute nach langen Auseinandersetzungen Grünfläche, sollte zum Knotenpunkt eines Autobahnnetzes werden, das vor allem die Kernstadt völlig zerschnitten hätte. Der Entwurf der Smithsons mutet wie eine Blaupause dieser Verkehrspläne an, von denen der ›nur‹ zur Hälfte entlang der Stadtbahn verlaufende Ring – schon von Albert Speer
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geplant – und die Ausfallstrecken realisiert worden sind und noch realisiert werden. Innerstädtisch wären etwa in Kreuzberg der Oranien- und der Moritzplatz der Autobahn zum Opfer gefallen (vgl. Krohn 2010: 140-142) – heute ein Quartier größter urbaner Vitalität, kleinteilig und noch durchmischt. Der Moritzplatz ist zum Mekka urbanen Gärtnerns geworden. Das Pendant zum Autobahnbau der Sechziger Jahre war die Kahlschlagsanierung. Mit der kompromisslosen Zurschaustellung von Konstruktion, Funktion und Baustoffen verband auch der Brutalismus das Postulat, die Architektur habe der Gesellschaft der Massenproduktion zu entsprechen. Das kann für jene Zeit zum Anspruch der Stadtplanung abgewandelt werden, der Gesellschaft des Massenkonsums und der Massenmotorisierung Reverenz zu erweisen. Unweit des Oranienplatzes traf der Kahlschlag große Teile des Kottbusser Tores, damit Ende der Sechziger Jahre als Abschreibungsobjekt ein betongesättigter Wohnriegel hochgezogen werden konnte, der gegen die – stornierte – Autobahn abschirmen sollte. Da hier Arbeitsimmigranten einquartiert wurden, fragt sich, ob an einen lebenden Lärmschutzwall gedacht worden war. Solche unmittelbare Nachbarschaft von Autobahn und Wohngebieten gab und gibt es zum Beispiel auch im Ruhrgebiet. Im Resultat wurde durch die Stadtautobahnen der räumliche Bezug von Haus und Straße aufgelöst, während der akustische und atmosphärische Zusammenhang umso enger wurde. Die per Auto zurückzulegenden Strecken wurden durch die Suburbanisierung und Polyzentrierung immer länger – wobei die Kausalität umzukehren sein wird. Fast schon makaber ist der populäre Ausdruck für alles, was in der funktionsgeteilten Stadt der Siebziger Jahre nicht funktionierte: ›auf der grünen Wiese‹. Vance Packard (Packard 1960) beschreibt für das Amerika der Fünfziger Jahre einen Autokauf: Der grellfarbene Sportwagen im Schaufenster weckt im Manne den Wunsch nach einer Geliebten. Er betritt das Autohaus und entscheidet sich dann doch für die viertürige Limousine, für Ehe und Kinder. Die Familientauglichkeit des Autos hatte bei umgekehrter Geschlechterrolle ihr Pendant in der Küche gefunden. Elektrogeräte verhalfen der Hausfrau zu einer männlich-rationalen Kraft, einer Erregung, die libidinös besetzt war. Die Werbung funktionalisierte die weibliche Libido für die fortschreitende Rationalisierung und Maschinisierung. Das Unbewusste an diesem Vorgang, verstärkt durch ein überbetontes Hygiene-Image wie z.B. Resopal-Oberflächen, deutet darauf hin, dass es sich auch im psychologischen Sinn um eine Rationalisierung (als Verdrängungsprozess) handeln dürfte. Das
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Modernisierungsfieber überdeckte die archetypischen, dunklen Seiten der Nahrungs- und insbesondere der Fleischbeschaffung und -zubereitung, die auch an den Krieg erinnerten. Die männliche Libido wurde mittels des Autos funktionalisiert, Auto und Küche ergaben zusammen die Familie, so symbolisch wie gegenständlich. Die Küche ist der Ort der ›intrauterinen Geborgenheit‹, wozu sich Frank Lloyd Wright, der seiner Mutter die Leidenschaft zur Architektur verdankte, ganz offen und schöpferisch bekannte. Das Feuer zum Kochen ist auch das, welches die Familie wärmt. Die Küche ist oikos, das ganze Haus. Zum Wohnraum hin gestaltete er sie offen, seitlich wie nach oben. Das Einraumhaus, der offene Rauchabzug wie auch japanische Architektur standen Pate. Im Auto ist die Erfahrung intrauteriner Geborgenheit ebenfalls zu machen, aber eher als mobile Käfighaltung und damit wieder Ersatzhandlung. Mancherorts wird die Übergabe des Neuwagens in einer als Geburtsvorgang angedeuteten Symbolik inszeniert, wobei nicht ganz klar ist, ob dem Mann die Rolle des Geburtshelfers oder des noch einmal Geborenen zuteil wird. Diese Rollenspiele könnten als veraltet abgetan werden, wenn nicht deren Residuen trotz allen Gender-Benders – oder gerade deswegen – äußerst zählebig wären. In einer Reklame für das Automodell Renault Espace (= Raum), hergestellt nach dem Einraumprinzip ab 1984, hieß es: »Eines Tages bildet sich das Bedürfnis nach Raum. […] Erst überrascht es uns. Dann lässt es uns nicht mehr los. Der unwiderstehliche Wunsch, einen Raum ganz für uns zu haben. Einen beweglichen Raum, der uns mit sich fort nimmt. Alles wäre zur Hand, wir bräuchten nichts zu entbehren. […] Der Raum ist bereits da.« (Zitiert nach Augé 2010: 13) Und diese Raumkapsel trägt der bewegte traditionelle Mann auf der Suche nach dem Sehnsuchtsort, der nach Ernst Bloch allen in der Kindheit scheint und worin kein Mensch jemals war, stets mit sich herum, sobald er das Haus verlässt. Peter Sloterdijk spricht von der »fahrenden Privathöhle mit Ausblick auf eine vorbeigleitende Welt« (zitiert nach Lock/Schimanski/Wolf 2004: 8). Der Blick ist panoramatisch und die Welt scheint gezähmt. Dazwischengeschaltet ist Technik mit ihrem Sicherheitsversprechen. Solche Bilder von Passagen zwischen Licht, Angst und Schutz sind sublimiert in Allegorien, wie sie Wolfgang Borchert, ohne Hoffnung auf glückliche Rückkehr, für die Großstadt wählte: Mutter, Hure, Göttin. (Borchert 1946) Diese kann wieder zurückgeführt werden zu Vesta, der Göttin des Herdfeuers.
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Die Frankfurter Küche, von den Nazis als Bestandteil von ›Affenkäfigen‹ – das heißt der von Ernst May entworfenen Siedlungen – verteufelt, feierte nach dem Krieg ihr Comeback: als Schwedenküche. Vom schwedischen Möbelhaus, das den strengen Weimarer Stil erfolgreich zu einem Cosy Functionalism abmilderte, wurde die betagte Schütte-Lihotzky 1990 mit einem Preis beehrt. In Deutschland war jedoch nach 1945 Schmalhans Küchenmeister und der Funktionalismus dissoziierte sich zu einzelnen Aggregaten, die nacheinander je nach Einkommenszuwachs in der Anbauküche aufgestellt werden konnten. Die USA preschten mit Industrial Design und Streamlining in der Küche vor, das vor allem die Elektrogeräte einem einheitlichen Design einfügte. Das Fließprinzip des Automobildesigns wurde auf das Geräteensemble übertragen. Aber die Küche blieb monofunktional der Kochtätigkeit vorbehalten. Als in Deutschland, angefangen mit dem Kühlschrank, die Zahl der Elektrogeräte zunahm, wurde die Frage des Designs gleich doppelt gestellt. Sie bezog sich auch auf die Stellung der Küche zur Wohnung. Rückblickend sah Otl Aicher hier eine Kontinuität zu Weimar, denn die Frankfurter und mehr noch die Münchner Küche hatten schon Öffnungen zum Wohnraum hin, und sei es, um die Kinder im Blick zu behalten. Pries die Werbung der Fünfziger Jahre Gerichte an, deren Zubereitung durch ›Tischfertigkeit‹ verkürzt werden konnte, wurde die ›Laborküche‹ der Sechziger Jahre zur ›Außenstelle der Lebensmittelindustrie‹. Tiefkühlkost leitete zum Fast Food- und Convenience-Zeitalter über. Jedoch war der Scheitelpunkt des Fabrikmythos des abgedrängten Arbeitsraums Küche erreicht und es setzte ein Trend zu flexiblen Grundrisstypen und freien Aufstellmöglichkeiten ein. In einem langandauernden Prozess öffnete sich die Küche zum Wohnraum, bis sie sich wieder ›mitten unter den Gästen‹ befand. Entscheidend trug Otl Aichers Kücheninsel (vgl. Aicher 1982: 44 ff.) dazu bei.5 Er nahm Großküchen zum Vorbild, um weniger zur Wand hin zu arbeiten und gab der Küche einen Mittelpunkt, um den herum sich Funktions- und Bewegungskreise bilden. Die Kücheninseln wurden nach ihrer Erfindung – besser Wiederentdeckung durch Aicher – erweitert, bis auch für
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Die Kücheninsel hat sich zur Kochinsel gemausert und schlägt den Bogen zurück zur Mittelstellung des Herdes. Kulturgeschichtliches Bindeglied ist die ›Kochmaschine‹.
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Stühle Platz war. Am Ende wurde die Küche im gehobenen Milieu, das über den nötigen Großraum verfügt, zum Kern offener Grundrisse. Parallel und an Aichers Intentionen vorbei entwickelte sich die Technik. Das war nicht einmal ein Widerspruch, es war allenfalls kompetitiv, weil auch Technik und Elektronik eine Tendenz zur Zentralität haben. Aber es begann mit futuristischen Visionen, die so wenig wie die Architekturentwürfe der Zeit etwa von Archigram oder Haus-Rucker-Co auf praktische Realisierbarkeit angelegt waren. Luigi Colani stellte 1970 seine Kugelküche vor. »Die Frau nimmt mit dem Einstieg in die Kapsel die Funktion der nahrungsspendenden Mutter ein, die über eine Durchreiche aus dem uterusartigen Inneren das Überleben des zentralen Bereichs sicherstellt« (Hanisch/Widrich 1999: 38 f.). Die Frau braucht nicht mehr aufzustehen. Die Raumkapsel, der Satellit, ist ›Leibwächter‹, innerlich wie äußerlich. Colani, Jahrgang 1928, wuchs neben einem kleinen Berliner Flughafen auf. Seine Eltern schenkten dem Kind eine Bastel-Werkstatt, damit es sich sein Spielzeug selber bauen könne. Er wurde Allround-Designer. Seine Fahrzeug-Prototypen, darunter Lastwagen, brachten es nicht zur Produktionsreife wegen ihrer ausladenden, bisweilen filmarchitektonischen Phantasieformen, die so phantastisch nicht sind. Ihre aerodynamischen Eigenschaften senken den Benzinverbrauch unter den Durchschnitt der Gebrauchsfahrzeuge. Colani gilt als ›Meister der eleganten Kurve‹. Automobil-Konstrukteure waren schon vor dem Ersten Weltkrieg Pioniere einer ›mobilen Baukunst der Kurve‹, wie es in einem vom Werkbund herausgegebenen Aufsatz über die Architektur der Fahrzeuge (Polster/Patton 2010: 12) hieß.6 Das biomorphe Design ist, wenn es auch das Tragwerk, das Konstruktive des Objekts einschließt wie bei den Brücken Santiago Calatravas, ein Gegenentwurf zum Bauhaus, der den Funktionalismus ins 21. Jahrhundert hinüberretten kann.7 Nebenbei ist Colani auch Städtebauer – einer Eco-City in China. Und ganz nebenbei sei erwähnt, dass nicht nur Le Corbusier, sondern sogar Walter Gropius Automobile entworfen hat. Dieser Ehrgeiz war
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Oscar Niemeyer übersetzte es in die Architektur zurück: ›Die Form folgt der
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Als prominentes Beispiel sei noch die Architektur Zaha Hadids genannnt, wel-
Frau.‹ che an die fließenden Räume des ›Bauhaus‹ anknüpft, ohne sich an den rechten Winkel zu halten.
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bei Otl Aicher nicht mehr vorhanden. Gleichwohl brachte die von ihm mitgegründete Ulmer Hochschule für Gestaltung auch Auto-Designer hervor. Die Räume wurden wieder beweglich gegeneinander, so beweglich wie im Rietveld-Schröder-Haus von 1924, und der Relativität der Bewegung trug Colani mit einem Wohnkonzept Rechnung, wonach Küche, Bad und Schlafzimmer sich je nach Bedarf zum zentralen Wohn- und Lebensbereich drehen. Sie kommen zum Bewohner und nicht umgekehrt. Hasso Gehrmanns zur gleichen Zeit kreierte vollautomatische Küche ist dagegen frei aufstellbar im Raum. Dafür kommen die Geräte per Knopfdruck zur Frau. Die Raumschiff- und Roboter-Assoziationen Gehrmanns abstrahierte Coop Himmelb(l)au später zu einer Metallkonstruktion aus horizontaler und vertikaler Beweglichkeit der Elemente (Modell Mal-Zeit). Antonia Surmann bezeichnet diese experimentellen Küchenmodelle, wozu auch Stefan Wewerkas Küchenbaum8 gehört, als »eloquente Skulpturen« (Surmann 2010: 434). Was für den frühen Le Corbusier ›puristische Maschinenästhetik‹ war, hat sich in diesen Beispielen zu einer L’art pour l’art verästelt, zur ins Rauschhafte gesteigerten Sensationsmaschine. Der frühe Futurismus lebt im Kleinen wieder auf. Ein anderer Zweig befragte jedoch solche Visionen auf Anwendbarkeit. Mitte der Achtziger Jahre wurde eine Küche als technische Einheit modularer Baugruppen entwickelt: »Die großen Hausgeräte werden dabei auf Basismodule mit integrierten Versorgungsleitungen gestellt. Diese Module werden aneinander gesteckt und sind mit einer zentralen Energie- und Kontrolleinheit verbunden. […] Alle grundlegenden Aggregate wie Pumpe, Warmwasser- und Warmluftbereiter sind also nur ein einziges Mal vorhanden« (Loebel 1992: 471 f.). Es handelt sich um den Prototyp einer ›intelligenten Küche‹. Der nächste Schritt, der die Küche zur Zentrale der technologisch gestützten Schaltbarkeit des gesamten WohnEnvironments aufwertete, kam mit dem digitalen Zeitalter. Seit den Siebziger Jahren bemühen sich aber auch Küchen-Designer auf immer größerer Stufenleiter, die beiden Enden, technische Rationalität und wiederentdeckte Wohnlichkeit, zusammenzuzurren. Was dabei herauskam, malt eine kleine Anekdote aus: Ein Hausherr lädt Gäste in seine neue, nach dem State of the Art aufgerüstete Küche ein. Er führt ihnen blinkend und blitzend alle Funktionen vor, und als die Gäste denken, es geht ans Servieren, ruft er den Pizza-Service an … Die Schauküche ist zur Bühne für
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Wewerka zeichnet auch für ein Wohnhochhaus am Kottbuser Tor verantwortlich.
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kulinarische Theaterstücke geworden, zum mobilen Designobjekt des Selbstverwirklichungsmilieus, das zwischen Nouvelle Cuisine und FastFood hin und her pendelt. (Um die Jahrtausendwende sollten noch Functional- und Design-Food hinzukommen, um die Virtualisierung des Essens auch seitens der Nahrungsmittelproduzenten zu unterstützen.) Der Bogen der Küchengeschichte hat sich geschlossen, denn die Zubereitung des Essens ist nun wieder vor die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verlegt, ist kommunikativer Akt geworden. Um Adorno abzuwandeln: Alle reden und kochen, nur nicht miteinander. Aicher hält dieses Design von Kommunikation für ›aktionslos‹. Die Sichtbarkeit des Kochens hat das Gekochte verschlungen. Das ist Hygiene auf Hightech-Niveau und psychoanalytisch die raffinierteste Form der Verdrängung. Ort der Verdrängung ist die technische Insel als erregender Event. In der hochgerüsteten Küche bilden die Raumstruktur und die Technik die Plattform für ein Rollenspiel der Zubereitung. Dieser Funktionalismus schüttet das Kind mit dem Bade aus: Die große Frage von Werkbund und Bauhaus, ob denn Schönheit nützlich und Nützlichkeit an sich schön sei, beantwortet er mit einer Ästhetisierung der Funktion zum Selbstzweck: Nützlichkeit ist gesteigert, bis sie, mit Baudrillard gesprochen, als System von Zeichen die Dinge verschluckt und von selbst in sich zusammenstürzt. Der Funktionalismus ist gentrifiziert.
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Der Kochakt ist zur sich selbst erfüllenden Demonstration geworden. Das ist ein böses Omen für die Beantwortung der Frage, welche Chancen im Zeitalter von Cyberspace auf Reduktion des Autoverkehrs bestehen. Denn das Auto ist ein nicht minder wichtiges Objekt des ›demonstrativen Konsums‹. Seit den Siebziger Jahren wird ein ganz besonderer Fahrzeugtyp verbreitet, der eigens als Träger solcher demonstrativen Attribute umfunktioniert wurde, die Thorstein Veblen bereits vor 1900 grundlegend analysiert hat (vgl. Veblen 1981). Veblen sieht die vorbürgerliche Institution des Potlatsch, Reichtum und Macht durch Geschenke zu demonstrieren, unter veränderten Vorzeichen in der bürgerlichen Gesellschaft fortbestehen. Prestige erwirbt der vornehme Herr, der noch vom Feudalismus affiziert ist, durch Müßiggang, muss diesen aber, je mehr von ihm – als Kapitalisten –
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produktives Engagement verlangt ist, seiner Entourage überantworten. An erster Stelle, gleichsam als oberste Dienerin des Konsumfetischismus, steht seine Frau. Müßiggang plus Güterkonsum = Luxus der Dame. Das ›Leitbild Dame‹ im ausgehenden 19. Jahrhundert geht mit der Sozial- und Kulturgeschichte des Haushalts einher. Die Art des Nahrungsmittelkonsums gehört wie die Kleidung zur sozialen Distinktion. Die Funktionen der Dame waren repräsentative, sie brauchte sich nicht die Hände in der Küche schmutzig zu machen. Im Grunde war es der Luxus des Herren, sich diese Dame leisten zu können. Sie war denn auch das modische Accessoire, das den Beifahrersitz der großen Schlitten oder Sportwagen zu Beginn der ›Motorisierung‹ schmückte. Die Frau folgt der Form. Mit der Abnahme kapitalistischer Fabrikbesitzer und mit einer breiter gestreuten Sozialstruktur änderten sich auch die Objekte der Zurschaustellung. Sie rühren dann nicht mehr von überschüssigem Reichtum her, sondern von mangelndem Selbstwertgefühl Neureicher gegenüber gesellschaftlichen Normen, das kompensiert werden muss (vgl. das Vorwort der Herausgeber in Veblen 1981: 13). Lifestyle wird zur Konfektionsware. Die conspicuous consumption Veblens kann heute auf eine eingängige Formel gebracht werden: Die Leute kaufen Autos, die sie nicht brauchen, mit Geld, das sie nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die sie nicht mögen. Das trifft vor allem auf Mittelschichten zu. Die eigentlich Mächtigen der Gesellschaft müssen sich ebenfalls von ostentativen Formen des Müßiggangs verabschieden, je mehr sich der ›Werkinstinkt‹ – in anderen Worten: die protestantische Arbeitsethik – ausbreitet. Sie verzichten nicht auf Luxusgüter, aber diesen wird der Nimbus des Nützlichen angehängt und es sind nicht mehr nur Attribute einer gesellschaftlichen Klasse. Die Automobile mausern sich zu Sport Utility Vehicles (SUVs). Sport, Nützlichkeit, Motor – in dieser Kette sind alle Ingredienzien modernen Prestigedenkens emotional verschmolzen. Allein das Gefühl, per Allradantrieb abseits vom Asphalt über sumpfige Waldwege oder durch afrikanische Steppen brettern zu können, reicht meist aus. Den Siegeszug traten die Offroader mit der Medienpräsenz des Humvee (High Mobility Multipurpose Wheeled Vehicle) an. Jedermann konnte sich angesichts dieser Wagen halluzinatorisch in den Golfkrieg – in einen von mehreren – versetzen, konnte die technische Funktionalität eines solchen Gefährts als Steigerung zum demonstrativen Selbstzweck der Zerstörung nachempfinden und diese Empfindungen, zurück im Alltag, auf das eigene SUV als ein gated automobile für den täglichen
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semiprivaten Kleinkrieg übertragen. Alle akademischen Nachhaltigkeitsdiskussionen, die von der fröhlichen Gewissheit ausgehen, dass peak-car erreicht ist, sollten sich auf Widerstände gefasst machen, die Vance Packard klassisch beschrieben hat: Die ›Symbolmanipulatoren‹ bezeichnen uns als gescheite, mündige Bürger, intern aber »verkörpern wir (für sie) nichts weiter als Bündel aus Wachträumen, unklaren, geheimen Sehnsüchten, Schuldkomplexen und vernunftwidrigen Gefühlshemmungen; wir sind Trieb- und Zwangshandlungen ausgelieferte Imago-Anbeter«, »auf im Unterbewusstsein mit dem Produkt verknüpfte Bilder oder Zeichen reagierend« (Packard 1958: 14/15). Die Kirche als Institution, die von den Gläubigen finanziert wird, und die prächtigen Gotteshäuser, die im Auftrag der Gemeinde gebaut worden sind, zählen in Veblens Theorie zu den ›Stellvertretern‹ eines demonstrativen Konsums. Dem widerspricht es keinesfalls, wenn die GemeindeMitglieder ›Orgien der Askese‹ feiern. Im digitalen Zeitalter werden die Städte Foren des ›stellvertretenden Konsums‹. Das kostet sie kaum etwas. Das etwa in 3D-Stadtmodellen oder der Augmented Reality virtuell erzeugte Bild verdrängt den materiellen Raum. Erst begrenzt es den Raum, dann wird Architektur auf einen Bildbehälter reduziert, der nach außen gestülpt wird (vgl. Manovich 1996: 39). Die Stadt wird zur Fassade wie die Fassade zum Screen wird. Vor repräsentative Gebäude werden während des Umbaus Planen mit Architekturmotiven im Maßstab 1:1 gehängt. Diese Virtualisierung hatte eine Zeitlang den zentralen Pariser Platz in Berlin insgesamt umfangen, umso mehr, als zwischen die Bilder immer wieder reale Fassaden gemogelt waren. Schwer zu sagen, was wahr und was falsch ist in diesem Panorama. Der materielle Raum wird für die Virtualität funktionalisiert; er wird zu einer »Maschine für virtuelles Leben« (Manovich 1996: 40).9 Die Baukosten sind minimalisiert. Die Stadt wird als Simulationsraum
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Anatomische Wunder in Kuriositätenkabinetten oder Abnormitätenschauen auf Jahrmärkten des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatten als im wahrsten Sinn billige Vergnügungen eine größere Strahlkraft. Ihre Magie bestand darin, nicht genau zu wissen, ob hinter den menschlichen Absonderlichkeiten die geheime Kraft von Wissenschaft und Technik steckt oder umgekehrt in der Technik geheimnisvolle menschliche Kräfte schlummern – zwischen Schachautomat und Fastenwunder, zwischen schwebenden Tischen und Hypnose. Heute sind Algorithmen in ServerParks das Geheimnis – für das Publikum bestenfalls ein Zauberwort.
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zur Bühne beweglicher Repräsentationsfiguren. Eine dieser Figuren ist der Betrachter selbst, einbezogen ins experimentum mundi, genauer ins ›Traumgewebe der Stadt‹ (vgl. Benjamin 1982: 546). Der Flaneur ist zum Surfer geworden. Der virtuelle öffentliche Raum ist schneller als der reale. Aber der Reiz in aller Reizüberflutung wird darin liegen, unbemerkt und kaum bewusst vom einen in den anderen Raum zu treten. Die Räume changieren. Seit der Charta von Athen stellt sich die Frage, ob maschinelle Stadttechniken eine Entlastungsfunktion haben oder ob nicht die daraus folgende Zergliederung die ›Raumlasten‹ vermehrt. Die Gliederung heißt im elektronischen Zeitalter ›Netz‹ und im Rückbezug auf die Topographie der Stadt ›Grid‹, worin wieder das ›Raster‹ Le Corbusiers aufscheint. An den Endpunkten des Grid liegen die Abnehmer, darunter die privaten Haushalte. Die Enden sind zugleich Schnittpunkte, denn die Wohn- und Geräteordnung des Haushaltes funktioniert in sich nach den Prinzipien eines Smart Grid, kann aber auch von außen gesteuert werden. Die Datenautobahn hat den Mikrokosmos Küche erreicht. Das ist der neue technologische Sprung: Die Schaltkreise sind von der Ebene der Geräte auf die der Systeme verlagert, die ganze Städte, Smart Cities, integrieren und ganze Länder umfassen sollen. Für den Endverbraucher, der natürlich auch Einspeiser sein kann, bedeutet Smart Grid zum Beispiel ein Lastmanagement optimaler Abnehmerzeiten, Datenüberwachung, TemperaturManagement und die Anzeige der jeweils günstigsten Tarife. »Der Übergang zur Science-Fiction«, heißt es im Anschluss an diese Beschreibung, »[dürfte] fließend sein« (Rodriguez 2012: 257 f.). Jacques Tati sah es voraus. Da inzwischen auch im Wohnzimmer Fernseher, PC und Web gekreuzt sind, muss nicht die Küche der Ort der digitalen Integration sein, aber in ersten Muster-Apartments in Stockholm im Jahr 2002 war sie es, wo die Hightech-Fäden zusammenliefen; genau genommen beim Kühlschrank mit seinem Touchscreen, der per Barcode auch Buch über die ein- und ausgehenden Waren führen und es weitermelden kann. Aus dem warmen Herz (vgl. Mielke 2004: 26) der Wohnung ist das kalte geworden, wie schon bei Le Corbusier das Herz der Stadt durch Wegräumen der Gartenstädte zugunsten des im Zentrum zusammenlaufenden Verkehrs erkaltet war (vgl.
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Hilpert 1978: 121-124).10 Per Smartphone ist nun auch eine elektronische Steuerung der Wohnfunktionen von überall her möglich. Die Fenster können rechtzeitig auf Belüftung eingestellt und der Kaffee kann aufgebrüht werden, wenn der Bewohner sich auf der Rückkehr von einer Reise befindet. Nur der Geliebte wird nicht mehr im Schrank versteckt, weil die Ehe wahrscheinlich schon digital geschieden worden ist.11 Erinnert sei an den Kommentar, mit dem Otl Aicher seine Innovationen des Küchen-Designs gegen Fehlinterpretationen absicherte: Ein guter Koch – wobei das Genus keine Rolle spielt – benötigt scharfe Messer, aber wenig elektrische Geräte. Dieser Koch bleibt auch von der postfordistischen Erfahrung verschont, dass die Einsparung von Küchen-Arbeitszeit mittels Technik durch mehr Zeitaufwand an anderer Stelle kompensiert wird. Das Smartphone wird darüber hinaus Wahlzettel, Steuerformular, Fahrkarte usw. Es verbindet mit dem E-Government und wird zum privaten elektronischen Logistikzentrum, wie die Kommune ihrerseits die Verkehrsinfrastruktur in ein digitales Steuerungssystem übersetzt. Der Ort der Stadt und die Nutzung der Technik durchdringen sich. Die Stadt wird ubiquitär. Aus dem Raum der Standorte wird der Raum der Ströme, womit sich ein weiteres Mal der fließende Raum gemäß seiner Logik ausgedehnt hat. Diesmal handelt es sich jedoch nicht um eine physische Extension, sondern um ein Fließen von außen nach innen, eine Intensivierung durch eine ZeitRaum-Kompression. Der Verräumlichung der Zeit entspricht die Verzeitlichung des Raums. Form und Material, Bild und Realität verflüssigen sich (Flow of Spaces). Die Stadtlandschaft wird fragmentiert und die Teile, Quartiere usw. bekommen eine Eigengeschwindigkeit. Die einzelnen Räume bzw. ›Streuelemente‹ werden neu zusammengesetzt und laufen im Space of Flows ein. Es sind Datenflüsse im virtuellen Raum, gebündelt an einem Ort, wo wir gleichzeitig sind, aber nicht selbst. Trotz der Gleichzeitigkeit bleiben die Informationsflüsse ständig in minimal devianter Bewegung.
10 In seiner Ville contemporaine wollte Le Corbusier das ›Gehirn der Stadt‹, die technischen Kommunikations- und Steuerungskanäle, in zentralen Hochhäusern bündeln. Im Zentrum sah er einen Landeplatz für ›Lufttaxis‹ vor. Solche Planungsideen wurden 1948 für den Berliner Bahnhof Zoo aufgegriffen (vgl. Krohn 2010: 131-133). 11 Eine Künstlergruppe entwarf Too Smart City. Parkbänke erkennen Penner und werfen sie ab (vgl. StadtBauwelt 2011: 57).
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Die Netzwerkstrukturen sind liquide. Der virtuelle Standort ist der eines Nicht-Ortes (vgl. Augé 1994), genauer eines Dritten aus Ort und Nicht-Ort, einer Heterotopie. Wer das nicht aushält, muss am Handy die Frage stellen: Wo bist Du gerade? Korrespondiert dem Ubiquitären der Kommunikation ein Ubiquitäres der Stadt? In Südkorea sollen Dutzende von ubiquitären Städten errichtet werden. Die bekannteste U-City, New Songdo bei Seoul, wird auf einer künstlichen Insel für 75.000 Einwohner erbaut und hat schon einen Teilbetrieb aufgenommen (vgl. Hatzelhoffer 2011). Alle urbanen Funktionen sind vernetzt. Überall – in Gebäuden wie im öffentlichen Raum – sind Sensoren auf der Basis von radio-frequency identification installiert, und die bei einer zentralen Kontrollstelle gesammelten Informationen sind von jedem Einwohner abrufbar. Die vernetzten Objekte reagieren auch untereinander. Die Stadt wird zum System der Automation. Visionäre einer unendlichen Schaltkreis-Verlängerung sehen das Glück voraus, dass der Staat überflüssig ist, wenn die Steuerung total geworden ist. Neu gegründete Smart Cities erlauben, den Bau der Stadt der Architektur des Netzwerks anzupassen, einer Hierarchie aus Zentralität und Knotenpunkten. Wird Le Corbusiers Idealstadt verwirklicht? In Deutschland wurde unter Regie der Telekom auf Breitband- und WLAN-Basis ein Modellprojekt in einer organisch gewachsenen Stadt durchgeführt, in Friedrichshafen am Bodensee. Teilprojekte waren u.a. die intelligente Hausvernetzung, eine ›interaktive Lernplattform‹ und Schnittstellen zur Verwaltung wie E-Partizipation. Die Resonanz bei den Friedrichshafener Bürgern und Verwaltungsmitarbeitern war gering. Eine der meist gepriesenen Errungenschaften des E-Government, dass Bebauungsund andere Pläne online gestellt werden und die Bürger ebenso darauf reagieren können, mündet zumindest in Mitteleuropa mittelfristig in Ernüchterung. Sowohl die Mitarbeiter der Ämter als auch die Bürger ziehen es in einer geschichtsträchtigen Mittelstadt wie Friedrichshafen vor, wenn die Pläne persönlich erläutert werden (vgl. Hennemann/Wiegandt 2010). Nimmt man die schon abgestandene Erkenntnis hinzu, dass 55 % der Kommunikation aus Körpersprache, 38 % aus der Stimmlage bestehen und erst die restlichen 7 % auf die verbale Mitteilung beschränkt sind, wird verständlich, warum Faceto-Face beliebter als Interface ist und wird ebenso verständlich, warum etwa bei Videokonferenzen durch verzerrte und isolierte Körpersignale die Aggressions- und Diskriminierungsschwelle früher überschritten wird.
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Wie stehen nun reale Verkehrsräume und digitale Fließräume zueinander? Hebt die Virtualisierung der sozialen Beziehungen im Space of Flows die funktionsgeteilte Stadt der mit Verkehrsmitteln zurückzulegenden langen Wege auf? Die Tendenz, Arbeitsplätze in die Privatwohnungen zu verlegen, Einkäufe und Formularkram von zu Hause aus zu erledigen und Teile der Freizeit am Gerät zu gestalten, wird zunehmen. Bei der neuen Form von Heimarbeitsplätzen zählt nur, was abgeliefert wird, nicht aber, wo es produziert worden ist. Die ›Ballungslogik‹ der Städte ist deswegen nicht aufgehoben, im Gegenteil: Stadtmetropolen werden zu »privilegierten Innovationsfeldern der Wissens- und Kulturproduktion« sowie »Inkubatoren neuer postindustrieller Arbeits- und Lebensformen« (Läpple 2007). Zu Hause arbeiten heißt nicht, sich in Splendid Isolation zu begeben. Die Umgebung der Wohnung wird vielmehr dadurch zum Milieu, dass der TeleHeimarbeiter schnell in räumlicher Nähe Hilfe zu Problemlösungen findet. Schnittstellen zu Standorten des produzierenden Gewerbes bleiben generell bestehen. Durch die Netzwerkgesellschaft sind persönliche Netzwerke nicht ausgeschaltet, selbst wenn die Kreise nicht kongruent sind. Diese Milieus sind nicht nur berufliche, sondern zugleich soziokulturelle. Es ist gut zu wissen, was wo physisch zu erreichen ist, und wenn das Auto für die Arbeit nicht mehr erforderlich ist, gilt es auch außer der Arbeit als Vorteil, wegen geringer Wegstrecken darauf verzichten zu können oder auf das Fahrrad umzusteigen. Das digitale Global Village hat ein neues regionales Pendant bekommen – die Quartiere der Großstadt. Die Re-Urbanisierung verstärkt diesen Prozess: Die Qual des Pendelns ist für die städtischen Remigranten beendet. In europäischen Städten nimmt der Autoverkehr relativ zum Land ab. Das Auto ist in der Stadt-Umland-Beziehung, die es selbst geschaffen hat, zu seinem eigenen Opfer geworden. Wenn auch die Suburbanisierung an ihre Grenzen gestoßen ist, bedeutet das nicht zwangsläufig die Rückkehr zur kompakten europäischen Stadt. Abgesehen von Megastädten herrscht weltweit ein Trend zur Polyzentrierung vor, indem sich technologische Cluster aus benachbarten Sparten bilden. Das kann ein Wissenschaftscampus in der Stadt, das kann ein Gesundheitszentrum vor der Stadt sein. Der Begriff der Satellitenstadt erfährt hier eine neue Konnotation. Technologische und menschliche Netzwerke nähern sich hier wieder an. Der innerstädtische Kfz-Verkehr in den europäischen Metropolen ist rückläufig. Die pro Strecke gefahrenen Kilometer werden weniger. Junge Erwachsene machen ihren Führerschein später. Wie Der Spiegel berichtete:
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Facebook ist wichtiger als das Auto (vgl. Reidl 2011). Dieses dient nicht mehr zur Selbstverwirklichung, wenn die Priorität auf einem Lifestyle of Health and Sustainability (LOHAS) liegt. Unter verschiedenen Verkehrsmitteln wird der private Pkw komplementär. Ziel der E-Mobility ist es, alle Verkehrsmittel zu vernetzen und per Smartphone-App dem Nutzer Strecken mit der jeweils günstigsten Kombination vorzuschlagen. Um die Fahrkarten im elektronischen Buchungssystem zu vereinheitlichen, sollten die Mobilitätsdienstleister deutschlandweit einen Verbund eingehen. Das Smartphone kommt auch beim Carsharing zur Ortung des jeweils nächstgelegenen Fahrzeugs per GPS zum Einsatz, sofern es sich um die nicht-stationengebundene (free floating) Variante handelt. Sozialökonomisch und sozialpsychologisch entscheidend an diesen neuen Systemen ist die Entkoppelung von Nutzung und Eigentum. Ein lockeres Verhältnis zum Eigentum an Fortbewegungsmitteln verträgt sich gut mit LOHAS oder mit dem Begriff des Fremden, den Georg Simmel klassisch für den Großstädter entwickelt hat. Da es um ›die Straße‹ geht, würde eine vorsichtige Emanzipation von der Eigentumsposition ›schrittweise‹ die Disposition der Bürger erhöhen, öffentlichen Raum als Agora für die Stadt zurückgewinnen. Oder bescheidener: als Shared Space unter Eindämmung von Angst- und Überwachungsräumen. Über der Verlautbarung günstiger Prognosen wird übersehen, dass kleinere, meist akademische Milieus ihren ganz bestimmten Denkstil geistig auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen, bis sie von dem realen Sein ihrer Aussagen überzeugt sind. Wenn nicht hinzugedacht wird, welche Kräfte dieser intellektuellen Spielart positiven Denkens entgegenstehen, wird es schnell zur Ideologie und verpufft. Weltweit wird sich die Zahl der Fahrzeuge in den nächsten dreißig Jahren verdoppeln. Aus den Rio-Konferenzen abgeleitete Erwartungen, durch geänderte Proportionen im Verkehrsmittelaufkommen die Reduktionsziele für Treibhausgase bis 2050 zu erreichen, decken sich nicht mit den immer kürzer werdenden Zyklen von Symbolpolitik. Das wissen Ankündigungspolitiker am besten. Die Verheißung gilt schon als Erfüllung in der Massenpsychologie. In der Verknüpfung mit Marketing hieß Politik einmal Propaganda. In diesen symbolischen Zusammenhang gehört auch die Begrenzung auf noch so löbliche kommunale Modellversuche. Die Auswertungen der Erfahrungen mit Carsharing und Carpooling sind eher durchwachsen (vgl.
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Büttner 2011).12 Die Branche erobert gerade eine Marktnische. Der Ansatz, mit besser ausgenutzten Kfz den Kfz-Verkehr insgesamt zu reduzieren, scheint ein kleiner pragmatischer Schritt zu sein. Der Anteil von Elektromobilen ist hingegen so marginal, dass für die Zukunft noch keine Aussagen getroffen werden können. Sie sind z.Zt. dreimal so teuer wie benzingetriebene Fahrzeuge und auch das Zapfsäulennetz wird sich mittelfristig nicht rentieren. Argumentativ ist jedoch gut abzuwägen. Fatal wäre ein Rückzug von Umweltzielen unter Hinweis darauf, dass es in anderen Ländern mit den Bilanzen noch viel schlechter bestellt ist.13 In der Sozialpsychologie wird das die ›Haltet-den-Dieb-Methode‹ genannt. Auf der anderen Seite wäre die Emphase einer Moral, die weiß, was zum ökologisch ›guten Ton‹ gehört, nur der Ausdruck davon, dass die Schwäche einer Bewegung sich gegen diese selbst wendet. Sogar die Vorteile, welche die Virtualisierung der Sozialbeziehungen städtebaulich bietet, könnten schnell verspielt sein. Gern wird das Image des neuen Kreativen verbreitet, der mit seinen Geräten am überseeischen Urlaubsstrand seinen Geschäften nachgeht. Die mobile elektronische Ausrüstung hat den paradoxen Effekt, die physische Mobilität zu erhöhen. Der Flugverkehr nimmt relativ zu. Die Funktionsteilung der Charta von Athen ist global geworden. Gentrifizierte Raumpioniere wohnen in Berlin, haben ihre Galerie in New York und rekreieren auf den Färöer-Inseln. Zumindest müssen sie so tun. Die Außendarstellung verschafft Party-Platzvorteile. Virtuell sind sie immer bei sich und immer woanders. Sie scheinen Wilhelm Busch missverstanden zu haben: ›Schön ist es auch anderswo, hier bin ich ja sowieso.‹ Technik ist zur konfektionellen Spielmarke im Identitätsdesign geworden und in den permanenten Zwang zur Effizienzsteigerung ist nicht einfach nur Obsoleszenz eingebaut, sondern diese wird zum Selbstzweck. Das heißt profan: Eine Sehnsucht nach Anachronismus, nach der Wagenburg, erfasst die in die Maschine:Maschine-Kommunikation eingespannten Menschen. Die ›Dialektik der Aufklärung‹ besteht fort. Die wahre Obsoleszenz ist der Mensch. An dieser Stelle kommt noch einmal das SUV ins Spiel, die
12 Die Anbieter frei im Straßenland verfügbarer ›Teilautos‹ haben bis heute nicht die Gewinnzone erreicht, wie aus einer Pressekonferenz des Bundesverbands Carsharing vom 26.02.2013 hervorging. 13 Dies ist das Argument von Hans-Werner Sinn vom ifo Institut.
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Insignie der Nützlichkeit des Nutzlosen. »Das Sport Utility Vehicle ist ein im Verhältnis zu groß geratener und mit viel Zierblech und Breitreifen aufgerüsteter Geländewagen, der zunächst nur vom Militär…« (Lock/Schimanski/ Wolf 2004: 4), heute jedoch vom Justemilieu benutzt wird. Es ist Sinnbild für ein mit Allmachtsdenken durchsetztes Alltagsverhalten und »symbolisiert Abgrenzung, erhöhtes Sicherheitsbedürfnis und Energieverschwendung« (ebd.). Auf die aufgeblähteren Versionen passt der Spitzname Suburban Assault Tractor. Dadurch, dass ihre Knautschzonen denen anderer Fahrzeuge überlegen sind, bieten die Vehikel ›präventiven Schutz‹. Im Kalten Krieg lautete der entsprechende Begriff ›Vorwärtsverteidigung‹. Die SUVs gehören zu dem Typus von Fahrzeugen, bei denen eine generelle Verringerung des Kraftstoffverbrauchs durch eine höhere PS-Zahl wettgemacht ist. Hinzu kommt der größere Luftwiderstand. Gleichwohl wird auch diesen Fahrzeugen der ökologische Mantel umgehängt. Die Camouflage wird durch eine irreführende Gewichtsklassen-Einteilung verstärkt, die den Verbrauch künstlich herunterrechnet (vgl. Verbraucherzentrale 2012: 26).14 Auf die Frage, warum die Automobilindustrie wider besseres Wissen solche Wagentypen anbietet, antworten deren Funktionäre: Der Kunde will es so. Was hierbei Angebot, was Nachfrage ist, muss offen bleiben. Damit es kein SchwarzerPeter-Spiel wird, werden die scheinbar günstigen Verbrauchs- und Emissionswerte diffus obendrauf gesetzt. Die Residuen eines schlechten Gewissens beim Kauf sind bereinigt. Nicht nur beim Automobil liefern die angepriesenen ökologischen Aktiva einer Ware die ›Lizenz zum Kaufen‹ – obwohl der größere ökologische Gewinn meist in der Vermeidung des Kaufs läge. Den Widersinn macht ein klassischer Slogan der Lebensmittelwerbung deutlich: Iss Dich schlank! Auf das verhandelte Thema übertragen: Fahre das neueste Modell und Du schonst die Umwelt. Vor diesem Hintergrund bekommen von der Automobilindustrie unterstützte Modellversuche zu elektrischen und automatischen Fahrzeugen usw. Alibifunktion. Real hinkt die Branche bei der Reduktion von Treibhausgasen hinterher. Es würde nicht gelingen, die heutigen Formen des demonstrativen Konsums durch politische oder erzieherische Eingriffe zu reglementieren. Die
14 Im Ländervergleich sowie auf der Ebene europäischer Gesetzgebung und Verordnungen genießen große Limousinen den besonderen Schutz der deutschen Bundesregierung.
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Motive für diesen Konsum sind zu stark, weil subversiv. Aber die elektronische Vernetzung der Sozialräume ist die Bedingung der Möglichkeit, Angebote zum Absprung zu machen. Die Zusammenführung von Wohnen, Kochen, Essen und Arbeiten in der neuen Form des ›ganzen Hauses‹, im Loft (und inzwischen auch kleineren Einraumwohnungen), geht in der Straße, im Quartier, in der Stadt weiter. Neu zu errichtende städtische Wohnkomplexe sollten eine hohe soziale, geschäftliche und kulturelle Durchmischung aufweisen. Sie könnten dem noch nicht gebrochenen Trend zu Malls entgegenwirken und die großräumlich funktionsgeteilte Stadt15 aufheben. Gründerzeitliche oder ältere Quartiere eignen sich als Vorbild für diesen Stadtumbau, denn sie wiesen die Mischung bereits einmal auf. Wo diese Mischung wieder funktioniert, kann der vielbeschäftigte Bewohner einer Bürooder Atelier-Wohnung, wenn ihm die Luft zu dick ist oder Geschäftspartner sich angesagt haben, mit dem Laptop aus dem Haus treten und sich ein paar Schritte weiter im Straßencafé niederlassen, wo vielleicht schon die Hausnachbarn am Nebentisch sitzen. Für den weniger Beschäftigten hat, wie in Berliner Altbauvierteln üblich, der Imbiss oder Spätkauf ein, zwei Tischchen auf den Bürgersteig gestellt. Carlofts sind eine Verhöhnung dieser Entwicklung. Genossenschaftliche Projekte für autofreies Wohnen haben dagegen immer noch Pioniercharakter. Wenn die Räume auch ineinander übergehen, würde die Abkehr von der Funktionsteilung nicht die aufgelockerte Stadt aufheben. Aber die Auflockerung wäre kleinteiliger. Plätze könnten dem Autoverkehr abgerungen werden, um sie überhaupt wieder sichtbar zu machen. Aufschlussreich ist der Vergleich heutiger Plätze mit der Abbildung auf historischen Postkarten.16 Hinzu käme die Ausgestaltung von Zwischenräumen, die in den letzten Jahrzehnten durch die spontane Bildung von Brachen entstanden sind:
15 Sie war schon auf dem ersten CIAM-Kongress von 1928 und noch früher von Le Corbusier gefordert worden. 16 Von Fall zu Fall gibt es andere Möglichkeiten. Der innerstädtische Berliner Ernst-Reuter-Platz, in den Fünfziger/Sechziger Jahren als riesiger Verkehrskreisel um eine Grünfläche mit Wasserspielen in asymmetrischer Geometrie konzipiert, böte Anreiz für einen gleichberechtigten Umgang mit dem Autoverkehr, wenn nur den Passanten, Studenten und Geschäftsleuten die Chance für eine kleine grüne Pause auf dem Rondell eingeräumt würde. Das lag im ursprünglichen Konzept, aber der Autoverkehr verdrängte den Rest.
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Patches, Übergänge und Klimaschneisen. Wahrung von Sichtachsen und Freiraum-Bändern. Stadtumbau im Zeichen der Re-Urbanisierung heißt nicht, alles mit Townhouses volllaufen zu lassen, die meist nach außen abgeschottet sind und Langeweile verbreiten. Ist diese Darstellung zu euphemistisch, zu ›propagandistisch‹, wie oben geschrieben? Ausgeblendet sind die Gegenkräfte, der immer stärkere Investitionsdruck, der auf städtischen Immobilien lastet. Die Durchmischung droht durch die Gentrifizierung in Entmischung umzuschlagen, in eine soziale und räumliche Segregation. Hartz IV-Empfänger werden in Berlin an die Peripherie gedrängt, etwa in die Plattenbauten der DDR-Variante der Nachkriegsmoderne. In jedem städtebaulichen Problem steckt ein sozialer Kern. Das war schon den Planern und Architekten des legendären CIAM von 1933 und den Entwerfern der Frankfurter, Stuttgarter oder Wiener Küche bekannt. Sie können heute wie damals nur dann zur Lösung des Problems beitragen, wenn es als soziale Auseinandersetzung begriffen wird. Bauen heißt Begreifen.
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Fragilität
Deutschlands Energiewende Zukunftsweisende Vision oder realitätsferner Sonderweg? G ERD G ANTEFÖR
›Nachhaltigkeit‹ wird von vielen Bürgern in Deutschland als oberstes Prinzip für alle Entscheidungen angesehen. Der Lebensraum Erde soll möglichst unverändert an die nachfolgenden Generationen übergeben werden. Angewendet auf das Problem der Energieversorgung führt dies zu einer Ablehnung der Kernenergie, da dabei das Risiko einer jahrtausendelangen Verstrahlung ganzer Regionen besteht. Weiterhin müssen die fossilen Energien Kohle, Erdgas und Erdöl durch erneuerbare Energien ersetzt werden, da das Kohlendioxid, das bei der Verbrennung entsteht, eine Klimaerwärmung verursacht. Parteien und Bürger sehen diese deutsche Energiewende als den Beginn eines neuen Zeitalters und alle anderen Länder der Erde sollen dem Vorbild Deutschlands folgen. Die höchste Priorität beim deutschen Weg zu einer nachhaltigen Bewahrung des Lebensraums Erde hat der Ausstieg aus der Kernenergie. Dieser Ausstieg wäre mit dem Umstieg auf die Stromerzeugung aus Kohle und Erdgas relativ leicht zu bewältigen. An zweiter Stelle steht jedoch die Forderung nach einer drastischen Reduktion der Treibhausgasemissionen. Die Mittel zur Umsetzung dieses Ziels sind zum einen der Umstieg auf die erneuerbaren Energien und zum anderen das Energiesparen. Letzteres ist auch deswegen notwendig, da die Energie durch den Umstieg auf erneuerbare Ressourcen knapper und teurer werden wird. Für Deutschland ist die Umstellung auf die erneuerbaren Energien bei der Stromerzeugung zwar teuer, aber machbar. Die Stromerzeugung macht allerdings nur rund ein
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Fünftel des gesamten Energieverbrauchs aus. Die Erzeugung des gesamten Primärenergieverbrauchs aus erneuerbaren Energien ist daher ein sehr viel ambitionierteres Ziel. Die Umstellung auf die erneuerbaren Energien soll den globalen Kohlendioxidausstoß eindämmen. Dazu müssten aber auch alle anderen Länder ihren Ausstoß reduzieren. Tatsächlich ist aber im Jahr 2010 der globale Kohlendioxidausstoß so stark gestiegen wie niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Diese große Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis lässt Zweifel am Sinn der deutschen Energiewende aufkeimen. Konkret stellen sich zwei Fragen: • •
Werden die anderen Länder dem deutschen Vorbild folgen? Ist die Energiewende ein wirksames Mittel gegen die Klimaerwärmung?
In den ersten beiden Teilen des vorliegenden Beitrags werden diese Fragen beantwortet. Im dritten Teil wird ein neuer Weg zu einer langfristigen Stabilisierung der Lebensbedingungen aufgezeigt. Es wird sich zeigen, dass der heute so allgemein verwendete Begriff ›Nachhaltigkeit‹ neu interpretiert werden muss, um zukunftsfähige Handlungen von solchen, die ohne Relevanz für die Zukunft sind, unterscheiden zu können.
1. W ERDEN
DIE ANDEREN L ÄNDER DEM DEUTSCHEN V ORBILD FOLGEN ?
1.1 Die deutsche Energiewende Die deutsche Energiewende hat zwei Ziele. Das erste Ziel ist der ›Ausstieg‹ aus der Kernenergie. Dies würde sich relativ leicht durch einen Ersatz der Kernkraftwerke durch Kohle- und Erdgaskraftwerke erreichen lassen. Allerdings widerspricht dieses Vorgehen dem zweiten Ziel der Energiewende: dem Klimaschutz, also der Verringerung der Treibhausgasemissionen. Dieser zweite Teil der Energiewende betrifft die gesamte Primärenergieerzeugung und damit eine rund zehnmal höhere Energiemenge als der Ausstieg aus der Kernenergie. Nicht nur die Stromerzeugung, sondern auch der Treibstoffverbrauch der Fahrzeuge, die Raumheizung und die industrielle Prozesswärmeerzeugung müssen auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Bisher (Stand 2011) stammt der weitaus größte Teil der
D EUTSCHLANDS ENERGIEWENDE
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Energie in Deutschland aus den drei fossilen Energieträgern Erdöl, Erdgas und Kohle sowie der Kernenergie. Im Rahmen der Energiewende sollen diese vier klassischen Energien durch die erneuerbaren Energien ersetzt werden. Es gibt vier ›grüne‹ Energien, die nennenswert zur Primärenergieversorgung einer Industriegesellschaft beitragen können: Biomasse1, Wasser, Wind und Sonne. Für die Versorgung einer Industriegesellschaft werden Leistungen von einigen 100 Milliarden Watt benötigt. Viele der neuen sauberen Energien wie Geothermie oder Wellenkraftwerke werden auch in zwanzig Jahren nur einige 10 oder 100 Megawatt an Leistung liefern können und werden daher für die Versorgung Deutschlands auch mittelfristig keine Rolle spielen. Es gibt also nur vier erneuerbare Energien, die als Ersatz für die konventionellen Energien in Frage kommen. Inzwischen wird mehr als 20 % des Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugt und diese Zahl suggeriert, dass die Energiewende bereits große Fortschritte gemacht habe. Aber die Elektrizität macht nur ein Fünftel des gesamten Endenergieverbrauchs aus. Tatsächlich lag 2011 der Anteil der erneuerbaren Energien bei 11 % der Gesamtenergieerzeugung. Davon stammt der Großteil (7,7 %) aus der Biomasse. Ein weiterer Ausbau dieser Energiequelle wäre aber angesichts einer halben Milliarde weltweit hungernder Menschen unverantwortlich. Deutscher Biodiesel und Bioethanol werden aus ärmeren Ländern importiert. Der Anbau der Energiepflanzen führt dort zur Abholzung riesiger Waldflächen, was wohl kaum das Ziel einer verantwortlichen Klima- und Umweltpolitik sein kann. Auch der Anbau von Energiepflanzen in Deutschland bewirkt indirekt eine Zunahme des Hungers in der Welt, denn Deutschland muss immer mehr Lebensmittel auf dem Weltmarkt einkaufen und treibt damit die Preise weiter nach oben. Global gesehen ist die Energieerzeugung aus Energiepflanzen wie Mais ohnehin unsinnig, denn die Menschen in den ärmeren Ländern benötigen ihre Ackerfläche dringend für die Nahrungsmittelerzeugung. Eine sinnvolle Energiewende kann also nur auf drei Energien – Sonne, Wind, Wasser – basieren.
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Zu dieser Klasse gehören z.B. Biogase, die aus Holz, Stroh, Mais und Bioabfällen gewonnen werden, und Biotreibstoffe aus Palmöl oder Soja.
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Abbildung 1: Vergleich des deutschen Primärenergiemixes (Stand 2011) mit dem globalen Mittelwert aus dem Jahr 2006
Quelle: Gerd Ganteför, erstellt nach den Energiedaten des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie
Diese Energien trugen in Deutschland im Jahr 2011 mit lediglich 2,4 % zur Primärenergieerzeugung bei, während 87,5 % von den klassischen Energien stammten (siehe Abb. 1). Von den drei verbleibenden erneuerbaren Energien fällt aber noch eine weitere Energie aus: die Wasserkraft. Die Möglichkeiten der Energiegewinnung aus Laufwasserkraftwerken und Stauseen sind in Deutschland nahezu ausgeschöpft und ein weiterer Ausbau ist kaum noch möglich. Die Energiewende kann also nur auf dem Ausbau von Wind- und Sonnenenergie beruhen (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2012). Die deutsche Energiewende steht noch ganz am Anfang und bis heute unterscheidet sich der deutsche Primärenergiemix nur unwesentlich vom globalen Durchschnitt (siehe Abb. 1). Im Jahr 2011 betrug der Anteil der fossilen Energieträger Kohle, Erdöl und Erdgas in Deutschland 78,8 %, während der weltweite Mittelwert im Jahr 2006 bei 80,9 % lag. Dieser kleine Unterschied rechtfertigt keine Vorreiterrolle Deutschlands und es ist offensichtlich noch ein weiter Weg bis zu einer klimarelevanten Umsetzung der Energiewende. Obwohl die deutsche Energiewende gerade erst begonnen hat, steigen die Kosten für die Volkswirtschaft bereits merklich. Einkommensschwache Haushalte können ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen und energieintensive Unternehmen drohen mit der Abwanderung ins Ausland. Wie viel
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die Energiewende schließlich kosten wird, ist schwer abzuschätzen. Ein Kostenvergleich der konventionellen und der erneuerbaren Energien wird durch die unterschiedliche Besteuerung und Förderung der verschiedenen Energieformen erschwert. Die fossilen Energien unterliegen hohen Abgaben und Steuern, während die erneuerbaren Energien von Steuern und Abgaben weitestgehend befreit sind und zusätzlich durch vielfältige Programme auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene direkte Fördermittel erhalten. Auf der Basis der EEG-Umlage2 ist es aber trotzdem möglich, zumindest eine grobe Kostenschätzung durchzuführen. Diese Umlage wird auf den Strompreis aufgeschlagen, den jeder Stromkunde bezahlen muss. Die Gelder werden für die Zahlung der Einspeisevergütungen an die Besitzer von Photovoltaikanlagen, Windparks und Biomassekraftwerken verwendet. Im Jahr 2010 betrug die Einspeisevergütung 3,6 Eurocent pro Kilowattstunde (kWh). Der Anteil der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch lag damals bei 17 %. Unter der Annahme, dass alle Stromkunden die EEG-Umlage bezahlen, lassen sich nun die jährlichen Gesamtkosten für den 17 %-Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung ausrechnen: 18 Milliarden Euro.3 Würde der Anteil der erneuerbaren Energien bei ansonsten gleichen Bedingungen auf 85 % steigen, ergäbe dies jährliche Kosten von 90 Milliarden Euro. Für die vierzig Millionen Haushalte in Deutschland ergibt dies wiederum eine monatliche Belastung von 188 Euro (siehe Abb. 2). Nur ein kleiner Teil dieser Summe wird auf der Stromrechnung erscheinen. Bei der Abschätzung handelt es sich um eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, denn die erhöhten Stromerzeugungskosten schlagen sich in unzähligen Preiserhöhungen aller Produkte nieder, die zu ihrer Herstellung Strom benötigen. Ein Beispiel sind die Bahnpreise, die aufgrund höherer Stromkosten bereits heute ansteigen. Die errechnete Summe von 188 Euro beinhaltet diese Preiserhöhungen und die höhere Stromrechnung für den Privathaushalt.
2
EEG: Kurztitel für Erneuerbare-Energien-Gesetz (Gesetz für den Vorrang Er-
3
Diese Zahl ergibt sich aus der Multiplikation von 3,6 Cent pro kWh mit dem
neuerbarer Energien). Endenergieverbrauch (nur Strom) von 500 Milliarden kWh. Dabei wird angenommen, dass alle Stromkunden die EEG-Umlage bezahlen. Da das nicht der Fall ist, ergibt die Rechnung einen zu hohen Wert. Da aber auf der anderen Seite viele direkte Fördermittel und Steuererleichterungen nicht erfasst werden, ergibt sich ein zu niedriger Wert. Beide Fehler kompensieren sich möglicherweise.
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Abbildung 2: Tabelle zur Kostenschätzung der beiden Teilziele der Energiewende auf der Basis der EEG-Umlage im Jahr 2010 Kostenschätzung
Referenzjahr 2010
EEG-Umlage
3,7 ct/kWh
Anteil Erneuerbare Energien
17 %
Stromverbrauch:
500 Milliarden kWh 2.500 Milliarden kWh
Primärenergieverbrauch: Anteil
Gesamtkosten
pro Haushalt und Monat
17 % Strom
18 Milliarden
37,5 Euro
85 % Strom
90 Milliarden
188 Euro
60 % Primär
318 Milliarden
662 Euro
Quelle: Gerd Ganteför
Das zweite Ziel der Energiewende, der 60 %-Umstieg bei der Primärenergieerzeugung, betrifft eine sehr viel größere Energiemenge und ist nach heutigen Bedingungen unbezahlbar. Die monatliche Belastung läge bei über 600 Euro pro Haushalt. In der Zukunft werden die Preise für die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien weiter sinken, aber es werden Belastungen für den Netzausbau, die Speicherung und die Bereitstellung von Reservekraftwerken hinzukommen, die bisher in der Abschätzung nicht berücksichtigt wurden. Daher ist es durchaus möglich, dass die Zahlen in Abbildung 2 nicht so weit von der Realität entfernt sind. 1.2 Die globale Lage Abbildung 3a zeigt die weltweite Entwicklung des Primärenergieverbrauchs und der Kohlendioxidemissionen über die letzten zwanzig Jahre. Beide Größen sind um 40 % angestiegen. Die Kohlendioxidkurve folgt dabei fast deckungsgleich der Entwicklung des Energieverbrauchs, weil der weitaus größte Teil der Energie aus der Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas stammt. Abbildung 3a zeigt auch die Entwicklung der Weltbevölkerung, die im gleichen Zeitraum um 30 % zugenommen hat. In Zahlen heißt dies, dass die Menschheit alle zwölf Jahre um eine Milliarde Menschen anwächst. Eine Milliarde Menschen leben zurzeit in Afrika. Um also die Bevölkerungsdichte konstant zu halten, wäre alle zwölf Jahre ein neuer Kontinent der Größe Afrikas notwendig.
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Abbildung 3a und 3b:
3a: Wachstum der Weltbevölkerung, des globalen Primärenergieverbrauchs und der weltweiten Kohlendioxidemissionen während der letzten zwanzig Jahre. Referenzwert sind die Zahlen für 1990 (= 100 %). 3b: Entwicklung der Kohlendioxidemissionen während der letzten zwanzig Jahre in China, Deutschland und Afrika. Quelle: Gerd Ganteför
Die Bevölkerungsdichte ist ein wichtiger Parameter für die Energiewende. Aus der Fläche eines Landes lässt sich nur eine begrenzte Menge an Energie aus Wasser, Sonne, Wind und Biomasse gewinnen. So wäre es zum Beispiel einfach, Deutschland ausschließlich aus erneuerbaren Energien zu versorgen, wenn die Bevölkerungszahl unterhalb von zwanzig Millionen läge und damit die Bevölkerungsdichte fünffach geringer wäre. Das starke Wachstum der Weltbevölkerung erschwert einen globalen Umstieg auf die erneuerbaren Energien und es ist fragwürdig, ob der Ausbau dieser Energien mit der Bevölkerungszunahme Schritt halten könnte, selbst wenn alle Länder den Umstieg anstreben würden. Bis zum Jahr 2003 folgt die Kurve des Energieverbrauchs der Zunahme der Weltbevölkerung, da mehr Menschen mehr Energie verbrauchen. Aber in den letzten Jahren stieg der Energieverbrauch sogar stärker an als die Zahl der Menschen. Es gibt nicht nur mehr Menschen, sondern gleichzeitig
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steigt auch deren Lebensstandard und damit der Pro-Kopf-Energieverbrauch. Das globale Bruttoinlandsprodukt hat sich in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt und für viele Menschen bedeutet dies, dass sie aus der bittersten Armut entkommen konnten. Der Anstieg des globalen Lebensstandards ist also eine positive Entwicklung, auch wenn er mit einem noch stärkeren Anstieg des Energieverbrauchs verbunden ist. Primärenergieverbrauch und Kohlendioxidemissionen sind in den letzten zwanzig Jahren nur einmal gesunken (im Jahr 2008, vgl. Abb. 3a). Ansonsten sind die Emissionen immer von Jahr zu Jahr gestiegen. Die Ursache für die Abnahme waren aber nicht die Sparbemühungen der internationalen Gemeinschaft, sondern die Finanz- und Wirtschaftskrise. Schwere Wirtschaftskrisen bewirken eine Drosselung der Industrieproduktion und eine allgemeine Abnahme des Lebensstandards. In der Folge nimmt der globale Energieverbrauch ab. Diese gegenseitige Abhängigkeit von Energieverbrauch, Wirtschaftsleistung und Lebensstandard macht es schwierig, Energie zu sparen. Energiesparmaßnahmen wie die Einführung von CO2Zertifikaten oder die Erhöhung der Strompreise senken den Lebensstandard. In den reichen Ländern mögen solche Maßnahmen keine gravierenden Folgen haben, aber für die halbe Milliarde Menschen, die in bitterster Armut lebt, ist das nicht akzeptabel. Die einzelnen Länder tragen unterschiedlich stark zu den weltweiten Kohlendioxidemissionen bei. Abbildung 3b zeigt als Beispiel die Veränderung der Kohlendioxidemissionen für drei ausgewählte Länder und Regionen: Deutschland, Afrika und China. Die Emissionen in Deutschland sind um rund 20 % gesunken, während parallel die etwa gleich großen Emissionen in Afrika langsam ansteigen. Deutschland emittiert so viel Kohlendioxid wie ganz Afrika. Viele Menschen in Afrika sind unvorstellbar arm und verbrauchen daher kaum Energie. Die Lebenserwartung ist eng mit dem Lebensstandard verknüpft und in einigen Ländern südlich der Sahara liegt sie sogar unter fünfzig Jahren (zum Vergleich, in Deutschland liegt diese bei rund achtzig Jahren). Auch hier wird die enge Verknüpfung zwischen Lebensstandard und Energieverbrauch deutlich. Abbildung 3b zeigt aber auch, dass es praktisch keine Rolle spielt, wie sich die Kohlendioxidemissionen in Deutschland oder in Afrika verändern. In den bevölkerungsreichen Schwellenländern mit ihrem starken Wirtschaftswachstum sind die Kohlendioxidemissionen in den letzten Jahren extrem stark angestiegen und dominieren die globale Veränderung der Emissionen. Allein in China
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steigen die Emissionen in zwei Jahren um den Betrag an, den Deutschland jährlich insgesamt emittiert. Würde also Deutschland seine Emissionen auf Null reduzieren, würde diese Einsparung innerhalb von zwei Jahren allein durch den Zuwachs in China kompensiert werden. Dort ging während der letzten zehn Jahre im Durchschnitt jede Woche ein neues Kohlekraftwerk ans Netz. 1.3 Die Situation in den wenig entwickelten Ländern Die Energiewende ist also teuer und wird in Deutschland zu großen Belastungen für die Bürger und die Industrie führen. Eine vernünftige obere Grenze für die Ausgaben einer Volkswirtschaft für die Energie liegt bei 10 % des Bruttoinlandsprodukts. Jeder Prozentpunkt mehr würde Kürzungen in anderen Bereichen wie der Bildung, den Sozialausgaben oder im Gesundheitssystem mit sich bringen. Das gilt auch für Länder mit einem sehr viel geringeren Volkseinkommen und diese Länder können sich daher nur sehr preiswerte Energien leisten. Abbildung 4 zeigt den Zusammenhang zwischen dem Bevölkerungswachstum und der Armut. Das Pro-KopfBruttoinlandsprodukt wird als Maß für den Lebensstandard genommen und kann vereinfachend als mittleres Jahreseinkommen angesehen werden. Für eine stabile Bevölkerung sollte die Geburtenrate zwischen zwei und drei Kindern liegen. Das Bevölkerungswachstum findet hauptsächlich in den bitterarmen Ländern statt, die ein jährliches Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt von weniger als 1.500 US-Dollar aufweisen. Die Menschen in diesen Ländern leben also von weniger als einem Fünfzigstel des Durchschnittseinkommens eines Deutschen. Sie können daher auch nur entsprechend weniger für die Energie bezahlen. In Abbildung 4 wird als Armutsgrenze ein Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt von 1.500 US-Dollar angenommen, da unterhalb von diesem Wert die Geburtenrate stark ansteigt. Die Länder, die sich in dieser Zone großer Armut befinden, haben zusammen etwa drei Milliarden Einwohner. Ein Beispiel für einen extrem hohen Grad an Armut ist Bangladesch. In diesem Land leben doppelt so viele Menschen wie in Deutschland. Das dicht bevölkerte Land hat ein Bruttoinlandsprodukt von 87 Milliarden Euro. Die Kosten für den ersten Teil der deutsche Energiewende (90 Milliarden Euro, Abb. 2) sind also etwa so hoch wie das gesamte Volkseinkommen dieses Landes.
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Abbildung 4: Zusammenhang zwischen Geburtenrate und Armut
Jeder Punkt steht für ein Land. Die Position im Diagramm ergibt sich aus der mittleren Kinderzahl pro Frau und dem jährlichen Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt. Für die meisten Länder oberhalb der Armutsschwelle von 1.500 US-Dollar liegt die Zahl der Kinder bei zwei. Das bedeutet eine stabile Bevölkerung. Unterhalb der Armutsschwelle steigt die Kinderzahl stark an. Quelle: Gerd Ganteför
1.4 Die historische Entwicklung Energie ist das Lebenselixier eines Industriestaats. Die enge Verknüpfung von Energieverfügbarkeit und Lebensstandard zeigt ein historischer Rückblick. Die Wirtschaftsentwicklung in Mitteleuropa kann in drei Phasen eingeteilt werden. Diese Phasen unterscheiden sich in der Art ihrer Energieversorgung und der damit verknüpften Produktivität. Mit jeder neuen Phase stiegen Energieverbrauch, Produktivität und Lebensstandard. In Phase I, die bis etwa 500 n. Chr. andauerte, gab es nur eine einzige Energiequelle, die heute mit dem Begriff ›Biomasse‹ bezeichnet wird: Getreide, Feldfrüchte, Obst, Holz, Gras etc. Alle Arbeiten mussten die Menschen mit dem ›Motor‹ Muskelkraft selbst verrichten. Auch die Güter des täglichen Bedarfs stellten die Bürger selbst her. In dieser Phase produzierte ein Bauer gerade genug für sich selbst und über 90 % der
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Bevölkerung arbeitete in der Landwirtschaft. Der Verdienst lag umgerechnet auf heutige Verhältnisse bei 10 Eurocent pro Stunde und die Menschen waren bitterarm. Die Energie aus der Biomasse reichte nur knapp zum Überleben aus. Die Phase II begann mit der Nutzung der Wasserkraft. Der Mensch erhielt Zugang zu einer neuen, zusätzlichen Energieform. Das folgende Zitat veranschaulicht die Bedeutung, die Historiker dieser Erfindung beimessen: »Der Kraftantrieb durch das Wasserrad ist eine menschliche Fundamentalerfindung, die wichtigste überhaupt in der Geschichte der Energie vor der Verwertung der Dampfkraft. Und die Erschließung dieser neuen, von der Biomasse unabhängigen Energiequelle ist vielleicht sogar der Beginn der Kultur des Abendlandes.« (Metz 2005: 33)
Die Wasserkraft wurde in Manufakturen für vielfältige Arbeitsprozesse eingesetzt. Auch die Landwirtschaft wurde produktiver, zum Beispiel durch eine verbesserte Technik des Pflügens. Mit der zusätzlichen Energie aus der Wasserkraft stieg der Lebensstandard um das Zehnfache. Die Windkraft wurde nur in geringerem Maße genutzt, denn sie war für den Betrieb einer Manufaktur zu unzuverlässig. Der Besitzer musste seine Angestellten nach Hause schicken, wenn kein Wind wehte. Daher nutzten mittelalterliche Betriebe hauptsächlich die Wasserkraft. Diesen Unterschied zwischen den beiden Energieformen beschreibt heute der Begriff ›grundlastfähig‹. Umgerechnet auf heutige Verhältnisse haben die Menschen damals 1 Euro pro Stunde verdient. Die dritte Phase begann um 1800 mit der Erfindung der Dampfmaschine. Zuerst war es nur die Kohle, die zusammen mit der Dampfmaschine die menschliche Muskelkraft verhundertfachte. Später kamen Erdöl, Erdgas und die Kernenergie hinzu. Auch moderne Automotoren, Kohlekraftwerke und Kernkraftwerke beruhen letztlich auf dem Prinzip der Dampfmaschine. Die hohe Verfügbarkeit der neuen Energieträger resultierte zusammen mit der Entwicklung immer leistungsfähigerer Maschinen in einer nochmaligen Steigerung der Produktivität um den Faktor zehn. Die hohe Produktivität in der Landwirtschaft ermöglicht es, dass heute achtzig Millionen Menschen bequem auf der relativ kleinen Fläche Deutschlands leben können. Ein Bauer kann hundertfünfzig Menschen ernähren und nur noch 2 % der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft.
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Entsprechend der hohen Produktivität liegt der Stundenlohn eines Arbeiters nun bei rund 10 Euro. Die Verfügbarkeit der Energie ist eng mit der Energiedichte verknüpft. In einer relativ kleinen Menge an Erdöl oder Uran steckt eine enorm große Energiemenge.4 Umgekehrt ist die Energiedichte bei Sonne, Wind und Biomasse relativ gering und es sind große Anlagen mit einem hohen Flächenverbrauch notwendig, um die Energieproduktion auch nur eines Kohlekraftwerks zu ersetzen. Ein extremes Beispiel ist die Biomasse. Für den Ersatz von einem 1-Gigawatt-Block eines Kohlekraftwerks durch Strom aus Biomasse ist eine Ackerfläche von 4.000 Quadratkilometern notwendig. In geringerem Umfang gilt dies auch für die Energie aus Sonne und Wind. Die ausgedehnten Solar- und Windparks sind im Vergleich zu den konventionellen Energien teuer und haben eine niedrigere Produktivität. Daher entspräche ein vollständiger Umstieg auf die erneuerbaren Energien teilweise auch einem Rückschritt in die Phase II. Allerdings ist in Deutschland bisher nur die Stromproduktion, also nur rund 20 % des gesamten Endenergieverbrauchs, von den gesetzlichen Regelungen der Energiewende betroffen. Eine Ausweitung des Umstiegs auf die gesamte Energieerzeugung hätte ernste Folgen für das Industrieland Deutschland und wird wohl kaum ernsthaft erwogen werden. 1.5 Thesen Die deutsche Energiewende berührt die drei Themenbereiche Energieversorgung, Klimaveränderung und Bevölkerungsentwicklung. Alle drei Themen sind eng mit dem Wirtschaftswachstum verknüpft. Das Netzwerk der Ursache- und Wirkungsbeziehungen ist daher ungewöhnlich komplex und es ist hilfreich, die Ausführungen der Kapitel 1.1 bis 1.4 vor der Beantwortung der ersten Frage in Thesenform zusammenzufassen:
4
Zum Vergleich: Die Reichweite von U-Booten veranschaulicht die drastischen Unterschiede in der Energiedichte der verschiedenen Energien. Batterien, deren Energiedichte mit der von erneuerbaren Energien vergleichbar ist, reichen für einen Tag. Die Tankfüllung eines dieselgetriebenen U-Boots (Schnorchelfahrt) reicht einen Monat und ein Atom-U-Boot braucht niemals neue Brennstäbe. Der Atomreaktor liefert für die vierzig Jahre, die ein U-Boot in Betrieb ist, Energie im Überfluss.
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• • • • • • •
•
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Die deutsche Energiewende Teil 1 (Strom) ist teuer, aber machbar. Die deutsche Energiewende Teil 2 (Gesamtenergie) ist unbezahlbar. Die Weltbevölkerung wächst alle zwölf Jahre um eine Milliarde. Ein Leben in bitterer Armut führt zu hohen Geburtenraten. Mit höherem Lebensstandard sinken die Geburtenraten. Es gibt drei Milliarden Menschen, die in bitterer Armut leben. Die historische Entwicklung kann in drei Phasen eingeteilt werden. In jeder Phase haben sich Produktivität, Lebensstandard und Energieverbrauch verzehnfacht. Länder, die sich noch in Phase I und II befinden, streben in Phase III.
1.6 Die Antwort auf die Frage ›Werden die anderen Länder dem deutschen Vorbild folgen?‹ Die Mehrheit der Länder der Erde kann dem deutschen Vorbild nicht folgen. Eine halbe Milliarde Menschen befindet sich noch heute in Phase I der historischen Entwicklung. Sie lebt auf einem Lohnniveau von einem Hundertstel des deutschen Durchschnittslohns. Weitere drei Milliarden Menschen leben hinsichtlich ihres Lebensstandards und der Produktivität in Phase II der historischen Entwicklung. Für diese Menschen sind die erneuerbaren Energien zu teuer und eine Energiewende würde sie in eine ärmere Phase zurückwerfen. Dies hätte die fatale Konsequenz, dass die Geburtenraten wieder steigen würden. Nur die Industrieländer der Phase III könnten dem deutschen Vorbild folgen, werden es aber nicht tun, da dies massive Nachteile im globalen Wettbewerb hätte und zu einer Reduktion des Lebensstandards führen würde. Aber auch Deutschland selbst wird den zweiten Teil der Energiewende, den Umstieg bei der gesamten Primärenergieerzeugung, wegen der zu hohen Kosten nicht umsetzen können. Aber bereits der erste Teil der Energiewende wird zu einer Reduktion des Lebensstandards führen, die hauptsächlich die einkommensschwachen Schichten belasten wird.
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2. I ST
DIE DEUTSCHE E NERGIEWENDE EIN WIRKSAMES M ITTEL GEGEN DIE K LIMAERWÄRMUNG ?
2.1 Die Klimaerwärmung Jedes Jahr werden große Mengen des Treibhausgases Kohlendioxid in die Atmosphäre abgegeben. Diese Menge nimmt pro Jahr weiter zu (siehe Abb. 3a). Aber selbst wenn die jährlichen Emissionen konstant blieben, würde die Menge an Kohlendioxid in der Atmosphäre ansteigen. Die Atmosphäre speichert das Gas für lange Zeit und solange es weiter Emissionen gibt, steigt die Konzentration. Angenommen, es würde aus der Verbrennung fossiler Energieträger kein Kohlendioxid mehr hinzu kommen, würde das überschüssige Kohlendioxid langsam über Hunderte von Jahren abgebaut werden und der vorindustrielle Gleichgewichtswert könnte sich schließlich wieder einstellen. Kohlendioxid ist ein ungiftiges Spurengas, das von Natur aus in der Erdatmosphäre enthalten ist. Die natürliche Konzentration liegt bei 0,28 Promille. Seit der industriellen Revolution ist dieser Wert auf knapp 0,4 Promille angestiegen. Zurzeit nimmt die Kohlendioxidkonzentration jedes Jahr um 0,0015 Promille zu. Bei dieser Rate wird sich die Konzentration in hundert Jahren gegenüber dem natürlichen Gleichgewichtswert verdoppelt haben. Da es sich um ein ungiftiges Spurengas handelt, hat diese Zunahme kaum direkte Konsequenzen. Pflanzen benötigen das Kohlendioxid für ihren Stoffwechsel und tatsächlich gibt es durch die Zunahme einen schwachen Düngeeffekt: Die Pflanzen wachsen besser. Aber es gibt eine indirekte Auswirkung dieser Zunahme: Das Gas verändert den Wärmehaushalt der Erde. Es behindert die Wärmeabstrahlung von der Erdoberfläche. Tagsüber wird die Erdoberfläche durch die Sonneneinstrahlung aufgeheizt und nachts kühlt sich die Erde wieder ab, indem Wärmestrahlung von der Oberfläche durch die Atmosphäre ins Weltall abgestrahlt wird. Die Temperaturen schwanken im Tag- und Nacht-Rhythmus sowie im Zyklus der Jahreszeiten um eine mittlere Temperatur von plus 15 °C. Ohne die Atmosphäre läge diese mittlere Temperatur bei minus 15 °C und alle Meere wären eingefroren. Bestimmte Gase in der Erdatmosphäre behindern die Wärmeabstrahlung von der Erdoberfläche und wirken dadurch wie eine Wärmeisolation. Deshalb ist es auf hohen Bergen kalt, da die Atmosphäre oberhalb der Bergspitzen dünner ist und die Wärmestrahlung fast ungehindert ins Weltall entweichen kann. Nur
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ganz bestimmte Gase, die sogenannten Treibhausgase, bewirken eine Wärmeisolation. Eines der wichtigsten Treibhausgase ist das Kohlendioxid. Obwohl es nur in geringer Menge in der Atmosphäre enthalten ist, absorbiert es die Wärmestrahlung relativ stark. Steigt die Konzentration an Kohlendioxid an, wird es zwangsläufig wärmer. Die Erde reagiert allerdings langsam auf diese Klimaveränderung und es kann Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte dauern, bis sich ein neues Gleichgewicht eingestellt hat. Die Ozeane der Erde benötigen sogar einige hundert Jahre, um sich zu erwärmen oder wieder abzukühlen. Wenn allerdings für weitere hundert Jahre fossile Brennstoffe im heutigen Umfang oder sogar in noch größeren Mengen verbrannt werden, könnte dies die Erde langfristig, das heißt in drei- bis fünfhundert Jahren, in eine akryogene Warmphase treiben. Akryogen bedeutet, dass die Pole eisfrei sind. Das war bis vor 35 Millionen Jahren der normale Zustand der Erde, als das Klima rund 8 °C wärmer war als heute. Der Meeresspiegel wäre dann rund 80 Meter höher und der Kölner Dom würde, wie vom Spiegel proklamiert, nur noch zur Hälfte aus dem Wasser ragen.5 Der Abtauprozess der Eisschilde hat bereits eingesetzt, aber auch er ist langsam. Abbildung 5 zeigt die Veränderung des Meeresspiegels in den letzten zwanzig Jahren. Solche Messungen lassen sich heute mit satellitengestützten Techniken sehr genau durchführen. Der Meeresspiegel ist im Mittel um 3 Millimeter pro Jahr angestiegen. Bis der Kölner Dom unter Wasser steht, dauert es also noch 25.000 Jahre. Das ist eine sehr lange Zeitspanne. Vor 25.000 Jahren war die Erde in der Hochphase der letzten Eiszeit und Köln befand sich unter einem kilometerdicken Eispanzer. Innerhalb solcher für den Menschen kaum vorstellbar langen Zeiten finden also auch natürliche Klimaveränderungen statt. Ohne die menschengemachte Klimaerwärmung wäre die Erde heute auf dem Weg in die nächste Eiszeit. Dieser langsame Abkühlprozess zieht sich über viele Jahrtausende hin und die kleine Eiszeit vor rund dreihundert Jahren war möglicherweise ein erster Vorbote der großen Eiszeit.6 Diese langsame Abkühlung wird nun durch die schnellere menschengemachte Klimaerwärmung unterbrochen.
5
Vgl. hierzu den Spiegel-Titel »Die Klima-Katastrophe« vom 11.08.1986.
6
Während es sich bei der kleinen Eiszeit nur um eine vergleichsweise harmlose Temperaturschwankung von ca. 1 °C im Laufe der Warmzeit handelt, geht die große Eiszeit mit einem Temperatursturz von ca. 6-8 °C und der Vergletscherung weiter Teile Europas einher.
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Abbildung 5: Satellitendaten zur Veränderung des Meeresspiegels
Der Meeresspiegel steigt annähernd kontinuierlich mit einer Rate von 3 Millimeter pro Jahr. Quelle: Gerd Ganteför
Die Erwärmung findet innerhalb weniger hundert Jahre statt und ist damit zehnmal schneller als die natürliche langsamere Abkühlung. In tausend Jahren werden jedoch die fossilen Energieträger weitestgehend erschöpft sein und der Kohlendioxidgehalt wird sich normalisieren. Schließlich wird sich die langsame Abkühlung weiter fortsetzen. Der Anstieg des Meeresspiegels ist ein ernstes Problem, aber er ist eben langsam. In den nächsten hundert Jahren wird der Meeresspiegel um knapp 1 Meter ansteigen und dieses Problem lässt sich mit relativ einfachen Mitteln des Küstenschutzes in den Griff bekommen. Viele Bürger haben darüber hinaus die Befürchtung, dass die Klimaerwärmung zu häufigeren und stärkeren Stürmen sowie zu vermehrten Dürren führen könnte. Hurrikane wie Katrina und Sandy hat es aber schon vor dreihundert Jahren gegeben und ihre Stärke und Häufigkeit hing nicht von der Temperatur ab. Tatsächlich gab es während der Eiszeit, als es erheblich kälter war als heute, verheerende Stürme. Es ist also keineswegs gesichert, dass die Klimaerwärmung zu mehr Stürmen führen wird. Dürren wird es sogar weniger geben und auch der Weltklimarat sagt für die Zukunft eine Zunahme der Regenfälle vorher, da bei höherer Temperatur mehr Wasser aus den Ozeanen
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verdampft (vgl. IPCC 2007; Ganteför 2010). Das wirklich ernste Klimaproblem ist der Anstieg des Meeresspiegels und langfristig muss die Menschheit eine Lösung für dieses Problem finden. Ohne eine rasche und drastische Reduktion der Kohlendioxidemissionen wird sich der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre in hundert Jahren verdoppelt haben. Nach den Berechnungen der Klimaforscher führt das zu einer Temperaturerhöhung zwischen 2-6 °C. Genauere Vorhersagen sind bisher nicht möglich, da das Klima von vielen Faktoren beeinflusst wird, die sich gegenseitig verstärken oder dämpfen können. Der wahrscheinlichste Wert liegt bei einer Temperaturzunahme von 3 °C. Diese Temperatur ist allerdings nur der Beitrag des Kohlendioxids. Das Klimagas Methan, das zum Beispiel in großen Mengen in der Landwirtschaft freigesetzt wird, wird diesen Temperaturanstieg noch weiter verstärken, so dass eine Erwärmung um 4 °C wahrscheinlich ist. Vor rund hunderttausend Jahren gab es schon einmal eine Klimaperiode, in der es wärmer war als heute. In der Eem-Warmzeit war es 2 °C wärmer und der Meeresspiegel lag um 4-6 Meter höher als heute. Die Region der heutigen Niederlande war damals überflutet und am Rhein gab es Flusspferde. Wenn bereits eine moderate Erwärmung um nur 2 °C derartig heftige Konsequenzen hat, dann wäre eine Erwärmung um 4 °C nicht akzeptabel. 2.2 Die Wirkung der Energiewende auf das Klima Da in Deutschland ein Ausbau der Wasserkraft kaum möglich und ein Ausbau der Energiegewinnung aus Biomasse nicht zu verantworten ist, kann die Energiewende nach heutigem Wissen nur auf der Photovoltaik und der Windenergie basieren. Neue Wind- und Solarparks sind in Deutschland überall im Bau und die Stromproduktion aus diesen beiden Energieformen wächst jährlich um 12 Milliarden kWh. Um einen Anteil von 85 % an der Stromerzeugung zu erreichen, müssen noch weitere 300 Milliarden kWh aus Kern- und Kohlekraftwerken durch Strom aus Sonne und Wind ersetzt werden. Bei der aktuellen Ausbaurate wird das noch fünfundzwanzig Jahre dauern. Eine klimarelevante Reduktion der Kohlendioxidemissionen erfordert allerdings einen Umstieg bei der gesamten Primärenergieerzeugung. In Deutschland ist bisher nur ein moderater Umstieg von einem lediglich 60 %-Anteil erneuerbarer Energien an der Primärenergieerzeugung vorgesehen. Zum Erreichen dieses Zieles ist
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eine jährliche Energieerzeugung von weiteren 1.200 Milliarden kWh aus erneuerbaren Energien notwendig. Dies würde bei der aktuellen Ausbaurate hundert Jahre dauern. Auch wenn schließlich alle anderen Länder dem deutschen Vorbild folgen sollten, werden sie damit frühestens in ein oder zwei Jahrzehnten beginnen. Auch wird der Ausbau der erneuerbaren Energien dort langsamer erfolgen, da die meisten Länder sehr viel ärmer sind als das Industrie- und Exportland Deutschland. Eine globale Energiewende wird also deutlich länger dauern als die Energiewende in Deutschland. Die Energiewende kann demnach die drohende Verdoppelung des Kohlendioxidgehalts nicht aufhalten und wird möglicherweise gar keine merkliche Wirkung auf die Entwicklung des Klimas der Erde haben. 2.3 Thesen und die Antwort auf die Frage ›Ist die Energiewende ein wirksames Mittel gegen die Klimaerwärmung?‹ Die Ausführungen der Kapitel 2.1 und 2.2 lassen sich ebenfalls in Thesenform zusammenfassen: • • • •
Der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre wird sich in hundert Jahren verdoppeln. Eine klimarelevante Umsetzung der Energiewende dauert hundert Jahre. Eine Verdopplung des Kohlendioxidgehalts bewirkt eine Erwärmung um mehr als 4 °C. Eine Erwärmung um 4 °C oder mehr ist nicht akzeptabel.
Eine globale Energiewende käme zu spät, um eine Verdoppelung des Kohlendioxidgehalts und damit eine Klimaerwärmung von 4 °C zu verhindern. Selbst das intensive Ausbauprogramm Deutschlands ist zu langsam und der Rest der Welt hat noch nicht einmal damit begonnen, die Kohlendioxidemissionen zu reduzieren. Die Energiewende ist daher nicht der richtige Weg, um eine zu starke Klimaerwärmung zu bekämpfen.
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3. E IN
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W EG
3.1 Der Weg ›zurück‹ Mehrheitlich wird unter ›Nachhaltigkeit‹ der Übergang zu umweltschonenderen und sanfteren Technologien sowie insbesondere die Reduktion des Energieverbrauchs verstanden. Die Störung des Gleichgewichts der Natur soll reduziert werden. Historisch gesehen ist es eine Rückkehr zu den alten Energien Biomasse, Wasser und Sonne. Die früheren Phasen in der historischen Entwicklung zeichneten sich durch einen geringen Energieverbrauch und eine nahezu perfekte Ressourcenschonung aus. Es wurde nur so viel verbraucht, wie die Natur dem Menschen jedes Jahr zur Verfügung stellte. Mit dieser Rückkehr zu einer Lebensweise in Harmonie mit der Natur hofft man, dass die Natur von selbst wieder in ihr Gleichgewicht zurückfindet und so die Lebensbedingungen – allen voran das Klima – für alle Zeit stabil bleiben. Dieser Weg wird daher als der Weg ›zurück‹ bezeichnet. Er basiert auf der Vorstellung einer ›freundlichen‹ Natur, die von sich aus dem Menschen perfekte Lebensbedingungen bietet. 3.2 Es gibt kein Gleichgewicht der Natur Der Weg ›zurück‹ geht von der Vorrausetzung aus, dass es ein natürliches Gleichgewicht der Natur gibt. Das Klima war aber zu keinem Zeitpunkt während der letzten eine Million Jahre in einem stabilen Gleichgewichtszustand. Die Daten aus den Eisbohrkernen des antarktischen und grönländischen Eisschildes beweisen, dass wir in einem Erdzeitalter leben, in dem lang anhaltende Eiszeiten von relativ kurzen Warmzeiten unterbrochen werden. Die Warmzeiten der Vergangenheit dauerten etwa zehntausend Jahre und danach wurde es wieder kalt (siehe Abb. 6). Die heutige Warmzeit, die vor zehntausend Jahren begann, könnte also langsam zu Ende gehen. In einer Eiszeit sind große Teile der nördlichen Hemisphäre von einer kilometerdicken Eisschicht bedeckt und dies würde für Milliarden Menschen den Tod bedeuten. Die Ursache für diese Klimaschwankungen sind subtile Änderungen der Bahn der Erde um die Sonne und zurzeit befindet sich die Erde unaufhaltsam wieder auf dem Weg in die nächste Eiszeit.
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Abbildung 6: Vergleich des gemittelten Verlaufs der letzten drei Warmzeiten mit der Temperaturkurve der aktuellen Warmzeit
Eine Temperaturabnahme im Übergang in die nächste Eiszeit ist überfällig. Quelle: Gerd Ganteför
Zusätzlich kann es während des langsamen Übergangs zu schnellen Klimaschwankungen, zu sogenannten ›Umkippprozessen‹ (engl. Tipping Events) kommen. Das Erdklima kippt für einige Jahrhunderte in kühlere oder wärmere Zustände. Während einer Warmzeit ist dies mit einer heftigen Abkühlung, also dem vorübergehenden Einsetzen einer Eiszeit, verbunden. Zu Beginn der aktuellen Warmphase kam es zu einem solchen Umkippprozess und die vorangegangene Eiszeit kehrte für rund tausend Jahre zurück. Diese Umkippprozesse geschehen ohne offensichtlichen Anlass. Aber auch während der aktuellen relativ stabilen Warmphase kam es zu kleineren Klimaschwankungen. Mittelalterliche Texte und Bilder berichten von einer für Nordeuropa katastrophalen Abkühlung zwischen 1550 und 1850. Heute wird diese Phase ›Kleine Eiszeit‹ genannt (vgl. PNAS 2009; Ganteför 2010). Dabei handelte es sich um eine vergleichsweise geringfügige Abkühlung von 1 °C, die vermutlich durch Vulkanausbrüche und eine verringerte Sonneneinstrahlung ausgelöst wurde. Aber auch diese geringe
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Abkühlung hatte für viele Menschen dramatische Folgen. Die Ernteerträge gingen zurück oder fielen in besonders kalten Jahren ganz aus, Teile von Nordeuropa wurden unbewohnbar. Die aktuelle Klimaerwärmung unterbricht also den langfristigen Trend in die nächste Eiszeit. Grundsätzlich sind wärmere Phasen den kälteren vorzuziehen, aber die drohende Erwärmung wird nach den Vorhersagen der Klimamodelle zu stark ausfallen. Auch hier zeigt sich die grundsätzliche Instabilität des Klimas. Ist ein Trend einmal angestoßen, verstärkt er sich und aus einer zunächst kleinen Schwankung wird langfristig eine große Klimaveränderung, die sich erst nach einigen hundert Jahren stabilisiert. 3.3 Nachhaltigkeit erfordert eine aktive Klimakontrolle Es ist also prinzipiell unmöglich, die Erde unverändert an die zukünftigen Generationen zu übergeben. Im nächsten Jahrhundert droht ein Übergang in ein zu warmes Klima, denn die Energiewende kann diese menschengemachte Erwärmung nicht aufhalten. Langfristig droht dagegen der Übergang zur nächsten Eiszeit, der von spontanen Umkippprozessen begleitet werden könnte. Das Klima würde zwischen Eiszeit und Warmzeit hin und her schwanken. Im Sinne einer Verantwortung für die zukünftigen Generationen muss also das Klima der Erde stabilisiert werden. Dies erfordert eine aktive Klimakontrolle. Es gibt verschiedene Techniken, die dazu geeignet sind und es muss noch genauer erforscht werden, welche davon mit möglichst wenig unerwünschten Nebenwirkungen auskommen. Eine dieser Techniken basiert auf der Nachahmung eines natürlichen Effekts. Nach jedem großen Vulkanausbruch gab es in der Vergangenheit der Erde eine Klimaabkühlung um 1-2 °C. Der bekannteste Fall ist das Jahr 1815, das als Jahr ohne Sommer in die Geschichte eingegangen ist. In Deutschland hat es damals im Juli geschneit, es kam zu einem Ausfall der Ernte und in der Folge zu Hungersnöten. Die Ursache der Abkühlung war der Vulkanausbruch des Tambora in Indonesien, der große Mengen an Schwefeldioxid in die Atmosphäre abgegeben hat. Schwefeldioxid ist ein farbloses Gas, das sich mit Wasser zu Aerosolpartikeln verbindet, die mehrere Jahre lang in der oberen Atmosphäre verbleiben können. Die Aerosolpartikel reflektieren einen Teil des Sonnenlichts und deswegen erreicht weniger Sonnenlicht die Erdoberfläche. In der Folge sinkt die Temperatur. Künstliche Aerosole lassen sich im Prinzip durch Flugzeuge
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ausbringen und bei der richtigen Wahl der Partikel kann möglicherweise ohne zu große Nebenwirkungen eine globale Klimaabkühlung erreicht werden. Allerdings werden zur Herstellung der Aerosole und zum Betrieb der Flugzeuge große Energiemengen benötigt. Das gilt auch für andere Methoden der Klimakontrolle, die in der Wissenschaft diskutiert werden. Generell sind die benötigten Energiemengen größer als die Energiemenge, die bei der Erzeugung des Kohlendioxids frei wurde. Eine aktive Kühlung des globalen Klimas ist mit wenig Energie also nicht möglich. 3.4 Nachhaltigkeit erfordert die Stabilisierung der Bevölkerungszahl Abbildung 3a zeigt, dass das Bevölkerungswachstum mit einem stetig steigenden Energieverbrauch und parallel ansteigenden Kohlendioxidemissionen verknüpft ist. Sowohl die Klimaerwärmung als auch der Ressourcenverbrauch werden durch den wachsenden Bevölkerungsdruck angetrieben. Nur wenn es gelingt, die Bevölkerungszahl auf der Erde zu stabilisieren, können die Lebensbedingungen nachhaltig bewahrt werden. Der ausgeprägte Zusammenhang zwischen Lebensstandard und Geburtenrate (siehe Abb. 4) zeigt, wie die Bevölkerung stabilisiert werden kann: Wenn der Lebensstandard der Menschen über die Armutsschwelle von 1.500 US-Dollar pro Person ansteigt, dann sinken die Geburtenraten nahezu von selbst auf einen vertretbaren Wert von zwei bis drei Kindern. Dazu ist ein starkes Wirtschaftswachstum in den armen Ländern notwendig. Die Verfügbarkeit ausreichender Mengen an bezahlbarer Energie ist die notwendige Voraussetzung für dieses Wirtschaftswachstum. Nachhaltigkeit erfordert also bei dem Problem der Bevölkerungszunahme nicht ein Energiesparen, sondern ganz im Gegenteil ein Mehr an bezahlbarer Energie. In diesen Ländern wird also der Verbrauch von Kohle und Erdgas weiter ansteigen und auch Kernkraftwerke werden dort vermehrt gebaut werden. Kohle, Erdgas und Uran gibt es noch für mindestens zweihundert Jahre in ausreichender Menge. Diese Ressourcen werden im Rahmen dieser Entwicklung zwar weiter verbraucht werden, aber wenn es dadurch gelingt, die Bevölkerungszahl zu stabilisieren, ist dieser Preis vertretbar.
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3.5 Der Weg ›vorwärts‹ Für eine aktive Stabilisierung des Weltklimas ist sehr viel Energie notwendig – mehr, als heute zur Verfügung steht. Auch für die Reduktion des Bevölkerungswachstums wird viel Energie benötigt, denn die Geburtenraten sinken, wenn der Lebensstandard steigt und das erfordert viel bezahlbare Energie. Für eine nachhaltige Lösung beider Probleme, der nachhaltigen Stabilisierung des Klimas und der Stabilisierung der Bevölkerungszahl, ist also sehr viel preiswerte Energie erforderlich. Der Weg ›zurück‹ ist dagegen in vielerlei Hinsicht nicht nachhaltig. Zum einen kommt die Energiewende zu spät, um die Klimaerwärmung zu verhindern. Darüberhinaus blockiert sie andere Lösungen des Klimaproblems, da die erneuerbaren Energien mit ihrer geringen Energiedichte zu schwach sind, um eine aktive Klimakontrolle zu ermöglichen. Weiterhin bietet sie auch für das Bevölkerungsproblem keine Lösung an. Im Gegenteil: Eine Energiewende, sollte sie global umgesetzt werden, wird zu einem Absinken des Lebensstandards führen und damit zu einem Wiederanstieg der Geburtenraten in den armen Ländern. In den nächsten Jahrzehnten wird also mehr preiswerte Energie benötigt, um in den armen Ländern das Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Bezahlbare Energie kann aus der Verbrennung von Kohle und Erdgas erzeugt werden. Das heißt aber auch, dass die Kohlendioxidemissionen weiter ansteigen werden und mit ihnen die globale mittlere Temperatur. In den nächsten hundert Jahren wird der Klimawandel noch moderate Auswirkungen haben. Der Meeresspiegel wird maximal um 1 Meter steigen. Die Erwärmung wird zu vielen weiteren lokalen Klimaveränderungen führen, die aber nicht katastrophal sind. Denn durch eine moderate Klimaerwärmung werden auch große Landflächen im hohen Norden bewohnbar und die Grenze für Ackerbau und Viehzucht wird sich weiter nach Norden verschieben. Die Witterungsperiode wird länger und die Niederschläge werden global zunehmen, so dass mit höheren Ernteerträgen zu rechnen ist. Vorerst wird die Klimaerwärmung also auch positive Folgen haben – auch wenn darüber in den Medien nicht berichtet wird. Die Zahl der Menschen wird auf mehr als zehn Milliarden ansteigen und dann hoffentlich konstant bleiben. In fünfzig oder hundert Jahren wird die Klimaerwärmung immer stärkere Auswirkungen haben. Schließlich wird es notwendig werden, die Erwärmung
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auf einen Maximalwert zu begrenzen. Bis dahin werden hoffentlich stärkere Energiequellen zur Verfügung stehen, die es den dann lebenden Menschen ermöglichen, das Klima zu steuern. Welche Energiequellen das sein werden, darüber lässt sich heute nur spekulieren. Die heute bekannten Naturgesetze erlauben prinzipiell die Erzeugung ausreichend großer Energiemengen aus den beiden Formen der Kernenergie, der Kernspaltung und der Fusion. 3.6 Eine neue Interpretation von Nachhaltigkeit Die herkömmliche Interpretation der Nachhaltigkeit beruht auf dem Bild einer ›freundlichen‹ Natur, die sich ohne Störung des Menschen im Gleichgewicht befindet. Die Umweltbelastungen der Industriegesellschaft stören dieses Gleichgewicht und schließlich werden die Umweltbedingungen in einen neuen Gleichgewichtszustand übergehen, der für die Menschen nachteilig ist. Tatsächlich gibt es aber keinen natürlichen Gleichgewichtszustand, sondern nur Übergänge und Veränderungen. Sogar der Sauerstoff der Luft, der für die Menschen lebenswichtig ist, ist nur ein Stoffwechselprodukt von Lebewesen, die vor Hunderten von Millionen Jahren lebten. Sie verursachten eine Veränderung der Zusammensetzung der Atmosphäre und viele Tiere und Pflanzen, für die Sauerstoff giftig ist, sind damals ausgestorben. Die Natur ist grundsätzlich nicht nachhaltig, sondern in ständiger, wenn auch langsamer Veränderung begriffen. Um die Lebensbedingungen der zukünftigen Generationen zu bewahren, ist eine aktive Stabilisierung durch den Menschen unumgänglich. Das erfordert mehr Technik und mehr Energie. Auch die Lösung des Problems der Bevölkerungszunahme erfordert aktive Maßnahmen wie z.B. eine Anhebung des Lebensstandards in den armen Ländern, für die mehr Technologie und vor allem mehr Energie benötigt werden. Nachhaltigkeit kann also nicht durch weniger Energie und weniger Technik erreicht werden, sondern ganz im Gegenteil nur durch mehr Energie und mehr Technik. Die Natur muss gesteuert werden, sonst werden in der Zukunft nur sehr viel weniger Menschen auf der Erde leben können.
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3.7 Thesen und Schlussfolgerungen Die Ausführungen der Kapitel 3.1 bis 3.6 werden in folgenden Thesen zusammengefasst: • • • •
Nachhaltigkeit erfordert die Stabilisierung der Bevölkerungszahl. Nachhaltigkeit erfordert die Stabilisierung des Klimas. Für die Stabilisierung der Bevölkerungszahl und des Klimas wird sehr viel Energie benötigt. Nur der Weg ›vorwärts‹ zu mehr Energie und mehr Technik ist nachhaltig.
Deutschland befindet sich mit der Energiewende auf einem ideologiegetriebenen Sonderweg, der keine Lösung für die großen Probleme der Zukunft bietet. Die knappen und teuren erneuerbaren Energien eignen sich nicht dazu, das Bevölkerungswachstum zu bremsen oder die Klimaerwärmung zu bekämpfen. Stattdessen benötigen die armen Länder preiswerte Energien in großer Menge, um ihrer Bevölkerung ein Leben oberhalb der Schwelle bitterster Armut zu ermöglichen. Die Kohlendioxidemissionen werden daher in der Zukunft nicht abnehmen, sondern weiter zunehmen. Die Klimaerwärmung wird also fortschreiten. In fünfzig bis hundert Jahren wird eine aktive Klimakontrolle notwendig werden und diese erfordert enorme Mengen an Energie. Nur der Weg ›vorwärts‹ zu mehr Energie und mehr Technik ist nachhaltig. Neben dem Ausbau der preiswerten konventionellen Energien Kohle, Erdgas und Uran müssen neue leistungsstarke Energiequellen erschlossen werden. Dazu gehört beispielsweise die Fusion.
L ITERATUR Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2012): Energiedaten des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Gesamtausgabe, Stand 02.11.2012, http://www.bmwi.de vom 04.01.2013. Ganteför, Gerd (2010): Klima. Der Weltuntergang findet nicht statt, Weinheim. Metz, Karl Heinz (2005): Ursprünge der Zukunft: Die Geschichte der Technik in der westlichen Zivilisation, Paderborn.
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PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences 2009): Tipping dynamics on Earth, Vol. 106, No. 49, vom 08.12.2009. IPCC (Intergovernmental Panel of Climate Change/Weltklimarat) (2007): 4. Bericht aus dem Jahr 2007. Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger (Deutsche Version), http://www.ipcc.ch vom 24.09.2009.
WACHSTUM ./. KRISE Zwei antagonistische Modelle zum Thema Nachhaltigkeit Y ANA M ILEV
E INFÜHRUNG Wachstum ./. Krise. Bereits in der Überschrift wird das Verhältnis zwischen den beiden Protagonisten des vorliegenden Aufsatzes optisch signalisiert: mit Punkt, Schrägstrich, Punkt, dem gängigen Symbol in Anwaltsakten, das Kläger und Angeklagten als Antagonisten einander gegenüberstellt. Gleichermaßen soll dieser Essay der Versuch eines literarischen Prozesses sein, der mit den Mitteln der Theorie die Protagonisten respektive Antagonisten ins rechte Licht rückt und mittels der Analyse ihre jeweiligen und tatsächlichen Hintergründe beleuchtet. Die Frage, die hierbei verfolgt wird, konzentriert sich auf einen möglichen Ausgang, nämlich ob eine Vermittlung in diesem höchst konfliktreichen Verhältnis möglich sein wird. Mit anderen Worten formuliert: Wird zwischen den sich einander ausschließenden Dynamiken auf ökonomischen, sozialen und politischen Spielfeldern das Verhältnis zwischen Gewinnern und Verlierern langfristig gesehen beendet werden können? Oder müssen wir in unserem juristischen Setting bleiben und den tatsächlichen Schuldigen ermitteln, der aufgrund geschickter Tarnung normalerweise als Gewinner medialisiert wird? Und wird sich nicht die Figur des Gewinners, hinter einer camouflierten Fassade der Rechtschaffenheit abgeschirmt, schließlich doch der Schuld bekennen müssen, als Beklagter, der in unserem Prozess keine Chance auf Strafminderung hat, weil das Urteil ergangen und die Straftat bewiesen ist? Und
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könnte es nicht sogar passieren, dass jede Bestrafung zu spät kommt, weil der Gewinner den Verlust der globalen Zukunft auf dem Gewissen hat und die Opfer bereits zu groß sind? Von wem wird hier gesprochen? Ins Feld gezogen werden zwei Begriffe, zwei Überzeugungen, an denen sich das Für und Wider spaltet und gegenseitig vernichtet. Es sind die zunächst ökonomischen Termini ›Wachstum‹ und ›Krise‹, die hier als Protagonisten respektive Antagonisten vorgestellt werden. Antagonisten deshalb, weil hinter beiden ökonomischen Terminologien verschiedene Ethiken stehen, die einander ausschließen und bekämpfen. Der Gerichtsstand, von dem aus hier betrachtet und analysiert wird, heißt ›Nachhaltigkeit‹. Das ökonomische Wachstum, Grundlage einer jeden marktorientierten Global Governance, beansprucht für sich neuerdings den Begriff der ›Nachhaltigkeit‹ als moralisches Konzept, das es dem Publikum affirmativ verkauft, während hinter den Kulissen von nachhaltigen Verkaufsoberflächen weiterhin der Profit maximiert wird. Gleichzeitig wird ›Krise‹ als Begriff und Konzept dämonisiert. Eine Krise kündigt in einem solchen Kontext Katastrophen an, zunächst und zuallererst den Wachstumskollaps von globalen Unternehmensketten und Industrien, der sich in Börsenkursen und Insolvenzen bemerkbar macht. Der Begriff der Krise ist in einem davon freien Verständnis kaum auffindbar, zumindest nicht in unserer medialisierten geopolitischen Hemisphäre, dabei ist Krise das morphologische Grundprinzip des irdischen Existierens schlechthin. Den Ermittlungsrahmen unseres Gerichtsstands, der für die Antagonisten ›Wachstum‹ und ›Krise‹ in Frage kommt, ist sowohl der Raum der Governance, der regierenden Globalisierung des Empire (vgl. u.a. Hardt/Negri 2003: 28) und auf der anderen Seite der Raum der Habitate, der sozialen Felder, der rechtsfreien Zonen under cover oder der hergestellten ›Zonen der Anomie‹.1
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Der Begriff der ›Zonen der Anomie‹ geht auf Giorgio Agamben zurück, welcher damit in seiner Ausarbeitung Ausnamhezustand (2004) den rechtsfreien Raum beschreibt. ›Zone der Anomie‹ ist als Zitat auf die Carl Schmitt’sche Wendung zones beyond the line zu verstehen. Schmitt versteht darunter eine Terrorzone, die jenseits der Freund-Feind-Linien liegt.
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D ESIGN G OVERNANCE Nachhaltigkeit ist heutzutage und in der publizistischen Öffentlichkeit ein Modewort, ja geradezu ein Zauberwort, das Unternehmen und Regierungen eine gewisse Allmacht zuschreibt, ein Zukunftsgewissen, eine SchöpferAttitüde, die nichts weiter ist, als eine affirmative Marketingpolemik. Kaum eine Wirtschaftsbranche, die den Begriff nicht verwendet, bei seiner gleichzeitigen Verwässerung, so dass wir am Ende vor einem moralisch verschlissenen Anglizismus stehen, der kein Wegweiser mehr ist: Sustainability. An dieser Stelle entzündet sich schon die Debatte: Nachhaltigkeit ist ein euphemistischer Begriff für einen neuen globalen Wirtschaftstrend. Ein Euphemismus ist ein beschönigendes Hüllwort für kriminelle Strategien, die unterhalb der Propaganda- und Designoberflächen von Organisationen und Systemen stattfinden. Es geht also um Regierungstechniken von Wirtschaftsunternehmen, die das Motto der Nachhaltigkeit für die Legitimität und Legalität weltweiter Profitgeschäfte einsetzen. In Anlehnung an Michel Foucault, welcher in den 1970er Jahren in seinen Untersuchungen behauptet, dass im Zentrum des Regierens die Märkte stehen und somit Politik und Wirtschaft eine ›unentflechtbare‹ Allianz eingehen (vgl. Foucault 2004), wollen wir im Folgenden von Global Governancen sprechen. Das Gouvernementalitäts-Prinzip (vgl. ebd.) von Unternehmen und Regierungen, die in ihrer ›Unentflechtbarkeit‹ als lobbyistische Gebilde ebenfalls auf der Medien- und Designebene ununterscheidbar sind, beansprucht – und hier sind wir schon am neuralgischen Punkt der Debatte angelangt – das ökonomiepolitische Konzept des Wachstums für sich, während vice versa beispielsweise Nachhaltigkeit auf den Konsummärkten moderiert wird. Ein Prinzip, das nach innen als Wachstum vertreten und nach außen als demokratisch und nachhaltig politisiert wird, ist ein Prinzip der Camouflage. Es euphemisiert die zwangsläufigen Kollateralschäden, die Wachstumskonjunkturen verursachen: Die Cultural Emergencies bzw. Kulturkatastrophen. Wenn wir die Global Governancen verstehen wollen, müssen wir hinter die Fassade beschönigender Policies wie Sustainability, Trust und Social Responsibility treten. Das ist zumindest die Aufgabe der kritischen Theoretikerin, alle nur denkbaren Geschäfte der Global Governance, die im Namen von Weltfrieden, Weltsicherheit, Menschenrechten und Heimatschutz ablaufen,
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›unter Verdacht‹ zu setzen. Denn erst mit dem Blick under cover zeichnen sich deutlich zwei Aktions-Hemisphären von Governancen ab: Die Hemisphäre der doppelstrategischen Regierungstechniken und die Hemisphäre ihrer Konsequenzen. Vor dem Hintergrund der Doppelstrategien von Global Governancen, ihren euphemistischen Oberflächen, die eine ›Camouflage des Kriminellen‹ erst möglich machen, wollen wir hier von Design Governancen sprechen, deren zentrale Regierungstechnik das Marketing ist. Marketing ist strategisches Element von Design Governancen, die mit dem Kalkül der Bild- und Designgewalt operieren. Heute verkaufen Design Governancen statt Großraumpropaganda Lebensgefühle wie Trust, Innovation, Zukunft, Sustainability (Nachhaltigkeit). Hinter Design Governancen stehen gigantische Industrien des Empire, die taktisch mit Medienereignissen u.a. der Katastrophe, des Kollaps und der Krise schockartig und profitabel auf Medienkonsumenten (und deren biopolitische Vereinnahmung als User [Kunde]) einwirken. Designindustrien sind ökonomiepolitische Apparate, die im globalen Stil Wahrnehmungsordnungen herstellen. Im Verbund mit Advertising, Marketing, Medien und Breaking News gelingt es kriegsführenden Agencies2 sowohl ihre Unkenntlichkeit zu garantieren, wie auch auf der Makro-Ebene messianisch-cleane Euphemismen, Heils- und Souveränitätsversprechen in Umlauf zu bringen und hier zunächst ein unantastbares Klima von über-gesellschaftlicher Freiheit zu erzeugen. In das Repertoire der übergesellschaftlichen Freiheit für den User und der juristischen Immunität für den Unternehmer gehört auch der Begriff der Nachhaltigkeit. Denn, so könnte eine intrinsische Botschaft des Neuromarketings lauten: ›Wenn sie mit uns konsumieren, konsumieren sie fair, minimieren ihren ökologischen Fußabdruck, verkleinern das Ozonloch und retten die Pandabären. Kurzum, wenn sie mit uns konsumieren, sind sie ein aufgeklärter, zukunftsbewusster Gutmensch.‹ Wenn wir heute über Design Governancen sprechen wollen, die Herstellung ihrer Legitimität und Legalität durch euphemistische Policies, kommen wir nicht umhin, über das Thema des Krieges, des Ausnahmezustands, der Souveränität und der Rolle der Medien darin zu sprechen. Michel Foucault hat den Begriff der Schlachtenordnungen interpretiert, die
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Als Agencies verstehen sich Unternehmen wie Accenture, Nike, Sony, Apple, Siemens, Novartis, Nestlé und andere globale Akteure.
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sich als Kriegsordnungen nach wie vor mitten durch die Gesellschaften ziehen (vgl. Foucault 1986). Dass wir in unseren Konsumgesellschaften kaum etwas von diesen Schlachtenordnungen bemerken – es sei denn wir kommen in akute Felder der Betroffenheit –, ist genau das Resultat von Design-Policies. Deshalb schlage ich vor: Wenn wir heute über Design Governancen sprechen wollen, sollten wir über Marketing- und Medienordnungen sprechen und deren Auswirkungen auf Wahrnehmungsordnungen bzw. auf Wahrnehmungsgemeinschaften. Um das Niveau einer hochgerüsteten Verwertungsgesellschaft aufrechtzuerhalten, bedarf es einerseits immer wieder neuer Märkte und andererseits der Einbindung des Einzelnen in eine Funktionskette aus Produktion und Konsum. Hierbei ist das zentrale Unternehmungsziel, Kunden zu generieren – als Verwerter und Träger von Unternehmenspolicen – und somit die Herstellung der gewünschten Wahrnehmungsordnungen oder eben Schlachtenordnungen. Zukunft, Innovation, Individualität, Erfolg, Establishment, Kapital usw. werden im Unternehmensmarketing von Konzepten suggeriert wie: BrandYourself, Entertain-Yourself, Control-Yourself, Brodcast-Yourself, Advertise-Yourself! Was hier geschieht, ist der Verkauf von neoliberalen Projekten gigantischer Agencies auf der Designebene, deren Suggestionscharakter die Vision vom ›Selbstdesign‹ erzeugt. Das Ziel von Design Governancen besteht jedoch darin, den Einzelakteur – den ambitionierten ›kleinen Mann‹ (vgl. Reich 1984) – als Kombattanten zu gewinnen, das heißt in erster und letzter Hinsicht als Klienten eines emotional hochgerüsteten und gleichzeitig ideologisierten Self-Empowerment! An dieser Stelle löst der Begriff des ›Selbstdesigns‹ den mittlerweile altmodischen Begriff der ›Selbstausbeutung‹ ab. Auf diese Weise setzen sich die Konsumordnungen in den industrialisierten Konsumgemeinschaften unhinterfragt fort und führen zu Massenphänomen in einem kaum zu bewältigendem Ausmaß und zu mentalen Lagereffekten – zur Standardisierung und Konfektionierung von Wahrnehmungen, von Krankheiten und von Konsumbedürfnissen. Konsumordnungen sind quasi Mainstreams, kollektive Gleichschaltungseffekte in Wahrnehmungsgemeinschaften. Wir bewegten uns im Verlauf des letzten Jahrhunderts von einem politisch-ideologischen Ausnahmezustand der propagandistischen Gleichschaltung hin zu einem global-medialen Ausnahmezustand der konsumistischen
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und mentalen Gleichschaltung. Massenfluchten, Massentourismus, Massenwellness, Massenversorgung in Dumpingmärkten und Yogaresorts sowie Massenhysterien stehen heute und in globalisierten Environments als ununterscheidbare Lagereffekte nebeneinander. Es sind hergestellte Lager verschiedener Konsumentensorten, die sich durch Selbstdesigns auszeichnen – quasi durch autogene Biopolitik auf der Designebene – und auf diese Weise Distinktion markieren: Soziale Zugehörigkeit, politische Überzeugung und Identität. Marktdynamisch hergestellte Lagereffekte in Wahrnehmungsgemeinschaften haben einen pathogenen Charakter. Ich bezeichne diese Lager als ›Zonen der Anomie‹ (vgl. u.a. Agamben 2004). Die Erzeugung sozialer Anomien und Lagereffekte garantiert gleichzeitig deren Verwertung: Denn die Herstellung von pathogenen Atmosphären und sozialen Anomien erzeugt äquivalent die Herstellung von einkommensstarken und profitablen Märkten, so u.a. Pharmaindustrie, Kosmetikindustrie, Medienindustrie, Finanzindustrie, Versicherungen, Tourismus, Wellness, Hollywood und viele andere mehr. Dieses Äquivalenzverhältnis ist ein militärisches, denn dort, wo Fronten entstehen, entstehen gleichzeitig prosperierende Märkte, welche zu Wachstum von Unternehmensketten und Profitraten führen.
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DURCH
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Walter Benjamin sagt im Passagenwerk: »Dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe« (Benjamin 1983: 592). Diese Botschaft haben Regierungsgebilde und Unternehmen verstanden und suggerieren ihrem Konsumpublikum eine entscheidende Message: Demokratie, Nutzerschaft für Alle! und Nachhaltigkeit, was in ein ziviles Format des kognitiven Kapitalismus übersetzt so viel wie ›Alles wird besser!‹ heißt, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung ökonomiepolitischer Ist-Zustände und Wachstumsdynamiken. Entgegen der Botschaften auf euphemisierten Nutzeroberflächen wird alles dafür getan, dass es so weiter geht wie bisher. Forschung und Entwicklung setzen auf rasante Beschleunigung von generativen Nutzerprodukten, die der Industrie ihre Konkurrenzfähigkeit garantieren und die Vorherrschaft im jeweiligen Marktsegment oder gar gänzlich neue Märkte herstellen, eine Landnahme auf ökonomischem Terrain eben. In diesen wachstumsaffinen Zonen herrscht Krieg, ganz und gar nach dem alten Patent, jedoch umgeschrieben
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auf Unternehmen, jene lobbyistischen Gebilde, von denen eingangs die Rede war. Genau hier hat sich der Revolutionsbegriff behauptet und bewährt. Das mag vielleicht paradox klingen, ist es auch in der Moderation, denn Märkte regenerieren sich durch Revolutionen, durch Kriegsführung, deren einzig und alleinige Motivation die Aufrechterhaltung von Wirtschaftswachstum ist. Da wir in einem neuen Millennium leben, im ›Millennium der Designgewalt‹, werden eben diese Revolutionen affirmativ an den Oberflächen moderiert. Der User, der vormals im Rechtsstaat der Staatsbürger war, begibt sich mit jeder alltäglichen Tat des blinden käuflichen Erwerbs von ›Etwas‹ zur Wahlurne und votiert für ein Unternehmen. Das klappt deshalb so geschickt, weil dieses Unternehmen, dessen Produkt gerade gekauft wurde, also Zeitungen, Windeln, Zigaretten, Butter und Achselspray, den User brandet. Es vermittelt ihm eine gewisse Zuversicht, übermittelt einen alltäglichen Willkommensgruß, ein Quantum Identität in einer Wahrnehmungsgemeinschaft, die sich für – sagen wir mal – AXE, Gillette, DIE ZEIT, iPhone 5, MacBook Pro, Shiseido, Air Berlin, Nike oder Bio Company entschieden hat. Wer genau hinschaut, wird jedes Mal im Kleingedruckten oder auf Beipackzetteln deutlich erkennen können, wie hilfreich der Einkauf eben dieser Produkte (per Mausklick oder nicht) bei der Weltrettung ist. ›Vielen Dank für Ihren Einkauf!‹ Auf diese Weise werden Unternehmens-Policies auf der Designebene entworfen, welche einen neuen Impetus nach außen tragen und den altruistischen Aspekt der Weltrettung in den Vordergrund stellen. Der Transfer von souveränen Euphemismen in post-souveräne (oder post-neoliberale) Euphemismen hat sich mit der einzelnen Kundentätigkeit ein weiteres, unzähliges Mal vollzogen. Der Verbraucher hat sich unbemerkt an der Revolutionierung von Produktgenerationen und Märkten beteiligt und gleichzeitig auch noch seinen Gemeinschaftssinn in der Brand-Community regeneriert, wie auch darüber hinaus etwas für sein moralisches Wohlbefinden getan: ›Er hat wieder einem Kind in Afrika eine Flasche Wasser besorgt, mit seinem Einkauf des Nestlé-Produkts Vittel‹. Dass dieser elegante Kriegsführungsstil oder eben Revolutionsstil so reibungslos und unmerklich gelingt, liegt an dem Bedeutungszuwachs des Neumarketings und dazugehöriger Thinktanks, den Denkpanzern, die an der Avantgarde-Rolle des Unternehmens tüfteln und ihre Vormachtstellung auf den Designmärkten sichern. Heute kommt kein einziges Unternehmen mehr ohne Denkpanzer, jener strategischen
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Vorhut der Kreativwirtschaft, aus. Neue Kriegsführungs- oder Revolutionsstile im neuen Millennium der Designgewalt insistieren in die Waffe eines viralen Neuro-Marketings, das direkt und ungehindert mit den Sozialorganen kooperiert. Die Protagonisten der neuen Kriege und Wirtschaftsrevolutionen sind heute die weltweit zahllosen Vertreter eines Design Industry Leadership, wie u.a. Hasso Plattner Institute, SAP, IDEO, Apple und Google. Die kapitalistische Ökonomie oder als was auch immer wir heute postfordistische, korporatistische Profitsysteme des capitalismo nuovo bezeichnen mögen, frisst seine Kritik und erneuert (revolutioniert) sich eben durch diese. Wo sich Designinstitute mit Innovationen an Märkten beteiligen, ob diese nun akademische Märkte sind, Großbaustellen von Dubai bis Shanghai oder industrie-gesponsorte Forschungsprojekte, wie z.B. von Nestlé oder von der Interbrand-Gruppe, sind Designinstitute nicht nur daran beteiligt, neue Beschäftigungsareale herzustellen, sondern ganz einfach profitablen Systemen bei ihrer Selbsterneuerung bei ihrer Häutung zu helfen, wie an Beispielen der Guerilla-Werbung oder der Implementierung kritischer Forderungen wie Go Green deutlich wird. Designinstitute sind also die ›Meister Proper‹ oder die ›Weißen Riesen‹ für schmutzige Unternehmenswäsche, für ein mentales Fresh-up und ein ästhetisches Facelifting ihres nunmehr ›grünen‹ Erscheinungsbildes. Zusammenfassend lässt sich hier festhalten, dass der Erhalt profitorientierter Ökonomien nur durch Wachstum möglich ist, ganz gleich, ob es sich hierbei um Öko-, Bio-, Fair-Trade- oder sonstige Märkte und Projekte handelt. Das ist der Natur der Sache zuzuschreiben, nämlich dass Konkurrenz den Markt erhält und auch dem einzelnen Akteur die Gelegenheit gibt, seine Corporate Identity aufzurüsten, mit anderen Worten, seine Kombattanz zu klären. Auf dieser Oberflächenebene des Marketings spielen sich heute Kriegsführungen ab, die den einzelnen User und sein Sozialorgan rekrutieren, um eine optimierte Revolutionsphalanx zu verzeichnen. Dieses innerökonomische Feind-Feind-Verhältnis covert sich nach außen als ›nachhaltig‹ und erschafft damit eine neue Schlachtenlinie, die nunmehr zwischen Hersteller und Wahrnehmungs- bzw. Usergemeinschaft verläuft und generiert auf diese Weise eine neue Freund-FeindKonstellation. Insofern sehe ich den Revolutionsbegriff in diesem governementalen Verständnis kritisch, weil er das Wachstum in seinem Kern erhält, welches
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sich dem Konsumpublikum mit leistungsoptimierender und freiheitsversprechender Suggestivität und im Euphemismus der Nachhaltigkeit preisgibt.
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DER
A NOMIE ‹
Sofern man sich der Designkritik und dem kritischen Design verpflichtet fühlt, hat es keinen Wert, sich den heute allgemein gültigen postfordistischen Designideologien von Green Design, Socially Responsible Design und Sustainable Design fraglos anzuschließen. Diese neuen Ideologien sind lediglich neue Cover-Versionen der Designmärkte und der Design Governance schlechthin. In neuen propagandistischen Outfits der Welterrettung sowie im Namen der Kreativität und Nachhaltigkeit haben sich die Designoberflächen des Regierens dem Zeitgeist des kognitiven Kapitalismus angepasst. Die Osmotisierung von (kreativer) Kapitalismuskritik durch eine neoliberale Governance ist der Motor der kapitalistischen Transformation. Dieses Phänomen nennt die belgisch-britische Theoretikerin Chantal Mouffe ›Entradikalisierung des Widerstands‹ (vgl. Mouffe 2005). Aus den deutschen Debatten wissen wir, dass z.B. die Strompreise der Atom-Multis kräftig steigen, damit diese gut gepolstert auf ›Grün‹ umrüsten können. Für das friedfertige, weltrettende und arglose Outfit der Multis sind Designer verantwortlich (design will save the world) und Gorleben wird so innerhalb eines Jahres zu einem Ladenhüter der politischen Designprodukte. ›Grün‹ war die meist gewählte Partei der vermeintlich kritischen und zukunftsorientierten Bürger bei der Bundestagswahl von 2009. Die Wahrheit ist: ›Grün‹ setzt den Trend für die ›radikale Mittelmäßigkeit‹ (vgl. Oosterling 2009: 254), den affirmativen (nicht-kritischen) Alltagsverstand (vgl. Gramsci 1999) einer Mittelschicht. Wer Go Green sagt, meint meist Greenwashing der größten Unternehmensketten. Mit Features für Green Business, Green Jobs, Green Products, Green Politics usw. expandieren Unternehmen sowie Parteien und retten ihre Coporate Identity in den nächsten politischen Trend. Eine Tatsache ist und bleibt, dass permanente multiple Krisen und Katastrophen von regierenden Administrationen, Investoren und Trusts als so genannte collateral damages (Kollateralschäden) in sozialen Feldern initiiert
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und medial inszeniert werden, um künstliche Krisen und ›Zonen der Anomie‹ herzustellen. Wir richten nun unseren Blick hinter die Fassaden der Angstökonomien, Feindbildinszenierungen sowie des karitativen Hedonismus und machen es uns zur Aufgabe, das Verhältnis von Verletzung und Widerstand in betroffenen Systemen zu untersuchen. Bei einer Verifizierung von Überlebensformen in prekarisierten bzw. ›anomischen Zonen‹ sind die soziologischen und kulturtheoretischen Begriffe der Prekarität, d.h. der sozialen Bedrohung, der Vulnarabilität, d.h. der Verletzbarkeit von Sozial- und Wertesystemen, der Resilienz, d.h. der Widerstands- und Handlungsfähigkeit in anomischen Situationen, der Nomadie, d.h. des flexibilisierten Standorts und der Regeneration, d.h. der Erneuerung von habituellen Bedingungen, federführend. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 beinhaltet in Artikel 3: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Dieses Recht auf Leben schließt ein Recht auf Wohnen, ein Recht auf Nahrung und ein Recht auf Gesundheit mit ein. Bekanntlich werden täglich alleine aufgrund von Katastrophenmarktpolitiken Emergencies auf dieser Menschenrechtsebene verursacht. Das humanitäre Völkerrecht verbietet es, in bewaffneten Konflikten Siedlungen von Zivilbevölkerungen auf dem Gebiet des Feindes als Vergeltungs- oder Bestrafungsaktion absichtlich zu zerstören oder zu plündern (Kellenberger 2010). Dass dies dennoch tagtäglich geschieht, sind gravierende Emergencies – einschneidende Kulturkatastrophen, welche die Betroffenen in der Wucht von Naturkatastrophen ereilen. In Delhi werden täglich mit Bulldozern Slums plattgemacht, in etlichen Megacitys ist der Wohnraum unbezahlbar geworden und im Gazastreifen leben palästinensische Siedler mit der täglichen Angst der Annullierung ihres Lebensraumes. Urbane Kulturen sind Angriffspunkt von Designpolitiken von Regierungen und Unternehmen, deren Folge die Nullifizierung individueller und ethnischer Habitate ist, wie auch von Tradition, kulturellem Wissen und generativem Erbe. Urbane und soziale Kulturen bewegen sich im Brennpunkt des Paradigmas der ›Zone der Anomie‹.
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K RISE An dieser Stelle möchte ich ein weiteres Modell der Nachhaltigkeit vorstellen, nämlich das Modell der ›Krise‹. Was ist Krise? Wir haben verschiedene Definitionen zur Verfügung: Vom griechischen krinein, was in etwa (ent)scheiden heißt, über die Kierkegaard’sche Definition des Entweder/Oder (Kierkegaard 2005), bis hin zum taoistischen Sowohl-als-auch-Verständnis, das in den beiden chinesischen Radikalen ༴ᶵ (kiki) als Gefahr und Chance in einem zu finden ist. Die ›Krise‹ als lebenserhaltendes (energetisches und morphologisches) Prinzip stellt uns vor eine immer wiederkehrende Dynamik von Raumproduktion versus Raumvernichtung. Die Morphogenese eines ›krisischen Zyklus‹ (Milev 2008) erschließt sich in den Wandlungsphasen zwischen Emersion (Hervortreten) und Immersion (Eintauchen) aus einem Zentrum der Krise heraus, dem Wendepunkt. Hierbei ist zu beachten, dass das Zentrum nicht zentralperspektivisch mittig liegt, sondern in unvorhersehbaren Randregionen. Dieses morphogenetische Verständnis der Krise als Wandlungszyklus liegt auch dem Möbiusband zugrunde, einer mathematischen Entdeckung des 19. Jahrhunderts. Es wurde im Jahr 1858 unabhängig voneinander durch den Göttinger Mathematiker und Physiker Johann Benedict Listing sowie den Leipziger Mathematiker und Astronom August Ferdinand Möbius beschrieben. Ein Möbiusband ist eine zweidimensionale Struktur in der Topologie, die nur eine Kante und eine Fläche hat. Sie ist ›nicht orientierbar‹, das heißt man kann nicht zwischen unten und oben oder zwischen innen und außen unterscheiden. Die beiden Wendpunkte des Möbius’schen Bandes führen jeweils in ein a-perspektivisches, nicht-orientiertes und somit unerwartetes Stadium der Wende und des Wandels. Weiterhin weist das Möbius’sche Band – was ich hier als Symbol für einen Krisenbegriff vorstelle – Ähnlichkeit mit dem taoistischen Yin-Yang-Symbol auf. Der Wendpunkt in diesem Symbol findet in der Zone des tai chi, der großen Schwelle statt. Diese Schwelle verlagert sich immer wieder neu. Beachtlich ist und bleibt, dass das Wesen der Krise, nämlich ihre Unvorhersehbarkeit und Desorientierung, sowohl im mathematischen Modell der europäischen Neuzeit als auch im metaphysischen Modell des chinesischen Mittelalters, identisch ist.
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Abbildung 1: Möbiusband, mathematische Entdeckung des 19. Jh. (1847)
Quelle: AOBBME-Archiv
K RISE
ALS AUTOPOIETISCHES
K ONZEPT
Die Krise als immer wiederkehrendes Stadium von Raumproduktion versus Raumvernichtung eröffnet uns ein nie da gewesenes Aktionsspektrum. Von daher wäre es falsch zu sagen, dass uns die Krise zu einer Entscheidung zwischen zwei von einander sich scheidenden Wegen zwingt. Im Kulminationsgelenk der Krise sind alle Wege möglich. So ist es denkbar, dass Stress und Hysterie Katastrophenszenarien heraufbeschwören; nicht etwa, weil das Eine für etwas Anderes zu Ende geht, sondern weil plötzlich alles möglich ist. Im Kulminationsgelenk der Krise darf in rasantem Wechsel mit allem gerechnet werden. Welche Art von Kompetenz fordert dieser metastabile, nicht-orientierte Raum von uns ein? Vom Standpunkt des Prinzips Krise aus argumentiert, kann es weder einen Abbruch, noch ein Verschwinden von Ereignissen und Energien geben. Es sind von daher die Ursachen zu untersuchen, warum der Krise die Rolle zugeschrieben wird, gesellschaftliche und individuelle Zusammenhänge in Notlagen hineinzumanövrieren, die sogar zum Zusammenbruch
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des Systems führen können. Wer hat warum und seit wann das Interesse, die Idee der Krise zu dämonisieren? Die Relationalität eines Raumes wird im Erscheinen und Verschwinden von Ereignissen sowie ihrer mannigfachen Überlagerung evident. Im Kulminationsgelenk beider Qualitäten – von Emersion und Immersion, von Präsenz und Absenz – wird Krise als autopoietisches Konzept und somit als performativer Raum neu gedacht. Hier wird eben auch das ›Andere‹ mit berücksichtigt, wie zum Beispiel das Nichtvorhandene, der Mangel, das Unsichtbare, das Unbekannte. Diese Annahme und Behauptung könnte unsere Sicht auf gesellschaftliche Systeme und Konstrukte neu entwerfen und die Bereitschaft, binären Entscheidungsstrategien paradoxe Lösungsvorschläge gegenüberzustellen, erhöhen. Wo räumliche Dynamiken am Werk sind, initiieren Krisen desorientierte und deshalb instabile und situative Ordnungen. Das Eine ist ohne das Andere nicht denkbar. Ohne Krise keine Emergenz. Ohne Krise keine Raumproduktion respektive Raumvernichtung.
K RISE
ALS
K ONSTRUKT
Vom Standpunkt der Governancen und der wachstumsorientierten Märkte wird ›Krise‹ in einer feindbildbesetzten Realität festgelegt. Metastabil, nicht-orientiert, situativ, zyklisch und integrativ widerspricht das Phänomen der Krise dem panoptischen Plot der Zentralperspektive und Biopolitik. Das hat zur Folge, dass dem Phänomen der Krise eine negative Wertung zugeschrieben wird, weil Krise Regierungstechniken und Ökonomien der Gewalt unterwandert. Denn die Krise hat mindestens zwei Seiten: Die des Erscheinens und die des Verschwindens in einem Kulminationspunkt, der nicht festlegbar ist. Die Akzeptanz der anderen Seite, des Abwesenden, der Absence, des Verschwindens, des Nichtvorhandenen, der Leere, des nihilo, ist für ein rhetorisch geübtes cogito eine schwer greifbare Aufforderung, die kaum einlösbar scheint. Was an der Stelle des Verschwundenen bleibt, ist die Angst vor dem Unbekannten und Abgründigen. Es ist die Angst jenes ›Willens zur Macht‹, seine Kontrolle über die komplexen Sachverhalte zu verlieren. Diese Realität der Krise erzeugt Stress und Paranoia vor allem dort, wo wir als Domestikationsgeübte im Verwöhnungsraum (vgl. Sloterdijk 2005: 331 ff.) eingerichtet sind. Die Krise, das Hereinbrechen von Kehrseiten –
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ganz gleich unter welchem Vorzeichen – hat in einer Wohlstandzone (vgl. ebd.: 339 ff.) keinen Platz. Unter Herabsetzung unserer räumlichen Wahrnehmungs- und Handlungskompetenz durchziehen altbewährte Schlachtenlinien die privaten und öffentlichen Foren der Krisenverteidigung und vernichten somit den positiven Raum einer Krisenexistenz. Die Krise ist im Regelwerk des institutionalisierten Kapitals eine an den Rand gedrängte Chimäre der Irritation und der allgemeinen Verunsicherung, ein nichtkalkulierbares Agens, gegen das die (national)gesellschaftlichen Pogrome im Namen von Ordnung und Sicherheit, Ästhetik und Design wüten. Und genau von dort aus, von den Rändern, bricht sie wieder ein in Form der Anarchie, in Form der Katastrophe. Dieses Motiv ist in seiner Logik zwingend und unaufhaltsam.
K RISENKOMPETENZ
HEISST
S ELBSTVERSORGUNG
Die traditionellen chinesischen und japanischen Kampfkünste basieren auf dem energetischen Prinzip der Krise. Die Bewegungen sind nicht-linear, und unvorhersehbar. Die Basis zum erfolgreichen Durchlaufen eines Kampfes ist die Krise! Intuition, Geistesgegenwart, körperliche Fitness und Technik bilden das körpereigene Instrumentarium, um unvorhergesehene Wandlungspunkte (oder Krisenpunkte) im nicht-orientierten Kampf zum eigenen Vorteil zu verwandeln. Eben diesem Verhältnis zur Krise ist ein Modell der Selbstversorgung inhärent.
A IKIDƿ –
EINE
K RISENSTRATEGIE
Im Nachkriegsjapan, also der Zeit von Japans Kapitulation im pazifischen Raum, begründete Morihei Ueshiba 1948 den Aikidǀ. Aikidǀ gilt als die jüngste der traditionellen japanischen Kampfkünste. Einerseits auf den Gesetzen der gorin no sho3 basierend, andererseits auf den vier Eigenschaften der Natur unserer Welt, handelt es sich hier um eine Kampfkunst, die das
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Gorin no sho ist der japanische Titel des zwischen den Jahren 1643 und 1645 von Miyamoto Musashi verfassten Buches, seines Hauptwerks. Im Deutschen: Das Buch der fünf Ringe.
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Kämpfen um des Siegens willen ablehnt. Wie ist das zu verstehen? Und was beabsichtigt letztendlich ein solcher (design)strategischer Entwurf? Den alten japanischen Leitsatz aus dem Schwertkampf wahrend, nämlich den Menschen durch das Schwert zum Leben zu erwecken, begründet Ueshiba sein Aikidǀ als Weg der Integration energetischer Systeme. Die im Vollzug des Aikidǀ erscheinende innere Haltung wird als kime4 bezeichnet. Kime basiert auf inneren Prinzipien des hara5, der physischen Gleichgewichtsmitte und den äußeren Bewegungsgesetzen des irimi6 und tenkan7, also des Ausweichens nach außen und des Eintauchens nach innen sowie auf den moralischen Grundlagen der Askese und Bescheidenheit, die in den dǀjokun8 niedergeschrieben sind. Dǀjo9 ist nach alter Tradition der Ort des Trainings. In einer sehr alten Kalligrafie aus Kyǀto heißt es im übertragenen Sinne: ›Überall ist der Dǀjo, in jeder Begegnung haben wir die Chance, den Kampf gemäß der Grundsätze vom Aikidǀ auszuführen‹. Daraus ergibt sich der Hauptgrundsatz des Aikidǀ, der im Zulassen des Unvorhersehbaren (der Krise) liegt und nicht im planvollen Tun und Kalkulieren. Also in der Integration und nicht in der Exklusion. Die im Vollzug des Aikidǀ erscheinende Emergenz ist eine gewisse Behausungseffizienz in der Bewegung, die auf der Basis der Integration,
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Kime bezeichnet das Zusammenwirken der körperlichen und geistigen Kraft in einer Handlung. Kime ist nicht mit den im Budǀ (Budǀ: Überbegriff für die traditionellen japanischen Kampfkunstmethoden, die sich unter dem ethischen Aspekt des Weges (dǀ) aus den Techniken des Kriegers (bujutsu) entwickelt haben) erworbenen technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verwechseln, die in dem Fall Waza heißen. Kime ist der äußere Ausdruck, der in einer Übung erreichten inneren Ki-Kontrolle und hat seinen Ursprung in einer inneren Verfassung, die man Aiki nennt.
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Hara heißt wörtlich übersetzt Bauch und meint in den Kampfkünsten den Körperschwerpunkt oder sogar das Zentrum geistiger und körperlicher Kraft.
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Irimi: Aikidǀ-Technik, Eintauchbewegung in den Gegner hinein.
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Tenkan: Aikidǀ-Technik, kreisförmige Ausweichweichbewegung nach außen.
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Dǀjokun sind die Etikette und Regeln des Dǀjo, die den Budǀ-Geist trainieren, das heißt die innere Haltung.
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Dǀjo ist der Ort, an dem die Wegkünste geübt werden. Der Begriff kommt ursprünglich aus dem Buddhismus, wo er einen Ort der Selbstfindung und Meditation bezeichnet.
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nicht der Exklusion geschieht. Das ist das Innovative an seinen Strategien, aber auch das Paradoxe. Der Behausungsfaktor im Aikidǀ hat also immer zwei Zeiten gleichzeitig, die Präsenz und die Absenz. Absenz und Präsenz, als zeitgleiche Qualitäten ein und derselben Emergenz verstanden, entsprechen einem krisischen Zyklus. Beides hat in seiner Art seine Figur, seine Zeichen, seine Symbole und seine Sprache. Nach den Kampfkünsten lautet das Raumgesetz oder Behausungsgesetz: Dort, wo ein Zentrum ist, erwächst situativ ein Raum. Demzufolge ist also der Raum, der aus kime entspringt, die Emergenz des paradoxen Ausgleichs zwischen Emersion und Immersion einer vollständigen Krise. Das Zentrum ist hierbei nicht zentralperspektivisch, sondern intuitiv, also nichtorientiert. Genau diese Erkenntnis ist es wert, eine Grundannahme für erfolgreiches strategisches Verhalten aufzustellen: Strategien sind dann erfolgreich, wenn sie paradox sind. Und erfolgreich ist eine Strategie dann, wenn sie weder siegt, noch verliert, sondern wenn sie das Immunsystem des Weltaufenthaltsraumes stärkt. Erstaunlicherweise decken sich diese historisch niedergelegten Grundannahmen tendenziell mit den europäischen Konzepten des relationalen Raumes, wie sie uns von der jüngeren Soziologie (vgl. u.a. Löw 2001) her bekannt geworden sind.
Z WISCHENBILANZ Bisher wurden zwei Modelle zum Thema Nachhaltigkeit vorgestellt: Auf der einen Seite eine nach außen affirmierte Narration der Nachhaltigkeit zum Zweck ihrer Ökonomisierung und deren unvermeidbaren Konsequenzen der Kollateralschäden und Kulturkatastrophen (Emergencies). Zum anderen eine Dynamik radikaler Nachhaltigkeit, die im krisischen Prinzip der Raumproduktion und Raumvernichtung, der Umwandlung und Transformation begründet ist. Beide Modelle stehen sich antagonistisch gegenüber. Die Frage, die wir uns aber stellen, ist doch vielmehr, wie das eine mit dem anderen in eine sinnfällige Beziehung gebracht und gegenseitig integriert werden kann? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich gerne das Projekt des Emergency Design vorstellen, das einige Lösungsansätze beinhaltet. Durch Arbeitsmigrationen, Kriegsfluchten und Naturkatastrophen verursacht, sind informelle Siedlungen oder Emergency Camps die Orte, an
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welchen soziale (durch Governancen verursachte) Anomien ihren Höhepunkt erreichen. Sie sind oftmals als illegale Zonen temporär installiert, in denen Menschengruppen von ihren Verletzungen genesen und soziale Lebensformen regenerieren. Dies geschieht durch die Kraft der Umkehrung, die jeder Krise als Chance inhärent ist. Was wir an diesen Orten erleben, sind Lebensraummanagements als Überlebensmanagements, radikale Kulturleistungen in ›Zonen der Anomie‹, die mit dem Know-how der Krise verknüpft sind. Hier können wir an Beispielen lernen, was Krisendesign im radikalen Sinne bedeutet und gleichzeitig, was Nachhaltigkeit im radikalen Sinne bedeutet: Nämlich die immer wiederkehrende Emergenz der Umkehrung, des Anderen, des Fremden, des Noch-nicht-da-gewesenen. Ich nenne diese Phänomene von daher Emergency Designs (Milev 2011). Seit 2005 arbeite ich an einer Ethnografie des Emergency Designs, wie auch an einer theoretischen Systematisierung von Emergency DesignPhänomenen. Im Ergebnis dieser Forschung habe ich eine Emergency Design-Typologie von zehn Typen und Beispielen aufgestellt.10 Zentral ist hierbei die These, dass Emergency Designs Überlebensökonomien sind und gleichzeitig Krisenökonomien, sofern sie mit dem radikalen Know-how der Krise (Umkehrung, Zurückführung, Transformation) verknüpft sind. Insofern sind Emergency Designs ›Kulturtechniken der Transformation‹, da sie einen ökonomischen Wandel bedingen (bzw. nach sich ziehen), nämlich den von Gewaltökonomien zu ›Krisenökonomien‹.
K RISENÖKONOMIEN Wieso jene, durch Emergency Designs erzeugte, so genannte Krisenökonomien ein raumdynamisches Lösungsmodell sein können, lässt sich für mich am besten mit einem Rückgriff auf die Begriffe des Aikidǀ darstellen: Mit den zwei Hauptformen des Eintritts in eine vollständige Form, nämlich irimi und tenkan, wird der Bewegungszyklus im Aikidǀ eröffnet. Beim
10 Emergency Design-Typologie: 1: Survival Economies, 2: Political Activism, 3: Grid Hacking, 4: Cultural Hacking, 5: Radical Advertising and Fashion, 6: Shelter Architecture, 7: Art and Media as Protest, 8: Critical Platforms, Programs and Campaigns, 9: Eco Habitat Solutions, 10: Resonance Architecture; vgl. hierzu Milev 2011.
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irimi geht der ›Verteidiger‹ direkt in die Bewegung des ›Angreifers‹ hinein. Er taucht hier defensiv ein, um die vollständige Angriffsenergie aufzunehmen und diese dann auf den Angreifer zurückzulenken. Das Zurücklenken sieht dann so aus, dass der Angreifer sozusagen durch sein Ziel hindurchläuft und auf sich selbst zurückfällt. Beim tenkan weicht der Verteidiger nach schräg außen aus, um die geradlinig wirkende Angriffsenergie aus der Ziellinie zu leiten und dann spiralförmig umzulenken. Der Angreifer wird in eine raumgreifende Spirale eingewickelt, in der er zwangsläufig auch hier auf sich selbst zurück fällt. Der Angreifer gerät in beiden Fällen in die verblüffende Situation, dass er – anstatt wie geplant, sich dem antizipierten Ziel zu nähern – mit sich selbst konfrontiert wird. Darüber hinaus wird er in ein Bewegungssystem involviert, das die Botschaft der Krise offenbart. Es haben beide, Angreifer und Verteidiger, hier die Chance, die Botschaft dieses Prinzips anzunehmen, was von da an bedeuten würde, sich als Partner im Dienste eines ent-subjektivierten Prinzips gegenüberzustehen. Dieses Einverständnis setzt die Einsicht in die überwältigenden Bewegungsprinzipien des Raumes schlechthin voraus, dem keine noch so elaborierte, profitorientierte Strategie beikommen kann. Sich gemeinsam im Kulminationsgelenk einer Krise wiederzufinden heißt, sich gemeinsam im Grundprinzip des Raumes wiederzufinden. Obwohl dies zunächst wie eine Pattsituation für alle Beteiligten aussieht, enthält genau diese Situation ein evolutives Potenzial für die Idee der Kommunikation. Eine Ablehnung des Hauptgrundsatzes vom Aikidǀ, der Synchronisation von energetischen Systemen, somit von Informationen, wird einen Angreifer, wie auch einen Verteidiger, immer wieder zu Fall bringen, ohne dass er einen Schritt weiterkommt. Die Intelligenz beider Bewegungsformen, des direkten Hineintauchens (irimi) und des spiralförmigen Ausweichens (tenkan), entspricht der defensiven Intelligenz einer dynamischen Krise in ihren charakteristischen Phasen: to disappear (verschwinden) und to appear (erscheinen) bzw. to immerse (eintauchen) und to emerge (auftauchen), um einen marginalen Kulminationspunkt (to culminate, to turn around). Im Aikidǀ erreichen sowohl Angreifer wie auch Verteidiger nie ein strategisches Ziel. Mit Hilfe der investierten und angenommenen Angriffsenergie kulminieren sie permanent in ein Stadium der Unvorhersehbarkeit.
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Abbildung 2: Taifun, Satellitenbild
Quelle: AOBBME-Archiv
Neben diesem hervorragenden Konzept der Selbstentwaffnung bietet Aikidǀ übergreifend eine evolutionäre Lösung für den Dialog energetischer Systeme. Aikidǀ ist die Bewegung, in das ›Auge des Taifuns‹ zu gehen, in das Zentrum der Krise, in den Nukleus der Unsichtbarkeit und gleichzeitig vollkommener Ki-Präsenz. Hier manifestiert sich exemplarisch eine vollkommen andere Grundhaltung der Krisenbewältigung, als die Grundsätze gegenüber einer so bewerteten nihilistischen Krise negativer Wertung. Ganz im Gegensatz zum vernichtenden Scheitern als Versagensurteil gegenüber nicht gelöster Entscheidungsfindung gilt im Aikidǀ ein Konzept des Scheiterns als Gewinn. Am Bildbeispiel der konkreten Form Irimi-Nage wird demonstriert, wie sich das Krisendesign im Aikidǀ vollzieht: In synchronisierten, kreisförmigen, sphärischen Bewegungen der Raumproduktion. Der Gewinn für den Verteidiger liegt dort, wo er von der Angriffsenergie profitiert, anstatt sie zu vernichten. Der Gewinn für den Angreifer liegt darin, dass er mit der Bewegung des Verteidigers synchronisiert. Spätestens hier hebt sich ein klassisches Frontenszenario auf und wird unnütz.
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Abbildung 3: Aikidǀ Kata Irimi-Nage
Quelle: AOBBME-Archiv, mit freundlicher Genehmigung Werner Kristkeitz Verlag Heidelberg
Im Gegenzug zu einer westlichen Grundauffassung des Kampfes (und des Krisenmanagements) geht es hier eben nicht um Liquidierungen des Feindes, Beschlagnahmung seiner Defense Force und Kolonialisierung von Ressourcen, sondern um die Unterbrechung und Transformation des Aktionsdesigns der Angst und Paranoia. Eben an dieser Stelle verbindet sich Hauslosigkeit nicht mit Prekarität oder Notstand, sondern mit der Befähigung zu inneren Wohnraumverhältnissen. Nur in dieser kinästhetischen Fähigkeit, davon kann ausgegangen werden, liegt der Schlüssel für situative Lösungen in Gefahrenzonen des öffentlichen Lebens. Wenn also Krisenökonomien einen Lösungsansatz für komplexe Fragen in sich tragen sollen, so wäre die Lösung, diese in Hinsicht auf Behausungsfragen (oikos) zu finden, die schließlich zu den Fragen nach den Wohnraumverhältnissen führen. Denn nur aus einer krisenhaften, das meint – wie schon erwähnt – irritationsoffenen gesamträumlichen Anlage können Bergungen und Kooperationen gedeihen, die nicht nur im Momentanen wirken, sondern – um die hier thematisierte ökonomiepolitische Terminologie zu bemühen – eine ›Nachhaltigkeit‹ aufweisen, weil sie auch das Abwesende, das Andere und das Verschwundene mit einbeziehen.
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Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass Emergency Designs dort einsetzen, wo die Grenzen von Habitaten, Lebensräumen und Sozialorganen durch Wachstumsdynamiken verletzt werden. Emergency Designs aktivieren die Ressource der Krise, um in Minusbereichen (zones of anomy; vgl. hierzu ›Zone der Anomie‹ Agamben 2004: 46) Überleben, Regeneration und Transformation zu garantieren. Dieses krisenökonomische Prinzip ist gleichzeitig ein Resilienzfaktor. Grundlegend lässt sich am Ende dieses definitorischen Überblicks eine entscheidende Einsicht festhalten: Die Krise im Sinne einer komplementärräumlichen Ausnahmesituation (und im soziologischen Sinne als das Moment der Prekarität) wird als Voraussetzung für die Generierung emergenter Räume verstanden. Indem Machteliten eine Drucksituation der Ausgeschlossenheit schaffen, entstehen neue, von Kreativität und Erfindungsreichtum durchtränkte Raumverhältnisse, die ihrerseits einen Macht- und Raumanspruch vertreten. Wir wollen hier von einer Krisenkompetenz der sog. Outcast-Eliten sprechen, die nicht nur das eigene Überleben garantiert, sondern darüber hinaus Räume und Märkte neuer Ordnungen entwirft. Ein Emergency Design entfesselt sich als komplexes urbanes Kommunikationsdesign und als Unternehmensstrategie stets aus einer gewissen Lebensraumbedrängnis heraus. Mit der Generierung von subversiven Zonen generiert auch der Widerstand und die List gegen die kapitalisierten Jagdstrategien nach Macht, Wissen, Ressourcen und Sicherheit. Die Konsequenz von Sicherheitsarchitekturen und ihrer Kollateralschäden sind immer Krisenökonomien und umgekehrt.
K ONKLUSION Das hier besprochene Thema beinhaltet die Gegenüberstellung von zwei Modellen der Nachhaltigkeit. Einmal das governementale Modell, welches nach wie vor Wachstum (von Kapitalmärkten und Profit) beansprucht und zwangsläufige Kollateralschäden mit sich bringt – das sich aber auch via Marketing-Policies im altruistischen Sinne camoufliert und das Projekt der Weltrettung nach außen trägt. Zum Anderen das Modell der Krise, dem, aufgrund seiner Komplementarität, eine radikale Nachhaltigkeit inhärent ist, hier als Krisenökonomie vorgestellt, da es auf Umkehrung und Transformation von Energien und Ressourcen basiert.
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Tatsache ist, dass für sämtliche Formen progressiver Werteschöpfung das Projekt des Wachstums existenziell ist und von daher die Dynamik der Krise als psychologisches Feindbild inszeniert wird. Paradoxerweise erzeugen aber Gouvernancen Emergencies, also Kulturkatastrophen. Betroffene dieser Zonen werden mit dem nackten Überleben konfrontiert und aktivieren, in Ermangelung anderer Ressourcen, die Ressource der Krise. Auf diese Weise wird an den Rändern der Gesellschaft die Krise mitten in die Gesellschaft geholt. Mein Vorschlag, den ich gern zum Bedenken mitgeben möchte, ist die Integration der Krise in den Alltag, die bewusste Krisenpraxis und die bewusste Erlangung von Krisenkompetenz, um dadurch: •
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resistent gegen eine Biopolitik des Selbstdesigns (replizierte Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche) zu werden, also kritisch Verwertungsdynamiken gegenüberzustehen, einen persönlichen Beitrag zum Aufbrechen von ökonomiepolitischen Verfahren zur Herstellung artifizieller Wohlstandszonen versus Armutszonen zu leisten, und um sich dem Motto ›Lebensräume sind Krisenräume‹ praktisch anzunähern.
Wenn wir uns am Ende nochmals das Eingangsbild des Gerichtsstands vergegenwärtigen, so überlasse ich den Urteilsspruch dem Wahrnehmungsund Konfliktpotenzial eines jeden einzelnen. Welchem Für und Wider der hier besprochenen Protagonisten respektive Antagonisten schließlich Folge geleistet wird, hängt von der generellen Entscheidungsbereitschaft der Gesellschaft ab, die Frage nach einem Haushalten an den ›Grenzen des Wachstums‹ oder, prosaisch formuliert, an den ›Grenzen des Wahnsinns‹ kritisch und sinnvoll zu beantworten.
H INWEIS Dieser Beitrag beruft sich, insbesondere bei der Begriffsverwendung, auf eine Reihe von Vorarbeiten der Autorin. Zur intensiveren Erschließung siehe vor allem Milev 2010; 2011; 2012 sowie Blechinger/Milev 2008.
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L ITERATUR Agamben, Giorgio (2004): Ausnahmezustand, Frankfurt a. Main. Benjamin, Walter (1983): Das Passagen-Werk (= Gesammelte Schriften, Band V.1), Frankfurt a. Main. Blechinger, Gerhard/Milev, Yana (Hg.) (2008): Emergency Design. Designstrategien im Arbeitsfeld der Krise, Wien/New York. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität (= Band 1/2), Frankfurt a. Main. Foucault, Michel (1986): Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, Berlin. Gramsci, Antonio (1999): Gefängnishefte, in: Wolfgang Fritz Haug (Hg.), Kritische Gesamtausgabe (= Band 1-10), Hamburg. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2003) Empire, Frankfurt a. Main. Kellenberger, Jakob (2010): Humanitäres Völkerrecht, Frauenfeld/Stuttgart/ Wien. Kierkegaard, Sören (2005): Der Begriff der Angst. Die Krankheit zum Tode, Wiesbaden. Löw, Martina (2001): Raumsoziologie, Frankfurt a. Main. Milev, Yana (2008): »Emergency Design und Wohnraumverhältnisse«, in: Bleichinger/Milev, Emergency Design. Designstrategien im Arbeitsfeld der Krise, S. 9-26. Milev, Yana (2010): »Design und Kriminalität. Korporatistische Designpolitiken supranationaler Agencies am Beispiel der UNO«, in: agd|viertel Das Magazin der Allianz deutscher Designer, 1/2010, S. 4-9. Milev, Yana (2011): Emergency Design – Anthropotechniken des Über/ Lebens. Eine kulturanthropologische Perspektive, Berlin. Milev, Yana (2012): »Design Governance und Breaking News. Das Mediendesign der permanenten Katastrophen«, in: Christiane Heibach (Hg.), Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens, München, S. 285303. Mouffe, Chantal (2005): Exodus und Stellungskriege. Die Zukunft radikaler Politik, Wien. Oosterling, Henk (2009): »May you (not) live in interesting Times! Über radikale Mediokrität und Interesse«, in: Marc Jongen/Sjoerd van Tuinen/Koenraad Hemelsoet (Hg.), Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, München, S. 254-266.
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Reich, Wilhelm (1984): Rede an den kleinen Mann, Frankfurt a. Main. Sloterdijk, Peter (2005): Im Weltinnerraum des Kapitals, Frankfurt a. Main.
Von Dodos und Java-Nashörnern – oder auch nicht! M ANFRED N IEKISCH
Die Dronte, auch Dodo genannt, ist um 1690 ausgestorben oder besser gesagt ausgerottet worden, gerade einmal hundert Jahre nach ihrer Entdeckung – und sie ist heute das Sinnbild des rapiden Verschwindens von Tierarten. Dead like a Dodo heißt so viel wie mausetot, für immer verschwunden. Ausrottung ist endgültig, und so werden auch das JavaNashorn und viele andere Tier- und Pflanzenarten verschwinden, wenn nicht unverzüglich Maßnahmen zu ihrer Erhaltung ergriffen werden. Da völlig unbekannt ist, wie viele Tier- und Pflanzenarten auf der Erde leben – Schätzungen schwanken zwischen zehn und hundert Millionen –, sind auch die Hochrechnungen, wie viele Arten wir täglich oder jährlich verlieren, äußerst ungenau. Fest steht aber, dass die Aussterberaten weit höher sind, als es mit natürlichen Ursachen zu erklären wäre. Bei einzelnen Tiergruppen liegen die derzeitigen Aussterberaten tausendmal und mehr über dem normalen, natürlichen Wert. Das derzeitige Artensterben ist menschengemacht. Es hat nicht den Lauf der Welt verändert, dass die Dronte ausstarb und es wäre zwar schade, wenn auch die Java-Nashörner für immer verschwänden, aber auch das würde keine Katastrophe auslösen, könnte man sagen. Doch um diese Sichtweise geht es längst nicht mehr. Nicht einzelne, charismatische Arten sind bedroht, sondern mit den vielen bekannten und den ungezählten noch völlig unbekannten Arten, die derzeit von der Erde verschwinden, gehen dem Menschen unendlich viele Nutzungsoptionen
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verloren. Ziel des Prinzips der Nachhaltigkeit ist es, Ressourcen dauerhaft naturverträglich zu nutzen und die Nutzungsoptionen künftiger Generationen nicht zu beschränken. Dies ist schon deswegen problematisch, weil mögliche künftige Nutzungsoptionen ja noch gar nicht bekannt sind. Demnach muss also bei der Ressourcennutzung das Vorsorgeprinzip gelten. Außerdem ist über ihre Rolle im Ökosystem und bei der Erbringung der Umweltdienstleitungen für den Menschen von nur vergleichsweise wenigen Tier- und Pflanzenarten sicheres Wissen vorhanden. Es ist aber offenkundig, dass die Vielfalt des Lebens auf der Erde, die Diversität innerhalb der Arten, zwischen den Arten und die Diversität der Ökosysteme mit ihren Stoffkreisläufen Lebensgrundlage und Lebensversicherung für die Menschheit sind. Besonders gut sichtbar wird dies in Gemeinschaften, die in Subsistenzwirtschaft leben, also von dem leben, was sie produzieren. Es gilt jedoch grundsätzlich auch für Industriegesellschaften, nur dass hier die Zusammenhänge nicht so unmittelbar erkennbar sind. Noch immer nicht verstummt sind die Stimmen, welche die Bekämpfung von Armut und Hunger im Widerstreit mit dem Schutz der Natur sehen. Diese Ansicht ist grundfalsch, denn Schutz von Natur, Umwelt und Klima ist die Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf gegen Armut und Hunger. Sie ist somit auch ein Beitrag zur Friedenssicherung (vgl. Niekisch 2010).
M EHR F LÄCHEN FÜR DEN H UNGER ?
DEN
K AMPF
GEGEN
Zur Bekämpfung des Hungers in der Welt müssen wir die Landwirtschaft intensivieren und die Erträge steigern, und zwar bis zum Jahr 2050 um 70 % (FAO 2012). Das postuliert zumindest die Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO). Dieser Logik zu folgen, könnte bedeuten, dass die Landwirtschaft noch stärker großindustriellen Charakter annimmt, als sie in weiten Teilen der Welt sowieso schon hat und sich Monokulturen etwa von Mais, Weizen und Soja ausweiten. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass vor dem Hintergrund des (an sich) berechtigten Rufes nach ›erneuerbaren Energien‹ die vermehrte Anlage von Palmölplantagen die negativen Auswirkungen, welche intensive Landwirtschaft auf die natürlichen und naturnahen Lebensräume dieser Erde und ihre biologische Vielfalt schon heute hat, noch weiter verstärken. Für das Klima sind Kraftstoffpflanzen
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aus Monokulturen in den Tropen ohnehin höchst problematisch, denn aktuelle Untersuchungen zeigen, dass es mindestens 75 bis 93 Jahre dauert, bis die Kohlendioxid-Einsparungen durch Biokraftstoffe den Verlust durch die Rodung der Wälder ausgleichen (Danielsen/et al. 2009). Bei der Umwandlung von Sumpfwäldern in Ölpalmplantagen, die gerade in großem Umfang in den zu Malaysia und Indonesien gehörenden Staaten der Insel Borneo stattfindet, wird der Kohlenstoffhaushalt sogar erst nach sechshundert Jahren ausgeglichen, von den anderen weitreichenden negativen Folgen für die biologische Vielfalt und die sozialen Verhältnisse ganz zu schweigen. Wenn tatsächlich mehr Lebensmittel angebaut werden müssen, um den Hunger in der Welt zu bekämpfen, werden die Ölpalmplantagen noch bedenklicher, ja absurd, denn dann würde die Fläche ja für den Anbau von Nahrungspflanzen dringend benötigt. Die Waldbeseitigung für Ackerbau und Viehzucht führt ohnehin schon unmittelbar zur Bodenerosion. Der – ganz wesentlich durch Entwaldung angeheizte – Klimawandel wird wiederum zum zusätzlichen Vernichter von landwirtschaftlichen Böden, da er die Erosion begünstigt, sei es nun wegen starker Niederschläge oder über vermehrte Trockenheit. Bis zu 40 % der landwirtschaftlichen Flächen gelten weltweit bereits als degradiert und wenn die gegenwärtigen Trends der Desertifikation anhalten, könnte nach einer Studie des Institutes für Natürliche Ressourcen in Afrika (INRA) der Universität der Vereinten Nationen (UNU) möglicherweise schon 2025 nur noch ein Viertel der menschlichen Population in Afrika vom eigenen Kontinent ernährt werden (United Nations Economic and Social Council 2007). Weltweit übersteigen die von der Landwirtschaft provozierten Erosionsraten die der Bodenbildung bei weitem. Fruchtbarer Boden wird also immer knapper, nicht trotz, sondern – so paradox es auch klingen mag – wegen der Ausweitung der Landwirtschaft.
E RNÄHRUNGSSICHERUNG DURCH V IELFALT , NICHT DURCH M ASSE – EIN TRADIERTES P RINZIP Angesichts der vielfältigen negativen Auswirkungen, welche die Landwirtschaft bisher global auf die biologische Vielfalt und das Klima hat – und diese überwiegen in der Summe die zweifelsohne auch vorhandenen positiven, vor allem lokalen Effekte auf die Landschaft und den Artenbestand bei
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weitem –, bedarf es also eines völligen Umdenkens, wie Landwirtschaft die menschliche Ernährung nachhaltig sichern kann. Einer der ganz zentralen Lehrsätze der Ökologie schafft hier die wesentliche Einsicht: Nährstoffarmut in Böden und Gewässern bedingt – relativ gesehen – eine große Zahl von Arten, die aber nur in wenigen Individuen vorkommen. Umgekehrt führt Nährstoffreichtum zu einer großen Zahl von Individuen, aber nur aus wenigen Arten. Die Begründung dafür ist einfach: Bei niedrigem Nährstoffangebot entwickeln Spezialisten ganz unterschiedliche Strategien, um an die wenigen Nährstoffe zu kommen. Es bilden sich also viele verschiedene Arten aus, allerdings zum Preis der Individuenarmut, da das Angebot für den einzelnen Spezialisten limitiert ist. Bei Nährstoffreichtum hingegen können wenige Arten mit vielen Individuen alle anderen überwuchern. Die Spezialisten haben hier keine Chance. Schon der Vergleich der Pflanzen an einem heimischen Bahndamm oder auf einem Schieferfelsen mit einer völlig überdüngten Viehweide zeigt in Mitteleuropa die Richtigkeit dieser Erkenntnis. Da die Böden der Tropen von Natur aus in aller Regel vergleichsweise oder absolut nährstoffarm sind, wobei hier auf die Gründe dafür nicht näher eingegangen werden kann, ist die industrielle Landwirtschaft im europäischen Stil hier vom Ansatz her falsch. Sie versucht ja, große Mengen aus wenigen Arten zu erzielen, während es weitaus sinnvoller wäre, mit pflanzlicher (und tierischer) Vielfalt die Ernährung zu sichern. Vielfalt zur Ernährungssicherung ist kein neues Konzept, ganz im Gegenteil. Die Bauern in den Anden kultivieren seit Jahrhunderten eine große Zahl ganz unterschiedlicher Maissorten nebeneinander. Die Matsiguenka im Manú-Nationalpark Perus pflanzen Maniok, ihr wichtigstes Nahrungsmittel, in 56 Sorten an und ergänzen diese Nahrung durch den Anbau weiterer 64 Pflanzenarten, wiederum jeweils in verschiedenen Sorten. Zudem sammeln sie Nüsse und Früchte von 17 Baumarten, nutzen 9 Froscharten, 28 Arten von Insektenlarven, fangen etwa 50 verschiedene Fischarten für ihre Ernährung (Ohl 2004). So wie hier zeigen Studien bei traditionell wirtschaftenden Bauern überall auf der Welt, besonders aber in den Tropen, dass sie ihre Familien mit Vielfalt ernähren, nicht über Masse aus wenigen Arten. Die Nutzung einer Bandbreite von Sorten, Rassen und Variationen entspringt den Notwendigkeiten der Ernährungssicherung vor allem bei denen, die in Subsistenzwirtschaft leben, also nicht durch Kauf beschaffen können, was gerade an Nahrung fehlt.
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Abbildung 1: Mädchen im Hochland von Guatemala
Auch ohne Schulbildung kann uns dieses Mädchen genau erklären, warum die Sicherung ihrer Ernährung in der Verschiedenheit der Maissorten liegt. Quelle: Manfred Niekisch
Unterschiedliche Reifezeiten, Eignung für ertragreiche oder marginale Böden, Lagerfähigkeit, Verwendungsmöglichkeit, Anfälligkeit für oder Resistenz gegen bestimmte Krankheiten und Schädlinge, Toleranz für Trockenheit oder andere Wettereinflüsse sind nur einige der genetisch festgelegten Merkmale von Saatgut und Ernteprodukten. Je größer die genetische Variationsbreite unter den angebauten Pflanzen ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass nicht die gesamte Ernte durch ein Ereignis oder eine Krankheit ausfällt und umso größer ist die Versorgungssicherheit. Dass dies im Vergleich zu ›Hochertragssorten‹ (wenn es solche denn von der
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jeweiligen Art überhaupt gibt) unter Umständen zu Lasten der Erntemenge geht, kann hingenommen werden und ist im Zweifelsfalle weitaus weniger problematisch als der mögliche Verlust der gesamten (weil einförmigen) Ernte. Hier haben sich die Sicherheit und Nachhaltigkeit mehr bewährt als hohe aber risikoreiche Produktion. Bewahrung und Kultivierung von Vielfalt und Verschiedenartigkeit offenbaren sich hier besonders klar als auf Dauer überlebenssichernde Strategien und echte Risikovorsorge. Nur am Rande sei angemerkt, dass das Konzept der ›biologischen Diversität‹ im Deutschen mit ›Vielfalt‹ nicht ganz korrekt übersetzt ist. Es geht hier mehr um die Unterschiedlichkeit als um die Menge (Viel-falt) der biologischen Merkmale. Bedeutsam ist also nicht nur die Vielfalt zwischen den Arten, sondern auch der genetische Reichtum innerhalb der einzelnen Arten. Letzterer manifestiert sich nicht immer in klar erkennbaren ›Sorten‹, zumindest aber in einer breiten Variation von Merkmalen. Schon ein Blick in das mit Oca, Wurzelknollen des Sauerklees, gefüllte Tragetuch eines Aymara-Indianers zeigt in Farbe, Form und Größe sehr stark unterschiedliche Individuen. Ohne diese im Welthandel so gut wie unbekannte Pflanze ist die Ernährung der hochandin lebenden Indigenen kaum vorstellbar und das Fehlen züchterischer Selektion führt hier wie bei manch anderer alten Kulturpflanze – im Unterschied zu den Produkten industrieller Landwirtschaft – zu großer Verschiedenheit und Vielfalt statt zu ›Standardisierung‹ und Einförmigkeit. Die genetische Variationsbreite ist die Grundlage für die Möglichkeit der evolutiven Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen. Je stärker beziehungsweise schneller sich die Verhältnisse der Umwelt ändern, umso größer ist – bei entsprechender genetischer Bandbreite der Individuen – die Chance, dass einige sich anpassen und dann aufgrund selektiver Vorteile vermehren können. Umgekehrt ist bei hochgezüchteten, genetisch uniformen Pflanzenpopulationen, wie es Monokulturen sind, die Möglichkeit der Anpassung an ungünstige Einflüsse und Bedingungen stark eingeschränkt oder lässt sich nur mittels des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln, Dünger, massiver Bodenbearbeitung und anderer Hilfsmittel überbrücken. Die daraus resultierenden Umweltschäden bedürfen hier keiner näheren Erläuterung, wie auch auf die aus solchen Anfälligkeiten oder dem Drang nach Ertragssteigerung abgeleiteten ›Notwendigkeiten‹ der genetischen Manipulation bei Hochleistungspflanzen an dieser Stelle nur hingewiesen werden soll.
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L AND ODER M EER – DIE P RINZIPIEN SIND
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GLEICH !
Das zugrunde liegende Prinzip, dass die nachhaltige und ausreichende Produktion von Lebensmitteln ohne Vielfalt nicht zu erreichen ist, gilt bei weitem nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Fischerei. Die als Monokulturen angelegten Zuchtbetriebe – zum Beispiel für Lachs und Shrimps in den entsprechenden Küstenzonen der Meere aber auch fabrikmäßig funktionierende Fischzüchtereien im Landesinneren – produzieren die Eiweißquelle Fisch nur für diejenigen Menschen, die sich solche Produkte kaufen können. Weltweit und wiederum besonders in den armen Regionen ist die Bevölkerung der Küsten aber zu einem ganz erheblichen Teil abhängig vom eigenen Fischfang. Eine wissenschaftliche Studie aus dem Mekongdelta Vietnams belegt, dass es der ungeheure Artenreichtum an Fischen, Muscheln, Schnecken und Krabben ist, welcher das ganze Jahr über die Ernährung der Bevölkerung und das Funktionieren der dem Fang nachgeschalteten Wirtschaftskreise (Verarbeitung, Aufzucht, Handel, Gastronomie) sichert (Todt 2006). Die Zusammensetzung der küstennah im Wasser und in der Mangrove lebenden Fauna variiert über das Jahr erheblich in der Zusammensetzung, vor allem in Abhängigkeit von Strömungen, Wasserständen, Temperatur sowie Salz- und Süßwassereinfluss (der je nach Trockenzeit und der Regenzeit sehr stark schwankt). Auch hier ist die Vielfalt der Arten der Garant für ganzjährige Fangerfolge. Über weite Strecken sind die als Vermehrungsstätten für viele Meerestiere bedeutsamen Küstenzonen der Erde, auch Korallen und Mangroven, durch Aquakulturen für Meeresfische und Shrimps massiv geschädigt. Monokulturen für lebende Tiere erfordern analog der Intensiv-Landwirtschaft einen hohen Einsatz von Stoffen und Praktiken, welche die natürlichen Systeme und ihre biologische Produktivität beeinträchtigen. Hinzu kommt die Überfischung der Bestände durch den industriellen Fischfang. Die sozialen Folgen der Ressourcenverknappung gipfeln darin, dass einstige Küstenfischer in Somalia aus Mangel an Fisch dazu übergehen, Schiffe zu entführen.
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Abbildung 2: Das Mekong Delta in Vietnam
Falsches Küstenmanagement und (vermutlich) durch den Klimawandel bedingte Küstenerosion führten dort an vielen Stellen zum Verlust der Mangrove, deren Reste links im Bild noch zu sehen sind. Der Versuch der Bewohner, ihre Häuser mit Holzzäunen gegen die offene See zu schützen, ist zugleich verzweifelt und wirkungslos. Quelle: Manfred Niekisch
D REI
ZENTRALE P ROBLEME UND ZU IHRER L ÖSUNG
W EGE
Die drei wichtigsten globalen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte sind die Bekämpfung des Hungers, die Erhaltung der Biodiversität und der Schutz des Klimas. Die räumliche Ausweitung industrieller Großprojekte zur Nährmittelproduktion ist keine Lösung, da sie den beiden letztgenannten Zielen diametral entgegensteht. Auch verknappen großflächige Intensivkulturen den Raum für Kleinbauern und lokale Fischer und produzieren vor allem für Bevölkerungskreise, die sich den Kauf von Lebensmitteln leisten können, oft sogar ausschließlich für den Export. Sie können das Hungerproblem deswegen nicht lösen, weil sie das Armutsproblem nicht lösen. Hinzu kommen die weitreichenden sozialen und ökonomischen Risiken, die mit einer Konzentration der Herstellung von und des Handels mit
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Lebensmitteln auf relativ wenige große Landbesitzer und Konzerne verbunden sind. Die gemeinsame Lösung für die Erhaltung der Biodiversität, den Schutz des Klimas und die Sicherung der menschlichen Ernährung gibt es (Niekisch 2007). Sie ist angesichts der gegenwärtigen Verteilung von Wirtschaftsinteressen, politischen Machtverhältnissen und Landbesitz nicht einfach zu erreichen, aber letztendlich ohne Alternative, wenn wir die Umwelt, in welche die Evolution den Menschen gestellt hat, nicht aufs Spiel setzen wollen. Vor allem müssen die noch vorhandenen natürlichen Wälder, Moorgebiete und Grasländer vor Umwandlung geschützt werden. Des Weiteren müssen alle noch vorhandenen Potenziale der nachhaltigen Ertragssteigerung, welche Klima und Biodiversität nicht beeinträchtigen und nicht neue, natürliche Flächen beanspruchen, ausgeschöpft werden. Vor allem aber bedarf es dringend einer grundlegenden Ökologisierung der Land-, Forst- und Wasserwirtschaft und eine Verbesserung und Stärkung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, wo immer dies möglich beziehungsweise nötig ist. Auch an Hochertragsstandorten müssen Mindeststandards des Natur- und Umweltschutzes eingehalten werden. Die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union, welche 2013 anstand, bot hier viele Ansatzpunkte, beispielsweise indem Zahlungen an Bauern aus öffentlichen Geldern nur noch für die Bereitstellung öffentlicher Güter, also von Umweltdienstleistungen, erfolgen (vgl. Europäische Union 2013). Leider wurden hier wieder Chancen versäumt. Zu GAP hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) gerade eine umfassende Stellungnahme vorgelegt. Sauberes Wasser, fruchtbarer Boden, natürlicher Artenbestand, ungestörte Erholung und Kohlendioxid-Bindung sind einige Stichworte für solche öffentlichen Güter. Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln ist zwar ein sehr hohes Gut, aber nicht in diesem Sinne ein öffentliches Gut, denn sie hängt weniger von der Produktion ab als von Maßnahmen wie Vorratshaltung und geeigneten Mechanismen der Verteilung. Der SRU hat auch darauf hingewiesen, dass eine Umstrukturierung der Landwirtschaft mit dauerhafter Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit unter Umständen mehr Versorgungssicherheit gewährleistet als ›ungebremste Produktion‹, die vielfach und auf Dauer zu Lasten der Bodenfruchtbarkeit geht (SRU 2013). Es geht also nicht darum, mit Ökoromantik den Hunger der Welt zu bekämpfen. Es geht darum, dass – zumal angesichts der Klima-Szenarien –
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die Sicherung der menschlichen Ernährung dauerhaft nur durch die Erhaltung der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der biologischen Ressourcen und der natürlichen Ökosysteme erreicht werden kann. Im Namen der Bekämpfung des Hungers mit neuen agro-industriellen Großprojekten die klimatischen und biologischen Grundlagen menschlichen Wirkens weiter in das Risiko hineinzutreiben, wäre nicht Nothilfe, sondern Zynismus.
U ND
WAS BEDEUTET DAS JETZT FÜR
UND
J AVA -N ASHORN ?
D ODO
Für den Dodo kommt jede Hilfe zu spät, doch gibt es Hinweise, dass sein Aussterben auch eine andere Art in Not brachte, nämlich den Calavariabaum, der früher häufig auf Mauritius – der einstigen Heimat des Dodos – vorkam, dreihundert Jahre alt werden kann und in den 1970er Jahren kurz vor dem Aussterben stand. Durch Verfütterung der Samen an Truthühner oder Anschleifen konnten die Samen zum Keimen angeregt und das Verschwinden der Art so im letzten Moment verhindert werden. Eventuell war natürlicherweise die Passage durch den Darmtrakt des Dodo Voraussetzung für die Fortpflanzung dieses Baumes. Dieses Beispiel wirft ein kleines Schlaglicht auf die Komplexität der Zusammenhänge in Ökosystemen. Auch wenn wir längst nicht alle Interaktionen erkannt haben, wenn wir noch immer sehr wenig über die Beziehungen innerhalb von Ökosystemen wissen, über die Rolle einzelner Arten in ihren Lebensgemeinschaften, so ist doch längst unverkennbar, dass die Schäden umso größer sind, je mehr Arten wir verlieren. Einmal abgesehen vom intrinsischen Wert aller Lebewesen als Begründung für die Notwendigkeit, die biologische Diversität der Erde umfassend zu erhalten, ist es auch aus ökonomischen, kulturellen und sozialen Gründen nicht weiter zu verantworten, das anthropogene Aussterben von Arten, Systemen und Lebensgemeinschaften weiter zuzulassen. So muss es das Ziel sein, alle Arten zu erhalten und das Java-Nashorn sowieso, selbst wenn wir einen direkten ›Nutzen‹ (noch) nicht darin erkennen können.
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L ITERATUR Danielsen, Finn/et al. (2009): »Biofuel Plantations on Forested Lands: Double Jeopardy for Biodiversity and Climate«, in: Conservation Biology 2009, 23. Jg., Nr. 2, S. 348-358, http://www.ibcperu.org/doc/isis/9640.pdf Europäische Union (2013): GAP – Die Gemeinsame Agrarpolitik nach 2013, http://ec.europa.eu/agriculture/cap-post-2013/index_de.htm vom 15.06.2013. FAO (2012): FAO Statistical Yearbook 2012. World Food and Agriculture, http://www.fao.org/docrep/015/i2490e/i2490e00.htm Niekisch, Manfred (2007): »Naturschutz und Armutsbekämpfung: Altes Leid und neue Strategien«, in: Thomas R. Engel/Barbara Engels/Bettina Hedden-Dunkhorst (Hg.), Naturschutz als Instrument der Armutsbekämpfung – Grenzen und neue Chancen, Bad Godesberg, S. 6-25. Niekisch, Manfred (2010): »Die Vielfalt bringt’s. Klimawandel, Schutz der Biodiversität und Ernährungssicherung – Zusammenhänge, Potenziale und nächste Schritte«, in: Böll Thema, Landwirtschaft und Klimawandel, 2/2010, Berlin, S.14-15. Ohl, Julia (2004): Die Ökonomie der Matsiguenka im Nationalpark Manú. Peru-Tourismus als Chance für eine nachhaltige Entwicklung?, in: Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH (Hg.), Tropenökologisches Begleitprogramm, Eschborn, S. 110. SRU (Sachverständigen Rat für Umweltfragen 2013): Die Reform der europäischen Agrarpolitik. Chancen für eine Neuausrichtung nutzen, Kommentar zur Umweltpolitik Nr. 11, Berlin, http://www.umweltrat.de/ SharedDocs/Downloads/DE/05_Kommentare/2012_2016/2013_KzU_G AP.pdf?__blob=publicationFile vom Januar 2013. Todt, Andrea (2006): Traditional utilisation of natural resources in the coastal wetlands in the Lower Mekong Delta, Vietnam, http://czmsoctrang.org.vn/Publications/EN/Docs/Traditional_utilisation_of_natural _resources_in_the_coastal_wetlands_in_the_Lower_Mekong_Delta_Viet nam.pdf United Nations Economic and Social Council. Economic Commission for Africa (Hg.) (2007): Fifth Meeting of the Africa Committee on Sustainable Development (ACSD-5), Regional Implementation Meeting (RIM) for CSD-16, Addis Ababa 22-25 October 2007, Africa Review Report on Drought and Desertification, http://www.un.org/esa/sustdev/csd/csd 16/rim/eca_bg3.pdf
Autorinnen und Autoren
Wolf Dieter Enkelmann (Dr. phil.), geboren 1955 in Münster/Westfalen. Nach dem Studium der Philosophie, Geschichte, Sozial- und Politikwissenschaften war er lange Jahre in der Kulturarbeit tätig. Parallel begann er, als Führungscoach und Unternehmensberater zu arbeiten. Seit 2001 ist er Direktor des Münchner Instituts für Wirtschaftsgestaltung, das sich der wirtschaftsphilosophischen Forschung widmet. Außerdem ist er an verschiedenen Universitäten als Dozent für philosophische Ökonomik im Einsatz. Gemeinsam mit Birger P. Priddat gibt er im Marburger Metropolis-Verlag die Reihe Wirtschaftsphilosophie heraus. Zahlreiche Publikationen sowie Vorträge auf wissenschaftlichen Kongressen, öffentlichen Veranstaltungen und in der Wirtschaft belegen sein Engagement für neue Ansätze in Theorie und Praxis des Wirtschaftens. Gerd Ganteför (Prof. Dr.), studierte Physik an der Universität Münster und promovierte 1989 an der Universität Bielefeld im Bereich Nanowissenschaften. Nach einem einjährigen Auslandsaufenthalt bei Exxon in New Jersey (USA) habilitierte er 1996 an der Universität zu Köln und ist seit 1997 Professor für Experimentalphysik an der Universität Konstanz. 2010 erschien sein Buch Klima. Der Weltuntergang findet nicht statt, in dem der Autor die Frage stellt, was vom ›Klimawandel‹ wirklich zu halten ist. Moritz Gekeler (Dr. phil.), arbeitet als strategischer Innovations- und Designberater in Berlin. Sein geisteswissenschaftlicher Werdegang begann mit Komparatistik, Italianistik und Theaterwissenschaft an der LMU München. Seine Dissertation schloss er 2010 im Fach Medientheorie an der HfG Karlsruhe ab (Konsumgut Nachhaltigkeit Bielefeld, 2010, transcript
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Verlag). Berufliche Stationen führten ihn in die Gesellschafts- und Zukunftsforschung der Daimler AG sowie an die Innovationsschule HPI School of Design Thinking. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Medientheorie und Designstrategie. Er lehrt Design- und Innovationsmethoden an unterschiedlichen deutschen Hochschulen. Ulrich Grober, ist gelernter Germanist. Er lebt im Ruhrgebiet und arbeitet als freier Autor für Hörfunk- und Printmedien. Seine Themen sind Ökologie, Nachhaltigkeit und nachhaltige Lebensstile. 1998 erschien sein erstes Buch (Ausstieg in die Zukunft) über Projekte einer alternativen Ökonomie. Sein Buch Vom Wandern aus dem Jahr 2006 entwickelte sich zum Longseller. Die Entdeckung der Nachhaltigkeit – Kulturgeschichte eines Begriffs erschien 2010. Seitdem ist er mit Vorträgen und Seminaren zum Thema unterwegs. Armin Grunwald (Prof. Dr.), studierte Physik, Mathematik und Philosophie. 1987 promovierte er mit einer Arbeit in der Theoretischen Festkörperphysik zum Dr. rer. nat. an der Universität zu Köln und erwarb 1998 die Habilitation und venia legendi in Philosophie an der Universität Marburg. Im Oktober 1999 übernahm er die Leitung des Instituts für TechnikfolgenAbschätzung und Systemanalyse (ITAS), zu Beginn 2002 auch die Leitung des Büros für Technikfolgen-Abschätzung des Deutschen Bundestags (TAB). Seit 2007 ist er zusätzlich Inhaber des Lehrstuhls für Technikphilosophie und Technikethik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und seit 2009 auch Sprecher des Programms ›Technologie, Innovation und Gesellschaft‹ der Helmholtz-Gemeinschaft. Susanne Hauser (Prof. Dr.), ist Professorin für Kunst- und Kulturwissenschaft am Institut für Geschichte der Universität der Künste Berlin. Sie studierte Geschichte, Philosophie, Linguistik sowie Kunst- und Literaturwissenschaft und promovierte mit einer Arbeit über den Blick auf die Stadt zwischen 1700 und 1910. Nach Aufenthalten in Paris, Washington und Stockholm habilitierte sie 1999 über Ästhetik und Gestaltung in Industriebrachen in Westeuropa. Zuletzt hatte sie in Kassel eine Gastprofessur für Landschaftsästhetik und -geschichte und lehrte Kunstgeschichte an der Technischen Universität Graz.
A UTORINNEN
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A UTOREN
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Yana Milev (Dr. phil., MFA), ist Medienkünstlerin, Kulturphilosophin, Kuratorin und Publizistin. Sie studierte Stage Design, Freie Kunst und Kulturtheorie in Dresden, Kampfkünste in Kyǀto und Berlin sowie Kulturphilosophie, Medientheorie und Anthropologie der Kunst in Wien und Karlsruhe. 1987 gründete Milev das Label AOBBME, eine Plattform interdisziplinärerer und transitiver Forschung. Nach einer erfolgreichen künstlerischen Karriere (1992-2003 Künstlerin der Galerie EIGEN+ART Leipzig/ Berlin, 1997 Documenta 10) schlug Milev eine wissenschaftliche und kuratorische Laufbahn ein. Sie absolvierte ein Doktoratsstudium und arbeitete zeitgleich als Forscherin am Institut für Designforschung der ZHdK, Zürich. Hier richtete sie 2006 das kuratorische Projekt Emergency Design aus. 2008 erfolgte die Promotion zu einem Thema der politischen Philosophie. Seit 2010 ist sie Visiting Research Fellow am Forschungsinstitut der HfG Karlsruhe und seit 2012 Habilitandin am soziologischen Institut der Universität St. Gallen. Sie ist Begründerin des interdisziplinären Forschungsfeldes ›Designanthropologie‹. Kai Mitschele (Lic. phil.), studierte u.a. Kunstgeschichte, Medienwissenschaft und Nachhaltige Entwicklung (MGU) in Basel und Karlsruhe und promoviert derzeit zum ›nicht von Menschhand gemachten Bild‹ am medienwissenschaftlichen Institut der Universität Basel. Seit 2008 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe tätig, kam er 2011 über das dort ansässige Institut für Medien, Bildung und Wirtschaft als Akademischer Mitarbeiter zur Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, wo er bis 2013 auch als Lehrbeauftragter im Fachbereich Kunstwissenschaft tätig war. Manfred Niekisch (Prof. Dr.), ist seit März 2008 Direktor des Frankfurter Zoos nach fünfundzwanzig Jahren praktischer Arbeit vor Ort und wissenschaftlicher Forschung zum Schutz von Arten und tropischen Wäldern, vor allem in Entwicklungsländern, einschließlich zehn Jahren als Professor für Internationalen Naturschutz an der Universität Greifswald. Neben seiner Tätigkeit als Vizepräsident der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt sowie als Präsident der Gesellschaft für Tropenökologie und Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen (SRU) der Bundesregierung ist er seit Juli 2010 zudem Professor für Internationalen Naturschutz an der GoetheUniversität Frankfurt. In der Welt-Naturschutzunion IUCN wirkte er
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ehrenamtlich über acht Jahre, also die maximal möglichen zwei Amtszeiten, als Mitglied des Global Council. Die wissenschaftlichen Inhalte seiner Arbeit liegen insbesondere in Strategien und Instrumenten zur nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen, speziell zum Schutz der Biodiversität. Sabine Scharff (M.A.), studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaften sowie Kommunikationswissenschaften in München, mit einer Studienabschlussarbeit über Friedrich Nietzsches Konzeption des Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses. Seit 2010 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Münchner Institut für Wirtschaftsgestaltung (IFW) sowie seit 2012 Akademische Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation über vertragstheoretische Konzepte in der Philosophie Nietzsches. Bernhard Wiens (Dr. phil.), studierte in Berlin und Frankfurt am Main. Die Schwerpunkte seiner sozialwissenschaftlich angelegten Forschungsund Lehrtätigkeit in Berlin, Halle und Bernburg liegen auf Emigrationsforschung, Totalitarismus und Mediensoziologie. Zurzeit unterrichtet er an der Beuth Hochschule Berlin und arbeitet als Journalist. Seine sozialwissenschaftlichen Veröffentlichungen konzentrieren sich auf Medien, Städtebau und Soziologie der Landschaft.
Personen- und Sachregister
Aalto, Alvar 121 Abramoviü, Marina 90 Adorno, Theodor W. 128 Agamben, Giorgio 172, 176, 191 Aicher, Otl 117, 125-128, 132 Anderson, Chris 86 Andritzky, Michael 51 Aristoteles 78/79 Asmus, Gesine 115 Assisi, Franziskus von 18-21 Association Of Black Box Multiple Environments (AOBBME) 182, 189/190 Augé, Marc 124, 133 Banham, Reyner 121/122 Banse, Gerhard 108/109 Barrasch, Elias 66/67 Bataille, Georges 82, 88 Baudrillard, Jean 7, 77, 128 Bauer, Michael 49 Bauknecht, Dieter 107 Bechmann, Gotthard 107 Beecher, Catherine 116 Beierwaltes, Werner 14 Bell, Peter 21
Benjamin, Walter 131, 176 Bernstorff, Andreas von 88 Biennale di Venezia (Biennale in Venedig) 45 Blechinger, Gerhard 192 Bloch, Ernst 124 Boltshauser, Roger 51 Borchert, Wolfgang 124 Brandt, Willy 33 Braungart, Michael 46, 65, 78 Brown, Tim 62 Brundtland, Gro Harlem 31, 96 Brundtland-(Bericht/Definition/ Formel/Kommission/Report) 7, 14, 23, 26, 31/32, 39, 97 Bryson, Bill 28 Büttner, Roman 136 Bundesministerium der Justiz 48 Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 9 Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung (BMVBS) 47 Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 148 Burckhardt, Lucius 51
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Busch, Wilhelm 136 Busse, Tanja 69, 108 Calatrava, Santiago 126 Campe, Joachim Heinrich 15 Carlowitz, Hans Carl von 7, 2628, 31, 87, 89 Cernan, Eugene 30 Club of Rome 15, 78, 102 Coenen, Reinhard 97 Colani, Luigi 126/127 Cross, Nigel 62 Cunningham, Ray 35 Danielsen, Finn 197 Descartes, René 23-25, 86 Design 42, 46, 60-69, 82, 122, 125/126, 128, 132, 136, 173180, 184, 186/187, 189-192 Design Council 62 Diamandis, Peter H. 83-85 Diamond, Jared 16 Döring, Ralf 97 Doernach, Rudolf 52 Dreieck der Nachhaltigkeit 23, 27, 32 Drexler, Hans 41 Easton, Bob 45 Eder, Christa 78 Eisendle, Reinhard 120 Ekardt, Felix 97/98 Elias, Norbert 115 Energiewende 9, 95, 101-105, 107/108, 145-151, 153, 156158, 161/162, 165, 167, 169 Engels, Friedrich 76
Enkelmann, Wolf Dieter 8, 88 Entwicklung, nachhaltige 7, 13/14, 31, 33, 95-98, 101, 107 Erlhoff, Michael 60 Erneuerbare Energien/ Energieträger 27, 29, 95, 99-102, 108, 145-151, 156, 161/162, 167, 169, 196 Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) 8, 102, 149/150 Ernst I. von Sachsen-Gotha (Ernst der Fromme) 26 Euklid von Alexandria 117 Europäische Union (EU) 48, 149, 203 Evelyn, John 26 Fairs, Marcus 65 Fathy, Hassan 52 Feuerstein-Herz, Petra 29 Fezer, Jesko 41 Föllinger, Sabine 80 Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) 196 Fossile Energien/Energieträger 58, 83, 100-103, 145, 147149, 160 Foucault, Michel 173-175 Frampton, Kenneth 118 Frank, Charlotte 88 Frederick, Christine 116 Friedrich August I. von Sachsen (August der Starke) 87 Friedrich der II. von Preußen (Friedrich der Große) 87
P ERSONEN -
Fukuyama, Francis 76 Fußabdruck 13, 32/33, 113, 174 Gais, Michael 62/63, 65 Gandhi, Indira 18 Gandhi, Mahatma 35 Ganteför, Gerd 9, 148, 150/151, 154, 160/161, 164 Gehrmann, Hasso 127 Gekeler, Moritz 9, 58 Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) 203 Genesis Institute 66 Gilbreth, Frank B. 117 Gilbreth, Lillian 117 Glaubers, Hans 34 Global Service Jam 66 Global Sustainability Jam 66 Globe Theater 23 Governance 7, 23, 107, 172-175, 179, 183, 187 Graff, Bernd 86 Gramsci, Antonio 179 Grenzen des Wachstums 7, 15, 23, 32, 34, 77/78, 102, 192 Gries, Rainer 58 Grober, Ulrich 8/9, 35, 39 Gropius, Walter 121, 126 Grunwald, Armin 8, 97, 99, 102104, 107-109 Gumbrecht, Hans Ulrich 76 Habermas, Jürgen 23 Haeckel, Ernst 29 Häntzschel, Jörg 83 Hanisch, Ruth 115 Hardt, Michael 172
UND
S ACHREGISTER
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Hargroves, Karlson 97, 101, 108 Hatzelhoffer, Lena 133 Hauff, Volker 96 Hauser, Susanne 9, 42, 44/45 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 81 Heid, Gerhard 52 Heilmeyer, Florian 45 Heinsohn, Gunnar 89 Hennemann, Max 133 Heraklit von Ephesos 81 Hilberseimer, Ludwig 119 Hilpert, Thilo 118/119, 132 Hochheim, Eckhart von (Meister Eckhart) 8 Hochschule für Gestaltung Ulm 127 Hoffmann, Ot 51 Holzer, Peter 52 Holzmann, Gerhard 51 Hormess, Markus 66 HPI School of Design Thinking 66 Industrie- und Handelskammer zu Berlin (IHK Berlin) 75 Institut für Natürliche Ressourcen in Afrika (INRA) 197 Intergovernmental Panel of Climate Change (IPCC) 160/161 International Energy Agency (IEA) 100 International Union for Conservation of Nature (IUCN) 23
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Internationale Bauausstellung (IBA) 43/44 Internationaler Gerichtshof 13
Kunst 16, 34/35, 48, 79, 83, 90, 105, 116, 119, 126, 184-186 Kurzweil, Ray 83-85
Jégou, François 67 Jobs, Steve 76 Johnson, Jack 34
Lachmayer, Herbert 120 Läpple, Dieter 134 Lang, Fritz 122 Langer, Claudia 59 Lauber, Wolfgang 52 Lawrence, Adam 66 Le Corbusier 118/119, 121/122, 126/127, 131-133, 138 Leclerc, Eloi 20 Leibniz, Gottfried Wilhelm 33 Leicht-Eckhardt, Elisabeth 117 Leitbild 7, 9, 13/14, 31, 34, 96/97, 109, 118, 129 Lennon, John 21 Linné, Carl Nilsson 28/29 Listing, Johann Benedict 181 Lock, Katrin 124, 137 Loebel, Wolf 127 Löw, Martina 186 Lohrberg, Frank 43 Loorbach, Derk 103, 107 Ludwig XIV. von Frankreich 87 Luhmann, Niklas 82 Lukas, der Evangelist 21
Kahn, Lloyd 45 Kahn, Louis 122 Katz, Gitte 58 Kaufmann, Hermann 51 Kellenberger, Jakob 180 Kelley, Kevin W. 30 Kemp, Rene 107 Keynes, John Maynard 76-79, 81 Kierkegaard, Sören 181 Kimbell, Lucy 61 Knie, Andreas 118 Kollaps 15/16, 22/23, 26/27, 35, 172, 174 Koerner, Lisbet 29 Kopfmüller, Jürgen 97-99, 109 Kotler, Steven 84 Kracauer, Siegfried 118 Kreislauf 9, 22, 28/29, 33, 40-44, 46, 87, 196 Krippendorff, Klaus 63 Krise 7, 14, 16, 22, 25/26, 62, 102, 104, 152, 171/172, 174, 179-192 Krohn, Carsten 123, 132 Kultur 15/16, 18/19, 26, 33-35, 45, 59-61, 68, 75, 96, 101, 106, 108/109, 134, 155, 173, 180, 186/187, 192, 196/197, 200-202
Mager, Birgit 62/63, 65 Mair, Judith 65 Manovich, Lev 130 Manzini, Ezio 67 Marinetti, Filippo Tommaso 118 Marshall, Tim 60 Marx, Karl 76 Marz, Lutz 118
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Maslow, Abraham 34 May, Ernst 125 McDonough, William 46, 65 Meadows, Dennis 78 Meadows, Donella H. 15 Meinel, Christoph 62 Meister, Georg 25 Meroni, Anna 62 Meyer, Erna 117 Metz, Karl Heinz 155 Mielke, Rita 131 Migge, Leberecht 43 Miklautz, Elfie 120 Milev, Yana 7, 181, 187, 192 Minke, Gernot 51 Misik, Robert 58 Möbius, August Ferdinand 181 Museum of Modern Art (MoMA) 90 Mösle, Peter 49 Mountbatten-Windsor, Charles Philip Arthur George, HRH The Prince of Wales 16 Mouffe, Chantal 179 Mulhall, Douglas 46 Musashi, Miyamoto 184 Muthesius, Hermann 119/120 Nachtwey, Jutta 65 Nachhaltige Entwicklung zwischen Durchsatz und Symbolik (NEDS) 40 Næss, Arne 34 Nancy, Jean-Luc 8 National Aeronautics and Space Administration (NASA) 9 Nationalpark Manú, Peru 198
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Negri, Antonio 172 Neubacher, Alexander 59 Newton, Isaac 117 Niekisch, Manfred 8, 196, 199, 202/203 Nietzsche, Friedrich 7, 79/80 Noever, Peter 116 Obama, Barack 85 Obsoleszenz 114, 136 Ökologie 7, 19, 23, 27-29, 32, 198 Ökonomie 8, 23, 25, 27-29, 32, 40, 45, 50, 77-82, 85, 88, 117/118, 178, 180, 183, 187, 190/191 Ökosystem 13/14, 16, 31-33, 196, 204 Ötzi 17/18 Offenberger, Monika 25 Ohl, Julia 198 Österreichisches Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie 52 Oosterling, Henk 179 Ostrom, Elinor 88 Ostwald, Hans 115 Ott, Konrad 97 Oud, Jacobus Johannes Pieter 117 Packard, Vance 123, 130 Page, Larry 85 Parodi, Oliver 108/109 Patton, Phil 126 Petzet, Muck 45
216 | W ERKBEGRIFF N ACHHALTIGKEIT
Platon 78, 82 Plattner, Hasso 62, 178 Polster, Bernd 126 Popper, Karl 83 Potthoff, Heinz 118 Preisack, Eduard B. 52 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 48 Preußler, Otfried 57 Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) 164 Proctor, Rebecca 65 Produktivität 81, 85, 87, 154157, 201 Prytula, Michael 44 Rattner, Justin 85 Rauch, Martin 51 Reich, Wilhelm 175 Reidl, Andrea 135 Ressource 15, 17, 21, 25, 27-29, 31-33, 39, 46/47, 50, 82/83, 87/88, 96/97, 99, 101, 108/109, 145, 163, 166, 190192, 196/197, 201 Rio-Konferenz (Conference on Sustainable Development/ Erd-Weltgipfel von Rio de Janeiro/Rio+20) 13/14, 31, 96, 108, 135 Rip, Arie 107 Rodleitner, Hans-Peter 52 Rodriguez, Rada 131 Ropohl, Günter 103/104 Rudofsky, Bernhard 50
Sachverständigen Rat für Umweltfragen (SRU) 203 Sangiorgi, Daniela 62 Schaffer, Andreas 108/109 Scharoun, Hans 120/121 Scheer, Andrea 66/67 Scheerbart, Paul 113 Schimanski, Andreas 124, 137 Schippl, Jens 103/104, 107 Schlegel-Matthies, Kirsten 118 Schmidt-Brümmer, Horst 45 Schmitt, Arbogast 14 Schmitt, Carl 172 Schneider, Jakob 62 Schütte-Lihotzky, Margarete 116/117, 125 Schumpeter, Joseph Alois 77 Schwarz, Michael 49 Schweisfurth, Karl Ludwig 34 Schweisfurth-Stiftung 34 Schweitzer, Eric 75, 78 Seckendorff, Veit Ludwig von 26 Seidel, Adeline 41 Shakespeare, William 23 Shedroff, Nathan 61 Simmel, Georg 135 Simon, Herbert Alexander 61 Singularity University 83-85 Sloterdijk, Peter 108/109, 124, 183 Smith, Michael 97, 101, 108 Smithson, Alison 121/122 Smithson, Peter 121/122 Speer, Albert 122 Spiegel, Peter 66 Spinoza, Baruch de 24/25 Steiger, Otto 89
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Stickdorn, Marc 62 Südekum, Albert 115 Südtiroler Archäologiemuseum 17 Surmann, Antonia 127 Sustainable Everyday Project 67 Tati, Jacques 131 Taut, Bruno 113, 116 Taut, Max 121 Taylor, Frederick Winslow 116118 The Doors 20 Thiel, Peter 85 Tholen, Georg Christoph 9 Thomä, Dieter 85 Todt, Andrea 201 Tönnies, Ferdinand 114 Ueshiba, Morihei 184/185 Ullrich, Wolfgang 58/59 Ungers, Oswald Mathias 122 United Nations/United Nations Organization (UN/UNO) 1315, 18, 23, 28, 30-32, 39, 43, 96 United Nations Economic and Social Council 197 United Nations Environment Programme (UNEP) 67 Universität der Vereinten Nationen (UNU) 197 Veblen, Thorstein 128-130 Verbong, Geert 103, 107 Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. 137
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Vereinte Nationen ĺ siehe United Nations/United Nations Organization (UN/UNO) Vision Summit 66 Voelcker, John 114 Vogl, Joseph 77 Volkswagenstiftung 78 Voß, Jan-Peter 107 Wangelin, Matthias 51 Weeramantry, Christopher G. 13 Weinberg, Ulrich 62 Weizsäcker, Ernst Ulrich von 97, 101, 108 Weltklimarat ĺ siehe Intergovernmental Panel of Climate Change (IPCC) Welzer, Harald 78 Werkbund 117, 126, 128 Wewerka, Stefan 127 Whitney, William Dwight 18 Widrich, Mechthild 115, 126 Wiegandt, Claus-Christian 133 Wiens, Bernhard 8, 120/121 Wietschel, Martin 101 Wilkens, Michael 43 Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU) 107 Wolf, Maik 124, 137 Worldwatch Institute 109 Wright, Frank Lloyd 114, 120, 124 Zukang, Sha 13
Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien April 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Nacim Ghanbari, Marcus Hahn (Hg.)
Reinigungsarbeit Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2013
Juni 2013, 216 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2353-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 13 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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