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German Pages 308 Year 2020
Lena Hintze Werk ist Weltform
Literatur – Medien – Ästhetik
Die Reihe wird herausgegeben von Torsten Hahn und Nicolas Pethes.
Lena Hintze, geb. 1986, arbeitet in der freien Literatur- und Theaterszene. Sie studierte Deutsche und Englische Philologie sowie Musikwissenschaft an der Universität zu Köln.
Lena Hintze
Werk ist Weltform Rainald Goetz’ Buchkomplex »Heute Morgen«
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein Zugl.: Dissertation Universität zu Köln, Philosophische Fakultät 2019
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Inhalt
Zitierweise und Siglenverzeichnis ........................................................ 7 Einleitung: Paranoidgestalt der Perfektion ............................................... 9 1. 1.1 1.2 1.3
Paratext und Pop ................................................................... 15 Paratext als Qualität des Mediums Buch ............................................................. 17 Ästhetik der Oberfläche.................................................................................. 35 Von der edition suhrkamp zur »Edition Goetz« ..................................................... 42
2. 2.1 2.2 2.3 2.4
Zahlen ............................................................................. 59 Zahlen und Literatur: Symbolik und Komposition .................................................. 61 Zahlen und Goetz: Wirrnis und Ordnung ..............................................................82 HEUTE MORGEN: Sukzession und Widerstand ......................................................104 Jeff Koons: Sieben Akte, schön knapp abgepackt ................................................ 118
Geometrie ........................................................................ 133 Text/Paratext-Räume.................................................................................... 135 Jeff Koons, der Künstler und Jeff Koons, das Stück............................................. 143 Mercedes und Madonna, Brecht und Hamsun – Danksagung und Motti im Theaterstück Jeff Koons ...........................................................................................169 3.4 Text und Bild, Sozialität und Asozialität ............................................................. 181
3. 3.1 3.2 3.3
4. 4.1 4.2 4.3
Musik ............................................................................. 189 Techno: Das Ende der Dissidenz ....................................................................... 191 Rave Maria – Techno und Religion..................................................................... 210 Sound und Bild des Textes ............................................................................. 217
5. 5.1 5.2 5.3
Schöpfung ........................................................................ 231 Fernsehen – Das Fenster zur Welt ................................................................... 233 Realismus – Aufdeckung der Schreibpraxis ....................................................... 245 Systematik und Paranoia ................................................................................ 259
6.
Ausblick: Dunkelblau ist die schönste Farbe der Welt ............................. 273
Literaturverzeichnis ................................................................... 281 A. Quellen .......................................................................................................... 281 B. Darstellungen .................................................................................................. 284 Abbildungsverzeichnis ................................................................. 303
Zitierweise und Siglenverzeichnis
Rainald Goetz’ Texte werden in der vorliegenden Studie aus den Erstausgaben seiner Bücher zitiert, da die späteren Ausgaben zum Teil den Paratext der Originalausgaben variieren. Diejenigen Reportagen, Kurztexte und Artikel, die Goetz ursprünglich für unterschiedliche Zeitschriften und Magazine geschrieben hat, die aber in den Bänden Hirn, Kronos und Celebration wiederveröffentlicht wurden, werden in ihrer wiederveröffentlichten Form zitiert, da ihre Zugehörigkeit zu einem Band und damit einem bestimmten Werkkomplex eine entscheidende Rolle spielt. Das bedeutet, dass in diesen Fällen nicht der einzelne Text, sondern lediglich der entsprechende Band mit Seitenzahl als Nachweis genannt wird. Häufig zitierte Bände werden im laufenden Text unter Angabe von Siglen mit Seitenzahlen in Klammern zitiert. Zu diesen gehören: Mcs Westbam/Rainald Goetz: Mix, Cuts & Scratches. Berlin: Merve 1997. Ra
Rainald Goetz: Rave. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998.
Jk
Rainald Goetz: Jeff Koons. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998.
Ce
Rainald Goetz: Celebration. 90s Nacht Pop. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999.
Afa Rainald Goetz: Abfall für alle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. De Rainald Goetz: Dekonspiratione. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. Jdsf Rainald Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen. Berlin: Merve 2001. Besonderheiten der zitierten Texte bezüglich ihrer Interpunktion und Orthografie werden unkommentiert beibehalten, Hervorhebungen der Verfasserin sind als solche kenntlich gemacht.
Einleitung: Paranoidgestalt der Perfektion
1928 erschien Walter Benjamins aphoristisches Buch Einbahnstraße. Teil der philosophischen Fragmente der Veröffentlichung ist die mit der Warnung ›Ankleben verboten!‹ versehene Liste von dreizehn Thesen zur Technik des Schriftstellers. Benjamin spricht darin einerseits Handlungsempfehlungen an den schriftstellerisch Arbeitenden aus. »V. Laß dir keinen Gedanken inkognito passieren und führe dein Notizheft so streng wie die Behörden das Fremdenregister.«1 , lautet eine davon. Andererseits teilt er Einsichten aus der eigenen literarischen Produktion mit. Die abschließende These lautet in diesem Tenor: »XIII. Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption.«2 Rainald Goetz rezipiert die Thesen Benjamins und scheint sich an die erste der hier zitierten auch energisch zu halten – in Analogie zu Warhol, der erklärt, mit seinem Tonbandgerät verheiratet zu sein,3 ist Goetz es mit seinem Notizbuch: »I have no memory. Every day is a new day because I don’t remember the day before. Every minute is like the first minute of my life. I try to remember but I can’t. That’s why I got married – to my tape recorder. So er, ich auch – to my notebook.«4 Für sein geradewegs zwanghaftes Notieren ist Goetz in der Öffentlichkeit bekannt, seine schriftstellerische Existenz sei, so Jürgen Kaube, durch seine »Protokollnatur«5 bestimmt; Goetz notiert alles und überall. Der finalen These Benjamins aber widersetzt er sich vehement. In seinem einst als Weblog konzipierten Roman Abfall für alle ist zu lesen:
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Walter Benjamin: Einbahnstraße. Hg. v. Detlev Schöttker/Steffen Haug. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 33. Ebd., S. 34. Vgl. Andy Warhol: The Philosophy of Andy Warhol. From A to B and back again. San Diego/New York/London: Harvest 1977, S. 99. Rainald Goetz: Hirn. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 189. Jürgen Kaube: Abfall für manche, Irritation für alle. Büchnerpreis für Rainald Goetz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.07.2015, www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/abfall-fuer-manche-irritation-fuer-alle-zum-buechnerpreis-fuer-rainald-goetz-13692616.html (01.12.2019).
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Werk ist Weltform
Wie oft habe ich es schon notiert? Nach jeder fertigen Arbeit, glaube ich. Und jedesmal neu freue ich mich an dem Gedanken: Das Werk ist eben NICHT die Totenmaske der Konzeption, sondern ihre Weltform, ihre Lebendgestalt, ihr Leben. Und das in jeder Hinsicht tausendmal Reichere, Vielgestaltigere, Schönere, als in den kühnsten konzeptionellen Visionen erträumt. Realität eben, nicht Idee. (Afa, 164) Um seiner Sichtweise zusätzlich Gewicht zu verleihen, wiederholt und variiert Goetz diese Aussage in seiner letzten von fünf Frankfurter Poetikvorlesungen mit dem einleitenden Statement, dass es nicht darum gehen kann, was man denkt, sondern nur darum, was am Ende dabei herauskommt und sichtbar wird: Und jede fertige Arbeit, so Abfall gegen Benjamin, macht dann sichtbar: das Werk ist eben NICHT die Totenmaske der Konzeption, sondern ihre Weltform, ihre Lebendgestalt, ihr Leben. Reicher, vielgestaltiger, schöner als in den kühnsten konzeptionellen Visionen erträumt. Realität, nicht Idee. (Afa, 370) Goetz spricht sich entschieden dagegen aus, das fertige Werk als Totenmaske zu verstehen, die nur mehr die starren Abdrücke der in Gestalt des Buchs toten Konzeption zeigt. Im Gegenteil: Er feiert das Werk, das sich im Objekt des Buchs gibt, als Lebendform, die eine Dynamik gebiert, weil sie Realität und nicht bloße Idee ist. Die deutliche Absage an die These Benjamins hängt zum einen mit Goetz’ Fetischisierung des Mediums Buch zusammen; das Werk ist zwingend an die Gestalt des Textträgers gebunden: »Text als Objekt//Einwurf. Dieses Ding, das man in der Hand hat, ein Stück Papier, auf dem die Zeichen der Schrift aufgedruckt sind. Die unendliche Schönheit dieser speziellen Sache, dieses Objekts.« (Afa, 333) Realität gewordene Objekte dieser Haltung sind die eigenwillig gestalteten und dadurch auf Wiedererkennbarkeit abzielenden Oberflächen seiner Bücher im Suhrkamp Verlag. Sie stechen aus der Masse an Covergestaltungen nicht durch besondere Bebilderung oder typografische Experimente heraus, sondern durch ein nüchternes Design, das ausschließlich mit flächigen Einfärbungen arbeitet, deshalb aber nicht weniger raffiniert ist. Die Negation der Benjamin’schen These ist zum anderen durch Goetz’ Faible für die Konzeption bedingt. Sein (vorläufiges) Gesamtwerk ordnet Goetz in Werkverzeichnissen, die den meisten seiner Bücher vorangestellt sind, chronologisch nach Zahlen. Zu Teilen fasst er Veröffentlichungen unter einer Ziffer und einem zusätzlichen Über-Titel zusammen. Neben Einzelwerken entstehen so Buchkomplexe, die mehrere Einzeltitel in sich vereinen, und die Goetz schlicht ›Bücher‹ nennt, wie an seiner Charakteristik für den Werkkomplex FESTUNG ersichtlich: »Festung ist ein Buch aus drei Bänden: die Theaterstücke Festung; die Materialien 1989; und die
Einleitung: Paranoidgestalt der Perfektion
Berichte Kronos.«6 Die Buchkomplexe treten in zunehmender Häufung auf, je weiter das Goetz’sche Œuvre wächst. Gestaltung und Konzeption der Veröffentlichungen interferieren insofern, als dass Goetz alle zu einem Buchkomplex gehörenden Bände einheitlich gestaltet – die Cover variieren dann lediglich in Titel- und Gattungsangabe sowie in den auf den Rückseiten häufig abgedruckten Zitaten. Die Einzelbände sind demnach auch durch ihre Covergestaltung klar einem Buchkomplex zuzuordnen. Wenn aufgrund der Nicht-Abgeschlossenheit der literarischen Veröffentlichungen Goetz’ noch nicht von einem Gesamtwerk die Rede sein kann, so lässt sich das vorläufige Werk so zumindest in einzelne Buch-Ganze zerlegen, die als etwas Abgeschlossenes betrachtet werden können und besondere Merkmale aufweisen, wie Gunter Martens in seiner Definition eines Werkkomplexes herausstellt: »Ein Werkkomplex ist eine Reihe von in sich eigenständigen Werken, die vom Autor in einen thematischen oder auch strukturellen Zusammenhang gestellt und in einer von ihm bestimmten festen Anordnung veröffentlicht wurden.«7 Es ist bereits verschiedentlich bemerkt worden, dass Goetz seine Veröffentlichungen zu Werkverbünden zusammenschließt. Die Implikationen, die diese Feststellung für das Lesen der einzelnen Bände bzw. Bücher hat, finden in der Forschung bislang jedoch zu wenig Berücksichtigung. Im Falle des im Zentrum dieser Arbeit stehenden Buchkomplexes HEUTE MORGEN gehen die Anmerkungen zu einem inhaltlichen Konnex der Einzelteile meist nicht über den Ansatz hinaus, dass es sich bei diesem Buchkomplex um eine Geschichte, die die Geschehnisse der späten 1990er Jahre unter den »Hauptnenner Gegenwart« (Afa, 654) bringe, handele. Nachgegangen wird diesem Zitat in inhaltlicher Hinsicht nur anhand von Einzelwerken, nicht aber mit Bezug auf das gesamte Buch und das heißt vor allem: nicht mit Blick auf die Beziehungen der Einzeltitel untereinander. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese Leerstelle wenigstens für einen Buchkomplex zu füllen. Dafür gilt es zunächst, herauszuarbeiten, dass es überhaupt so etwas wie komplexe Bücher im Werk von Goetz gibt, eben weil sie auffallen: durch ihre äußere Gestaltung, durch die Verzeichnisse. Mithilfe einer ausführlichen Beschreibung
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Rainald Goetz: 1989.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 2. Im Sinne einer einheitlichen Begriffsverwendung ist im Folgenden mit der Bezeichnung ›Buch‹ bzw. ›Bücher‹ immer ein Buchkomplex bzw. die Gesamtheit der Buchkomplexe gemeint. Um Verwechslungen zwischen den Über-Titeln der Buchkomplexe und eigenständigen Titeln von Einzelwerken vorzubeugen, werden die Über-Titel der Werkkomplexe hier in Versalien wiedergegeben, die Titel der Einzelwerke aber, wie üblich, kursiviert. Gunter Martens: Das Werk als Grenze. Ein Versuch zur terminologischen Bestimmung eines editorischen Begriffs. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 18 (2004), S. 175-186, hier S. 182. Ursula Rautenberg für die Beschreibung eines Werkkomplexes den Begriff ›Buch-‹ bzw. ›Werkeinheit‹, vgl. Ursula Rautenberg: Buchmedien. In: Handbuch Medien der Literatur. Hg. v. Natalie Binczek/Till Dembeck/Jörgen Schäfer. Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 235-246, S. 243f.
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Werk ist Weltform
dieser Merkmale des Mediums Buch, die im Konzept der Paratextualität von Gérard Genette zusammengeführt sind und denen eine Funktionalität zugesprochen worden ist, schließt sich die Frage danach an, was sich aus den Äußerlichkeiten für das Innere der Veröffentlichungen ablesen lässt – im Allgemeinen für die Struktur eines jeden Werkkomplexes von Goetz und im Speziellen für den Buchkomplex HEUTE MORGEN geltend. Die daraus erwachsende Grundannahme ist, dass kein Einzeltext aus einem Buchkomplex ohne die direkte Werkumgebung der anderen, ebenfalls dem Komplex zugehörigen Bände gelesen werden kann. Die äußerliche Ordnungszuweisung in Gestalt von Werkverzeichnis und einheitlich gestalteten Buchdeckeln hat ihre Entsprechung in einem inneren Zusammenhang der Bände. Im Folgenden soll es also nicht darum gehen, einzelne Bände isoliert zu betrachten, vielmehr wird der Versuch unternommen, ein Buchganzes hermeneutisch zu interpretieren. In den Fokus der Beobachtung rückt der Werkkomplex HEUTE MORGEN, weil er der letzte abgeschlossene Buchkomplex im Goetz’schen Schaffen ist,8 der zudem mit einigen Besonderheiten aufwartet. HEUTE MORGEN ist allem voran hinsichtlich seiner Publikationsweise bemerkenswert. Die vorhergehenden Werkkomplexe sind zusammenhängend veröffentlicht worden, die Teile von HEUTE MORGEN jedoch erschienen sukzessive. Das bringt Auffälligkeiten für das Werkverzeichnis mit sich: Es ist der einzige Buchkomplex, bei dem die Einzelpublikationen einen Plan über die noch zu veröffentlichenden Teile des gesamten Buchs enthalten. Von Beginn des Werkkomplexes an ist so ersichtlich, welche Titel noch zum Komplex gehören sollen, ohne dass diese bereits veröffentlicht worden wären. Obwohl – oder wie zu zeigen sein wird: gerade weil – die geplante Ordnung für HEUTE MORGEN mit nahezu jeder Veröffentlichung eines Einzeltitels Änderungen erfährt, kann diese durch die Festsetzung der Stellen bestimmter Bände im Gefüge als ein Anhaltspunkt für die inhaltlichen Verknüpfungen der Einzeltitel untereinander gelesen werden. Ein weitere Besonderheit des Werkkomplexes stellt das Theaterstück Jeff Koons dar. Dramentexte zeugen von einer wichtigen Verbindung zu Goetz’ Gedanken vom Werk als Weltform, weil die Aufführung auf einer Bühne eine Lebendigkeitsaufgabe an den Schriftsteller darstelle, wie Goetz meint: Daß also die Bühne, und damit der Text fürs Theater, der schriftinternen Totheit der Schrift, nicht auf der Ebene des Lebens, sondern genau auf der der KUNST, wie vorhin gesagt, eine Lebendigkeits-Aufgabe stellt, die, wie es mir immer vorkommt, doch eigentlich JEDEN Schreiber unendlich faszinieren muß. (Afa, 271)
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Es gibt jüngere Veröffentlichungen von Goetz, die ebenfalls auf dem Zusammenhang eines Buchkomplexes beruhen, nämlich die Reihe SCHLUCHT, die 2008 mit der Publikation von Klage beginnt. Die Abgeschlossenheit dieser Werkgruppe bleibt allerdings zu diskutieren.
Einleitung: Paranoidgestalt der Perfektion
Zwar ist jeweils ein Dramentext – von Goetz schlicht ›Stück‹ genannt – auch Bestandteil der vor HEUTE MORGEN veröffentlichten Buchkomplexe, allerdings scheint die Form des Dramas bei Goetz im Laufe der Jahre immer mehr in Auflösung begriffen. Bei seinem bisher letzten Dramentext, der seit mehr als 20 Jahren einer Nachfolge harrt, stellt sich die Frage: »Warum deklariert Goetz […] seinen J[eff] K[oons] als ›Stück‹?«9 Schließlich weist der Text keinerlei klar konturierte Figuren auf, »[s]elbst den Titelhelden gibt es nicht.«10 Über weite Strecken weiß man nicht, ob monologisch oder dialogisch gesprochen wird, ebenso fehlen außer der Akt- und Szeneneinteilung jegliche Nebentexte. Zudem stiftet die Aktreihenfolge eher Chaos denn Übersichtlichkeit. Die Kennzeichnung ›Stück‹ erscheint, so resümiert Sibylle Peters, deshalb »weniger als Charakterisierung, denn als Gebrauchsanweisung, als Handlungsanweisung, die nicht erst in der Inszenierung, sondern schon in der Lektüre des Textes als Stück wirksam wird.«11 Die vorliegende Studie geht dieser Herausforderung einer Interpretation des nach außen sperrigen Textes über das Verständnis des Werkzusammenhangs nach. Die Betrachtungen nehmen ihren Ausgang an der Covergestaltung der Bücher. Von diesem Äußeren, das Goetz als essentiell erachtet, wird nach Innen vorgegangen, und zwar anhand von Stichworten, die der Autor selbst für diese Bewegung vorgibt: »Zahlen, Geometrie, Musik und Schöpfung hängen eben zusammen.« (Afa, 732) Die Begriffe bilden eine Schönheitslinie, die sich als Bestimmung des Paratextes für den Text erweisen und entlang derer sich dem komplexen Buchganzen genähert wird. Zahlen verwendet Goetz an der Oberfläche seiner Bücher in Gestalt von Werkverzeichnissen sowie in Form von Kapiteluntergliederungen und Akteinteilungen seiner Texte. Die Bedeutung der Zahlen erstreckt sich dabei fernab einer bloßen Übersichtlichkeit oder Genauigkeit. Der Zweig der Geometrie ermöglicht die Analyse von sich eröffnenden Räumen, die sich über das Verhältnis von Text und Paratext ergeben. Der Bereich der Musik bietet über verschiedene subkulturelle Identifikationsangebote sowie anhand des tatsächlichen Klangs von gesprochenen Wörtern einen Zugang zur Sprache von Goetz. Bei Goetz wie auch in den folgenden Ausführungen bauen diese drei Blickrichtungen aufeinander auf, gehen ineinander über und kulminieren so schließlich in einer Schöpfung, die über
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Nils Lehnert: Oberfläche – Hallraum – Referenzhölle. Postdramatische Diskurse um Text, Theater und zeitgenössische Ästhetik am Beispiel von Rainald Goetz’ Jeff Koons. Hamburg: Igel 2012, S. 59. Gunther Nickel: Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Wolfgang Bauers Change, Albert Ostermeiers The Making Of B-Movie, Rainald Goetz’ Jeff Koons und Falk Richters Gott ist ein DJ. In: Frank Göbler (Hg.): Das Künstlerdrama als Spiegel ästhetischer und gesellschaftlicher Tendenzen. Tübingen: Francke 2009, S. 283-301, hier S. 294. Sibylle Peters: Theater des Textes: Rainald Goetz’ Frankfurter Poetikvorlesung und das Stück Jeff Koons. In: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in den Ländern Mitteleuropas. Tübingen: Niemeyer 2007, S. 132-141, hier S. 136.
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Werk ist Weltform
die Verbindung zur Systemtheorie Luhmann’scher Prägung – die für Goetz einen wichtigen Bezugspunkt darstellt und auf die deshalb immer wieder referiert wird – zusammenfassend auf Goetz’ ästhetische Arbeitsweise, auf seine Praxis des Schreibens, rückverweisen soll. Über diese Bezugnahmen kristallisiert sich der Dramentext Jeff Koons, den Goetz in seiner Grundform als Aufgabe, die er an den Schreiber stellt, für ein Faszinosum hält, als Zentrum des gesamten Buchkomplexes HEUTE MORGEN heraus. Die Analyse des Buchganzen ist deshalb wesentlich vom Blick auf den Stücktext geprägt, der allerdings nur durch die Bezugnahmen auf seine Werkumgebung all seine Bedeutungsebenen offenbart. Die Weltform des Werks Jeff Koons ist nur über dessen Beiwerk zu haben. Der Gang dieser Arbeit erfolgt deshalb von der Oberfläche in die Tiefe: Von den Covern, Werkverzeichnissen, Zahlen, von der Außenseite hinein in das Innere der Texte; es geht von einer ganzen Werkgruppe aus zu einem Text und von ihm zu den Texten, die ihn umgeben und in einer abschließenden Bewegung wieder zum Abstrakten des Buchganzen. Der Theatertext wie der Buchkomplex, so wird sich herausstellen, lebt von Dichotomien. Es sind die Polaritäten von Nacht und Tag, Leben und Werk, Bild und Schrift, Sozialität und Asozialität, Innen und Außen, die bei Goetz auf eine Vermittlung zustreben und die sich im Verhältnis von Text und Paratext, das die beobachtungspragmatische Grundlage dieser Arbeit bildet, widerspiegeln. Vermittelt werden die Gegensätze über das Phänomen Pop, das Goetz, legt Eckhard Schumacher in einer Bemerkung über die bis dato letzte Buchpublikation des Autors dar, als »punktuelle Aufhebung von Differenzen [entwirft], die gleichwohl grundlegend bleiben«12 . Sie bleiben grundlegend sowohl für das Schreiben von Goetz wie auch, so der weitere Befund Schumachers, für das, »was unter dem Schlagwort Popliteratur für eine begrenzte Zeit als strukturelle Kopplung von Sozial- und Textexperimenten funktionieren konnte und […] in dieser Hinsicht tatsächlich nicht weit von der Frühromantik entfernt war.«13 Den Verbindungen von Pop-Literatur und Frühromantik, denen anhand von Goetz’ Textinhalten in der Sekundärliteratur bereits nachgegangen worden ist, fügt diese Arbeit einen Blick auf die Form der Kunst der Frühromantik hinzu, zu denen Goetz’ Formexperimente in einer auffallenden Parallele stehen. Damit ist alles Nötige vorweggenommen. »es kann jetzt beginnen/alles ist da/komm« (Jk, 52).
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Eckhard Schumacher: Rainald Goetz’ »Johann Holtrop«. In: Pop. Kultur und Kritik, Heft 2 (Frühling 2013), S. 73-78, hier S. 74. Ebd.
1. Paratext und Pop Kampf der Pop-Kämpfer […] gegen Innen für Außen, gegen Form-Inhalt-Gerede, gegen Weltverantwortung, Tiefsinn, Wahrheit und Ernst, und für Leichtigkeit, Oberfläche, Spaß, Lüge. (Hirn) Ich finde jede Art von Popularisierung gut. Wenn etwas aus einem Insiderkreis heraustritt und sich plötzlich ganz viele Leute da anschließen können. Das ist doch das Schönste. (Celebration) Pop ist alles, wo es erstmal keine Fragen gibt. (Abfall für alle) Das erste, was an Goetz’ Büchern auffällt, ist deren äußere Gestalt. Nicht unbedingt, weil sie besonders aufwendig wäre, sondern weil die Gestaltung der Buchcover bestimmter Veröffentlichungen sich gleicht und so die betreffenden Publikationen zu einem übergeordneten Ganzen zusammenfügt: einem Werkkomplex. Demgemäß erscheinen die Bände Rave, Jeff Koons, Celebration, Abfall für alle und Dekonspiratione, die allesamt zum Werkkomplex HEUTE MORGEN gehören, zwar, da in aufeinanderfolgenden Jahren, vermeintlich unabhängig voneinander, doch sind all deren Bucheinbände bzw. -umschläge in einem leuchtenden Rot gestaltet, von dem sich nur die Angaben zu Autor, Titel, Textsorte und Verlag in weißer Schrift abheben. Obschon das Design der Cover buchstäblich offensichtlich ist, ist es erst einmal eine Äußerlichkeit, der meist keine weiterführende Aufmerksamkeit geschenkt wird, schließlich steht bei einer literarischen Veröffentlichung in erster Linie der Text und nicht seine Verpackung im Vordergrund. Im Folgenden dienen die Ausführungen Gérard Genettes zum Paratext als methodische Basis, die den üblicherweise gezogenen Unterschied zwischen einem Text und den ihn umgebenden Komponenten wie Titel, Einband, Kapitelüberschriften usw. infrage zu stellen imstande ist. Der Paratext ist Bestandteil des Textes, genauer: Er kann selbst zu Text werden, und hat so auch Auswirkungen auf dessen Interpretation. Denn, so Roger Chartier, »Texte werden nicht in hand-
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Werk ist Weltform
geschriebene oder gedruckte Bücher wie in einfache Behälter geleert. Die Leser finden sie nur in ein Objekt eingeschrieben, dessen Dispositive und Anordnungen den Vorgang der Sinnerzeugung leiten und einschränken.«1 Genette bemüht für den Paratext das Bild der Schwelle, die beispielsweise im Falle einer Tür sowohl eine Funktion für die Außenseite wie auch für die Innenseite eines Raumes erfüllt. Der Paratext ist das, was dem Text nach außen die Gestalt eines Buchs verleiht und ihm nach innen die Einheit eines textuellen Ganzen sichert. Das Material, aus dem der Paratext besteht, ist dabei bestimmend für die Erscheinungsweise des Mediums Buch und damit auch von medienwissenschaftlicher Bedeutung. Deshalb gilt es zunächst, die materielle Qualität des Mediums Buch anhand von kurzen Ausschnitten seiner Geschichte in den Mittelpunkt zu rücken, um im Anschluss daran das Programm des ›Buch-Beiwerks‹, wie der Paratext auch genannt wird, aufzufächern. Um dabei der Komplexität der Anwendung der Paratextualität bei Goetz begegnen zu können, wird die Genette’sche Konzeption mit den parallelen Begriffs- bzw. Theorieentwürfen zum Parergon von Jacques Derrida, zum Ornament von Niklas Luhmann sowie zur Arabeske von Friedrich Schlegel ergänzt. Diese berühren auch andere Kunstformen neben der Literatur, die für Goetz’ Werk ebenfalls bedeutsam sind. An diese Ausführungen schließt sich die Analyse der Buchcover von Goetz’ Veröffentlichungen als ein erster Aufweis des Einwirkens des Paratextes auf den Text an. Die Einbände und Umschläge sind Oberfläche der Bücher, und doch bleibt diese den Publikationen nicht nur äußerlich, weil sie eine Verbindung – zwischen unterschiedlichen Einzeltexten, zwischen dem Außen und Innen eines Buchs – schafft. Stellt man die Oberfläche an den Anfangspunkt der Betrachtung, zollt man darüber hinaus geradewegs dem Phänomen ›Pop‹ Rechnung, zu dem Goetz sich selbst als zugehörig verordnet. Genauso wie die Beschreibungsgegenstände sind die Definitionsversuche für Pop zahlreich. Bezüglich der Bedeutung der Oberfläche für Pop-Musik, Pop-Literatur und Pop-Art herrscht in den Beschreibungen jedoch Einigkeit. Mit den Buchcovern als Oberfläche rückt so ein Merkmal des Goetz’schen Schaffens in den Fokus, das auch für dessen Verständnis von Pop bedeutsam ist. Der Oberflächen-Bezug lässt sich besonders nachvollziehbar an zwei Werbeanzeigen darstellen, die für unterschiedliche Titel aus der HEUTE MORGEN-Reihe entworfen wurden und die mit den Covern der Publikationen spielen. Die Beobachtungen zur eindrücklichen Gestalt der Bücher – zunächst in Form der Umschläge und später anhand der Titeleiseiten, Kapitelunterteilungen und Motti – führen schließlich vom Textäußeren immer weiter in das Textinnere hinein.
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Roger Chartier: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit. Frankfurt a.M./New York: Campus 1990, S. 32.
1. Paratext und Pop
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Paratext als Qualität des Mediums Buch Ein literarisches Werk besteht ausschließlich oder hauptsächlich aus einem Text, das heißt (in seiner rudimentären Definition) aus einer mehr oder weniger langen Abfolge mehr oder weniger bedeutungstragender verbaler Äußerungen. Dieser Text präsentiert sich jedoch selten nackt, ohne Begleitschutz einiger gleichfalls verbaler oder auch nicht-verbaler Produktionen wie einem Autorennamen, einem Titel, einem Vorwort und Illustrationen. Von ihnen weiß man nicht immer, ob man sie dem Text zurechnen soll; sie umgeben und verlängern ihn jedenfalls, um ihn im üblichen, aber auch im vollsten Sinn des Wortes zu präsentieren: ihn präsent zu machen, und damit seine »Rezeption« und seinen Konsum in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines Buches zu ermöglichen.2
Folgt man dieser Bestimmung Genettes, geben Elemente wie etwa Autorennamen und Titel, Umschlag und Waschzettel, Kapitelüberschriften und Motti, Widmungen und Vorworte einem Text erst die Form eines Buchs. Buchdeckel und Titelei, wo der Großteil dieser Angaben zu finden sind, bilden das »Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird«3 , das mit dem Kollektivum ›Paratexte‹ benannt ist. Mit dem Paratext stellt Genette also eine bestimmende Eigenart des Mediums Buch heraus, wenngleich er nicht das Ziel verfolgt, eine medienwissenschaftliche Perspektive einzunehmen. Der Zusammenhang ist aber nicht zu vernachlässigen, da u.a. Werner Faulstich auch noch gut 15 Jahre nach Erscheinen von Genettes Paratexte feststellt, dass ein »konziser, medientheoretisch fundierter Buchbegriff […] bislang noch aus[steht].«4 Zunächst einmal, um es in den Worten des Systemtheoretikers Dirk Baecker zu sagen, ist ein bloßer Text »(noch) keine kommunikative Einheit. Er sagt nichts, er spricht nicht, er schweigt noch nicht einmal.«5 Damit Schrift Kommunikation wird, muss offensichtlich noch mehr geschehen, als dass ein Text vorliegt. Wenn Texte in einen Veröffentlichungs- und Verbreitungszusammenhang und somit in Kommunikation eingespeist werden sollen, sind sie auf ein Medium angewiesen. Der Text existiert nicht unabhängig von seiner Materialität 2 3 4
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Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 9. Ebd., S. 10. Werner Faulstich: Buch. In: ders. (Hg.): Grundwissen Medien. [Paderborn]: Fink 5 2004, S. 129147, hier S. 129. Faulstich führt aus, dass die Buchwissenschaft einen heterogenen Begriff vom Buch vertritt: »[Z]um einen wird Buch ›definiert durch das Material des Buchkörpers sowie der aufgebrachten Zeichen‹, dann durch den ›optischen und haptischen Eindruck des Buchkörpers‹, ferner soll im Rahmen schriftlicher Kommunikation der ›Akt des Lesens‹ in seiner ganzen Komplexität berücksichtigt werden, oder das Buch erscheint auch als Kommunikationskanal mit bestimmten, sich wandelnden gesellschaftlichen Funktionen.« (Ebd.) Dirk Baecker: Hilfe, ich bin ein Text! In: Klaus Kreimeier/Georg Stanitzek (Hg.): Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 43-52, hier S. 46.
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Werk ist Weltform
und es muss mit Chartier daran erinnert werden, »daß kein Schriftstück unabhängig von den Formen, in denen es seine Leser erreicht, verstanden werden kann.«6 Zwischen Literatur- und Medienwissenschaft ist strittig, ob Literatur an sich selbst als Medium fungiert, was vor allem davon abhängt, wie der Begriff des Mediums dafür ausgelegt wird.7 Für die folgenden, hauptsächlich das Buch als Medium berührenden Überlegungen ist jedoch zunächst ausschlaggebend, dass »Literatur […] nie deckungsgleich mit den Medien [ist], die sie für ihre Produktion, Distribution und Kommunikation wählt«8 , wie Natalie Binczek und Nicolas Pethes in ihrem Abriss über die Mediengeschichte der Literatur herausstellen. Besonders überzeugend lässt sich dies an Medienwechseln exemplifizieren, weil diese Antworten darauf geben, wie sich die Materialität der Trägermedien auf die Literatur auswirkt.9 Von den drei gemeinhin als weitreichend bezeichneten Medienumbrüchen – dem Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit, der Einführung des Buchdrucks sowie der Digitalität – soll hier vorerst nur der Erfindung der Druckerpresse und deren Folgen für das Medium Buch nachgegangen werden, da dieser Umbruch für den Paratext von immenser Bedeutung ist.10 Auf den Buchdruck als Herstellungstechnik können die Veränderungen bezüglich des Objekts Buch allerdings nicht allein zurückgeführt werden; die bis heute gültige Form des Buchs mit Nummerierung der Blätter, Spalten und Zeilen, Aufteilung der Seite durch Schmuckinitialen, typografische Differenzierung von Text und Kommentar oder Ausstattung mit Wortregistern stammt noch aus der Manuskriptkultur. Es sei daher nötig, führt Chartier aus, den Ansatz einer longue durée zu verfolgen, der Kontinuitäten in der Druckkultur aufdeckt und gleichzeitig deren fortschreitende Emanzipation verstehen lässt.11 Bereits ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. existierte neben der Schriftrolle der aus gefalteten Papyrus- oder
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Chartier, Lesewelten, S. 12. Für diese Herangehensweise spricht sich z.B. Oliver Jahraus aus, der Literatur in einer Theoriearchitektur aus Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft als Interpretationsmedium und damit die Medientheorie als eine Metatheorie von Interpretation konstituiert, deren Notwendigkeit er vorrangig durch die Mediengesellschaft begründet sieht, vgl. Oliver Jahraus: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2003, S. 9-22 sowie passim. Natalie Binczek/Nicolas Pethes: Mediengeschichte der Literatur. In: Handbuch der Mediengeschichte. Hg. v. Helmut Schanze. Stuttgart: Kröner 2001, S. 282-315, hier S. 282. Vgl. zur Operativität von Medien der Literatur generell Natalie Binczek/Till Dembeck/Jörgen Schäfer (Hg.): Handbuch Medien der Literatur. Berlin/Boston: De Gruyter 2013. Die Unterscheidung Mündlichkeit/Schriftlichkeit sowie die digitale Literatur spielen in dieser Arbeit, wenn auch nicht explizit als Medienwechsel, ebenfalls eine Rolle, siehe Kap. 4.3 dieser Arbeit zum ›Sound des Textes‹ sowie Kap. 2.3 zur Publikation des Weblogs Abfall für alle als Buch. Vgl. Chartier, Lesewelten, S. 34-39.
1. Paratext und Pop
Pergamentblättern bestehende Codex, der im Gegensatz zur Rolle eine beidseitige Beschriftung ermöglichte und handlicher war,12 was eine neue Verfahrensweise den Inhalt betreffend zeitigte. »Während die Buchrolle den Text noch auf einer geschlossenen Fläche als Einheit zeigte, somit einen dezenten, weil selbst gleichsam strukturlosen Träger darstellte,« so Christoph Benjamin Schulz, greift der Codex in die Struktur des Textes ein. »Diese Flächen, die Seiten, sequenzialisieren den Text, machen erst das Blättern und somit einen Umgang mit Texten möglich, den das Volumen nicht anbieten konnte.«13 Der Text wird durch die Seiten aufgespalten, die große Einheit durchmisst Teile, zwischen denen das Blättern als eine Bewegung Verbindungen schafft – Schulz kennzeichnet den Codex deshalb als Werkzeug14 –, dergestalt macht die Gliederung des Textes es möglich, auf einzelne Stellen gezielt zuzugreifen. Die Einführung des Druckverfahrens mit beweglichen Lettern als Fortsetzung dieser Form des Buchs trug dann vor allem zu einer breiten Vervielfältigung der Textträger bei, d.h. es sicherte die Produktion von nicht nur für viele Leser ausreichenden, indes gleichzeitig auch erschwinglichen Exemplaren eines Buchs. Die Vervielfältigung aber war Herausforderung und Segen zugleich, weil die technische Reproduzierbarkeit »die herkömmlichen Selektionsmechanismen des Wissens- und Bewahrenswerten außer Kraft [setzte]«15 . Das hatte, so der Befund Jan-Dirk Müllers zum Einschnitt in die Schriftkultur in der Epoche Gutenbergs, wesentlich eine Änderung der Einstellung zu Dauer und Tradition zur Folge, die sich auf die soziale Funktion von Schrift auswirkte:16 Schrift war in den Skriptorien noch weit physischer gedacht, sie nahm im Buch die Verkörperung des Autors an. Der Autor blieb in den Abschriften kontinuierlich präsent, denn »[d]ie Alten abzuschreiben, heißt Söhne zeugen […], auf die das Amt der Väter […] übergeht.«17 Tradition bestand so hauptsächlich in einer Generationenkette, die dank des Fortlebens des Autors im Text auch das Verständnis desselben sicherte. Diese Interaktion zwischen einzelnen Individuen wird qua Buchdruck jedoch von zentral gesteuerter Kommunikation abgelöst, die nicht immer sorgfältig zu nennen ist. In der Frühzeit des Buchdrucks wurden häufig Manuskripte per Zufall zur Vervielfältigung gewählt; was gerade vorhanden war, wurde zur Norm und
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Vgl. Friedrich Adolf Schmidt-Künsemüller: Codex. In: Lexikon des gesamten Buchwesens, Bd. 2. Hg. v. Severin Corsten/Günther Pflug/Friedrich Adolf Schmidt-Künsemüller. Stuttgart: Hiersemann 1989, S. 145. Christoph Benjamin Schulz: Poetiken des Blätterns. Hildesheim u.a.: Olms 2015, S. 34. Vgl. ebd., S. 41f. Jan-Dirk Müller: Der Körper des Buchs. Zum Medienwechsel zwischen Handschrift und Druck. In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 203-217, hier S. 204. Vgl. für die folgenden Ausführungen ebd., S. 207-216. Ebd., S. 211.
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danach als Vorlage nicht selten vernichtet. So ging mit der Vervielfältigung zum einen gar der Verlust von Tradition einher, und zum anderen kommt Tradition nicht mehr als ein Codex, der seine Vorgänger in sich vereint, in den Blick, sondern als Ganzes, dessen vernachlässigte Spuren erst erneut gesammelt werden müssen. Zudem ist die sinnliche Präsenz des Autors in den Texten nur mehr simuliert vorhanden, Autor und Sinn werden als Größen hinter der Schrift behandelt. Es wird darauf zurückzukommen sein, inwiefern Goetz durch bestimmte Praktiken diesem von Müller konstatierten Auraverlust entgegenwirkt, erst einmal aber sind ganz pragmatische Neuerungen, die mit dem Buchdruck einhergehen, von Interesse. Der breite Zuwachs an Büchern erforderte eindeutige Identifizierungsmerkmale wie etwa Angaben zum Autor und Titel des Buchs sowie ggf. zur Textsorte, und sorgte damit für eine Vereinheitlichung und Ausdifferenzierung der paratextuellen Elemente.18 Die Titel- und Umschlagseiten waren dabei von besonderer Bedeutung, weil sie wie eine ›Verpackung‹ für Text und Autor und zugleich für den Hersteller warben.19 Eingriffe in diese Gestalt des Buchs, so zeigt es Chartier am Beispiel der Bibliothèque bleue deutlich, bestimmen die Lektüreweise des veröffentlichten Textes mit.20 Die billig hergestellten und auf mittelmäßigem Papier gedruckten livrets bleus, deren Name entweder auf die Farbe ihres Papiers oder ihres Einbands zurückgeht, zeichneten sich vor allem durch eine raffinierte Verlegerstrategie aus: Zunächst wurden aus einem Katalog von bereits verfügbaren Texten diejenigen für die Bibliothèque bleue ausgewählt, die sich für ein breites Publikum eigneten, weil die ›blauen Bücher‹ für die gemeine Bevölkerung des Ancien Régime bestimmt waren. Da die kulturellen Kompetenzen dieses Publikums von den Verlegern nicht allzu hoch eingeschätzt wurden, bestach die Textauswahl stofflich durch wenig komplexe Strukturen und sich wiederholende Motive. Diese Verwandtschaftsverhältnisse wurden durch Modifikationen an den Texten noch unterstrichen. Die Verleger veränderten beispielsweise die Kapitelstruktur und vergrößerten die Anzahl der Absätze, teilten die Texte also in kleinere Einheiten auf, um anstelle einer kontinuierlichen Leseweise eine Lektüre zu ermöglichen, die problemlos unterbrochen und wieder fortgesetzt werden konnte. Sie prägten ihre Vorstellung des Lesens also in die Bücher ein, indem sie die Texte nach »spezifischen typographischen Dispositiven«21 umarbeiteten, und den Buchobjekten der Bibliothèque bleue eine eigene, wiedererkennbare Gestalt verliehen. Die Auswirkungen einer solchen Reihenzugehörigkeit werden auch bei Goetz später von Belang sein.
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Vgl. Rautenberg, Buchmedien, S. 239. Vgl. Binczek/Pethes, Mediengeschichte der Literatur, S. 291. Vgl. für den folgenden Abschnitt: Chartier, Lesewelten, Kap. 5: »Die blauen Bücher«, S. 169190. Ebd., S. 181.
1. Paratext und Pop
Dass den paratextuellen Innovationen des Buchdrucks – vor allem in der heutigen Literatur- und Medienwissenschaft – vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gezollt wird, mag demnach auch daran liegen, dass das Buch mit der Druckerpresse, und noch weiter vorangetrieben durch die Erfindung des Taschenbuchs, zu welchem auch die ›blauen Büchern‹ zu zählen sind, zum Massenmedium, »zum alltäglichen Gebrauchsgegenstand, zum Werkzeug in allen Lebenslagen, überall präsent und verfügbar«22 , avancierte. Das Medium Buch, als Codex einst Kultmedium, strebt dergestalt seiner »Ent-kult-ivierung«23 , wie Faulstich es nennt, entgegen. Die Gestalt des Buchs bildet einen blinden Fleck, weil sie viel zu gewöhnlich und vertraut ist, als dass sie beachtenswert erschiene. Die Etablierung des Paratextes ist aber genau mit dieser Erscheinungsweise des Buchs verzahnt und deshalb bedeutsam. Was das Buch, und im Besonderen der Paratext, stattdessen erfordert, ist, mit Aleida Assmann gesprochen, ein »lange[r] faszinierte[r] Blick«24 . Im Gegensatz zum schnellen und schlauen Blick des Lesens, der für die »allgemeine Weltorientierung und zwischenmenschliche Kommunikation unerläßlich ist«25 , und der durch die Oberfläche hindurchgleitet, kann der lange Blick des Starrens sich nicht von der Dichte der Oberfläche lösen, und begreift das Objekt so genau in seiner Materialität. Mit seiner grundlegenden Studie Paratexte hat Genette den rahmenden Elementen eines Buchs zu mehr Beachtung verholfen. Bei der (Wieder-)Verwendung der Wortschöpfung ›Paratextualität‹ bzw. ›Paratext‹, die er in Introduction à l’architexte (1979) unvermittelt einführt26 und nachfolgend in Palimpsestes: La littérature au second degré (1982) als einen Typus von fünf möglichen transtextuellen Beziehungen aufgreift,27 beruft er sich auf die ambivalente Bedeutung der Vorsilbe ›para-‹: 22 23 24
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Faulstich, Buch, S. 133. Ebd. Aleida Assmann: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose. In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 237-251, hier 240. Ebd., S. 242. Er erwähnt den Begriff darin nur an einer Stelle: »Doch lassen Sie mich zu Ende kommen; ich zähle hierzu [zur Transtextualität, L.H.] auch noch andere Beziehungen – dabei denke ich hauptsächlich an Imitation und Transformation, wovon uns das Pastiche oder die Parodie eine Vorstellung oder vielmehr zwei unterschiedliche Vorstellungen vermitteln könnten, obgleich sie häufig verwechselt oder nur unscharf voneinander abgegrenzt werden – Beziehungen, die ich mangels Besserem als Paratextualität (die Transtextualität par excellence) bezeichnen möchte, und mit der ich mich vielleicht eines Tages, sofern der Zufall es will, und die Vorsehung es zuläßt, beschäftigen werde.« (Gérard Genette: Einführung in den Architext. Stuttgart: Legueil 1990, S. 100f.) Hier definiert Genette den Begriff wie folgt: »Der zweite Typus betrifft die im allgemeinen weniger explizite und weniger enge Beziehung, die der eigentliche Text im Rahmen des von einem literarischen Werk gebildeten Ganzen mit dem unterhält, was man wohl seinen Paratext nennen muß: Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Le-
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»Dieser Begriff [der des Paratextes, L.H.] ist hier in einem mehrdeutigen, ja sogar heuchlerischen Sinn zu verstehen, wie er etwa in Adjektiven wie parafiskalisch oder paramilitärisch zum Ausdruck kommt.«28 Erich Kleinschmidt belegt die griechischen Wurzeln der Begriffsbildung, wonach die Präposition ›para-‹ in Kombination mit einem Substantiv im Akkusativ das Verhältnis eines Nebeneinander oder auch Außerhalb bezeichnet, und folglich für etwas steht, was keine Berührungspunkte miteinander hat.29 Genette selbst betreibt wenig Begriffsgeschichte, versichert sich aber über eine Bezugnahme auf J. Hillis Miller, der in seine Überlegungen zum Verhältnis von ›host‹ und ›parasite‹ eine semantische Deutung der Vorsilbe mit einbezieht, dass das Präfix ›para-‹ auch in anderen Sprachen als seiner Muttersprache ähnliche Bedeutungsdimensionen hat: »Para« is a double antithetical prefix signifying at once proximity and distance, similarity and difference, interiority and exteriority, something inside a domestic economy and at the same time outside it, something simultaneously this side of a boundary line, threshold, or margin, and also beyond it, equivalent in status and also secondary or subsidiary, submissive, as of guest to host, slave to master. A thing in »para,« moreover, is not only simultaneously on both sides of the boundary line between inside and out. It is also the boundary itself, the screen which is a permeable membrane connecting inside and outside. It confuses them with one another, allowing the outside in, making the inside out, dividing them and joining them. It also forms an ambiguous transition between one and the other.30
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ser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher, auto- und allographer Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten und manchmal mit einem offiziellen oder offiziösen Kommentar versehen, dem sich auch der puristischste und äußeren Informationen gegenüber skeptischste Leser nicht so leicht entziehen kann, wie er möchte und es zu tun behauptet.« (Gérard Genette: Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 11f.) Thomas Schestag stellt heraus, dass Genette sich hier wie in Introduction à l’architexte augenscheinlich vorbehaltlich einer besseren Bezeichnung der Begrifflichkeit des Paratextes bedient: »Nicht […] was man kaum umhin kann, nicht paratexte zu nennen, sondern: was man (leider), weil ein andres, weil das eigentliche Wort, der Eigenname fehlt, also keine Wahl bleibt, ohne doch die Hoffnung auf das Kommen, auf die Ankunft eines andern, bessern Wortes aufgeben zu wollen, vorläufig paratexte nennen muß.« (Thomas Schestag: »Call me Ishmael.« In: Klaus Kreimeier/Georg Stanitzek (Hg.): Paratexte in Literatur, Film und Fernsehen. Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 21-42, hier S. 23f.) Genette, Palimpseste, S. 11, Fn 3. Vgl. Erich Kleinschmidt: Gradationen der Autorschaft. Zu einer Theorie paratextueller Intensität. In: Frieder von Ammon/Herfried Vögel (Hg.): Die Pluralisierung des Paratexts in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Berlin: Lit Verlag 2008, S. 1-17, hier S. 1f. Miller, J. Hillis: The Critic as Host. In: Harold Bloom u.a. (Hg.): Deconstruction and Criticism. London: Routledge 1979, S. 217-253, hier S. 219.
1. Paratext und Pop
Ganz im Sinne Millers und mit Bedacht auf den französischen Originaltitel von Genettes Abhandlung – Seuils –, ist das Beiwerk daher nicht als Schranke oder Grenze zum ›eigentlichen‹, d.h. dem vom Paratext umgebenen literarischen Text, sondern als ›Schwelle‹, als eine »›unbestimmte‹ Zone zwischen innen und außen zu verstehen, die selbst wieder eine feste Grenze nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text) aufweist«31 . Im Paratext, als dem Übergangsbereich, der den Eintritt in einen Text erst ermöglicht, den der Text aber auch passieren muss, um in die Welt hinauszutreten, findet dann eine wirkungsvolle Transaktion statt: Er ist der »geeignete Schauplatz für eine Pragmatik und eine Strategie, ein Einwirken auf die Öffentlichkeit im gut oder schlecht verstandenen oder geleisteten Dienst einer besseren Rezeption des Textes und einer relevanteren Lektüre«32 . Genette geht es in der Beschreibung der Elemente, die den Paratext bilden, gerade um deren Funktion der Lektüresteuerung und folgerichtig darum, stellt Georg Stanitzek heraus, »was die Einheit eines Textes oder ›Werks‹ ausmacht. Er übersetzt diese Frage in die weitere, wie die Buch-Einheit möglich ist.«33 Wiederum systemtheoretisch formuliert, könnte die Perspektive für die Beschäftigung mit dem Paratext wie folgt lauten: Wenn es unwahrscheinlich ist, […] dass ein Text als Element einer schriftlichen Kommunikation die Schwelle zur Kommunikation nimmt, wird es um so interessanter, danach zu fragen, wie diese Unwahrscheinlichkeit empirisch, d.h. praktisch und strategisch, in eine Wahrscheinlichkeit verwandelt wird.34 Der Paratext stützt diese Wahrscheinlichkeit, indem er es ermöglicht, »den Text im kommunikativen Anschluß an ihn als Werk zu behandeln, also als für sich bestehende, abgeschlossene und wiederverwendbare Einheit«35 , wie es Till Dembeck in seiner Studie zu Paratextualität in Werken des 18. Jahrhunderts ausführt. »Paratexte organisieren die Kommunikation von Texten überhaupt«36 , heißt es gar bei Klaus Kreimeier und Stanitzek. Die Art und Weise, wie Paratexte diese Kommunikation organisieren, wie sie diese Einheit herstellen, kann dabei als paradox bezeichnet werden. Denn Paratexte unterbrechen – durch ihre herausgehobene Position
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Genette, Paratexte, S. 10. Ebd. Georg Stanitzek: Paratextanalyse. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen, Bd. 2, Methoden und Theorien. Hg. v. Thomas Anz. Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 198-203, hier S. 199. Baecker, Hilfe, ich bin ein Text, S. 47. Till Dembeck: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul). Berlin u.a.: De Gruyter 2007, S. 23. Klaus Kreimeier/Georg Stanitzek: Vorwort. In: dies. (Hg.): Paratexte in Literatur, Film und Fernsehen. Berlin: Akademie Verlag 2004, S. VII–VIII, hier S. VII.
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auf einer Leerseite oder als Kapitelüberschriften auf einer Textseite – die textuelle Linearität, erzeugen hierdurch jedoch keinen, zumindest unabhängigen, neuen Text, sondern stellen so die Einheit des Textes her. »Die Komplexität des Phänomens ›Paratext‹ beruht damit auf der schlichten Tatsache, daß der Text nicht aufgrund seiner paratextuellen Struktur als Einheit erfaßt werden kann, sondern zunächst einmal trotz dieser Struktur, die ja die lineare Einheit des Textes zerstört.«37 Schenkt man den einzelnen Bestandteilen des Paratextes eines Buchs – ihrer typografisch prononcierten Stellung gemäß – größere Aufmerksamkeit, wird das Buch als vermeintlich lineares Medium entlinearisiert. An die Stelle der Linearität tritt durch die Verweisungszusammenhänge eine Struktur der Paratextualität, der das Schema zugrunde liegt, einzelne lineare Elemente in eine über die Linearität hinausgehende Verbindung zu bringen;38 Text und Paratext müssen dann immer wieder neu zusammengesetzt werden.39 Dieser Blick auf die (paratextuelle) Struktur eines Textes lässt sich so mit Forschungsfragen zur Schriftbildlichkeit in eine Parallele bringen, die dem ›Linearitätsdogma‹ – der Annahme, Schrift verkörpere eine nur lineare Ordnung – ebenfalls die Anschauung entgegensetzen, dass »jeder geschriebene Text von der Zweidimensionalität der Fläche Gebrauch macht.«40 Sowohl die Sichtweise der Paratextualität als auch die der Schriftbildlichkeit ermöglichen demnach einen Umgang mit Text als Material, der nicht ohne Auswirkungen auf die Interpretation desselben bleibt. 37 38
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Dembeck, Texte rahmen, S. 21. Vgl. ebd., S. 20. Dembeck sieht hier die Struktur des Hypertextes vorgeprägt: »In diesem Sinne stiftet Paratextualität immer schon eine Struktur, die derjenigen elektronischer Hypertexte ein Stückweit entspricht: Der Zusammenhang, den Paratextualität trotz der Linearitätsunterbrechung herstellt, wird im elektronischen Hypertext durch den Link gewissermaßen manifest.« (ebd., S. 21, Fn 61) Ein sprechendes Beispiel hierfür ist das Impressum von Rafael Horzons Publikation Das weisse Buch. Horzon erweitert den Druck- und Herstellungsvermerk, der den Vorbehalt des Urheberrechts sichert, um einen Dank, der dort üblicherweise keinen Platz hat: »Der Autor dankt: Seinen Mitarbeitern und Partnern, die ihm ein vollkommen sorgenfreies Leben ermöglichen. Ausserdem: Julius Caesar, Giacomo Casanova, Arnolf E. Horaz, Christian Kracht, Novalis und Arthur Rimbaud.« (Rafael Horzon: Das weisse Buch. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 4) Horzon ruft damit die komplexe Struktur seiner an einen Schelmenroman erinnernden Autobiografie, in der die allzu unwahrscheinlichen Begebenheiten sich tatsächlich zugetragen haben, auf den Plan. Sybille Krämer: ›Schriftbildlichkeit‹ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift. In: dies./Horst Bredekamp (Hg.): Bild, Schrift, Zahl. München: Fink 2 2009, S. 157-176, hier S. 159. Auch Uwe Jochum merkt an, dass Texte, schon wenn sie einen Autorennamen und Titel aufweisen, sich der linearen Lesart entziehen, schließlich dienen gerade diese beiden Charakteristika der Katalogisierung und Archivierung, und das heißt der Vernetzung von Texten in ihrem traditionellen Speichermedium der Bibliothek, vgl. Uwe Jochum: Textgestalt und Buchgestalt. Überlegungen zu einer Literaturgeschichte des gedruckten Buchs. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 103 (1996), S. 20-34, hier S. 32.
1. Paratext und Pop
Zwischen Text und Paratext, zwischen einem Textinneren und einem Textäußeren, konsequent zu unterscheiden, gestaltet sich schwierig. Der Paratext hat ohne den Text keinen eigenständigen Wert,41 zugleich ist der Text, sofern an eine Veröffentlichung gekoppelt, ohne Paratext kaum denkbar. Dem gängigen Lesen stünde ein mit Bedeutung statt Funktion aufgeladener Paratext im Wege, weshalb er zumeist überlesen wird. Und das Überlesen des Paratextes ist der vollen Entfaltung seiner Funktionalität sogar dienlich, so Genette: »[E]ine der Garantien für die Wirksamkeit des Paratextes liegt vermutlich in seiner Transparenz: in seiner Transitivität. Der beste Zwischentitel, der beste Titel schlechthin, ist vielleicht derjenige, der auch weiß, wie man wieder aus dem Blickfeld tritt.«42 Wie von Jacques Derrida für das ›Parergon‹ beschrieben,43 soll der Rahmen das Gerahmte zum Vorschein bringen, dabei aber selbst verschwinden. Derrida spricht vom Parergon vor allem in der bildenden Kunst und Architektur, konkret: vom Rahmen eines Bildes, der Bekleidung einer Statue oder den Säulen eines Gebäudes, doch lassen sich die Spezifika des Parergon adäquat auf die Rahmung eines Buchs – also Buchdeckel und Titelei – übertragen. Die Wirkung des Rahmens, die folglich in einem doppelten Gestus besteht, ist letztlich ein dynamischer Prozess,44 auf den auch Genette hinaus will, wenn er Paratexte als eine »vielgestaltige[] Menge von Praktiken und Diskursen«45 darstellt, und nicht etwa als bloße Rahmungen. Derrida, dessen Auseinandersetzung mit dem Parergon auf der Lektüre von Kants dritter Kritik und deren Analytik des Schönen fußt,46 betont die Genauigkeit 41
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Genette verweist auf einen seltenen Fall von Paratext ohne Text, wenn beispielsweise von verschwundenen oder gescheiterten Werken nur der Titel bekannt ist, vgl. Genette, Paratexte, S. 11f. Ebd., S. 301. Vgl. auch Georg Stanitzek: Texts and Paratexts in Media. In: Critical Inquiry, Vol. 32, No. 1 (Autumn 2005), S. 27-42, hier S. 34: »Paratexts have the effect of promoting a unity of a text, but they can only accomplish this without hindrance when they are not read in the strict sense of the word as such, that is, when no questions are asked about details, when there are no inquiries into how they function, how they make references to circumstances of production or distribution or other aspects.« Genette hebt an keiner Stelle auf Derrida ab, die Verbindungslinien sind aber nicht abzustreiten. Weitere Parallelen werden gemeinhin zu Erving Goffmans Essay Frame Analysis sowie Georg Simmels Aufsatz Der Bildrahmen – ein ästhetischer Versuch gezogen. Da diese beiden Texte jedoch keine wesentliche Erweiterung des Paratext-Konzepts darstellen, die in eine andere Richtung weisen würde als die Begriffe ›Parergon‹ bei Derrida und ›Ornament‹ bei Luhmann, wird hier auf Ausführungen zu Goffman und Simmel verzichtet. Auf Derrida und Luhmann wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit hingegen wiederholt eingegangen. Vgl. Uwe Wirth: Das Vorwort als performative, paratextuelle und parergonale Rahmung. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Rhetorik. Figurationen und Performanz. Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 603-628, hier S. 604f. Genette, Paratexte, S. 10. Kant fügt im §14 des Ersten Buchs, in dem das Geschmacksurteil durch Beispiele erläutert wird, die Pluralform des Begriffs als Ergänzung zum deutschen Wort Zierrat in Klammern
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des griechischen Wortes, denn ›Parergon‹ bezeichne nicht einfach ein Beiwerk, das sich aus dem Werk heraushielte, sondern eines, das ganz dicht am Werk wirke: »Ein Parergon tritt dem ergon, der gemachten Arbeit, der Tatsache, dem Werk entgegen, zur Seite und zu ihm hinzu, aber es fällt nicht beiseite, es berührt und wirkt, von einem bestimmten Außen her, im Inneren des Verfahrens mit; weder einfach außen noch einfach innen«47 . Ohne es käme ein Mangel am Werk zum Vorschein, womit auch Derrida auf die Einheit eines Werks abhebt, die erst durch das Beiwerk gegeben ist. »Was sie [Rahmen, Bekleidung, Säulen, L.H.] zu Parerga macht, ist nicht einfach ihre überflüssige Äußerlichkeit, es ist das interne strukturelle Band, das sie mit dem Mangel im Innern des Ergon zusammenschweißt. Und dieser Mangel ist damit konstitutiv für die Einheit selbst des Ergon.«48 Parerga vermögen aber nur dann das ästhetische Urteil über das Schöne zu heben, nur dann ihre Funktion zu erfüllen, solange sie nicht vom Zierrat zum Schmuck umschlagen, solange sie allein Form und nicht schöne Form sind. Letzteres ist beispielsweise bei einem goldenen Rahmen der Fall: Was schlecht und dem reinen Gegenstand des Geschmacks äußerlich ist, ist folglich dasjenige, was durch seinen Reiz verführt; und das Beispiel für das, was durch seine reizende Kraft vom rechten Wege abbringt, ist eine Farbe, die Vergoldung, als Nicht-Form, als Inhalt oder sinnliche Materie. Die Verderbnis des Parergon, die Verirrung (perversion), der Schmuck, das ist der Reiz des sinnlichen Inhalts. Als Zeichnung, Anordnung von Linien, Verwinkelung, hat der Rahmen nichts von einem Schmuck, und man kann auf ihn nicht verzichten. Aber in seiner Reinheit sollte er farblos, von aller empirisch sinnlichen Materialität entblößt bleiben.49
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hinzu: »Selbst was man Zieraten (parerga) nennt, d.i. dasjenige, was nicht in die ganze Vorstellung des Gegenstands als Bestandstück innerlich, sondern nur äußerlich als Zutat zugehört […].« (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 8, Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1957, S. 233-620, hier S. 306) Zu Kants Parergon-Begriff vgl. ausführlicher: Dembeck, Texte rahmen, S. 269-294. Winfried Menninghaus unterstreicht in seiner Studie zum Unsinn in der Romantik, dass die gesamte Kritik der Urteilskraft von einer Wechselbeziehung zwischen Zentrum und Peripherie geprägt sei: »[V]on Beginn an geraten die zentralen Thesen unter den Druck schleichender bis offener Marginalisierung, und umgekehrt gewinnen scheinbar nur randständige Elemente bei genauer Lektüre eine überraschend weittragende Bedeutung.« (Winfried Menninghaus: Lob des Unsinns. Über Kant, Tieck und Blaubart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 43) Menninghaus verweist anschließend auf Derrida, der diese Wechselbeziehung zuerst herausgestellt habe. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei. Hg. v. Peter Engelmann. Wien: Passagen 1992, S. 74. Ebd., S. 80. Ebd., S. 86.
1. Paratext und Pop
Derrida weiß um die Gefahr der Überwucherung des Werks durch das Beiwerk, von der er in der Nikomachischen Ethik liest: »Der philosophische Diskurs wird immer gegen das Parergon sein.« Doch folgt darauf der wissende und die Bedeutung des Parergon unterstreichende Nachsatz, der mit einer weiteren Übersetzung der Vorsilbe ›para-‹, in diesem Fall: ›gegen-‹, spielt: »Aber was wird es mit dem gegen auf sich gehabt haben.«50 Genette verhilft mit Paratexte diesem ›gegen‹ zwar grundsätzlich zu mehr Prominenz, jedoch verbleibt das Konzept in seiner Reichweite immer noch recht marginal. Das Programm des Paratextes ist längst von der Literatur auf andere Künste und Medien übertragen worden,51 die Zahl der Publikationen aber, die sich der Analyse eines Textes via dessen Paratext nähern, fällt – im Vergleich zum nah verwandten Konzept der Intertextualität – verhältnismäßig gering aus.52 Kreimeier und Stanitzek machen dafür auch die »rhetorische Bescheidenheit« verantwortlich, mit der Genette seine Thesen einführt: »Nur zu gern hat man seine Rede vom Paratext als bloßem ›Beiwerk des Buches‹ im Unterschied zum ›eigentlichen‹ Text wörtlich genommen.«53 Das ist u.a. dem paradoxen Abhängigkeitsverhältnis zwischen Paratext und Text geschuldet. Obwohl der Text erst durch seinen Paratext präsentiert wird, gereicht es letzterem nicht dazu, mehr als ein »Hilfsdiskurs« zu sein, »der im Dienst einer anderen Sache steht, die seine Daseinsberechtigung bildet, nämlich des Textes.«54 Teilen sich also die meisten Arten von Paratext und der
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Dieses wie das vorhergehende Zitat ebd., S. 74. Beispielsweise Johannes Mahlknecht: Writing on the edge. Paratexts in narrative cinema. Heidelberg: Winter 2016; Thierry Greub (Hg.): Cy Twombly. Bild, Text, Paratext. Paderborn: Fink 2014; Alexander Böhnke: Paratexte des Films. Über die Grenzen des filmischen Universums. Bielefeld: transcript 2007; Alexander Böhnke/Rembert Hüser/Georg Stanitzek (Hg.): Das Buch zum Vorspann. »The title is a shot«. Berlin: Vorwerk 8 2006; Klaus Kreimeier/Georg Stanitzek (Hg.): Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Berlin: Akademie-Verlag 2004. Die Veröffentlichungen der letzten zehn Jahre umspannen nur wenige Titel, darunter: Roman Kuhn: Wahre Geschichten, frei erfunden. Verhandlungen und Markierungen von Fiktion im Peritext. Berlin/Boston: De Gruyter 2018; Juliane Witzke: Paratext – Literaturkritik – Markt. Inszenierungspraktiken der Gegenwart am Beispiel Judith Hermanns. Würzburg: Königshausen und Neumann 2017; Sabine Zubarik: Die Strategie(n) der Fußnote im gegenwärtigen Roman. Bielefeld: Aisthesis 2014; David Fischer: Das Bildnis des Christian Kracht. Wie sich der Autor Christian Kracht im Internet und im Beiwerk von Büchern selbst inszeniert. Hamburg: Diplomica 2014; Frieder von Ammon/Herfried Vögel (Hg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Berlin u.a.: Lit Verlag 2008 sowie Christoph Jürgensen: »Der Rahmen arbeitet«. Paratextuelle Strategien der Lektürelenkung im Werk Arno Schmidts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007 und Dembeck, Texte rahmen (2007). Kreimeier/Stanitzek, Vorwort, S. VII. Genette, Paratexte, S. 18.
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präsentierte Text die Eigenschaft, Text zu sein,55 kommt ersterem doch nur ein pragmatischer Charakter zu, er ist »immer ›seinem‹ Text untergeordnet, und diese Funktionalität bestimmt ganz wesentlich seine Beschaffenheit und seine Existenz.«56 Die Tatsache, dass es für das Vorwort sowie auch für Titel, Motti, Register, Schmutzseiten etc. bereits vorgeprägte Begriffe gibt, hatte, laut Stanitzek, in der Philologie zudem einen Vorbehalt gegenüber dem Paratext zur Folge: Dass diese Erscheinungen ohnehin bereits über eigenständige Bezeichnungen verfügten, die in der Literaturwissenschaft Berücksichtigung fänden, mache einen zusätzlichen Sammelbegriff überflüssig.57 Dem entgegen sei nochmals auf die übergeordnete Idee verwiesen, dass die Benennung durch das Kollektivum die Funktion der Lektüresteuerung mittransportiert. Die Unsicherheiten in Bezug auf den Paratext sind nicht unbedingt als Makel der Methode zu werten. Zweifellos: Nicht jeder literarische Text eignet sich für eine Analyse, an deren Anfang der Paratext steht. Trotz bestimmter Konventionen treten paratextuelle Elemente weder streng systematisch noch in ihrer Gesamtheit bei jedem Text auf, weshalb ihre potenzielle Wirkkraft immer abhängig vom jeweils vorliegenden Text bestimmt werden muss:58 »›Der‹ Paratext existiert genau genommen nicht, man entschließt sich vielmehr dazu, […] in diesen Begriffen zu sprechen. Die Frage lautet also nicht, ob die Anmerkung zum Paratext ›gehört‹ oder nicht, sondern ob es von Vorteil und Relevanz ist oder nicht, sie als solchen zu betrachten.«59 Das mache letztlich nicht die Ermittlung des Status eines textuellen Elements obsolet, aber erwehre sich der Frage nach dem Stellenwert der Begriffsbezeichnung, so Christoph Jürgensen zur Verteidigung des Konzepts.60 Wenn auch nicht universell gewinnbringend, ist die Betrachtung des Paratextes so zumindest für einzelne Bücher relevant bzw., wie noch zu belegen sein wird, für eine ganze Strömung der Literatur: die des Pop. Es geht darum, »zu zeigen, wie Textbestandteile, die scheinbar durch eine äußere Funktion motiviert sind, zugleich im Inneren des Textes eine Funktion ausüben«61 , und es ist dann gerade die Aufgabe der Inter55 56
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Vgl. ebd., S. 14: »Meistens ist also der Paratext selbst ein Text: Er ist zwar noch nicht der Text, aber bereits Text.« Ebd., S. 18. Im Schlusswort seiner Monografie zieht Genette einen sehr bildlichen Vergleich zur Unterstützung dieser These heran: »Der Paratext ist nur ein Behelf, ein Zubehör des Textes. Und wenn der Text ohne seinen Paratext mitunter wie ein Elefant ohne seinen Treiber ist, ein behinderter Riese, so ist der Paratext ohne seinen Text ein Elefantentreiber ohne Elefant, eine alberne Parade.« (ebd., S. 391) Vgl. Stanitzek, Paratextanalyse, S. 198. Vgl. Jürgensen, Der Rahmen arbeitet, S. 18. Genette, Paratexte, S. 327. Vgl. Jürgensen, Der Rahmen arbeitet, S. 22. Dembeck, Texte rahmen, S. 2. Auch hier findet sich eine Analogie zu Derrida: »[D]as ist ein Parergon, […] ein Außen, das ins Innere hineingerufen wird, um es (von) innen zu konstituieren […].« (Derrida, Wahrheit in der Malerei, S. 84)
1. Paratext und Pop
pretation, festzulegen, welche Bestandteile Text und welche Bestandteile Paratext sind, um einen fruchtbaren Zugang zum Werk zu erschließen.62 Stanitzek zufolge kommt das einer hermeneutischen Lektüre gleich, die auch Programm dieser Arbeit ist: Insgesamt also strukturiert sich das Feld der Paratextualität für Genette nach der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie; zentriert ist eine dieser Konzeption folgende Paratextanalyse in der Regel um den jeweiligen als Werk verstandenen Text. In ihm hat sie ihren Ausgangs- und Endpunkt. Und insofern ist sie als hermeneutisches Verfahren zu begreifen. Wenn hermeneutisches Lesen bedeutet, in einen Zirkel der Beobachtung eines Ganzen und seiner Teile einzutreten, so wird den para- und insbesondere peritextuellen Elementen von der Paratextanalyse der Status von hermeneutisch zu privilegierenden ›Teilen‹ zuerkannt.63 Wie im hermeneutischen Zirkel dient die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen als Folie für die Relation zwischen dem Ganzen eines Buchs und dessen paratextuellen Elementen; der Paratext ist Kontext des Textes. In Goetz’ Fall tritt dazu noch der Zusammenhang zwischen dem Ganzen eines Werkkomplexes und dessen einzelnen Bänden. Denn das wörtlich genommene ›Beiwerk‹ eines Bandes innerhalb eines Werkkomplexes – nämlich die anderen Einzelbände, die ›daneben‹, d.h. chronologisch gesehen: davor, danach oder gleichzeitig, veröffentlicht werden – bildet die Umgebung und fungiert wiederum als Paratext, der ein weiteres Außen eines Buch-Außen ist und auf das Innen des entsprechenden Bandes einwirkt. Würden Einzelbände aus der Werkgruppe HEUTE MORGEN beispielsweise im Nachfolger-Komplex SCHLUCHT wiederveröffentlicht – was schlicht einer Änderung des Buchcovers und der Titelei bedürfte –, würde das nicht ohne Einfluss auf die Bedeutung des Einzeltextes bleiben. Die (potenzielle) Variabilität des Paratextes im Gegensatz zum Text macht das Konzept erst interessant. In Stanitzeks Beobachtung klingt zudem eine Unterscheidung an: Genette teilt den Paratext in die zwei Kategorien Peritext und Epitext, die zusammen den Paratext ausmachen.64 Der Peritext umfasst jene Elemente, die »zwangsläufig eine Stellung [haben], die sich im Hinblick auf den Text situieren läßt: im Umfeld des Textes, innerhalb ein und desselben Bandes«, wie bei Titel, Vorworten und Kapitelüberschriften der Fall, während sich die Elemente des Epitextes, wie etwa Interviews, Tagebuchaufzeichnungen oder Briefwechsel, »immer noch im Umfeld des Textes, aber in respektvollerer (oder vorsichtigerer) Entfernung finden« und
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Vgl. Stanitzek, Paratextanalyse, S. 200. Ebd., S. 199. Vgl. Genette, Paratexte, S. 13. Genette nutzt dafür die Formel: »Paratext = Peritext + Epitext.« (ebd.)
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»zumindest ursprünglich außerhalb des Textes angesiedelt sind«65 . Die räumliche (und ggf. auch: zeitliche) Nähe zum Text bestimmt demgemäß die Art des Paratextes; je näher dran, desto relevanter scheinen die Einzelheiten. Der Epitext als »Anhängsel des Anhängsels« ist nicht unmittelbar zu erkennen, muss vielmehr »in der Gesamtheit des auktorialen Diskurses« gesucht werden, was nur noch einen »Paratexteffekt (statt Funktion)«66 zur Folge hat. Der Peritext sei, so Binczek, deshalb nur der Kategorie des Buchs zuzurechnen, der Epitext hingegen weitet sich auf die Kategorie des Werks aus.67 Was Goetz betrifft, wird u.a. interessant sein, was passiert, wenn der Epitext, der zuvor den Text entfernt umgab, zum Text selbst gemacht wird, indem er dem Buchkomplex als Band hinzugefügt wird, wie es beispielsweise beim Abdruck diverser Interviews im Merve-Band Jahrzehnt der schönen Frauen der Fall ist. Die Unterscheidung zwischen einem epitextuellen und einem peritextuellen Status scheint darüber hinaus bei Goetz’ komplexen Büchern, die mehrere Bücher zu einem Werk – oder wie der Autor es nennt: mehrere Bände zu einem Buch – machen, generell in Frage zu stehen und nominelle Schwierigkeiten mit sich zu bringen. In Genettes Paratextkonzeption ist der Autor eine entscheidende Größe,68 jedoch erntet er für dieses Definitionsmerkmal allenthalben Kritik.69 Dembeck sieht die Funktion ›Autor‹ durch den Paratext erst erzeugt, was nur den zirkulären Rückschluss zulasse, dass Paratexte auktorial sind: »Der Paratext nämlich ermöglicht überhaupt erst die Bezugnahme auf jene Instanz, die ihn angeblich autorisiert.«70 Auch Remigius Bunia pflichtet dieser Ansicht in dem Sinne bei, dass die Paratexte, und hier speziell die Peritexte, sich weniger an der Entscheidung von Autoren bzw. Verlegern oder Herausgebern orientieren, sondern »an den medialen Möglichkei-
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Dieses wie die vorhergehenden Zitate ebd., S. 12. Ebd., S. 330. Vgl. Natalie Binczek: Epistolare Paratexte: Über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts in einer Reihe von Briefen. In: Klaus Kreimeier/Georg Stanitzek (Hg.): Paratexte in Literatur, Film und Fernsehen. Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 117-133, hier S. 118. Vgl. beispielsweise Genette, Paratexte, S. 16: »Die Definition des Paratextes erfordert, daß immer der Autor oder einer seiner Partner [gemeint sind Herausgeber, Verleger etc., L.H.] verantwortlich zeichnet […].« Vgl. zusammenfassend Annika Rockenberger: ›Paratext‹ und Neue Medien. Probleme und Perspektiven eines Begriffstransfers. In: PhiN – Philologie im Netz 76 (2016), http://web.fuberlin.de/phin/phin76/p76i.htm (01.12.2019), S. 20-60, hier S. 34: »Von den notorischen antiintentionalistischen, autor-kritischen Polemiken einmal abgesehen, liegt dem in der Regel die konkrete (empirische) Annahme zugrunde, dass Genettes Vorstellung, der Autor kontrolliere zumindest mittelbar alle Aspekte des buchbezogenen Produktionsprozesses historisch naiv (möglicherweise gar Ausdruck romantischer Ideologie oder unhinterfragter genieästhetischer Prämissen) und bereits für die Buchkultur vollkommen unangemessen sei.« Dembeck, Texte rahmen, S. 13.
1. Paratext und Pop
ten, die sich im Laufe der Evolution des Mediums Buch stabilisiert haben«71 , womit sich der Kreis zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen zum Paratext schließt. Unter Zuhilfenahme einer Überlegung von Georg Stanitzek sei noch einmal auf die Möglichkeit verwiesen, mittels des Paratextes dem Desiderat des Medienbegriffs ›Buch‹ zu begegnen, und zwar durch die Kombination der von Niklas Luhmann in die Systemtheorie eingeführten Unterscheidung von Medium und Form mit dem Peritext.72 Luhmann modifiziert für seinen abstrakten Begriff vom Medium die von Fritz Heider stammende Unterscheidung Ding/Medium hin zur Differenz von Medium/Form (also Form statt Ding). Diese Unterscheidung ist letztendlich für jedes der funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft relevant, da alle mittels spezifischer Medien kommunizieren, das Konzept entwickelt Luhmann allerdings im Zusammenhang mit dem Kunstsystem.73 Er übernimmt von Heider dazu die Idee der Kopplung von Elementen. Bestimmte Medien und Formen nutzen dieselben Elemente, unterscheiden sich aber hinsichtlich ihrer Kopplung. Das Medium auf der einen Seite stellt den Fall lose gekoppelter Elemente dar, aus denen Formen durch feste Kopplung dieser Elemente gebildet werden können. Es gibt nicht eine Form, die das Wesen des Mediums bestimmt, letzteres ist gerade durch die Kontingenz an Formbildungen zu erkennen. Zwar schließt ein Medium, da es aus denselben Elementen wie seine Formen besteht, Beliebigkeiten aus, setzt den Möglichkeiten der Formen aber keinen Widerstand entgegen.74 Die Unterscheidung ist damit streng relational gebaut; auch hier ist also ein dynamischer Prozess, eine Wechselbeziehung zwischen Medium und Form, ein Oszillieren wie zwischen Text und Paratext, ein Changieren zwischen Rahmen und Verschwinden, wie sie die Funktionalität des Parergon prägt, angelegt. Hinsichtlich der Buchmedialität ließe sich die Unterscheidung Medium/Form mit Stanitzek dann wie folgt reformulieren: »Das Medium Buch wäre also zu unterscheiden vom jeweils einzelnen [sic] in dieses Medium eingeprägten und so im Medium realisierten Buchform.«75 Auf die Anschlussfrage hin, welche Elemente das Buchmedium bietet, um die Realisierung
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Remigius Bunia: Bewegliches Fragment. Den zweiten Teil von Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« lesen. In: Matthias Buschmeier/Till Dembeck (Hg.): Textbewegungen 1800/1900. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 90-110, hier S. 91. Vgl. Georg Stanitzek: Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive. In: Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Hg. v. Ursula Rautenberg. Bd. 1-2. Berlin/New York: De Gruyter Saur 2010, Bd. 1, S. 157-200, vor allem S. 185-193. Luhmann führt die Unterscheidung zuerst im Aufsatz Das Medium der Kunst ein, vgl. Natalie Binczek: Medium/Form – Robert Walser. In: Niels Werber (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen. Berlin/New York: De Gruyter 2011, S. 271-283, hier S. 275. Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 167-170. Stanitzek, Buch, S. 186.
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von Buchformen zu ermöglichen, folgt Stanitzek wiederum Bunia, dessen Antwort lautet: die peritextuellen Paratexte. Im Buchmedium sind demnach Größen wie Papier, Buchumschlag, Bindung oder Typografie lose gekoppelte Elemente, die durch die konkrete Kopplung von beispielsweise Zeichen und Bildern oder Buchdeckel und Papierart Formen bilden, nämlich einzelne konkrete Formen im Medium Buch,76 und auf diese Weise einen Bestimmungswert des Mediums Buch liefern. Zur Erläuterung der Differenz von Medium/Form zieht Luhmann zudem diejenige von Redundanz und Varietät heran,77 und legt dadurch den Bezug zu einem weiteren Begriff offen, der sich in eine Reihe mit Zierrat, Parergon, Rahmen und Paratext fügt: dem des Ornaments. Ornamente nämlich, so Luhmann, »lassen die Einheit von Redundanz und Varietät erscheinen« und »[halten] ein Kunstwerk zusammen«78 . Die Besonderheit des Kunstsystems ist nun, dass das Kunstwerk selbst an die Stelle des binären Codes gerückt ist, der in allen anderen Teilsystemen die Unterscheidung ermöglicht, welche Kommunikationen zum jeweiligen Funktionssystem gehören und welche nicht, und damit auch den Systemerhalt und Systemanschluss sichert.79 Im Kunstsystem obliegt dem einzelnen Kunstwerk die Unterscheidung zwischen Kunst und Nicht-Kunst sowie die Repräsentation der Einheit des Systems. All den Problemen, die aus diesem Sonderfall für das Kunstwerk und das System der Kunst erwachsen, begegnet Luhmann, so zeigt es die Darstellung Binczeks, mit dem Ornament.80 Das Ornament garantiert mit dem Zusammenhalt des einzelnen Kunstwerks auch jenen des gesamten Kunstsystems. Dabei geht es
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Vgl. Remigius Bunia: Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien. Berlin: Erich Schmidt 2007, S. 285. Stanitzek merkt an, dass im Falle des Buchs der Form, deren Begriff Luhmann ja gegen den des Dings austauschte, damit wieder eine geradezu dingliche Komponente zukommt, vgl. Stanitzek, Buch, S. 187. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 170: »Die Elemente, deren lose Kopplung das Medium bildet, […] müssen problemlos wiedererkennbar sein. Sie enthalten geringe Information, weil die Information, die das Kunstwerk auszeichnet, erst durch Formbildung gewonnen werden soll. Die Formbildung erst bewirkt Überraschung und garantiert Varietät, weil es dafür mehr als nur eine Möglichkeit gibt […].« Ebd., S. 194f. Luhmann dekliniert versuchsweise verschiedene Code-Werte für das Kunstsystem durch (›schön/hässlich‹, ›passend/nicht-passend‹), verwirft diese aber wieder (vgl. ebd., S. 309-311); Gerhard Plumpe und Niels Werber haben den Code ›interessant/langweilig‹ vorgeschlagen, vgl. Gerhard Plumpe/Niels Werber: Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 9-43. Vgl. für den folgenden Abschnitt Natalie Binczek: Zur Funktion des Ornaments in Luhmanns Kunst-Buch. Mit einem Supplement zum Bild des Ornaments in L’année dernière à Marienbad. In: Gregor Schwering/Carsten Zelle (Hg.): Ästhetische Positionen nach Adorno. München: Fink 2002, S. 103-122, hier S. 103-116.
1. Paratext und Pop
Luhmann nicht um eine bestimmte Ausprägung von Ornamentalität, vielmehr bezeugt er dem Ornament, an schlichtweg jedem Kunstwerk teilzuhaben, auch wenn nichts offensichtlich Ornamentales am Werk ist. Das sonst nur äußerlich Scheinende entsteht nach seiner Auffassung im Inneren des Kunstwerks als strukturelle Grundlage neu, wofür er die Begriffe ›Schönheitslinie‹, ›inneres Ornament‹, ›disegno‹ oder ›Arabeske‹ findet,81 Derrida nutzt die Formulierung ›internes strukturelles Band‹. Während Luhmann mit dem Begriff der Schönheitslinie auf William Hogarth und Karl Philipp Moritz referiert, weist er mit der Arabeske in die Frühromantik hinein, wo sie eine zentrale Position in Friedrich Schlegels (Früh-)Werk einnimmt. In seiner ausführlichen Studie zur Arabeske in der Poetik Schlegels erkennt Karl Konrad Polheim dem Schlüsselbegriff vielschichtige Bedeutungsdimensionen zu, darunter jene, die auf eine »Formmöglichkeit, als eine Struktur im weitesten Sinn, welche auf das höchste und letzte Ziel: die unendliche Fülle in der unendlichen Einheit, gerichtet ist«82 , entfällt. Mit dieser Bestimmung ist ein weiteres Mal das Schlagwort der Einheit gefallen, das sowohl beim Paratext wie Parergon als auch beim Ornament ein ausschlaggebendes Bestimmungsmerkmal liefert. Schlegel weist die Arabeske – wie Kant und darauf aufbauend Derrida – in der bildenden Kunst nach, speziell in der Malerei, wo sie ihm ebenfalls, so Pohl, »niemals Beiwerk, verzierender Schnörkel oder Abschweifung allein [ist], sie ist durchaus Selbstzweck und Ziel.«83 Doch überträgt er sie, das ist hervorzuheben, schließlich auf die Dichtkunst. Die Einheit in der Fülle, auf die Schlegel abhebt, zeigt sich dann im Verständnis der Arabeske als die »romantische Idealform«84 , die es vermag, Wissenschaft und Kunst sowie die unterschiedlichen poetischen Gattungen in sich zu vereinen und zu potenzieren. Die Arabeske avanciert so zu einem der Leitbegriffe frühromantischer Formbildung. Seinen einzigen und Fragment gebliebenen Roman Lucinde (1799) heißt Schlegel eine ›Naturarabeske‹.85 Zwar findet 81
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Die Begriffe kommen verstreut vor. In einem Atemzug nennt er sie in Niklas Luhmann: Schwarze Löcher schwarze Kleckse… Die Farbe Schwarz allein kann das wohl nicht entscheiden. In: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. v. Niels Werber. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 292-295, hier S. 292. Karl Konrad Polheim: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik. München u.a.: Schöningh 1966, S. 24. Ebd., S. 14. Ebd. Schlegel verwendet als Synonym auch den Begriff der ›Groteske‹, später wird er die Arabeske gänzlich in der ›neuen Mythologie‹ aufgehen lassen, vgl. ebd., S. 125-133. Darüber gibt eines seiner Fragmente Auskunft: »Der Grund der Lucinde ist absolute Lyrik + Romantisches Chaos. Lucinde = Naturarabeske. Lucinde ist ein Gedicht aus Nichts. Dann sollte aber auch keine Art der Mythologie darin seyn.« (Friedrich Schlegel: Ideen zu Gedichten. In: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler u.a., Bd. 16, Fragmente zur Poesie und Literatur. Erster Teil. Paderborn u.a.: Schöningh 1981, S. 191-252, hier S. 247, Fragment 182)
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der Begriff der Arabeske im gesamten Romantext keine Verwendung, doch gibt der Prolog die Schönheitslinie des Textes, die eine vegetabile Form annimmt, vor: »Hebt eine herrliche Pflanze aus dem fruchtbaren mütterlichen Boden, und es wird sich manches liebevoll daran hängen, was nur einem Kargen überflüssig scheinen kann.«86 Wie sich dieses innere Ornament im Roman mittels eines symmetrischen, auf Redundanz und Varietät aufbauenden Konstruktionsschemas ausformt, wird im Anschlusskapitel noch zu zeigen sein. Entscheidend ist zunächst, dass all die Begriffe rund um das Ornament die gebräuchliche, abwertende Unterscheidung zwischen dem Ornamentalen als bloßer Verzierung und der genuinen Schönheit eines Kunstwerks zur Auflösung treiben. Mit Luhmann lässt sich zusammenfassen: »Die Ornamentik, der eine nur dienende Funktion zugedacht war, übernimmt die Last der Sinngebung. Wenn man Kunstwerke als Kunstwerke auf ihr Formenspiel hin beobachten will, muß man nach ihrem Ornament fragen.«87 Zielsetzung wie Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit ist genau das: Das Ornament wird in das Innere des Kunstwerks hineinprojiziert, der Paratext zur Basis des Buchs erklärt und so auf seine Bedeutung für den Text hin befragt. Die paratextuellen Bausteine werden dabei ganz wörtlich als ›Praktiken und Diskurse‹ verstanden und der Verfahrensweise Goetz’ wird als einer Praxis der Nutzung dieses Verständnisses auf den Grund gegangen. Zur Dichotomie von außen und innen, die über diese Sichtweise auf den Paratext vermittelt wird, werden im Laufe der Arbeit weitere Polaritäten treten, die ebenfalls auf eine Verbindung zustreben. Die konkreten, einer Betrachtung werten Paratexte sind neben den für Goetz typischen Werkverzeichnissen, die innerhalb der Titelseiten zu finden sind, vor allem die Kapitel- bzw. Akt- und Szenenüberschriften sowie die den Bänden oder Kapiteln vorangestellten Motti. Als etwas den Texten ganz Äußerliches und damit als erster Ansatzpunkt für die Beschäftigung mit dem Paratext dienen aber die Umschläge und Einbände seiner Veröffentlichungen. Die Beobachtungen nehmen ihren Anfang an der Peripherie, wo »die Verwandlung des Paratextes in Text, der Parerga in Werke möglich [ist]«88 , und führen so geradewegs in ein im mehrfachen Sinne zu verstehendes Zentrum. Die Beschreibung der Paratexte nähert sich somit auch immer mehr dem Inneren der Texte. Die nun folgende Analyse der Buchcover setzt an der für Pop(-Kultur) sehr prominenten Oberfläche an und greift bewusst vorerst nur ein Merkmal des äußerst umfangreich definierten Konzepts ›Pop‹ auf, da es Teil des für Goetz ausschlaggebenden Verständnisses desselben ist.89 86 87 88
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Friedrich Schlegel: Lucinde. In: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler u.a., Bd. 5, Dichtungen. München u.a.: Schöningh 1962, S. 1-92, hier S. 3. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 196. Jacques Dugast: Parerga und Paratexte. Eine Ästhetik des Beiwerks. In: Gérard Raulet/Burghart Schmidt (Hg.): Vom Parergon zum Labyrinth. Untersuchungen zur kritischen Theorie des Ornaments. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2001, S. 101-110, hier S. 110. Vgl. ausführlicher zu Goetz’ Pop-Auffassung das Kap. 4.1 dieser Arbeit.
1. Paratext und Pop
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Ästhetik der Oberfläche
Der häufig anzutreffenden Behauptung, Pop sei schwierig zu definieren, begegnet Thomas Hecken mit der konzisen Beobachtung, dass die große Anzahl an Definitionsvarianten für Pop genau das Gegenteil zeige. »Schwierig ist es offenkundig nur, sich mit einer Definition so durchzusetzen, dass sie den Sprachgebrauch der meisten anderen Sprachteilnehmer prägt.«90 So disparat die Forschungsobjekte und so weitläufig die Untersuchungen zum Thema auch ausfallen mögen, sind einige Definitionsmerkmale für Pop(-Literatur, -Art, -Musik etc.) dennoch verschiedentlich übereinstimmend gezeigt worden. Dazu gehört die Bedeutung einer Ästhetik der Oberfläche.91 Als Aufweis dieser Ästhetik dienen z.B. die serielle Produktionsweise sowie Nähe zur Werbung und zum Massenkonsum in der Pop-Art, die Ausgangspunkt wie Vorbild für die Pop-Literatur ist. Jene wiederum trägt der Oberfläche mit häufig vorkommenden Markennamen, Partygesprächen und Rauscherfahrungen Rechnung. Die traditionell abwertend konnotierte Oberflächlichkeit wird zu einem positiven Moment verkehrt, das Konsumierbarkeit betont und eine (hermeneutische) Tiefendimension eher in Abrede stellt – »Amüsement, Evasion, heitere Ablenkung, unbekümmerte Hingabe an den Moment, Verzicht auf Nachfragen und tiefschürfende Erklärungen, belustigte Abwehr ernster Pflichtanforderungen und Sinnzumutungen«92 stehen für diese Haltung ein. Susan Sontags zu Beginn der 1960er Jahre geschriebenes Plädoyer für eine andere interpretatorische Praxis, die unmittelbar aus der Form, nicht aus dem Inhalt eines Kunstwerks ihr sinnliches Erleben zieht, kann als Vorschlag auf die Beantwortung der Frage nach dem Umgang mit diesen Oberflächen gelten: »In place of a hermeneutics we need an erotics of art.«93 Die Oberfläche in ihrer tatsächlichen Oberflächlichkeit, als das Offensichtliche, ist auch Ansatzpunkt für die inhaltliche Füllung der Idee ›Pop‹, wie sie der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen fasst und wie Goetz sie wenig später nahezu identisch ausbuchstabieren wird: »Pop tritt als Geheimcode auf, der aber gleichzeitig für alle zugänglich ist.«94 Bei Goetz liest man im ursprünglich als Weblog angeleg-
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Thomas Hecken: Pop. Aktuelle Definitionen und Sprachgebrauch. In: pop-zeitschrift.de vom 08.09.2012, www.pop-zeitschrift.de/wp-content/uploads/2012/09/popdefinitionengegenwart.pdf (01.12.2019), S. 1. Vgl. für eine Zusammenfassung des Pop-Charakteristikums Oberfläche das Kapitel »Oberflächen-Ästhetik« in Thomas Hecken: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009. Bielefeld: transcript 2009, S. 265-271. Ebd., S. 269. Susan Sontag: Against Interpretation. In: dies.: Against Interpretation and other Essays. New York: Picador 1966, S. 3-14, hier S. 14. Diedrich Diederichsen: Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch. In: Rowohlt Literaturmagazin 37 (1996) [»Pop, Technik, Poesie. Die nächste Generation«], S. 36-44, hier S. 40.
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ten Roman Abfall für alle dann: »Das Populäre. Was heißt denn das? Das prinzipiell allen Zugängliche.« (Afa, 120) Zugänglich ist das Phänomen Pop für Diederichsen nachgerade, weil Pop sich affirmativ, regelrecht ›lebensphilosophisch‹, der Welt zuwende, dem Leben und der Moderne mit einem ›großen Ja‹ begegne und sich damit nicht elitär, sondern (›zumindest scheinbar‹) inklusiv gebe. So habe Andy Warhol zwar überdreht agiert, aber immer ohne Ironie in Bezug auf die Codes, Gebräuche und Werte der ›normalen‹ (US-)Gesellschaft.95 In seiner Betrachtung von Warhols Tapetendruck Cow Wallpaper macht Torsten Hahn das für die Unterscheidung von Pop gegen Pop-Art stark. Er versteht Pop als eine ästhetische Erfahrung, ausgelöst durch Produkte der Konsumkultur, und zwar solchen seriell produzierten Dingen und insbesondere Oberflächen, die keinen Raum für Spekulationen über Aura lassen. Anders formuliert: Statt wie gehabt auf ›Werke‹ zu setzen, die man, bevor sie gekauft werden und z.B. in Wohnungen wandern, in Galerien ausstellt, öffnet sich Warhols Kunst mit dem Tapetendruck in Richtung Dekorladen – und aus Pop-Art wird Pop.96 Tapeten, in der Form von Warhols siebgedruckten pinken Kuhköpfen auf gelbem Grund, stellen so regelrecht einen Prototypen für eine in »›das Leben‹ entlassene Kunst«97 dar, die auf Breitenwirkung hin angelegt ist, also etwas im Wortsinn ›Populäres‹ meint. Die ästhetische Erfahrung Pop speist sich – Hahn zeigt das wie Derrida mit Rückgriff auf Kants Kritik der Urteilskraft – aber nicht nur daraus, dass Tapeten schlicht eine gebräuchliche Oberfläche sind, sondern aus der Setzung auf eine gestaltete Oberfläche, auf ein Formenspiel wie in Luhmanns Theorie des Ornaments, und der Öffnung für die Gegenwart.98 Eine Fixierung auf eben diese Gegenwart ist es, die Eckhard Schumacher in seiner einschlägigen Monografie zur deutschsprachigen Pop-Literatur, Gerade Eben Jetzt, auch auf die Oberfläche rückbindet. Er bescheinigt den ›Schreibweisen der Gegenwart‹, wie der Untertitel seiner Studie lautet, eine »Konzentration auf die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Jetzt«, die »in räumlicher Hinsicht [mit] eine[r] erhöhte[n] Aufmerksamkeit für die Oberfläche«99 einhergeht. Unter diesem Merkmal verortet er Texte von Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann und Hubert
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Vgl. ebd. Das affirmative ›Ja‹ zur Welt sowie die vermeintliche Kluft zwischen Kunst und Leben werden in der Rückspiegelung auf Goetz’ Schaffen im Verlauf dieser Arbeit noch eine Rolle spielen. Torsten Hahn: ›Wallpaper Art‹. Zur Ästhetik seriell gestalteter Oberflächen. In: Pop. Kultur und Kritik, Heft 3 (Herbst 2013), S. 156-173, hier S. 156f. Ebd., S. 159. Vgl. ebd., S. 168-170. Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 33.
1. Paratext und Pop
Fichte, Thomas Meinecke und Rainald Goetz. Brinkmann, der als Vorreiter der literarischen Pop-Bewegung in Deutschland gilt,100 hatte den Bezug auf die Oberfläche mit der Beschreibung von Alltäglichem in Einklang gebracht. Im Nachwort der 1969 von ihm und Ralf-Rainer Rygulla herausgegebenen Anthologie Acid. Neue amerikanische Szene, die erstmalig als Kompendium Übersetzungen von Lyrik, Prosa, Interviews und Comic-Strips der amerikanischen Beat- und Underground-Kultur in den deutschen Sprachraum brachte, heißt ein resümierender Befund über die dort zusammengestellten Texte und Fotos: »Die Beschränkung auf die Oberfläche führt zum Gebrauch der Oberfläche und zu einer Ästhetik, die alltäglich wird.«101 In der in dieser Zeit intendierten Erweiterung der Kunst gehe es darum, so Brinkmann, das vorherrschende Bewusstsein, das die Menschen in der Vergangenheit, in der Erinnerung, in Traditionen festhält, abzustreifen, und stattdessen auf gegenwärtige Tatsachen zu setzen, womit letztlich eine neue Spielart von Realismus Einzug in die Kunst hält. Diese entfalte sich mit der Aufmerksamkeit für die Glätte eines Bildes oder mit der Bevorzugung des Kurzzeitgedächtnisses – das vorhandene Material müsse schlicht in Mengen aufbewahrt werden, »… nicht morgen, jetzt, jetzt, heute.«102 Den Analogien zwischen der Arbeitsweise Brinkmanns und Warhols geht Gerd Gemünden in seinem Aufsatz mit dem sprechenden Titel The Depth of the Surface nach. Beiden sei das Bestreben eigen, dass ihre Werke ein großes Publikum ansprechen und von diesem unmittelbar verstanden werden sollen: »[T]he cult of the surface propagates an aesthetics of absolute legibility, instant disclosure of ›meaning‹, naivité, immediacy of the unobstructed view, and total presence.«103 Die Huldigung der Oberfläche bei Brinkmanns Vorbild Warhol führt Gemünden vor allem auf eine polemische Haltung gegen den Elitarismus des Abstrakten Expressionismus bzw. der Moderne im Generellen zurück sowie auf einen Mechanismus, den Warhol zum Schutz seiner eigenen Person einsetzte, und der die Unterscheidung zwischen einem ›echten‹, ›authentischen‹ Warhol und seiner Persönlichkeit als Kunstprodukt verschwimmen ließ.104 Diese Verschränkung von Realität und Fiktion, von Leben und Werk, wird bei Goetz – vor allem auch in Anlehnung an Warhol, den er als seinen »Lieblingsschriftsteller«105 bezeichnet – noch entschei100 Goetz erweist ihm wohl am deutlichsten in seinem Fotobuch elfter september 2010 Referenz, in dem ein Abschnitt in Fortführung von Brinkmanns Gedichtband Westwärts 1 & 2 mit »Werkwärts 3 & 4« benannt ist. Vgl. zu Parallelen in den Schreibverfahren von Brinkmann und Goetz die Monografie Schumachers. 101 Rolf Dieter Brinkmann: Der Film in Worten. In: ders./Ralf-Rainer Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene. Reinbek b.H.: Rowohlt 1983, S. 381-399, hier S. 388. 102 Ebd., S. 383. Vgl. weiterführend zum Realismus das Kap. 5.2 dieser Arbeit. 103 Gerd Gemünden: The Depth of the Surface, or, What Rolf Dieter Brinkmann learned from Andy Warhol. In: The German Quarterly, Vol. 68, No. 3 (Summer 1995), S. 235-250, hier S. 237. 104 Vgl. ebd. 105 Rainald Goetz: Kronos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 265.
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dend ins Gewicht fallen, erste Vorzeichen kündigen sich bereits in den Buchumschlägen, also Oberflächen, seiner Romane Irre und Kontrolliert an. Nach dem Tod Warhols nimmt Goetz zudem einen weiteren Künstler der Pop-Art ins Visier, der ihm als der »lebende Vertreter Andy Warhols auf Erden« (Afa, 258) gilt: Jeff Koons. Goetz wird in Feuilleton wie Wissenschaft immer wieder als Pop-Schriftsteller charakterisiert, zumal er sich in seinen Texten anhaltend, wenn auch nicht immer vordergründig, mit dem Themenfeld auseinandersetzt und eigene Beschreibungsversuche für ›Pop‹ liefert. Die Werkreihe HEUTE MORGEN stellt er selbst vor einen eindeutigen Pop-Horizont: Zum einen nennt er die Bände im Gesamten eine ›Geschichte der Gegenwart«106 und verbindet die Werkgruppe so mit ihrer Ist-Zeit der späten 1990er Jahre. Die Inhalte der Teilbände sind dementsprechend, um nur ganz abstrakt auf sie zu blicken, um die Themen Techno, Medien, zeitgenössische Kunst und Alltagsbeobachtungen gruppiert. Zum anderen liest man – wieder in seinem Weblog Abfall für alle – von einem Werbevorhaben für mehrere Bücher des Suhrkamp Verlags, an dessen Gestaltung Goetz Anteil nimmt: »Wir [Thomas Meinecke und Goetz, L.H.] reden über die geplante Werbung für unsere Bücher. Die Überschrift muß, wenn dann, natürlich POP heißen, finde ich. Thomas hatte gedacht an ›Plattenspieler‹« (Afa, 638)107 sowie: »Es soll jetzt also supersimpel werden. Links steht ein Wort: POP. Dann kommen die Umschläge der Bücher, ohne Text. Dann, schön groß: SUHRKAMP VERLAG. Fertig.« (Afa, 642) Bereits dieser Entwurf spielt mit der Oberfläche, wenn ausschließlich die Buchcover, der Oberbegriff Pop und der Verlagsname genutzt werden sollen, weitere Slogans oder Inhaltskurztexte zu den Werken scheinen nicht notwendig. Die geplante Werbung wird genau genommen zwei Mal umgesetzt. Ein erstes Mal, so wie Goetz sie dargestellt wissen wollte, im Januar 1999 in der Spex (Abb. 1). Unter dem Wort ›POP‹, das oben und nicht links steht – wahrscheinlich war die Anzeige von Goetz quer gedacht, wurde aber hochkant ausgeführt –, sind in Schwarz-Weiß die Umschläge der allesamt 1998 veröffentlichten Romane bzw. Erzählungen Gut laut von Andreas Neumeister, Rave von Goetz sowie Tomboy von Meinecke abgebildet, jeweils mit wenigen Angaben zu Ausstattung und Preisen der Bücher, darunter prangt der Verlagsname. ›Das Magazin für Popkultur‹, wie die monatlich erscheinende Spex seit 1993 im Untertitel heißt, ist der wohl folgerichtige Ort, wenn es um Werbung für Pop geht, steht die Anzeige doch in der Umgebung von Plattenbesprechungen, Jahresbestenlisten und Interviews – das Cover der Januar-Ausgabe verspricht George Michael, Blumfeld, Modest Mouse, Miles 106 Vgl. beispielsweise den Klappentext des Romans Abfall für alle: »Abfall für alle ist der vorletzte Band von Heute Morgen, einer Geschichte der Gegenwart, die zur Zeit erscheint.« 107 Thomas Meinecke bestätigt dies, vgl.: Pop hat eine harte Tür – Protokoll eines Gesprächs mit Thomas Meinecke, Benjamin von Stuckrad-Barre, Eckhard Schumacher und Kerstin Gleba. Geführt am 15. Oktober 2006 in München. In: Kerstin Gleba/Eckhard Schumacher (Hg.): Pop seit 1964. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007, S. 365-399, hier S. 368.
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Davis und Pete Rock. Außerdem verheißt es: Luhmann. Das erste Heft des Jahres 1999 hat sich dem Rückblick auf das vorausgegangene Jahr verschrieben, in dem im November auch Niklas Luhmann verstarb; ein Nachruf auf den Soziologen ist deshalb Teil der Jahresrückschau und Luhmann somit Teil des Kosmos Pop-Kultur. Barbara Kirchners kurzer Text zu seinem Tod erklärt nicht nur Goetz’ Äußerungen in dessem Weblog zur schönsten Erinnerung an den Wissenschaftler108 und zieht so eine Verbindungslinie zwischen dem als Pop deklarierten Goetz und dem Theoretiker Luhmann. Statt des üblichen Porträts des Verstorbenen wird zudem, wie in der Werbung für die Bücher der drei Pop-Autoren, der Umschlag einer der Luhmann’schen Veröffentlichungen in die Mitte des Textes gerückt109 – es ist jener der letzten zu seinen Lebzeiten, nämlich abermals 1998, veröffentlichten Publikation Die Gesellschaft der Gesellschaft, die gleichermaßen bei Suhrkamp erscheint. Es ist nicht allzu viel Vorstellungskraft vonnöten, sich die Abbildung im Nachruf auf Luhmann als Erweiterung der Pop-Anzeige im selben Heft zu denken. Bemerkenswert ist ohnehin, dass die Verlagswerbung in der Spex nicht nur ein Buch vermarktet, sondern gleich für drei Autoren unter einem Nenner wirbt. Auf die Haltungen und Schreibweisen angesprochen, die die drei Autoren voneinander unterscheidet, und die doch unter einem Schlagwort vereinbar sein sollen, das in der Anzeige noch erfrischend in der Schwebe bleibt, erklärt Thomas Meinecke: [S]ehr unterschiedliche Ansätze, sehr unterschiedliche Zielvorstellungen, und trotzdem irgendwas methodisch Ähnliches. Zumindest versuchen wir, glaube ich, alle drei, in der Herstellung unserer Texte nach der Methode Pop zu verfahren. […] Obwohl die Resultate ganz unterschiedlich sind, sind wir, glaube ich, alle
108 Goetz schreibt, nachdem er vom Tod Luhmanns per Fax erfahren hat: »Das ist so traurig. Kein Mensch hat Luhmanns Werk bisher wirklich ausgelesen. Aber Luhmann selber war noch nicht fertig damit, mit der Niederschrift, das ist das Traurige an seinem viel zu frühen Tod. Daß es für ihn selber möglichst wenig schlimm war, für den großen heiteren Weisen, so früh schon sterben zu müssen, daß die Schmerzen und das Kranksein nicht zu schrecklich waren, und der letzte Atem gesegnet von dem, woran er glaubte. Er hat immer erwähnt, daß das alles ganz leicht zu ihm kommt, das Ungeheuerliche seines Werks. Und er war mit allem, wie es war, einverstanden, weil er sich entgegen der Intuition, noch nicht genau genug zu verstehen, ein Verständnis erdacht hatte, warum etwas, obwohl es doch eigentlich völlig unwahrscheinlich, unselbstverständlich war, eben doch vernünftig war, einzusehen. Auch im Hinblick auf den Tod war sein Weltzugang eine lebenslängliche Meditation, das Menschlichste in schönster Weise. Ihm alles zu wünschen, was Sinn nur sein könnte, bis zum letzten Lebensrand, und dann Frieden.« (Afa, 725) 109 Kirchner wünscht sich das für ihren Text; sie ist der Ansicht, dass die Bücher im Gegensatz zum Gesicht Luhmanns ›noch da‹ sind und ihn deshalb besser illustrieren, vgl. Barbara Kirchner: Hier ruht ein Wissenschaftler. In: Spex 01 (1999), S. 23.
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drei daran interessiert, so zu schreiben, wie Pop ist. Wie das, was wir an Pop gut finden, funktioniert.110 Nicht zuletzt prägte die Streifenanzeige in der Spex den Begriff des ›SuhrkampPop‹. Diese Klassifikation, verstanden als eine intellektuellere bzw. ›Akademiker‹Variante der Pop-Literatur,111 dient im Nachgang immer wieder der Abgrenzung zum trivialer anmutenden ›KiWi-Pop‹,112 worunter u.a. die zum Teil deutlich jüngeren Autoren Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre zu fassen sind, die ebenfalls in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mit den Romanen Faserland und Soloalbum in Erscheinung treten. Kracht und Stuckrad-Barre machen gleichsam kollektiv für ihre Bücher Werbung, jedoch stehen in ihrer Kampagne nicht die Bücher, sondern eher die Autoren selbst im Vordergrund: Sie tragen Anzüge für das Modehaus Peek & Cloppenburg.113 Wieder bestimmt demnach ein Moment von Kollektivität die Pop-Literatur dieser Zeit. Goetz hebt ebenso auf die Gemeinschaftlichkeit ab, wenn er in seiner Antrittsvorlesung zur Heiner Müller-Gastprofessur 2012 an der Freien Universität Berlin resümierend eine Verbindung zwischen Pop und Frühromantik herstellt, womit neben dem bereits ausgeführten Bezug zwischen Ornament und Arabeske diese Epoche ein weiteres Mal in den Blick rückt: Pop-Literatur war kollektivistisch, gegenwärtig und herrlich egoman. Flashy, swishy und natürlich überall ganz schnell sehr stark verhasst, sogar bei den Protagonisten selbst. Ganz zu Unrecht, wie ich finde. Wir waren Frühromantiker, eine Bewegung, jung, eine Wahrheit und ganz schnell vorbei.114 Beispiel dieses Miteinanders sind nicht nur gemeinschaftliche Anzeigen, sondern auch einschlägige Buchpublikationen, die von mehreren Autoren verantwortet
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Eckhard Schumacher: Pop. Ein Telefongespräch mit Thomas Meinecke. In: Bielefelder Stadtblatt vom 03.12.1998, www.uni-bielefeld.de/lili/personen/braungart/pkw/Artikel/pop.htm (01.12.2019). Vgl. Dirk Frank: »Literatur aus den reichen Ländern.« Ein Rückblick auf die Popliteratur der 1990er Jahre. In: Olaf Grabienski/Till Huber/Jan-Noël Thon (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin/Boston: De Gruyter 2011, S. 27-51, hier S. 41. Vgl. Frank Degler/Ute Paulokat: Neue deutsche Popliteratur. Paderborn: Fink 2008, S. 8. Eine Reproduktion dieser Werbung findet sich in Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. C.H.Beck: München 2002, S. 116f. Vgl. außerdem das auf die Kampagne bezugnehmende Interview mit den beiden Autoren: Anne Philippi/Rainer Schmidt: »Wir tragen Größe 46.« Interview mit Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre. In: Die ZEIT, Nr. 37 vom 09.09.1999, S. 3. Rainald Goetz: Leben und Schreiben. Der Existenzauftrag der Schrift. Antrittsvorlesung zur Heiner Müller-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin am 12.05.2012. Videoaufzeichnung. In: www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/fachbereich/gastprof/mueller/goetz/index.html (01.12.2019), 0:17:05-0:17:10 [Transkription L.H.]
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werden. Dazu zählt etwa das Manifest Tristesse Royale des ›popkulturellen Quintetts‹, bestehend aus Kracht und Stuckrad-Barre sowie Joachim Bessing, Eckhart Nickel und Alexander von Schönburg. Kracht ist es auch, der zur Jahrtausendwende eine Pop-Anthologie mit dem Titel Mesopotamia115 herausgibt, an der u.a. Goetz beteiligt ist. In seinem Bericht loslabern führt Goetz die Idee des Sammelbands auf ein frühromantisches ›Sym‹-Gefühl zurück, weil »Christian Kracht alle damals relevanten jungen Schreiber aus der Popecke um sich versammelte«, und damit »im Schwung der aktuellen Stimmung die Romantikerbewegung des ausgehenden, fin-de-siècle-haft hysterisch aufgedrehten 20. Jahrhunderts aus dem Berliner Boden stampfte.«116 Ihre Treffen auf Geburtstagen und verschiedenen anderen Veranstaltungen sind laut Goetz, der die ›Qualen des Sozialen‹ sonst eher scheut, zu Beginn sehr vielversprechend, lösen sich dann allerdings in Probleme auf, wofür er erneut eine Analogie zur Frühromantik zieht: »Dann spannte Schlegel dem Eichendorff die vierte Frau oder den ersten Heine aus, Wackenroder hatte mit Novalis eine Sonderstellung ausprobiert, Hoffmann Lottmann eingespannt, Nietzsche Thomas Mann zerstört etc, und es wurde schwierig«117 . Der Suhrkamp Verlag wirbt auch in seiner eigenen Vorschau mit der von Goetz vorgeschlagenen Pop-Anzeige, allerdings unter ein wenig veränderten Vorzeichen. Im Suhrkamp Taschenbuch-Journal des Frühjahrs 1999 sind nicht nur auch die Fotos der Schriftsteller Goetz, Meinecke und Neumeister abgedruckt; anstelle eines schlichten ›POP‹ steht dort ein ganzer Satz, den man ebenso in Abfall für alle findet: »Pop ist eine Praxis.« (Afa, 534) Geworben wird erneut für Meineckes Tomboy und Neumeisters Gut laut, für Goetz allerdings steht dieses Mal die Text- und Bildzusammenstellung Celebration – wie Rave Teil der HEUTE MORGEN-Reihe – ein. Außerdem sind die ebenfalls in Schwarz-Weiß gehaltenen Buchumschläge durch Texte, nämlich: Zitate aus den jeweiligen Büchern, ergänzt (Abb. 2). Was die ›Praxis Pop‹ für die einzelnen Autoren bedeutet, wird hier zusätzlich in kursiv gesetzten Statements angegeben und der gemeinsame Nenner so noch einmal aufgefächert: Meinecke verweist auf einen bestimmten Groove des Textes, den es zu erreichen gilt, und vergleicht das Schreiben mit dem Plattenauflegen, bei Neumeister geben die Bezüge zur Zeit den Ausschlag in Richtung Pop. Für Goetz’ Verständnis der Praxis hält aufs Neue ein Ausschnitt aus einem seiner Werke her, dieses Mal ist es eine Stelle aus seinem im Oktober 1985 ebenfalls in der Spex veröffentlichten Text Und Blut, der ein Jahr später im Sammelband Hirn wiederabgedruckt wird. Die Goetz’sche Rede von ›Pops Glück‹, die in der Werbung für die Bücher angerissen wird, lautet im Gesamten:
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Vgl. Kap. 3.4 dieser Arbeit. Rainald Goetz: loslabern. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 44. Ebd.
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Pops Glück ist, daß Pop kein Problem hat. Deshalb kann man Pop nicht denken, nicht kritisieren, nicht analytisch schreiben, sondern Pop ist Pop leben, fasziniert betrachten, besessen studieren, maximal materialreich erzählen, feiern. Es gibt keine andere vernünftige Weise über Pop zu reden, als hingerissen auf das Hinreißende zu zeigen, hey, super. Deshalb wirft Pop Probleme auf, für den denkenden Menschen, die aber Probleme des Denkens sind, nicht des Pop. So simpel diese Unterscheidung ist, so schwierig ist sie zu realisieren, im Schreiben über Pop.118 Wieder also ist es die Oberfläche, die unmittelbare Attraktivität verströmt, und nicht die tiefere Dimension des Denkens, die das Konzept ›Pop‹ für Goetz kennzeichnet. Ein eingehenderer Blick auf die Schreibweise, die sich aus dieser Sicht auf Pop ergibt, wird sich im Laufe dieser Arbeit entwickeln. Abgesehen von der Selbstzuschreibung ›Pop‹ qua Textauszügen, ist die Oberfläche in Goetz’ Fall, besonders mit Blick auf den im Fokus der Werbung und dieser Analyse stehenden Werkkomplex HEUTE MORGEN, wahrlich nicht anders als mit ›Pop‹ zu bezeichnen – es sind die Titel der Veröffentlichungen selbst, insbesondere: Rave, Jeff Koons und Celebration, die diese Verbindung evozieren, sowie die Motti aus Pop-Art, -Musik und -Kultur (von Andy Warhol über Harald Schmidt bis Westbam), die in den Bänden den eigentlichen Texten vorangestellt sind. Und ohne die Bücher aufschlagen zu müssen: Die knallig roten Cover sind Pop.119
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Von der edition suhrkamp zur »Edition Goetz«
Die Einbände und Umschläge fallen bei allen Publikationen von Goetz in besonderer Weise auf. Das mag zunächst daran liegen, dass die Buchcover des Suhrkamp Verlags generell auffällig sind – ihre Gestaltung ist das, was für die ›SuhrkampKultur‹ ausschlaggebend und was untrennbar mit dem Namen Willy Fleckhaus verbunden ist.120 Fleckhaus war für das Design mehrerer Reihen des Verlags sowie individueller Erstausgaben verantwortlich; am einprägsamsten und für das Interesse dieser Arbeit bedeutsamsten ist jedoch seine Gestaltung der edition suhrkamp.121 Der 118 119
Goetz, Hirn, S. 188. Brigitte Weingart legt für das Format und die simple Gestaltung von Abfall für alle einen Vergleich zum literarischen Werk Warhols nahe, vgl. Brigitte Weingart: Global Village Berlin: Rainald Goetz’s Internet Journal Abfall für alle. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 4/2005 (Schwerpunkt: Berlin-Literatur), S. 48-70, hier S. 50. 120 Vgl. Carsten Wolff: Mit Intellekt und Emotion. Willy Fleckhaus als Buchgestalter und Lehrer. In: Michael Buhrs/Petra Hesse (Hg.): Fleckhaus. Design, Revolte, Regenbogen. Köln: Museum für angewandte Kunst 2 2017, S. 142-231, hier S. 142. 121 Vgl. für die Fleckhaus’sche Prägung der Bibliothek Suhrkamp und des suhrkamp taschenbuch die Dissertationsschrift von Catherine Marten: Bernhards Baukasten. Schrift und sequenzielle Poetik in Thomas Bernhards Prosa. Berlin/Boston: De Gruyter 2015, bes. Kap. 3: »Typo-
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Verlagsleiter Siegfried Unseld schloss sich mit der Reihe, deren erste 20 Bände im Mai 1963 erschienen, dem Siegeszug des Taschenbuchs in diesen Jahren an, vermied die Bezeichnung ›Taschenbuch‹ aber tunlichst, um Vorurteilen von billiger Massenware zu entkommen. Die von Raimund Fellinger zusammengestellte Kleine Geschichte der edition suhrkamp gibt den Ankündigungsprospekt der Reihe wieder, der den Begriff des Taschenbuchs elegant umgeht: Die ›edition suhrkamp‹ versucht einer neuen Entwicklung gerecht zu werden: der deutlichen Umschichtung des Lesepublikums wie auch dem auffallend gewachsenen Interesse der Leser an zeitgenössischer Literatur. Eine neue Generation orientiert sich in einem bisher noch nie dagewesenen Maß an Gegenwartsliteratur, insbesondere an der deutschen. Diejenigen, die mit dieser Literatur aufwachsen, wollen nicht mehr warten, bis auch ihnen der Erwerb teurer Bücher möglich ist.122 Zu den programmatischen Vorgaben der Reihe gehörte die Aufhebung der Trennung zwischen Literatur und Theorie – beide Genres erscheinen zwar nicht in gleicher Gewichtung, aber der ursprünglich geringe Anteil an nicht-literarischen Veröffentlichungen wächst mit den Jahren (von knapp 20 Prozent im ersten Jahr auf etwas mehr als 40 Prozent drei Jahre später), außerdem liegt ein Fokus auf deutschsprachigen und übersetzten Erstausgaben.123 Für die angemessene Widerspiegelung dieser Inhalte im Äußeren der Bücher verpflichtete Unseld zum wiederholten Male Fleckhaus. Dieser entwarf für die Reihe seine berühmten RegenbogenUmschläge. Unseld erinnert sich folgendermaßen an den Entwurf: Fleckhaus mischte die Farben, und in seinem Spiel entstand leicht, organisch, heiter die Idee, die Bände der jährlich auf 48 Titel geplanten Reihe in 48 Farben des Sonnenspektrums zu drucken. Ein Lichtband sollte entstehen, dessen Farbvaleurs bei Blauviolett beginnen, übergehen in Violett, Rot, Orange, Gelblichrot, Gelb, Grüngelb, Grün, Blau, um wieder im Blauviolett zu enden.124 Eingangs bestand die Idee, jeder Textgattung jeweils eine Farbe zuzuweisen,125 Fleckhaus’ finaler Zuschnitt aber baute darauf auf, dass der Zeitpunkt des Erscheinens eines Buchs diesem schlicht die nächste Farbe des Spektrums zuwies, um so
graphie«. In der Forschung sind zudem häufig Parallelen von Goetz zu Bernhard gezogen worden, vgl. beispielsweise die Arbeit von Johannes Windrich: Technotheater. Dramaturgie und Philosophie bei Rainald Goetz und Thomas Bernhard. München: Fink 2007. 122 Raimund Fellinger: Kleine Geschichte der edition suhrkamp. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 28. 123 Vgl. ebd., S. 41. 124 Siegfried Unseld: Der Marienbader Korb. Über die Buchgestaltung im Suhrkamp Verlag. Willy Fleckhaus zu Ehren. Hamburg: Maximilian-Gesellschaft 1976, S. 42. 125 Die Zuweisung von bestimmten Farben oder geometrischen Formen zu einer Gattung entspricht bei Taschenbüchern einer Tradition, vgl. Genette, Paratexte, S. 28.
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den Farbverlauf des Regenbogens fortlaufend zu ergänzen. Zusätzlich war die Gestaltung durch acht horizontale Linien in der unteren Hälfte des Einbands geprägt. In die oberen Zwischenräume der Linien wurden der Name des Autors sowie Titel und Untertitel der Publikation gesetzt, die unteren beiden Zwischenräume waren für die Reihenbezeichnung und die Initialen des Verlags vorbehalten.126 Der anfänglichen Kritik von seinen Verlagsvertrauten an dieser Gestaltung begegnete Unseld mit einem Kompromiss: Weil u.a. der Cheflektor Walter Boehlich der Meinung war, dass Grau dem intellektuellen Anspruch der Reihe besser zu Gesicht stünde, erhielten die Bände zunächst einen vorher nicht geplanten Umschlag in den Fleckhaus-Farben, der Einband darunter aber war grau. Erst ab Band 355 wurden die Farben direkt auf den Karton-Einband gedruckt, der Umschlag entfiel.127 Da die Bücher im Taschenbuchformat erschwinglich blieben, strebte dem Verlag ein jüngeres sowie studentisch geprägtes Publikum zu, dem das »Regenbogenspektrum zum Emblem einer geistigen Ära werden sollte.«128 Die von Faulstich beschriebene ›Ent-kult-ivierung‹, die das Medium Buch im Zeitalter des Taschenbuchs im Vergleich zur Kultur des Codex erfährt, wird hier geradezu in die gegenläufige Tendenz verkehrt: In Form der Regenbodenbände wird die Massenware wieder zum Kult. Nicht unbedingt einzelne Autoren oder Werke galt es, zu erwerben und zu lesen, sondern Bände der edition. Unseld hatte so einen, wie Rainer Gerlach es nennt, Imageträger geschaffen: die ›Marke Suhrkamp‹, die über die Jahre »zu einem festen Begriff ausgebaut [wurde], sodass ihr Klang und ihr optisches Erscheinungsbild bei Lesern und Buchinteressierten einen hohen Grad an Identifikation oder Ablehnung, aber auf jeden Fall eine klare, berechenbare Botschaft auslöste«129 . War der Suhrkamp Verlag in Unselds Augen längst der »Verlag zeitgenössischer Literatur«130 schlechthin, ist spätestens die edition suhrkamp als Konsumartikel mit auffälliger Oberfläche Pop.131 Rainald Goetz wird von seinem Erstlingswerk Irre an im Suhrkamp Verlag veröffentlicht – einige wenige Ausreißer in andere Verlage unterbrechen die Zusammenarbeit mit Suhrkamp nicht. Goetz selbst hat von Beginn an eine klare Vorstellung, wie er sich im Verlag repräsentiert wissen möchte. Obwohl die edition suhr126
Vgl. Unseld, Marienbader Korb, S. 41f. In einer späteren Bearbeitung des Designs nach dem Tode Fleckhaus’ werden diese Linien grundsätzlich beibehalten, ändern jedoch ihre Position und Anzahl. 127 Vgl. ebd., S. 43. 128 Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990. München: C.H. Beck 2015, S. 56. 129 Rainer Gerlach: Die Bedeutung des Suhrkamp Verlags für das Werk von Peter Weiss. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2005, S. 310. 130 Unseld, Marienbader Korb, S. 47. Vgl. auch Marten, Bernhards Baukasten, S. 224f. 131 Carsten Wolff nennt die Regenbogenreihe eine »Design-Ikone der Pop-Ära, die sogar Andy Warhol bei seinem Besuch in Frankfurt verzückt haben soll.« (Wolff, Intellekt und Emotion, S. 142)
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kamp geradezu prädestiniert für den Jungautor gewesen wäre, weil die ansprechende Gestaltung und die ›Ahnenreihe‹ der bereits publizierten Titel auch zum Kauf von Bänden unbekannter Autoren einluden,132 will Goetz ins Hauptprogramm, wie die Aufzeichnungen Unselds verraten: »Edition Suhrkamp: ihre Situation, wie ist sie zu bessern? Nicht mit Rainald Götz, der will nur im Hauptprogramm erscheinen.« Auch einem Fleckhaus-Umschlag versagt sich der Autor: »Ein sympathischer Punk […]. Weiß alles, was er will bis ins Detail. Hauptprogramm, Buch für sich, kein Fleckhaus/Suhrkamp-Umschlag, sondern ein Umschlag, der die Szene erreicht«133 , was schließlich dazu führt, dass Goetz sein Buchcover selbst gestaltet: »Wie schon in Zürich bei Franz Böni beschweren sich die Autoren Rainald Goetz und Einar Schleef über die Umschläge. Dabei hat Rainald Goetz seinen Umschlag selbst entworfen.«134 Der Umschlag enthält im Falle der Erstausgabe von Irre (1983) ein Bild des Autors selbst. Allerdings handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Autorenporträt, sondern um ein bearbeitetes Foto, das im Cut-up-Stil den nach hinten gerissenen Kopf von Goetz zeigt (Abb. 3). Das schwarz-weiße Bild im Zusammenklang mit dem hervorstechenden Titel ist das, was abseits der dem Image der Verlagsmarke zugeschriebenen Eigenschaften »elitär, intellektuell, exklusiv, gebildet, gediegen, teuer, echt«135 , die Punk-Szene erreichen soll. Innokentij Kreknin bemerkt, dass damit »das Konterfei des Autors sehr viel prominenter« als etwa auf der Rückseite des Schutzumschlags abgebildet wird, und »dass die Gestaltung der Front nicht nur illustrativ, sondern auch als auf den Autor referierend fungiert und so Textinhalt und Autorfigur in starkem Maße aneinander bindet.«136 Die Rückseite ziert, so
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Vgl. Marten, Bernhards Baukasten, S. 238. Wolff führt aus: »Das Erscheinungsbild der edition und die herausragende Qualität vieler Texte hatte um die Reihe eine Aura geschaffen. Die Prominenz einzelner Bände strahlte auf die übrigen Titel der Reihe ab.« (Wolff, Intellekt und Emotion, S. 157) Im Übrigen wird dadurch eine These Hans Magnus Enzensbergers bestätigt, der wie Boehlich zu den Vertrauten Siegfried Unselds gehörte und ebenfalls Kritik am Taschenbuch übte. Er schreibt es dem Phänomen der Serie zu, dass die Taschenbuchkäufer letztlich entmündigt werden, indem sie bedenkenlos alle Bücher einer Serie kaufen, ohne eine eigene Entscheidung zu treffen, vgl. Hans Magnus Enzensberger: Bildung als Konsumgut. Analyse der Taschenbuch-Produktion. In: ders.: Einzelheiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962, S. 110-136, hier S. 110-112. Dises wie das vorhergehende Zitat: Siegfried Unseld: Reisebericht 25.-27.02.1983, München. In: DLA Marbach, SUA: Suhrkamp/01 Verlagsleitung°Unseld, Siegfried (Chronik 1983). Siegfried Unseld: Notiz vom 03.06.1983. In: DLA Marbach, SUA: Suhrkamp/01 Verlagsleitung°Unseld, Siegfried (Chronik 1983). Gerlach, Bedeutung des Suhrkamp Verlags, S. 310. Innokentij Kreknin: Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 137.
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wird es bei den nachfolgenden Veröffentlichungen beibehalten werden, ein nicht weiter nachgewiesenes Zitat. Bei Irre geht es, um es nur kurz vorwegzunehmen, um den Alltag in einer psychiatrischen Klinik, in dem sich der Arzt Raspe bewegt, der allenthalben mit dem im Bereich der Kinderpsychiatrie promovierten Mediziner Goetz identifiziert wurde. Das schräg gesetzte Cover-Bild illustriert so nur zu gut den Wahnsinn, den der Titel birgt,137 und zugleich den Wahnsinn, mit dem auch Goetz verschränkt ist – als potenzielle Hauptfigur des Romans wie als dessen Autor. Der Veranschaulichung des Wahnsinns dient Goetz’ berüchtigter Auftritt beim Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt, der der Publikation von Irre unmittelbar vorausgeht. Der von Goetz dort vorgetragene Text Subito, der zunächst 1983 in der Anthologie Klagenfurter Texte zum Ingeborg-Bachmann-Preis sowie ein Jahr später in Peter Glasers Sammelband Rawums. Texte zum Thema erscheint, bevor er später in der Textsammlung Hirn wieder abgedruckt wird, speist sich auch inhaltlich aus Irre. Was heute im Rückblick vor allem als »[g]estischer Ausdruck des Aufbruchs seiner Generation«138 gepriesen wird, hat in zeitgenössischen Reaktionen Ekel und Schock hervorgerufen: »Dichter verstümmelt sich! Blutlachen im ORF-Theater Klagenfurt. Entsetzte Jurorengesichter. Ein Zuhörer fiel in Ohnmacht«139 ; die Kärntner Tageszeitung nannte den Rasierklingenschnitt von Goetz eine »Horror-Aktion«140 . Schenkt man einem Bericht Maxim Billers Glauben, wollten die Verantwortlichen des Wettbewerbs Goetz damals sogar in die Psychiatrie bringen lassen, er entkam diesem Vorhaben angeblich nur, weil er mithilfe seines Lektors durch das Hotelzimmerfenster floh.141 Bei der Einzelveröffentlichung Kontrolliert, die fünf Jahre nach Irre ebenfalls im Suhrkamp-Hauptprogramm erscheint, verweist entsprechend eine weitere BildReferenz auf dem Cover auf den Autor und den Romaninhalt.142 Der Kopf von Goetz ist dort vor dem Logo der RAF zu sehen (Abb. 4),143 was in der Gesamtdar-
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Vgl. ebd. Christopher Schmidt: Spät und doch sensationell. In: Süddeutsche Zeitung vom 08.07.2015, www.sueddeutsche.de/kultur/rainald-goetz-erhaelt-georg-buechner-preis-spaet-unddoch-sensationell-1.2556444 (01.12.2019). 139 [KHR]: Skandal bei Bachmann-Preis in Klagenfurt. In: Kronenzeitung vom 26.06.1983 [ohne Seitenangabe]. 140 Karl-Heinz Fessl: Bachmann-Bewerb. Autor setzte blutigen Eklat. In: Kärntner Tageszeitung vom 26.06.1983 [ohne Seitenangabe]. 141 Vgl. Maxim Biller: Meine Tage mit Rainald. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 21 vom 23.05.2004, S. 28. 142 Vgl. ausführlicher Kreknin, Poetiken des Selbst, S. 142-146. 143 Das Logo – allerdings ohne sein eigenes Gesicht und ohne den Schriftzug ›RAF‹ – nutzte er bereits 1985 als Illustration für die Erstveröffentlichung seines Textes Der Attentäter in der Münchener Zeitschrift Grüße & Anzeigen. Etwa zur gleichen Zeit wurde der Text auch in der Zeitschrift Merkur publiziert, dort fehlen allerdings alle Bildzugaben. Beim späteren Wieder-
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stellung an die medial präsenten Bilder des 1977 entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer angelehnt ist. Der Roman kreist analog um die Geschehnisse des Deutschen Herbst und schließt diese Betrachtungen mit einem Aufenthalt von Goetz in Paris kurz, wo er seine zweite, althistorische Dissertation verfasst. Die Bildnisse auf den Frontseiten der beiden Romane aus den 1980er Jahren wirken als Schwelle – so, wie Genette den Paratext als Schwelle verstanden wissen möchte –, die man nehmen muss, um die jeweilige Publikation aufschlagen und lesen zu können, und evozieren eben jene von Jan-Dirk Müller beobachteten Anzeichen für die Verkörperung des Autors im Buch, welche typisch für die Manuskriptkultur war: Die Bücher sind die Lehrmeister, nicht ihre Autoren; mit ihnen findet das Gespräch statt, nicht mit jenen. In ihnen ist der Autor präsent. Diese sinnfällige Präsenz kommt in Autorenbildern zum Ausdruck, wie sie mittelalterlichen Handschriften häufig vorausgehen. Auch die Metapher accessus ad auctorem (eig.: Zutritt), mit der eine typisch mittelalterliche Form der Einführung bezeichnet wird, gehört diesem Vorstellungsbereich an.144 Etwas Vergleichbares ist schließlich auch bei Goetz zu lesen: »Der Schriftsteller ist das Werk, in der fertigen Gestalt des Buches. […] Der Weg ins Werk führt übers Werk, durchs Werk, der Weg zum Autor in die Bücher.« (Afa, 838f.) Dass Goetz in beiden Romanen und den anderen Veröffentlichungen auch noch selbst auftritt – es wird darauf zurückzukommen sein –, steigert nur die Annahme, ihn in den Büchern als anwesend zu denken, und rettet die sinnliche Präsenz des Autors, das Auratische, auch in eine technisch hergestellte Kopie hinüber.145 Selbst auf seinen zuerst als Weblog veröffentlichten Text Abfall für alle trifft diese Beobachtung zu: Die URL, über die das Blog zu erreichen war, trug nicht etwa den Titel der Aufzeichnungen, sondern den Namen des Autors: www.rainaldgoetz.de.146 Als eine abdruck des Textes, der auch doppelt erfolgt, nämlich sowohl 1986 im Band Hirn als auch 1993 im Band Kronos, entfällt genau dieses dem Text vorangestellte Bild, während alle weiteren Illustrationen des Textes übernommen werden. 144 Müller, Körper des Buchs, S. 210. 145 Vgl. mit Bezügen zu Roland Barthes’ Essays zur Fotografie und dem Kunstwerk-Aufsatz Walter Benjamins auch das Kapitel »Die Fotografie des Autors als Bestätigung seiner Präsenz« in Sandra Osters Dissertationsschrift: Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung. Autorinszenierung und Kanonisierung mit Bildern. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 35-38. Oster arbeitet auch die Popularität der Abbildung von Autorenköpfen auf Buchcovern auf, vgl. S. 192-199. 146 Vgl. auch Kreknin, Poetiken des Selbst, S. 195. Zeuge der URL ist noch die Erstausgabe des Romans Abfall für alle, sie verzeichnet www.rainaldgoetz.de auf ihrem Buchrücken. Schumacher zufolge nutzte Goetz die Website nach Abfall für alle zwischenzeitlich weiter für die Veröffentlichung von kurzen Texten, die allerdings nur so lange auf der Seite waren, bis sie durch einen neuen Beitrag ersetzt wurden, vgl. Eckhard Schumacher: Schreibweisen des Alltags. Rainald Goetz’ Zeitmitschriften. In: Patrick Primavesi/Simone Mahrenholz (Hg.): Geteilte Zeit. Zur
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weitere Schwelle, die die Leser passieren müssen, um an den Text heranzukommen, fungiert die Innenseite des Umschlags des Romans Kontrolliert. Diese ist mit dem Text Kadaver bedruckt, der im Oktober 1987 in der Spex erscheint und später in der Sammlung Kronos wiederabgedruckt wird. Obwohl Kontrolliert eine Einzelveröffentlichung bleibt, wird der Roman so doch von Goetz in den größeren Werkkontext eingebettet, ähnlich wie es schon bei der Verbindung von Irre und Subito der Fall war. Bei all seinen weiteren Publikationen ist Goetz – mit der Ausnahme des Schutzumschlags von Celebration (siehe Abb. 7) – zwar nicht mehr so eindrücklich auf den Covern präsent, doch fällt die Gestaltung der Bücher durch andere Merkmale auf: Sie liefert einen entscheidenden Hinweis für die Zusammengehörigkeit bestimmter Bände zu einem Werkkomplex: Wann immer ein solcher vorliegt, sind die Buchcover der betreffenden Publikationen in einem mehr oder weniger einheitlichen, vielmehr: auf Einheit zielenden, Design gefertigt, auch wenn die Bände nicht zusammenhängend, sondern nacheinander publiziert werden. Das betrifft nach Goetz’ Debüt auch Publikationen in der edition suhrkamp. Obschon deren Äußeres nach dem Tod von Fleckhaus 1983 mit leichten Änderungen weiterhin von dessen Ausgestaltung lebt, haftet den Goetz’schen Bänden in der Reihe etwas Eigenes an. Die Einbände der zusammengehörigen Publikationen Krieg und Hirn, die 1986 unter ein- und derselben Nummer in der edition suhrkamp erscheinen, entsprechen der Fleckhaus-Handschrift: Sie erhalten aus dem Regenbogenspektrum ein sattes Grün (Abb. 5). Ergänzend aber sind sie mit einem weißen Schutzumschlag mit schwarzer Schrift (Krieg) sowie einem schwarzen Schutzumschlag mit weißer Schrift (Hirn) ausgestattet (Abb. 8 und 9), was die beiden Veröffentlichungen geradezu aus der Regenbogen-Reihe fallen lässt, da Schwarz und Weiß in den Spektralfarben keinen Platz haben. Die Einheit, die die beiden Teilpublikation bilden, und die an den Einbänden offensichtlich ist, scheint in den Schutzumschlägen also in einem Gegensatz auf: Sie ist in der Zweiheit zu suchen. Die Bände des nächstfolgenden Werkkomplexes FESTUNG werden 1993 ebenfalls in der edition suhrkamp publiziert. Die Einbände erhalten, ein weiteres Mal der Reihengestaltung gemäß, alle die Farbe Gelb (Abb. 6), und das obwohl die Veröffentlichungen fortlaufende, also eigenständige Nummerierungen in der edition besetzen, und deshalb eigentlich unterschiedliche Farben bekommen müssten; einzig die drei Teilbände des ›Materials‹ 1989 werden zu einer Nummer zusammengefasst. Zusätzlich stecken auch diese Titel in Schutzumschlägen, die in einem schreienden Hellblau mit hellgelber Aufschrift gehalten sind (Abb. 8 und 9). Als Ganzes erscheinen die fünf Einzeltitel in einem diametral gestalteten hellgelben Pappschuber mit Kritik des Rhythmus in den Künsten. Schliengen: Edition Argus 2005, S. 137-151, hier S. 138. Heute leitet die Internetadresse auf den Eintrag des Autors beim Suhrkamp Verlag weiter.
1. Paratext und Pop
hellblauem Aufdruck. Auch diese Neon-Farbkombination bildet etwas Eigenständiges in der Fleckhaus’schen Regenbogen-Wiederkehr ab. Der Werkkomplex HEUTE MORGEN (1998-2000) ist in einem leuchtenden Rot gehalten, jeweils mit weißen Angaben zu Autor, Titel, Textsorte und Verlag (Abb. 8 und 9). Die Erzählungen Rave und Dekonspiratione sind in der Erstausgabe als Hardcover veröffentlicht, ihr Leineneinband unter dem roten Schutzumschlag ist komplett weiß, nur auf dem Buchrücken gibt es ein kleines rotes Feld für Autor und Titel.147 Das Theaterstück Jeff Koons und der Roman Abfall für alle erscheinen direkt in roter Broschur. Der Teilband Celebration ist der einzige Band des Buchkomplexes, der in der edition suhrkamp publiziert wird. In der Reihe wird dem Band ebenfalls ein roter Einband zugewiesen, erneut erhält der Reihen-Einband aber einen schützenden Umschlag, der den Autor abbildet. Dieses Mal ist nicht nur sein Kopf, sondern seine fast komplette Statur vor einer Wand zu sehen, auf die Papierschnipsel geheftet sind (Abb. 7). Wie bei den Covern der Romane Irre und Kontrolliert (Abb. 3 und 4) kann die Inszenierung des Autors hier mit der Jugend- bzw. Subkultur identifiziert werden, der er sich während des Arbeitens an den jeweiligen Veröffentlichungen zuwendet. In den 1980er Jahren ist dies die Punk- und New Wave-Szene, zehn Jahre später dann die Techno- und Rave-Kultur.148 Als dieser nahe zeigt sich Goetz auf dem Cover von Celebration komplett schwarz gekleidet, mit Mütze und Sonnenbrille. Die Wand im Hintergrund ist mit Zeitungsausschnitten, Quittungen, Kalendern und Bildern gespickt, die im Wesentlichen verschiedene Thematiken des Buchkomplexes HEUTE MORGEN abdecken. Die Texte des Sammelbandes Celebration sind fast ausnahmslos eine Beschäftigung mit elektronischer Tanzmusik, verschiedenen prominenten DJs und ausgewählten Rave-Veranstaltungen. In einer späteren Ausgabe wird auch der Buchkomplex HEUTE MORGEN im Ganzen in einer separat gestalteten Kassette vertrieben, wobei alle Titel in der Reihe suhrkamp taschenbuch wiederveröffentlicht werden und dann auch Celebration ohne Schutzumschlag auskommt. Der jüngste Werkkomplex SCHLUCHT (2007-2012?)149 weist ebenfalls eine einheitliche Gestaltung auf, die sich auf den Einbänden und Umschlägen der Teilbände in einem dunklen Blau mit weißer Schrift niederschlägt (Abb. 8 und 9). Einzig der Fotoband elfter september 2010 erhält einen andersfarbigen Schutzumschlag, der formatfüllend mit einem Foto bedeckt ist. Dieser vermag – auch ohne, dass er den Autor abbildet – in ähnlicher Weise auf den Inhalt der Publikation zu verweisen, wie zuvor die Umschläge von Irre, Kontrolliert und Celebration. Denn der 147
Da die Einbände der Hardcover-Ausgaben nur flächig einfarbig gestaltet sind, finden sie in den Abb. 8 und 9 keine Berücksichtigung. Abgebildet sind in den entsprechenden Fällen nur die Schutzumschläge. 148 Vgl. hierzu ausführlicher Kap. 5.1 dieser Arbeit. 149 Der Werkkomplex ist wahrscheinlich noch nicht abgeschlossen, seit 2012 ist allerdings kein weiterer Band von Goetz veröffentlicht worden, vgl. Kap. 3.2 dieser Arbeit.
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Fotoband enthält, abgesehen von Titelei, Kapitelüberschriften und einigen Bildunterschriften keinen Text, sondern ausschließlich Schwarz-Weiß-Fotografien. Für die Rückseite und die Innenflächen des Umschlags ist jedoch ebenfalls Dunkelblau bestimmt. In den allermeisten Fällen also ist das Äußere von Goetz’ Büchern unifarben, ohne Muster oder sonstige Verzierungen, gehalten, von der sich nur der Name des Autors, der Titel, ggf. die Angabe der Textsorte und des Verlags in einer weiteren Farbe abheben. Auch die gängigen werbewirksamen Blurbs oder üblichen Inhaltskurztexte auf der Umschlagseite 4 fehlen bei Goetz völlig, selbst bei den Bänden, die eine spätere Wiederveröffentlichung in einer anderen Reihe des Verlags finden. Nachdem im Sommer 2015 bekannt gegeben wurde, dass Goetz den Georg-Büchner-Preis erhalten wird, wurden lediglich die Neudrucke mit einem Aufkleber versehen, mit dem der Verlag die Freude über den Preis ausdrückte: ›Georg-Büchner-Preis 2015 yeah!‹ Die Rückseiten die Veröffentlichungen weisen zum größten Teil nur ein kurzes Zitat aus dem jeweiligen Band oder ein sonstiges, Motto-ähnliches Statement ohne Quellenangabe auf. Deshalb erkennt Ulf Poschardt Goetz den Stempel einer ganz eigenen und durchgängigen Handschrift in Bezug auf die äußerliche Gestaltung seiner Publikationen zu: Im Umfeld der anderen Suhrkamp-Werke fallen Goetzens Bücher heraus. […] Eigentlich sind die Bände Teile der Edition Suhrkamp, die seinerzeit klassisch-modern von Willy Fleckhaus entworfen sind. Rainald Goetz nun verhüllt – im Stile Christos – die Fleckhaus-Grafik mit einem glänzenden Papierschutzumschlag […]. Aus der Edition Suhrkamp wird die Edition Goetz.150 Der Ausdruck ›Edition Goetz‹ ist nicht nur für jene seiner Veröffentlichungen angemessen, die Teil der edition suhrkamp sind. Vielmehr kann die Gestaltung seiner Bücher im Suhrkamp Verlag im Gesamten mit dieser Wortschöpfung beschrieben werden, womit ein weiteres Marken-Image etabliert ist, das sich in der Verschränkung von einer Verlags- mit einer Autorenmarke zeigt, und die Wahrnehmung des Autors sowie die Rezeption seiner Texte mitsteuert.151 Stanitzek hat den Einfluss eines Autors auf den Paratext einer Veröffentlichung anhand der Umschlaggestaltung von Brinkmanns Gedichtband Die Piloten (1968) nachgezeichnet. Üblicherweise sind die peritextuellen Paratexte wie z.B. Umschläge und Einbände, ein »Gegenstand geteilter Autorschaft(en)«152 , also in der Hand 150 Ulf Poschardt: Der Filmemacher, der Künstler und der Schriftsteller. Abseits der Identitätsfalle: Godard, Warhol und Goetz. In: Kunstforum 139 (Dezember/März 1997/1998), S. 146-161, hier S. 160. 151 Marten beschreibt diese Idee der wechselseitigen Beeinflussung von Verlags- und Autorenmarke weiträumig anhand von Thomas Bernhard, vgl. Marten, Bernhards Baukasten, S. 233271. 152 Stanitzek, Buch, S. 180.
1. Paratext und Pop
von Verlegern, Setzern, Werbespezialisten usf. Der aufwendig gestaltete Buchumschlag von Die Piloten – der ganz gegensätzlich zu Goetz’ flächigen Covern aus einer Collage mit zahlreichen Bildzitaten aus der Pop-Kultur besteht – ist laut Herstellungsangaben aber vom Autor selbst angefertigt worden, womit dieser »das Medium Buch als komplett seiner eigenen Stimme ›verhaftet‹ [demonstriert].«153 Zwar ermöglicht der Paratext erst den Bezug auf den Autor, doch wird dieser Rückverweis sogleich gespiegelt, wenn der Autor – Brinkmann wie auch Goetz – durch die mit Bedeutung aufgeladene Gestaltung der Bücher die »Körnigkeit, die Formund Verform- und Überformbarkeit, die Kombinierbarkeit«154 der peritextuellen Elemente auslotet und damit experimentiert. Entscheidend für die Gestaltung der Bücher von Goetz im Fortgang dieser Arbeit ist nicht unbedingt, ob der Autor deren Gestaltung gänzlich selbst zu verantworten hat. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass der Paratext, so wie er geartet ist, Einfluss auf den Text nimmt: In Form der Buchcover der Werkkomplexe gruppiert er zusammengehörige Bände zu einer Einheit und bildet die Möglichkeit, verschiedene Texte mit (mehr oder weniger) einem Paratext zu verbinden, und die betreffenden Texte untereinander immer wieder neu zusammenzusetzen. Der Paratext, der dann am besten funktioniert, wenn er überlesen wird, wenn er ganz als Oberfläche besteht, ist einerseits – Goetz’ Pop-Paradigma gemäß – allen zugänglich und bleibt doch – den Ausführungen von Genette und all deren Einschlüssen (Parergon, Ornament, Arabeske) entsprechend – nicht ohne Ausdehnungen in die hermeneutisch auszulotende Tiefe. Die Cover als primär materielle Qualität des Mediums Buch lassen in den Büchern ein ›inneres Ornament‹, eine ›Schönheitslinie‹ (Luhmann) bzw. ein ›internes strukturelles Band‹ (Derrida) entstehen, welche/s sich in den einzelnen Texten aufzuspüren lohnt. Dieses Vorgehen, das einen Faktor der Goetz’schen Pop-Praxis bildet, ist auch deshalb so ertragreich, weil es Bestand hat, und im Werk des Autors stetig wiederkehrt. HEUTE MORGEN an seiner Oberfläche als Werkkomplex zu erkennen, fällt leicht, weil Goetz schon zuvor Werkgruppen mit einheitlicher Gestaltung publiziert hat. Die Buchumschläge und -einbände sind aber nur ein Teil des Paratextes, der hier als erstes in den Text hereinbricht. Schlägt man die einzelnen Bände auf, fallen weitere Elemente des Paratextes ins Gewicht, die für die Zusammengehörigkeit der Veröffentlichungen ebenfalls eine maßgebliche Rolle spielen, mehr noch: Sie fügen die Teilpublikationen nicht nur zu einem Verbund zusammen, sondern installieren innerhalb dessen eine bestimmte Ordnung. Daran wird noch einmal deutlich, »daß Parerga und Paratexte als vollwertige, für die ästhetische Wirkung eines literarischen Textes konstitutive Elemente anerkannt werden können.«155
153 154 155
Ebd. Ebd., S. 190. Dugast, Parerga und und Paratexte, S. 110.
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Abbildung 1: Anzeige des Suhrkamp Verlags in der Spex, Januar 1999.
1. Paratext und Pop
Abbildung 2: Anzeige im Suhrkamp Taschenbuch-Journal, Frühjahr 1999.
Abbildung 3: Front- und Rückseite des Buchumschlags der Erstausgabe des Romans Irre (1983).
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Abbildung 4: Front- und Rückseite des Buchumschlags der Erstausgabe des Romans Kontrolliert (1988).
Abbildung 5: Front- und Rückseiten der Einbände von Krieg und Hirn (1986).
1. Paratext und Pop
Abbildung 6: Front- und Rückseiten der Einbände des Werkkomplexes FESTUNG (1993).
Abbildung 7: Schutzumschlag von Celebration (1999).
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Abbildung 8: Frontseiten der Schutzumschläge der Erstausgaben der Werkkomplexe 1986- 2012.
1. Paratext und Pop
Abbildung 9: Rückseiten der Schutzumschläge der Erstausgaben der Werkkomplexe 1986- 2012.
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2. Zahlen ich sehe/Zahlen/jede/ist/dramatische Gestalt, Vision, berechenbar/mein ideales Panorama, Zahlen, reine/Wissenschaft mein Malen absolut/Mathematik/Moral/Malen ist mathematisches also moralisches Handeln, alles (Krieg) Schönheit des in Zahl und Ziffer herrschenden Gesetzmaßes (Kronos) wie/Ordnung entsteht/mit der Zeit/hier: die Wochen also durchnumerieren, römisch – DANN DIE ÜBERSCHRIFT, auf Mitte alles natürlich – und darunter, die Tage der Woche: arabisch – römisch, arabisch: wie toll das klingt (Abfall für alle) An das Äußere der Bücher von Goetz lässt sich leicht anknüpfen, es liegt für die Leser beim ersten Anschauen oder Anblättern der Bände offen zutage. Das Innere der Bücher, die Texte selbst, werden hingegen nicht selten hermetisch genannt. Zu dicht sind die Bezüge zu Philosophie und Theorie, Geschichte und Gesellschaft, aber eben auch Pop-Kultur gesät; zu voraussetzungsreich, mehr noch: kaum aufschlussreich, scheint es, den vielen miteinander verwobenen oder gegenläufig gesetzten Hinweisen und Andeutungen jeweils einzeln nachzugehen.1 Goetz bediene, wie Schumacher aufarbeitet,2 mehrere Kreise von Wissenden, nicht aber eine geschlossene Adressatengruppe: Die verschiedenen, geheimsprachlich anmutenden Fachvokabulare – beispielsweise die der Systemtheorie und die der Pop-Kultur – stehen nebeneinander, werden jedoch nicht aufgelöst. Die an Pop Interessierten 1
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Vgl. Achim Stricker: Text-Raum. Strategien nicht-dramatischer Theatertexte. Gertrude Stein, Heiner Müller, Werner Schwab, Rainald Goetz. Heidelberg: Winter 2007, S. 274 sowie Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen: Max Niemeyer 1997, S. 214. Vgl. Eckhard Schumacher: Zeittotschläger. Rainald Goetz’ Festung. In: Jörg Drews (Hg.): Vergangene Gegenwart – Gegenwärtige Vergangenheit. Studien, Polemiken und Laudationes zur deutschsprachigen Literatur 1960-1994. Bielefeld: Aisthesis 1994, S. 277-308, hier S. 286.
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stolpern über das Wort ›doppelkontingent‹, die der Systemtheorie Nahestehenden sind von den Namen Westbam oder Sven Väth irritiert. Goetz’ Texte operieren auf diese Weise mit einem Verfahren, das Schumacher an die Kunstprogrammatik von Werner Büttner, Martin Kippenberger und Albert Oehlen erinnert, die wiederum Diederichsen konzise zusammenfasst: »voraussetzungslosen Zugang für jedermann und totale Hermetik zur gleichen Zeit.«3 Trotzdem lasse sich Goetz, so Schumacher, nicht in eine Ecke mit bestimmten ›Traditionalisten‹ stellen, die mit hermetischem Schreiben auf etwas unübersetzbar Literarisch-Poetisches abzielen, »[v]erstanden wird, auch bei Goetz, immer schon.«4 Und das, so die Annahme dieses Kapitels, indem er das viele Material, was sich ihm bietet, ordnet. Ordnung zeigt sich bei ihm konkret anhand von Zahlen. Diese richten eine Systematik innerhalb des gesamten Werks, einzelner Buchkomplexe sowie einzelner Texte ein. Die Zahlenverwendung nimmt bei Goetz folgende drei Dimensionen an: Er nutzt Zahlen in den Werkverzeichnissen, um seinen Veröffentlichungen Stellen im vorläufigen Gesamtwerk oder aber innerhalb eines Buchkomplexes zuzuweisen. Zahlen dienen ferner als Strukturierung der Texte anhand von Kapiteloder Akteinteilungen. Schließlich kommen Zahlen als Umschreibungen von Sachverhalten oder als Zeitnotate und Datumsangaben im Textinneren vor. Besonderes Gewicht erhalten die Zahlen 3, 5 und 7, die ausnehmend häufig bei Goetz in unterschiedlichen Verwendungen vorkommen. Sie lassen sich bereits in seinen ersten Publikationen nachweisen und ziehen sich wie eine Linie – eine Schönheitslinie, ein inneres Ornament – auch durch die nachfolgenden Veröffentlichungen. Um HEUTE MORGEN eingehender zu analysieren, bietet es sich deshalb an, auch alle dem Werkkomplex vorangegangen und nachfolgenden Publikationen hinsichtlich der Zahlenverwendung zu betrachten. Die so getroffenen Beobachtungen fördern strukturelle Parallelen zutage, die das Auftreten bestimmter Zahlen in HEUTE MORGEN nachvollziehbar machen und, in den Worten Stefan Krankenhagens, »ein mathematisch-konzeptuelles Sinnangebot jenseits der semantischen Überforderung«5 bieten. Wieder also setzen die Betrachtungen an der Oberfläche an und gehen von dort aus in die Tiefe. Wie bei einer Komplexitätsreduktion üblich, bedeutet die Reduktion auf die an der Oberfläche befindlichen Zahlen zugleich eine Erhöhung des Komplexitätsgrades der Texte. Die Zahlen richten, ganz ihrem Gebrauch in der Mathematik gemäß, Verhältnisse ein, die sich in Symmetrien oder Mittelpunkte auflösen, die in den Einzeltexten und auch dem Gesamtkonstrukt des 3
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Diedrich Diederichsen: Virtueller Maoismus. Das Wissen von 1984. In: Werner Büttner/Martin Kippenberger/Albert Oehlen: Malen ist Wahlen. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstverein München, 15. Juli-13. September 1992. München: Edition Cantz 1992, S. 31-38, hier S. 38. Schumacher, Zeittotschläger, S. 288. Stefan Krankenhagen: Laß mich rein, laß mich raus. »Jeff Koons« von Rainald Goetz. In: Weimarer Beiträge 1 (2008), S. 212-236, hier S. 226.
2. Zahlen
Werkkomplexes zu suchen sind. Zum Zentrum von HEUTE MORGEN wird dann das Theaterstück Jeff Koons, das sich auch selbst noch einer Zahlenanalyse öffnet. Dass der Theatertext der Dreh- und Angelpunkt des Buchkomplexes ist, bildet nicht zuletzt die Grundlage für das weitere Vorgehen dieser Arbeit.
2.1
Zahlen und Literatur: Symbolik und Komposition
Zahlen sind in literarischen Texten nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil: Ihre Verwendung hat, wie Manfred Hardt belegt, regelrecht Tradition.6 Gleichwohl haftet der Frage nach der Funktion von Zahlen in der Literatur, die durch entweder symbolische Bedeutung oder aber kompositorische Zwecke zu einem Großteil abgedeckt scheint, Misstrauen an. Hardt führt diese Bedenken auf den Nachhall einer Reihe von germanistischen Untersuchungen zurück, die zwar ideenreich, aber willkürlich Interpretationen mit Zahlen verbanden und letztlich kritische Gegendarstellungen herausforderten, die Zahlen in literarischen Texten generell eine Relevanz absprachen. Hardt hingegen will zeigen, dass die Behandlung von Zahlen bei vielen Autoren von »hoher hermeneutischer, d.h. werk- und sinnerschließender Bedeutung«7 ist. Die ›Zahlenpoetik‹ lasse sich, seinen Aussagen folgend, bei Vergil ebenso nachweisen wie bei John Milton, Charles Baudelaire und James Joyce, habe ihren Höhepunkt aber bei Dante. Nach dessen Vorbild zielt der Aufbau vieler zahlenpoetischer Texte auf einen Mittelpunkt bzw. einen Mittelteil, um den herum die übrigen Textteile mehr oder weniger regelmäßig, wenn nicht symmetrisch angeordnet sind. Verkürzt sei das hier an Dantes Commedia nachgezeichnet.8 Deren insgesamt 100 Gesänge sind auf die drei Jenseitsreiche Inferno, Purgatorio und Paradiso aufgeteilt, auf die jeweils 33 Gesänge entfallen, wenn man den allerersten Gesang des Inferno als eigenständigen Prolog liest. Der 17. Gesang des Purgatorio bildet in diesem Aufbau den Mittelpunkt. Die jeweils sechs Gesänge vor und nach dem zentralen 17. Gesang sind vom Versumfang her streng symmetrisch aufgebaut, Hardt zählt dafür die entsprechenden Verse und berechnet deren Quersummen. Die Quersumme der Versanzahl des 17. Gesangs beträgt 13, die der umliegenden Gesänge entweder sieben oder zehn.9 Mit diesen Zahlen haben schließlich die
6
7 8 9
Vgl. für die folgenden Ausführungen Manfred Hardt: Zahlen in literarischen Texten. In: Arcadia – Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft/International Journal for Literary Studies, Band 15 (1980), Heft 1-3, S. 225-241, vor allem S. 225-229. Ebd., S. 225. Vgl. für eine sehr ausführliche Analyse Hardts Habilitationsschrift: Manfred Hardt: Die Zahl in der Divina Commedia. Frankfurt a.M.: Athenäum 1973. Hardt verwendet für den Nachweis sehr anschauliche Schemata, vgl. Hardt, Zahlen in literarischen Texten, S. 238.
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meisten der für Dante gültigen Symbolzahlen ihren Einsatz in der Commedia gefunden, sie entsprechen bekannten Sinnbildern der mittelalterlichen christlichen Zahlenexegese: 3 steht für die Trinität, 7 für die Gaben des Heiligen Geistes, 10 für die zehn Gebote und somit für Vollkommenheit, 13 für Christus im Kreis seiner Jünger, 17 errechnet sich aus dem Heiligen Geist plus die zehn Gebote, 33 steht für das Lebensalter Jesu und 100 schließlich bildet ein Vielfaches von Zehn. Mit dieser Symbolik an sich ist es aber nicht getan, denn Dante nennt in den durch diese Zahlen als zentral ausgewiesensen Stellen, die es nicht nur im Purgatorio, sondern gleichfalls im Inferno wie im Paradiso gibt, auch zentrale Namen und Zusammenhänge. Hardt führt dazu u.a. die Beispiele ›Christo venturo‹, ›duca‹ und ›Cristo venuto‹ an. Letztlich zeige diese Verschränkung, »daß der in Zahlen ausdrückbare Ordo des Textes um die Mitte der mystischen Gesänge keineswegs funktionslose Spielerei ist, sondern daß die aequalitas der Zahlen wirkungsvoll die thematischen Bindungen aufgreift und unterstreicht.«10 Bei Dante fallen so die beiden semantisierenden Funktionen von Zahlen in Literatur zusammen: Während sie eine direkte symbolische Bedeutung in den Text einführen, dienen sie zu gleichen Teilen als Maßeinheiten, die Ordnung und Harmonie im Aufbau des Textes stiften. Symbolik und Komposition im Einklang verweisen dann auf wichtige Stellen und Zusammenhänge im Text.11 Bereits Ernst Robert Curtius hatte in seiner Abhandlung Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter in einem Exkurs zur ›Zahlenkomposition‹ aufgezeigt, dass die Symbolkraft der Zahlen das Wissenssystem des frühen Mittelalters spiegelt, in dem Schulwissen und Glaubenslehre nicht voneinander getrennt waren. Den Grundzahlen wurde deshalb eine Scheinordnung zugesprochen, die als heilig galt. Anhand eines anonymen Gedichtes aus der Karolingerzeit kann Curtius so auch den Zahlen 1 (= Gott), 2 (= Gegensatz von Gut und Böse), 4 (= vier Jahreszeiten, vier Evangelien, vier Cherubim, überdies ergibt die Addition aus 1+2+3+4 = 10 ), 5 (= Symbolzahl der Welt, fünf Weltzonen, fünf Sinne), 6 (= erste vollkommene Zahl im Sinne Augustinus, Erschaffung der Welt durch Gott in sechs Tagen), 8 (= perfekte Zahl durch ihre Gestalt) und 9 (= neun Musen, neun Sphären, neun Engelschöre) Sinngehalte zuordnen.12 Das Quadrivium der artes liberales – die Wissenschaftszweige der Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie – gründen allesamt auf Ziffern. Die Wissenschaft von der Zahl sei aber generell allen artes überlegen, wie Curtius ausführt, weil »das Schöpfungswerk, der Rhythmus der Zeit, der Kalender, die Gestirne […] in der Zahl begründet [sind].«13 Da, das belegt auch das viel zitierte Bibelwort Salomonis ›omnia in mensura et numero et pondere 10 11 12 13
Ebd., S. 228. Vgl. ebd., S. 237. Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern/München: Francke 3 1961, S. 493. Ebd.
2. Zahlen
disposuisti‹, die Zahl das Werk Gottes formte, resümiert Curtius schließlich: »Die Disposition Gottes war arithmetisch! Durfte der Schriftsteller bei seiner Disposition sich nicht auch von Zahlen leiten lassen?«14 Diese rhetorische Frage findet sich bei Goetz in einem nahezu gleichen Wortlaut als eine poetologische Aussage zur Werkreihe HEUTE MORGEN ausformuliert: Die Außenordnung gehört […] tief ins inhaltlich Innerste der formalen Vorphantasie vom Ganzen einer Sache: eine kleine Erzählung in fünf Teilen, fünf Tage, Dekonspiratione. Oder eben ein Stück, das sich an einem Wochenende, jedoch in sieben Akten abspielt, beispielsweise, wie Jeff Koons. Der liebe Gott hat sich bei Erschaffung der Welt auch von der Ordnung der Woche inspirieren lassen, völlig normal. (Afa, 732) Die Zahlen, die Anteil am Aufbau eines Goetz’schen Werks bzw. Buchkomplexes haben, sind Zahlen, wie sie den Rhythmus der Zeit – und damit gleichzeitig das Schöpfungswerk, hier: das Werk eines Künstlers – bestimmen. Sieben Tage hat die Woche insgesamt, davon entfallen fünf Tage auf die Arbeit und zwei bzw. drei Tage auf das Wochenende, da der Freitag sowohl an der Zurechnung der Arbeitswoche wie des Wochenendes teil hat. In diesen Zeitgefügen finden die jeweiligen Bände von HEUTE MORGEN ihren Platz: »Eine Woche, Tag für Tag, eine Arbeitswoche. Im Gegensatz zu den Wochenendbüchern Rave und Jeff Koons, aus Heute Morgen, Buch 5. Die Schicksalssymphonie, sagte jemand, jemand anderer: ist das nicht die Todessymphonie?/DEKONSPIRATIONE.« (Afa, 103) Die Erzählung Dekonspiratione spielt in der Arbeitswoche, das Theaterstück Jeff Koons an einem Wochenende und der Roman Abfall für alle schreibt als ›Werktagebuch‹15 für alle anderen Teilbände des Buchkomplexes HEUTE MORGEN sieben Tage die Woche alles mit. Und ›alles‹ sind in diesem Fall nicht nur die Begebnisse, die sich Tag für Tag ereignen, sondern auch die genauen Zeiten, zu denen sie passieren, denn Goetz stellt jedem Abfall für alle-Eintrag das Datum, die Uhrzeit sowie eine zusätzliche Nummerierung voran. Der Rhythmus der Zeit ist in HEUTE MORGEN deshalb schier omnipräsent. Bevor Goetz’ Bücher Mittelpunkt einer eingehenden Analyse der Zahlenverwendung sind, erweist sich ein weiterer Rekurs auf die Frühromantik als angemessen, da auch sie Beispiele für eine auf Zahlen bzw. Mittelpunkten und Symmetrien aufbauende Werkstruktur bietet. Dass Friedrich Schlegel sich bei der Disposition seines (Bildungs-)Romans Lucinde von symboltragenden Zahlen hat leiten lassen, ist auf den ersten Blick wenig evident, spielen Ziffern zumindest im Romantext keine Rolle. Zumeist ist der Roman in seiner Form als eine Herausforderung für die Lesenden empfunden worden
14 15
Ebd., S. 494. Vgl. für die Begriffsverwendung Stricker, Text-Raum, S. 290.
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– der Inhalt des sperrigen Textes sei kaum zu rekapitulieren.16 Das Textkonvolut, das vermeintlich unsystematisch Stimmungen und Reflexionen aneinanderreiht, birgt allerdings eine klare Struktur, die auch die inhaltliche Seite des Romans zu erhellen vermag, vornehmlich aber paradigmatisch für Schlegels Kunstauffassung ist. Von einer »künstlich geordnete[n] Verwirrung«17 spricht Schlegel in der Rede über die Mythologie als Idealbild für Dichtungen, wie sie Cervantes und Shakespeare vorgelegt hätten. Lucinde ist im Sinne der Universalpoesie ein Arrangement aus unterschiedlichen Texten und Gattungen, hat aber einen klaren Mittelpunkt: das Kapitel mit der Überschrift ›Lehrjahre der Männlichkeit‹. Dieser Abschnitt ist der traditionell erzählende Teil des Romans, dessen Verständnis keinerlei Schwierigkeiten bereitet. Und er ist die Symmetrieachse für den Gesamtaufbau: Vor und nach den ›Lehrjahren‹ sind jeweils sechs disparate kürzere Kapitel angeordnet; insgesamt besteht der Roman folglich aus 13 Teilen, von denen die ›Lehrjahre‹ die 7. Stelle einnehmen.18 Ob man auch diesem Zahlenschema eine symbolische Bedeutung zusprechen oder sich nur an Dante erinnert fühlen möchte – der Romanaufbau bleibt auffällig. Die formalen Aspekte des Romans Lucinde sind dabei meist unter den Begriffen ›Struktur‹ (Hans Eichner) oder ›Komposition‹ (Ernst Behler) besprochen worden, in Schlegels Worten könnte dafür auch der Ausdruck ›Konstruktion‹ einstehen. In die Annahme der Systemhaftigkeit spielt zusätzlich hinein, dass der Roman auch inhaltlich einer bestimmten Form folgt. So behandeln, Behler hat das herausgearbeitet, die ersten sechs Abschnitte die Gegenwart der beiden zusammengeführten Protagonisten Julius und Lucinde, während der erzählerische Mittelteil die Vergangenheit Julius’ bis zur Gewinnung von Lucinde aufzeigt und die letzten sechs Teile der Zukunft zugewandt sind.19 »Alle Form«, so Schlegel, »beruht auf einer Einteilung des Ganzen und auf dem Zusammenhange und Gliederbau
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Vgl. Mark-Georg Dehrmann: Literarische Werke. In: Friedrich Schlegel Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Johannes Endres. Stuttgart: Metzler 2017, S. 170-188, hier S. 172, Sp. 1. Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. In: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler u.a., Bd. 2, Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). München u.a.: Schöningh 1967, S. 284-362, hier S. 318. Diese Zählung ergibt sich nur, wenn man den Prolog nicht mit einrechnet. Hans Eichner folgend, ist das allerdings plausibel, da der Prolog noch vor dem Untertitel des Romans steht, vgl. Hans Eichner: Einleitung. In: Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler u.a., Bd. 5. Dichtungen. München u.a.: Schöningh 1962, S. XVII-CXVI, hier S. XLV, Fn 104. Mark-Georg Dehrmann wertet die Symmetrie als Fehlschluss, was er an der Typografie der Abschnittstitel der Erstausgabe festmacht. Trotzdem weist auch er den ›Lehrjahren der Männlichkeit‹ eine Sonderstellung zu, vgl. Dehrmann, Literarische Werke, S. 173, Sp. 2-S. 175, Sp.1. Vgl. Ernst Behler: Friedrich Schlegel: Lucinde (1799). In: Paul Michael Lützeler (Hg.): Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen. Stuttgart: Reclam 1981, S. 98-124, hier S. 116.
2. Zahlen
der Teile: d.h. alle Form enthält eine Konstruktion. Konstruktion ist gerade jener Zusammenhang oder organische Gliederbau des Ganzen und seiner Teile.«20 Wie im vorangegangenen Kapitel für die Relation zwischen Text und Paratext gezeigt, fällt auch hier das Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen ins Gewicht, das in der Beschreibung des hermeneutischen Zirkels Anwendung findet. Resultat dieses Verhältnisses ist die Form des Romans, die sich als inneres Ornament, hier: Arabeske, im Roman niederschlägt, wofür im Zitat das Stichwort ›organisch‹ einsteht. Betrachtet man die ›Lehrjahre‹, wie im »allegorischen Rebus«21 des Prologs vorgegeben, als Pflanzenstängel (passend zur Länge der ›Lehrjahre‹ wie zu deren erzählerischer Konsistenz), von dem rechts und links (in der Reihenfolge des Romans: vor und nach den ›Lehrjahren‹) kleinere Blüten und Blätter in Form von Briefen, einer Charakteristik, Allegorie, Idylle oder Dithyrambischen Fantasie knospen, wird nachvollziehbar, warum Schlegel seinen Roman eine ›Naturarabeske‹ nennen konnte. Die Anzahl dieser rankenden Abschnitte auf beiden Seiten des Stängels ist zwar identisch, ihre jeweiligen Formen aber frei und ungeordnet. Für diese Konstruktion drängt sich geradezu das Bild des Zusammenspiels von Redundanz und Varietät auf – oder wie es bei Schlegel heißen würde: die Kombination von System und Chaos22 –, das bei Luhmann die Einheit des Ornaments bildet und das sich auch an der Weiterentwicklung des Kommunikationssystems Liebe in den Romanen der Romantik zeigt. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts könne sich, so Luhmann in Liebe als Passion, keine der zuvor noch gültigen Leitdifferenzen für das Kommunikationssysteme Liebe als einzelne durchsetzen – weder der Code sinnlich/nichtsinnlich noch plaisir/amour noch Liebe/Freundschaft trifft mehr absolut auf die Liebeskonzeption der Romantik zu, sie gelten alle nebeneinander. Hinzu tritt allerdings das Persönliche, das Einzug in die Dichtung hält und auf das die Dichtung zurückgeführt wird. »Die Semantik der Intimität wirkt vorübergehend wie ein strukturiertes Chaos, wie eine gärende, sich selbst anheizende Masse […]. All dies löst auf vielfältige Weise Variationen aus, die erst im romantischen Konzept für Liebe wieder zu deutlich greifbaren Resultaten gerinnen.«23 Bei Schlegel wurde die Beziehung zu Dorothea Veit, geborene Mendelssohn, als autobiografische Grundlage für Lucinde gewertet,24 jedoch wird die Variation des Chaos des Persönlichen vom Liebesmodell des Romans übertönt, das paradigmatisch für jenes einsteht, auf das 20
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Friedrich Schlegel: Propädeutik und Logik. In: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler u.a., Bd. 13, Philosophische Vorlesungen [1800-1807]. Zweiter Teil. München u.a.: Schöningh 1964, S. 177-324, hier S. 268. Ethel Matala de Mazza: Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg i.B.: Rombach 1999, S. 217. Vgl. auch Kap. 1.1 dieser Arbeit. Vgl. Polheim, Arabeske, S. 122-125. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 171. Vgl. Eichner, Einleitung, S. XX-XXII.
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die Romantik dann schließlich zuläuft: Über die Reflexivität der Liebe und den Einbezug der Sexualität folgt die Konsequenz, dass Ehe Liebe ist und Liebe Ehe, wie sie entgegen der üblichen Konvenienzehe im Roman Lucinde vollzogen wird.25 Um 1800 ändert sich die Form des Codes der Liebe damit von vormals Idealisierung und später Paradoxierung hin zur Reflexion von Autonomie bzw. Selbstreflexion;26 die Tatsache, dass man liebt, rechtfertigt die Liebe in sich selbst, es bedarf keiner externen Motivierungen mehr. Auch das Medium der Kunst vollzieht in diesem Zeitraum seine Autonomisierung27 und stellt im Programm ›l’art pour l’art‹ aus, ein »motivational selbstgenügsames Medium«28 zu sein. Die über diese Strukturanalogie engführbaren Medien Liebe und Kunst sind dann gleichermaßen Thema des Theaterstücks Jeff Koons, wie ein Ausschnitt aus einer Szene verdeutlicht, der als Inhaltsangabe des Dramentextes gelten kann: »du hast gesagt/es geht um Liebe/du hast gesagt/es geht um Kunst.« (Jk, 101) Durch das Stützen auf theoretische (Vor-)Überlegungen in der letztlichen Ausführung des Romans strebt Schlegel die von ihm bemühte Form der Theorie an, die in der vielgerühmten Stelle aus dem Brief über den Roman ihren Ausdruck findet: »Eine solche Theorie des Romans würde selbst ein Roman sein müssen […].«29 Das ist nicht so zu verstehen, als sollten Schlegels theoretische Schriften bei der Interpretation des Romans zur Anwendung kommen. Die Theorie ist nicht außerhalb des Romans zu suchen, sondern in ihm selbst, die Praxis des Romanschreibens liefert die Theorie mit, beides lässt sich nicht voneinander trennen.30 »Mit der Vorstellung, Kritik sei ein wesentliches Moment der Vervollkommnung von Kunst«, resümiert Luhmann, wird in der Romantik »Theorie zum ersten Male als Selbstbeschreibung des Systems im System anerkannt.«31 Das unmittelbare Ineinsfallen von Theorie und Kunst liegt auch bei Goetz insofern nahe, als dass er die Abschriften der renommierten Poetikvorlesungen, die er auf Einladung der Goethe-Universität in Frankfurt hält, und die klassischerweise Auskunft über die
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Vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 163-182. Vgl. ebd., S. 51. Laut Luhmann problematisiert das Funktionssystem der Kunst seine eigene Autonomie hinlänglich, vgl. Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. In: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. v. Niels Werber. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 139188, hier S. 186f. Niklas Luhmann: Ist Kunst codierbar? In: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. v. Niels Werber. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 14-44, hier S. 37. Vgl. zur Vorgeschichte dieser Autonomisierung den Aufsatz von Torsten Hahn/Charlotte Jaekel: Das Liebes-Kabinett als Medium der Literatur. Galanterie und Kunstautonomie um 1700. In: Filippo Smerilli/Christof Hamann (Hg.): Sprachen der Liebe in Literatur, Film, Musik. Von Platons »Symposion« bis zu zeitgenössischen TV-Serien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 73-109. Schlegel, Gespräch über die Poesie, S. 337. Vgl. Behler, Lucinde, S. 113. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 462.
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individuelle Schreibweise von Autoren geben, also auf der theoretischen Seite der Literatur zu verorten sind, in sein Weblog bzw. seinen später ›Roman‹ genannten Band Abfall für alle, demnach in eines seiner literarischen Werke, einfügt. Zwar geschieht das im Falle des Web-Tagebuchs nachträglich, doch sind die Wortlaute der Poetikvorlesungen, die, verwirrend genug, eine Art Theorie sein sollen und Praxis heißen, im Blog wie im Roman letztendlich genau an den Daten zu finden, an denen Goetz sie in Frankfurt tatsächlich vorgetragen hat. Sie bekommen eine Nummerierung wie alle anderen Tagesnotate auch und sind damit Teil des Romans.
Exkurs: Philipp Otto Runges Zyklus Die vier Tageszeiten Vor dem Hintergrund des Buchkomplexes HEUTE MORGEN lohnt sich neben einem Blick auf die poetologischen Bezüge der frühromantischen Literatur auch noch ein Exkurs in die Malerei der Zeit. Philipp Otto Runge gilt um 1800 als Erster, der die theoretisch vorformulierten Gedanken einer Vereinigung der Künste zu einem Gesamtkunstwerk, wie sie etwa bei den Literaten und Philosophen Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck, den Brüdern Schlegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Novalis zu finden sind, kunstpraktisch umzusetzen versucht.32 Runge entsagt dem in seiner ersten Ausbildungsstätte in Kopenhagen üblichen Kopieren vorgegebener Bildinhalte, tritt stattdessen für das Erfinden eigener Bildgegenstände ein und spricht sich für einen Neuanfang in der Kunst aus, der in der Landschaft zu suchen ist. In seinen Gedanken und Erörterungen über die Kunst und das Leben heißt es als Kritik am Klassizismus: Ich glaube schwerlich, daß so etwas Schönes, wie der höchste Punct der historischen Kunst war, wieder entstehen wird, bis alle verderblichen neueren Kunstwerke einmal zu Grunde gegangen sind, es müßte denn auf einem ganz neuen Wege geschehen, und dieser liegt auch schon ziemlich klar da, und vielleicht käme bald die Zeit, wo eine recht schöne Kunst wieder entstehen könnte, das ist in der Landschaft.33 Michael Lingner, der dem Ursprung des Gesamtkunstwerks nachgeht, zeigt, dass Runges Landschaftsbegriff mit Empfindungen aufgeladen ist, die von der Natur im Künstler geweckt, selben dazu bewegen, Bedeutung auf eine Landschaft zu übertragen. Weil die Auswahl des Bildgegenstandes allein der Prämisse von der Übereinstimmung der subjektiven Empfindung des Künstlers mit dem Gegenstand un32
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Genauere Ausführungen dazu finden sich bei Roger Fornoff: Weltverwandlung. Zu Philipp Otto Runges Idee des Gesamtkunstwerks. In: Markus Bertsch/Hubertus Gaßner/Jenns Howoldt (Hg.): Kosmos Runge. Das Hamburger Symposium. München/Hamburg: Hirmer/Hamburger Kunsthalle 2013, S. 37-43, hier S. 37. Philipp Otto Runge: Gedanken und Erörterungen über die Kunst und das Leben. In: ders.: Hinterlassene Schriften. Hg. v. dessen ältestem Bruder [Johann Daniel Runge], Erster Teil. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965, S. 1-214, hier S. 14f.
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terliegt, gerät die wirkliche Gegenständlichkeit so sehr in den Hintergrund, dass sie für Runge nur noch ein abstraktes, ›hartes Zeichen‹ ist.34 Weil dieses ›harte Zeichen‹ aber der aus vielfältigen Reizen bestehenden Naturempfindung entsprechen soll, muss es selbst ein »›Superzeichen‹ sein«, wie Lingner es nennt, »das bei Runge aus einer Vielzahl einzelner, mittels arabeskenhafter Ornamentik organisch verbundener Zeichen besteht, die in ihrer Gesamtheit indes etwas gegenständlich unbestimmbar Bleibendes bilden, das als ›Hieroglyphe‹ charakterisiert wird.«35 Runges Zyklus Die Vier Tageszeiten, zu dem zwischen 1802 und 1807 verschiedene Konstruktions- und Federzeichnungen sowie Kupferstiche, benannt nach dem Tagesrhythmus – Der Morgen, Der Tag, Der Abend, Die Nacht –, entstehen, markiert den Fixpunkt seiner hieroglyphischen Kunstauffassung, er trägt Manifestcharakter.36 Die Zeichnungen sind lediglich der Entwurf für ein monumentales Werk, das in der materialen Vereinigung von Malerei, Musik und Poesie in einem architektonischen Raum, nach Runges Vorstellung: einem Sakralraum, aufgehen soll. In einem Brief an seinen älteren Bruder Daniel führt Runge diesen Gedanken aus: Meine vier Bilder, das ganz Große davon und was daraus entstehen kann: kurz, wenn sich das erst entwickelt, es wird eine abstracte mahlerische phantastischmusikalische Dichtung mit Chören, eine Komposition für alle drey Künste zusammen, wofür die Baukunst ein ganz eignes Gebäude aufführen – sollte.37 Runges Konzept begründet sich mittels Kritik an der Differenzierung der Schöpfung. Das göttliche Wort vereine noch die verschiedenen Seinsebenen Licht, Zahl und Ton in sich, in der materiellen Welt seien diese Ebenen jedoch strikt voneinander getrennt – Worte, Farben und Klänge entfernen sich so vom göttlichen Ursprung. Runges synästhetische Hieroglyphik aber sei in der Lage, die Sprache Gottes zu reflektieren, indem sie bildnerische, musikalische und poetische Aspekte wieder zusammenführt.38
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Vgl. ebd., S. 11. Michael Lingner: Der Ursprung des Gesamtkunstwerkes aus der Unmöglichkeit »Absoluter Kunst«. Zur rezeptionsästhetischen Typologisierung von Philipp Otto Runges Universalkunstwerk und Richard Wagners Totalkunstwerk. In: Harald Szeemannn (Hg.): Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800. Aarau/Frankfurt a.M.: Sauerländer 1983, S. 52-69, hier S. 59. Vgl. York-Gothart Mix: Arabesker Tiefsinn oder Philipp Otto Runges Zyklus Die Zeiten als romantische Reflexionsbilder. Eine Einführung. In: Jan Standke (Hg.): Gebundene Zeit. Zeitlichkeit in Literatur, Philologie und Wissenschaftsgeschichte. Heidelberg: Winter 2014, S. 509527, hier S. 525. Philipp Otto Runge: Auswahl von Briefen. In: ders.: Hinterlassene Schriften. Hg. v. dessen ältestem Bruder [Johann Daniel Runge], Zweiter Teil. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965, S. 1-440, hier S. 202. Vgl. für diesen Abschnitt Fornoff, Weltverwandlung, S. 40.
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Obgleich Runges früher Tod dieses Vorhaben nur als Vorstellung überdauern lässt, ist das Ziel einer Vereinigung der Künste bereits an den Zeichnungen und Kupferstichen evident, besonders wenn man auf deren Komposition blickt. Exemplarisch sei hierfür Der Morgen angeführt, der, an erster Stelle der Bildfolge stehend, eine zentrale Position im Zyklus einnimmt,39 indem er auf den Zusammenhang des Kreislaufs der Zeiten mit der Schöpfung weist, und hier nicht zuletzt deshalb interessant ist, weil auch Goetz 200 Jahre später mit dem Kurztitel seines Werkkomplexes HEUTE MORGEN auf den Morgen referiert. Diese intertextuelle Parallele zwischen Goetz und Runge fügt den in der Sekundärliteratur bereits nachgespürten Bezugnahmen von Goetz auf die Romantik40 eine weitere Entsprechung hinzu. Runges Konstruktionszeichnung zu Der Morgen (Abb. 10) ist die frühromantische Vorstellung von der Musik als Vorbild einer »idealen (universellen und allgemeinverständlichen) Kunst-Sprache«41 , die Darstellungsmittel der anderen Künste in sich vereint, als bildkompositionstheoretischer Hintergrund implizit. Die Konstruktionslinien des Bildes sind, abgesehen von der mit in das Bild integrierten Rahmenzeichnung, wie ein Notensystem aufgebaut: fünf Linien begrenzen vier Zwischenräume und diese Linien lenken die Betrachtung durch den Rezipienten.42 Der Beginn eines neuen Tages steht in Korrespondenz zur Auferstehung der Seele im Paradies, der stete Wandel von Tag und Nacht spiegelt Anfang und Ende des menschlichen Lebens wider und ist zugleich in seiner Wiederholung an die göttliche Unendlichkeit gekoppelt – die zirkelhafte Komposition lässt so ein Gesamtbild des Kosmos entstehen. Im Bild selbst sind Irdisches und Überirdisches dabei durch Blumen als Symbol für die Einheit des Menschlichen mit dem Göttlichen verbunden,43 unweigerlich lassen die vegetabilen Formen wieder an die Arabeskenbeschreibung im Prolog von Schlegels Lucinde denken. Runge legt in einer Erläuterung der Zeichnung in einem Brief an seinen Bruder Daniel besonderen Fokus auf Symmetrie und Licht: Unten ist ein leichter Nebel, aus welchem eine große Lilie gerade heraus wächst. Vier Knospen fallen von beiden Seiten in Bogen wieder herunter, auf welchen vier Kinder sitzen, die Musik machen; die Knospen thun sich auf, und es fallen Rosen 39
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Als Weiterführungen von Der Morgen vollendete Runge zwischen 1808 und 1810 zwei Ölgemälde: Der Kleine Morgen und Der Große Morgen, die anderen Tageszeiten wurden nicht in Öl übertragen. Vgl. vor allem Eckhard Schumacher: Ironie der Ironie. Über Rainald Goetz, Christian Kracht und Friedrich Schlegel. In: Dirk von Petersdorff/Jens Ewens (Hg.): Konjunkturen der Ironie – um 1800, um 2000. Heidelberg: Winter 2017, S. 209-223, hier S. 209-214. Lingner, Ursprung des Gesamtkunstwerkes, S. 54. Vgl. ebd., S. 62. Vgl. für diesen Abschnitt Chung-Sun Kwon: Studie zur Idee des Gesamtkunstwerks in der Frühromantik. Zur Utopie einer Musikanschauung von Wackenroder bis Schopenhauer. Frankfurt a.M.: Lang 2003, S. 159f.
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Abbildung 10: Philipp Otto Runges Konstruktionszeichnung zu Der Morgen (1802).
und bunte Blumen heraus auf den Nebel, der sich von ihnen färbt. In der Mitte des Bildes steigt die aufgeblühte Lilie, hell wie ein Licht schnurgerade in die Höhe, und in dem Kelche auf jedem Blatte sitzt ein Kind; die beiden mittleren nach vorn haben sich umfasst und sehen einander in die Augen; die beiden zur Linken vertiefen sich mit dem Blick in den Kelch; und die beiden zur Rechten in das, was über ihnen ist, nämlich die Staubfäden, auf welchen drey stehen und sich umfaßt halten, und das Pistill der Lilie in die Höhe halten, auf welchem die Venus – der Morgenstern – sitzt; dieser wird vergoldet. Der Himmel ist oben ganz dunkelblau, welches sich allmählich heller gegen den Nebel nach unten verliert, so daß die Lilie mitsammt den Kindern wie ein großes Licht erscheint. Auf beiden Seiten fallen
2. Zahlen
die Wolken herunter, deren Ränder hell beleuchtet sind. Nach unten sammelt sich das Farbige immer mehr, so daß es einen Sonnenaufgang bildet, der eben nicht leicht darin zu verkennen seyn wird. Das Licht ist die Lilie, und die drey Gruppen haben, wie sie gestellt sind, wieder Beziehung auf die Dreyeinigkeit. Die Venus ist das Pistill, oder der Mittelpunct vom Licht, und dieser habe ich mit Fleiß keine andere Gestalt als den Stern gegeben.44
Abbildung 11: Philipp Otto Runges Kupferstich zu Der Morgen (1807).
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Runge, Gedanken, S. 31.
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Neben der allegorischen Bedeutung des Morgens, der auch bei Goetz noch nachzuspüren sein wird, fallen mehrere Parallelen zu dessen ›Geschichte der Gegenwart‹ auf: Zum einen ist ein fünfstrahliger Stern, genauer: ein Asterisk, in Analogie zum Morgenstern Venus auf fast allen Cover-Rückseiten der Teilbände von HEUTE MORGEN abgebildet.45 Zum anderen ist dort beim Roman Abfall für alle zusätzlich auch das Wort ›Licht‹ zu finden, das in der Beschreibung von Runge auffällig oft fällt. Über das Licht ist ferner eine Verbindung zu Schlegels einzigem Roman gegeben: Titel wie Hauptfigur Lucinde bedeutet die ›Lichtbringende‹. ›Licht‹ ist nicht nur das allerletzte Wort von Goetz’ tagebuchartigem Romans selbst, sondern war auch im Weblog allgegenwärtig, weil das Design der Webseite zwischen den anzuwählenden Wochentagen sowie den arabischen und römischen Zahlzeichen, die für die chronologisch geordneten Teile des Blogs einstehen, das Wort in Großbuchstaben verzeichnete. Jeder Blog-Eintrag wies demnach einen Bezug zum Licht auf. (Abb. 12)
Abbildung 12: Eintrag im Weblog Abfall für alle vom 08.02.1998.
Bei Runge sollte der um das Licht kreisende poetische Teil des geplanten Gesamtkunstwerks nicht nur durch die den Bildern inhärente Poesie abgebildet werden, sondern er plante einen Kommentar zum Zeiten-Projekt, den Tieck verfassen sollte, an dem sich Runge aber auch selbst als Autor beteiligen wollte.46 Runge ergreift die Initiative zum Kommentar in Form eines Gedichts, dessen Fragment sein Bruder Daniel in den Hinterlassenen Schriften veröffentlicht. Das Gedicht besteht aus 45 46
Vgl. Abb. 9. Vgl. Christian Scholl: Anschauung oder Lektüre? Philipp Otto Runges Kommentar-Projekt zu den ›Zeiten‹ und die Schwierigkeiten der Kunstgeschichte mit der Kunst der Romantik. In: Erich Kleinschmidt (Hg.): Die Lesbarkeit der Romantik. Material, Medium, Diskurs. Berlin: De Gruyter 2009, S. 275-308, hier S. 279-282.
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zehn Strophen, von denen sich neun auf den Morgen beziehen. Getrennt durch drei Asteriske folgt darauf die zehnte Strophe, die das Bildnis Tag zum Thema hat; diese Strophe endet vorerst mit »u.s.w.«47 Jede Strophe besteht aus sieben Zeilen mit jambischen Fünfhebern. Die Mitte des Gedichts ist die fünfte Strophe, die wiederum das Licht beschreibt, d.h. die Sonne, die nur in der Röte des Morgens direkt angeschaut werden kann:48 Und erst entquillt der Erde nun das Leben./Die Bäume schütteln ihr Geschmeid‹ herab,/Des Lichtes Rang der Lilie nur zu geben,/Sie soll in einzig süßem Glanze schweben,/Die Blüthen sinken willig in ihr Grab;/Und Blumen sprechen duftend, wie mit Zungen:/Das Licht, das Licht ist in die Blumenwelt gedrungen!49 Denkt man in der Kupferstich-Version von Runges Der Morgen (Abb. 11) den Blütenstängel der Lilie als eine zu zählende Größe und nicht nur als Spiegelachse mit – etwa den ›Lehrjahren der Männlichkeit‹ in der Lucinde gemäß –, ergibt sich wie hier in der Form des Gedichts auch im Bild ein Bezug zu bestimmten Zahlen: Mit dem Stängel der Lilie gibt es im unteren Bildabschnitt fünf Positionen und im mittleren Bildabschnitt sieben Positionen. Im oberen Abschnitt, wo die Lilie ihren Abschluss in Form der Blüte bereits gefunden hat, sind nur noch die drei Positionen der Kinder zu zählen. 3, 5 und 7 sind genau die Zahlen, die auch bei Goetz für die Orientierung an der Ordnung der Woche herhalten. In einem Brief an Tieck nennt Runge zudem diese Zahlen ganz konkret und denkt sie, in einem Bild, mit der religiösen Zahlensymbolik und der Schöpfungsgeschichte zusammen: Das ist die erste Figur der Schöpfung. Die 6 ist nach dem Sündenfall nicht verstanden, und wird nicht verstanden, bis der Tag kömmt, wo alles zum Licht zurückkehrt, das ist der siebente Tag. – Die Welt hat sich gesondert in Ich und Du, in Zirkel und Linie, da ist die 3 in die Welt gekommen, und durch Gutes und Böses, die 5; in 7 ist alles wieder vereinigt: das ist das Allerheiligste; der Punct hat sich ausgebreitet im Zirkel.50 Die diese Worte bebildernden geometrischen Formen und Strukturen (Abb. 13) dienen wiederum als inneres Ornament, das Ordnung in das Chaos bringt. Denn zusätzlich zur formalen Komplexität weisen Die Vier Tageszeiten den der Hieroglyphe in Runges Sinn eigenen Reichtum an Motiven und Motivverbindungen auf, es ergibt sich, so Roger Fornoff, »eine schier unerschöpfliche Fülle von allegorischen Bezügen, die im Einzelnen zu dechiffrieren, das rezeptive Vermögen des gewöhn-
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Runge, Gedanken, S. 54. Vgl. Scholl, Anschauung oder Lektüre, S. 286f. Runge, Gedanken, S. 53. Ebd., S. 41.
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Abbildung 13: Zeichnung aus Runges Brief an Tieck.
lichen Kunstbetrachters bei weitem überfordert.«51 In diesem, in einer Formulierung von Goetz: »kosmische[n] Universal-Bezugsirrsinn« (Afa, 97), ist die Arabeske nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern hat Teil am Werk, indem sie ein Verlangen nach Ordnung stillt und, zumindest für den Urheber, dazu dient, seine »Ideen im ordentlichen Tact zu halten«52 . Eben weil Runge eine thematische Komplexität einfangen will, die sich in nichts Geringerem erschöpft als der Darstellung des kosmischen Lebens, ist eine strenge Regelmäßigkeit vonnöten, die nicht bloße Dekoration, sondern auch Komposition ist.53 Goetz’ Vorhaben, das er mit dem Werkkomplex HEUTE MORGEN realisieren will, mutet vielleicht weniger universell und auf die Kosmologie bezogen an, doch ist auch die Intention für seine ›Geschichte der Gegenwart‹ nichts weniger, als die Gegenwart im Gesamten wiederzugeben, wie er in Abfall für alle verlauten lässt: »Es ist eben die Gegenwart, deren Ganzes, das Ganze der Gegenwart. Was ich, verteilt auf einzelne Teile, sprechen lassen will, zum Sprechen bringen will.« (Afa, 114) Und auch für dieses allumfassende, ja größenwahnsinnige Unterfangen braucht es eine 51 52 53
Roger Fornoff: Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk. Studien zu einer ästhetischen Konzeption der Moderne. Hildesheim/Zürich/New York: Olms 2004, S. 77f. Runge, Briefe, S. 195. Vgl. Mix, Arabesker Tiefsinn, S. 516.
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Komposition, eine Ordnung, die dem Versuch der Abbildung des ›Ganzen der Gegenwart‹ standhält. Die Komplexität des Inhalts lässt dabei nur eine auch komplexe Form zu. Um dem Begriff der Ordnung den Beigeschmack des Zwangs zu nehmen, weist Ernst Gombrich in seiner Studie Ornament und Kunst auf den griechischen Ursprung des Wortes ›Kosmos‹ hin – dieses bedeute sowohl Ordnung der Welt bzw. Weltall als auch Schmuck.54 Mit dieser direkten Relation zwischen Ordnung und Schmuck, die in einem Wort zusammenfällt, das sich auf das All, also auf das Gesamte oder Ganze, bezieht, ist ein weiteres Mal die Funktion ersichtlich, die dem Ornament zufällt: Es dient als Schmuck eines Werks und ist doch zugleich ein gewichtiger Teil des Werkganzen, weil es Ordnung stiftet. Da für dieses Verständnis des Ornaments, das im gewöhnlichen Sprachgebrauch nur als Dekoration verstanden wird, ein allgemeiner Überbegriff fehle, griffe man, erklärt Gombrich, auch im Deutschen wiederholt auf das Wort ›design‹ zurück, das man im Zusammenhang mit ›Entwurf‹, ›Zeichnung‹ oder ›Gestaltung‹ verwende.55 Schließlich klingt damit auch der letzte Begriff an, den Luhmann synonym mit Schönheitslinie, innerem Ornament und Arabeske nennt: ›disegno‹56 . Als Design oder Formgebung, geradezu als Entwurfszeichnung für sein vorläufiges Gesamtwerk kann man auch das bezeichnen, was Goetz den allermeisten seiner Veröffentlichungen mit dem Paratext voranschickt: ein geordnetes, grafisch aufgearbeitetes Verzeichnis seiner Werke. Im Gegensatz zu den sonst üblichen bio- und bibliografischen Angaben in wenigen Sätzen listet Goetz seine Publikationen chronologisch und mit Ordnungszahlen versehen untereinander auf, wobei die Einzelteile der Buchkomplexe in ihrer Nummerierung dem jeweiligen Komplex untergeordnet sind. Diese Werkverzeichnisse und die darin festgelegte Ordnung der Aufeinanderfolge der Veröffentlichungen zeigen so einen ersten Berührungspunkt des Goetz’schen Œuvre mit Zahlen an. Speziell bei den Buchkomplexen gibt die Ordnung, wie sie in den Werkverzeichnissen erscheint, auch eine Ordnung wieder, die mit den Inhalten der Publikationen verzahnt ist, sodass beispielsweise 54
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Vgl. Ernst H. Gombrich: Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens. Stuttgart: Klett-Cotta 1982, S. 10. Der Titel der englischen Originalausgabe des Buchs lautet passenderweise The Sense of Order. Vgl. ebd. Giorgio Vasari erklärt das ›disegno‹ zum Maß aller Dinge der bildenden Künste. Das disegno hat Vasari zufolge drei Dimensionen: (1) Im Medium des disegno lässt sich die Inspiration der Künstler mit der Inspiration der Dichter vergleichen, (2) das disegno ermöglicht eine Werkstattorganisation, weil mehrere Schaffende auf Grundlage des Entwurfs gleichzeitig an einem Werk arbeiten können, (3) das disegno gilt als Mittel der Kommunikation mit den Auftraggebern des Werks. Im Gesamten sei das disegno letztlich das, was die Künstler auszeichne. Vgl. Matteo Burioni: Gattungen, Medien, Techniken. Vasaris Einführung in die drei Künste des disegno. In: Giorgio Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Malerei und Bildhauerei. Erstmals übersetzt v. Victoria Lorini, hg., kommentiert und eingeleitet v. Matteo Burioni. Berlin: Wagenbach 2006, S. 7-24, hier S. 7.
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bestimmte Themenfelder aufeinander aufbauen oder aber die Strukturen von Teilbänden korrelieren und ihre Inhalte deshalb parallel gelesen werden können. Goetz gibt beflissentlich zu, dass diese Opus-Bezifferungen einen »starken Hau ins voll Lächerliche« (Jsdf, 124) haben und dass sein Ordnungstrieb »wahnhaft« (Afa, 159) daherkomme. Aber diese Ordnungskategorien seien für ihn »Produktions-Motoren für Hervorbringungen im ästhetischen Bereich« (Afa, 334) und daher unabdingbar für sein Schaffen: Ordnungsphantasien. Die aber leider immer gleich so leicht ins Psychotische lappen. Gehört auf eine irgendeine Art trotzdem zum Prozeß der Produktion. Bloß wo wirds wahnhaft? Mathematik und Psychose, Musik und kosmischer UniversalBezugsirrsinn. Daß man von ORDNUNG wirklich fasziniert ist, dazu muß es eben sehr WIRR zugehen im Inneren des Kopfes. Es erscheint einem dann Ordnung als die LÖSUNG, als etwas Beruhigendes und Sanftes. Andere fühlen sich davon nur terrorisiert, reglementiert, eingeengt. (Afa, 97)57 Die Systematik des bisherigen Werks, die zunächst wieder nur äußerlich scheint, schafft, wie gezeigt werden soll, in Form der Werkverzeichnisse, die den Texten als inneres Ornament, als Arabeske wie im Prolog von Lucinde, vorgeschaltet sind, nicht nur Ordnung im Kopf des Autors, sondern ermöglicht auch den Lesern einen Zugang zu den Inhalten der Bücher. Die zweite, ebenfalls peritextuelle Verwendung von Zahlen in Goetz’ Texten findet eine Ebene tiefer statt, denn die Nummerierung wird auf die Einzeltexte übertragen. Das schlägt sich in Form der Durchnummerierung von Kapiteln oder Akten bzw. der Zählung von Abschnitten oder Szenen nieder. Diese Art der analytischen Strukturierung, die Sabine Mainberger mit dem Schlagwort der »Oberflächenrasterung von Texten«58 benennt, erinnert mehr an wissenschaftliche Arbeiten als an Literatur. Genette zufolge sei man dieser Mode eine kurze Zeit lang vor allem in didaktischen Prosatexten begegnet, die sich damit »den Schauder dünkelhafter Strenge und illusorischer Wissenschaftlichkeit verschafft«59 haben. Mainberger löst diese Strenge und Wissenschaftlichkeit, die z.B. eine Dezimalgliederung von Abschnitten eines literarischen Textes auf dessen Inhalt überträgt, in eine Visualisierung auf: Es ist ein Haus mit mehreren Stockwerken, jeweils mehreren Wohnungen, darin mehreren Zimmern mit mehreren Schränken, Schubladen, Schachteln… Alle Niveaus sind klar unterschieden und markiert, jedes einzelne aufgrund binärer
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Vgl. für Ausführungen zu Paranoia Kap. 5.3 dieser Arbeit. Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. Berlin/New York: De Gruyter 2003, S. 166. Genette, Paratexte, S. 298.
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Entscheidungen darin verortet; es ist die Art Struktur, zu der einen auch Textverarbeitungsprogramme zwingen. Sie entspricht den Bedürfnissen des kontrollierenden Auges, des intellektuellen Überblicks, und suggeriert die vollständige Beherrschung des Verzeichneten.60 Die Literatur ist aber selbstredend leicht in der Lage, und Mainberger belegt dies anhand von Hubert Fichtes Roman Detlevs Imitationen »Grünspan« (1971), diese Übersichtlichkeit zu torpedieren, auch wenn sie solch eine Gliederung anwendet. Fichtes Roman ist in 144 nummerierte, unterschiedlich lange Abschnitte eingeteilt, von denen der 51. Abschnitt als einziger noch einmal etliche Untergliederungen enthält und mit »4.2.8. 8.4.1. (oder 2.1.1.) 18.3.2. (besser 3.0. oder – da dies nicht mehr möglich ist – 3.0.1.) 23.1.2. (beziehungsweise 6.1.)/4. (n*.) […]«61 endet, um nur ein Exempel des Zahlenspiels im Buch aufzuzeigen. Der Autor kommentierte genau diese Gliederung damit, dass es in der Sprache Beziehungen gäbe, die durch formalisierte Schemata nicht abgebildet werden können, wie etwa Paradoxa, Schwanken, Überflüssiges oder Willkür. Er setzt der mittels Zahlen hierarchisch gegliederten, systematischen Aufbereitung des Textes, die Ordnung und Verständlichkeit verheißt, also ein Gemenge von Einzelerscheinungen entgegen, das den Reichtum und die Mehrdeutigkeit literarischer Sprache betont.62 Ordnung und Unordnung laufen wiederum aufeinander zu. Auch Derrida setzt sich im Zuge seines Essays Dissemination (1972) mit Literatur auseinander, der Zahlen einen Rahmen geben. Grundlage seiner Ausführungen ist der 1968 erschienene Roman des Tel Quel-Gründungsmitglieds Philippe Sollers mit dem sprechenden Titel Nombres. Der Roman besteht aus 100 mit Dezimalzahlen nummerierten und sich auf vier Parts aufteilenden Textstücken. Die Textgruppen 1, 2 und 3 sind im Präteritum stehende Erzählabschnitte, die durch einen präsentischen Kommentarteil (man denke hier an den geplanten und von Runge dezidiert so benannten Kommentar zu seinen Bildern) der Gruppe 4 ergänzt werden, der im Text immer in Klammern steht. Die Zahl vor dem Dezimalpunkt der Nummerierung gibt die Zugehörigkeit zu den Sequenzen 1, 2, 3 oder 4 an, die Zahl nach dem Dezimalpunkt reicht von 5 bis 100 und entspricht somit der Gesamtzahl der Textstücke. Diese Gesamtzahl errechnet sich aus der Addition der Bezifferung der Sequenzen 1 + 2 + 3 + 4 = 10 , erhoben zum Quadrat. Die Analogien, die durch diese Gesamtzahl sowie die Aufteilung auf die drei Erzählteile zu Dante entstehen, sind kein Zufall. Im ebenfalls 1968 von Sollers veröffentlichten Essayband Logiques, den Derrida als ein Teil der Tetralogie, bestehend aus Sollers’ Werken Le Parc,
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Mainberger, Kunst des Aufzählens, S. 167. Hubert Fichte: Detlevs Imitationen »Grünspan«. Frankfurt a.M.: Fischer 1978, S. 98. Vgl. Mainberger, Kunst des Aufzählens, S. 166f.
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Drame, Nombres und Logiques, liest,63 findet sich ein Dante-Aufsatz.64 Einer DanteReminiszenz entspricht womöglich auch das, was Sollers als Zusammenfassung seines Romans auf Buchumschlagseite 4 abdrucken lässt: »Le roman imprimé ici renvoie au milieu mythique en train de vous irriguer, de se glisser en vous, hors de vous, partout, depuis toujours, pour demain.«65 Derrida nun beschäftigt sich mit Nombres auf eine dem sehr komplexen, formal experimentellen Konstrukt entsprechende Weise: Wie Sollers weist er keine der vielen Zitate nach, die er verwendet (allein Textstellen aus Nombres sind kursiv und in Anführungszeichen gesetzt), wie bei Sollers ist die Anlage des Essays fragmentarisch. Beide Texte stellen ihren Inhalt mehr dar, als dass sie ihn nur wiedergäben, was vor allem Derridas Text an die Grenze des Verstehbaren führt.66 Dieser Konstruktion gemäß werden im Folgenden nur Bruchstücke, ähnlich Schlegels Fragmenten, aus beiden Texten herausgegriffen; diese aber scheinen umso mehr auch für einen Zugang zu Goetz’ Texten fruchtbar. Derrida begreift die Gliederung von Sollers’ Text durch die Nummerierung als ein weiteres Rahmenphänomen – das gibt die Abschnittsbezeichnung ›2. Die Vorrichtung oder der Rahmen‹ seines Essays vor –, das nicht Rahmung bleibt, sondern auf das Ganze des Werks Einfluss nimmt. Die Zahlen bilden ein Parergon, das dieses Mal eindeutig der Literatur, nicht mehr der bildenden Kunst, zugeschrieben werden kann. Sie [die zählbare Zahl, L.H.] spielt eine reaktive Rolle, sie stellt ihre Ordnung und ihre Rahmen der disseminalen Irre entgegen. Sie erschöpft sich darin, sie zu kontrollieren, sie zerbricht daran, sie zu konterkarieren./Doch all dies geschieht zwischen Zahlen. Das Unzählbare, das die Rahmen zu sprengen oder über den Rahmen zu springen scheint, […] kommt nicht einfach und schießt darüber hinaus oder randet von außen die Zahlenordnung auf ihre Grenzen hin ein. Es bearbeitet sie in ihrem Drinnen.67
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Vgl. Jacques Derrida: Dissemination. Hg. v. Peter Engelmann. Wien: Passagen 1995, S. 379. Vgl. Michael Rössner: Philippe Sollers. In: Wolf-Dieter Lange (Hg.): Französische Literatur des 20. Jahrhunderts – Gestalten und Tendenzen. Zur Erinnerung an Ernst Robert Curtius. Bonn: Bouvier 1986, S. 398-409, hier S. 404. Philippe Sollers: Nombres. Éditions du Seuil 1968, Klappentext. [»Hier ist der gedruckte Roman kein gedruckter Roman. Er verweist auf die mythische Umgebung, die dabei ist, euch zu berieseln, in euch einzugleiten, außerhalb von euch, überall, immer schon, für morgen.«, Übersetzung: Rössner, Sollers, S. 404] Vgl. Barbara Johnson: Translator’s Introduction. In: Jacques Derrida: Dissemination. London: The Athlone Press 1981, S. vii-xxxiii, hier S. xxxi. Derrida, Dissemination, S. 411.
2. Zahlen
Die Rahmung des Textes in Gestalt der dezimalgegliederten Verteilung auf Sequenzen ist, so Sollers’ Selbstaussage, »generativ«68 , schreibt sich demzufolge ähnlich wie die stete Wiederholung der Ordnung der Woche in der Schöpfung selbst fort. Außerdem erfülle sie drei Funktionen, die nur zu gut zu vorangegangen Beschreibungen des Paratextes passen: Die numerische Verteilung soll »einen Raum schaffen, der die Linearität des textuellen Prozesses aufhebt« sowie eine »regelmäßige Permutation«, aber auch eine »transformierende Wiederholung«69 gewährleisten, also die Einheit von Varietät und Redundanz sichern. Den wörtlich zu verstehenden Raum, den die Zahlen-Rahmung für den Text schafft, gibt Sollers im Roman in mehreren Zeichnungen wieder, von denen die einfachste ihrer Art die Form eines zu einer Seite hin offenen Quadrats hat (Abb. 14). Das Modell der Sequenzen ist nach einem traditionellen Theaterraum konzipiert, bei dem die Bühne des Präsens (der Kommentarteil mit der Ziffer 4) nicht einfach ein Schauspiel für die drei Seiten (die Textgruppen 1, 2 und 3) des Zuschauerraums aufführt, sondern als Spiegel fungiert, in dem das, was aus den drei Präteritum-Sequenzen kommt, gegenwärtig zurückgegeben werden kann.70 Die Zeichnungen haben ausschließlich in den eingeklammerten Sequenzen, denen die 4 voransteht, ihren Platz. Die Rahmung, deren Konzeption sich aus den Zeichnungen sowie den kommentierenden Textteilen ergibt, ist so angelegt, dass sie als Teil des Romans die drei Erzählteile vermittelt und – man beachte die Analogie zu Schlegel – »überdies deren Theorie aussagt«71 , so Derrida. Dass Sollers’ Romankonstrukt sich ausgerechnet in Form einer Theaterbühne verbildlichen lässt, zeichnet den Weg für Goetz’ Theaterstück Jeff Koons als Zentralstelle des Werkkomplexes HEUTE MORGEN vor. Das bestätigt sich auch dadurch, dass die Textabschnitte der vierten Sequenz mit dem Präsens verknüpft sind; ein Präsens, das hier gleichbedeutend mit der Gegenwart ist, die Goetz mit seinem Buchkomplex einfangen will. »Die Gegenwärtigkeit und das Leben, die Gegenwärtigkeit des Gegenwärtigen und das Leben des Lebendigen, das ist hier dasselbe.«72 Und dieses Lebendige, die Gegenwart, sei letztlich wiederum, in Derridas Worten, »nur ein Produkt. Produkt einer arithmetischen Operation.«73 Bei Goetz’ Texten ist die Abschnittsgliederung in den meisten Fällen nicht konsistent, d.h. manche Kapitel weisen eine Untergliederung in Teile auf, die mit rö-
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Philippe Sollers: Semantische Ebenen eines modernen Textes. Vortrag. In: Tel Quel [JeanLouis Baudry u.a.]: Die Demaskierung der bürgerlichen Kulturideologie. Marxismus, Psychoanalyse, Strukturalismus. München: Kindler 1971, S. 155-162, hier S. 158. Ebd. Vgl. Hans-Dieter Gondek: Gebrauchsanweisung. In: Jacques Derrida: Dissemination. Hg. v. Peter Engelmann. Wien: Passagen 1995, S. 435-448, hier S. 446. Derrida, Dissemination, S. 327. Ebd., S. 341f. Ebd., S. 347.
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Werk ist Weltform
Abbildung 14: Zeichnung von Sollers zu Nombres.
mischen Zahlen betitelt sind, andere Kapitelabschnitte erhalten nur Worte als Titel, im Theaterstück Jeff Koons folgen die Aktbezifferungen nicht einmal einer chronologischen Reihe. Auch dort ist demnach ein Wechselspiel von Ordnung und Unordnung, von System und Chaos, angezeigt. Allerdings sind einige von Goetz’ Veröffentlichungen trotz der weniger systematisch erscheinenden Zählungen so aufgebaut, dass sich anhand der Gliederungen Symmetrien und Mitten aufdecken lassen, die ebenso wie die Aufschlüsselung der Ordnung im Buchganzen strukturelle Parallelen und schließlich inhaltliche Bezüge zwischen den Teilbänden offen legen. Die Gliederung der Texte verheißt so einerseits eine Komplexitätsreduktion, weil die Zahlen die Textmengen übersichtlich einteilen, zugleich ruft sie jedoch eine ungemeine Komplexitätssteigerung auf der Ebene des Textes selbst hervor – nicht nur, weil die Texte die Einteilungen aufbrechen und so Mehrdeutigkeit in sie einzieht, sondern auch weil sich hinter dem systematischen Gefüge kompositionelle Zwecke verbergen, die eine andere Sichtweise auf die Textinhalte ermöglichen. Eine dritte Zahlenverwendung bei Goetz hat schließlich nicht mehr an der Oberfläche der Texte, sondern in ihnen selbst statt. Mitunter sind die Zahlen dabei weniger offensichtlich Teil des Textes, beispielsweise wenn es um die Anzahl der handelnden Personen, die Beschreibung von geometrischen Figuren oder von mathematischen Verhältnissen geht. Oft aber, und das vor allem in den vielen Datumsund Zeitangaben, sind die Ziffern in den Texten mehr als explizit. Hierfür steht im
2. Zahlen
Besonderen sein Tagebuch-Weblog Abfall für alle ein,74 aber auch in vielen seiner anderen Publikationen sind Daten präsent. Schumacher fasst zusammen: »[P]ermanent dienen zeitliche Markierungen als strukturbildende Daten. Tagesabläufe, Zeitmitschriften, Verknüpfungen und Assoziationen entlang von Jahreszahlen treten in Goetz’ Texten wiederholt an die Stelle eines nachvollziehbaren Handlungsgerüstes.«75 Goetz legt die Einsicht nahe, dass die Worte ›Zahl‹ und ›Erzählung‹ zusammenhängen, und dass diese Verwandtschaft die Nutzung der Zahlen in narrativen Gebilden bereits gänzlich erklären würde: »Text ist die härteste Droge, die ich kenne. Datum heißt auf Deutsch: Gegeben. Das Gegebene gibt sich in Gestalt von Ziffern, die gelesen Zahlen sind. Und die Zahlen sind erzählt Erzählung. So einfach ist die ganze Sache, das ist alles, aus.«76 Dieses protokollierende Verfahren und die daraus resultierende Nähe zur Realität haben ihm den Titel ›Chronist der Gegenwart‹77 bzw. ›Chronist des Augenblicks‹ (Afa, 833) eingebracht, dessen Berichte sich ganz nah an der Realität bewegen. Goetz kennzeichnet das Resultat an anderer Stelle als »Fiktionsfiktion«, die »ausschauen würde wie Literatur, dadurch deren Freiheitsräume hätte, die Beweglichkeit der Perspektiven und den ganzen Stimmungsreichtum, aber in Wirklichkeit nichts daran was Ausgedachtes wäre, sondern alles echt.«78 Mit diesem Abbilden der vermeintlichen »Stimme des reinen Materials«79 hält schließlich eine Form von Realismus in seinen Texten Einzug. Bereits jetzt kann also zusammengefasst werden, dass Zahlen in Goetz’ Werk in verschiedenen Vorkommen ein inneres Ornament bilden, an dessen Linie die Einzeltexte bzw. die Buchganzen entlanggeschrieben sind. Konkret in Benutzung sind dabei viele Zahlen, aber auffällig sind im Besonderen die Ziffern 3, 5 und 7. Diese Zahlen könnten sicher mühelos mit der religiösen Zahlendeutung, wie sie Curtius und Hardt nachgewiesen haben, in Einklang gebracht werden, doch kann die Absicht, jede einzelne Verwendung der Zahlen intentional zu untermauern, nur auf bloßes Schablonieren hinauslaufen. Immer wieder würde man die Dreifaltigkeit, die fünf Sinne des Menschen oder die sieben Todsünden bemühen müssen, um Aktbezeichnungen, Kapitel- oder Abschnittszählungen zu ergründen. Vielmehr soll deshalb davon ausgegangen werden, dass Goetz diese Zahlen zweifellos mit dem Wissen um ihre vielschichtigen Bedeutungen einsetzt, er aber die Aufladung mit Bedeutung als Voraussetzung an den Anfang ihres Gebrauchs stellt. Von vornherein mit dieser gewichtigen Substanz ausgestattet, wird den Zahlen dann eine 74 75 76 77 78 79
Vgl. Kreknin, Poetiken des Selbst, S. 202f. Schumacher, Zeittotschläger, S. 278f. Goetz, Kronos, S. 254. Vgl. vor allem die zahlreichen Feuilleton-Artikel zur Meldung der Vergabe des BüchnerPreises an Goetz. Goetz, Kronos, S. 379. Goetz, 1989.1, S. 2.
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ordnende Funktion zugesprochen, die für die Form des Textes ausschlaggebend ist. Die Zahlen kehren damit wieder zur Mathematik zurück und dienen der Schaffung von Symmetrien und Mittelpunkten. Die Schönheitslinie entlang der Ziffern 3, 5 und 7 zieht sich durch HEUTE MORGEN genauso wie durch das bisherige Gesamtwerk, weshalb es sich lohnt, die einzelnen Werkganzen in ihrer Genealogie zu betrachten. Die Annäherung an die Publikationen über eine strukturelle, sich der Form der Texte annehmende Herangehensweise ist allein deshalb ein ergiebiger Lektüremodus, da sich eminente parallele Beobachtungen treffen lassen. »Es ist anzunehmen«, wie es bei Derrida heißt, »daß das Befremdende in der Wiederholung liegt.«80
2.2
Zahlen und Goetz: Wirrnis und Ordnung
In Goetz’ jüngster Publikation Johann Holtrop (2012) ist das bislang vollständigste Verzeichnis seiner Werke an einem festen Ort innerhalb der Titelei und damit vor Beginn des eigentlichen Romantextes abgedruckt. In dieser chronologischen Aufreihung sind die Einzelwerke und Werkkomplexe jeweils mit einer römischen Ordnungsziffer ausgestattet; auf die Teilbände der komplexen Bücher entfallen weitere arabische Dezimalstellen (Abb. 15). Was wie eine wissenschaftliche Arbeit anmutet und gleichermaßen Gedanken an einen Rorschachtest nährt, ist schlicht das Verzeichnis von Goetz’ vorläufigem Gesamtwerk. Die Veröffentlichungen des ersten Jahrzehnts der Goetz’schen Schriftstellerexistenz81 gliedern sich ursprünglich noch nicht mittels einer Ordnungszahl in dieses (vorläufige) Gesamtgefüge des Werks ein – weder im Debütwerk Irre, in der Stücktrilogie Krieg und der Textsammlung Hirn noch im Roman Kontrolliert findet sich ein Verweis auf die Werkzahlen 1, 2 und 3 (respektive I, II und III, wie sie in der Aufzählung oben heißen). Im bio-bibliografischen Abriss werden die Veröffentlichungen lediglich kurz und linear in einem Satz mit Goetz’
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Derrida, Dissemination, S. 328. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Goetz schon vor seiner ersten Buchpublikation schreibend in Erscheinung trat, beispielsweise mit Rezensionen, tagebuchartigen Mitschriften und weiteren Artikeln für die Süddeutsche Zeitung, den Spiegel, die Monatszeitschriften TransAtlantik und Konkret, für Hans Magnus Enzensbergers Kursbuch und einen Sammelband Michael Rutschkys. Vgl. u.a. die ausführliche Auflistung von Goetz’ Zeitungs-, Zeitschriften- und Sammelbandbeiträgen im text+kritik-Heft von 2011 (Charis Goer/Tina Deist: Auswahlbibliografie zu Rainald Goetz. In: text + kritik 190 (März 2011), S. 101-114, hier S. 101f.). Während die überwiegende Mehrheit dieser kleineren Arbeiten ab 1983 eine Wiederveröffentlichung in den Bänden Hirn, Kronos und Celebration erfährt, werden die erwähnten ersten Texte nicht noch einmal ins Werkgefüge aufgenommen.
2. Zahlen
Abbildung 15: Werkverzeichnis aus dem Roman Johann Holtrop (2012).
Studium der Medizin und Geschichte erwähnt. Im ersten, als komplexartiges Gebilde aufzufassenden Buch – Krieg/Hirn –, liegt des Weiteren ursprünglich auch noch keine innere zahlenmäßige Gewichtung hin zu einer ersten und einer zweiten Stelle in der Mikro-Formation vor. Lediglich ein erklärender Zusatz in Hirn bietet der im Nachhinein gängig zugeschriebenen Folge von II.1 Krieg und II.2 Hirn bereits Raum, indem er die Sammlung Hirn als eine »Schrift Zugabe zu Krieg«82 ausweist. Ein mittels Zahlen begründetes internes Verweissystem ist nicht eher als im Komplex FESTUNG ersichtlich. Hier legt Goetz durch die peritextuellen Markierungen ›Festung 1‹ für das Theaterstück Festung, ›Festung 2.1‹, ›2.2‹ und ›2.3‹ für die drei Bände des Materials 1989 sowie ›Festung 3‹ für die Berichte Kronos eine
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Goetz, Hirn, S. 2. Die bewusste Getrenntschreibung von ›Schrift Zugabe‹ kann bereits als Fingerzeig auf die Differenz zwischen einer schriftbasierten und einer auf Performanz aufbauenden Kunst vor Publikum, mithin auf die Trennung zwischen Kunst und Leben gedeutet werden, die im Kap. 5.2 dieser Arbeit ausführlicher beleuchtet wird.
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Werk ist Weltform
klare Struktur der Werkreihe fest, die für die Interpretation derselben noch von Relevanz sein wird, weshalb die Begründung für die Notwendigkeit einer solchen Gliederung im Buchkomplex selbst zu suchen ist. Auch der erstmalig vorgegebene übergeordnete Titel für die Werkreihe kann als ein Hinweis auf die noch folgende Interpretation gelesen werden.83 Bezeichnenderweise setzt sich die Beobachtung aus den vorangegangenen Publikationen auch für das Buch FESTUNG fort: Abermals ist hier innerhalb des Buchs kein Verweis auf die Stelle des Komplexes im Gesamtgefüge des Goetz’schen Werks gegeben. HEUTE MORGEN ist gleich in mehrerer Hinsicht auffällig. Zunächst hebt sich die Angabe der Bezeichnung ›Buch 5‹, die in allen Veröffentlichungen der Reihe noch vor den jeweiligen Titelseiten unter der Langfassung des Über-Titels »Heute morgen,/um 4 Uhr 11, als ich/von den Wiesen zurückkam,/wo ich den Tau aufgelesen habe« (Ra, 3) genannt ist, ab. Eben diese Bezifferung ist es, die im Verbund mit der einheitlichen äußeren Gestaltung der zusammengehörigen Bände Rückschlüsse auf die Stellen der vorgängigen Publikationen im Werk Goetz’ zulässt. Die Zusammengehörigkeit der Werkkomplexe vor HEUTE MORGEN lässt sich auch daraus erklären, dass die Teilbände immer im Verbund, also zur gleichen Zeit, veröffentlicht wurden: Krieg und Hirn teilen dieselbe Nummer der edition suhrkamp, alle Teile des Komplexes FESTUNG erscheinen gleichzeitig in einem Schuber. Dass diese Feststellung für das Buch 5 nicht mehr zutrifft, kann als weitere Auffälligkeit gelten; die fünf Bände der Reihe werden sukzessive in den Jahren 1998 bis 2000 publiziert. Nimmt man zwei bei Merve erschienene Titel als – sozusagen ›verlagsfremdes‹ – Material hinzu, erstreckt sich der Veröffentlichungszeitraum von 1997 bis 2001. Die Hinzunahme dieser Titel liegt ebenfalls in der äußeren Gestaltung sowie der Ziffer 5 begründet: Die für das Layout des Merve-Verlags typische, auf den Buchcovern abgebildete Raute ist analog zu den Suhrkamp-Bänden der Reihe in Rot auf weißem Grund gehalten; jeweils auf der fünften Seite der beiden Publikationen findet sich in der oberen linken Ecke eine Bezifferung – ›5.5.1‹ für den zusammen mit Westbam veröffentlichten Titel Mix, Cuts & Scratches sowie ›5.7‹ für den Gedicht- und Interviewband Jahrzehnt der schönen Frauen. Diese Zahlennennung ist für Merve-Bände ungewöhnlich und kann deshalb als Marker für die Integration der beiden Titel in den Buchkomplex HEUTE MORGEN gelesen werden. So wie die zweiten (und dritten) Stellen dieser Zahlen eine Position der beiden MerveVeröffentlichungen innerhalb des Gefüges der fünften Werkgruppe angeben, sind auch den Suhrkamp-Texten des Komplexes mittels des ebenfalls peritextuell genannten Kurztitels und der darunter stehenden Zahlenfolge von ›5.1‹ bis ›5.5‹ klare 83
In der obenstehenden Gesamtwerkliste ist auch für den Komplex Krieg/Hirn ein solcher ÜberTitel – nämlich KRIEG – angegeben, dieser findet sich jedoch nicht in den Publikationen selbst, sondern ist ebenfalls nachträglich hinzugefügt worden.
2. Zahlen
Stellen innerhalb desselben zugewiesen. Zusätzlich zu der Nummerierung enthalten die Bände der Reihe von Anfang an einen Plan für die komplexinternen Veröffentlichungen, der – beginnend mit Rave – diejenigen Texte verzeichnet, die bereits erschienen sind, aber auch den Teil der Bücher vorankündigt, die noch geschrieben bzw. publiziert werden sollen. Bemerkenswert ist dabei, dass sich die Pläne durch den stückweisen Veröffentlichungsverlauf ändern: Die endgültigen Stellen der Publikationen weichen so teilweise von der ursprünglichen Planung ab, vereinzelt finden eingangs angekündigte Teile sogar überhaupt keine Veröffentlichung. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, warum Goetz die Nummerierung der beiden Merve-Bände für das Werkverzeichnis in Johann Holtrop leicht abändert. Mix, Cuts & Scratches wird letztlich mit der Nummerierung ›5.1.1‹ und Jahrzehnt der schönen Frauen mit ›5.5.1‹ versehen, was ihnen die Stellen als Vorläufer- und Nachfolgeband für die anderen fünf Veröffentlichungen des Buchs zuweist. Ferner betont der Über-Titel der Reihe im Gegensatz zu den vorangegangenen Komplexen nicht etwa einen Teilband des Gefüges, sondern deutet auf etwas Außenstehendes hin: Die Forschung bestimmt den Ausspruch als Dauerwitz aus der Harald Schmidt Show der späten 1990er Jahre84 und auch Goetz weist ihn eindeutig als »langen, von Harald Schmidt der Welt gegebenen Titel[]« (Jdsf, 173) dem Entertainer zu. Ähnliches gilt für die sechste Werkreihe SCHLUCHT, deren übergeordneter Titel sich ebenfalls nicht als ein Wink auf eine Veröffentlichung des Komplexes gibt, insofern man die bisher publizierten Titel dazu in Betracht zieht. Das titelgebende Nomen fungiert als Kurzform des Bibelzitats ›und müsste ich gehen in dunkler Schlucht‹, welches wiederum allen Text- und Titelseiten der Bücher mit dem Zusatz ›VI‹ oder ›Buch 6‹ vorangestellt ist. Stanitzek weist die Sentenz aus dem Psalm 23 auch als George W. Bushs Motto für die Jahre nach den Anschlägen des 11. September 2001 aus,85 welches jenes Datum ist, das auch für den Fotoband der Werkreihe, elfter September 2010, Pate steht. Wie schon zuvor FESTUNG und HEUTE MORGEN zeigt sich SCHLUCHT, obwohl auch hier die sukzessive Publikationsweise der Einzelbände greift, von einer internen Ordnung der einzelnen Veröffentlichungen informiert; die Stelle der Bücher im Mikro-Gefüge wird den Bänden neuerlich im Peritext durch die Nennung des Kurztitels und der Zahlenfolge ›1‹ bis ›4‹ vorangestellt.86 Im Unterschied zur vorangegangenen Werkgruppe HEUTE MOR84 85
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Vgl. u.a. Sascha Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 292. Vgl. Georg Stanitzek: Bohème – Boulevard – Stil. Kommentar zu einem flickr-Bild von Rainald Goetz. In: Walburga Hülk und Gregor Schuhen (Hg.): Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung. Tübingen: Narr 2012 (= edition lendemains, Bd. 25), S. 137-149, hier S. 145. Diese Feststellung gilt nicht für den von Goetz zusammen mit Albert Oehlen gestalteten Band D.I.E. abstrakte, der nach einer Ausstellung in der Galerie Max Hetzler im Verlag von Holzwarth Publications erschienen ist – er weist keinerlei Beziehung zum SCHLUCHT-
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Werk ist Weltform
GEN lässt sich jedoch beobachten, dass den SCHLUCHT-Titeln kein umfassender, nur für diesen Komplex geltender Plan eines internen Systems vorgeschaltet ist – in den Erstausgaben der Publikationen gibt es schlichtweg keinerlei Verzeichnisse, die Ausnahme bildet die oben im Bild zitierte Erstausgabe von Johann Holtrop. Die höheren Auflagen der Bände sind mit einer ähnlich kompletten Auflistung wie oben ausgestattet, ohne jedoch im Plan befindliche Titel vorwegzunehmen. Das soll nicht bedeuten, dass von der Absenz eines solchen Planes auszugehen ist, aber in den einzelnen Bänden ist er nicht abgedruckt. Waren die Leser der HEUTE MORGEN-Reihe regelrecht über den Fortgang des Komplexes vorinformiert, lässt sich im Falle von SCHLUCHT nur ungesichert über Erwartungen spekulieren. Auch deshalb ist ungewiss, ob die Werkreihe mit der letzten, schon Jahre zurückliegenden Publikation bereits abgeschlossen ist oder ob noch eine Veröffentlichung folgen wird. Für die Abgeschlossenheit des Komplexes spräche der Einschub der jüngsten Publikation Johann Holtrop an die dritte Position des Mikro-Gefüges, obwohl bereits zwei Jahre zuvor der Fotoband elfter september 2010 an die vierte Stelle der Reihe gesetzt wurde. Dem Vorgängerbuch HEUTE MORGEN dient diese achronologische Setzung der letzten (Suhrkamp-)Publikation an eben diese Stelle 3 als eine Art Schließungsfigur, wie zu zeigen sein wird. Gegen die Abgeschlossenheit spräche das Fehlen eines Bandes, in dem – wie in allen anderen Werkkomplexen zuvor, siehe Hirn, Kronos und Celebration – die kleineren Arbeiten der Werkphase, aus Zeitschriften, Magazinen u.ä. zusammengefasst, eine zweite Veröffentlichung finden. Wenn eine weitere These dieser Arbeit greifen soll, fehlt es dem Komplex bislang auch noch an einem Theaterstück, dem alle anderen komplexen Bücher eine feste Stelle einräumen. In den Klappentexten der weiteren Auflagen des ›Buch 6‹ sowie auf der Seite des Suhrkamp Verlags gibt es keine klaren Aussagen zur Abgeschlossenheit oder Fortsetzung der Reihe. Bei den um Zahlen zentrierten Beobachtungen der einzelnen Veröffentlichungen läuft im Hintergrund stetig die Frage mit, warum Goetz abseits der Romane Komplex in Form einer Zahl oder der Nennung des Über-Titels auf. Auch dem Foto-Beitrag Kapitalistischer Realismus für das Magazin Monopol sowie der Ausstellung politische fotographie im Literaturmuseum in Marbach – die Innokentij Kreknin ohnehin als »nicht publizierbar« (Kreknin, Poetiken des Selbst, S. 43, Fn 30) ausweist – fehlt eine ähnlich geartete Zuweisung. Womöglich könnte die Vorläufigkeit des Verzeichnisses für diesen Umstand in Anschlag gebracht werden; nicht ausgeschlossen ist, dass diese Beiträge analog zu anderen Buchkomplexen noch eine Wiederveröffentlichung und dann eine entsprechende Zuordnung zum Komplex erhalten. Verbunden sind die beiden letztgenannten Werkteile mit dem Buch SCHLUCHT insofern, als dass die Fotos des Monopol-Beitrags von der Ästhetik und den Inhalten her eng an die Fotos des Bildbands elfter september 2010 angelehnt sind und dass Goetz bei der Eröffnung der Fotoausstellung in Marbach Textsegmente aus Klage und loslabern liest (vgl. Rainald Goetz: Politische Fotographie. Ausstellungseröffnung/Rainald Goetz, Moderation: Ulrich Raulff. Elektronische Ressource. Marbach a.N.: Deutsches Literaturarchiv 2011).
2. Zahlen
Irre und Kontrolliert überhaupt mehrere Veröffentlichungen zu einem Komplex zusammenfügt und sie unter dem Label der einheitlichen Covergestaltung und eines zusammenfassenden Titels publiziert. Für die Ausführungen werden bewusst bereits bekannte Ergebnisse aus der Sekundärliteratur zum Teil sehr ausführlich referiert, da deren Nachvollzug die Basis für die Zahlenanalyse des Werkkomplexes HEUTE MORGEN bildet, die bislang ein Desiderat der Forschung ist.
2.2.1
Irre: Das Ganze ist wie Algebra
Beginnt man mit Goetz’ Erstlingswerk Irre, fallen neben einer das gesamte Buch einleitenden Songzeile der Hamburger NDW-Band Palais Schaumburg87 besonders die jeweils den Teilen des Buchs vorangeschickten Bilder auf. Ohne die von Goetz selbst ausgeführten Zeichnungen näher zu beleuchten, sind sie es, die in Kombination mit jeweils einer Überschrift und einem weiteren Zitat den Roman in genau drei etwa gleich große Abschnitte teilen. In der Forschung werden diese drei Teile u.a. als Anzeichen für einen, wenn auch nicht strikt durchgehaltenen, Wechsel der Erzählperspektive gewertet,88 vom Übergang des ersten Jahres des Assistenzarztes Raspe in der Psychiatrie (›Sich Entfernen‹) über sein zweites Jahr (›Drinnen‹) hin zum Chaos (›Die Ordnung‹),89 in dem immer wieder auch eine vorher nicht eingeführte Figur ›Rainald‹ auftaucht. Dass die Aufteilung in drei Kapitel in einer, für diesen Überblick nicht weiter spezifizierten Weise differente Beobachtungs-, Erzähl- oder Schreibsituationen charakterisieren könnte, dass sie den Plot durch drei Stadien hin zu einer Auflösung treiben oder ihn in einer Art Gegen-Ordnung aufgehen zu lassen beabsichtigt, ist bereits anhand der formalen Ausarbeitung der Kapitel anzunehmen, die jeweils eine grundlegend andere ist: Während das erste Kapitel sich zwar in mehrere längere und kürzere Abschnitte aufteilt, dabei aber ohne weitere Untergliederungen durch Ziffern auskommt, scheinen genau diese dem zweiten Kapitel eine Struktur zu verleihen. Neben den Unterkapitelzählungen I bis V finden sich in den Passagen I und III weitere, mittels arabischer Zahlen geordnete Unterabschnitte – Part I zählt fünf Absätze, Part III zwölf, die Passagen II, IV und V benennen keine weiteren Abschnitte. Im dritten Kapitel wird diese Form der Ordnung wieder negiert (»Neu anfangen«90 , tönt der
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Der Bandname und das Songzitat sind später auch Teil des Textes: »Nach dem Tee preßt sich jeder noch ein paar snacks, Hunger Hunger, dazu unterhält uns, ich glaube, Palais Schaumburg, Grünes Winkelkanu ich dreh dir den Hals herum, und anderer nonsense.« (Rainald Goetz: Irre. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 61) Vgl. Charis Goer: Worte zu Waffen. Rainald Goetz’ Geschichte des Deutschen Herbstes »Kontrolliert«. In: text + kritik 190 (März 2011), S. 29-40, hier S. 39, Fn 37. Vgl. Jan Drees: Rainald Goetz – Irre als System. Wuppertal u.a.: Arco Wissenschaft 2010, S. 1116. Goetz, Irre, S. 233.
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Werk ist Weltform
erste Satz des Kapitels), signifikant ist hier überdies die Verwendung von Bildern im Textfluss – anfänglich ziehen sich medizinische Skizzen und Fotografien sowie Comic-Ausschnitte durch den Text, später findet man neben zwei kleineren Zeichnungen vorwiegend Fotos, die das Gesicht des Autors zeigen, bevor letztendlich wiederum nur Text erscheint. Auch im letzten Kapitel findet sich – wenngleich weniger konventionell als im zweiten Kapitel – eine Unterteilung: Von einem ersten und dritten Abschnitt unterscheidet sich der mittlere durch eine Untergliederung in Absätze mit den Überschriften ›0.‹ bis ›12.‹ Zu erkennen ist diese Mitte des dritten Kapitels durch die einleitenden Worte »Hier offen« und die parallelen Schlussworte »Hier zu«91 , die jeweils rechts und links von zwölf X-Buchstaben eingerahmt sind. Auch thematisch ist diese Mitte ein Gebilde für sich – nachdem der Abschnitt ›0.‹ die Tage zwischen Heiligabend und Neujahr, und somit das Jahresende, als schwärzeste Zeit des Jahres zum Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit den Werken Herbert Achternbuschs nimmt, die, Goetz zufolge, in ihrem Charakter ebenfalls eher der dunkleren Seite des Lebens anhängen,92 beschreiben die Abschnitte ›1.‹ bis ›12.‹ chronologisch kurze Geschehnisse der zwölf Monate eines darauffolgenden Jahres und haben Achternbusch immer wieder mehr oder weniger zum Thema: »3. AchternbuschMärz. Da lamentiert der Herr Professor, um den es ganz offensichtlich viel mehr als um den Herrn Achternbusch geht, in einer Fußnote Numero 50 darüber, dass die CSU den Herrn Achternbusch nicht lobt«93 , »7. […] Juli ist es, und Herr Achternbusch geht durch die Natur«94 oder schließlich: »10. […] Ich warte im Oktober lieber mit dem Herrn Achternbusch auf den ersten Schnee.«95 Welche Schlüsse man auch immer aus dieser Anordnung des Gesamttextes ziehen möchte – eine derart konstruierte Anlage fällt zwangsläufig auf. Es kommen »[h]ier […] die Zahlen ins Spiel«, heißt es anschaulich im ersten Abschnitt des dritten Kapitels von Irre, und weiter: »Wie das Gute und die Zahlen zusammenhängen, beweise ich – […]. Weil das Ganze ist wie Algebra.«96 Als zentrale Ziffer lässt sich im Erstlingswerk die 3 ausmachen – nicht nur, dass es aus drei Kapiteln zusammengesetzt ist, auch das häufige Auftreten der Zahl 12 (als Anzahl der Untergliederung in Abschnitt III des zweiten Kapitels, als Unterteilung im zweiten, nicht nummerierten Abschnitt des dritten Kapitels sowie als Anzahl der X-Buchstaben vor und hinter ›Hier offen‹ und ›Hier zu‹ im dritten Kapitel) lässt sich in eine Dreierlogik einbinden, abstrahiert man von der Zahl 12 auf ihre Quersumme 3. Darüber hinaus kommt die 5 als strukturgebende Ziffer in 91 92 93 94 95 96
Ebd., S. 290 und S. 316. Vgl. ebd., S. 290. Ebd., S. 293. Ebd., S. 302. Ebd., S. 308. Ebd., S. 275.
2. Zahlen
den mit römischen Zahlen benannten fünf Abschnitten des zweiten Kapitels bereits zum Tragen, auch wenn sie insgesamt noch wenig Anwendung findet. Die Einteilung des Textganzen schafft Ordnung, indem sie Mittelpunkte einrichtet: Einzig das zweite Kapitel des Buchs kommt mit seiner Erzählweise der Vorstellung von einem traditionellen Roman nahe und bildet so das Zentrum des im Paratext mit dieser Gattungsbezeichnung ausgestatteten Textes. Die Mitte des dritten Kapitels ist nach Monaten gegliedert und weist so auf die zahlreichen Datumsnotate voraus, die Goetz nach Irre veröffentlichen wird. Der Name des Protagonisten Raspe lässt außerdem – das ist auch am Nachfolgeroman Kontrolliert zu erkennen – auf Goetz’ Beschäftigung mit dem RAF-Mitglied Jan Carl Raspe schließen. Dass ausgerechnet dieser zum Angelpunkt des Erzählten wird, liegt womöglich in seinen markanten Lebensdaten begründet: Raspe wird 1944 geboren und nahm sich 1977 in Stammheim das Leben, er ist also genau 33 Jahre alt geworden.
2.2.2
KRIEG: Neun ist Mitte und Zentrum von Siebzehn
Für das Theaterstück des ersten komplexartigen Gebildes KRIEG hat der Theaterwissenschaftler Richard Weber ausführlich die Bedeutung der Zahl 3 nachgewiesen. Das Stück ist laut Selbstaussage »drei Theaterstücke«97 , die wiederum nach einem allen Teilen vorangestellten Zitat (in diesem Fall ist es der Name des Debütalbums und eines darauf vertretenen Songs der britischen Pop-Band Frankie Goes to Hollywood: »Welcome to the pleasure dome«98 ) jeweils durch Bilder aus der Feder des Autors, dem jeweiligen Stücktitel, den Personenverzeichnissen und einem weiteren Zitat voneinander abgetrennt sind. Weber erkennt die Teile Heiliger Krieg, Schlachten und Kolik als Trilogie, »in der die Folge der drei Texte ein einheitliches Ganzes ergibt, eine Bewegung vom Allgemeinen zum Individuellen«99 , eine Bewegung, die bei »Welt, Revolution, Bier« beginnt, sich zu »Familie, Kunst, Haß« steigert und schließlich zu »Ich, Wort, Tod«100 führt, wie es die Zusammenfassung des Bandes auf den Punkt bringt.101 Auf Grundlage des auf der Rückseite des Ein97 98
Rainald Goetz: Krieg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 2. Auch dieses Zitat ist später wieder Teil des Textes, dieses Mal in einer Szenenüberschrift, vgl. ebd., S. 85. 99 Richard Weber: »… noch KV (kv)«: Rainald Goetz. Mutmaßungen über »Krieg«. In: ders. (Hg.): Deutsches Drama der 80er Jahre. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 120-148, hier S. 120. 100 Goetz, Krieg, S. 2. Man beachte auch hier die Aufzählungen mit jeweils drei Bestandteilen. 101 Eine derartige waschzettelartige Zusammenfassung in ihrer ursprünglichen Ausprägung als Beilage für die Kritiker und später das Publikum scheint, so Genette, »entweder vorauszusetzen, daß sich die Kritik eine Lektüre des Werks vor dessen Besprechung ersparen könnte, was eine boshafte Unterstellung wäre, oder daß das Werk so beschaffen sei, daß sich durch eine bloße Lektüre nicht angeben ließe, woraus es besteht, was wieder eine boshafte Unterstellung wäre […].« (Genette, Paratexte, S. 104) Beide boshaften Unterstellungen könnte man in diesem Fall zu einer Funktion zusammenziehen – nämlich einer verständniserleichtern-
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bandes abgedruckten Hobbes-Wort ›Denken ist Rechnen‹ weist Weber den Aufbau der Stücke nach mathematischen Regeln nach, die immer wieder um die Zahl 3 kreisen: In Heiliger Krieg lässt sich zunächst das Personenverzeichnis in zwei Dreiergruppen (›Stammheimer, Stockhausen, Heidegger‹ sowie ›Soldaten, Mädchen, Bürger‹) aufteilen, auf das im I. Akt 33 mit arabischen Ordnungszahlen durchnummerierte Szenen folgen.102 Akt II und III beinhalten je drei Szenen, Akt IV lediglich eine, Akt V dann gar 24. Das zweite Stück Schlachten weist er als Dreiakter aus, dessen Passagen nicht mit römischen Zahlen, sondern mit den Worten ›Eins‹, ›Zwei‹ und ›Drei‹ überschrieben sind, wobei diese keine weiteren Szenenunterteilungen zeigen. Auch hier bildet eine Dreiergruppe, bestehend aus ›Vater, Mutter, Schwestern‹ die dramatis personae. Schließlich folgt der Einakter Kolik mit nur einem Akteur (›Mann‹) und 17 szenenartigen Abschnitten, die jeweils mit einem Begriff (›Hirn‹, ›Kraft‹, ›Wissenschaft‹ oder ›Zweifel‹ etwa) beginnen und enden, und die Weber als ein gleichschenkliges Dreieck versteht, das seinen Scheitelpunkt im neunten Teil mit dem Schlagwort ›Arbeit‹ hat. Derart lauten schließlich »[i]deale Sätze/Arithmetischer algebraischer sowie geometrischer Art/Etwa daß drei mal fünf gleich ist dreißig halbiert/oder daß neun Mitte und Zentrum ist von siebzehn«103 . Darauf, dass diese im Mittelpunkt befindliche ›Arbeit‹ die Produktion von Ordnung sein könnte, deutet bereits ein Auftritt der Figur Heidegger im ersten Stück Heiliger Krieg hin: »Maximale Wirrnis, Ordnungspflicht, Zuspitzungsnotwendigkeit, permanente Perfektionsproduktion, im Zentrum, ununterbrochen Arbeit, Ordnung, das ist das Problem, Zentralfrage, äußerste Ordnung«104 . Die 9 als arithmetisches Mittel hat wiederum einen Bezug zur Zahl 3, indem sie deren Dreifaches bildet; darüber hinaus können die 17 Szenen des letzten Teilstücks als arithmetisches Mittel der 33 Szenen des I. Aktes des ersten Stücks gelesen werden. Weber verfolgt die Zahlenlogik sogar noch weiter und stellt eine Verbindung zur für die kommenden Publikationen ebenfalls wichtigen Zahl 7 her: Zieht man die Aktnummerierung mittels römischer Zahlen in Heiliger Krieg zum Vergleich heran und stellt abermals die 3, in der Schreibweise ›III‹, in den Mittelpunkt, so findet sich in der dualen Schreibweise der Zahl 7 eine nahezu analoge Form (›0111‹). Die Zahl 7 kommt nun genau drei Mal in der gesamten Trilogie vor, diese Stellen liest Weber immanent als Verweis auf das Textganze: Der siebente Abschnitt des letzten Teilstücks Kolik ist eingerahmt vom einleitenden und abschließenden Wort ›Wissenschaft‹, in dessen Mitte kreisen die Aussagen der Figur ›Mann‹ um den. Bedingung für ein solches Erfassen ist allerdings – allein aufgrund der Dreiergruppen, die den Kurzinhalt charakterisieren – zumindest eine Billigung der durch Mathematik informierten Interpretation. 102 Eigentlich handelt es sich um 35 Szenen, da die Szenen 26 und 27 in doppelter Zählung (nicht aber mit gleichem Inhalt) vorkommen. 103 Goetz, Krieg, S. 250. 104 Ebd., S. 74.
2. Zahlen
»Logik/Die reine/Logik auch hier von Ziffern/Berechnung Wissenschaft Tatsachen Tat«105 . Hierin ließe sich eine Bedeutungszuschreibung für die Mathematik lesen, die das Textverständnis lenkend vorantreiben will. In den wenigen Zeilen der siebenten Szene des V. Aktes von Heiliger Krieg offeriere Goetz, so Weber, womöglich eine Interpretation der drei Teilstücke: »7./Leere, Gnade, Licht/Fünfjähriger Männlicher Bürger/Die Welt ist eine Kloake./Der Mensch ist eine zerrissene Kreatur./Finsternis herrscht./Alles ist Dreck.«106 Schließlich liefere die siebente Szene des I. Aktes von Heiliger Krieg mit den Worten »Kreuzkruzifix zefix Scheiß Telefonzefix kreuzsakrament«107 einen Aufruf zum ›Kreuzen‹ der einzelnen Stücke hin zu einem Netzwerk des Gesamttextes. Goetz fordere die Leser auf, durch die Verknüpfung der Textpassagen von Heiliger Krieg, Schlachten und Kolik ein System des Textes zu erstellen, sodass ein neues, viertes Stück entstehe. Dieses neu zu konstruierende vierte Stück nennt Weber ›Integraltext‹ und fußt ihn auf dem aus der Dreierreihe herausfallenden, weil ungewöhnlicher Weise nur aus einer Szene bestehenden IV. Akt von Heiliger Krieg,108 der als musikalische Partitur konzipiert sei. Der Integraltext könne so auf die Partitur des Textganzen verweisen, das nur musikalisch zu realisieren wäre.109 Es ist auffällig, dass Weber mit seinem Neologismus ›Integraltext‹ auch einen Begriff aus der Mathematik berührt. Erneut mag die Zahl 5 in Krieg nur eine marginale Rolle spielen, doch diskutieren die Figuren Stammheimer und Heidegger länger über einen Fünfschritt der Materialverarbeitung, der für die Komposition dieses Theatertextes einsteht: »[E]rste Frage Frage eins, das Material, was liegt vor, zweite Frage, die Analyse, Frage drei, die Ordnungsfrage, viertens Anwendung Zeremonie Strategie, Frage fünf, der Angriff«110 . Ohne zusätzlich weitere Aussagen Webers zur mathematischen Struktur der Stücke zu referieren, soll ein Kerngedanke, der eine wichtige Verbindung zur ›Schriftzugabe‹ Hirn schlägt, hier angeführt werden: Der Stückekomplex Krieg basiert demnach nicht nur auf der Ziffer drei, sondern es besteht auch eine offensichtliche Wechselbeziehung zwischen Dreiheit, Zwei-
105 Ebd., S. 255. 106 Ebd., S. 108. Nur ergänzend sei erwähnt, dass hier die als aufschlussreich angenommenen Zahlen 3, 5 und 7 in der Überschrift der Szene, der Beschreibung des Sprechers sowie in der Szenennummerierung noch einmal eigentümlich vorgeführt sind. 107 Ebd., S. 23. 108 Der V. Akt des Stücks fügt sich insofern in die Dreierlogik, als die Anzahl der Szenen (24) ein Vielfaches von 3 ist. 109 Vgl. für diese gesamten Ausführungen Weber, …noch KV, S. 120-125. Für den Charakter einer Partitur sprächen übrigens Szenenüberschriften, wie ›1. Presto‹, ›12. Noch beschwingter‹, ›26. Noch langsamer‹, ›30. Variation 4‹, die zuvor im Teilstück Heiliger Krieg eingestreut sind. Außerdem mag ins Gewicht fallen, dass die einzige Figur, die im IV. Akt von Heiliger Krieg spricht, die dem Namen nach an den Komponisten angelehnte Figur Stockhausen ist. 110 Goetz, Krieg, S. 70.
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heit und Einheit. Die Trilogie Heiliger Krieg, Schlachten, Kolik bildet als Reihe eine Einheit, der sozusagen kontradiktorisch der Integraltext gegenübersteht, und beide sind wiederum als Einheit gedacht; ein Modell, das sich in der äußeren Gestaltung der Buchausgabe widerspiegelt. Der Stückesammlung Krieg, versehen mit einem weißen Schutzumschlag, ist der Prosaband Hirn beigegeben mit einem schwarzen; aufgehoben wird die Gegensätzlichkeit von schwarz und weiß im Grün, das den festen Umschlägen der beiden Bände gemeinsam ist. Die Trias Schutzumschlag, Umschlag und darin eingeschlossener Text bildet für sich jeweils ein Ganzes, doch vertrieben werden die beiden Bände als ein Buch unter dem Titel Krieg/Hirn – oder umgekehrt. Übertragen auf den Umgang mit den Stücken – den theatralen eingeschlossen – bedeutet das, ähnlich der Dualität von Schwarz und Weiß, entweder die Trilogie als eine Einheit zu behandeln oder alternativ dazu den Integraltext; eine höhere Form von Ordnung ergibt sich indessen erst durch Verkettung beider Varianten. Ein einzelnes Stück als in sich abgeschlossenes herauszulösen hieße, die ganzheitliche Konstruktion zu zerstören.111 Alles vermeintliche inhaltliche Chaos würde in sich sodann immer noch eine Struktur bergen, die sich »im Fall der Trilogie aus der streng logisch-mathematischen Tektonik der Stücke und Bilderfolgen [d.h. Szenenfolgen, L.H.] er[gibt]«112 und so auf einen übergeordneten Zusammenhang verweist. Abermals ist der inhaltlichen Materialmenge eine auf Regelmäßigkeiten bauende Form entgegengesetzt. Die aus den Jahren 1983 bis 1985 stammenden, wiederabgedruckten Texte in Hirn ergänzen die Stücke Krieg dabei um die Zeitungs- und Magazinbeiträge (größtenteils aus der Süddeutschen Zeitung, der Spex und dem Merkur) aus der Zeit, in der Goetz – nach Abschluss von Irre – vermutlich schon an der Stücktrilogie gearbeitet hat, und bilden so einen Kontext, in dem Krieg sich lesen lassen, und der besonders für eine mögliche Inszenierung des Theaterstücks Bedeutung erhalten kann. So erkennt Hanna Klessinger die ›Schriftzugabe‹ als ein Zeichen für eine markante Konzeption des Theatertextes Krieg, die im Anschluss an das epische Theater Bertolt Brechts und dessen Modifikation durch Heiner Müller den Text als bloßes Material verstehe und sich so jeglicher inszenatorischer Umsetzung radikal öffne.113 Auch in Hirn ist von der »Manie des Zählens«114 die Rede; der Band könnte unumwunden die zahlenorientierte Lesart der Stücktrilogie stützen, da Goetz den Ziffern neuerlich – wiederum auch gern in Form von Datumsangaben und Jahreszahlen – eine deutliche Strahlkraft zuspricht:
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Weber, …noch KV, S. 125. Ebd., S. 135. Vgl. Hanna Klessinger: Postdramatik. Transformationen des epischen Theaters bei Peter Handke, Heiner Müller, Elfriede Jelinek und Rainald Goetz. Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 237. Goetz, Hirn, S. 64.
2. Zahlen
Sehe ich eine Ziffer, muß ich rechnen, ist die Ziffer eine Jahreszahl, bricht Delirium aus. Die großen Ordnungssysteme kämpfen ihren intergalaktischen Kampf, jedes will sich die Ziffer dienstbar machen für ihren Zweck. Es geht immer um den Beweis einer historischen Spekulation, die wirklich hieb und stich fest werden möchte, Theorie. Jedem Ereignisse haftet eine Ziffer an, und stellt über die Ziffer, die einem anderen Ergebnis zugeordnet ist, eine notwendige Ereignisverbindung her, die so vieldeutig ist, wie der Zusammenhang, in dem jede Ziffer mit jeder Ziffer steht, unendlich vieldeutig, aber doch eindeutig als Zusammenhang.115 Mit der Ziffernfaszination geht notwendigerweise ein Ordnungsdrang einher, dem Goetz zuspricht, Verbindungen zwischen einzelnen Ereignissen und Elementen offenlegen zu können.116 In der Konsequenz für die hier dargestellten Überlegungen müssten dann auch die einzelnen Veröffentlichungen eines Buchkomplexes über das stringent angewandte Ordnungsraster des Autors miteinander verknüpft und darüber – selbstredend aber nicht ausschließlich – interpretierbar sein.
2.2.3
Kontrolliert: In der Zeit-Zelle
An nächster Stelle in Goetz’ Gesamtwerk steht aufs Neue ein einzelner Band, der auf der innenliegenden Buchtitelseite als ›Geschichte‹ ausgewiesen ist, auf dem Buchcover aber die Kennzeichnung ›Roman‹ erfährt. Nahezu überflüssig scheint es infolge der bisherigen Darlegungen, zu erwähnen, dass auch Kontrolliert in drei Teile gegliedert ist, die nach einem einleitenden Zitat – wieder ist Musik im Spiel: der Kassenschlager »Live is life« der österreichischen Band Opus117 steht dem Band voran – durch Einzelseiten für die Kapitelüberschriften, durch Zeichnungen des Autors sowie durch ein neuerlich für jedes Kapitel geltendes Zitat voneinander abgegrenzt sind. Ähnlich auf die eigene Biografie bezogen wie bereits für den Roman Irre angenommen, berichtet Goetz in Kontrolliert von seinem Studienaufenthalt in Paris, wo er an seiner althistorischen Dissertation Freunde und Feinde des Kaisers Domitian118 schreibt, und verknüpft diese Begebenheit mit den Ereignissen um die RAF im Jahre 1977. Seine Kammer, die er in Paris bewohnt, setzt Goetz dabei einer Ge-
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Ebd., S. 189. Vgl. ebd., S. 156. Im Songtitel und Namen der Band ist die Kernidee dieser Arbeit (›Werk ist Weltform‹) auffallend präsent: Opus und Life, Werk und Leben. Dass sich Goetz tatsächlich im Winter 1977/78 in Paris aufgehalten hat, belegt der Lebenslauf, welcher der Dissertation ordnungsgemäß beigefügt ist, vgl. Rainald M. Goetz: Freunde und Feinde des Kaisers Domitian. Eine prosographische Untersuchung. München, Dissertationsschrift 1978, S. 15.
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fängniszelle gleich: »meine Kammer, die ich für mich natürlich Zelle nenne«119 . Wieder versuchte die Forschung, für die drei Kapitel von Kontrolliert einen Wechsel der Erzählperspektive nachzuweisen. Der erste Abschnitt ›Schwarze Zelle‹ sei durch eine Ich-Erzählhaltung charakterisiert, worauf im zweiten Teil ›Diktat‹ eine auktoriale und sodann im dritten Kapitel ›Im Namen des Volkes‹ eine multi-personale Erzählperspektive eingenommen werde.120 Obwohl spätere Analysen eher die konsequente Brechung dieser, anhand der Überschriften und einleitenden Sätze der Kapitel entstandenen Annahmen betonen,121 tritt erneut die strukturelle Anlage der drei Teile hervor, wie Charis Goer darlegt: Das erste Kapitel besteht zwar aus einem einzigen Absatz, untergliedert sich jedoch in fünf jeweils durch einen Gedankenstrich voneinander abgegrenzte Teile. Der letzte dieser Teile enthält vier das zuvor Geschehene rekapitulierende Abschnitte, deren Ende bzw. Beginn durch das Wort ›Gedankenstrich‹ gekennzeichnet ist. Das zweite Kapitel setzt sich aus neun Unterkapiteln zusammen, die in ihrer Ordnung den Monaten Januar bis September 1977 folgen und das dritte Kapitel weist 44 Abschnitte auf, die den 44 Tagen der Entführung Hanns Martin Schleyers entsprechen.122 Wieder also orientiert sich der Text an der Struktur eines Kalenderjahres bzw. eines bestimmten Zeitraums; über die Akribie, die abermals den Zahlen entgegengebracht wird, gibt schon der erste Satz des Romans Auskunft: »Ich erzähle hier die Geschichte des Jahres neunzehnhundert siebenundsiebzig. Heute ist Montag, der siebzehnte Oktober, kurz nach zwölf, nein, null Uhr zwei. Ich korrigiere, heute ist Montag, der siebzehnte zehnte, null Uhr drei […].«123 Seite 33 der Veröffentlichung lässt – wie zur Erklärung – verlauten, dass »Ordnung […] schließlich in allem, gerade im äußerlichen, ein wunderbarer Halt des Schönen [sei]«124 . Sogar wenn Goetz
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Rainald Goetz: Kontrolliert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 19. Vgl. für diese Gegenüberstellung auch Jan Henschen: Die RAF-Erzählung. Eine mediale Historiographie des Terrorismus. Bielefeld: transcript 2013, S. 163. 120 Vgl. Peter Hanenberg: Gedankenstriche 10 Jahre danach. Zu Rainald Goetz’ Roman ›Kontrolliert‹. In: Bianca Dombrowa u.a. (Hg.): GeRAFtes. Analysen zur Darstellung der RAF und des Linksterrorismus in der deutschen Literatur. Bamberg: Univ. 1994, S. 59-65, hier S. 60-63. 121 Vgl. u.a. Goer, Worte zu Waffen, S. 36. 122 Vgl. ebd., S. 39, Fn 35. 123 Goetz, Kontrolliert, S. 15. 124 Ebd., S. 33.
2. Zahlen
für seinen Versuch, in Kontrolliert den Staat zu behandeln,125 über Hegel Platons Staatsbeschreibung heranzieht, fallen bereits bekannte Ziffern: Aber wenn euch neulich erst Platon seinen Staat siebenmal, kurz darauf Hegel den seinen schon siebenundsiebzig mal überarbeiten mußte, wie die Wissenschaft der Logik auf der Suhrkampseite dreiunddreißig zu berichten hat, wie soll ich mich dann nicht fragen lassen müssen, warum mich hier sofort die Ziffern faszinieren, in die mir Zeitfragen hinein verschlüsselt zu sein scheinen, derart, daß es hieße, ich sei für meinen Staat bereits zu alt.126 Platons Politeia ist von Zahlen geprägt: Die Schrift ist in zehn Bücher aufgegliedert, an den Dialogen beteiligen sich sieben Personen, der ideale Staat ist wie die Seele dreiteilig, drei Gleichnisse (Sonnengleichnis, Liniengleichnis, Höhlengleichnis) kommen vor. Otto Apelt resümiert in seinem Kommentar zur Politeia: »[D]ie Kunst ihrer Komposition ist […] allein schon ihr bester Zeuge.«127 Damit nicht genug sind Zahlen auch im Inhaltlichen der Schrift von Bedeutung. Von Glaukon nach dem Wissensfach gefragt, was »allen Künsten, Forschungen und Wissenschaften unentbehrlich ist, und was denn jeder mit als Erstes erlernen muß«, antwortet Sokrates: »Diese ganz bescheidene Weisheit: die richtige Kenntnis der Eins, der Zwei und der
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Goetz schreibt zu Beginn von Kontrolliert über die Idee seines Romans: »Ursprünglich sollte hier der Staat verhandelt werden. Gut ein Jahr lang habe ich die Vorarbeiten in diese Richtung hin getrieben, vergeblich. Der Anspruch war vermessen, nicht für mich, Resultat war Lähmung. Der Staat ist ungeheuerlich, die Ungeheuerlichkeit, die ein einer, wie ich hier, nicht fassen kann. Schließlich schießt der Staat aus den Gewehren echte Menschen tot, nichttote Menschen werden staatsbefehlsgemäß in Staatskerkern gefoltert, Staatstheater spielen echte Stücke, siehe Stammheim, Stichwort Krieg, die Staatsorchester musizieren dazu musikalisch Symphonien, Bilderherrlichkeiten zeigen sich in Staatsmuseen her, das Staatsfernsehn ist wirklich Hochschule des Glücks der Unterhaltung, reich an Massen wissenswerter Sachen, den Staatsschulen verdanken viele vieles, ich zum beispiel alles, Staatszeitungen, Staatsstrom, Staatsgeld, Staatslicht nachts in großen Städten, Staatsbibliotheken, ha, der Staat ist ein Mörder, ein Menschenvernichter, ein böser, ein Arbeitsknapphalter, die Machthaberfresse, der Staat ist Unrechtsstaat, Betrüger, Volksverächter, grundgesetzlich Lüge, Antidemokrat, der Staat ist Ausbeuter und Unterdrücker, das Kapital und plötzlich ist der Staat Gefangener der raf, der Staat ist nur noch Angst, die Drohung, die Kontaktsperre, der Staat ist machtlos, der Staat ist der im Volksgefängnis inhaftierte Altfaschist, der Staat ist die Geschichte, die plötzlich aufgestanden hier steht, jetzt kontrolliert.« (Ebd., S. 15f.) Ebd., S. 96. Otto Apelt: Einleitung. In: Platon: Sämtliche Dialoge. Hg. v. Otto Apelt. Bd. V. Der Staat. Neu übersetzt sowie mit griechisch-deutschem und deutsch-griechischem Wörterverzeichnis versehen v. Otto Apelt. Hamburg: Meiner 2004, S. III-XIX, hier S. XIX.
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Drei. Ich nenne das aber zusammenfassend Zähl- und Rechenkunst.«128 Zudem ist die Wichtigkeit der Zählkunst auch in Hegels Wissenschaft der Logik offenbar: Als dieser Gedanke der Äußerlichkeit ist die Zahl zugleich Abstraktion von der sinnlichen Mannigfaltigkeit; sie hat von dem Sinnlichen nichts als die abstrakte Bestimmung der Äußerlichkeit selbst behalten; hierdurch ist dieses in ihr dem Gedanken am nächsten gebracht; sie ist der reine Gedanke der eigenen Entäußerung des Gedankens.129 Wenn in diesem Roman auch weniger als zuvor in Krieg einer stringenten Konzentration auf eine bestimmte Zahl zu folgen ist, kommt doch wieder ein mathematisch-logischer Aufbau zum Tragen, der seine Grundpfeiler zudem mit theoretischen Texten untermauert. Zum einen wird die Dreiteilung des Gesamttextes aus Irre und Krieg wiederholt und nochmals eine fünfteilige Untergliederung im ersten Kapitel angeführt. Zum anderen wird dem zweiten und dritten Kapitel ein Ordnungsmoment in Gestalt der verstreichenden Monate des Jahres 1977 bis zur Entführung Schleyers sowie die Dauer der Entführung desselben in Tagen vorgegeben.
2.2.4
FESTUNG: Parabel der gesamten Geschichte
Fünf Jahre nach Kontrolliert, 1993, wird mit FESTUNG erstmals ein umfassenderer Buchkomplex – Schumacher nennt ihn einen »Ziegelstein«130 – veröffentlicht, der, wie bereits erwähnt, seine interne Ordnung offen zur Schau stellt. Stefan Krankenhagen hat dazu eine ausführliche zahlenlogische Interpretation vorgeschlagen. Vorausgeschickt sei, dass auch das Gefüge FESTUNG aus drei Teilen besteht, deren Mittelstück, die Fernsehmitschrift 1989 wiederum aus drei Bänden zusammengesetzt ist, sodass die Werkreihe insgesamt aus fünf Bänden besteht. Krankenhagen konzentriert sich, wie Richard Weber, auf das Theaterstück, das abermals eine Trilogie darstellt, liest aber den ganzen Komplex vor dem Horizont einer Problematisierung der Darstellungsformen des Holocaust.131
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Platon: Der Staat. In: ders.: Sämtliche Dialoge. Hg. v. Otto Apelt. Bd. V. Neu übersetzt sowie mit griechisch-deutschem und deutsch-griechischem Wörterverzeichnis versehen v. Otto Apelt. Hamburg: Meiner 2004, hier Siebentes Buch, 522. St. [S. 280f.]. 129 Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Wissenschaft der Logik I. In: ders.: Werke in 20 Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Bd. 5, Wissenschaft der Logik I. Erster Teil. Die objektive Logik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 244. 130 Schumacher, Zeittotschläger, S. 277. 131 Vgl. für diese wie die folgenden Ausführungen Stefan Krankenhagen: Auschwitz darstellen. Ästhetische Positionen zwischen Adorno, Spielberg und Walser. Köln u.a.: Böhlau 2001, S. 121138.
2. Zahlen
Den etwa 1.600 Seiten ›Material‹ aus 1989 teilt Krankenhagen mittels mathematischer Ordnung Schwerpunkte zu, die andernfalls in der Masse des Geschriebenen untergehen würden. Das Textkonvolut, das scheinbar unterschiedslos Mitschriften von Nachrichten- und Sportsendungen, aber auch Theorie- und Literaturausschnitte aneinanderreiht, wird – nach einem wie immer anfänglich gesetzten und in allen drei Bänden beständig verwendeten Warhol-Zitat: ›and trying/to figure out what/was happening – and taping it all.‹ – nur durch den Einschub von Daten und Überschriften geordnet, wobei bestimmten Daten nochmals abgrenzende Bilder folgen, die zumeist die Frontseite eines Schreibhefts der Firma Brunnen zeigen, auf welcher der Titel ›Festung‹ sowie eine römische Ziffer vermerkt ist.132 Bedeutsam ist hier also wieder eine Gliederung, die sich u.a. an Datumsangaben orientiert, sowie der auf den Werkzusammenhang hinweisende Gebrauch der Überschrift ›Festung‹ für die Notizhefte, die die Einschubbilder zwischen den Kapiteln von 1989 bilden. Die drei großen Teile des ›Materials 1989‹ stellt Krankenhagen nun den drei Teilstücken der Theatertrilogie Festung gegenüber, die sich, analog zur Fernsehmitschrift, traditionellen Dramenmustern, d.h. etwa einer ausgearbeiteten Figurenkonstellation und einem geradlinigen Handlungsverlauf, zu verweigern scheinen. 1989 stellt eine Art Steinbruch des Rohstoffs dar, aus dem für die Stücktrilogie das Material gewonnen wird. Selbstredend ist auch den Stücken von Festung ein einleitendes Zitat vorangestellt,133 auf das die drei Teile durch Abgrenzung von Bildern (vermutlich wieder von Goetz gemalt), einer jeweiligen Titelseite, jeweils einem Personenverzeichnis und einem weiteren Zitat folgen. Die Akteure in Kritik in Festung, dem ersten Teilstück, entsprechen erneut einer Dreiergruppe – ›Schwester, drei Brüder, der Alte‹ –, die Krankenhagen als Spiegel für den Aufbau des gesamten Komplexes liest: Die ›Schwester‹ repräsentiert das Theaterstück Festung, die ›drei Brüder‹ stellen die Bände von 1989 dar und ›der Alte‹ korrespondiert mit den versammelten Berichten Kronos, die sich, das sei nebenbei festgestellt, aus drei Mal drei Texten zusammensetzen, die nach ihrem Erscheinen in Zeitschriften und Magazinen erneut und zusammen veröffentlicht werden. Kritik in Festung verfügt über mit römischen Zahlen von I bis III benannte Akte, die in einen, drei bzw. fünf weitere Abschnitte untergliedert sind. Das Teilstück Festung setzt sich aus den Akten I bis V zusammen, die über fünf, zwei, drei, vier 132
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Diese Ziffern folgen zwar einer Chronologie, jedoch keiner, die ohne Lücken auskommt. Der erste Band von 1989 verzeichnet die fünf Bilder ›Actas‹, ›Festung V‹, ›Festung VII‹, ›Festung IX‹ und ›Festung XII‹, im zweiten Band sind es die sieben Bilder ›Festung XIV‹, ›Festung XVII‹, ›Festung XVIII‹, ›Festung XIX‹, ›Festung XX‹, ›Festung XXI‹, ›Festung XXIV‹, und im dritten Band schließlich wieder fünf Bilder ›Festung XXV‹, ›Festung XXVI‹, ›Festung XXIX‹, ›Festung XXXII‹ sowie ›Festung XXXIV‹. Auch dieses Zitat entstammt einem musikalischen Kontext, es bezeichnet eine Zeile aus dem Song »We came in Peace« des Eurodance-Duos Dance 2 Trance.
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und wieder fünf Untergliederungen verfügen. Katarakt besteht aus lediglich einem Akt, der allerdings eine Unterteilung in Szenen von I bis XI aufweist. Ähnlich wie Weber bedient sich Krankenhagen des Werkzeugs der arithmetischen Mittelung, um das Textganze zu erschließen. Auch er stellt dabei die Bedeutung der Mathematik für den Text durch textimmanente Verweise heraus. Beispielsweise ist das arithmetische Mittel von Kritik in Festung der II. von drei Akten, darin die zweite von drei Szenen, betitelt mit ›Theoretisches Theater‹, darin der zweite von drei durch weitere Überschriften gekennzeichnete Abschnitt, benannt mit »Cübik Olympic Original« (so der Titel einer Single der britischen Elektro-Formation 808 State von 1990), und darin schließlich der zweite von drei Teilen des Monologs der Figur ›Der Alte‹.134 In diesem Abschnitt findet sich eine geradezu doppelte Parabel, sie ist mathematisch wie rhetorisch (Abb. 16). Die mathematische Funktionsgleichung y = x2 bildet eine Parabel ab, so wie auch das Bild des zitierten Textes Parabelbögen im Verlauf darstellt. Krankenhagen hebt aber nicht nur den Bezug zur Mathematik hervor, sondern errechnet aus den Zahlenangaben ›eins‹, ›ein Neuntel‹ und ›im Achsenkreuz des zwanzigsten Jahrhunderts‹ die Jahreszahl 1950. Zu dieser Zeit wurde, so geht der Abschnitt des Monologs weiter, »in dieser Wiege der/Geschichte allen Menschen/die relativ normale Sache der Sprache/auf sensationell alltägliche Weise elektrisch/neu geboren […] als der absolut ideal reale/Grundgott/Kommunikation«135 , womit Krankenhagen das Fernsehen gleichsetzt. Dieser Mitte des ersten Teilstücks der Theatertrilogie stellt er daraufhin die Mitte des ersten Teilstücks der Fernsehmitschrift 1989 gegenüber. Dessen Ordnung ergibt sich neben den oben genannten Daten aus gefetteten Überschriften, die für Krankenhagen eigenständige Bilder (Szenen) sind, und von denen der erste Band 153 aufweist. Das 77. Bild – die Mitte von 153 –, überschrieben mit ›Theater der Welt‹, eröffnet mit der Zeile »Brüder und Schwestern«136 (man denke hier an die Analogie zwischen dem Personal des Stücks Kritik in Festung und der Anlage des Komplexes FESTUNG) ebenfalls einen Fernsehmoment: »das tägliche Fernsehen begann am fünfundzwanzigsten Dezember neunzehnhundertzweiundfünfzig mit einem Programm des Nordwestdeutschen Rundfunks.«137 Die errechnete Jahreszahl aus Kritik in Festung stimmt somit in etwa mit der in 1989.1 getroffenen Aussage zum Beginn des täglichen Fernsehens überein, das, so wertet es Krankenhagen, zum Theater der Welt bei Goetz wird. »›Ein neues Weltzeitalter hat um 1950 begonnen‹«138 , heißt es an anderer Stelle in 1989.1.
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Die drei Teile werden durch die drei Mal angeführte Benennung der Figur, obwohl sich diese nicht ändert, eingeleitet. Goetz, Festung, S. 54. Goetz, 1989.1, S. 314. Ebd. Ebd., S. 30. Vgl. ausführlicher zur Bedeutung des Fernsehens bei Goetz Kap. 5.1 dieser Arbeit.
2. Zahlen
Abbildung 16: Parabel aus der Stücktrilogie Festung.
Beispielhaft sei hier auf nur noch auf eines der weiteren nennenswerten Ergebnisse von Krankenhagens Studie verwiesen: Nimmt man die Trennung der Abschnitte von 1989 durch die Bilder ernst, besteht die Fernsehmitschrift insgesamt aus 17 Heften: fünf Hefte im ersten, sieben Hefte im zweiten und wiederum fünf Hefte im dritten Band. Als arithmetisches Mittel dieser 17 Hefte ergibt sich das neunte Heft, also das vierte Heft aus Band 1989.2. Ausgerechnet dieses Heft ist auch
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das arithmetische Mittel des gesamten Komplexes, wenn man die insgesamt neun Akte des Theaterstücks mit den 17 Heften des Materials sowie den neun Berichten aus Kronos zusammennimmt. Darüberhinaus reflektiert dieses vierte Heft, das aus 35 Bildern besteht, die Krankenhagen wiederum anhand der gefetteten Überschriften voneinander abgrenzt, dann auch den Aufbau des gesamten Komplexes (9 Akte plus 17 Hefte plus 9 Berichte ergibt 35). Das arithmetische Mittel dieses Heftes, das achtzehnte Bild, trägt den Titel »singend in den Tod«139 und zitiert einen Text, der auf den Auschwitz-Überlebenden Filip Müller zurückgeht. Filip Müller kommt als Stimme und/oder Gesicht – denn im Teilstück Festung bilden lediglich jene die Identifikationsmerkmale für die dramatis personae – als ›Zeuge‹, ›Filip Müller‹ und ›Zeuge Filip Müller‹140 auch im zweiten Teil der Stücktrilogie vor, und just auch in dem Akt, der das Zentrum des gesamten Stücks bildet. Addiert man die Akte der jeweiligen Teilstücke, besteht Festung aus insgesamt neun Akten, deren Mitte der fünfte Akt, also der II. Akt des zweiten Teilstücks ist. An dessen Ende sind in der Szene ›2 Vernichtung‹ dem ›Zeugen‹ die folgenden Worte zugeschrieben: »und plötzlich hörte ich/wie ein Chor/fängt/fängt an/wie ein Chor/fängen an sich singen/ein Gesang/verbreitet sich/in dem//ab stellen//da sagte eine/du willst ja sterben/aber«141 . Die Mitte des gesamten Komplexes, das 18. Bild im vierten Heft des zweiten Bandes von 1989.2, hat dann sein Korrelat des singenden in-den-TodGehens in der Mitte der Trilogie Festung. Weil Goetz mit der ›Zeugen‹-Aussage in Festung den genauen Wortlaut eines Berichts Filip Müllers aus Claude Lanzmanns Film Shoah zitiert, verweist Krankenhagen hier noch einmal auf das seiner Annahme nach übergeordnete Anliegen der Werkreihe Festung, nämlich: Die Präsentation einer sekundären Darstellungsform von Auschwitz, die sich mit den primären Zeugnissen der Darstellung des Holocaust auseinandersetzt. Da die primären Zeugnisse ›nur‹ Darstellungen des Erlebten sind, wäre Goetz’ Position in dieser Auseinandersetzung sogar noch in einer höheren, will meinen: dritten, Ebene anzusiedeln, die eine Darstellung der Darstellung des Erlebten anstrebt, vergleichbar mit einer Beobachtung dritter Ordnung. Goetz potenziere, so Krankenhagen, »das Reden über Vernichtung, so daß es sich schließlich […] aufhebt. Sinnvolle Kommunikation über Vernichtung [so das Zitat aus dem Text auf der Rückseite des Buchumschlags, L.H.] findet in Festung gerade nicht statt«142 . Erneut changiert das Textganze damit zwischen Hermetik und Offenheit; von Neuem wird damit das Stück »über den eigentlichen Theatertext hinaus ›gedehnt‹«143 , so die These Klessingers – es öffnet sich einer Interpretation bzw. Inszenierung, welche die anderen Elemente des Komplexes mitein139 140 141 142 143
Rainald Goetz: 1989.2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 288. Vgl. Goetz, Festung, S. 161, 163, 207. Ebd., S. 161. Krankenhagen, Auschwitz darstellen, S. 127f. Klessinger, Postdramatik, S. 237, Fn 134.
2. Zahlen
bezieht, und gleichzeitig einer Deutung, die das dem Gefüge den Titel gebende Theaterstück in sein Zentrum setzt. In einer weiteren Analogie zur Trilogie Krieg verändert sich auch die Anlage des Stücks Festung, allerdings in einer leicht abgewandelten Reihung, von einer innerfamiliären Kommunikation über die öffentliche Rede über Vernichtung hin zum Monolog. Und wie schon für den vorangegangenen Werkkomplex gezeigt, ist »die inhaltliche Sinnlosigkeit der dezentrierten Textbruchstücke […] durch eine mathematisch zu ermittelnde Ordnung aufgehoben, die die einzelnen Bestandteile der Gesamt-Festung aufeinander bezieht.«144 Damit ließe sich dann auch der oben genannte Aspekt der Relevanz der Dreiteilung von 1989 für die Interpretation des Theaterstücks bzw. des Komplexes FESTUNG erklären: Wäre 1989 in nur einem Band erschienen, hätte man die einzelnen Teile der Fernsehmitschrift nicht ohne Weiteres den einzelnen Teilen des Dramentextes gegenüberstellen können. Dass darüber hinaus auch schon der auf FESTUNG folgende Buchkomplex HEUTE MORGEN, dessen Inhalte gemeinhin im Feld der Nachtlebenerlebnisse der 1990er Jahre angesiedelt werden, in den ›Berichten‹ Kronos vorweggenommen ist, kann eine Passage aus dem Text Ästhetisches System demonstrieren. Ästhetisches System ist Überschrift des Beitrags wie Titel der zweiten CD aus der Compilation Word, die Goetz mit den Musikern Oliver Lieb und Stevie Be Zet 1994 auf Sven Väths Label Eye Q Records eingespielt hat – zu Textsegmenten aus Kronos (die Bonus-CD enthält zudem eine Lesung des Einakters Katarakt) erklingen Techno- und Ambient-Beats. Obwohl die CD deshalb eigentlich klar dem Buch FESTUNG zugeordnet werden müsste, taucht sie in keiner der Gesamtwerklisten, die Goetz eigenhändig führt, auf. Da Kronos chronologisch als der letzte Band des Buchs FESTUNG geführt wird, kann die folgende Passage – einhellig auch mit den Klängen der CD Word – als eine Art Voraussicht auf das gelesen werden, was der Komplex HEUTE MORGEN beinhalten wird, und trägt damit ein weiteres Mal den Gedanken, dass das Gesamtwerk von Goetz motivisch und strikten Zahlenschemata folgend durchkomponiert ist:145 Wolli wußte im übrigen ziemlich genau, was er so in etwa lesen wollte, und hatte sicherheitshalber sowas schon mal kurz in Auftrag gegeben mehrfach, konzeptmäßig jedenfalls zumindest. Bitte keine Bücher über hundert Seiten, keine Reflexionen. […] Mehr so einfach ganz normale lässige Typen, WIE WIR, ha ha ha./Das gab es tatsächlich noch nicht, uns und das, was wir so gelebt hatten, die letzten drei, vier Jahre. Müßte doch endlich mal wer machen vielleicht, könnte ja vielleicht mal einer schreiben, den geilen Realreißer aus der Technowelt. Drogen, Sex, Musik; Party, Liebe, Plattenladen; Club, Klamotten, Internationalität. Miami, 144 Krankenhagen, Auschwitz darstellen, S. 124. 145 Kreknin bezeichnet diesen Abschnitt, wohlgemerkt retrospektiv gesehen, als eine Art Cliffhanger, vgl. Kreknin, Poetiken des Selbst, S. 185.
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Frankfurt, München, London, Ibiza, Berlin. […] Nicht zu viel Stakkato natürlich, sagte Wolli, um die Serie allzu kurzer Gehetzsätze gerade noch rechtzeitig zu unterbrechen, bevor sie umkippte ins Ironische. War ja ernst gemeint, das Ganze. Würde ja auch irgendwer machen irgendwann hoffentlich, völlig klar. Müßte nur wirklich extrem SAUGUT gemacht werden. Am besten natürlich vielleicht doch direkt wirklich von uns selbst. Abgemacht.146
2.2.5
HEUTE MORGEN und SCHLUCHT
Stellt man auch die nächstfolgende Werkgruppe HEUTE MORGEN in eine Reihe mit den anderen beiden Komplexen, so fallen augenscheinlich zunächst einige Gemeinsamkeiten auf, die einer Erwähnung bedürfen. Allerdings ziehen diese auch direkt Unterschiede nach sich, die nicht zuletzt eine Begründung für die Zentralstellung von HEUTE MORGEN in dieser Arbeit liefern. Selbstredend besteht auch die fünfte Werkgruppe aus unterschiedlichen Textformaten, zu denen ein Theaterstück, Jeff Koons, genauso gehört wie die zusammenfassende, nochmalige Veröffentlichung von Magazin- und Zeitungsbeiträgen, Celebration. Ebenfalls verfügt HEUTE MORGEN über eine – zumindest in ähnlicher Weise angelegte – Fortsetzung von 1989: der Weblog und spätere Roman Abfall für alle.147 Im Unterschied zu KRIEG und FESTUNG aber, bei denen der für die Werkgruppen so wichtige Theatertext an erster Stelle im Gefüge steht, findet sich Jeff Koons in HEUTE MORGEN – eingerahmt von den beiden Erzählungen Rave und Dekonspiratione – an zweiter Stelle des Komplexes wieder. Ihn dennoch in das Zentrum der Werkgruppe (hier gleichbedeutend mit Mitte verstanden) zu rücken, ermöglicht wiederum der Kontext, den Goetz mit den zum Gefüge gehörenden Bänden stellt. Jeff Koons ist dann zum ersten Mal auch keine Trilogie von Stücken mehr, sondern ein einzelner Dramentext. In Abfall für alle heißt es dazu: »[M]al EIN Stück machen, nicht eine Trilogie, eines, in dem aber das Gesellschaftsstück, das Familienstück und das Monologstück zusammen kommen.« (Afa, 114) Abgesehen vom kompositionellen Anschluss an die vorangegangenen Buchkomplexe, stellt der Theatertext Jeff Koons dennoch eine Neuerung, auch in Bezug auf die Konstruktion der gesamten Werkgruppe, dar. Aufgrund der sukzessiven Veröffentlichungsweise des Komplexes ist es beispielsweise fraglich, ob sich – ähnlich wie bei FESTUNG – eine parallele Lektüre der sieben Akte des Stücks mit den 146 Goetz, Kronos, S. 385f. 147 Denkt man die strukturelle Beziehung zwischen diesen, nach Daten gegliederten Komplexbestandteilen bis zum Werkkomplex SCHLUCHT, d.h. dem Weblog Klage, weiter, ergibt sich ein Abstand von fast genau neun Jahren zwischen 1989, Abfall für alle und Klage: 1989 beginnt am 10.02.1989, Abfall für alle am 04.02.1998 und Klage am 01.02.2007. In Klage selbst nennt Goetz die drei Bücher seine »drei Altäre im Neunjahresabstand: 1989, Abfall, Klage.« (Rainald Goetz: Klage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 162)
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sieben Teilen von Abfall für alle anbietet, schließlich erscheinen beide Bände (bzw. ein Band und das Weblog) nicht zur gleichen Zeit, sondern nacheinander. Die von Albert Oehlen gestaltete Kassette, die die fünf Suhrkamp-Bände der Reihe bündelt, wird erst im April 2004 veröffentlicht. Auch bleibt aufzuschlüsseln, wie die beiden Erzählungen Rave und Dekonspiratione sich im Verhältnis zum Theaterstück einordnen lassen, da alle vorangegangenen Buchkomplexe keine Erzählungen beinhalteten, und welche Rolle die Merve-Ergänzungsbände Mix, Cuts & Scratches sowie Jahrzehnt der schönen Frauen spielen. Die Werkgruppe SCHLUCHT verfügt nur über wenige Auffälligkeiten hinsichtlich der Verwendung von Zahlen. Da sie möglicherweise auch noch nicht abgeschlossen ist, erfährt sie hier nur wenig Aufmerksamkeit. Dennoch schreiben manche Beobachtungen an diesem Buchkomplex die bisherigen Erkenntnisse fort. An das Schema von Abfall für alle anschließend, ist die erste SCHLUCHT-Publikation – Klage von 2008 – wiederum ein Weblog, das regelmäßig erscheint, dieses Mal auf den Webseiten der von Ulf Poschardt damals neu entwickelten, deutschen Ausgabe der Vanity Fair. Obwohl der Text keine offensichtliche Drei-, Fünf- oder Siebenteilung erfährt, sondern ausschließlich anhand gefetteter Überschriften und Datumsangaben gegliedert ist, wird auch hierin auf die Form angespielt: Illegal wollen wir, schreibt Luhmann, ein Verhalten nennen, das formale Erwartungen verletzt. Dazu müssen wir die Augen zunächst an ein gewisses Zwielicht gewöhnen. Anlässlich des Todes von Paul Watzlawick: in Luhmanns frühem Buch, dem unwahrscheinlichsten Büroroman FUNKTION UND FOLGEN FORMALER ORGANISATION, zu lesen. Diese Theorie, die im Moment so sehr verschwunden ist, wird, davon ist der Gläubige durchdrungen, wiederauferstehen irgendwann, spätestens am dritten Tag.148 Loslabern, als zweite Veröffentlichung der Reihe, ist indes nach einem Dreierschema organisiert: Die drei, mit römischen Ziffern belegten Kapitel – in diesem Falle nur durch ein einziges gemeinsames Zitat und Bild eingeleitet – warten mit je vier weiteren nummerierten Abschnitten auf. Auch der Fotoband elfter september 2010 folgt diesem Aufbau nahezu deckungsgleich: Auf die römische Kapitelzählung mit Überschriften folgen im ersten Kapitel Fotos aus den Jahren 2000, 2001, 2002 und 2003, im zweiten Kapitel Fotos aus den Jahren 2004, 2005, 2006 und 2007 und im letzten Kapitel Fotos aus den verbleibenden Jahren 2008, 2009 und 2010 (der Fotoband erscheint 2010), womit allein das letzte Kapitel von der Untergliederung in vier Jahre abweicht. Die bisher letzte Veröffentlichung Johann Holtrop folgt einer Dreiteilung, hier sind die Kapitel nach einem alle Teile einleitenden Zitat aber wiederum durch jeweils eine Zeichnung voneinander geschieden. Der Roman gilt
148 Ebd., S. 91.
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als Zäsur im Goetz’schen Werk, stellt er doch den ersten ›richtigen‹, d.h. durchweg erzählenden Roman in seinem Schaffen dar. Der Einschnitt ist auch insofern signifikant, als dass nach Johann Holtrop von Goetz bislang nur noch ein Aufsatz in der Texte zur Kunst-Ausgabe zum Thema Spekulation (März 2014) sowie der Wortlaut der Dankrede zum Georg-Büchner-Preis auf der Webseite der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und später in der FAZ (November 2015) erschienen sind. Eine weitere Buchpublikation ist bisher weder veröffentlicht noch angekündigt. Die strukturellen Parallelen in der Anlage der Werke Goetz’ zwingen förmlich dazu, nach inhaltlichen Verbindungslinien zwischen den Teilbänden zu suchen. Die Analyse der Verwendung und Funktion der Zahlen macht es damit möglich, aus der Menge an Material, das sich aus Alltagsmitschriften, Theorieversatzstücken und Fernsehabschriften, erzählenden Sequenzen, Gedichten und vielen weiteren Elementen speist, wichtige Fluchtpunkte herauszufiltern, die ansonsten in der Masse an Text wenn nicht untergehen, dann doch nur gleichwertig neben allem anderen stehen würden. Die Umgebung für die herauszuschälenden Punkte bleibt dabei weiter reich an allen nur denkbaren Verweisen, doch werden tatsächlich nur jene einzeln aufgelöst, die dank eines auf Symmetrien oder Mittelpunkte hin angelegten Textaufbaus im Fokus stehen. Für die Werkgruppe HEUTE MORGEN erfolgt eine solche Betrachtung nun anhand der aus der Genese des Gesamtwerks vorgezeichneten Zahlen 3, 5 und 7, aus deren Verwendung sich erneut auf Zentralstellen schließen lässt. Im Buchkomplex kommen alle für den Autor typischen Ausprägungen seiner Zahlenpoetik vor – sowohl die Werkverzeichnisse der einzelnen Teilbände als auch die Oberflächenrasterungen der Texte öffnen sich für eine Zahlenanalyse, in den Texten selbst sind Zahlen vor allem in Datumsnotaten und Umschreibungen gegeben. Das Theaterstück Jeff Koons ist der auffallendste Träger eines Formenspiels anhand von Zahlen.
2.3
HEUTE MORGEN: Sukzession und Widerstand
Eine der wichtigen Neuerungen der Werkgruppe HEUTE MORGEN ist, wie bereits vorausgeschickt, dass die Bände nicht gebündelt, wie noch zuvor bei KRIEG und FESTUNG, sondern sukzessive veröffentlicht werden. Anhand der Gestaltung der Einbände bzw. Umschläge der Teilbände ist offensichtlich, dass sie trotz der parzellierten Erscheinungsweise ein Buchganzes bilden. Das zeigen außerdem auch die Werkverzeichnisse, die den Erstausgaben der Teilbände im Paratext vorangestellt sind. Von Anfang an, so ist daraus ersichtlich, gibt es einen dem Buchkomplex zugrundeliegenden Plan, der nach und nach erfüllt wird, aber durchaus kleinere Änderungen erfährt. Rainer Kühn zieht einen Vergleich zur Vorgänger-Serie FESTUNG und schlussfolgert, dass sich beide Werkkomplexe von gänzlich verschie-
2. Zahlen
denen Konstrukten herleiten: »›Heute morgen‹ […] ist keine ›Festung‹ mehr, kein streng durchkonstruiertes Modell, kein mit dem Anspruch auf Totalität und Wahrheit erstelltes Gesamtwerk, sondern ein luftiger Bau, ein Spinnennetz, täglich aufund abbaubar.«149 Diese Ansicht wird sich jedoch als haltlos erweisen. Die erste Veröffentlichung der Werkgruppe, die Erzählung 5.1 Rave von 1998, verspricht noch folgenden Plan des Buchganzen (Abb. 17).
Abbildung 17: Werkverzeichnis aus Rave (1998).
Neben einem Theaterstück und einer weiteren Erzählung sind ein Weblog, eine Schallplatten-Serie, die Frankfurter Poetikvorlesung sowie ein Interviewband als Teile des Gesamten des Buchs geplant. Auffällig ist, dass die Stelle 5.4 in dieser Gliederung noch fehlt: Das Weblog, die Schallplatten-Reihe und die Poetikvorlesung bilden Untergliederungen zu 5.4, dieser ist als übergeordneter Punkt hier allerdings noch nicht angegeben. Die Unterpunkte decken indes unterschiedliche Formate ab, die das Medium des gedruckten Textes erweitern. Die Medienvielfalt (Weblog, Schallplatte, zunächst nur mündlich vorgetragene Poetikveranstaltung) fällt mit dem Anspruch des Buchs HEUTE MORGEN – das ›Ganze der Gegenwart‹ der späten 1990er Jahre abzubilden – zusammen. Die 12-inch-Serie ist allein von ihrem Titel her wohl als Verlängerung der CD Word, die Goetz zwischen FESTUNG und HEUTE MORGEN veröffentlicht hatte, gedacht. Als ›bereits erschienen‹ sind im Plan von Rave Artikel und Reportagen aufgelistet, die gleichermaßen nach FESTUNG publiziert wurden und bei denen – in Analogie zu den vorangegangenen
149 Rainer Kühn: Goetz, Rainald. In: Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Stand des Essays: 01.11.2004). URL: www.munzinger.de/document/16000000182 (01.12.2019), S. 6.
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Buchkomplexen – davon ausgegangen werden kann, dass sie einen vereinten Wiederabdruck in einem Sammelband erfahren. Bereits in der darauffolgenden Veröffentlichung, dem Theaterstück 5.2 Jeff Koons, das ebenfalls 1998 erscheint, entfällt diese letzte Auflistung der Magazin- und Zeitungsbeiträge komplett (Abb. 18).
Abbildung 18: Werkverzeichnis aus Jeff Koons (1998).
Die Stelle 5.4 ist nun für einen Titel reserviert, der im Plan davor dem Namen nach noch keinerlei Erwähnung fand und der im selben Jahr wie Jeff Koons veröffentlicht wird: Celebration. Dieser Band enthält alle in Rave als ›bereits erschienen‹ nachgewiesenen Texte, ergänzt um die Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Goetz und seinem Künstlerfreund Albert Oehlen. Wie bei den Textsammlungen Hirn und Kronos erhalten diese Texte in der Veröffentlichung als ein Band eine Verbindung, die dem Integraltext gleicht, nur auf einer Ebene unter dem Buchganzen. Achim Stricker sieht in diesem Vorgehen eine Analogie zur Systemtheorie Luhmann’scher Prägung, nämlich einen re-entry in der Textzirkulation: »Es geht weniger um Zitat oder Reproduktion, sondern um Überlagerungen, die wiederum neue Signifikationsprozesse, Vernetzungen und Kontextualisierungen auslösen. Bereits publizierte Artikel werden neu installiert und gerahmt.«150 Die verstreuten Texte, die zuvor Epitexte waren, erfahren eine Transformation und sind nicht mehr nur Teil des bisherigen Gesamtwerks, sondern werden dezidiert Komponente eines bestimmten Buchs.151 Alles bereits veröffentlichte Material findet, aus seiner ursprünglichen Umgebung herausgelöst, so Eintritt in einen größeren Materialkontext und ruft ein neues Netzwerk an Assoziationen hervor. Das hat zur Konsequenz, dass die wiederveröffentlichten Texte anders gelesen werden müssen als ihre Originale, weil sie in einem Buchzusammenhang stehen und von den Texten, 150 Stricker, Text-Raum, S. 288. 151 Vgl. zur Verbindung von Epitext und Werk sowie Paratext und Buch Kap. 1.1 dieser Arbeit.
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die unmittelbar um sie herum angeordnet werden, genauso beeinflusst sind wie sie diese Umgebungen mit beeinflussen.152 Vergleichbar ist das mit den Überlegungen, die Gunter Martens in einem Aufsatz zum editorischen Begriff des Textes darlegt. Martens plädiert für einen komplexen Textbegriff, der Statik und Dynamik eines Textes zu einer spannungsreichen Einheit verbindet, also auf der einen Seite die Geschlossenheit einer einzelnen Fassung eines Textes wie auf der anderen Seite dessen Genese mit verschiedenen Werkstufen und der Bedeutung, die diese an den Text abgeben, vereint. »[E]rst ein komplexer Textbegriff, der das Zusammenwirken von Festgefügtheit und entgrenzender Bewegung, von syntagmatischer Geschlossenheit und paradigmatischer Polyvalenz faßt, vermag dem Kunstcharakter eines Textes gerecht zu werden.«153 Die Texte, die Goetz dem Massenphänomen Techno widmet, haben ihren Platz auf diese Weise in demselben Rahmen wie die Unterhaltung mit dem der Gruppe der ›Neuen Wilden‹ zugehörigen Oehlen und die Kritik an Goetz’ Hymne auf die Love Parade, der er sich per Fax-Interview mit dem Magazin Texte zur Kunst stellt. Deutlich wird hier bereits die Musik – das nächtliche Feiern, der Rausch und das Populäre – mit avantgardistischer Kunst – respektive der Kunst als Tagwerk – in einen Zusammenhang gebracht. Dass Goetz in seinem System das Internettagebuch Abfall für alle, die Word-Serie sowie die Frankfurter Poetikvorlesung der Bezifferung von 5.4 Celebration als 5.4.1, 5.4.2 und 5.4.3 unterordnet, ist derselben Strategie zuzurechnen. Wieder fallen die der Kunst-Seite zugehörigen Veröffentlichungen des Weblogs als Literatur und der Frankfurter Vorlesung als Poetik dann mit Musik zusammen. Die Poetikveranstaltung ist in diesem Plan schon als ›bereits erschienen‹ angegeben, weil Goetz die Vorlesungen an der Goethe-Universität noch vor Erscheinen von Jeff Koons gehalten hat. Der noch in Rave angegebene Titel der Vorlesung, Ästhetische Praxis. Praxis Dr. Wirr, wird nach ›Veröffentlichung‹ allerdings nur noch verkürzt wiedergegeben. Der Werkplan in 5.4 Celebration verzeichnet neuerlich leichte Änderungen (Abb. 19): Das fast ein Jahr lang laufende Blog Abfall für alle ist im Netz abgeschlossen, soll aber mit dem Untertitel ›Roman eines Jahres‹ – und in der Systematik als Unterpunkt zum Blog als Website – in Form einer CD-ROM noch einmal veröffentlicht werden. Des Weiteren ist auch ein erster Teil der Schallplatten-Serie, Word II. liegen. geht, publiziert, während sieben weitere geplante Singles noch auf eine Veröffentlichung warten. Laut Auskunft des Suhrkamp Verlags ist die LP als Maxi-Single auf Westbams Label Low Spirit erschienen. Nach Angaben des Labels war die Auflage
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Kreknin meint übereinstimmend, dass die genuin journalistischen Texte einen Teil ihrer Gattungskonnotation an den gesamten Buchkomplex HEUTE MORGEN abgeben würden, vgl. Kreknin, Poetiken des Selbst, S. 197. Gunter Martens: Was ist ein Text? Ansätze zur Bestimmung eines Leitbegriffs der Textphilologie. In: Poetica 21 (1989), S. 1-25, hier S. 19f.
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Abbildung 19: Werkverzeichnis aus Celebration (1999).
jedoch so gering, dass die LP heute weder erhältlich noch in der Diskografie des Labels verzeichnet ist.154 Ein Bild aus dem Fotoband elfter september 2010 belegt, dass es eine Release-Party zur Veröffentlichung der Platte gegeben haben muss, bei der auch Westbam mitwirkte, und zwar als bildender Künstler: Das Foto zeigt einen Flyer, der Selbstbildnisse von Westbam sowie die Single word 2: liegen geht von Goetz für den April 1999 in der Berliner Galerie berlintokyo ankündigt: »neue bilder: neue platte: silent techno.«155 Ein Bildband zur Erinnerung an die Galerie berlintokyo, die kurz nach der Release-Feier der Platte im Mai 1999 schließt, zeigt Goetz und Westbam beim Auflegen am Release-Abend, Goetz war für das Warm-up zuständig.156 Die bei der Party veröffentlichte Schallplatte sowie ihre geplanten Nachfolger sind im Werkplan der nächstfolgenden Publikation gänzlich gestrichen. 5.5 Abfall für alle in der Veröffentlichung als Buch ist ein geradezu vereinfachtes Schema zu entnehmen (Abb. 20). Das Weblog erscheint nun nicht mehr als CD-ROM, auch die Internetpräsenz ist nicht mehr abrufbar. Das Material wird schließlich doch zwischen zwei rote Buchdeckel gepackt und als gedruckter Text publiziert. Seit dem Start des Projekts hatte Goetz mit der »STEINZEIT der elektronischen Welt« (Afa, 41) gehadert; er schreibt die Blogeinträge zwar fleißig, im Netz sind sie jedoch aufgrund der technologischen Infrastruktur, der es noch an Stabilität mangelt, lange nicht abrufbar. Am 17. Februar 1998 schreibt er einmal ganz hoffnungsvoll: »1719 jetzt/steht also der
154 155 156
Vgl. die E-Mail-Korrespondenz der Autorin mit der Low Spirit Recordings GmbH vom 14. Oktober 2013. Rainald Goetz: elfter september 2010. Bilder eines Jahrzehnts. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 57. Vgl. Galerie berlintokyo. Fotos von Martin Eberle. Berlin: Drittel Books 2013 [ohne Seitenangaben].
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Abbildung 20: Werkverzeichnis aus Abfall für alle (1999).
erste Abfall im Netz – beim Versuch den zweiten gleich hinterher zu schicken meldete das Programm in riesigen Buchstaben:/Error: script/www.suewestnet.de/rainaldgoetz/scripts/add.pl/encountered FATAL ERROR« (Afa, 61). Tatsächlich geht das Blog erst Ende März 1998 online.157 Die Transformation in ein neues Medium, die nachträgliche Herausgabe als Buch, stellte zwingend Ansprüche an die Form, weil das zu druckende Textvolumen groß war. Vor diesem Hintergrund fällt vor allem das Textbild von Abfall für alle auf, »der Text ist in Arial gesetzt, die Typographie ist extrem uneben«, man habe, so Bunia, »ein hässliches Buch aufgeschlagen.«158 Wenn der Text auch sehr gedrungen gedruckt ist, kann er durch die Umschlaggestaltung direkt von außen der HEUTE MORGEN-Reihe zugeordnet werden, das Internet hatte diese Möglichkeit nicht geboten. Ausschlaggebend für die Publikation als Buch könnte außerdem die Blätterbarkeit gewesen sein, die Schulz als die das Medium Buch von allen anderen Medien unterscheidende Eigenschaft, ja als Alleinstellungsmerkmal überhaupt, herausstellt.159 In Abfall für alle lässt Goetz über das ›Blätterbuch‹ 1989 verlauten: Ich kann immer gar nicht verstehen, wie jemand auf die Idee kommt, ein so angelegtes Buch DURCH zu lesen. Sich damit abzuquälen. Ich dachte, das wäre völlig klar, wie das da geht, wie das gemacht und gedacht ist: aufschlagen irgendwo, eine dieser Wort-Bild-Doppelseiten sehen, an irgendeinem Wort hängen bleiben, 157 158
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Vgl. Schumacher, Gerade Eben Jetzt, S. 116, Fn 9. Remigius Bunia: Das Buch als globales Ding (bei Rainald Goetz und Walter Moers). Globalisierung als Ende des dingfeindlichen Fundamentalismus der westlichen Kultur. In: Wilhelm Amann/Georg Mein/Rolf Parr (Hg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur: Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Heidelberg: Synchron 2010, S. 303-320, hier S. 311. Vgl. Schulz, Poetiken des Blätterns, S. 29f.
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um das herum bißchen rumkucken und rumlesen, bißchen blättern zuschlagen, fertig. Dann liegt das wieder irgendwo rum, und man weiß, wenn man da reinblättert, kann man gute Laune davon kriegen. (Afa, 464) Zwar wird das Browsing im Netz üblicherweise sogar mit ›Blättern‹ übersetzt, doch war das Aufschlagen an irgendeiner Stelle in der Internetversion von Abfall für alle gar nicht möglich. Schumacher berichtet: »Beim Anwählen von www.rainaldgoetz.de landete man zunächst unweigerlich auf der Startseite, die automatisch den jeweils aktuellen Eintrag zum gerade vergangenen Tag geladen hat. Erst von dort aus konnten andere Seiten über einen Datumsindex gezielt angewählt werden.«160 Nur die Form des gedruckten Buchs macht das Blättern, das der Vorstellung des Autors entspricht, möglich. Lothar Müller charakterisiert Goetz ohnehin als einen ›Papierarbeiter‹, dem die Publikation im Netz oder auf einer CD-ROM nicht genügen kann. Davon zeugen die im Weblog Abfall für alle fortlaufend erwähnten Korrekturfahnen seiner Veröffentlichungen, die ihm per Kurier vom Verlag zugeschickt werden, die eingehenden Faxe und Erwähnungen von Zeitungskiosken und Buchläden, an die Wand zu pinnenden Zetteln und des häufig zu reparierenden Druckers. Müller schlussfolgert: Die materielle Rückbindung des Autors an die Papierwelt geht in der »Steinzeit der elektronischen Welt« mit der Rückbindung an die symbolische Form des Buches einher. Noch hat sich die Figur des Autors von der Vorstellung des auf Papier gedruckten Buches nicht abgelöst. Das Internet-Tagebuch konnte in das Werk des Autors Rainald Goetz nur eingehen, indem es Buchform annahm.161 In einem Interview gibt Goetz auf die Frage, warum Abfall für alle doch als Buch erschienen ist, zu verstehen: »›Abfall‹ war, ohne Buch zu sein, letztlich für mich noch nicht in der richtigen Endgültigkeitsform.« (Jdsf, 154) Goetz sieht davon ab, die Ordnungszahl 5.4 weiter aufzufächern und damit dem ursprünglich über den gedruckten Text hinausgehenden Material einen einheitlichen Platz im System einzuräumen. Stattdessen erhält Abfall für alle anstelle von Sex und Gnade die fünfte Ordnungszahl der Reihe; zur Veröffentlichung der geplanten sieben Interviews unter letzterem Titel kommt es nicht, in gleicher Weise wird die Word-Serie nicht fortgesetzt.162 Die Frankfurter Poetikvorlesung Praxis 160 Eckhard Schumacher: Aufschlagesysteme 1800/2000. In: Jürgen Gunia/Iris Hermann (Hg.): Literatur als Blätterwerk. Perspektiven nichtlinearer Lektüre. St. Ingbert: Röhrig 2002, S. 2345, hier S. 39. 161 Lothar Müller: Weiße Magie. Die Epoche des Papiers. München: Hanser 2012, S. 344. 162 Über die Ursachen des Fehlens von Sex und Gnade lässt sich nur spekulieren. Womöglich trägt der Fakt, dass Celebration bereits sieben interviewartige Beiträge vereint, etwas zu diesem Umstand bei. In Dekonspiratione taucht der Titel ›Sex und Gnade‹ noch einmal auf, als Bildschirmschoner, der über den Computer des Protagonisten der Erzählung, Benjamin, läuft: »Benjamins Telefon läutet. Er schaut auf die Uhr, es ist kurz vor eins. Er hebt ab und sieht auf
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hingegen wird ebenfalls zum gedruckten Text, als Teil von Abfall für alle. Goetz fügt die Texte der Vorlesung den fünf Dienstagen im April und Mai 1998 der Druckversion seines Tagebuchs hinzu, an denen er die Sitzungen realiter gehalten hat (vgl. Afa, 621). Diese Ordnung wird schließlich und endlich Bestand haben. Ergänzt wird sie in der allerletzten Veröffentlichung der Reihe, 5.3 Dekonspiratione, nur noch um ein zusätzliches Verzeichnis über das gesamte Werk von Goetz bis zu dieser Stelle, was für die Abgeschlossenheit des Projektes HEUTE MORGEN spricht (Abb. 21).
Abbildung 21: Werkverzeichnis aus Dekonspiratione (2000).
Als Lutz Hagestedt nach Beendigung des Werkkomplexes HEUTE MORGEN im Gespräch mit Goetz feststellt, dass das Projekt sich insgesamt verändert habe, tritt der Autor den Verschiebungen und Weglassungen gegenüber wohlwollend auf: dem Bildschirm den Bildschirmschoner langsam durchziehen, ein Geschenk von Katharina, in Großbuchstaben und Zeitlupe wandern da die Worte SEX UND GNADE von rechts nach links.« (De, 66) Die geplanten weiteren Folgen von Word sind laut Auskunft von Goetz’ Lektor Hans-Ulrich Müller-Schwefe schlichtweg nicht zustande gekommen. Wiederum in Dekonspiratione liest man von einer fiktiven Fortsetzung der Reihe: »Unsere kleine PlattenreleaseParty für die word 5, wieder mit neuen Selbstbildnissen von WestBam, diesmal in der Galerie Shaboo, weil es berlintokoyo ja leider nicht mehr gibt, geht um etwa zwölf Uhr los, und da die Platte selber nicht fertig geworden ist, irgendein Messup im angeblichen Presswerk, wäre es ganz schön, wenn wir wenigstens das Video zur Platte zeigen könnten. Auf den Flyer haben wir geschrieben://westbam: selbstbildnisse 3/rainald goetz: word 5: werk ohne opuszahl 2/gabber gabe« (De, 191). Dass beide, sozusagen aus dem Werkkomplex HEUTE MORGEN gefallenen, Teile – Sex und Gnade sowie Word – in der Erzählung Dekonspiratione noch einmal auftauchen, unterstreicht die Setzung der Erzählung als Schlusspunkt des gesamten Buchs.
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»Das fand ich im Resultat gut, weil ich ein destruktiver Mensch bin und mich daran gefreut habe, wie die geplante Ordnung ihre Erfüllung nicht findet, weil die Widerstände es nicht zulassen.« (Jdsf, 153) Ebenso ist die final geglaubte Fünfteiligkeit der Werkgruppe, wenn nicht Widerständen, dann zumindest Irritationen in Form von Ergänzungen ausgesetzt. Goetz gibt im selben Interview zu Protokoll, dass die gemeinsame Arbeit mit Westbam, Mix, Cuts & Scratches, den entscheidenden Anstoß zu Rave gegeben habe und deshalb als eine Art Prolog oder Vorläufertext für die Erzählung zu lesen sei. Westbam steuert in diesem Band Teile seiner ›Philosophie‹ des DJ-ing bei und Goetz einen Text über Westbam, der später in Celebration wiederabgedruckt wird. Im Gespräch entwerfen sie zusammen außerdem ein ›Westbam-Alphabet‹ in mehreren Abschnitten. Das zu einem Teil mit Taggedichten und zum anderen Teil mit Interviews gefüllte Jahrzehnt der schönen Frauen kann als nachträglicher Band der Reihe gelten (vgl. Jdsf, 153). Die Gedichte schließen insofern an Abfall für alle an, als dass sie das im Weblog/Roman häufig in Versalien vorkommende ›KRANK‹ in dieser Schreibweise übernehmen. Außerdem findet sich unter den Gedichten auch eines zur Premiere der Inszenierung von Jeff Koons in Hamburg, in dem Goetz u.a. das Produktions- und Schauspielteam des Stücks namentlich auflistet.163 Auch auf der Webseite des Merve-Verlags findet sich der Hinweis, dass die Bände eine Vorbereitung und einen Abschluss der Werkgruppe darstellen.164 Trotz der Widerstände im Plan des Buchkomplexes gibt es eine eigentümliche Konstante im Ordnungssystem HEUTE MORGEN: Obwohl die Erzählung Dekonspiratione in der Abfolge der Veröffentlichungen der letzte Band ist, bleibt die mittige Ordnungszahl ›5.3‹ für die Erzählung konsequent bestehen. Denkt man eine Aussage des Autors weiter, die er in einem Interview zum Buchkomplex trifft, das im Band Jahrzehnt der schönen Frauen wiederabgedruckt ist, hat dieser scheinbare Bruch mit der Chronologie gerade die Aufrechterhaltung der werkgruppenimmanenten zeitlichen Ordnung zur Folge. Auf die Frage hin, welchen Platz das Theaterstück Jeff Koons innerhalb von HEUTE MORGEN einnehme, antwortet Goetz, dass es »exakt an der Kollisionsstelle von Leben und Werk, also zwischen Tag und Nacht, also sozusagen auch ganz am Anfang von ›Heute Morgen‹ im wörtlich genommenen Sinne 163
Das Gedicht lautet wie folgt: »Deutsches Schauspielhaus in Hamburg/Probenplan für Samstag, 18. Dezember 1999/VORSTELLUNGEN/Bühne/20.00 Premiere: JEFF KOONS//N. Kunzendorf, W. Bachofner, M. Horn/O. Mallison, J. Ostendorf, W. Pregler/S. Schwientek, R. Strecker, D. Striesow//S. Bachmann, B. Ehnes, A. Witt, S. Pucher/W. Schulz, M. Gintersdorfer, S. König/M. Cleres, A. Endmann, A. Willnow-Herrmann//18.15 Einsingen/19.00 Soundcheck/19.15 Einsingen//Malersaal: Feuergesicht//Arzt: Dr. Winkelmann/Bühnenmeister: L. Braun/Wochenendbereitschaft: K. Naseband/Julia Taraba//Die Premierenfeier findet in der Kantine statt.« (Jdsf, 94) 164 Vgl. Merve-Verlag: Jahrzehnt der schönen Frauen. In: https://www.merve.de/index.php/book/show/274 (01.12.2019).
2. Zahlen
[stehe].« (Jdsf, 173) Dieser Äußerung folgend, repräsentiert die Erzählung Rave mit »Geschichten aus dem Leben im Inneren der Nacht« (Ra, 2), wie es in der Zusammenfassung heißt, das Leben und die Nacht. Dekonspiratione als »[e]in Tagbuch, ein Buch über die Arbeitsseite des Lebens« (De, Klappentext) stellt im Vergleich dazu die Gegenstücke Werk und Tag dar. Zwischen Nacht und Tag, zwischen Leben und Werk, zwischen 5.1 Rave und 5.3 Dekonspiratione, ist dann 5.2 Jeff Koons situiert. Das Theaterstück mit dem Namen der Künstlerpersönlichkeit Jeff Koons befinde sich, so wiederum Goetz, »[i]n der Mitte, weil die Kunst die Mitte des Lebens des Künstlers ist« (Jdsf, 173). Der Mittelpunkt Jeff Koons, auf den Goetz selbst hinweist, ergibt sich nur, weil die Erzählung Dekonspiratione über die chronologische Abfolge der Publikation hinweg ihren festen Platz im Werkganzen durch die Zuordnung per Ordinalzahl behält. Wäre Dekonspiratione dem Veröffentlichungsverlauf gemäß als 5.5 publiziert worden, hätte Rave als Erzählung über das Leben und die Nacht kein direktes Korrelat einer Werk- und Taggeschichte, es hätte kein Dazwischen gegeben. Noch einmal ist mit Blick auf die Werkverzeichnisse ein Verweis auf Hubert Fichte angebracht. Fichte plante den aufgrund seines Todes unvollendet gebliebenen Werkzyklus Die Geschichte der Empfindlichkeit, mit dessen Edition der S. Fischer Verlag postum begann. Goetz’ Alternativtitel für HEUTE MORGEN, ›Geschichte der Gegenwart‹, teilt mit Fichtes Projekt nicht nur eine Parallele in der Betitelung, sondern auch die Verschiebungen in den Werkplänen. Einen ersten Plan für seinen Zyklus fertigte Fichte Ende 1979/Anfang 1980 an, bis zu seinem Tod 1986 folgten weitere vier Großpläne, eine Neuordnung des Plans auf der Rückseite des fünften Plans sowie zwei testamentarische Verfügungen zur Veröffentlichung. Auch diese Pläne bilden damit einen Arbeitsprozess ab, der mit dem Fortschreiten des Werks immer wieder Umstrukturierungen nötig macht. Die Entwicklungslinien der Pläne zeigen, dass Fichte einen inhaltlich geschlossenen Werkkomplex im Sinne hatte. Er unternahm den »Versuch, eine stimmige, immer wieder durch Rückbezüge Fäden spinnende Chronik zu entwerfen, die mehr werden sollte als bloße Collage. Vielmehr plante Fichte einen Gesellschaftsromankomplex«165 . Auf Grundlage von Fichtes letzter Verfügung über Die Geschichte der Empfindlichkeit besteht der insgesamt 19-bändige Zyklus aus drei Titelblöcken: Der erste Block verzeichnet sieben Roman- und Glossentitel, denen die römischen Ziffern I bis VII vorangestellt sind, der zweite Block besteht aus sechs unbezifferten Titeln und der dritte aus den Paralipomena-Bänden I, II und III.166 Neben dieser Bezifferung der Bände, Vgl. Mario Fuhse: Von der Utopie über deren Scheitern zur Utopie – Zum Konzept der Geschichte der Empfindlichkeit von Hubert Fichte. In: Jan-Frederik Bandel (Hg.): Tage des Lesens. Hubert Fichtes Geschichte der Empfindlichkeit. Aachen: Rimbaud 2006, S. 27-72, hier S. 30. 166 Vgl. Ronald Kay: Editorische Notiz. In: Hubert Fichte: Die Geschichte der Empfindlichkeit. Hg. v. Gisela Lindemann u.a., Psyche. Hg. v. Ronald Kay. Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S. 521528, hier S. 523f. Fichte verwendet die Schreibweise ›Paraleipomena‹.
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der die Goetz’sche Zahlenverwendung nur allzu nah ist, fällt eine weitere Analogie zum Text Dekonspiratione auf: Fichte verfügt, dass die Glossensammlung Die zweite Schuld, die ausgerechnet die Stelle III im ersten Titelblock einnimmt, erst 30 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden darf. Obwohl dieser Band, der Weisung entsprechend, in der Chronologie als letzter Band publiziert wird, ändert das nichts an der dritten Position, die konsequent für die Glossen reserviert bleibt.167 Die konstante Beibehaltung der zahlenmäßigen Ordnung in HEUTE MORGEN erschafft eine Mitte, die vor allem eine inhaltliche Mitte ist und deren Eckpunkte Nacht/Tag sowie Leben/Werk sich auf alle Veröffentlichungen des Werkkomplexes erstrecken. Der Bild- und Textband Celebration ist zwar eher der Seite der Nacht zuzurechnen, stellt aber im Gesamten das Tagwerk des Schreibens über die Phänomene des Lebens in der Nacht aus. Goetz umreißt: »Wir dachten ja plötzlich, wir machen jetzt alles zusammen. Auch das Schreiben. Feiern, trinken, reden sowieso. […] Und der Augenblick, als uns bewußt wurde, was wir da dauernd erleben, war auch der Einfall der Krise, der Beginn der Arbeit am Text« (Ce, 4). Auch das Tagebuch Abfall für alle bringt diese Differenzen zusammen, wie Schumacher belegt: Abfall für alle, zunächst als »Baustelle«, als »Produktionsort« eingeführt, läßt sich im Rückblick als ein Zentrum dieser Geschichte [der Gegenwart, L.H.] lesen, das die verschiedenartigen Schreibweisen, über die sich Heute Morgen konstituiert, nicht nur perspektivierend kommentiert, sondern selbst auch – schon in den ersten Einträgen – in verdichteter Form vorführt, performativ präsentiert.168 Innerhalb der Werkgruppe beanspruchen diese beiden Bände, die überdies eher journalistischen denn dezidiert literarischen Charakter haben, deshalb eine Art Meta-Position zum Nacht/Tag-, Leben/Werk-Kontrast für sich, während die Erzählungen Rave klar der Nacht/Leben- und Dekonspiratione klar der Tag/Werk-Seite zugeordnet sind. Das Theaterstück Jeff Koons ist also nicht nur die Mitte zwischen 5.1 und 5.3, sondern auch die Mitte des gesamten Buchkomplexes, weil das Theaterstück als einziges ein ›Dazwischen‹ bildet. Eine zusätzliche Beobachtung zum Paratext stützt diese Argumentation: Einzig die Erzählungen Rave und Dekonspiratione sind in der Erstausgabe als Hardcover erschienen, alle anderen Bände wurden direkt als Broschur veröffentlicht. Die beiden Bände bilden damit einerseits die auch haptisch ›harten‹ Pole Nacht/Leben und Tag/Werk und in der chronologischen Reihe der Veröffentlichungen als erster und letzter (Suhrkamp-)Band den ›festen‹ Rahmen aus Anfang und Ende. Ein weiteres 167
Mario Fuhse stellt über die Bezifferung des Glossenbandes und die drei Mal zehnjährige Sperrklausel kurze Überlegungen zur Bedeutung der Zahl 3 an und schlussfolgert, sie verheiße »die Überwindung der Entzweiung und drückt Vollkommenheit aus. Durch die dreifache Anrufung wird das Zauberwort wirksamer gemacht.« (Fuhse, Utopie, S. 41) 168 Schumacher, Gerade Eben Jetzt, S. 115. In Abfall für alle finden überdies alle Texte der Werkgruppe Erwähnung.
2. Zahlen
Mal strebt eine Dichotomie also auf eine Vermittlung zu. In zeitlicher Dimension bildet Jeff Koons den Morgen, der die Nacht enden und den Tag beginnen lässt, und somit auch den ›wörtlich genommenen Anfang‹ von HEUTE MORGEN. Die Rückseite des Buchumschlags von Jeff Koons vermittelt das Nachtleben aus Rave mit der Arbeitsseite des Tages aus Dekonspiratione folglich mit dem Ausspruch: ›Now let’s go party till dawn.‹ Es ist der Morgen des Heute, und nicht des Gestern oder irgendeines anderen Tages, weil HEUTE MORGEN den Versuch darstellt, das ›Ganze der Gegenwart‹ abzubilden, und gegenwärtig ist ausschließlich das Heute. Was genau sich zwischen Leben und Werk befindet, ist in einem konkreten Begriff womöglich eher schwer fassbar. Wenn man Goetz’ Behauptungen folgt, fällt die Antwort aber auch hier eindeutig aus: Jeff Koons. Das Theaterstück Jeff Koons muss fortan auch im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen, die sich aus der Konzeption des Buchganzen speisen. Zur Interpretation des als so hermetisch eingeschätzten Stücks, dem die traditionellen Eigenschaften eines Theatertextes wie Nebentexte und Sprechermarkierungen fehlen, werden folglich immer wieder die ihn umgebenden Veröffentlichungen herangezogen. In diesem Kapitel trifft das zunächst auf die Zahlenverwendungen in den einzelnen Texten zu. Bereits an der äußeren Struktur des Werkkomplexes sind die drei für Goetz wichtigen Zahlen 3, 5 und 7 ablesbar: Aus dem sich verschiebenden Werkplan heraus sticht die Erzählung Dekonspiratione mit der konsequenten Bezifferung durch die Untergliederungszahl 3. Im Ziffernsystem der Werkreihe sind fünf Suhrkamp-Bände verzeichnet, durch die Ergänzung um Vor- und Schlussband bei Merve wird das Buch insgesamt siebenteilig. Auch als Oberflächenstruktur der einzelnen Texte sind diese Zahlen evident. So ist das Werkelement 5.1 Rave in drei Kapitel aufgeteilt. In den ersten beiden Kapiteln versieht Goetz einzelne Abschnitte (im ersten Kapitel sind es 28, im zweiten drei) mit Zwischenüberschriften. Im dritten Kapitel erhalten die zehn Zwischentitel jedoch zusätzlich eine Nummerierung – bezeichnenderweise nicht in einer Reihe von eins bis zehn, sondern in der zweimaligen Zahlenfolge eins bis fünf. Werkteil 5.2 Jeff Koons weist sieben Akte auf, wenngleich diese auch nicht im Sinne eines Nacheinander benannt sind. Eine zentrale Position nimmt die Aktbezeichnung ›III‹ ein, mit der das Stück beginnt und die insgesamt drei Mal vorkommt. Fasst man das dreimalige Erscheinen dieser Bezeichnung in der Summe als einen Akt zusammen, reduziert sich die Gesamtzahl der Akte auf fünf. Buchelement 5.3 Dekonspiratione überblickt »fünf Tage, beginnend im Mai, fünf Monate des Jahres 1999« (De, Klappentext), wie die Zusammenfassung verrät, aufgeteilt auf fünf Kapitel. Auch hier sind einzelne Untergliederungen durch Zwischenüberschriften kenntlich gemacht. In den ersten vier Kapiteln sind dies je fünf Abschnitte, im letzten Kapitel kommt ein sechstes Teilstück hinzu, das jedoch paradigmatisch mit der Überschrift 5.5.5 versehen ist und so einen untergeordneten Part zum fünften Abschnitt im fünften Kapitel darstellt, ohne dass es die Bezifferungen 5.5.1 bis 5.5.4
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gäbe. Im Werkteil 5.4 Celebration finden sich sieben bereits zuvor in anderen Zeitschriften und Magazinen veröffentlichte Gespräche und Reportagen, die zum Teil durch die römischen Zahlen I bis V gegliedert sind. Die Texte sind mit unzähligen Fotos, Zeitungsausschnitten und Collagen bebildert. Das Ordnungsschema des Buchelements 5.5 Abfall für alle stützt sich abschließend ebenfalls auf die Zahl sieben. Die Tagebucheinträge der 49 Wochen vom 04.02.1998 bis zum 10.01.1999 strukturiert Goetz in sieben Teile zu je sieben Wochen à sieben Tage, sodass insgesamt eine Untergliederung von 1.1.1 bis 7.7.7 entsteht, die, wie Gabriele Feulner urteilt, »dem Autor dazu dient, der Fülle des Materials ordnend Herr zu werden.«169 Dieser siebenteiligen Anlage ist mit der in fünf Sitzungen gegliederten Frankfurter Poetikvorlesung wiederum die Zahl 5 eingeschrieben. Die Merve-Bände weisen keine so offensichtlichen Anleihen an diese Zahlenschemata auf. Im zusammen mit Westbam verantworteten Band Mix, Cuts & Scratches ist einzig der einleitende Text von Goetz über Westbam selbst, Die Ordnung der Ekstase, der in Celebration wiederabgedruckt wird, in fünf Abschnitte gegliedert, die mit den römischen Zahlzeichen I bis V überschrieben sind. Der erste Teil der Gedicht- und Interviewzusammenstellung Jahrzehnt der schönen Frauen schreibt die fünf beschriebenen Monate in Dekonspiratione, also Mai bis September 1999, fort: Die Gedichte widmen sich ausschließlich den drei Folgemonaten Oktober bis Dezember 1999 u.a. werden sie, wie die Notate in Abfall für alle, jeweils mit einem Datum versehen. Dass die Bände ansonsten in gewissem Maße aus der strengen Systematisierung von HEUTE MORGEN fallen, verleiht ihnen zusätzlich zur verlagsfremden Veröffentlichungsweise den Charakter eines Rahmens für den Werkkomplex. Der Paratextualität bzw. Parergonalität entsprechend haben sie selbstredend genau deshalb eine wichtige Funktion für das Buchganze: Die Argumentationslinie für die zentrale These dieser Arbeit, dass das Theaterstück Jeff Koons das Zentrum von HEUTE MORGEN bildet, bezieht ihren Ursprung aus einer Interviewaussage, die im Band Jahrzehnt der schönen Frauen, (wieder-)veröffentlicht ist. Dass das Beiwerk nicht nur Schmuck, sondern wichtiger Teil des Buchs ist, wird durch die Titel des Romans und des Gedicht- und Interviewbandes nur noch unterstrichen: Während das Beiprodukt, der Abfall, zentraler Bestandteil des Werkkomplexes ist, bilden die schönen Frauen lediglich eine Zugabe – Wertloses und vermeintlich Wertvolles haben ihre Plätze getauscht. Doch zum einen wird die Paradoxie der Titelgebung durch die Anerkennung der Wirksamkeit des Rahmens aufgehoben. Und zum anderen kehrt der Abfall die Systemhaftigkeit des Kom-
169 Gabriele Feulner: Mythos Künstler. Konstruktion und Dekonstruktion in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts. Berlin: Schmidt 2010, S. 310. Im ersten Kapitel von Abfall für alle fehlt allerdings die Nummerierung der Abschnitte 1.1 bis 1.7, wahrscheinlich bedingt durch den schwierigen Start des Weblogs im Netz.
2. Zahlen
plexes HEUTE MORGEN hervor: »Where there is dirt there is system«170 , schrieb Mary Douglas 1966, weil Ordnen bedeutet, Material auszusortieren, das nicht gebraucht wird, sowie Differenzen einzuziehen und beobachtbar zu machen. Indem Goetz diesem aussortierten Material, das als Nebenprodukt anfällt, allerdings auch Systemcharakter zuspricht, habe er, so Schumacher, eine Programmatik Warhols wortwörtlich umgesetzt: ›Out of the garbage, into The Book.‹171 Dieser Ausspruch ist der letzte Satz von Warhols Roman a. A novel,172 der ausschließlich aus Transkriptionen von Gesprächen besteht. Warhol lässt alles transkribieren, was zuvor aufgezeichnet wurde, das Material wird nicht selektiert und ein Gefälle zwischen Wertvollem und Wertlosem so negiert. Stattdessen entspricht das letztlich Gedruckte dem Paradigma von Pop, das den Blick auf Alltägliches und Banales, auf die Oberfläche und das Material richtet.173 Im Gesamten gleicht die Lust an der Ordnung im Buchkomplex einem Wahn, der eine Übersteigerung der Systematisierung darstellt, und den Goetz von Beginn der Werkreihe an wissentlich einsetzt, wie ein Plakat es noch einmal eindrücklich zeigt (Abb. 22). Im Bildband elfter september 2010 lichtet er das Poster zur Werkgruppe HEUTE MORGEN neben einem Kalender und einer Uhr hängend ab, was den Charakter der Zeitmitschrift dieser ›Geschichte der Gegenwart‹ zusätzlich unterstreicht. Neben den Titeln der Teilveröffentlichungen, die in einem Kreis, respektive entlang einer Kreislinie, verzeichnet sind, in dessen Zentrum der Asterisk von den Cover-Rückseiten steht, finden sich Leitworte, die für die Inhalte der Werkgruppe herhalten könnten: Sinn, Beruf, Geschichte, Sprache, Glück, Alltag, Differenz und Leben. Untermauert sind diese Worte jedoch von der in dieser Arbeit bereits bemühten Phrase: »Alle Ordnung ist wahnhaft.« (Afa, 159) Goetz wiederholt diesen Ausspruch in einem Interview zur Werkreihe, nicht ohne ihn zusätzlich zu kommentieren: »,Alle Ordnung ist wahnhaft‹: das murmelt man dauernd. Und macht dabei Ordnung wie verrückt.« (Jdsf, 124). Der sich in Zahlen niederschlagende Systematisierungsdrang mündet mit dem Theatertext Jeff Koons geradewegs in einen Rausch.
170 Mary Douglas: Purity and Danger: An analysis of concepts of pollution and taboo. In: dies.: Collected Works, Vol. II. London: Routledge 2003, S. 36. 171 Vgl. Eckhard Schumacher: From the garbage, into The Book. Medien, Abfall, Literatur. In: Jochen Bonz (Hg.): Sound Signatures. Pop-Splitter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 190-213, hier S. 204. 172 Vgl. Andy Warhol: a. A novel. London: Vintage 2011, S. 451. Schumacher gibt den Satz mit ›From the garbage, into The Book‹ wieder. 173 Vgl. dazu ausführlicher Schumacher, From the garbage, passim sowie Kap. 1.2 dieser Arbeit.
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Abbildung 22: Bildausschnitt aus elfter september 2010 (2010).
2.4
Jeff Koons: Sieben Akte, schön knapp abgepackt
Im Stück, das nach dem Gegenwartskünstler betitelt ist, taucht Jeff Koons als Person auf den ersten Blick gar nicht auf, zumindest nicht in der expliziten Benennung einer Figur. Sprechermarkierungen fehlen ebenso wie traditionelle Regieanweisungen oder Szenenbeschreibungen im Text ohnehin gänzlich. Das, was dem Stück eine Struktur gibt, ist wiederum die Mathematik – in Form der Bezifferung der Akte, die mit der Betitelung derselben in einem Wechselverhältnis steht. In der sequenziellen Zählung besteht Jeff Koons aus sieben Akten, die jeweils durch einen Titel, ein Motto und eine römische Zahl mit einer weiteren Überschrift gekennzeichnet sind. Eine Auflistung der Akte entlang ihres Titels und der ihnen zugewiesenen römischen Zahl in der Reihenfolge ihrer Erscheinung im Stück sähe wie folgt aus:174
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Da auf die Motti gesondert im Kap. 3.3 dieser Arbeit eingegangen wird, sind hier zunächst nur die Betitelungen und Bezifferungen der Akte von Interesse.
2. Zahlen
Dritter Akt, III. Palette Erster Akt, I. Im Bett Draußen, III. Die Gebückten vom Görlitzer Bahnhof marschieren auf Zweiter Akt, II. Die Firma Nach der Pause, IV. Die Eröffnung Sechster Akt, III. Palette Siebenter Akt, V. Das Bild In der Benennung der Akte scheinen der ›Vierte‹ und der ›Fünfte‹ zu fehlen,175 nach ihnen »sucht man vergebens, es sei denn, man glaubte sie hinter den mit ›Draußen‹ und ›Nach der Pause‹ betitelten unnumerierten Teilen zu erkennen«176 , wie Windrich konstatiert. In der Bezifferung durch die römischen Zahlzeichen sind die IV und die V sehr wohl vorhanden, jedoch fallen dort durch die dreimalige Verwendung der III die allenfalls möglichen Zählungen VI und VII weg. Sowohl der Bezifferung als auch der Betitelung nach, beginnt das Stück mit dem ›Dritten Akt, III‹. Die ›III‹ schiebt sich fortan noch zwei Mal ins Gefüge ein – augenscheinlich, um es durcheinanderzubringen, denn die Verwendung aller weiteren römischen Zahlen fügt sich ansonsten der ordinalen Linie. Nils Lehnert stellt daraufhin die Arbeitshypothese auf, dass man es mit einem »spielerischen und relativierenden Umgang mit Akteinteilung per se zu tun« habe, gibt diese These aber zugunsten einer »durchdachten Architektur des Textes«177 recht bald wieder auf. Ralf Rättig argumentiert zunächst, dass die Akteinteilung zu einer »›Enträtselung‹ bzw. ›Richtigstellung‹ auffordern soll.« Doch auch er verwirft diesen Einfall, da sich »aus dem gesamten Text keinerlei Hinweis und keine Notwendigkeit einer solchen Neuordnung [ergibt].«178 Goetz beginnt sein Stück stattdessen ganz wissentlich mit einem Bruch der Chronologie: Wenn räumliche und zeitliche Ordnung sich widersprechen, oder zumindest miteinander interferieren, kann es sachlich richtig und ganz logisch sein, mit dem Ort des zentralen dritten Akts zu beginnen, dorthin zweimal zurückzukehren, und doch zugleich die örtlich darum herumgruppierten anderen Akte in der ihnen entsprechenden zeitlichen Reihenfolge zu benennen: erst die Liebe, dann die Kunst, dann der nächtliche Exzeß im Club. Und losgehen tuts im Club, in der Palette, ist doch klar. Sage ich den Leuten, die es doof finden, dass Jeff Koons mit den Worten 175
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Mit der Setzung in einfache Anführungszeichen wird im Folgenden immer auf die tatsächlichen Titel der Akte verwiesen. Diese sind abzugrenzen von der chronologischen Reihung derselben im Stück. Windrich, Technotheater, S. 399. Lehnert, Oberfläche Hallraum Referenzhölle, S. 60. Ralf Rättig: Kunst an der Oberfläche – Jeff Koons von Rainald Goetz. In: Benedikt Descourvières/Peter W. Marx/Ralf Rättig. (Hg.): Mein Drama findet nicht mehr statt. Deutschsprachige Theater-Texte im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Lang 2006, S. 243-258, hier S. 250.
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DRITTER AKT losgeht. Das ist doch nicht doof, das ist doch lustig, ich finde, das stimmt. (Afa, 732) Gemäß Johannes Windrichs Ausführungen kann die hier angesprochene räumliche Ordnung mit der Bezifferung der Akte durch die römischen Zahlen gleichgesetzt werden. Denn Goetz spricht vom ›Ort des zentralen dritten Aktes‹, zu dem zwei Mal zurückgekehrt wird, und diese Beschreibung trifft nur auf die ›III‹ zu. Außerdem wird jedem römischen Zahlzeichen mit einer weiteren Überschrift zumeist eine Örtlichkeit zugeordnet, wie etwa ›die Palette‹, ›das Bett‹ oder ›die Firma‹. Die Benennung der Akte kann im Gegensatz dazu als zeitliche Ordnung betrachtet werden, Windrich setzt diese mit dem ›Erzählerischen‹ gleich.179 Dem obigen Zitat folgend, soll diese das Nacheinander von Liebe, Kunst und Feiern darstellen. Die Schlagworte lassen sich zwar mit dem Inhalt des Textes zusammendenken, verständlicher wird ihr Gebrauch jedoch anhand einer Grafik, die Goetz für das Programmbuch der Uraufführung von Jeff Koons unter der Regie von Stefan Bachmann Ende Dezember 1999 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg gestaltet (Abb. 23):180 Auch dieses Programmbuch, bestehend aus von Goetz gesammelten Zeitungsschnipseln, Fotos der Schauspieler, Abdrucken von Koons’ Kunstwerken und Partikeln aus dem Weblog Abfall für alle, vereint sieben Kapitel in sich, die im Inhaltsverzeichnis wie folgt aufgelistet sind: ›I Systemprotest‹, ›II Koons Kunst‹, ›III Trash‹ ›IV Die Schauspieler‹, ›V Sex und angrenzende Fragen‹, ›VI Konsensrebellion‹ und ›VII Impressum‹. Zudem lehnt sich die Umschlagsgestaltung an das Rot der HEUTE MORGEN-Reihe an. Dass Goetz Teilstücke aus Abfall für alle für das Programmbuch verwendet, rückt erneut die Funktion des Romans als ›Werktagebuch‹ in den Blick. Wie aus einem im Programmheft zitierten Abschnitt aus Abfall für alle zu erfahren, hat Goetz beispielsweise mehrfach Skizzen für den Theatertext Jeff Koons angefertigt: »Ich blättere in Jeff Koons und mache wieder mal eine Strukturskizze der örtlichen und inhaltlichen Aktverhältnisse. Es ist lächerlich, aber ich habe einen solchen Spaß an diesem Stück.« (Afa, 741) Das hier abgebildete Schaubild stützt die oben beschriebene Lesart des Räumlichen und Zeitlichen insofern, als dass die römischen Zahlzeichen einen Raum
179 Vgl. Windrich, Technotheater, S. 416. 180 Diese Grafik wird hier erstmals farbig und in ihrer originalen Aufmachung wiedergegeben. Windrich hat das Diagramm nachgebildet, die Schriftarten jedoch geändert und die Proportionen leicht verschoben. Lehnert übernimmt für seine Studie die Abbildung von Windrich. Die Grafik findet sich nicht auf der Titelseite des Programmbuchs, wie Windrich meint, sondern auf der Umschlagseite 2, also der ersten Innenseite des Bucheinbands. Das Cover selbst ist mit Abbildungen von Skulpturen Koons’ versehen. Die Frontseite ziert eine Abbildung der Porzellanskulptur Naked aus der Serie Banality, die Rückseite zeigt die Blumenskulptur Wall Relief with Bird aus der Reihe Made in Heaven.
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Abbildung 23: Innenseite des Umschlags (U2) des Programmbuchs zu Jeff Koons, Deutsches Schauspielhaus Hamburg 1999.
bilden, die arabischen Ziffern aber nur den Pfeilen zugeordnet sind, die die zeitliche Abfolge der Akte darstellen. Zusätzlich verknüpft die Grafik die anhand ihrer römischen Ziffern beschriebenen Akte, deren Sukzession am unteren Ende des Bildes noch einmal mitläuft, mit Schlagwörtern. Räumlicher Mittelpunkt des Stücks ist mit dem Code der ›III‹ die Nacht. Von diesem Motiv wird ausgegangen, dann
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folgt die Liebe, darauf von der Rückkehr zur Nacht unterbrochen die Kunst, von ihr wird auf die Gesellschaft verwiesen und der Endpunkt des Alls über einen erneuten Abstecher zur Nacht erreicht. Als zeitlicher, erzählerischer Mittelpunkt steht der Nacht allerdings die Kunst gegenüber. Sie nimmt im Stück, überdies in Gestalt des seitenstärksten Aktes, in der fortlaufenden, im Schaubild durch arabische Zahlen gekennzeichneten Folge der Akte mit der vierten Stelle die Mitte von insgesamt sieben Akten ein und findet sich auch in der narrativen Folge zwischen Liebe und Feiern in der Mitte. Obschon die Benennung der Akte in diesem Diagramm abwesend ist, wird die Abfolge der Aktnamen mittels der Schlagworte angedeutet und verweist so neben dem Widerspruch auch auf eine Interferenz von räumlicher und zeitlicher Ordnung: Die Liebe ist im ›Ersten Akt‹ präsent, die Kunst im ›Zweiten‹ und das Feiern im Club schließlich im ›Sechsten Akt‹. Dies ist auch an der räumlichen Ordnung, an den Überschriften zu den römischen Zahlen, erkennbar: Die Liebe findet im Bett statt, die Kunst, angelehnt an Andy Warhols Factory, in der ›Firma‹ und der nächtliche Exzess in der wiederum von Hubert Fichte zum Romantitel erhobenen ›Palette‹. Den Rahmen für die Trias Liebe – Kunst – Feiern bilden der ›Dritte‹ und der ›Siebente Akt‹. Der Ort des ›Dritten Aktes, III. PALETTE‹, stimmt mit jenem des ›Sechsten‹ überein – der Endpunkt der Handlung, sofern von der Existenz einer solchen ausgegangen werden kann, findet so schon einmal ganz am Anfang Erwähnung.181 Der ›Siebente Akt‹, von Goetz mit dem Motiv des Alls versehen und so schließlich den von Runge avisierten Kosmos mit einbeziehend, bietet einen betrachtenden Abschluss des Geschehenen. Denn, so arbeitet es Windrich heraus, »[w]ährend ansonsten im Stück die Perspektive ständig wechselt, redet hier auf einmal durchgängig ein Ich.«182 Unterbrochen wird die so gerahmte Sukzession von den Akten ›Draußen‹ und ›Nach der Pause‹, die sich schon deshalb von allen anderen unterscheiden, weil sie nicht mit einer Ordnungszahl benannt sind. Auch dem Inhalt nach wollen diese nicht so richtig in die Abfolge von Liebe, Kunst und Feiern passen. Für die sich ›Draußen‹ befindlichen ›Gebückten vom Görlitzer Bahnhof‹, so die räumliche Überschrift, wird zwischen Liebe und Kunst noch einmal zur Nacht zurückgekehrt, und für die Eröffnung einer Ausstellung, von der ›Nach der Pause‹ handelt, schafft Goetz in seinem Schaubild zwischen Kunst und Nacht das Stichwort der ›Gesellschaft‹. Benennung und Bezifferung sind in diesen beiden Akten wieder unvereinbar, es lässt sich kein gemeinsamer Anhaltspunkt ausmachen. Womöglich können
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Mathematisch wäre in der Ziffer 6 des ›Sechsten Aktes‹ die Dopplung der Ziffer 3, und damit die Dopplung der Bezifferung und Überschrift des chronologisch ersten Aktes, oder aber die Summe aus dem ›Dritten‹, ›Ersten‹ und ›Zweiten‹ Akt und deren dazugehörigen römischen Zahlzeichen erkennbar. Windrich, Technotheater, S. 409.
2. Zahlen
sie infolgedessen als außerhalb der räumlichen und zeitlichen Ordnung liegend betrachtet werden. Trotz dieser Abzweige verweisen die jeweiligen Enden der Akte auf einen durchgängigen Erzählstrang. Der ›Dritte Akt‹ endet mit: »schnell weg hier/zu dir/weg hier/von hier/mit dir/zu mir/mit mir/zu dir zu dir« (Jk, 32) und bildet damit regelrecht ein »Vorspiel«183 zum ›Ersten Akt‹, dem Liebes-Akt. Die letzten Zeilen dieses Aktes wiederum lauten: »Freundschaften/Freunde/Jungs, Jungs, Jungs/es gibt noch mehr Gründe/für Neigung und zartes/Empfinden/als bisher erzählt//[…] es kann jetzt beginnen/alles ist da/komm« (Jk, 52) und leiten damit auf ein Brecht-Zitat des ›Draußen‹-Aktes über, das ebenfalls einen Freund zum Inhalt hat. Das Ende dieses Aktes, »Der ist bestimmt ein Künstler/sowas sehe ich, ich seh das gleich,/daß das ein Künstler ist,/das sieht man denen an,/ich sehe sowas, echt./Ein Künstler, Gott,/du liebe Güte, Künstler./Was muß das nur/für ein Leben sein?« (Jk, 67), bildet einen nahtlosen Übergang zum Kunst-Akt, dem ›Zweiten‹. Weiter ließe sich so auch mit den übrigen Akt-Enden des Stückes verfahren. Ganz gleich aber, ob man den ›Dritten‹ und ›Siebenten‹ Akt als äußere Rahmung der fünf übrigen Akte betrachtet, oder ›Draußen‹ und ›Nach der Pause‹ als Ausläufer der Geschehensfolge ansieht, ob man die Ordnungszahlen in den Namen der Akte mit deren römischer Bezifferung vergleicht, und damit räumliche und zeitliche Ordnung zu vereinen oder gegenläufig zu behandeln versucht – Jeff Koons changiert auch in seiner Aktzählung zwischen den Zahlen 5 und 7; der Ziffer 3 wird mittels ihrer häufigen Verwendung und der Dreigestalt von Liebe, Kunst und Feiern darüber hinaus abermals ein bezeichnendes Gewicht verliehen. »Akt, Akt, Akt.«, schreibt Goetz in Abfall für alle, »Fünf mal Akt in sieben Akten« (Afa, 499). In den Blick gerät so der in der Dramentradition fest verankerte Begriff des Fünfakters.184 Florian Illies erachtet den Auftakt mit dem ›Dritten Akt‹ weniger kühn als auf den ersten Blick angenommen: Auch daß er [Goetz, L.H.] glaubt, es sei frech, ein ›Stück‹ mit dem ›Dritten Akt‹ zu beginnen, und dann erst den ersten folgen zu lassen, zeigt, wie sehr Goetz noch immer an die Provokation glaubt, die aus der Unterhöhlung von Tradition erwächst. Vor allem zeigt es aber auch, wie sehr Goetz an die Tradition selbst glaubt.185 Das Stück greift die traditionelle Form auf, allerdings nicht ohne sie zu verändern, weiterzuentwickeln, sie zu kommentieren. Norbert Otto Eke weiß: »Goetz’ Arbeiten für das Theater (eigentlich gegen das Theater) sind immer auch Arbeiten mit der
183 Ebd., S. 402. 184 Vgl. Krankenhagen, Laß mich rein, S. 229. 185 Florian Illies: So schauste aus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 255 vom 03.11.1998, S. L3.
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Form: Aufhebung der klassischen Form bei gleichzeitig strenger Formung.«186 Goetz selbst hält nichts von Theaterstücken, die die traditionelle Form torpedieren, weil nämlich die Theaterform an sich »unsprengbar, unprovozierbar, unüberschreitbar [ist]. Weil sie einfach ALLES beinhaltet. Man muß die Theaterform nur nach ihrem jeweils neu gegebenen Gegenwartsgesetz NEU ganz ausschöpfen, fertig.« (Afa, 433) Im Abgleich mit Gustav Freytags Pyramidenmodell als Normung des Fünfakters wäre es nicht ausgeschlossen, beim Theatertext Jeff Koons von einem Handlungsverlauf auszugehen, der in den Schlagworten ›Liebe‹, ›Kunst‹ und ›nächtliches Feiern‹ seine Eckpunkte findet, und der sich im irritierenden Akt ›Draußen‹ steigert sowie im Akt ›Nach der Pause‹ wieder abfällt. Die Seitenflächen einer Pyramide, d.h. ihre quasi eindimensionale Form, nämlich das Dreieck, liefert darüber hinaus einen weiteren Bezugspunkt für das Ornament, das sich anhand der Zahlen im Inneren des Theaterstücks aufspannt. Die Ornamentik des Dreiecks zeigt sich bereits in dem aus geometrischen Figuren bestehenden Bild Runges, das er mit der ›ersten Figur der Schöpfung‹ betitelt, und lässt sich, vermittelt über den Bühnenaufriss von Sollers schließlich in Goetz’ Grafik wiedererkennen (Abb. 24):
Abbildung 24: Runge, Sollers, Goetz.
Runge beziffert die Schnittpunkte der sieben Kreise mit den Zahlen von 1 bis 7, die Schnittflächen bilden im Inneren etwas Blumenartiges. Die Zahlen 1, 3 und 5 sind darüber hinaus durch Linien miteinander verbunden, die ein Dreieck bilden, in dessen Innerem die 7 prangt, die zugleich Mittelpunkt der Blume als Verbindung zwischen dem Menschlichen und Göttlichen ist. Bei Sollers bilden die drei Erzählsequenzen 1, 2 und 3 in Kombination mit der Kommentargruppe 4 zwar insgesamt ein Quadrat, jedoch ist die vierte, in Klammern stehende Seite offen, weshalb auch in dieser Figur ein Dreieck mitschwingt, das anhand der oberen drei Pfeile ersichtlich ist. Bei Goetz schneiden sich die sechs Linien, die bei ihm ebenfalls Pfeile sind, in einem Mittelpunkt, der, sieht man vom letzten Pfeil nach unten ab, wie bei Runge Mitte eines gedachten Dreiecks ist. Der siebente, nach unten gerichtete 186 Norbert Otto Eke: Welt-Kunst-Beobachtung. Rainald Goetz und das Theater. In: text + kritik 190 (März 2011), S. 52-67, hier S. 52f.
2. Zahlen
Pfeil lässt sich als einzige ›Ich‹-Passage des Dramas sowohl als Parallele zu Sollers – weil Kommentar zum vorher Geschriebenen – als auch – in seiner Anspielung auf das All – als Analogie zu Runges Konzeption denken. Verwirklicht werden kann die Konstruktion aber ohnehin nur in der, wie von Sollers entworfenen, Szene: »Von seiten des Autors her gesehen ist ein Theaterstück ein Text, der so geschrieben ist, daß er seine Erfüllung erst erfährt, wenn er auf der Bühne realisiert wird, als Theaterstück.« (Afa, 229) Die sonst tote Schrift wird auf der Theaterbühne zum Leben erweckt. Goetz schreibt in Kronos: So sitze ich wieder den dionysischen Mänaden zu Füßen, die tanzen: das Theater. Immer noch der peinlichste Ort der Welt, und trotzdem endlos faszinierend. Die Wirklichkeit der wirklich echten Körper echter Menschen macht da mit jedem Atemzug, den die da atmen und erst recht mit jedem Wort das unmögliche Argument praktisch zur Wahrheit, dass das Toteste einen Augenblick lebt, dass es etwas, was es nicht gibt, gibt: nichttote Kunst.187 Wenn das, was das Zentrum eines Buchkomplexes bildet, auf der Theaterbühne zu Leben wird, dann ist das komplexe Werk nicht mehr die »Totenmaske der Konzeption«, wie Goetz Walter Benjamin negiert, sondern tatsächlich »ihre Weltform, ihre Lebendgestalt, ihr Leben« (Afa, 164). Diese Vision kann sich nur erfüllen, wenn dem Theaterstück innerhalb des Buchganzen ausreichend Gewicht verliehen wird – das ist bei den Büchern KRIEG und FESTUNG der Fall, die den Stücktrilogien jeweils die erste Stelle ihrer Reihe einräumen, und es trifft auf HEUTE MORGEN zu, wo der Theatertext Jeff Koons anhand der Zahlenkomposition in die Mitte des Buchganzen gesetzt wird, die dazu noch die Stelle der Kunst ist. Mit der Aufführung auf der Bühne verwirklicht sich deshalb nicht nur die Konzeption eines jeden Theaterstücks, sondern auch die des zugehörigen Werkkomplexes im Gesamten; das Vorkommen eines Theatertextes stellt so eine notwendige Bedingung für die Komposition eines Buchkomplexes dar. Ein Werk ohne dieses Leben ist nicht denkbar. »Die Bühne ist das Letzte, aber wenigstens das Leben.«188 Die Traditionslinie führt einmal mehr zurück in die Frühromantik: Auf Julius, Protagonist von Schlegels Roman Lucinde und selbst Künstler, wird in der Mitte des Romans, in den ›Lehrjahren der Männlichkeit‹, ein resümierender Blick geworfen, der die Verbindung von Kunst und Leben in einer ähnlichen Weise einzufangen vermag: Wie seine Kunst sich vollendete und ihm von selbst in ihr gelang, was er zuvor durch kein Streben und Arbeiten erringen konnte: so ward ihm auch sein Leben zum Kunstwerk, ohne daß er eigentlich wahrnahm, wie es geschah. Es ward Licht
187 Goetz, Kronos, S. 258. 188 Goetz, Krieg, S. 119.
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in seinem Innern, er sah und übersah alle Massen seines Lebens und den Gliederbau des Ganzen klar und richtig, weil er in der Mitte stand.189 Die Vollendung der Kunst ist Kulminationspunkt in Julius‹ Leben nicht nur, indem sie Kunst und Leben ineinander aufgehen bzw. sich gegenseitig bedingen lässt, sondern auch dadurch, dass sie einen Blick auf das Gesamte ermöglicht. Der ›Gliederbau des Ganzen‹ ist ausschließlich aus der Mitte heraus zu erkennen. Das Schaubild aus dem Programmheft zu Jeff Koons steht damit einhergehend sowohl als das innere Ornament für das Stück als auch für die Schönheitslinie des Ganzen des Buchs ein. Der zentrale Kunst-Akt des Theatertextes ist als ›Zweiter Akt‹ betitelt und spiegelt die Nummerierung des Stücks Jeff Koons innerhalb des Buchkomplexes HEUTE MORGEN wider. Gerahmt wird im Theaterstück die ›Kunst‹ als Mitte durch die Schlagworte ›Nacht‹ und ›Liebe‹, die mit der Nachtlebenerzählung Rave und der Tagerzählung Dekonspiratione gleichgesetzt werden können, letzteres ist »[e]in Buch über die Liebe« (De, 30), wie auf den ersten Seiten der Erzählung zu lesen ist. Goetz gesteht in einem Interview ein, dass er die Liebe bislang in seinen Texten außen vor gelassen habe, doch mit Dekonspiratione den Versuch einer abstrakten Liebesgeschichte wage (Jdsf, 133). Das dreimalige Vorkommen der Nacht steht im Werkkomplex für den Teilband Rave, aber auch für das mit Westbam veröffentlichte Merve-Bändchen Mix, Cuts and Scratches sowie den Text- und Bildband Celebration, der Gespräche mit DJs und etliche Fotos aus dem Nachtleben enthält. Den Abstecher in die Gesellschaft machen vor allem die von Goetz zusammengestellten, wiederabgedruckten Interviews im Jahrzehnt der schönen Frauen, die größtenteils Fragen zur Werkgruppe abdecken. Wiederum wird das, was eigentlich Epitext war, zum Text erhoben, und kann, ohne dass die Interviews aufwendig aufgespürt werden müssten, wie alle anderen Textteile als Komponente des Buchganzen betrachtet werden. Die Interviews sind dann explizit Teil des Buchs HEUTE MORGEN und damit als Bezugstext für alle anderen Teilbände der Reihe quasi legitimiert. Dass Goetz in den Interviews bereitwillig Auskunft zu seiner ›Geschichte der Gegenwart‹ gibt, erleichtert den Zugang zum komplexen Buchganzen. Abfall für alle schließlich hat das All gleich zwei Mal in seinem Titel und wendet sich allem zu, was während des Schreibens von HEUTE MORGEN passiert – seien dies die Wahl Gerhard Schröders zum Bundeskanzler, der Tod Luhmanns, alltägliche Begebenheiten im Leben von Goetz oder seine Arbeit an den anderen Teilbänden der Werkgruppe. Nicht zuletzt liefert der Autor darin eine Poetik seines Schreibens in Gestalt der Frankfurter Vorlesungen mit. Auch wenn die Anordnung der Schlagworte des Schaubildes nicht der Anordnung der Teilbände innerhalb des Werkganzen entspricht, sind die Inhalte des Theatertextes Jeff Koons, so wie sie in der Grafik dargestellt sind, auf das Ganze
189 Schlegel, Lucinde, S. 57.
2. Zahlen
des Buchkomplexes übertragbar. Der Morgen, den das Stück Jeff Koons mit seiner Stelle zwischen Nacht und Tag einnimmt, verheißt mit Rückbezug auf Runge die Schöpfung, die hier Schöpfung des Theaterstücks wie gleichzeitig Schöpfung des Buchganzen ist. Das Werkganze ist im Theatertext konzentriert und gewinnt seine Weltform durch die Realisation auf einer Bühne. Die Bezugspunkte für eine Aufführung, die die traditionellen Bausteine eines Dramentextes, die Jeff Koons fehlen, ersetzen können, sind dementsprechend auch in den anderen Teilbänden des Buchkomplexes zu suchen. Verweise aus den Komplexbestandteilen spannen so zum einen Räume im Text auf, die wie Nebentexte Szenenbeschreibungen oder Handlungsanweisungen vorgeben, und liefern zum anderen das Personal, auf das das Theaterstück Jeff Koons seine Monologe und Dialoge offensichtlich, weil überflüssig, nicht aufzuteilen braucht. Die weiteren Kapitel dieser Arbeit werden dieser These mit Analysen der entsprechenden Bezugnahmen nachgehen. Innerhalb des Theatertextes liefert zunächst aber noch die Szenenfolge ein weiteres strukturierendes Moment im Kompositionsraster. Wenn auch ein Sprecherwechsel von Szene zu Szene aufgrund der fehlenden Figurenzuweisungen schwer zu belegen ist, kann eine räumliche Veränderung sehr wohl nachgewiesen werden. Goetz nummeriert alle Szenen eines Aktes durchgehend mit arabischen Ziffern und gibt ihnen einen Titel. Der Verdacht auf eine Zuweisung zur räumlichen Dimension erhärtet sich insofern, als dass die Szenenbezeichnungen zumeist auf die römische Bezifferung und Überschrift der Akte rekurrieren. So heißen Szenen im ›Dritten Akt, III. PALETTE‹ beispielsweise ›7. An der Bar‹, ›9. Das Klo‹ oder ›16. Zapfhahn‹; im ›Ersten Akt, I. IM BETT‹ ›2. ich liebe dich‹, ›7. sie dämmern‹, ›9. sie schlafen zusammen‹ und im ›Zweiten Akt, II. DIE FIRMA‹ etwa ›4. Im Atelier‹, ›15. Holzschnitt‹, ›16. Skulptur‹ oder ›17. Skizze‹. Zur Kneipe passend findet sich im ›Dritten Akt‹ eine Szene namens ›13. Gästeliste‹, die einzigartig im gesamten Stück ist, insofern ihr Inhalt gänzlich in Versalien steht: DER JUNGE/DER ALTE/DER MITTLERE MANN//DIE SÜSSE MAUS/DAS WILDE HÄSCHEN/DAS BUSCHIGE KÄTZCHEN//DER HEILIGE JOHANNES/DER ENGLISCHE BOBBY/DAS TIERCHEN AUS STOFF//SCHREIBER/MALER/MUSIKER//PRESSE/GELD/PUBLIKUM//DAS HOHE GERICHT/DER JÜNGSTE TAG/URTEILSSPRUCH//WELT/ALL/KOSMOS (Jk, 24) So hervorgehoben, ist der ›Gästeliste‹ eine bestimmte Funktion eigen, Krankenhagen bezeichnet sie als »Urkunde des privilegierten Zutritts [zur Palette, L.H.] und Aufzählung der dramatis personae. Diese aber sind […] keine ausformulierten Charaktere, sondern signalfarbene Extrakte des zu verhandelnden Themas.«190 Listen sind hinlänglich auch als Charakteristikum der Pop-Literatur beschrieben worden. Moritz Baßler z.B. sieht das Sammeln, Katalogisieren und Anlegen von Listen 190 Krankenhagen, Laß mich rein, S. 214.
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als entscheidendes Verfahren des Archivismus an, den die Pop-Literatur leistet.191 Matthias Schaffrick stellt anhand von Beispielen wie Musikcharts oder Bestsellerlisten aus, dass Listen nicht nur populär sind, sondern auch populär kommunizieren. Diese Zweiseitigkeit der Popularität von Listen rechtfertigt ihren Einsatz als stilistisches Mittel in der Pop-Literatur umso mehr: In Listen wird nicht nur Popularität erfasst, sondern Listen kommunizieren selbst auch populär. Die Liste erzeugt kommunikative Anschlussfähigkeit und ist zudem affektiv besetzt, da die populäre Listenkommunikation ein Inklusions- und Partizipationsversprechen impliziert: Das Versprechen, an den Erfolgen, der Beliebtheit, der Qualität, dem Style, dem richtigen Leben teilhaben zu können.192 Ein weiteres Mal mit der Tradition des dramatischen Textes spielend, stellt Goetz die Auflistung der Personen nicht dem Stücktext voran, sondern präsentiert die für Pop typische Listenform erst dann, wenn man ihm bereits ins Zentrum, in die Nacht, in die Palette gefolgt ist. Tatsächlich auftretende Figuren markiert er mit dieser Liste wohl nicht, eher deuten die sieben zu Dreiergruppen zusammengefassten Personenbezeichnungen, Berufsgruppen und Kollektiva als Leuchttürme auf die sieben Akte, auf den Plot des Stücks hin. Konfrontiert ist man dann sowohl mit dem Künstlertum im Allgemeinen, für das ›Schreiber‹, ›Maler‹ und ›Musiker‹ exemplarisch stehen, wie mit dem konkreten Künstler Jeff Koons, dessen Werke Saint John the Baptist, Bear and Policeman und Popples193 Goetz mit den Verweisen auf ›den Heiligen Johannes‹, ›den englischen Bobby‹ und ›das Tierchen aus Stoff‹ stellvertretend nennt. Auch der Kunstmarkt in Form von ›Presse‹, ›Geld‹, ›Publikum‹ sowie die Kritik, die sich aus ›dem Hohen Gericht‹, ›dem Jüngsten Tag‹ und dem ›Urteilsspruch‹ zusammensetzt, sind anwesend. Außerdem trifft man in der ›Palette‹ bzw. im Stück auf Männer unterschiedlichen Alters und Frauen, die mit eher chauvinistischen Kosenamen bedacht werden;194 schließlich fehlt auch der Blick auf das Gesamte, auf ›Welt‹, ›All‹, ›Kosmos‹, nicht. Wie im letztgenannten Fall lassen sich die Positionen einiger Dreiergruppen sogar direkt auf die Stellen der Akte
191 192
Vgl. Baßler, Die neuen Archivisten, S. 98. Matthias Schaffrick: Listen als populäre Paradigmen. Zur Unterscheidung von Pop und Populärkultur. In: KulturPoetik, Bd. 16, Heft 1 (2016), S. 109-125, hier S. 119. 193 Alle drei Skulpturen stammen aus der Serie Banality von 1988 und sind im Programmheft zur Hamburger Aufführung von Jeff Koons abgedruckt. 194 Alexandra Pontzen arbeitet heraus, dass Frauen in den Texten von Goetz der Charakteristik: scheinheilig, autoritätshörig und sittenstreng entsprechen, eine Ausnahme davon aber der positiv normierte Ausdruck ›süße Maus‹ bilde, den Goetz als »Ehrentitel für alle tollen Frauen« (Ce, 265) verwende (vgl. Alexandra Pontzen: cool, elitär und politisch unkorrekt. Popdiskurs und Dandyismus bei Rainald Goetz. In: Alexandra Tacke/Björn Weyand (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln u.a.: Böhlau 2009, S. 121-141, hier S. 133).
2. Zahlen
im Stück projizieren und im selben Maße, wie die vorangegangen Ausführungen gezeigt haben, auf die anderen Teilbände des Werkganzen. Goetz lässt die Anzahl der Szenen von Akt zu Akt stark variieren. Der ›Siebente Akt‹ besteht nur aus einer einzigen Szene – womit sich eine Kongruenz zu den jeweils letzten Stücken der beiden Theatertrilogien Krieg und Festung ergibt, die ebenfalls aus nur einem einzigen Akt bestehen –, die anderen hingegen aus neun, elf oder siebzehn. Die Tektonik der Szenen ist trotzdem einem großen Ganzen verpflichtet, was sich im Speziellen an den Szenen jener Akte zeigen lässt, die mit ›III‹ überschrieben sind. Goetz verwendet für diese Akte ähnliche, wenn nicht gar übereinstimmende Szenentitel. Im Akt ›Draußen‹ finden sich die Szenen ›1. vor der Palette‹ und ›3. am Boden‹, im einleitenden ›Dritten Akt‹ heißen diese ›1. Davor‹ und ›10. am Boden‹ und im ›Sechsten Akt‹ ›2. davor‹ und ›9. am Boden‹. Die Szenen ›davor‹ speisen sich sämtlich aus dem Motiv des Hineingehens, wobei die erste hier zitierte Szene als allererste Szene des Dramentextes zudem für das Hineingehen in das Werk steht; die Schwelle vom Paratext zum Text ist genommen: Dem einleitenden Dialog »Da kommen wir nicht rein./Ich komme da rein./Echt?/Klar, komm« (Jk, 15) stehen die Sätze »was wollen die denn hier?/wo?/da/keine Ahnung/die wollen hier rein/Quatsch/doch, schau« (Jk, 57) sowie »laß mal schnell rein gehen/unbedingt/saukalt heute/Quatsch/mich friert aber/Pussy« (Jk, 135) gegenüber. Der ›Dritte‹ und der ›Sechste Akt‹, die bekanntlich mit derselben räumlichen Überschrift ›III. PALETTE‹ versehen sind, weisen zudem noch andere gemeinsame Szenen auf: Die Szenenüberschriften ›2. An der Türe‹, ›7. An der Bar‹, ›9. Das Klo‹, ›12. Daneben‹ aus dem ›Dritten Akt‹ finden ihr Pendant in ›10. an der Türe‹, ›7. an der Bar‹, ›3. am Klo‹ und ›8. direkt daneben‹ im ›Sechsten Akt‹. Was die Inhalte genau dieser Szenen betrifft, ließe sich zumindest bei einigen von einer Weiterentwicklung des Geschehens sprechen. Wird im ›Dritten Akt‹ an der Tür noch der Einlass verhandelt, »17 Mark bitte./Für beide?/Nee, für einen. Für beide bitte 33./33?/Ja, genau./Bitteschön./Stempel?/Och nö./Viel Spaß./Vielen Dank.« (Jk, 15), ist es im ›Sechsten Akt‹ die umgekehrte Richtung des Nachhausegehens, die man debattiert: »und jetzt?/ja?/was jetzt?/zu mir?/oder zu mir?/zu dir« (Jk, 149). Der Ort des sich Ereignenden ist derselbe, nur die Zeit eine andere. Windrich deutet das Beschriebene anhand eines Zitats aus dem letzten, ›Siebenten‹, Akt in diesem Sinne als genau drei Nächte, deren Folge von der ›III‹ in den Blick genommen wird:195 »eine schöne Sache/ein Tag Leben und drei Nächte/die sieben Bilder in der Galerie/nicht übergroß, gerade richtig/so daß man denkt, wenn man das sieht,/ja, doch das paßt« (Jk, 156). Die genannten sieben Bilder entsprächen analog zu den drei Nächten, die mit ›III‹ überschrieben sind, den sieben Akten des Stücks. Doch ist dies nicht die einzige Stelle, an der die Zahl ausgeschrieben im Stücktext auftaucht. Im ›Zweiten 195
Vgl. Windrich, Technotheater, S. 401.
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Akt‹ teilen sich die Ziffern 5 und 7 sogar eine Strophe: »konkret geht es an diesem Morgen übrigens/wie schon gesagt, um Ärger mit den Handwerkern/um extrem drängende Termine,/um jene sieben Bilder/die fünf gewaltigen Skulpturen,/die neu und fertig sind« (Jk, 81). Mit ihrer Position im zentralen Kunst-Akt sowie ihrer Überschrift ›5. Konzept‹ und dem Einschub des Morgens in den Wortlaut des Textes ist diese Szene ein Fingerzeig auf das Programm des Kunstwerks Jeff Koons. Auch hier können eine zeitliche und eine räumliche Dimension mitgedacht werden. Die sieben Bilder hängen in einer Reihe, bilden die zeitliche Sukzession des Stücks. In den Worten Strickers: »Die textuelle Anordnung signalisiert eine nichtlineare, eher konstellative Lektüre – wie das Nebeneinander von Bildern in einer Ausstellung.«196 Skulpturen nehmen hingegen, qua ihrer Dreidimensionalität, einen Raum ein und wären deshalb mit den fünf römischen Ziffern, und damit der räumlichen Anordnung der Akte gleichzusetzen, die im Stück Anwendung findet. Der Kunst-Akt ist es auch, in dem noch einmal auf den Gesamtkomplex der Werkgruppe hingewiesen wird. Die dritte Szene des Aktes, überschrieben mit ›heute morgen‹, verhandelt die Idee zu einem neuen Werk; die leere Projektionsfläche der Künstlerfigur scheint hier nicht beliebig von irgendjemandem eingenommen werden zu können, sondern lässt sich durchaus effektiv auf den Autor rückbeziehen: der Künstler ist voll Tatendrang/er freut sich seines Lebens/sieht die Gestalt des neuen Werks vor sich/ein neues Ding, das er schon ist/das nur noch schnell durch ihn hindurch/für alle sichtbar werden muß/was heißt da: muß/er will es halt, er denkt, das wäre toll/für alle und für ihn, das sieht man jetzt/man sieht ihn dieses Denken denken//toll toll toll/ganz toll/genau so wirds gemacht (Jk, 77f.) ›Der Schriftsteller‹ ist bereits ›das Werk‹, wie es bei Goetz an anderer Stelle heißt,197 es muss nur noch ›in der fertigen Gestalt des Buches‹ bzw. allgemeiner des Kunstwerks, vor die Öffentlichkeit treten. ›Für alle sichtbar werden‹ bedeutet in diesem Fall vielmehr noch die Aufführung des Werks auf einer Theaterbühne, d.h. die Gewinnung der Lebendgestalt für die ansonsten tote Schrift. Da die Überschrift der Szene, der dieses Zitat entstammt, Bezug auf den Titel des Werkganzen HEUTE MORGEN nimmt, ist der Theatertext noch einmal als der Dreh- und Angelpunkt des Buchkomplexes selbst ausgewiesen. Beendet wird der mittige ›Zweite Akt‹ durch die Szene ›17. Skizze‹, die ausmalt, worum sich das Stück dreht: Kunst/ein Wochenende Kunst/die Kneipe/und das Atelier/die Galerie und die Gebückten/die Gebückten vom Görlitzer Bahnhof/marschieren auf/ein Stück/in sieben Akten/schön knapp abgepackt//du hast gesagt/es geht um Liebe/du hast ge-
196 Stricker, Text-Raum, S. 295. 197 Vgl. Kap. 1.3 dieser Arbeit.
2. Zahlen
sagt/es geht um Kunst/es geht um Reden/Bilder, Melodien/es geht um Streit/und Stimmigkeit/es geht um Menschen/die was sagen/wollen, tun/normal/es geht um Schöpfung und Gebärden/um Ideen/es geht um Alltag/Wahrheit und Banalität/es geht nicht sehr viel um Handlungen/es wird nicht viel entschieden hier/es wird nicht sehr geschrieen/es geht um Kummer/und Melancholie/es geht um Rhythmen/wie in manchen Liedern/um ein Gehör/von Ferne her/es geht ganz allgemein um allgemeine Worte/um Sätze sozusagen dieser Tage/es geht um Fehler/Perfektion/zu glatt/zu wenig rauh/zu wenig wild/viel zu wenig viel zu viel//es geht um einen Augenblick/den es AUCH gibt/im Menschenleben kurz/zumindest manchmal/gibt es das/es geht/so blöd das klingt/um Harmonie/stimmt gar nicht/halt, stop, Lüge, falsch/im Gegenteil/es geht ums Nie der Harmonie (Jk, 101-103) Goetz spinnt anhand der Akte und Szenen ein Geflecht aus Ziffern, in dem sich neben dem Theatertext auch die Teilbände des Buchganzen entfalten und Bezüge zueinander aufbauen. Es entwickelt sich dergestalt eine regelrechte Architektur des Textes, in der sich Räume durch weitere Stückbestandteile, nämlich: Dank, Motti und Aktbetitelungen, aufspannen.
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3. Geometrie Was in der Nähe Gesang war, war in der Ferne Linie und Geometrie. (Kontrolliert) Die Ökonomie/der Schrift des Textes/im Raum des Papiers ist natürlich/grundsätzlich anders/als die der Zeit im Zeitraum/des Abends der Aufführung/im Raum von Bühne/und Zuschauerraum/im Theater (1989.1) Kunst ohne Vorbilder und ohne Geschichte taugt nichts (Klage) Im Mittelpunkt des Theaterstücks Jeff Koons müsste dem Titel nach der PopKünstler Jeff Koons stehen. Ausgewiesene Figuren wie Regieanweisungen gibt es in Jeff Koons jedoch nicht und so auch keine Figur, die dem Künstler nachempfunden sein könnte. Allein die Betitelung des Stücks aber ist in der Lage, dem Inhalt des Dramentextes das Schaffen und die künstlerische Biografie von Jeff Koons einzuprägen, weil der Titel als Resonanzboden für den Stücktext funktioniert. Jeff Koons hat mit dem gezielten Einsatz seiner Persönlichkeit in den Medien einen kometenhaften Aufstieg in Kunst und Pop-Kultur erfahren, ist mit der medialen Ausschlachtung von persönlichen Misserfolgen dann aber tief gefallen, muss in den 1990er Jahren eine groß angelegte Schau im Guggenheim-Museum immer wieder verschieben, bis das Museum sie schließlich absagt und die Geldquellen für die Ausstellung versiegen – soweit der Abriss seines Lebens und Schaffens bis zur Entstehungszeit des Textes Jeff Koons.1 All das muss im Stück jedoch keine Erwähnung finden, wie Goetz bestätigt: »Da es in echt so ist, braucht es ja im Text nicht vorzukommen. Der Text geht davon aus, von diesen Fakten.« (Jdsf, 117) Überflüssig wäre es, all dieses Geschehen über die Betitelung hinaus im Dramentext noch einmal nachzuzeichnen; das Stück kommt ohne eine Figur Jeff Koons gut aus.
1
Vgl. Alexander Smoltczyk: Malen nach Zahlen. In: Spiegel Kultur Extra 4/1998, S. 6-13, hier S. 12f.
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Abermals ist evident, dass der Paratext von Jeff Koons – in diesem Fall: der Titel – die vermeintliche Linearität der Buchseite aufbricht und seine Funktionalität für den Text offenbart – aus der Korrelation von Text und Paratext ergeben sich fruchtbare Verbindungen für die Interpretation des Theaterstücks. Weiß man um dieses Text/Paratext-Verhältnis, sind im Text neben wörtlichen Bezugnahmen auf Jeff Koons auch bestimmte Verfahrensweisen seiner künstlerischen Praxis offenbar. Grundlage dieser Beobachtung ist die Annahme, dass der Paratext eine Geometrie – verstanden als jene Disziplin der Mathematik, die sich mit Räumen und Flächen befasst – des Textganzen einrichtet. Eine Geometrie, die Räume eröffnet, in denen der jeweilig dazugehörige Text nachhallt, und die zusammengenommen die Architektur des Textes bilden. In Ergänzung zum vorangegangenen Kapitel sind es hier nicht mehr Zahlen, die den Paratext ausmachen, sondern Wörter, die die Räume für den Text aufspannen. Neben dem Namen von Jeff Koons sind dies vor allem die den Akten vorangeschickten Motti sowie die Akt- und Szenenüberschriften. Die vielen Informationen, die diese Paratexte bieten, ersetzen infolgedessen sogar die Angaben, die klassischerweise den Nebentexten zu entnehmen sind, die im Theaterstück Jeff Koons dem Augenschein nach fehlen. Auch bei der folgenden Analyse der Text/Paratext-Relationen wird vom Äußeren zum Inneren des Textes vorgegangen: Zunächst ist der Titel und der Künstler gleichen Namens Gegenstand der Betrachtung, anschließend wird auf die Danksagung und die Aktmotti eingegangen. Goetz dankt Mercedes Benz und bedient sich für die Motti und Aktüberschriften ganz unterschiedlicher Bezugnahmen: Die Sängerin Madonna und der Architekt Richard Meier sind genauso präsent wie die Schriftsteller Bertolt Brecht, Knut Hamsun und Hubert Fichte, hinzu kommen erneut Andy Warhol und Jeff Koons. Diesen Verweisen ist ein Motiv gemein, das sich durch das ganze Werk von Goetz zieht: die Entgegensetzung von Bild bzw. bildender Kunst und Schrift. Während Bilder nach Auffassung des Autors in der Lage sind, einen direkten Eindruck bei den Betrachtern hervorzurufen, ist Schrift lediglich die »Königin der Nachträglichkeit« (Jdsf, 141), die den Bildern in ihrer Wirkung hinterherhinkt. Zudem zeichneten sich die bildende Kunst und auch die Musik dadurch aus, dass sie im Gegensatz zur Schrift auf einer sozialen Produktions- wie Rezeptionsweise basieren, die Literatur hingegen ganz »Asozialitätskunst« (Afa, 127) sei. Die Polaritäten Bild/Schrift und Sozialität/Asozialität, die vermittels des Titels wie durch die Aktmotti und Überschriften im Stück Jeff Koons gegenwärtig sind, setzen so die für das Buch HEUTE MORGEN zentralen Dichotomien von Nacht/Tag sowie Leben/Werk fort, die im Text des Theaterstücks ebenfalls von Bedeutung sind. Dass diese Widersprüche in Jeff Koons gebündelt vorkommen, ist erneut Beleg für die These, dass der Theatertext den Mittelpunkt des Buchkomplexes bildet.
3. Geometrie
3.1
Text/Paratext-Räume
Goetz gibt dem Text Jeff Koons auf dem Bucheinband die Gattungsbezeichnung ›Stück‹ und weckt so die Erwartungen an einen dramatischen Text. Tatsächlich entspricht der Text aber nicht den klassischen Konventionen eines Theaterstücks – Nebentexte, Figuren, Dialoge und eine konsistente Handlung sind auf den ersten Blick nicht zu erkennen. In Goetz’ vorangegangenen Theaterstücken Krieg und Festung trug das Personal teilweise Namen (›Stammheimer, Stockhausen, Heidegger‹) und war zu einem anderen Teil bereits auf abstraktere soziale Funktionen (›Vater, Mutter, Schwestern‹) oder nur auf Stimmen und Gesichter hin verschoben. Das Konglomerat aus Versen und Textblöcken im Stück Jeff Koons kann jedoch an keiner Stelle konkreten Sprechern zugeschrieben werden, oft ist nicht einmal eindeutig, ob es sich um ein Gespräch oder einen Monolog, einen Bewusstseinsstrom oder um Musik handelt. Der eindeutige Name des Künstlers Koons im Titel aber spannt den Erwartungshorizont eines Künstlerdramas auf. Eine frühe Definition dieser Gattung liefert Ludwig Tieck in seiner Rezension zu Adam Gottlob Oehlenschlägers Correggio (1811, Übertragung ins Deutsche: 1816). Tieck entwickelt die Besprechung in Unterhaltung mit einem Freund, der selbst Maler ist, und der den Anforderungen an ein Malerdrama zunächst skeptisch gegenübersteht. »Warum«, erwidert Tieck aber, »soll der Stand eines Künstlers und sein Schicksal, im Fall es der Dichter nur interessant zu machen weiß, nicht eben auch, wie der Feldherr, Staatsmann, Bürger und Bauer, Gegenstand des Dramas werden können?«2 Voraussetzung sei, dass das Schicksal der Künstlerfigur aus seiner Kunst hervorgehe und mit seinem Talent ein und dasselbe werde.3 Für eines der ersten Künstlerdramen der deutschen Literaturgeschichte – Johann Wolfgang von Goethes Torquato Tasso (1790) – verwandte Tieck die Gattungsbezeichnung in seiner Inszenierungskritik zwar noch nicht, in der Rezension zum Correggio aber wird Tasso immer wieder als Muster eines Künstlerdramas gepriesen. In der Aufführungskritik zum Tasso heißt es: Ist es noch nöthig anzudeuten, daß dieses Werk unseres größten Dichters das einzige ist, in welchem genügend der Charakter eines Künstlers und sein Schicksal entwickelt wird? […] [W]ie ist in diesem Werke jenes schöne Wort unseres Novalis »Schicksal und Charakter sind nur Synonyme ein und desselben Begriffs« anschaulich gemacht. […] Kein Anderer, als Tasso selbst, gräbt den Abgrund vor seinen Füßen, in welchen er stürzt: und Alles, was ihm zu Gute kommen soll, wird
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Ludwig Tieck: »Correggio«, von Oehlenschläger. In: ders.: Kritische Schriften. Zum ersten Male gesammelt und mit einer Vorrede hg. v. dems., Bd. 4. Berlin/New York: De Gruyter 1974 [fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1852], S. 271-313, hier S. 274. Vgl. ebd.
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ihm feindselig, um ihn zu vernichten. – Dies ist das wahre Schicksal. Und haben ächte Dichter je ein anderes gekannt oder verkündigt?4 Ein Künstlerdrama ist demnach nicht nur ein Drama, das einfach einen Künstler zum Protagonisten hat, sondern es muss ein Künstler sein, der sich »zu einer dramatischen Darbietung qualifiziert«5 , grenzt Uwe Japp die Gattungsbestimmung ein. Inhaltlich zentral ist in dem auch seiner Form nach klassischen Drama Tasso die Frage nach dem Verhältnis des Künstlers und damit der Kunst zur Gesellschaft. Tasso, der dem Fürsten Alfons II. am Hof von Ferrara seine gesellschaftliche Anerkennung verdankt, gerät mit den Mechanismen des höfischen Lebens und dem Mäzen in seiner Funktion als Souverän aneinander. Der dramatische Konflikt ergebe sich aus der »Disproportion des Talents mit dem Leben«6 , wie Goethe Karoline Herder den Sinn seines Stücks anvertraute. Der für den Theatertext Jeff Koons zentrale Widerstreit zwischen Kunst und Leben ist damit bereits vorgezeichnet. Das Missverhältnis mündet bei Tasso entweder in den Überschwang des Talents, wofür Japp den Begriff des ›Kunstfanatismus‹ bereithält, oder in den Überschuss des Lebens, mit Japp: den ›Lebensdilettantismus‹7 ; die Balance zwischen Talent und Leben aber gelingt Tasso nicht.8 Mit einer Passage in Jeff Koons erweist Goetz einem Künstlerdrama wie Tasso tatsächlich Referenz:9 Eine metadramatisch gesetzte Szene im Akt ›Nach der Pause‹, die auf ›2. Präambel‹ folgt, wo sich der Vorhang wieder hebt, skizziert am Hofe das Verlangen nach einem Dichter: es war einmal/in jenen Tagen/es gab einmal/zu dieser Zeit/vor vielen Jahren/lange ist es her/ein Künstlerglück/von solchen Graden/daß der König sagte/schafft mir diesen/Künstler her/ich will ihn sehen/will ihn mieten/fragen/was er denkt/und macht/wie er/die Welt sieht/solche Sachen/Leute/los/und bißchen plötzlich/wenn ich bitten darf/wer weiß/wie lange ich/noch lebe/ich will ihn sprechen/diesen Künstler/will ihn sehen//und es geschah natürlich/wie der König es befohlen/der Künstler/ward herbei gebracht/er stand vor seinem König/grüßte, neigte sich/und sagte/hier/mein König/bin ich wie gewünscht/es ist mir eine Ehre/ich bin der Ihre/bitteschön (Jk, 110f.) 4
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Ludwig Tieck: »Torquato Tasso«, von Goethe. In: ders.: Kritische Schriften. Zum ersten Male gesammelt und mit einer Vorrede hg. v. dems., Bd. 4. Berlin/New York: De Gruyter 1974 [fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1852], S. 251-259, hier S. 257f. Uwe Japp: Das deutsche Künstlerdrama. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin/New York: De Gruyter 2004, S. 2. Karoline Herder an ihren Mann, Weimar, 20. März 1789. In: Wilhelm Bode (Hg.): Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. Bd. I, 1749-1793. Berlin/Weimar: Aufbau 1979, S. 393-394, hier S. 393. Vgl. Japp, Künstlerdrama, S. 57. Vgl. ausführlicher zu den Abweichungen vom Balance-Modell, das dem ausgleichenden Geist der klassischen Kunstlehre entspricht, ebd., S. 68-70. Vgl. Krankenhagen, Laß mich rein, S. 227.
3. Geometrie
Goetz betitelt diese Szene mit ›3. vorweg‹, und als Färbung des gesamten Stücks Jeff Koons als Künstlerdrama ist diese Vorwegnahme durchaus wörtlich zu nehmen, auch wenn das Publikum für den Pop-Künstler Jeff Koons nicht mehr der König, sondern die große Masse ist. Jeff Koons weiß: »Es gab eine Zeit, da brauchten Künstler nur in das Ohr des Königs oder des Papstes zu flüstern, um eine politische Wirkung zu haben. Heute müssen sie in die Ohren von Millionen Menschen flüstern.«10 In ihrer Studie zum Künstlerdrama im 20. Jahrhundert schätzt Nina Birkner es als problematisch ein, gegenwartsliterarische Theatertexte, in deren Zentrum ein Künstler steht, noch Künstlerdramen zu nennen. Denn auf der Seite des Textes können vor allem mit Hinblick auf das postdramatische Theater Figuren und eine konfliktäre Handlung nicht mehr zwingend vorausgesetzt werden und auf der Seite des Künstlers lässt sich im Zeitalter der Pop-Art nicht mehr ohne Weiteres zwischen einem talentierten Schöpfer und einem Warenproduzenten unterscheiden.11 Obwohl diese Problematiken dezidiert auf das Theaterstück Jeff Koons wie den Künstler Jeff Koons zutreffen, ist Goetz’ Formung des Künstlerdramas doch wieder – wie schon für die Struktur des Dramas angezeigt, die sich an den klassischen Fünfakter anlehnt – eine ganz bewusst nicht die Tradition negierende, sondern ihr Tribut zollende Variante. In einem Vortrag, dessen Wortlaut anlässlich der Uraufführung des Stücks Jeff Koons in Hamburg in einem Magazin des Deutschen Schauspielhauses abgedruckt wird, gibt Goetz den Begriff des Künstlerdramas selbst für sein Stück vor: »Das Theaterstück ›Jeff Koons‹, das ich jetzt gerade fertig geschrieben habe, ist ein Künstlerdrama, wie ich mir vorweg immer vorgenommen habe, im ganz traditionellen klassischen Sinn im Grunde. Ein Stück also über die Kunst und die Macht.«12 Nur sind die Künstlerfigur und ihr Schicksal, wie Figuren und Handlung generell, vielmehr im Paratext als im eigentlichen Text zu suchen. In seiner Faszination für den Künstler Jeff Koons kennt Goetz keine Grenzen, das legt von Neuem eine Interviewaussage offen: Ich liebe seine Kunst. Alles, in jedem Stadium. Den ganzen Weg, den ganzen Irrsinn. Diese Sehnsucht nach Glanz auf der Basis einer privaten und künstlerischen Desaster-Biographie. In der politischen Kunst der neunziger Jahre galt er plötzlich als absolute Hassfigur. Alle haben sich daran gefreut, wie sehr die Zeit jetzt gegen ihn war. Wie der gigantische Entwurf seines Zugriffs auf alles wirklich, den er in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in die Welt hinausgespuckt hatte, jetzt 10 11 12
Anthony d’Offay Gallery London (Hg.): Das Jeff Koons Handbuch. München u.a.: Schirmer/Mosel 1992, S. 37f. Vgl. Nina Birkner: Vom Genius zum Medienästheten. Modelle des Künstlerdramas im 20. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2009, S. 1-4. Rainald Goetz: Über Jeff Koons [ohne Titel]. In: Schauspielhaus Magazin (Hamburg) 24/1999, S. 12-13, hier S. 12.
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wie nichts und aufs Lächerlichste in sich zusammengesunken ist, der ganze Größenwahn. Diese irren Ideen, dass er Adam wäre und Cicciolina Eva, dass er mit seiner Fingerspitze die Ewigkeit berühren würde. Herrlich. Und dann geht die Liebe kaputt, die Kunstwerke werden zu teuer, der Markt bricht zusammen. Und er ist in einen grauenhaften Rechtsstreit um das Sorgerecht fürs gemeinsame Kind verstrickt. Elender gehts ja wohl nicht. Und was macht er daraus? Die große Serie »Celebration«. Die das Glück der Kindheit feiert. Sie ist aber zu teuer, sie wird nicht fertig, sie kommt nicht wirklich vom Fleck. Eben war er noch in dieser Firma, in der es um die Frage ging: wie geht die amerikanische Kunst weiter? Drei Minuten später gilt er dann fast nur noch als Spinner. (Jdsf, 117) Die so geartete Beschreibung des Künstlerschicksals lässt sich parallel zu Tiecks Rezension über Torquato Tasso lesen und liefert tatsächlich eine mustergültige Vorlage für ein Künstlerdrama. Die Suche nach dem Protagonisten, der dieses Künstlerschicksal durchläuft, muss allerdings vom Text weg zunächst wieder an dessen Oberfläche führen, denn Goetz’ Konzeption verortet einen Großteil der Geschehnisse bereits im Titel: Die Idee ist: Man gibt einen Namen vor, den Namen eines echten lebenden Menschen, einer öffentlichen Figur. Und schafft so einen Hallraum. Ruft gezielt Assoziationen und imaginären Text auf. Insofern ist der Titel schon das halbe Stück. Und im Verhältnis dazu steht dann der reale Text des Stücks. Das ergibt tolle Aufladungen. (Jdsf, 116) Für Goetz besitzt jedes Wort einen Hallraum, der sich aus der Summe der Benutzungen des Wortes »in allen Weltbereichen« (Afa, 232) zusammensetzt – was bei ihm wohl heißen muss: in der Benutzung durch die Medien wie Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehen. Dieser Kontext, den ein einzelnes Wort um sich bildet, hallt in jeder weiteren Benutzung desselben Wortes nach. Auf den Hallraum, den der Name des Künstlers Jeff Koons öffnet, setzt Goetz ganz bewusst. Das Stück hätte nicht mit ›Andy Warhol‹ betitelt werden können, gibt er auf Nachfrage zu verstehen (vgl. Jdsf, 138), »es geht schon um dieses ganz spezielle künstlerische Werk. Das Stück ist wirklich angestoßen von der langjährigen Faszination für diesen speziellen Künstlerwerdegang. Obwohl er im Stück dann nicht auftaucht.«13 Warhol verbinde Goetz eher mit tragischer Schönheit, auch Leichtigkeit sei bei ihm »megaernst« (Afa, 854), Koons hingegen gehe einen gegenwartsgemäßen Schritt weiter »[i]ns Helle.« (Afa, 854) Der imaginäre Text, der sich hinter der bloßen Nennung von Koons’ Namen verbirgt, spannt einen Raum für den tatsächlichen Text auf. Vor dem Hintergrund
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Sebastian Fasthuber/Wolfgang Kralicek: »Das Ding sollte knallen.« In: Falter Nr. 17/2000, S. 20 & 53-54, hier S. 20.
3. Geometrie
dessen, was man über den Künstler weiß, muss sich alles Geschriebene kontextualisieren lassen, wenn man dem Programm von Goetz Glauben schenkt. Im Weblog Abfall für alle rekapituliert dieser eine kurze Begegnung mit Wilfried Schulz, dem Dramaturgen der Inszenierung von Jeff Koons in Hamburg, in der er bekennt, dass er eigentlich gar nicht wisse, was genau sein Text in seiner Eigenständigkeit zu sagen habe. Stattdessen sei etwas anderes maßgeblich: Letztes Jahr sollte ich für Anselm eine kommentierte Strich-Fassung von Krieg machen und stellte dabei fest, daß sich aus jeder Überschrift, aus den Akteinteilungen, aus jedem Motto und jeder Ortsangabe, aus dem dauernden Ineinander abstrakter und konkreter Orte, aus den ganzen STRUKTURALEN Rahmenbedingungen also am allerklarsten das Argument des Ganzen entwickelt. […] Der ganze Möglichkeitenfonds, gegen den der Text anspricht, diese stumme Welt der Gegenwelt des vom Text Ausgeschlossenen eines Stückes muß die Inszenierung als Beberaum zum Leben bringen, irgendwie aktivieren. Deswegen war es mir immer egal, was die Regisseure mit dem TEXT machen, ich war immer für Kürzen, Streichen, Neumontieren, scheißegal. Wenn nur der GEIST der Sache erfaßt ist. (Afa, 744) Nicht nur ist hier – vor allem durch die Nutzung des Vokabulars ›Möglichkeitenfonds‹ sowie ›des vom Text Ausgeschlossenen‹ – die Luhmann’sche Definition von Sinn aufgerufen: Das Universalmedium des Sinns vollzieht sich für Luhmann als Einheit der Differenz von Aktualität und Möglichkeit.14 Jeder aktualisierte Sinn verweist auf die andere Seite seiner Differenz, nämlich das zunächst Ausgeschlossene, das aber als Möglichkeitshorizont erhalten bleibt. Goetz gibt den Text seines Theaterstücks im Gesamten als einen Horizont an Möglichem vor, der jedoch nicht komplett aktualisiert werden muss, sondern von dem es genügt, einiges zu aktualisieren, um den Geist der Sache, den Sinn des Stücks also, zu erfassen. Das Kunstwerk, so Luhmann, nimmt diese Funktion des Sinns in Anspruch, »steigert sie aber so, daß auch Unsichtbares sichtbar und, wenn es gelingt, die Welt in der Welt dargestellt wird.«15 Darüber hinaus aber ist in Goetz’ Aussage noch einmal die Unterscheidung von Medium/Form aufgenommen:16 Der Dramentext präsentiert sich als Medium der lose gekoppelten Elemente, die erst in ihrer Strichfassung durch die Regisseure bzw. die Aufführung auf der Theaterbühne ihre Form durch feste Kopplung dieser Elemente erzielen. Das Medium des Stücktextes gibt nicht eine bestimmte Form
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Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 100. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 353. Vgl. Kap. 1.1 dieser Arbeit.
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vor, sondern ermöglicht unterschiedliche, jedoch nicht willkürliche Formbildungen, weil bestimmte Elemente die Grundlage für die Formbildungen ausmachen, sie sind die ›strukturalen Rahmenbedingungen‹. [D]as steckt alles in den ÜBERSCHRIFTEN drin, im TITEL. Das halbe Stück ist der Titel. Der ruft alle Kunstwerke von Jeff Koons auf, die gesamte Kunst der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts. Alle Diskurse, die daran hängen, die massenhaften Selbstäußerungen von Jeff Koons. Alle diese Dinge, das ist der Boden, der Ausgangspunkt, das WOGEGEN sich das Stück wendet, worauf es ledert.17 Wie zuvor anhand der Zahlenverwendung im Werk von Goetz nachgewiesen, ist auch hier der Paratext, in Gestalt des Titels und der Akt- und Szenenüberschriften, im Wortsinne einer seiner Übersetzungen das ›Gegen‹ des Textes, mit dem der Text immer wieder in Beziehung gesetzt werden muss und zu dem er sich – gleich, ob in gekürzter oder neu montierter Fassung – in einer bestimmten Weise verhält. Exempel dieses Paratext/Text-Verhältnisses ist die bereits mehrfach erwähnte ›Palette‹, die Goetz zwei Mal als Aktüberschrift dient. Goetz lässt sein Stück vor dem Eingang der ehemaligen Hamburger Kellerkneipe beginnen, die Spielort von Hubert Fichtes gleichnamigem Roman ist. Zudem zitieren die ersten Sätze des Stücks, deren Motivik wiederholt vorkommt, nahezu wörtlich eine Passage von Fichte, wie Schumacher herausstellt:18 »Da kommen wir nicht rein./– Ich komm da rein.«19 Andreas Erb und Bernd Künzig zufolge tragen die Figuren in Fichtes Roman zwar Namen, werden jedoch nicht eingehender charakterisiert und seien deshalb einfach Typen.20 Im Theatertext Jeff Koons fehlen sowohl Namen als auch Beschreibungen von Figuren gänzlich und trotzdem vermitteln die Orte, an denen die Textträger21 sich treffen und Zeit verbringen, eine eben solche Typenhaftigkeit. Grundsätzlich könnte es auch jede andere Kneipe sein, in der auf dem Klo getratscht, an der Tür um den Einlass gefeilscht und im Hinterzimmer »noch was [genommen]« (Jk, 19) wird. Doch die Benennung des Akts mit dem Spielort der ›Palette‹ gibt Assoziationen an eine Klientel frei, die im Text selbst keine genauere Bestimmung erfährt. Stricker fasst für den Raum der ›Palette‹ zusammen: »Der Ort macht hier die Figuren. Fordern Figur und Handlung einen sie rahmenden Ort, wäre dieser: In-Szenierung, d.h. Ort der Figur – hier aber ist die jede Figuration Re-
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Goetz, Über Jeff Koons, S. 12. Vgl. Schumacher, Gerade Eben Jetzt, S. 169. Hubert Fichte: Die Palette. Reinbek b.H.: Rowohlt 1968, S. 131. Vgl. Andreas Erb/Bernd Künzig: »Ein Hymnus des Materials«: Pop und Pop-Art der Armen in Hubert Fichtes Roman »Die Palette«. In: text + kritik Sonderband X: Pop-Literatur (2003), S. 116-132, hier S. 128. Der Begriff ist von Poschmann übernommen. In ihrer dramaturgischen Analyse von Theatertexten ersetzt sie damit das Element der Figuren, vgl. Poschmann, Theatertext, S. 305-310.
3. Geometrie
sultat des Orts und somit Figur des Orts innerhalb der Konstellation.«22 D.h., weil es keine ausgewiesenen Figuren und keine Handlung gibt, werden sie durch Orte geschaffen. Dieser Interpretation Strickers muss allerdings noch etwas hinzugefügt werden: Denn nicht nur die in den Betitelungen der Szenen vorgegebenen Örtlichkeiten wie die ›Palette‹ oder der ›Görlitzer Bahnhof‹ schaffen das fehlende Personal und den Plot, sondern sämtliche Überschriften ermöglichen den Zugang zu diesen traditionellen Elementen eines Dramentextes, heißen sie nun ›kleiner Rausch‹ (Jk, 31), »Konzeption« (Jk, 37), »Skulptur« (Jk, 98) oder eben »an der Bar« (Jk, 146). Es ist die Gesamtheit der textstrukturierenden Elemente im Stück Jeff Koons, der Paratext in Gänze, in Goetz’ Worten: die ›ganzen strukturalen Rahmenbedingungen‹, die Figuren und Handlung in den Text implementieren. Angefangen beim Titel, der auf den Künstler Jeff Koons entfällt, fortgesetzt in einem dem gesamten Theaterstück vorangestellten Dank an Mercedes Benz und den jeweils den Akten zugehörigen Motti sowie schließlich in den Betitelungen der Akte und Szenen.23 Eine Erweiterung erfährt dieses stückinterne Beiwerk noch durch die Werkumgebung, die die anderen Teiltexte des Buchs HEUTE MORGEN bieten, wofür abermals der Paratext in Gestalt der einheitlich gestalteten Cover sowie der Werkverzeichnisse einsteht. Goetz gibt eine Geometrie, ja eine Architektur des Textes in Form des Paratextes vor, die Räume entstehen lässt, in denen einzelne Textteile widerhallen können, die ohne die Begrenzung der Wände, ohne Rahmen bzw. ohne Paratext, auch ohne Echo blieben und ausufern würden. Zur Illustration kann exemplarisch die sechste Szene aus dem ›Zweiten Akt‹ herhalten, die sich folgendermaßen liest: Ich habe/dann wurde/bis dann/recht genau//aha/aha aha/haha haha//danach/dagegen/für unser/erst recht//verstehe/versteh//sie wollen/wir können/dann mußten/wir sind//wenn Sie es so sagen/ganz sicher bestimmt//ich nehme/ich gab/ich hatte/bis gestern//nun aber?/so soll wohl?//noch schwierig/nicht unklar/sehr gut/aber bald//klingt spannend//mit ohne/betrotzt/aber meist/so er heißt//seit gestern vielleicht?//seit da schon/Begriffe/fast kann sie/sie nie//aha und/ja also so//ich muß auch/gestehe/verweigert/bedankt/ganz herzlich/ich habe//nein aber/ich uns doch/wir sollten/Sie haben//bis morgen//bestimmt (Jk, 82-84) Ganz ohne Überschrift ist den Textschnipseln nur schwer ein Sinn abzugewinnen. Der Titel der Szene liefert dem Text jedoch den nötigen Rahmen, er lautet: ›Das Interview‹. Im Lichte dieser Betitelung stellt sich der Textabschnitt als ein Gespräch zwischen Interviewer und Interviewtem heraus, letzterer ist durch die Setzung der Szene im ›Zweiten Akt‹, dem Kunst-Akt, als Künstler bestimmt.24
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Stricker, Text-Raum, S. 297. Vgl. auch Krankenhagen, Laß mich rein, S. 214. Vgl. Kap. 2.4 dieser Arbeit.
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Neben dem ganz konkreten Raum des Künstlernamens und der eindeutigen Bezugnahme auf bestimmte Orte erschließt Krankenhagen in seiner Analyse des Stücks einen weiteren, verallgemeinerten räumlichen Bezugspunkt in Form eines Kontrasts: Er charakterisiert die Differenz zwischen drinnen und draußen als ein das gesamte Theaterstück bestimmendes Motiv.25 Es geht ihm dabei weniger um das Verhältnis zwischen Text und Paratext, obwohl diese Gegenüberstellung dafür ebenso treffend wäre, sondern um die Kunst. Die Kunst selbst, so Krankenhagen, verhandele ständig die Grenze zwischen innen und außen, sodass erst durch den Austausch von Innen- und Außenseite Kunst entstehe. Die von ihm systemtheoretisch verstandene Außenseite der Kunst sei das Normale, das Unscheinbare, was weder schön noch hässlich, sondern einfach da ist, die Innenseite dagegen die Beobachtung des Unerwarteten, des Unstimmigen und des Zweifels. Überträgt man diese Trennung auf den Raum des sozialen Gefüges, hieße das: [D]ie, die drinnen sind, die Künstler und Kunstkritiker, die Galeristen und Sammler, wollen raus in das echte, betonharte Leben. Die, die draußen sind, die NichtKünstler und Nicht-Kritiker, wollen rein zu dem Glanz einer in Symbolen verhandelten Welt, in der die Kunst das Leben zum Einsturz bringt ohne es zum Einsturz zu bringen.26 Paradigmatisch führen das die dialogartigen Szenen vor, die wiederholt den Eintritt in einen Club bzw. eine Ausstellungseröffnung verhandeln (vgl. Jk, 15, 26f., 57, 109). Das Stück Jeff Koons blicke also nicht nur auf die eine Künstlerperson mit dem Namen Jeff Koons, stellt Krankenhagen fest, sondern zu gleichen Teilen abstrakt darauf, wie Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts generell produziert wird. Entscheidend ist auch hier, dass Kunst und Leben, parallel wie Tag und Nacht im gesamten Buch HEUTE MORGEN, aufeinandertreffen. Weil der Text Jeff Koons im Komplexgefüge genau die Stelle bildet, an der die Nacht zum Tag und das Leben zu Kunst wird, ist die Gattungsangabe ›Stück‹ nichts weniger als bloßes Spiel mit der Tradition, sondern Aufforderung, den Text als Theaterstück auf eine Bühne zu bringen, weil nur dann das Werk lebendig wird. Diese Verbindung von Kunst und Leben findet in der Künstlerpersönlichkeit Jeff Koons eine konsequente Entsprechung, da er es wie kaum ein anderer versteht, seine Person in seinem Schaffen in den Mittelpunkt zu rücken.
25 26
Vgl. Krankenhagen, Laß mich rein, S. 214. Ebd., S. 213.
3. Geometrie
3.2
Jeff Koons, der Künstler und Jeff Koons, das Stück
Jeff Koons ist einer der umtriebigsten Künstler seiner Zeit und wird nicht müde, sich selbst immer wieder in den höchsten Tönen zu loben. Die Selbstaussagen gehören zu seinem Werk dazu, »[w]er an das Werk heran will«, fasst Anne Breucha zusammen, »muss um den Künstler und dessen Wort herum.«27 Bereits 1992 lässt Koons in einer Videosequenz im Predigerton verlauten: I’m ending the 20th century. There’s no one else out there doing what I’m doing. And the reason I have this position is because I want this position more than anyone else. Many people think that they want to be in a position to communicate and to be a leading artist, but if you would give them what they think they want, they would run from it right away. And I want it more than anyone else. I think that I’m gonna be looked at as a very strong artist, and I would say within the 20th century the only parallels would be Picasso and Duchamp.28 Der Künstler weist sich selbst als zukunftstragende Figur aus und spricht sich Bedeutung für die kommende Kunstgeschichte zu. Er untermauert diese Behauptung, indem er sie einfach in nahezu identischen Phrasen beharrlich wiederholt, was sich als Charakteristikum auch in Bezug auf andere Selbstaussagen herausstellen wird. Im Jeff Koons Handbuch, das neben einem Werkverzeichnis und einigen Abbildungen vor allem Zitate des Künstlers enthält – das allein, so werden es auch die folgenden Beobachtungen zeigen, scheint für ein Handbuch zu diesem Künstler auszureichen –, heißt es fast gleichlautend: »Ich mache einiges der größten Kunst, die zur Zeit entsteht. Die Kunstwelt wird zehn Jahre brauchen, um dahinzukommen. In diesem Jahrhundert hat es Picasso und Duchamp gegeben. Nun führe ich uns aus dem zwanzigsten Jahrhundert heraus.«29 Ganz unrecht hatte Koons mit seiner Behauptung nicht. Bis dato wurde kein Werk eines lebenden Künstlers für mehr Geld verkauft als die Koons’sche Edelstahlskulptur Rabbit, die im Mai 2019 für rund 91 Millionen US-Dollar bei Christie’s versteigert wurde.30 Zudem honoriert man Koons’ Kunst durch unzählige Ausstellungen in namhaften Galerien und Museen.31 Es ist nicht nur der Geldwert allein, sondern auch die internationale Anerkennung von Seiten der Kunstkritik, die dafür spricht, dass Koons das erreicht
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Anne Breucha: Die Kunst der Postproduktion. Jeff Koons in seinen Interviews. Paderborn: Fink 2014, S. 64. Alison Chernick: Trailer ›The Jeff Koons Show‹. In: https://www.dailymotion.com/video/xeb66p (01.12.2019), 00:33-01:11 [Transkription L.H.]. Anthony d’Offay Gallery, Jeff Koons Handbuch, S. 82. Vgl. Tagesschau: 90 Millionen Dollar für Koons Stahlhasen. In: https://www.tagesschau.de/ausland/rabbit-koons-101.html (01.12.2019). Eine ausführliche und stetig aktualisierte Liste der Einzel- und Gruppenschauen findet sich auf Jeff Koons’ Website: www.jeffkoons.com.
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hat, was er voraussagte. Dabei »gibt [es] wenige Künstler, die gut oder schlecht zu finden eine derart ideologisch besetzte Geschmackssache ist«32 , urteilt Dorothea von Hantelmann und begründet ihre Aussage mit seiner öffentlich affirmativen Haltung gegenüber dem Kunstmarkt, seinen religiösen Maximen und seiner antiavantgardistischen Auffassung vom Einbezug des (bürgerlichen) Betrachters.33 Die Medien aber lieben ihn: Er kollaboriert mit Stars der Pop-Musik und gestaltet limitierte Kollektionen für große Modehäuser, gibt bereitwillig Interviews und darin viel von sich preis. Er ist eine Medienpersönlichkeit schlechthin und auch deshalb ein geeignetes Sujet für eine ›Geschichte der Gegenwart‹, die bei Goetz, wie schon so viele seiner früheren Bücher, vor allem auch auf Medien basiert.
3.2.1
Jeff Koons: Größenwahn in Endlosschleife
Koons wurde 1955 in Pennsylvania geboren und teilt sich mit Goetz, der ein halbes Jahr zuvor in München zur Welt kam, so schon einmal das Alter. Der Amerikaner besuchte Kunstakademien in Baltimore und Chicago, bevor er in den 1970er Jahren nach New York übersiedelte. Dort arbeitete er zeitweise im Museum of Modern Art, anfänglich an der Kasse und später im Bereich der Mitgliederwerbung, wo er nach eigenen Aussagen mehrere Millionen Dollar im Jahr an Mitgliedsbeiträgen einwarb.34 Im Anschluss daran erarbeitete er sich als Rohstoff-Broker die finanzielle Grundlage für die Werke seiner frühen Schaffensphase. Ein erster größerer Coup gelang Koons 1980 mit der Installation The New, in der er hauptsächlich brandneue Staubsauger und Teppichreiniger in steril ausgeleuchteten Vitrinen präsentierte. Diese Readymade-Reminiszenz an u.a. Marcel Duchamp ist in der Kunstwelt der Zeit natürlich nichts Neues, doch zieht sich die Reproduktion von Objekten als ein Wesensmerkmal durch das Werk des Künstlers. Er wiederholt Originale aus Design und Kunst, die er für sich umbildet, darunter: Werbeanzeigen für Spirituosen (Luxury and Degradation, 1986), Kitschfiguren aus Souvenirläden (z.B. die Skulpturen aus der Serie Banality, 1988), den Farnesischen Herkules (Gazing Ball [Farnese Hercules] aus der Serie Gazing Ball, 2013) oder eben Kinderspielzeug (z.B. Balloon Dog, aber auch Play-Doh, beide aus der Serie Celebration, in verschiedenen Versionen ausgeführt zwischen 1994 und 2014). Besonders oft wird in puncto Wiederholung bei Koons die Assoziation zur Epoche des Barock hergestellt. Zum einen seien es die überladenen und vergoldeten Elemente, die an das Barock und Rokoko erinnern; zum anderen der vom Künstler stetig bemühte Religionsdiskurs zur Beschreibung seiner Werke, der sowohl auf 32 33 34
Dorothea von Hantelmann: How to do things with art. Zur Bedeutsamkeit der Performativität von Kunst. Zürich/Berlin: Diaphanes 2007, S. 199. Vgl. ebd., S. 199f. Vgl. Robert Rosenblum: Über Jeff Koons. In: Anthony d’Offay Gallery London (Hg.): Das Jeff Koons Handbuch. München u.a.: Schirmer/Mosel 1992, S. 11-28, hier S. 11.
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Manipulation wie auf Selbstermächtigung der Betrachter ziele, und in dem sich deshalb eine Rückschau auf die barocke Macht der Kirche ausmachen lasse.35 Gudrun Inboden zeichnet für die Kunst des Barock nach, dass sie vor allem glaubwürdig zu sein hatte, weshalb die Bildsprache einfach und suggestiv ausfiel: »Es waren die spezifischen Möglichkeiten der Bildrhetorik ›auszubeuten‹, um jeden, ungeachtet seiner vorhandenen oder mangelnden theologischen Bildung, vom Wahrheitsgehalt des dargestellten Gegenstandes unmittelbar zu überzeugen.«36 Koons mag die Kunst des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, weil sie, wie er sagt, »als objektive Kunst, mit einem objektiven Vokabular«37 funktioniert habe. Danach, speziell ab der Französischen Revolution, so Koons, habe es lange Zeit keine objektive Kunst mehr gegeben, erst das 20. Jahrhundert brachte wieder zwei objektive Künstler hervor: Picasso und Duchamp, von denen sich ersterer zu Koons’ Bedauern später allerdings doch noch der Subjektivität zuwandte. Seit etwa den 1960er Jahren sei ein erneutes Bemühen um eine objektive Sprache in der Kunst zu erkennen und Koons bietet sich in der demokratischen Kunstwelt, in der jeder Künstler sein kann, gern als möglicher Sinnstifter dieser Bewegung an.38 Was genau Koons unter Objektivität in Bezug auf die Kunst versteht, führt er im Interview, aus dem diese Aussagen stammen, nicht weiter aus. Es lassen sich für eine mögliche Definition zumindest aber Eckpunkte abstecken, die Koons in Form von Begriffen stetig wiederholt. Einerseits ist es der Einbezug von allen nur möglichen Betrachtern, den Koons durch Objektivität erreichen will; jeder soll seine Kunst voraussetzungslos verstehen können: Meine Arbeit wird jede nur erdenkliche Chance der Kommunikation nutzen. Sie wird alle möglichen Tricks anwenden und alles tun – wirklich alles –, um zu kommunizieren, und den Betrachter für sich zu gewinnen. Selbst die arglosesten Leute werden nicht in Bedrängnis gebracht, sie geraten nicht in die Bedrängnis, nichts zu verstehen.39
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Vgl. Jeff Fraiman: Jeff Koons. Ein moderner Künstler zwischen Renaissance und Barock. In: Matthias Ulrich u.a. (Hg.): Jeff Koons. The Painter. Ostfildern: Hatje Cantz 2012, S. 84-90, hier S. 85. Gudrun Inboden: Jeff Koons‹ Objekte der Begierde. In: Eckhard Schneider (Hg.): Re-Object. Marcel Duchamp, Damien Hirst, Jeff Koons, Gerhard Merz. Publikation zur Ausstellung im Kunsthaus Bregenz vom 18. Februar bis 13. Mai 2007. Köln: König 2007, S. 116-123, hier S. 116. Christian Kämmerling/Jeff Koons: »Umarmt Eure Vergangenheit«. Ein Werkstattgespräch mit Jeff Koons über seinen Zyklus fürs SZ-Magazin, seinen Kunstbegriff und Sex. In: Süddeutsche Zeitung Magazin, No. 46 vom 13.11.1992, S. 32-38, hier S. 36. Vgl. ebd. Burke & Hare: Aus fünf Faden Tiefe. In: Parkett No. 19 (1989). Collaborations Martin Kippenberger/Jeff Koons, S. 48-51, hier S. 49.
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Koons will nicht als Künstler von oben herab zu einem Publikum sprechen, sondern sich auf eine Stufe mit den Betrachtern stellen und mit ihnen in einen Dialog treten. Was letztlich dabei herauskomme, sei nicht Kunst als Überheblichkeit, sondern Kunst als Unterhaltung.40 Exemplarisch für diese Ansicht steht seine Porzellanskulptur St. John the Baptist, die Leonardo da Vincis Gemälde Johannes der Täufer aufnimmt und umbildet. Koons stattet es in seiner Skulptur mit den »populärkulturellen Trödelmarktsingredenzien Kitsch-Schwein und -Pinguin«41 aus. Man könnte in dieser Kombination aus E- und U-Kultur einen kritischen Impetus von Seiten des Urhebers lesen, der den Betrachter dazu zwingt, sich die Kitschobjekte, die aus Souvenirläden und Einkaufszentren hinlänglich bekannt sind, direkt und aus nächster Nähe anzusehen.42 Ganz für den Einbezug allen Publikums spräche es allerdings, sähe man den Kitsch vor allem als das Vertraute an. Pawel Beylin bezeichnet den Kitsch als »ästhetisches Schlafmittel«43 , weil er seine Konsumenten in festgelegten Konventionen bestätigt: »Da der Kitsch eine erwartete Kunst ist, da er die Gewohnheiten dauerhaft macht und ein Bild der Kunst im Bewußtsein der Konsumenten stabilisiert, erfüllt er überhaupt stabilisierende soziale Funktionen.«44 Somit tragen die Kitsch-Elemente zum obendrein bereits bekannten Anblick von Leonardos Bildnis Sicherheit und Orientierung bei – Koons kann folglich auf eine noch breitere Kommunikationsbasis setzen. Schwein und Pinguin sind, in Kombination mit dem Kreuz, das bereits Teil des Originals ist, »Symbol für die Taufe im Mainstream – eine Taufe in der Banalität«45 , so Koons selbst. Passend ist der Titel seiner Werkserie, zu der die Skulptur gehört, Banality. Norbert Bolz bescheinigt Koons, dass er den einzigen Weg gegangen sei, den man nach Duchamp in der Kunst überhaupt noch einschlagen konnte, nämlich den der Unterbietung: Banalität ist die Kulturform der Entropie und damit natürlich auch der strikte Gegensatz zu Tiefsinn – nur so, eben in Richtung Oberfläche, war noch über Duchamp hinauszukommen. […] Und mit traumwandlerischer Sicherheit hat Koons dafür ein Theologumenon geprägt: »to be baptized in banality«. Der postmoderne Künstler ist im Mainstream getauft. Das ästhetische Heil liegt nicht an der Spitze einer »Bewegung« oder in den Katakomben einer Subkultur, nicht auf den Höhen
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Vgl. Kämmerling/Koons, Umarmt eure Vergangenheit, S. 34. Lehnert, Oberfläche Hallraum Referenzhölle, S. 87. Vgl. Rosenblum, Über Jeff Koons, S. 15. Pawel Beylin: Der Kitsch als ästhetische und außerästhetische Erscheinung. In Hans-Robert Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (= Poetik und Hermeneutik 3). München: Fink 1968, S. 393-406, hier S. 404. Ebd. Burke & Hare, Aus fünf Faden Tiefe, S. 48.
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des Geistes oder in den Tiefen des Sinns, sondern im Alltäglichen, Geistlosen, allen Zugänglichen.46 Falls bis zur Werkreihe Banality noch Zweifel bestanden, geben die Stichworte ›Oberfläche‹, ›Banalität‹, ›Alltägliches‹ und ›allen Zugängliches‹ nun schließlich die Stoßrichtung vor: Koons ist Pop-Künstler – die Werkserie gilt denn auch als sein ökonomischer Durchbruch. Populär zu sein und damit viele Menschen zu erreichen, ist nicht nur eine Komponente dessen, was Koons ›objektive Kunst‹ nennt, sondern auch das, was mit Goetz’ Verständnis des Pop auf einer Linie läuft. Kunst, die Pop sein will, habe es in Koons’ Augen aber nicht leicht, weil sie in großer Konkurrenz zu Musik, Presse und Werbung stehe, die mit den Massen zu kommunizieren verstünden, weshalb sich die Pop-Kunst genau dieser Medien bedienen müsse, um nicht weniger mächtig zu sein.47 Zur Werkserie Banality gehören daher auch Anzeigen, die Kunstwerke und Inserate zugleich sind. In verschiedenen namhaften Kunstzeitschriften abgedruckt, dienten sie als Werbung für die Ausstellung, die zeitgleich in New York, Chicago und Köln gezeigt wurde. Koons inszeniert sich in den Anzeigen in unterschiedlichen Posen: mal als Dompteur, mal als stilisierter Heilsbringer oder als Lehrer, der bereits den Jüngsten ›Exploit the Masses‹ und ›Banality as Saviour‹ kündet. Er verletzte mit den Anzeigen insofern eine Norm des Kunstmarkts, als dass er sich selbst, weniger seine Kunst, in der Werbung in den Mittelpunkt rückte und damit den Ruhm um seine Person begründete. Die Anzeigen, so Sarah Thornton, »were questioning the art world’s official position that the work is more important than the artist and flirting with the potential for blatant self-promotion to kill credibility.«48 Fortan ging es bei Koons nicht mehr nur um das Werk, sondern auch immer um den Künstler und sein Leben selbst. Zur von Koons anvisierten Objektivität trägt außerdem Sicherheit bei. Wenn Koons beispielsweise in dem aus der skandalumwobenen Bild- und Skulptur-Serie Made in Heaven stammenden großformatigen Druck Jeff in the Position of Adam Michelangelos Fresko Die Erschaffung Adams zitiert, vermittelt er ein Gefühl von etwas Bekanntem und Sicherem. Das Thema, das seine Werkserie umkreist – Sex und Intimität –, ist laut Koons viel zu sehr mit Scham, Schuld und Unsicherheit behaftet, und dieses Gefühl gelte es, zu überwinden.49 Indem er das wirkmächtige Bild Michelangelos, das Betrachter unumwunden ansehen, als Ausgangspunkt nimmt, will Koons eine ähnlich unvoreingenommene Betrachtung seines Werks
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Norbert Bolz: Marketing als Kunst oder: Was man von Jeff Koons lernen kann. In: ders. u.a. (Hg.): Riskante Bilder. Kunst – Literatur – Medien. München: Fink 1996, S. 129-136, hier S. 134. Vgl. Kämmerling/Koons, Umarmt eure Vergangenheit, S. 33. Sarah Thornton: 33 Artists in 3 Acts. New York: Norton 2014, S. 4. Vgl. Thomas Zaunschirm: Kunst als Sündenfall. Die Tabuverletzungen des Jeff Koons. Freiburg i.B.: Rombach 1996, S. 35.
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ermöglichen. Da sich Unsicherheiten zu unterschiedlichen Zeiten auf verschiedene Sachverhalte beziehen, seien die Themen von Koons’ Werkserien immer auf die Geisteshaltung einer bestimmten Zeitspanne abgestimmt, wie Ingrid Sischy ihm attestiert: »Koons always captures the Zeitgeist, for better or for worse, so there is a perfect logic to the ›Made in Heaven‹ series, which he exhibited at Sonnabend in the fall of 1991, a period in which sex went from under the counter to center stage because of AIDS.«50 Dem Vorwurf, Koons habe mit Made in Heaven vielmehr Pornografie als Kunst geschaffen, begegnet er selbst mit der Auffassung, dass dies genau seine Absicht gewesen sei, weil man sich mittels Pornografie leicht Zutritt zur Populärkultur verschaffen könne.51 Bereits 1968 charakterisierte Leslie Fiedler in seinem besonders für die Pop-Literatur programmatischen Aufsatz Cross the Border – Close the Gap die Pornografie neben Western und Science-Fiction als eine Form der Pop-Art, die – so die Proklamation des Aufsatzes – in der Lage sei, die Grenze zwischen hoher und niederer Kultur, Künstler und Publikum zu überschreiten. Der Literatur der Postmoderne rechnet Fiedler es als Verdienst an, dass sie die Pornografie aus dem Untergrund an die Oberfläche gehoben und so die Lücke zwischen Kunst und Porno geschlossen habe.52 Koons setzt genau dieses Vorhaben, allerdings in Bildern, fort und verhilft seiner Vision von einer objektiven Kunst damit zu einem weiteren Standbein. Zuallererst plante er sogar einen Film namens ›Made in Heaven‹, Teil der Werkserie ist deshalb auch ein Filmplakat. Koons hatte das Werbeplakat vor jeglichem Beginn an einer filmischen Arbeit veröffentlicht, weil er die Reaktionen des Publikums auf die Ankündigung des Films abwarten wollte. Er wünschte sich Rückhalt: »It’s not like I’m leaving the art world, it’s just I feel that for the ideas I have right now, film will be able to have the greatest impact as far as communication to the public. I want to reach as wide an audience as possible.«53 Der Film wurde zwar nie realisiert, doch
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Ingrid Sischy: Jeff Koons ist back! In: Vanity Fair, July 2014, S. 86-95 & 115, hier S. 94. Vgl. Thornton, 33 Artists in 3 Acts, S. 5. Koons äußert der Autorin gegenüber: »The easiest way to become a movie star is to make a porn film […]. It was my idea of how to participate in American popular culture.« (ebd.) Vgl. Leslie Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne. In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig: Reclam 1994, S. 14-39, hier S. 28f. Grundlage des Textes bildet ein Vortrag, den Fiedler 1968 unter dem Titel »The Case for Postmodernism« an der Universität Freiburg i.B. hielt. Eine erste schriftliche Fassung erschien als »Das Zeitalter der neuen Literatur« in der Wochenzeitschrift Christ und Welt, eine weitere Version im Jahr 1969 unter dem finalen Titel Cross the Border – Close the Gap in der amerikanischen Ausgabe des Playboy. Brinkmann und Rygulla nehmen den Text dann auch in ihre Anthologie Acid mit auf. Andrew Renton/Jeff Koons: I have my finger on the eternal. In: Flash Art 153, Summer 1990, S. 110-115, hier S. 110.
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auch die weiteren Bestandteile der Werkserie setzen auf eine breite Akzeptanz: sie erstrecken sich größtenteils auf gefällige Blumen- und Tierskulpturen. In der Wiederholung von bekannten Kunstwerken, wie Koons sie vollzieht, ist implizit die Frage nach dem Neuen aufgeworfen, das die Kunst anbieten muss, wenn sie, so Luhmann, als eigenes autopoietisches System ausdifferenziert sein will. Wenn sie nichts »[k]ünstlerisch Neues« hervorbrächte, »würde ihre Kommunikation zusammenbrechen«54 , weil die Kunstwerke keine neuen Informationen mehr böten. Die Frage nach dem Neuen ist in Koons’ Fall allerdings nicht im Funktionssystem der Kunst verblieben, sondern hat sich auf das des Rechts ausgeweitet. Koons’ Art der Wiederholung hat ihm mitunter den Vorwurf des Plagiats eingebracht, mehrfach musste er sich bereits Gerichtsprozessen stellen. Der Fotograf Art Rogers, Urheber einer Schwarz-Weiß-Fotografie mit dem Titel Puppies, das ein Paar mit acht Hundewelpen zeigt und als Postkarte vertrieben wurde, klagte zum Beispiel gegen Koons’ lebensgroße Holzskulptur String of Puppies (1988), die das Foto tatsächlich zum Vorbild hat, das Paar allerdings auffällig bunt gekleidet und mit Blümchen im Haar sowie die Welpen in Blau mit Knopfnasen nachbildet. Rogers gewann den Plagiatsprozess, weil, wie Matías Martínez schließt, die Richter es wohl für unnötig hielten, »zwischen materiellen und ästhetischen Eigenschaften der Werke zu unterscheiden.«55 Sie hätten sich stattdessen nur auf die äußere Ähnlichkeit der beiden Werke gestützt und so letztlich die Rolle des Künstlers für die Bedeutung eines Kunstwerks verkürzt. Martínez sieht es für die Eigenständigkeit von Koons’ Skulptur als entscheidend an, dass es nicht durch die Imitation eines bestimmten Einzelwerks entstanden sei, sondern »durch die Imitation eines Stils«56 , was sich an den unzweideutigen Bezügen zur Populärkultur und zum Kitsch zeige, die das Original hin zur Kunst aufwerten. Die künstlerische Konzeption gehöre also genauso zum Kunstwerk wie dessen tatsächliche materielle Ausführung. Auch Jean-Christophe Ammann hält die Strategie Koons’ für »interessanter […] als die Werke, die sie gebiert«57 , was letztlich dazu führe, dass das, was wie ein Readymade aussehe, keines sei, weil sich hinter der Herstellungsweise ein rein künstliches Konzept verberge.58 Das künstlerisch Neue von Koons’ Kunst besteht so vor allem in einer Philosophie, die ihre Entsprechung im Verständnis Arthur Dantos von Kunst seit Warhol findet. Danto macht die Ausstellung von Warhols Brillo Boxes 1964 in der Sta54 55
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Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 85. Matías Martínez: Autorschaft und Intertextualität. In Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen: Niemeyer 1999, S. 465-479, hier S. 469. Ebd., S. 470. Jean-Christophe Ammann: Der Fall Jeff Koons. In: Parkett No. 19 (1989). Collaborations Martin Kippenberger/Jeff Koons, S. 53-55, hier S. 53. Vgl. ebd., S. 53f.
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ble Gallery in New York zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen: »Why was it [Warhols Brillo Box, L.H.] a work of art when the objects which resemble it exactly, at least under perceptual criteria, are mere things, or, at best, mere artifacts?«59 Danto zufolge habe erst Pop-Art diese Frage nach der Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst gestellt und damit die philosophische Frage zur Kunst überhaupt zu ihrem Zentrum erhoben, weshalb Kunst schließlich Philosophie geworden sei: [W]ith this, it seemed to me, the history of art attained that point where it had to turn into its own philosophy. It had gone, as art, as far as it could go. In turning into philosophy, art had come to an end. From now on progress could only be enacted on a level of abstract self-consciousness of the kind which philosophy alone must consist in.60 Die Kunst nach ihrem Ende sei ins Posthistoire eingetreten und die ersten Jahre dieser Epoche hätten ganz selbstverständlich unterschiedliche Ausprägungen hervorgebracht. Denn die Kunstwelt war sich noch unsicher darüber, ob tatsächlich etwas zu Ende war oder ob es genauso weitergehen würde wie zuvor, und das hätte geheißen: dass einfach wieder etwas Neues aufkommt. Danto aber ist sich sicher, dass es in diesem Sinne nichts mehr Neues geben wird: »The time for next things is past. The end of art coincides with the end of a history of art that has this kind of structure. After that there is nothing to do but live happily ever after.«61 Danto nutzt diese märchentypische Wendung in seiner Aussage, um den Unterschied zwischen den Verben ›to stop‹ und ›coming to an end‹ bezogen auf Narrative zu erklären: ›To stop‹ bedeute, dass etwas durch äußere Umstände beendet worden ist, obwohl es ansonsten hätte weiterbestehen können. Hingegen weist ›coming to an end‹ auf interne Umstände hin, die sich auf ein Muster oder etwas Vollendetes beziehen, und bewirken, dass zur Narration nichts weiter hinzugefügt werden kann. Diese Differenz veranschaulicht er am Märchen: Das Leben im Märchen geht weiter, die Figuren leben ›happily ever after‹, obwohl die Erzählung des Märchens zu Ende ist. Das Märchen hat also nicht aufgehört, ist in seiner Erzählung aber zu einem Ende gekommen. Genau das habe Hegel auch mit seiner These vom Ende der Kunst sagen wollen, so Danto weiter: Kunst ist nur als eine Episode in einem größeren Narrativ zu Ende. Die Aufgabe der Geschichte der Kunst ist vor allem, noch etwas Größerem zu dienen: dem absoluten Geist.62 Dantos Volte ist nun, die Wendung ›live happily ever after‹ für das größere Narrativ wörtlich zu nehmen, und es der Kunst anzugedeihen, diese ›happiness‹ zu erfüllen: »As I see 59 60 61 62
Arthur C. Danto: After the end of art. Contemporary art and the pale of history. New Jersey: Princeton University Press 1997, S. 125. Arthur C. Danto: Approaching the end of art. In: ders.: The state of the art. New York: Prentice Hall 1987, S. 202-218, hier S. 216. Ebd., S. 217. Vgl. ebd., S. 210f.
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it, this means returning art to the serving of largely human ends. There is after all something finally satisfying in making likenesses, […] there is something finally satisfying in just moving pain around.«63 Koons’ Kunst hat seinen Selbstaussagen zufolge genau dieses Ziel. Was eigentlich als Kopie, als bloße Ähnlichkeit, abgetan werden könnte und nichts signifikant Neues mehr birgt, bietet stattdessen Orientierung, die Sicherheit und damit auch ›happiness‹ hervorruft. Originalitätszwang würde zwar Einmaliges hervorbringen, damit aber auch die Orientierung aufgeben und Unsicherheitsgefühle an ihre Stelle treten lassen.64 Koons indessen nutzt die Wiederholung als eine Art von Orientierung, und die bietet vor allem die Vergangenheit. Er holt das Neue – ganz dem Danto-Satz: ›the time for next things is past‹ entsprechend – aus der Vergangenheit; neu an seiner Wiederholung von bereits bestehenden Kunstwerken ist seine konzeptuelle, philosophische Ausrichtung der Kunst, die Sicherheit und damit Unbekümmertheit etabliert. Die Vergangenheit hat Koons’ Auffassung gemäß ebenfalls unentwegt in seinen Aussagen Platz. Sein Credo heißt: ›Embrace your past‹. Er reformuliert seine Aussage in einem Interview zum Bildzyklus Baby & Eimer, den er 1992 für das Magazin der Süddeutschen Zeitung entwarf, im Brustton der Pop-Überzeugung: »Ich kann es gar nicht groß genug, bunt genug und oft genug sagen, meine Botschaft ist: Umarmt eure Vergangenheit!«65 Koons’ eigenes Erinnerungsmoment an das Vergangene, das er direkt mit Made in Heaven verbindet und im selben Gespräch offenbart, sei der Porzellanaschenbecher seines Großvaters gewesen. Er habe die Form einer Frau gehabt, deren Beine sich aufgrund des Rauchs bewegten, sobald man die Zigarette darauf ablegte. Dieser ›kitschige Krimskrams‹ habe seine ersten Assoziationen mit Sexualität und dem Leben überhaupt geprägt und Koons sei nicht willens, diese tiefen Erinnerungen von sich abzuspalten. Eben weil solch vermeintlicher Nippes in seiner Persönlichkeit nachhalle und ihm damit eine Orientierung gebe, sei es so wichtig, dass diese Erinnerungen wachgehalten würden. Die Vergangenheit sei auch der Grund dafür, warum Koons zum Zeitpunkt der Schilderung dieses Rückblicks nicht in den USA, sondern in Bayern wohnt, wo auch Goetz beheimatet und zu dieser Zeit wohnhaft ist: Die Amerikaner verdrängen ihre Vergangenheit. Deshalb lebe ich in Bayern. Seit 1988 wohne ich in München, und ich muß sagen, es ist wunderbar zu sehen, wie die Bayern ihre Vergangenheit umarmen: Da sitzen sie in Lederhosen vor ihrer 63 64
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Ebd., S. 217. Vgl. Wolfgang Ullrich: Rituale der Wiederholung. Zum wiedererwachten Interesse zeitgenössischer Künstler an Formen der Kopie. In: Ariane Mensger/Staatliche Kunsthalle Karlsruhe/Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (Hg.): Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube. Bielefeld: Kerber 2012, S. 136-145, hier S. 139-142. Kämmerling/Koons, Umarmt eure Vergangenheit, S. 36.
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Maß Bier, nachts bringen sie die Kühe von der Weide, die Kühe haben Blumen und Glocken um den Hals […] Genau das meine ich, wenn ich von Verwurzelung in der Vergangenheit rede.66 Von der Strategie, die Wurzeln als Orientierung zu nutzen, macht Koons auch bei der Künstlerausgabe der Tageszeitung Die WELT Gebrauch, die er am 16. November 2017 gestaltet. Die Tageszeitung bittet regelmäßig namhafte Künstler, eine reguläre Ausgabe zu bebildern. Koons aber nutzt weniger seine eigenen Werke denn Gemälde und Skulpturen seiner ›Wahlverwandten‹ für die Illustration der Artikel. Wie ein Museum sei die Zeitung an diesem Tag eingerichtet, »Masterpiece [treffe] auf Masterpiece, von einem Glücksaugenblick der Kunstgeschichte zum nächsten«67 , urteilt Hans-Joachim Müller in seinem Aufmacher zur Sonderausgabe. Die erste Seite steht unter dem Blick der Mona Lisa (Koons setzt nur ihre Augen in Szene), es folgen Dalí und Tizian, Duchamp und Van Gogh, Manet und Courbet, Plastiken der Antike, dann Koons’ eigene Werke Rabbit sowie Michael Jackson and Bubbles. Gleich zu Beginn weiß Müller auch, warum Koons diese Ahnen in der Zeitung versammelt: »als Beschützer, als Rückversicherer und mehr noch als Aufforderung, die Geschichte der Bilder als Geschichte des Geistes zu begreifen.«68 Koons will, wie er selbst im Interview der Künstlerausgabe verrät, die WELT – wohl verstanden als Tageszeitung wie als Totalität – nicht mit seinem eigenen Markenzeichen versehen, sondern Bilder aus dem »Kanon einer universellen Kunstgeschichte«, deren »einigende Kraft«69 , zum Vorschein bringen. Mittelpunkt von Koons’ Versuchsanordnung zur Umarmung der Vergangenheit ist aber immer noch er selbst, er kehrt die Bedeutung seiner Person deutlich hervor. Nicht nur, dass er beispielsweise keinen Schauspieler Modell für Made in Heaven stehen, sondern sich selbst mit seiner damaligen Partnerin Cicciolina ablichten und daraus die Bilder und Skulpturen der Werkserie fertigen ließ. Im dieser Reihe zugehörigen Bildnis Jeff in the Position of Adam erhebt er sich überdies auch noch zum Schöpfergott: Ist es in Michelangelos Original der Gottvater, der mit dem ausgetreckten Finger Adam zum Leben erweckt, ist Koons in seiner Abwandlung dem Titel gemäß zwar in der Position Adams, braucht aber keinen Schöpfer mehr, weil er ›sein‹ Geschöpf Cicciolina im Blick hat, »vielleicht hat sich der Funke der Schöpfung«, wie Jeff Fraiman es ausdrückt, »gerade zwischen ihren Beinen entzündet.«70 Koons verwischt die Grenzen zwischen göttlicher Schöpfung und seiner 66
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Ebd. Koons und Cicciolina hätten deshalb lange überlegt, wie sie ihren Sohn nennen sollen und entschieden sich schließlich, weil er ein bayerisches Baby sei, für den Namen Ludwig Maximilian, vgl. ebd. Hans-Joachim Müller: Die Welt des Jeff Koons. In: Die WELT vom 16.11.2017, S. 1. Ebd. Boris Pofalla/Jeff Koons: »Wir entfalten unser größtes Potenzial, wenn wir uns verneigen.« In: Die WELT vom 16.11.2017, S. 34. Fraiman, Moderner Künstler zwischen Renaissance und Barock, S. 85.
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Kunst und heißt Cicciolina und sich Gott: »Wir sind der Adam und die Eva unserer Zeit. […] Durch unsere Verbindung sind wir wieder in Einklang mit der Natur. Ich meine, wir sind Gott geworden. Das ist die Basis – wir sind Gott geworden.«71 Koons verschmilzt damit nicht nur das Werk Gottes mit seinem eigenen, sondern auch sein persönliches Leben mit seiner Kunst, nicht zuletzt waren Cicciolina und er tatsächlich ein Paar. Koons tönt: »[M]y art and my life are totally one […]. There is no separation for me between the two.«72 Selbstinszenierung – ob als Lehrer oder Dompteur, in Sexpose oder als Gott – überlässt Koons dabei selbstredend nicht dem Zufall. Spätestens angefangen mit den Inseraten für die Werkserie Banality und besonders deutlich fortgeführt in der Folgeserie Made in Heaven macht Koons »den Künstler zum Ort der Kunst«73 , wie Krankenhagen es formuliert. Zur Reihe Made in Heaven gehört u.a. auch ein Selbstporträt als Skulptur. Das Standbild aus reinem Marmor, in dem Koons seine makellose Büste aus Kristallen aufsteigen lässt, wäre an sich schon Selbstpreisung genug. Eine überdimensionale Steigerung dieses Eigenlobs erfährt die Skulptur allerdings rund 20 Jahre nach ihrer Fertigstellung in den königlichen Privat- und Repräsentationsräumen des Schlosses von Versailles, wo Koons im Jahr 2008 einige seiner bekanntesten Skulpturen ausstellt. [D]ie Platzierung von Koons’ pathetischem, neoklassizistischen Self-Portrait (1991) auf einem Marmorimitat-Sockel im Salon d’Apollon konnte als affirmative Behauptung seiner Position als »postmillenial Master of the Universe« verstanden werden, befand sich die Büste doch an keiner geringeren Stelle, als am ehemaligen Standort des Throns Ludwig XIV. und damit im Mittelpunkt eines Raumes, welcher dem Gott der Sonne, der Kunst und des Friedens gewidmet und somit Sinnbild des Sonnenkönigs und dessen ›heliozentrisch‹ um die eigene Person ausgerichteten Machtapparates war.74 Bereits bei der Herstellung seiner Kunstwerke weiß Koons sich in Position zu setzen. Koons lässt produzieren, nie legt er letzte Hand an seine eigenen Werke. Sein Studio – seine, in Anlehnung an Warhol: Firma, die Jeff Koons Productions Inc. – bewirtschaftet er mit zahlreichen Angestellten, die etwa in den Bereichen Malerei, Bildhauerei oder Verwaltung für ihn arbeiten. Die Produktionsprozesse können bis zu mehreren Jahren andauern, manche Fertigungen werden nach Italien, Frankreich und Deutschland ausgelagert, weil nur dort die aufwendige Verarbeitung der
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Anthony d’Offay Gallery, Jeff Koons Handbuch, S. 140. Renton/Koons, I have my finger on the eternal, S. 112. Krankenhagen, Laß mich rein, S. 220. Dietmar Kohler: Barock und Kitsch. Jeff Koons‹ Moon (Light Blue) in der Galerie des Glaces von Versailles. In: Nike Bätzner (Hg.): Die Aktualität des Barock. Zürich/Berlin: diaphanes 2014, S. 244-262, hier S. 249.
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immer wieder von Koons verwendeten Materialien Porzellan, Glas, Holz oder Metall seinen Ansprüchen an Perfektion genügen kann. Krankenhagen sieht in dieser hochwertigen Produktionspraxis – ähnlich wie oben für den Plagiatsvorwurf gezeigt – eine Aufwertung der größtenteils profanen Gegenstände.75 Mit der Ausfertigung der sieben in unterschiedlichen Farben lackierten Metalltulpen für die Skulptur mit dem Titel Tulips (1995-2004), die zur anfänglich desaströsen Werkserie Celebration gehört, beauftragte er beispielsweise eine thüringische Metallwerkstatt. Koons, so wird berichtet, sei eigens angereist, um die Oberflächen genauestens auf Unebenheiten zu prüfen; die Arbeiter fertigten ihm dazu ein spezielles Gestell, mithilfe dessen er sich mit einer Lupe unter die zentnerschweren Tulpenblüten legen konnte.76 Koons tut sich, obschon nicht als souveräner Produzent des Werks, so als dessen Prüfer hervor, der Standards durchsetzt, die weit über das Nötigste hinausgehen und den Skulpturen so den Charakter von Luxus verleihen. Die Endabnahme eines Kunstwerks ist der Stempel, den nur Koons ihm aufdrücken kann, seine Angestellten müssen seinen Anweisungen folgen; selbst kreativ werden sollen sie, wenn es nach Koons ginge, nur in ihrer Freizeit.77 Die Ausfertiger der Kunstwerke dürfen ihr Werk zwar selbst signieren, Koons aber signiert noch darunter. Seine Erklärung dafür lautet: Die Sache läuft so ab, dass einer der Firmen-Künstler das Modell herstellt und es signiert. Ich signiere unten drunter mit Datum und Serien-Nummer. Ich lasse sie signieren, weil ich will, dass sie mir hundert Prozent geben, sich selbst ausbeuten. Ausserdem will ich nicht unmittelbar körperlich daran beteiligt sein, weil ich mich dann in meiner eigenen Körperlichkeit verlieren würde. Ich würde fehlgeleitet in Richtung auf meinen ureigenen Impuls, und dann würde es eine Art Onanie.78 Die Verlagerung der Herstellung von Kunstwerken auf andere Kompetenzen ist neben den exorbitanten Preisen, die schließlich für die fertigen Kunstwerke erzielt werden, ein Merkmal für die von Wolfgang Ullrich ausgerufene ›Siegerkunst‹, die er als bestimmend für das 21. Jahrhundert ansieht. Sieger sind nach seiner Auffassung nicht nur diejenigen Kunst-Größen wie Jeff Koons, Gerhard Richter, Damien Hirst oder Anselm Reyle, die den vielen weniger erfolgreichen Künstlern gegenüberstehen, sondern auch diejenigen, die deren Werke kaufen. »Siegerkunst ist also Kunst von Siegern für Sieger.«79 Ziel der Siegerkunst – im Gegensatz zu der für die ab Mitte des 19. Jahrhunderts typische Ausstellungskunst – sei nicht mehr unmittelbar das Museum als Ort des kollektiven Gedächtnisses, sondern der Markt 75 76 77 78 79
Vgl. Krankenhagen, Laß mich rein, S. 219. Vgl. Barbara Hein: Der weltweit schönste Schein. In: Art. Das Kunstmagazin, Februar 2005, S. 32-39, hier S. 36-38. Vgl. Wolfgang Ullrich: Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust. Berlin: Wagenbach 2016, S. 114. Burke & Hare, Aus fünf Fäden Tiefe, S. 51. Ullrich, Siegerkunst, S. 9.
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mit seinen Abhängigkeiten von Angebot und Nachfrage. »Das Werk ist fortan fest mit seinem Preis verknüpft und erhält durch ihn eine Ausnahmestellung. Die Erhabenheit ist umso größer, je weniger der Preis zu dem Werk zu passen scheint, je weniger er sich nachvollziehen und begreifen lässt«80 , so Ullrich. Nichtsdestotrotz ist das Museum für die Siegerkunst nach wie vor wichtig: Es dient vor allem als ein Ort der Weihe, der für die Kunstwelt und späteren Käufer gewährleistet, dass es sich bei dem betreffenden Objekt auch tatsächlich um Kunst handelt.81 Ein weiteres Merkmal von Siegerkunst ist laut Ullrich die Deutungshoheit der Künstler, Auch wenn sie die Herstellung ihrer Kunstwerke an andere delegieren, lenken sie nach Fertigstellung des Werks die öffentliche Wahrnehmung höchstselbst, sodass sich ihr Engagement von der Produktion hin zur Postproduktion verschiebe.82 Auch hier entspricht Koons ganz dem Bild des Siegerkünstlers, das Ullrich entwirft. Mit den vielen Interviews, die Koons nur allzu gewillt gibt, liefert er eine Grundlage für die Interpretation seiner Werke, die abermals auf der Strategie der Wiederholung fußt. Anne Breucha fasst das wie folgt zusammen: Ein Streifzug durch die Interviewpublizistik von Koons kann einem so vorkommen, als wäre die Repeat-Taste eines Abspielgeräts in den 80er Jahren gedrückt worden und seitdem dauerhaft eingerastet. Gebetsmühlenartig und in stoischer Gelassenheit repetiert Koons seit drei Jahrzehnten die Bestandteile seiner KunstTheorie und Selbstinterpretation, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen, sondern das ewige Hier und Jetzt.83 Koons bemühe die immer selben Gemeinplätze für unterschiedliche Werkserien, was nicht nur zur Folge habe, dass seine Werkreihen alle ähnlich ausgedeutet werden, sondern auch für ein gleichbleibendes Bild sorge, das die einzelnen Werkserien als »Teil eines einheitlichen Kosmos: eines großen Gesamtwerks«84 erscheinen lässt, so Ullrich. Das Prinzip der Wiederholung erstreckt sich also auf gleich mehrere Ebenen des Schaffens von Koons: als Produktionsmittel der Werke in Form von Zitationen bereits vorhandener Kunstwerke bzw. in Gestalt der immer wieder auftretenden Materialien sowie als Kommunikationsmittel in seinen Aussagen über die Werke. Er hätte dieses ständige Repetieren in seiner Zeit als Verkäufer gelernt, gibt Koons zu verstehen, in der er das Gesagte immer wiederholen musste, damit der Kunde alles mitbekommt und schließlich anbeißt.85 Breucha erkennt außerdem
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Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 14f. Vgl. ebd., S. 97. Breucha, Postproduktion, S. 49. Ullrich, Siegerkunst, S. 97. Vgl. Kämmerling/Koons, Umarmt eure Vergangenheit, S. 38.
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Wiederholungen in den Motiven der Kunstwerke, wie es etwa bei Blumen und aufblasbaren Tiere oder beim stetigen Einsatz von spiegelnden Oberflächen der Fall ist.86 Koons zufolge trägt die Wiederholung zur Generierung von Bedeutung bei: »Things become important only because of repetition. Over and over.«87 Um dieses Vorgehen zu unterstützen, fertigt Koons einen Teil seiner Werke in mehrfacher Ausführung an: »That’s why I make the pieces in editions, so that I can make enough that it can be distributed and can make its political impact. And then I don’t have to repeat myself anymore. I made my repetition in my edition.«88 In Sachen Kunstgeschichte läge im Gesamten die Einordnung von Koons’ Arbeiten in die Tradition der Pop-Art, als Nachfolger von Andy Warhol, nahe, etwa qua des Einsatzes massenkultureller Sujets und des Spiels mit Aspekten der Konsumästhetik, aber auch durch Koons’ Anspruch, die Kunst einem großen Publikum zugänglich zu machen. Koons selbst allerdings bezieht sich auf Warhol nur selten, lieber greift er auf Duchamp zurück. Breucha argumentiert, dass er sich von Warhol abgrenzen will, um sich in eine rollentypischere, maskulinere Liste von Ahnen einzureihen und zitiert dazu eine Aussage des Künstlers: »I have never really thought of Jeff Koons as the son of Andy Warhol. I’ve thought of myself more as maybe the son of Michelangelo. I think I’ve taught my sperms more tricks than Andy has.«89 Der Verweis auf andere Künstlerpersönlichkeiten, die zwingende Not, einen Vergleich anstellen zu müssen, ist laut Ullrich auch Ausdruck dessen, dass Kunsttheorie mit der Siegerkunst an ihr Ende gelangt sein könnte. Es gehöre, so Ullrich, zu den Besonderheiten der Kunst der Moderne und ihrer sekundären Aneignung in Museen, dass mehr denn je über Kunst nachgedacht und geschrieben werden konnte. Wo die Siegerkunst ende, sei noch ungewiss, aber allein dadurch, dass sie »verstärkt zur Sache des Besitzens wird, sekundäre Aneignung also an Bedeutung verliert, [ist] damit zu rechnen, dass es künftig weniger Interpretationen, Theorien, Reflexionen, Bekenntnisse zu Kunst geben wird.«90 Auch der Gallerist in Michel Houellebecqs Roman Karte und Gebiet, in dem Koons einen, wenn auch kleinen, Platz in einem Gemälde mit dem sprechenden Titel Damien Hirst und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf hat, ist sich sicher: »Wir sind sowieso an einem Punkt angelangt, wo der Markterfolg jeden Mist rechtfertigt, ihn anerkennt und sämtliche Theorien ersetzt, niemand ist mehr imstande, ein bisschen weiter zu blicken, absolut niemand.«91 Außer vielleicht die Literatur. 86 87 88 89 90 91
Vgl. Breucha, Postprodukion, S. 63. Anthony Haden-Guest/Jeff Koons: Interview. In: Angelika Muthesius (Hg.): Jeff Koons. Köln: Taschen 1992, S. 12-36, hier S. 32. Ebd., S. 34. Jérôme Sans/Jeff Koons: Conversation with Jeff Koons (June 1992). In: https://www.mip.at/attachments/216 (01.12.2019). Ullrich, Siegerkunst, S. 146f. Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Köln: DuMont 2012, S. 201.
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3.2.2
Koons’ Idealrealismus als Teil von Goetz’ Ästhetik
Das Theaterstück Jeff Koons ist die ausführlichste, aber weder die einzige noch die erste Auseinandersetzung von Goetz mit dem amerikanischen Künstler und seinem Werk. Bereits in seinem frühen Roman Kontrolliert schenkt der Autor ihm mit zwei Sätzen Aufmerksamkeit: Jeff Koons soll von Kosmos zu Bayern wechseln für viel Geld, das hat es noch nicht gegeben, außer daß Beckenbauer dort gespielt hat. Aber vielleicht reißt der den Verein wirklich aus seiner arroganten Lethargie, vielleicht muß wirklich mal ein Amerikaner kommen und uns vormachen, was Sache ist.92 Dass Goetz den nordamerikanischen Fußballverein New York Cosmos, zu dem Beckenbauer in den 1970er Jahren vom FC Bayern München wechselte, und dessen umgekehrte Wechselroute Koons, Goetz’ Wunsch nach, nehmen sollte, zum schlichten Begriff Kosmos umdeutet, zeigt, wieviel Welt der Autor mit dem Künstler verbindet. Interessant ist zudem, dass in diesem zweiten Roman von Goetz nicht nur Koons auftaucht, sondern auch eine Variante des titelgebenden Gedankens dieser Arbeit. »Ich glaube nicht, daß das Werk die Totenmaske der Idee ist, sondern umgekehrt, die Idee ist das tote Konzept, das Werk schließlich Welt und so weiter.«93 Dass die Idee des Werks als Weltform bereits in dieser frühen Publikation Eingang findet – ausgerechnet im siebten Abschnitt des dritten Kapitels – und dass Koons in der gleichen Veröffentlichung Platz hat, kann kein Zufall sein. Vielmehr sind sowohl die ›Werk ist Weltform‹-Formel als auch der Künstler übergreifende Säulen des bisherigen Gesamtwerks von Goetz, die in Kombination im Stück Jeff Koons einen (womöglich vorläufigen) Höhepunkt erreichen. Spätestens seit dem Roman Kontrolliert hat Koons in nahezu allen von Goetz’ Veröffentlichungen Platz. Der »Weltherrschaftsanspruch«94 des Künstlers beschäftigt Goetz auch noch in der bislang jüngsten Werkgruppe SCHLUCHT: Im Vanity Fair-Blog Klage ist ein gedichtähnlicher Eintrag mit ›jeff koons‹ überschrieben, der auch im Katalog zu Koons’ Ausstellung Celebration, die 2008 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin gezeigt wurde, Verwendung fand.95 Im auf Kontrolliert folgenden
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Goetz, Kontrolliert, S. 193f. Ebd., S. 150. Goetz, Klage, S. 270. Ebd., S. 411f.: »jeff koons/Freitag, 9. Mai 2008, Berlin//ich nahm die hintere ausfahrt/der vorderen rolle, den gelben alarm/die trübere watte, gestrüpp im gebüsch/gewellt die bewegte, mit schlieren verziert//ich hatte die tiefe von unten gehalten/die rote mit leichtsinn geführt/und die, die die nächste bebriefte wäre/bestrichen, besaitet, berührt//den schluck gezwitschert, den jasatz gesagt/den fernblick empfangen, die öffnung gefühlt/ich hatte die letzte sekunde geleuchtet, geperlt/und den sie verpeilte, befeuchtet, zerwühlt//jetzt kleine imperfekte verwiesen/den schlagbaum vor klage, noch einmal/nur diese wiesen gepriesen,
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Buch FESTUNG, genauer: in den Geschichten Kronos, betitelt Goetz einen Text als Ästhetisches System. Besonderheit dieses Textes ist, dass er im Gegensatz zu den anderen Beiträgen aus Kronos als einziger ein originärer Beitrag zum Band ist, der zuvor in keiner Zeitschrift und in keinem Magazin abgedruckt wurde. Das lässt sich zumindest aus dem Inhaltsverzeichnis von Kronos schließen, das bei den anderen Beiträgen Erscheinungsort und -datum nennt, für den Beitrag Ästhetisches System aber nichts dergleichen verzeichnet. Im Text wird mit einer Passage auf die Idee von Rave verwiesen,96 und auch das Theaterstück Jeff Koons wird vorweggenommen. Zum einen heißt ein Abschnitt wie die Koons’sche Werkserie ›Made in Heaven‹, zum anderen wird der Name des Künstlers konkret genannt. Über sein eigenes ›ästhetisches System‹ lässt Goetz nämlich verlauten: Ich glaube, meine Ethik hat die Gestalt der Kunst von Jeff Koons (intersubjektiv objektiver Idealrealismus); die Logik würde die der Malerei von Albert Oehlen haben. Die Gesamtarchitektur, also das Begehen der Luhmannschen Philosophie, kommt mir so vor wie der Frankfurter Museumsbau von Richard Meier.97 Dieses, für das gesamte Werk Goetz’ gültige, ästhetische System ist im Theaterstück Jeff Koons in allen Eckpunkten, d.h. mit der konkreten Bezugnahme auf alle das System bildende Grundpfeiler, noch einmal ausdefiniert. Goetz heißt seine Ästhetik ein System, das klar von Luhmann beeinflusst ist, und dessen Aufbau dem von Richard Meier entworfenen Neubau des Frankfurter Museums für Kunsthandwerk, später umbenannt in Museum Angewandte Kunst (MAK), ähneln soll. Der amerikanische Architekt, der für seine licht-orientierte Bauweise und die zumeist weißen Gebäude bekannt ist, setzte mit dem Bau des MAK seinen ersten europäischen Auftrag und seine erste Museumsarbeit um, der viele weitere folgten. Die Aufgabe des Museumsneubaus bestand darin, die ehemalige Heimat des Museums, die alte Villa Metzler, sowie die urbane Parkumgebung am Ufer des Mains in den Neubau zu integrieren.98 Meiers Lösung bestand im Entwurf von drei miteinander verbundenen weißen Kuben, die in ihrer Kantenlänge sowie in der Verteilung und Größe der Fenster die Vorgaben der historischen Villa aufnehmen; die drei Teile des Neubaus bilden in ihrem Grundriss den Buchstaben L nach und ergeben zusammen mit der Villa ein Quadrat. Dadurch, dass Meier kein monumenta-
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belaufen/den mai hier gefeiert, gelebet, geliebt«. Vgl. auch Anette Hüsch/SMB Staatliche Museen zu Berlin (Hg.): Jeff Koons. Celebration. Publikation anlässlich der Ausstellung vom 31.10.2008 bis 08.02.2009 in der Neuen Nationalgalerie Berlin. Ostfildern: Hatje Cantz 2008, S. 32. Vgl. Kap. 2.2.4 dieser Arbeit. Goetz, Kronos, S. 374. Vgl. Norbert Huse: »Öffentlicher Kontext und »urbane Struktur« – Richard Meier in Frankfurt a.M.. In: Richard Meier: Museum für Kunsthandwerk Frankfurt a.M.. Berlin: Ernst 1985, S. 6-19, hier S. 14.
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les Einzelgebäude entworfen hatte, konnte, so Norbert Huse, ein »locker gefügter Komplex«99 entstehen, der in seinem Inneren statt Baumassen Wege beherbergt, die sich auf allen Ausstellungsebenen im Gebäude fortsetzen und sich durch einen besonderen Umstand auszeichnen: Der L-förmige Komplex bildet einen internen Innenhof sowie sich schneidende Gebäudeachsen aus, wobei der Hof Alt- und Neubau-Ensemble als Ganzes zentriert und die Achsen das rechtwinklige Raster des Schaumainkais [so der Name der Straße, in der sich das MAK befindet, L.H.] mit seinem prinzipiellen System vertikaler Wege verbinden. Meiers gesamter Plan wird von dieser normativen Kreuzachse geteilt, die sich in Koordinaten bis in den Park hinein verlängert. Räumliche Spannung ergibt sich durch das verbindende Überlappen zweier verschobener Achsenkreuze, die um 3,5 Grad voneinander abweichen.100 Grund dieser Verschiebung sind zwei unterschiedliche Ordnungssysteme, mit deren Einbezug Meier genau die Anforderungen an den Neubau – die Integration der Villa und der Stadtumgebung – erfüllte: Eine Achse leitet sich von der Villa Metzler ab, die andere von der Biegung des Mains.101 Die Kreuzachse des Gesamtbaus ist damit um zwei Mal 3,5°, also insgesamt 7°, verschoben (Abb. 25).
Abbildung 25: Entwurfszeichnung von Richard Meier für das Frankfurter Museum für Kunsthandwerk.
Diese Achsenverschiebung ist nicht nur verborgene Grundlage des Baus, sondern auch im Gebäude selbst deutlich zu erkennen: Die übereinander gesetzten 99 Huse, Richard Meier in Frankfurt, S. 16. 100 Volker Fischer: Richard Meier. Der Architekt als Designer und Künstler/The Architect as Designer and Artist. Stuttgart/London: Edition Menges 2003, S. 82. 101 Vgl. Huse, Richard Meier in Frankfurt, S. 16. Huse weist darauf hin, dass die Verschwenkung von Koordinaten auch bei einigen anderen Bauten Meiers zentrales Entwurfsmotiv ist.
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Ausstellungsflächen in den einzelnen Stockwerken verlaufen nicht parallel, sondern der Verschiebung entsprechend.102 Wenn Goetz die Gesamtarchitektur seines Werks dem Museumsbau von Meier gleichsetzt, geraten abermals die Zahlen 3, 5 und 7 in den Blick: Wie sie Ausdruck der strengen geometrischen Strukturen des Baus von Meier sind, sind sie strukturelle Grundlage auch für Goetz’ Gesamtwerk. Da und hier haben sie, wenn auch nicht direkt augenfällig, entscheidend am Aufbau der gesamten Gebäude- bzw. Textarchitektur teil und sind, obwohl zunächst nur als Rahmenbedingung aufscheinend, auch im Inneren von Gebäude und Text am Werk. Doch mit dieser Analogie ist es noch nicht getan. Meiers Entwurf des MAKBaus im Gesamten als das Quadrat aus den drei Teilen des Neubaus und der Villa Metzler sowie den diese Bauteile verbindenden Wegen – im Inneren ist das zusätzlich ein gläserner Trakt, der als Übergang vom Neu- zum Altbau fungiert –, diene, wie Huse ausführt, nicht der Repräsentation, sondern der Kommunikation.103 Daraus ergibt sich erneut ein Verweis auf das für Sollers’ Text Nombres einstehende Modell, das ebenfalls einem Quadrat entspricht.104 Bei Sollers treffen die drei Sequenzen der Vergangenheit, die in den drei Seiten des Zuschauerraums verbildlicht sind, auf die vierte Sequenz der Gegenwart, die als Seite der Theaterbühne in der Skizze firmiert und das Quadrat schließt. Durch ihre Kommentarfunktion spiegelt die vierte Seite der Bühne die drei Seiten der Vergangenheit in gegenwärtigem Zustand wider. Bei Meier ist diese Zeitlichkeit zwar gegenteilig gewendet – das dreiteilige L-Gespann des Neubaus bildet die Gegenwart, die vierte Seite der alten Villa Metzler ist die Vergangenheit –, doch wirkt auch diese vierte Seite buchstäblich als Spiegel, indem sie die Kantenlängen ihres Grundrisses sowie die Anordnung der Fenster aus der Vergangenheit an die Gegenwart abgibt, sie diese Maße also zurückspiegelt. In dieser konzeptuell aufgeladenen Gesamtarchitektur, die zudem noch von systemtheoretischen Prämissen durchzogen ist, haben dann Ethik und Logik in Gestalt der Künstler Jeff Koons und Albert Oehlen ihren Platz. Dieser genau abgesteckte Rahmen ist – wie der Paratext für den Text – nötig, um nach innen die Einheit des Werks zu sichern. Gleichzeitig gibt der Rahmen Bedeutung an das Innere ab. Während Meier im Theaterstück Jeff Koons in Form eines Mottos und einer weiteren Nennung im Text wieder auftaucht, wird auf Oehlen mithilfe des Titels eines seiner Bilder referiert sowie die zwischen Goetz und Oehlen laufende ›Debatte über Abstraktion‹105 angerissen; Jeff Koons ist, wie gezeigt werden soll, ohnehin 102 103 104 105
Vgl. Fischer, Richard Meier, S. 82. Vgl. Huse, Richard Meier in Frankfurt, S. 16. Vgl. Kap. 2.1 dieser Arbeit. Die Debatte wird nur kurz im Stück erwähnt: »Debatte über Abstraktion./Das ewige Gespräch, das ich mit Albert führe,/daß auch abstrakte Bilder mehr sein müssen/als abstrakte Bilder. Fertig.« (Jk, 126)
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omnipräsent. Goetz’ zusammenfassende Charakteristik des Schaffens Koons’ als ›intersubjektiv objektiver Idealrealismus‹ nutzt, ähnlich wie die Kunstgeschichte das zuvor schon für die Pop-Art getan hatte, einen Begriff des Realismus. Die spezielle Prägung des Begriffs entspricht der Werkauslegung, die Koons für sich selbst betreibt, mit den Ansprüchen auf universelle Verständlichkeit, der Darstellung von zwischenmenschlichen Verhältnissen, dem Ausschalten von Scham- und Schuldgefühl sowie dem Agieren auf der Höhe eines Zeitgeistes. Diese Faktoren finden ihre Umsetzung auch im Textlichen des Theaterstücks. Albert Oehlen spielt in Goetz’ persönlichem Leben als Freund eine wichtige Rolle, davon zeugen zahlreiche Nennungen Oehlens in Abfall für alle. Er ist derjenige, dem Goetz Zeitungsausschnitte faxt (vgl. Afa, 28), den er anruft, als er das Ergebnis der medizinisch-psychologischen Untersuchung für seine erneute Führerscheinprüfung erhält (vgl. Afa, 247), mit dem er zusammen Musik- und Kunstprojekte plant (vgl. Afa, 81, 384) und realisiert (z.B. die zu SCHLUCHT gehörende Veröffentlichung D.I.E. abstrakte. Gedichte zu Zeichnungen), dessen Ausstellungen er sich alle ansieht (vgl. Afa, 219, 228, 246, 467 usw.) und mit dem er sich ununterbrochen im Austausch befindet. Wenn Goetz sich in seinem Schreiben vor ästhetische Probleme gestellt sieht, ruft er ausgerechnet den bildenden Künstler um Hilfe: »Albert rät, das persönlich Verletzende zu streichen./Das ist eine gute Idee./Vielen Dank.« (Ra, 216) Bereits von Beginn seines schriftstellerischen Schaffens an beschäftigt Goetz sich mit dem Antagonismus zwischen Bild und Schrift bzw. bildender Kunst und Sprache. Im dritten, reflektierenden Part des Romans Irre heißt es: Der Fotograf, sagte ich auf manchen Einwand hin, braucht in vielen Fällen die Hilfe der menschlichen Sprache nicht. Mit dem Bild vor Augen horcht er in die wortlose Sichtbarkeit hinein. Unmittelbar ist so die schönste Schönheit da, der schrecklichste Schreck./Und waren es nicht Bilder gewesen, die mich damals, beim ersten Betreten der Klinik augenblicklich erschlagen haben. War nicht stets der Anblick der Kranken das grausige Grauen gewesen. Haben sie Worte gesprochen, gleich wie schlimme, war das stets schon die erste Besänftigung.106 Bilder rufen für ihn eine unmittelbare Reaktion hervor, die im Gegensatz zu Text ungleich intensiver ausfällt. Sehr prominent findet Goetz’ Auseinandersetzung mit den Vorzügen der von ihm so benannten »Bilder-Kunst« (Afa, 684), der er Oehlen als Vertreter zurechnet, gegenüber der Schrift in seinem Aufsatz Kadaver statt, der auf der Innenseite des Buchumschlags der Erstausgabe der Veröffentlichung Kontrolliert abgedruckt ist: Alles richtig sehen, heißt also in Bildern Denken derart sehen, wie Bilder wirklich, hermetisch abgetrennt von ihrer Position im Sagbaren, stumm in dem Maß der
106 Goetz, Irre, S. 254.
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Nichtsvernichtung sichtbar, ihr Wissen sichtbar zeigen. […] Schriftlich berichten folglich Worte alles, was die Schau des Denkens angesichts der Bilder sieht, und wie sie davon Rechenschaft ablegt im Wort.107 Schrift sei für ihn, Goetz betont das immer wieder, den Bildern nachgeordnet, weil Bilder schnell zu erfassen sind (vgl. Afa, 684). Diese Erfahrung macht Goetz auch und besonders mit den Werken Oehlens. In Abfall für alle berichtet er von seiner Begegnung mit Oehlens Bildnis Selbstporträt mit leeren Händen, dessen Eindruck Goetz schier überwältigt: »Ich komme rein und mich hebts wiedermal echt hoch. Wahnsinn. Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn. […] Er schaut einen an wie ein Verrückter, er kommt fast raus aus dem Bild, mit zwei offenen Händen, gebend und empfangend zugleich […]. Schönheit hoch zehn.« (Afa, 800) Diederichsen hatte in Bezug auf das Gruppenausstellungsprojekt Wahrheit ist Arbeit von Büttner, Kippenberger und Oehlen 1984 in Essen die Kunst der ›Hetzler-Boys‹, wie sie nach ihrem Galeristen hießen, mit: ›voraussetzungslosem Zugang für jedermann und totaler Hermetik zur gleichen Zeit‹ beschrieben.108 Die Idee von Wahrheit ist Arbeit war, so Diederichsen, die eines semantischen Raums, eines chaotischen Bedeutungstheaters, das immer dahin strebt, nur noch Namen zu nennen wie in einem jüdischen Witz, wo sich Witzerzähler auf einer langen Bahnreise Witze erzählen, indem sie sich Nummern zurufen, die sie vorher den Witzen gegeben haben, die sich immer wieder erzählt haben. Unter diesem Druck bricht die Semantik zusammen.109 Diesen Platz der Semantik nehme laut Diederichsens Sichtweise die Malerei der Künstler ein, weil sie eine eigene Sprache sei, die alle Effekte der Sprache selbst erzielen könne und somit nicht mehr auf Sprache an sich angewiesen sei.110 Genau diese Praxis schwebt Goetz auch für Texte vor, weshalb er die Logik innerhalb seines
107 Goetz, Kronos, S. 243f. 108 Vgl. die Einleitung zu Kap. 2 dieser Arbeit. Teil des Katalogs der Ausstellung Wahrheit ist Arbeit wie des Nachfolgeprojekts Malen ist Wahlen sind übrigens auch kurze Texte von Goetz. Im Katalog zu Wahrheit ist Arbeit findet man den Erstabdruck von Warum die Hose runter muß (vgl. Werner Büttner/Martin Kippenberger/Albert Oehlen: Wahrheit ist Arbeit. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im Folkwang-Museum Essen, 4. Februar bis 11. März 1984. Essen: Museum Folkwang 1984, S. 92-95), der auch im Band Hirn wiederveröffentlicht ist. Im Katalog zur Folgeausstellung Malen ist Wahlen ist ein Kurztext publiziert, der bislang in keinem Aufsatzband von Goetz einen Wiederabdruck gefunden hat, er heißt: Kartoffelmesser (vgl. Werner Büttner/Martin Kippenberger/Albert Oehlen: Malen ist Wahlen. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstverein München, 15. Juli bis 13. September 1992. München: Edition Cantz 1992, S. 17). 109 Diederichsen, Virtueller Maoismus, S. 38. 110 Vgl. ebd.
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ästhetischen Systems mit der Malerei von Albert Oehlen vergleichen kann. Seinem Textideal entsprechen die Partikel ›usw.‹, ›etc.‹, ›pp. › oder eben Zahlen: Inbegriff einer wirklich ultimativen Redeweise, auf die Text nach meiner Idealvorstellung zusteuert: usw usw. Etc pp. Noch nicht mal die NUMMERN der Witze müßten genannt werden. Weil EH alles klar ist. Man müßte nur noch sagen, du weißt schon: usw usw. Es gibt doch dieses geile Theaterstück von Wolfgang Bauer, das NUR aus Ziffern besteht. Das finde ich absolut genial. (Afa, 400)111 Zahlen und Abkürzungen wie ›usw. etc.‹ bedeuten einen Sachverhalt bzw. die Weiterführung eines Sachverhalts, dessen exakte Bestimmung nicht genannt werden muss. Sie sind deshalb nicht frei von Bedeutung, im Gegenteil: Sie sind allein in der Lage, die Semantik so direkt zu vermitteln, wie es sonst nur Bilder können, und erhalten aufgrund ihrer Abstraktheit trotzdem einen Spielraum an Bedeutungsmöglichkeiten aufrecht. Im Buchkomplex HEUTE MORGEN ist evident, dass Goetz dieses Programm umzusetzen versucht: Neben dem Gebrauch der Zahlen lässt er vor allem in seinem Weblog Abfall für alle sowie in seiner Erzählung Rave Sätze mit den genannten Partikeln enden. »Usw usw usw. I could go on and on and on.« (Afa, 128) Oehlen gestaltet nicht nur den Pappschuber der Neuauflage aller Bände des HEUTE MORGEN-Komplexes und gibt dem Buch so eine weitere Rahmung, sondern seine Malerei hat auch im Buch ihren zentralen Platz. Goetz setzt ein langes, mehrteiliges Gespräch mit dem Künstler in die Mitte der sieben Texte von Celebration, an die Stelle 4, was der erzählerischen Stelle der Kunst im sieben-aktigen Gefüge des Theaterstücks Jeff Koons entspricht. Inhaltlicher Mittelpunkt des Gesprächs zwischen Goetz und Oehlen, das wie das spätere Gemälde des Malers, Selbstporträt mit leeren Händen, heißt, ist die von Oehlen angestrebte Autonomie des Bildes. Bei einem Treffen mit Diederichsen für einen Artikel der Zeitschrift Artforum International hatte Oehlen im November 1994 zu Protokoll gegeben: [I]n the history of abstract painting you find each artist setting up a framework to explain why any particular painting had to look this way and no other. By contrast, I’m not interested in the autonomy of the artist or of his signature style. My con-
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Bei dem Stück von Wolfgang Bauer handelt es sich um Insalata mista, auch bekannt unter dem Titel Tadpoltigermosquitos at Mulligan’s, von 1992. Allerdings stimmt die Aussage von Goetz nicht ganz: Es gibt im Stück zwar eine Figur, die nur in Zahlen spricht, aber auch eine, die nur in Tiernamen spricht, sowie eine andere, die nur die Bezeichnungen von Körperteilen für ihre Figurenrede verwendet etc. Gänzlich aus Zahlen besteht das Stück also nicht. Vgl. Wolfgang Bauer: Insalata mista. In: ders.: Werke. Hg. v. Gerhard Melzer, Bd. 8. Schauspiele 1988-1995. Graz: Droschl 1996, S. 111-147.
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cern, my project, is to produce an autonomy of the painting, so that each work no longer needs that kind of legitimized framework.112 Goetz empfindet dieses Streben nach einer Malerei ohne jegliche Umwege über Bedeutungen und Erklärungen als falsch, für ihn bestehe in der Malerei genau genommen der entgegengesetzte Impuls: »daß man so antiautonom wie möglich, mit so vielen Verbindungen, mit so vielen Mißverständnissen auch, mit so vielen Interpretationsmöglichkeiten wie möglich arbeitet« (Ce, 142). Dabei heraus käme schließlich ein »Sozialprojekt« (Ce, 153),113 dem Goetz an verschiedenen Stellen in HEUTE MORGEN wiederum die Schrift gegenüberstellt, und zwar als: »ASOZIALITÄTSKUNST« (Afa, 271). Damit ist zuallererst ein Produktionsmoment angesprochen. Im Gegensatz zu Musik, die meist zu mehreren realisiert wird, und Malerei, die eine soziale Konstellation in Form von Maler/Modell oder Künstler/Assistent sucht (vgl. Afa, 127), ist Literatur laut Goetz »die einzige Art von Kunst, deren innerster Kern […] Stille, Alleinsein, Asozialität ist.« (Afa, 649) Seine Codierung von Kunst wäre damit als medienabhängig asozial/sozial zu verstehen. Aber auch ein Rezeptionsmoment schwingt in der Unterscheidung von asozial/sozial bezogen auf die unterschiedlichen Künste mit: Konzerte und Ausstellungen geben eine soziale Situation vor, Theateraufführungen ebenfalls. Trotz einiger Ausnahmen wie Libretti und auch Teilen der Lyrik wird das meiste an Literatur gemeinhin eher allein rezipiert. In diesem Asozialen des Textes – dessen Produktion wie Rezeption – siedelt Goetz die Beschäftigung mit dem Sozialen der Musik, der bildenden Kunst und des Theaters an. Der Widerstreit zwischen asozial/sozial reiht sich so in die Unterscheidungen Schrift/Bild, Tag/Nacht, Kunst/Leben sowie allgemein Paratext/Text ein. Im Theaterstück Jeff Koons sind all diese Dichotomien konzentriert: Der Theatertext strebt seine Aufführung im sozialen Raum des Theaters an, liegt aber zunächst nur als ›Asozialitätskunstwerk‹ in Schrift vor. Das Stück mit dem Künstlernamen im Titel verhandelt als Text über Kunst das Problem des Gegensatzes zwischen Schrift und Bild sowie, über die Bezugnahme auf den realen Künstler, die Verbindung von Kunst und Leben. Darüber hinaus ist der Text Jeff Koons als Zentrum des HEUTE MORGEN-Komplexes die Vermittlung zwischen Nacht und Tag, und ist inhaltlich
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Diedrich Diederichsen/Albert Oehlen: The Rules of the Game. In: Artforum International, November 1994, S. 66-71 & 100 & 104, hier S. 69. Mit dem Begriff ›Sozialprojekt‹ verweist Goetz ausdrücklich auf die Kunst von Martin Kippenberger. Vgl. zu den Bezügen zwischen Kippenberger und Goetz den Aufsatz von Eckhard Schumacher: »Hier Versprechen – Here Misunderstanding«. Über Martin Kippenberger und Rainald Goetz. In: Martin Kippenberger: XYZ. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 08. September bis 27. November 2016 im Bank Austria Kunstforum Wien. Köln: König 2016, S. 187-197.
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vom Paratext der das Stück umgebenden anderen Teiltexte des Buchs als Bezugsquellen geprägt. Angelegt ist dieser Kulminationspunkt, den das Stück bildet, bereits im Frühwerk, was erneut die Fortsetzung von Motiven im Werk Goetz’ belegt: Der Roman Kontrolliert ist in den Text Kadaver eingeschlagen, der dem Problem der Vermittlung zwischen Schrift und Bild gewidmet ist. In Kontrolliert nennt Goetz seine Kammer, die er zur Zeit des Schreibens seines Romans und seiner althistorischen Dissertation in Paris bewohnt, selbst seine ›Zelle‹, er befindet sich also in einer vom Sozialen losgelösten Isolation.114 Außerdem werden sowohl der Künstler Jeff Koons als auch die ›Werk ist Weltform‹-Formel hier zum ersten Mal in Goetz’ Werk erwähnt. Das Motto des Romans, der Titel des Songs »Live is life« der österreichischen Band Opus, ist damit in einen Zusammenhang zu setzen: Die Weltform des Opus, des Werks, ist das Leben – das auf der Bühne zum Leben erweckte Theaterstück als Mittelpunkt eines komplexen Buchs. Damit Goetz das Theaterstück, an dem er arbeitet, nach dem Künstler Jeff Koons benennen kann, bittet er über dessen Galerist Max Hetzler den Künstler um Erlaubnis, wovon man in Abfall für alle liest, und woraus sich eine weitere Verbindungslinie zwischen Koons und Oehlen ergibt: Eben vom Einkaufen retour. Das Telefon läutet, Max Hetzler ist dran, sagt: Ich habe gerade mit Jeff gesprochen, wenn das ein Freund von Albert Oehlen ist, sagt er, dann fühlt er sich geehrt. YES. Ich springe in die Luft vor Freude. […] Auch eine Art Freudegefühl entsteht für den ganzen Weg, der sich ergeben hat. Es ist ja kein Zufall, sondern in der Sache der Kunst begründet, daß Max Galerist von Albert UND Jeff Koons ist. (Afa, 313) Tatsächlich treffen Koons und Goetz bei der Uraufführung des Theaterstücks in Hamburg aufeinander und müssen zumindest so viele Worte gewechselt haben, dass Koons einen Eindruck von Goetz gewinnen konnte: »Rainald ist ein kontrollierter Maniker. Schreiben und Leben sind eins bei ihm. Ohne seine Schriftstellerei würde er sofort ins Delirium fallen.«115 Später bestellt der Künstler auch ein signiertes Buchexemplar bei Goetz: »Max hat bei mir ein Jeff Koons Büchlein für Jeff himself bestellt, mit Widmung. Gerne setze ich mich an den Schreibtisch hier und schreibe dem artist of our time meinen Dank vorne rein, daß er mir seinen schönen Namen für mein Stück geliehen hat.« (Afa, 713) Obwohl Jeff Koons als Figur im Stück nicht vorkommt, gibt es neben dem Hallraum des Titels konkrete Verbindungen vom realen Jeff Koons zum Dramentext Jeff
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Vgl. Kap. 2.2.3 dieser Arbeit. Vgl. zu Isolation und Anpassung auch den frühen (autobiografischen) Goetz-Text im Kursbuch: Rainald Maria Goetz: Der macht seinen Weg. Privilegien, Anpassung, Widerstand. In: Kursbuch 54 (1978), S. 31-43. Sven Michaelsen/Jeff Koons: »Das wahre Opfer ist mein Sohn.« In: Stern 52 vom 22.12.1999, S. 168-169, hier S. 168.
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Koons, die leicht offenzulegen sind. Im ›Zweiten Akt‹ sind es beispielsweise die von Goetz so benannten »Unterkünstler« (Jk, 79), also die Gehilfen und Assistenten, die, in verschiedenen Bereichen arbeitend, beschrieben werden: und einer rührt die Farbe an/es ist ein helles Rosa/und ein frisches Gelb/es geht um einen Blütenzweig/[…]/der eine baut aus Gips ein Tier/es trägt auch einen Hut am Kopf/wie auch im übrigen der Typ am Elefant/aus Stahl, er mißt und schneidet/sägt, verfugt, schleift ab und/trennt und tritt zurück (Jk, 91) Goetz stellt hier das Geschehen im Studio zur Schau, die farblichen, materiellen und motivischen Referenzen verweisen unmittelbar auf einzelne Stücke verschiedener Werkserien von Koons: Der Blütenzweig passt zur Skulptur Small Vase of Flowers (oder auch jeder anderen Blumenskulptur aus der Made in Heaven-Serie), Hut tragende Tiere aus Gips sind die Holzfiguren Winter Bears aus der Serie Banality und 2003 produzierte Koons eine Plastik namens Elephant aus rostfreiem Stahl. Konkrete Werke sind es schließlich ebenso, die in Gesprächen bei einer Ausstellungseröffnung im Akt ›Nach der Pause‹ Erwähnung finden: »Mehr Gespräche. Gespräche über/die Position des Künstlers./Über das Buch über die Räume der Maler,/die Nichtfotografierbarkeit des Bunny,/die Kristalle im Sockel der Büste des Selbstporträts« (Jk, 115f.). Fotografien scheitern am Kunstwerk Rabbit (1986) aus der Serie Statuary, eines der ersten von Koons’ berühmten Aufblastierchen, die er riesengroß in Stahl gießen lässt, und in dessen glattpolierter Oberfläche sich der Betrachter spiegelt, weshalb kein Foto der Skulptur möglich ist, in dem der Fotograf nicht auch selbst mit auf dem Bild ist. Das marmorne Self-Portrait, Teil der Werkserie Made in Heaven, ist jenes, welches Koons 2008 in Versailles noch einmal präsentiert und mit überbordender Bedeutung auflädt. Zieht man zudem eine Reihe von Aussagen des Künstlers, die im Jeff Koons Handbuch versammelt sind, in Betracht, kommt eine Aufzählung von Gefühlen und Zuständen in Kombination mit Materialien und Gattungsformen in Jeff Koons wiederum den Kunstwerken Koons’ sehr nahe: Ein Widerspruch aus Stoff. Der Zweifel aus rostfreiem Stahl. Liebe aus Holz. Angst in Porzellan. Ein Gedanke als Foto. Ein Ideal als Gemälde. Kontingenzen geschnitzt. Güte aus Eis. Geld aus Gips. Vertrauen als Metapher. Blumen und Blüten, ganz kleine Ärsche. (Jk, 87) Dem gegenüber stehen die Worte des realen Jeff Koons, wie »Widerspruch ist ein mächtiges Werkzeug«116 und »[d]urch Freigebigkeit steht jedem das Tor zum Ewigen offen. Freigebigkeit läßt die Angst verschwinden, und wenn keine Angst mehr da ist, verschwinden auch Schuld und Scham: man ist frei.«117 Oder auch: »In 116 117
Anthony d’Offay Gallery, Jeff Koons Handbuch, S. 39. Ebd., S. 35.
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der großen Vase mit Blumen [Large Vase of Flowers, Skulptur aus der Serie Made in Heaven, L.H.] befinden sich 140 Blumen. Sie sind sehr sexuell und fruchtbar, und gleichzeitig sind es 140 Arschlöcher.«118 Franz Wille geht in seiner Inszenierungskritik zu Stefan Bachmanns Uraufführung von Jeff Koons in Hamburg davon aus, dass Goetz die roten Umschläge der HEUTE MORGEN-Reihe an die Gestaltung des Jeff Koons Handbuch, das ebenfalls in leuchtendes Rot gehüllt ist, und auf dessen Cover die weiße Self-Portrait-Büste von Koons prangt, angepasst habe.119 Wille zufolge ist es wahrscheinlich, dass Goetz auch den Sammelband der Werkreihe »wie Koons’ unvollendete Ausstellung nach der Disney-Stadt ›Celebration‹ nennt«120 . In Anlehnung an Koons’ Sohn bildet die Reihe fast ausschließlich Kinderspielzeug nach. Anteil an der Titelgebung der Text- und Bildzusammenstellung Celebration dürfte allerdings genauso ein Track von Goetz’ DJ-Freund Westbam von 1993 haben, wie eine entsprechende Passage aus Goetz’ Text Ästhetisches System belegt, schließlich dreht sich die Sammlung von Interviews und Reportagen rund um das Thema Nachtleben und Techno: Später stand ich lange mit Helli da, aneinander gelehnt so leicht, und wir schauten dem DJ zu: Westbam, BRUDER. Nach der letzten Nummer ging ich hin und fragte, was das war. »Das war von mir«, sagte er, »mein neues Stück: CELEBRATION.« – »Total schön«, sagte ich, und er lachte und freute sich auch.121 Genau genommen besteht sogar eine motivische Parallele zwischen Koons’ Werkserie Celebration und einer weiteren, 1993 von Westbam veröffentlichten Single mit dem Titel Celebration Generation. Dieser Name sollte einem Generationsgefühl Ausdruck verleihen, nämlich jenem der Raver, deren Zusammentreffen zu Beginn der 1990er Jahre auf der noch jungen Love Parade in Berlin gipfelte. Westbam trifft dazu die Aussage: »Es ging mir nicht darum, den innersten Klang meiner Seele zu finden, sondern darum, etwas zu vertonen, was draußen los war, einen Soundtrack zu erfinden, der synchron zu den Bildern ablief.«122 Ein musikalisches Element des Tracks bildet ein Glockenspiel, das Westbam mit etwas Kindlichem verband, was zu eben dieser Generation passte: »1992 wirkte kindergeburtstagsmäßig auf mich.
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Ebd., S. 126. Vgl. Franz Wille: Drüber, drunter und drauf. Neue Stücke. In: Theater Heute 2/2000, S. 46-52, hier S. 48. Stricker übernimmt diese Idee von Wille, vgl. Stricker, Text-Raum, S. 287. 120 Wille, Drunter, drüber und drauf, S. 48. 121 Goetz, Kronos, S. 377. Westbam schildert die Begebenheit, die sich bei der Warm-up-Party am Vorabend der Love Parade 1991 in einer stillgelegten Kühlschrankfabrik in Berlin-Weißensee abgespielt hat, in seiner Autobiografie fast gleichlautend: »Auch Rainald Goetz, mein Schriftsteller-Freund, der sich unten links neben den Turntables eingekuschelt hatte, fand den Track toll. Er kam zu mir und fragte, was das jetzt war. ›Ist von mir, heißt Celebration‹, antwortete ich ihm.« (Westbam: Die Macht der Nacht. Berlin: Ullstein 2015, S. 190) 122 Ebd., S. 231.
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Die deutsche Szene feierte auf der Loveparade ihren ersten Geburtstag […]. Die Kids auf den Raves fingen an, Zipfelmützen zu tragen. Manche hatte auch Schnuller im Mund.«123 Das Kindliche, was sich in Zipfelmützen und Schnullern offenbart, findet sich in den Skulpturen der Werkserie von Koons, bei denen er sich von Bauklötzen, Knete, Party-Hüten und Luftballon-Tieren inspirieren ließ, wieder. Der Bezug zum Werk des Künstlers Koons im Stücktext Jeff Koons ist offensichtlich, weitere eindeutige Verweise im Stück seien hier nur kurz genannt: Ein kritisches Aufeinandertreffen zwischen dem Künstler und seinen Angestellten im ›Zweiten Akt‹ lässt an die Charakterzüge von Koons, die ihm von den Medien zugesprochenen wurden, sowie an sein Vorhaben mit der Celebration-Serie denken: »Er nervt die Leute mit absurder Präzision. […] Er plant jetzt was, was all das lösen könnte, wenn es nur gelingt, vielleicht, in Form von Kunst natürlich, klar, er plant den von ihm selber sogenannten Kindkomplex« (Jk, 79). Zudem gibt es eine Zusammenfassung von Koons’ Werken im Akt ›Nach der Pause‹: die Frau mit Ding, der Mann mit Loch/Skulptur aus Glas mit ganz viel Sexualität//dann diese Sache da aus Marmor, riesen groß/aha, so so, das ist ja wirklich kraß/brutal, das ist ja richtig geil//die Blumen und die Vögelchen/die Bienchen und die Tierchen/och Gott, du liebe Güte/süß, Mensch, und aus Holz geschnitzt/dann farbig angemalt in bunt//ein rosarotes Tortenstück/in groß und echt, ein kleines Baby/und noch mehr Geschmack und Niedlichkeit/ein Polizist mit Bär in Kinderwelt (Jk, 119) Der ›Zweite Akt‹ als Kunst-Akt des Stücks ließe sich mitunter gänzlich auf den Amerikaner als Exempel eines Künstlers beziehen.124 Doch sind es nicht nur diese direkten Verweise im Text, die eine Verbindung zum realen Jeff Koons evozieren. Es ist beispielsweise auch das von Koons so gepriesene Alltägliche, das Triviale und Banale, was Goetz in seinen vers- und blockartigen Texten in Jeff Koons mitschreibt; das ganz normale, banale Leben hält im Theatertext Einzug. Wenn Michael Ulrich behauptet: »Wie kaum ein anderer Künstler vor ihm hat Jeff Koons einen Raum geöffnet, in dem nicht nur Kunst ausgestellt wird, sondern in den überdies eine Gesellschaft Einzug hält«125 , könnte dieser Satz nur allzu leicht auf Goetz’ Stücktext gemünzt werden. Auch im Raum Jeff Koons werden Kunst und ihr gesellschaftlicher Aspekt einer Ausstellungseröffnung nebeneinander vorgeführt, wird den ›Gebückten‹ ein eigener Akt im Theaterstück gewidmet.
123 Ebd. 124 Vgl. Kap. 2.4 dieser Arbeit. 125 Matthias Ulrich: Von Koons lernen. In: ders.u.a. (Hg.): Jeff Koons – The painter. Publikation anlässlich der Ausstellung »Jeff Koons – The painter & the sculptor« in der Schirn Kunsthalle Frankfurt und der Liebieghaus Skulpturensammlung, 20. Juni bis 23. September 2012. Ostfildern: Hatje Cantz 2012, S. 45-50, S. 45.
3. Geometrie
Was Jeff Koons mit seinem künstlerischen Œuvre schafft, ist ein Stil, der vollkommen auf die individuelle Person des Künstlers abzielt. Zentral steht die Einsicht, daß Leistung keine Aufmerksamkeit mehr erzeugt; deshalb muß jede ästhetische Produktion als kultische Selbstinszenierung des Künstlers angelegt sein. Ein Werk könnte da nur ablenken. […] Publizität und Prominenz sind die Brennpunkte, um die Koons die Ellipse seiner Kunst konstruiert. Der Kult um den Künstler ist selbst sein einziges Werk.126 Da Koons seine Werke nicht von eigener Hand fertigt, sondern sie von seinen Angestellten für sich herstellen lässt, mutet der Personalstil ›Jeff Koons‹ umso paradoxer an. Ein Künstlerdrama – wohlgemerkt keinen Roman – nach diesem Künstler zu benennen, ohne dass er darin als ausgewiesene Figur vorkommt, ist ein nur folgerichtiger Schritt. Es geht um die Kunst von Jeff Koons, aber diese fällt mit der Persönlichkeit des Künstlers, die dieser in und mit seiner Kunst entwirft, in eins. »Jeff Koons ist der reine Star der Kunst«, so noch einmal Bolz, »sein Ruhm ist unbefleckt vom Metier; sein Name steht nicht mehr für ein ästhetisches Subjekt, sondern strahlt als Markenzeichen – Koons ist ein Logo.«127 Goetz’ Theaterstück Jeff Koons ist demnach Beleg dessen, dass das Sujet der Kunst von Jeff Koons der Künstler selbst ist, und sie darum mit nichts anderem als seinem Namen zu bezeichnen ist. Die Künstlerperson Jeff Koons ist genauso Zentrum seines gesamten Werks wie das Theaterstück Jeff Koons das Zentrum des Buchkomplexes HEUTE MORGEN ist. In diesem großen Hallraum des Künstlernamens richtet Goetz allerdings zusätzlich noch kleinere Hallräume in Form von Motti ein, mit denen er die Akte seines Dramentextes überschreibt. Diese geben den ihnen nachfolgenden Textteilen eine weitere Färbung mit.
3.3
Mercedes und Madonna, Brecht und Hamsun – Danksagung und Motti im Theaterstück Jeff Koons
Goetz’ Stück wird eingeleitet von einem auch allen Akten vorangestellten Dank an Mercedes Benz: »Wir danken Mercedes-Benz/für die freundliche Unterstützung« (Jk, 9). Gebräuchlich sind die Worte als Danksagung an einen Sponsor, in diesem speziellen Fall wohl an einen Kunstförderer. In der Tat ist der Mutterkonzern des Autoherstellers, DaimlerChrysler, im Besitz einer beträchtlichen Kunstsammlung; Teil des Daimler-Skulpturenprogramms auf dem Potsdamer Platz in Berlin war bis 2010 auch Koons’ Werk Balloon Flower. Im konkreten Fall des Theaterstücks ist ein Sponsoring unwahrscheinlich, selbst wenn Goetz laut eigener Aussage gute Laune 126 127
Bolz, Marketing als Kunst, S. 131. Ebd.
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bei der Vorstellung bekommt, dass auch ein Stücktext etwas Sponsorbares sein könnte (vgl. Afa, 792). Vielmehr ist der Dank ein Zitat, die Quellenangabe findet sich in Abfall für alle: Wir reden über Theater. Auch Bruno wundert sich, warum Jeff Koons mit der Mercedes-Widmung losgeht. Heidi Paris fand das auch komisch. Habe ich es hier schon mal geschrieben, oder nur so oft erzählt? Es bezieht sich auf die Baracke, wo ich damals Shoppen und Ficken sah, begeistert davon, wie so viele andere auch. Und die Baracke, steht im Programmheft, ist von Mercedes gesponsert, habe ich damals gelesen, danke Mercedes. (Afa, 792) Goetz erinnert sich richtig, er hat den Bezug zur Baracke schon vorher in seinem Blog erwähnt: Ich rief in der Baracke an und fragte nach Herrn Hillje. Der Dramaturg neulich, der Herr Ebert hätte zu mir gesagt: es gäbe Shoppen und Ficken als Buch, bei Rowohlt. Ich kriege das nirgends, die haben das gestern bei Kiepert in ihren Computern nicht gefunden. Ja, nein, da müßte ich im Rowohlt Theaterverlag anrufen, die schicken einem das dann zu. Ach so, das habe ich ja noch nie gemacht. Ob er mir die Nummer geben soll. Gerne. Es würde jetzt aber auch im März Heft von Theater Heute erscheinen. Ach, das ist ja noch besser. Bis bald mal, vielen Dank. Und ein HOCH auf Mercedes, die die Baracke sponsern. (Afa, 89f.) Die Baracke war von 1996 bis 1999 ein Projekt für ›Neue Dramatik‹ am Deutschen Theater in Berlin, geleitet von Thomas Ostermeier und Jens Hillje.128 Die Spielstätte hatte in einer ehemaligen Bauarbeiterunterkunft neben dem Theater Platz – drei Container mit nur 99 Plätzen, keine richtige Bühne, aber viel Erfolg: Das Provisorium wird 1998 zum ›Theater des Jahres‹ gekürt. Am Abend des 4. Februar desselben Jahres schaut sich Goetz in der Baracke Ostermeiers Inszenierung von Mark Ravenhills Shopping & Fucking in deutschsprachiger Erstaufführung an und ist, wie Kritik und Feuilleton desgleichen, begeistert: »wieder daheim/zurück aus Shoppen und Ficken/obergeil/morgen mehr.« (Afa, 17) Die Programmübersicht der Baracke verzeichnet den Dank an Benz im Sinne eines echten Sponsorings: »Das Baracke-Projekt wird durch die großzügige finanzielle Unterstützung der Freunde und Förderer des Deutschen Theaters und der Kammerspiele e.V. sowie der Daimler Benz AG Niederlassung Berlin ermöglicht.«129 Man könnte aus Goetz’ Begeisterung heraus nun nach intertextuellen Bezügen zwischen den Dramentexten Shoppen & Ficken und Jeff Koons suchen und fände
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Vgl. Deutsches Theater: Chronik. In: https://www.deutschestheater.de/ueber_uns/chronik/(01.12.2019). Deutsches Theater/Baracke: Programm Januar 1998 [ohne Seitenangabe].
3. Geometrie
in den bei Goetz mehrmals wiederholten und variierten Zeilen »sie poppen/sie ficken/sie tun es/sie machens« (Jk, 38, 39, 41, 150) auch leicht eine Ähnlichkeit zu Ravenhills Stücktitel. Neben dem offen zur Schau gestellten Sex geht es in beiden Stücken auch um Drogen und die westliche Konsumwelt, wobei letztere Parallele bei Ravenhill auf Fertiggerichte und bei Goetz auf Kunst abzielt. Allerdings spricht aus der Faszination von Goetz vor allem eine Faszination für das Theater und die Inszenierung Ostermeiers, der Michael Merschmeier »einen klaren Realismus« bescheinigt, »wie man ihn in dieser Qualität bei ähnlichem Stoff zuletzt vor bald 20 Jahren […] sah.«130 In diesem Realismus, der Goetz zufolge eine generelle Eigenart des Theaters sei, und zu dessen Intensität die Enge der Baracke und die daraus resultierende Nähe der Betrachter zum Bühnenraum und den Schauspielern sicherlich beigetragen hat, sieht Goetz das Abbild des Lebens schlechthin: Die Bühne ist der einzige Kunstort, für den wirklich das LEBEN die Form der Kunst ist. Das ganze reale, menschliche, fleischliche Leben, der Atem und die Spucke, der Geruch der Körper und der Husten der Langeweile. All das ist nicht nur Horizont und Ziel einer dem Realismus verpflichteten Kunst […] – nein, dieses Leben ist das Material und der Gegenstand, das Arbeitsinstrument und die künstlerische Endgestalt, Ausgangspunkt und Ziel und Mitte, ALLES wirklich dieser ganz speziellen Kunst, die auf der Bühne sich ereignet. Banalität, klar, trotzdem wichtig. (Afa, 270) Noch einmal ist in dieser Aussage, die er in seiner Poetikvorlesung Praxis trifft, die Weltwerdung des Werks mitzulesen, die dem Buchkomplex HEUTE MORGEN, wie vorangehend gezeigt, nur durch die Aufführung des Theaterstücks auf der Bühne gelingen kann. Der zitierte Dank in Jeff Koons ist deshalb – darin ist einer Idee Eckhard Schumachers zu folgen – auch ein echter Dank: Zwar nicht im Sinne der Erfüllung einer vertraglich vereinbarten Auflage, aber als Dank dafür, dass Mercedes mit der finanziellen Zuwendung überhaupt zum Erhalt der Baracke und damit zur Ermöglichung dieser Art von Theater beigetragen hat.131 Der Dank-Satz steht so als Motto dem Theaterstück voran, das mit dem Gedanken der Weltform des Werks einen weiteren Kontext vorgibt, zu dem der Text sich verhält.
130 Michael Merschmeier: Die Welt ist im Arsch. In: Theater Heute 3/1998, S. 50-54, hier S. 53. 131 Vgl. Eckhard Schumacher: Danksagung als Zitat. Über Rainald Goetz, Jeff Koons und Mercedes Benz. In: Natalie Binczek u.a. (Hg.): Dank sagen. Politik, Semantik und Poetik der Verbindlichkeit. München: Fink 2013, S. 121-129, hier S. 125. Schumacher weist noch auf weitere mögliche Bezugnahmen zwischen dem Dramentext Jeff Koons und Mercedes Benz hin: Beispielsweise ist der Covergestalter der Erstausgaben von Rave, Jeff Koons, Abfall für alle und Dekonspiratione, Felix Reidenbach, auch für einige Anzeigen und grafische Arbeiten von Mercedes verantwortlich. Goetz’ Dank an Mercedes Benz könne deshalb implizit auch als Dank an Reidenbach gelesen werden, dessen Name im Impressum der Bücher ansonsten nicht auftaucht, so Schumacher, vgl. ebd., S. 127.
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Der Gebrauch von Motti ist ohnehin ein Charakteristikum der Goetz’schen Publikationen – sie reichen von Songzitaten über Aussagen von Künstlern hin zu Sätzen aus eigenen Veröffentlichungen des Autors.132 Im Theaterstück Jeff Koons ist zusätzlich jeder Akt mit einem solchen Motto überschrieben. Die Motti sind als eigene Seite zwischen Aktnamen und römischer Bezifferung eingeschoben, stehen damit zwischen zeitlicher und räumlicher Ordnung und entwickeln eigene Sinnfelder. Immer wieder aufs Neue wird so ein Teil des Stücktextes in einen nochmals eigenen Resonanzraum eingeschrieben. Die Motti der Akte werden nachfolgend in ihrer Chronologie wiedergegeben. Dem eröffnenden ›Dritten Akt‹ gibt Goetz als Motto das bereits erwähnte Werk von Koons, »›Saint John the Baptist, New York 1989‹//Jeff Koons« (Jk, 13), mit. Die dem Gemälde von Leonardo nachempfundene Porzellanskulptur mit dem Zusatz von Schwein und Pinguin feiert die ›Taufe in der Banalität‹. Als banal lässt sich auch das bezeichnen, was Goetz zum Inhalt des Aktes macht: Er stellt Gespräche auf der Toilette, eine Beobachtung all dessen, was in der Kneipe auf dem Boden liegt, und eine Bierbestellung beim Barkeeper aus und schafft durch diese Einfachheit eine prinzipielle Zugänglichkeit des Textes. In diesen Szenen, die allesamt in der ›Palette‹ spielen, wie es der räumliche Akttitel festlegt, geschieht im Grunde genommen das, was schon aus der Erzählung Rave bekannt ist: »[D]a laufen die Leute rum und trinken und flirten und nehmen Drogen und feiern und tanzen und machen das, was man im Nachtleben tut. Und diskutiert auch über alle Weltbereiche«133 . Die Setzung des eigentlich ›Dritten Akts‹ an die erste Stelle spiegelt infolgedessen auch die Position von Rave im Gesamtgefüge des Buchkomplexes HEUTE MORGEN wieder. Dass ausgerechnet eine Skulptur aus der Banality-Serie den Beginn des Stücks unterstreicht, gibt zudem die Dramaturgie des Künstlerschicksals, wie sie dem traditionellen Künstlerdrama entspricht, vor. Koons feiert mit eben dieser Werkserie internationale Erfolge. Danach schlug ihm mit Made in Heaven nicht nur eine Welle von Wohlwollen, sondern auch viel Kritik entgegen, vor allem aber bildete die Reihe den Anfangspunkt für den langen Scheidungs- und Sorgerechtsstreit, der den zwischenzeitlichen ökonomischen Abstieg Koons’ einläutete. Für diesen dramatischen Höhe- und Wendepunkt steht dann zu einem späteren Zeitpunkt des Dramentextes ein Werk aus der Serie Made in Heaven als Motto ein, sodass die Sukzession der Akte auch der Chronologie des Künstlerschicksals entspricht. Die dem Künstlernamen im Titel des Theaterstücks zusätzlich hinzugefügte Nennung der Skulptur
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Für Johann Holtrop wählt Goetz ein Zitat aus seiner ersten Stücktrilogie Krieg: »Wütend schritt ich voran« (Goetz, Johann Holtrop, S. 7) und für loslabern ein Zitat aus Hirn: »›alles, was man weiß, vergessen‹« (Goetz, loslabern, S. 9). Goetz, Über Jeff Koons, S. 12.
3. Geometrie
ist somit keine überflüssige Tautologie, sondern sie zieht eine Ebenendifferenzierung zwischen Titel und Aktmotto ein: Während der Dramentitel die räumliche Dimension, den Hallraum des Stücks, vorgibt, eröffnet das Aktmotto die zeitliche Dimension, den Handlungsverlauf.134 Vor den ›Ersten Akt‹ setzt Goetz eine Textzeile aus »Frozen«, einer SingleAuskopplung von Madonnas siebtem Studioalbum »Ray of Light«, das 1998 erscheint: »›mmm hm, hm hmm/if I could melt your heart‹//Madonna« (Jk, 35). Goetz zeichnet in seiner Poetikvorlesung Praxis: dezidiert mit Bezug darauf nach, dass er während des Schreibens am Theaterstück Jeff Koons diesen Song hörte: Da kam diese Nummer raus, und ich habe mir gedacht: wenn ich so sparsam und so schmalzig zugleich schreiben könnte, wie diese Nummer gemacht ist; wenn man die mal analysiert, wie wenig da los ist, was das trotzdem für eine Oper ist – und das meine ich, daß die Formphantasie einen Kick bekommt von einem solchen Realitätsmoment, eben von dieser Frau Madonna hier. (Afa, 232) »FORMPHANTASIE« (Afa, 229) nennt Goetz den ersten Teil seiner insgesamt fünfteiligen Poetikvorlesung in Frankfurt. Die fünf Vorlesungen der Poetikveranstaltung entsprechen den Schritten der Arbeit an einem Werk. Die zu Beginn stehende ›Formphantasie‹ konkretisiert Goetz damit, dass er u.a. ein Theaterstück schreiben möchte, »das durchaus ein klassisches Drama sein soll, und doch alles ganz anders macht, auf irgendeine Art.« (Afa, 231) Auf diesen Schritt folgt an zweiter Stelle die Fokussierung auf ein Thema, an dritter Stelle die Konstruktion einer Welt, in der das Thema spielt, an vierter Stelle kollidiert die Welt mit dem Text, und an letzter Stelle folgt ein kritischer Prozess, der Reaktionen auf die Veröffentlichung aufnimmt (vgl. Afa, 231). Madonna bricht als Realitätsmoment an Punkt 4 dieser Poetik in den Text hinein und Goetz setzt diesen Einfall der Realität im Stück um. Der Textabschnitt zeigt sich ganz wörtlich vom Madonna-Motto informiert. Der Akt dreht sich durchgehend um eine Konstellation von zwei Menschen. Solch ein Versuch ist Goetz’ bisherigen Texten fremd, sie seien stattdessen durch »die strikte Vermeidung einer starken zweiseitigen Relation, einer intensiven und anhaltenden Verbundenheit von zwei Personen«135 gekennzeichnet, wie Hubert Winkels feststellt. Schlichte Worte für den wiederholt vollzogenen Geschlechtsakt findet Goetz in den in Variation auftretenden Zeilen »sie poppen/sie ficken/sie tun es/sie machens« (Jk, 38, 39, 41, 150), sie geben, in Goetz’ Formulierung, die »lässige Luftigkeit des rhythmischen Basistracks« (Afa, 66) ab. Allerlei Reden, gemeinsames Dämmern und die Explikation von Glücksgefühlen versieht die Einfachheit
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Vgl. zu den räumlichen und zeitlichen Achsen in der Aktbezifferung und -benennung Kap. 2.4 dieser Arbeit. Hubert Winkels: Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995-2005. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 135.
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mit ›Schmalz‹, dieser bildet »das Italo-Mafiafilm-Opern-Sentiment der Streichermelodie« (Afa, 66), zu der Madonnas Gesang erklingt. Außer dem Triebleben ist ›nicht viel los‹, und trotzdem schmückt Goetz die Liebe zu einem Thema seines Stücks, in seinen Worten: zu einer Oper, aus. Der Akt ›Draußen‹ ist überschrieben mit einem Zitat von Bertolt Brecht: »›ist der Blick in eine schöne Gegend,/Freund, Freund, Freund‹//Brecht« (Jk, 55). Die Phrase stammt aus Brechts Dramenfragment Rosa Luxemburg, das erstmalig 1993 veröffentlicht wird, und lautet bei Brecht in ihrer Vollständigkeit: »der blick in das gesicht eines menschen, dem geholfen/ist, ist der blick in eine schöne gegend, freund.«136 In Brechts Dramenentwurf spielen u.a. Zahlen eine Rolle: Rosa Luxemburg hatte neben Philosophie, Botanik und Zoologie auch Mathematik zu studieren begonnen, wechselte dann aber zur Rechts- bzw. Staatswissenschaft, worin sie schließlich auch promoviert wurde. In einem »gespräch über den alltagskampf«137 zwischen Luxemburg und ihrem zeitweiligen Lebensgefährten Leo Jogiches heißt es bei Brecht über ihre Studienfächer: L/mit zwanzig hätte ich gern mathematik studiert und sternkunde/in den zahlen waschen wir das unreine/aus geschehen und körpern, selbst das zufällige, das/uns so quält in den kämpfen, erscheint/in den wahrscheinlichkeitskalkulationen/der mathematik gebändigt, die großen/bewegungen der gestirne gestatten/gute voraussagen. auch da/sind die kugeln im weltraum nicht völlig rund, die kurven/nicht ganz stetig, aber beobachtet über sternjahre/und weltraumentfernungen befriedigen sie/den ordnenden geist//J/auch hättest du, mathematik studierend und sternkunde anstatt/politik und wirtschaft, weniger betrug getroffen, die sternbahnen/werden nicht so verheimlicht als die wege der kartelle, der mond/klagt nicht auf geschäftsschädigung.138 Der ordnenden Bedeutung der Mathematik stellt Jogiches kritisch die Wirtschaft gegenüber, die bei Goetz in Form der Kunstwelt im Theaterstück Jeff Koons Einzug hält, von der beispielsweise die ›Gebückten des Görlitzer Bahnhofs‹ ausgeschlossen sind. Wie in Goethes Torquato Tasso muss sich auch hier der Künstler bzw. die Kunst in ein Verhältnis zur Gesellschaft setzen. Das Brecht-Zitat wird in seiner Bedeutungsabsicht noch dadurch akzentuiert, dass Christoph Schlingensief es für ein Kunstprojekt gebrauchte, und zwar in der Schreibweise, in der auch Goetz das Zitat im Theaterstück wiedergibt: Die Textpassage wird ohne ihren Anfang zitiert, dafür aber hallt das Wort ›Freund‹ am
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Bertolt Brecht: Rosa Luxemburg (Fragment 1952). In: Berliner Ensemble: Drucksache 6 (1993), S. 245-253, hier S. 247. Ebd., S. 251. Ebd.
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Ende noch zweimal wie in einem Techno-Track nach.139 Schlingensief nutzte die Losung Brechts für sein Projekt Passion Impossible – 7 Tage Notruf für Deutschland. Eine Bahnhofsmission, das 1997 in einer geräumten Polizeiwache neben dem Hamburger Hauptbahnhof stattfand. Die Idee von Passion Impossible war, erklärt Catherina Gilles, dass sieben Tage lang Menschen aufeinandertreffen, die sich sonst bewusst aus dem Weg gehen. Obdachlose, Prostituierte und Junkies bildeten mit Schauspielern, Theaterpublikum und Presse aufgrund des Projekts zumindest zeitweilig eine Gemeinschaft.140 Die Aktion schloss an Schlingensiefs documenta-Beitrag aus dem selben Jahr, Mein Filz, mein Fett, mein Hase – 48 Stunden Überleben für Deutschland!, an und setzte sich schließlich in verschiedenen Performances der Partei CHANCE 2000 fort.141 Die Partei sah sich ebenfalls als »Forum und Handlungsdispositiv für Arbeitslose, Behinderte und andere ›Unsichtbare‹«142 ; künstlerische Aktionen sollten dank der Partei mit politischem Gehalt versehen werden. So zum Beispiel 1998 in der Aufforderung Schlingensiefs an die zu dieser Zeit etwa sechs Millionen Arbeitslosen der BRD, zusammen zur selben Zeit im Wolfgangsee zu baden, um das Feriendomizil Helmut Kohls zu fluten.143 Das Parteiprogramm lautete: »Auch den arbeitslosen oder sonstwie ausgegrenzten Menschen wieder zum Menschenrecht der Würde zu verhelfen, wird zur Folge haben, dem ganzen Volk wieder die strukturelle Gewalt zurückzugeben.«144 Goetz selbst wird ersucht, an einer Textsammlung des Parteiprojekts teilzuhaben, das offenbart ein Notat in Abfall für alle: Ob ich denn zu ihrem Chance 2000 Abendessen dazustoßen könnte, eine Art Krisensitzung […]. Ende nächster Woche soll ein THINK TANK, den sie Bunker nennen wollen, eine Art Befunderhebung mit Perspektive erarbeiten. Da müßten dann Leute von der Beute und vom SZ-Magazin, vom Jetzt und von Spex, vom Spiegel, der taz und der Faz, keine Ahnung, alle irgendwie Interessierten halt, kommen. Also möglichst Leute, die im STREIT miteinander und mit der Sache sind, ist doch
Das Motto des Theaterstücks Festung lautet in dieser Weise nach einer Single des EurodanceDuos Dance 2 Trance: »we came in/Peace for all Mankind/kind kind kind kind kind kind kind« (Goetz, Festung, S. 7). 140 Vgl. Catherina Gilles: Kunst und Nichtkunst. Das Theater von Christoph Schlingensief. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 37. 141 Vgl. ausführlicher ebd., S. 33-48. 142 Irene Albers: Scheitern als Chance – Die Kunst des Krisenexperiments. In: Johannes Finke/Matthias Wulff (Hg.): Chance 2000. Die Dokumentation. Phänomene, Materialien, Chronologie. Agenbach: Lautsprecher 1999, S. 43-72, hier S. 43. 143 Vgl. Stefan Strehler: Das Mysterium vom Wolfgangsee. In: Johannes Finke/Matthias Wulff (Hg.): Chance 2000. Die Dokumentation. Phänomene, Materialien, Chronologie. Agenbach: Lautsprecher 1999, S. 73-91, hier S. 74. 144 Christoph Schlingensief/Carl Hegemann: CHANCE 2000. Wähle dich selbst. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998, S. 77.
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klar. Und die sollten dann NICHT darüber SCHREIBEN, sondern SAGEN, wie es sein muß. (Afa, 548) Einige Wochen später notiert Goetz jedoch, dass er sich von dem Projekt wieder abwenden wird (vgl. Afa, 567). Thema des Aktes, das mit der Brecht-Referenz überschrieben ist, sind, der Idee der Schlingensief-Installation wie der Partei entsprechend, die Arbeitslosen, Obdachlosen, die Unsichtbaren, weil Nicht-Beachteten der Gesellschaft, die Betrunkenen, Fixer und Kaputten. Sie sind Teil eines eigenen Dramas, das sich vor der ›Palette‹e abspielt. Die ›Gebückten‹ sind ›draußen‹ situiert und gehören doch bzw. genau deshalb zur Einrichtung der Welt dazu, wie ein Abschnitt aus Szene ›8. Der liebe Gott‹ zeigt: er stiehlt ihm die Jacke/er klaut ihm das Geld/er schnappt sich das Piece/und läßt es verschwinden/er lacht ihn jetzt an/und haut dann schon ab/er hat ihn bestohlen/den anderen da, er da/er wäre der Herr hier/der Penner und Stricher/der Bettler und Lügner/der Asozialen Abgesandte/das würde auch dazugehören/meinte er, ja, das alles/hätte er so eingerichtet, weise/als der liebe Gott (Jk, 65f.) In genau dieser Szene findet auch Mercedes Benz noch einmal Erwähnung, was den das Stück einleitenden Dank abermals in Verbindung mit dem Text des Dramas bringt: »Der liebe Gott//er behauptet also/er hätte alles das erfunden hier/er hätte das gemacht/er sei der Erfinder und/verantwortlich dafür/[…]//[…] auch die Stütze wäre von ihm/sogar Mercedes, Benz auch« (Jk, 63f.). Goetz führt mit einer kurzen Begebenheit in der Erzählung Rave das BrechtZitat wieder zu seinem Urheber zurück und charakterisiert das Stück Jeff Koons damit als Text zwischen den Polen Kunst und Gesellschaft, für die paradigmatisch die ›Gebückten‹ einstehen: VON BRECHT lernen, würde also heißen – ja was?/Debatte mit Anselm am Telefon. Diskussion der Uraufführung des neuen Stücks, JEFF KOONS. Es geht um die politischen Aspekte künstlerischer Praxis in einem gewissermaßen klassischen Künstlerdrama, unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen, heute, also ›nach 1989‹. Was immer das alles heißt. (Ra, 208f.) Das Motto des ›Zweiten Aktes‹ lautet nach einer Aussage des Architekten Richard Meier, die er 1997 in seiner Monografie Building the Getty trifft: »›It had the aura/of a heroic and polemically/creative place‹//Richard Meier« (Jk, 71). Wie man aus seinem Blog erfährt, ist Goetz vom Lesen des Getty-Buchs begeistert, in dem es anfänglich weniger um die Architektur des Getty Centers geht – das im Übrigen aus sieben Gebäudeteilen besteht und dessen Grundriss ebenfalls auf einer Achsenkreuzverschiebung beruht –, als vielmehr um den Lebensweg von Meier: »Seine ganze Art, zu erzählen, seinen Werdegang darzustellen, zu schreiben und zu berichten ist so
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schön wie seine Bauten.« (Afa, 100) Die Aussage, die Goetz als Motto für den Akt zitiert, bezieht sich nicht auf das Getty Center, sondern auf das von Peter Eisenman gegründete Institute for Architecture and Urban Studies (IAUS) in New York, mit dem Meier lose und dennoch offenbar wegweisend verbunden war: »[F]or the next fifteen years this institution […] would be the center of architectural debate in the United States. We would all congregate there in the evenings for lectures and exhibitions.«145 Die Debatten und die Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten, wie sie am IAUS geschah, machen auch die Architektur zu einer Kunst, die auf der Seite des Sozialen rangiert. Zusammen mit Eisenman, Michael Graves, Charles Gwathmey und John Hejduk wird Meier in einer Publikation von George Wittenborn 1972 als die Five Architects betitelt, die im Gegensatz zu den »pragmatic ›grays‹«, zu denen u.a. Robert Venturi zählte, als »purist ›whites‹«146 bezeichnet werden; die Farben in den Gruppennamen geben die Grundfarben der von diesen Architekten entworfenen Gebäude wieder. Im Theaterstück Jeff Koons ist der Raum des Sozialen eine der Warhol’schen Factory nachgebildete ›Firma‹, in der Kunst produziert wird.147 So wie Warhol und Koons die Zusammenarbeit mit ihren Assistenten und Angestellten in einem Studio pflegten bzw. pflegen, geht es auch in Jeff Koons zu: »und läßt den angestellten Unterkünstler kommen/erklärt ihm neue Pläne, neue Absichten, Ideen/[…] der Unterkünstler nickt/er kommt, er lacht, stimmt zu/hat einen Einwand, zögert kurz/und meldet ihn« (Jk, 79f.). Die Werke werden in der Gemeinschaft kreiert, nicht vom zurückgezogenen Künstler allein, dennoch steht Koons dieser hierarchisch geordneten Gemeinschaft vor. Ein Warhol-Motto leitet dann den Akt ›Nach der Pause‹ ein. Es ist die Widmung aus Andy Warhol’s Party Book, das 1988 veröffentlicht wird: »›to anyone who ever invited us anywhere‹//Andy Warhol and Pat Hackett« (Jk, 107). Der Künstler Ronnie Cutrone beschreibt in diesem Buch den Geist von Ausstellungseröffnungen, der auch die Verknüpfung zum räumlichen Titel des Aktes, ›Die Eröffnung‹, bildet: [I]n the Eighties, the opening itself was the party. […] We wanted to make them more palatable to the masses, because people don’t just go to an opening to look at art – they go to pick up their next girlfriend or boyfriend, to find love and drinks
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Richard Meier: Building the Getty. Berkeley u.a.: University of California Press 1999, S. 14. Zufällig sind mit den beiden von Goetz ausgewählten und damit exemplarisch für Meier stehenden Bauwerken die Zahlen 7 und 33 noch einmal im Spiel: Für den Bau des Frankfurter Museums für Kunsthandwerk war Meier mit sechs weiteren Entwerfern im Rennen, für den Bau des Getty Centers mit 32 weiteren, vgl. ebd., S. 5. 146 Ebd., S. 14. 147 Vgl. Goetz, Über Jeff Koons, S. 12.
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and sex and music – but the stuff on the walls makes a great environment to have this good time in.148 In Abfall für alle erklärt Goetz, dass der Nachteil von Eröffnungen darin bestehe, ein Zuviel an Text zu sein, und überdies einer für ihn falschen Reihenfolge von Text und Bild zu folgen. »Erst kommen die Bilder, dann Text, Fragen, Erklärungen. Auf den Eröffnungen ist es immer umgekehrt, muß auch so sein, da geht es ja um das soziale Event, das Kunst auslöst und umgibt« (Afa, 716). Bei der Vernissage, zu der im Stück Jeff Koons geladen wird, treffen sich die üblichen Künstler, Kritiker und »schönen Menschen« (Jk, 124). Was dort geschieht, weiß Cutrones und Goetz’ Stereotypisierungen des Sozialen durchaus zu entsprechen: Der Reden und Unterhaltungen sind es viele, »wobei nicht zu vergessen ist/daß gleichzeitig geflirtet wird/an jedem Eck, in jedem Raum/an jedem Tisch, natürlich, klar/daß tolle Frauen da sind/und die Männer zeigen was sie haben/schauen, quatschen, geben an/Gegockel hier, Gekreische da« (Jk, 126). Von diesen gesellschaftlichen Momenten von Ausstellungseröffnungen ist Warhols Party Book voll, wie Nina Schleif ausführt. Bebildert durch viele Fotos erhebt er darin den »Gesellschaftsklatsch zu einer Kunstform, legt das gar nicht so glamouröse Leben der Stars mit all seinen unglamourösen Seiten offen, zeigt die Stars von ihrer zweitbesten Seite.«149 Zu dieser Gesellschaftsform der Kunst tritt im Theaterstück noch der Konflikt der Unterscheidung zwischen drinnen und draußen hinzu. Es kommt zu einem »Tumult an der Türe« (Jk, 123), weil die Kunst-Leute aus der Ausstellungseröffnung hinaus, die ›Gebückten‹ aber in die Eröffnung hinein wollen: »die einen wollen raus/die anderen rein, normal« (Jk, 122). Der Widerspruch zwischen drinnen und draußen ist gleichermaßen in der Widmung von Warhol und Hackett angelegt, die Goetz nur halb zitiert. Ihre Fortführung lautet: »or didn’t kick us out when we crashed.«150 Der ›Sechste Akt‹ teilt sich mit dem ›Dritten Akt‹ die räumliche Überschrift ›III. Palette‹ und hat wie der ›Dritte Akt‹ auch den Titel eines Werks von Koons zum Motto: »›Hand on Breast, 1990, 244 x 366‹//Jeff Koons« (Jk, 133). Das Benannte ist ein Gemälde aus der Serie Made in Heaven, deren erste Werke ab 1990 auf die Werkreihe Banality folgten. Koons äußert sich zu seiner von den Motiven her anstößig aufgenommenen Werkserie nur allzu gern überspitzt. Dem Vorwurf, Made in Heaven sei schlichtweg Pornografie, begegnet er mit spiritueller Überhöhung: Wenn Sexualität mit Liebe zusammengeht, ist eine höhere Ebene, eine objektive Ebene erreicht; man kommt mit der Ewigkeit in Berührung. Und genau das führe 148 Andy Warhol/Pat Hackett: Andy Warhol’s Party Book. New York: Crown 1988, S. 137-140. 149 Nina Schleif: Sorgfältig ungeplant. Die Bücher im Werk von Andy Warhol. In: dies./Museum Brandhorst: Reading Andy Warhol. Publikation anlässlich der Ausstellung vom 18. September 2013 bis 12. Januar 2014 im Museum Brandhorst, München. Ostfildern: Hatje Cantz 2013, S. 1077, hier S. 73. 150 Warhol/Hackett, Party Book, S. 3.
3. Geometrie
ich meiner Meinung nach dem Betrachter vor. Es ist nicht pornographisch, weil Liebe mit im Spiel war.151 Indem er mit dem Geschlechtsakt generelle menschliche Sehnsüchte und in der Einbeziehung seiner selbst sich als einen Menschen unter vielen darstellt, zielt Koons auf die Erreichung eines breiten Publikums ab.152 Dazu trägt auch die Größe der Bildnisse bei, die Koons und Cicciolina in intimen Posen zeigen, und zu denen das mottogebende Bild gehört, weshalb Goetz im Gegensatz zum vorhergehenden, als Motto genutzten Werkzitat von Koons hier auch die Maße des Ölbildnisses mit angibt.153 Im Kunst-Akt von Jeff Koons heißt es dazu: »die Bilder handeln nebenher auch vom Format/von Größe« (Jk, 92). Koons allerdings erliegt der Hybris des Erfolgs, im Privaten wie im Künstlerischen. Vor dem Hintergrund des Mottos sind im bezeichneten Akt die bisherigen Geschehnisse des Stücks noch einmal zusammengefasst. Die Liebe wird anfangs in einem Streit, zum Ende hin wieder in alter Manier des »sie poppen/sie ficken/sie tun es/sie machens« (Jk, 150) dargestellt. Auch die Kunst hält abermals Einzug. Goetz führt ein Selbstporträt Albert Oehlens mit einem typischen Bild Maggie Rizers, einem Supermodel der späten 1990er Jahre, zusammen. Er denkt sie sich wie Koons und Cicciolina in einer ihrer Liebesposen: »Mann mit verschissener Unterhose/und blauer Mauritius/in Stacheldraht verstrickt/gefangen/bewegungslos/stechender Blick/neben ihm Maggie Rizer/hält ihm ihre Achselhöhle hin/die Hügelchen/sehr geil« (Jk 140). Das nächtliche Feiern endet im Exzess des Trinkens (vgl. Jk, 146) und sowohl Mercedes Benz als auch das Getty Center sind präsent: »direkt daneben//dieser Mercedes, der was?/ganz nagelneu, wie?/direkt daneben, stocknüchtern die beiden/reden da toll, Musik ist zu laut/Mercedes, Akropolis, Kunstwerk von Meier/Geschichte, das Buch, dieses Drama/the Getty, the what?« (Jk, 147). Der einführende Dank sowie die den Akten Struktur und Sujets vorgebenden Motti werden hier noch einmal miteinander verbunden, bevor ein aus einer einzelnen Szene bestehender Akt den Theatertext enden lässt. Das abschließende Motto ist an den Titel des Alterswerks von Knut Hamsun angelehnt: »›Auf überwachsenen Pfaden‹//Hamsun« (Jk, 153). Hamsun schreibt das autobiografische Tagebuch während des Landesverratsprozesses, der nach dem
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Haden-Guest/Koons, Interview, S. 31. Im Vergleich zur Werkgruppe Banality sagt Koons über Made in Heaven: »In Made in Heaven wollte ich dieses Konzept mit der Identifikation der eigenen Klasse benutzen und erweitern, so daß es nicht nur den Mittelstand, sondern ein sehr viel größeres Publikum anspricht. Ich versuchte, die Sehnsüchte der Menschen zu meinem Gegenstand zu machen« (ebd., S. 29). Fraiman sagt dazu über Koons: »Koons hat schon früh in monumentalem Maßstab gearbeitet, um eine eindrücklichere Verbindung zum Betrachter herzustellen« (Fraiman, Jeff Koons, S. 86).
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Zweiten Weltkrieg gegen ihn geführt wird. Er ist wegen Kollaboration mit den Nationalsozialisten angeklagt, wird zu Aufenthalten in Altersheimen und Psychiatrien gezwungen. Sein letztes Werk nutzt er als Rechtfertigung. Goetz beschreibt den letzten Akt seines Theaterstücks als Bild für jemanden, der alles zuvor Geschehene »gehört hat« und »jetzt nur Ruhe haben [will], der will raus, nochmal zurück zu den Bildern, und dort geht er hin«, er ist »sehr erschöpft, ist müde, aber hat irgendwie so einen hellen Blick auf die Welt.«154 Im Stücktext wird die Allheit der Prozesse des Vorangegangenen analog zu Hamsuns abschließendem Blick auf sein Leben und mit einem Bezug zur biblischen Schöpfungserzählung für gut befunden: und ich sah, daß es da war, vor den Bildern/ja: wie es da war, war es denn gut?/daß es gut war, da/da war es gut/da war ich gern//da waren Trost und Präzision/und mehr, als man verstehen kann/da war Ballung, Wucht, Totale, irre viel/Gesagtes/und Ruhe zugleich (Jk, 158) Dieser wohlwollende Blick auf die Vergangenheit geht auch mit Koons’ Zugriff auf das bereits Geschehene einher, den er in seinen Werken und seinen Interviewaussagen zum Ausdruck bringt: »Letting people feel secure about their own history. […] It’s about their own well-being, without criticism. I tried to create work that is about acceptance, where there is no place for non-acceptance.«155 Ähnlich wie Goetz in seiner ›Zelle‹ im Roman Kontrolliert ist Hamsun in seiner autobiografischen Prosa Auf überwachsenen Pfaden an seinen Aufenthaltsorten von der Umwelt isoliert, was zusätzlich dadurch verstärkt wird, dass er nahezu taub ist. Ich treibe so dahin, tagein, tagaus. Die drei jungen Schwestern – eigentlich Lehrschwestern – kommen abwechselnd mit Essen auf den Hügel zu mir herauf, drehen sich auf dem Absatz um und verschwinden. Vielen Dank! rufe ich ihnen nach, Es wird etwas einsam, aber ich bin Einsamkeit gewohnt, auch zu Hause sprechen sie nicht zu mir, weil ich so taub und lästig bin.156 Die Einsamkeit Hamsuns, die Asozialität, die die Schrift auf den Dichter lädt, ist im letzten Akt des Theaterstücks Jeff Koons neuerlich dem direkten Eindruck gegenübergestellt, den Bilder hervorrufen: »also allein jetzt wieder in der Galerie/[…]/und das Glimmen der Bilder/von allen Seiten her, die Erregung/die sie schaffen/und ihre Sanftmut zugleich/in Zeitspeicher gespeichert/ihr Leuchten und Flüstern, ihr Kommen, ihr Ruf« (Jk, 158). Was Poschmann für die Untertitel, Zitate, historischen Daten und Plätze des Theatertextes Festung feststellt, kann und muss auch für Jeff Koons gelten: Die Motti
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Goetz, Über Jeff Koons, S. 12. Hans Ulrich Obrist/Jeff Koons: Jeff Koons. The Conversation Series 22. Köln: König 2012, S. 18. Knut Hamsun: Auf überwachsenen Pfaden. München: dtv 1990, S. 6.
3. Geometrie
lassen einen Referenzraum entstehen, in dem, so Poschmann, »die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die Kombination des Unzusammenhängenden und Paradoxen neue Perspektiven öffnen, die mit einem eindimensionalen Zeichenbegriff nicht mehr erfaßbar sind.«157 Sie färben den jeweilig nachfolgenden Text auf ihre Weise, geben den Akten eigene Stimmungen vor und weisen trotz ihrer unterschiedlichen Entstehungszeiten und -zusammenhänge doch Gemeinsamkeiten auf: Zum einen richten alle zitierten Persönlichkeiten bzw. Kunstwerke ihr Augenmerk auf die Grenzverwischung zwischen Kunst und Leben: Jeff Koons kombiniert in der Skulptur St. John the Baptist das Motiv des Heiligen Johannes mit dem Profanen von Schwein und Pinguin und stellt in Made in Heaven sein Liebesleben als Kunst aus. Die Künstlerin Madonna lässt als Persönlichkeit von hohen popkulturellen Weihen die Gesellschaft an ihrem privaten Selbst teilhaben. Schlingensief mischt in seiner Partei und seinen darauf Bezug nehmenden Kunstprojekten Performances mit der Lebenswelt der Politik. Meier preist in seiner Erinnerung die verbrachte Zeit mit seinen Kollegen im Kollektiv als Wegweiser für seine Architektur. Warhols Partybesuche nehmen einen Großteil seines künstlerischen Schaffens ein und Hamsun verbindet in seinem Spätwerk Dichtung und autobiografisches Material. Diese Beobachtung gilt auch für den als Motto funktionierenden einleitenden Dank an Mercedes Benz, weil das Unternehmen die Kunst des Theaters in der Baracke lancierte. Zum anderen vereint Goetz mit den Motti unterschiedliche Kunstgattungen – Bildhauerei, Musik, Performance, Architektur, Malerei und Dichtung verbinden sich zu einem abstrakten Raum, der grundsätzlich vom Gegensatz zwischen Asozialität/Sozialität geprägt ist. Die Dichtung von Hamsun und das Schreiben von Goetz stehen für die Seite der Isolation und damit paradigmatisch im Kontrast zu den bildenden Künsten, der Architektur und der Musik, die – so wie Goetz sie versteht – in Kooperation mit ausführenden Instanzen produziert und in Gemeinschaft rezipiert werden. Die Grundproblematik des Theaterstücks Jeff Koons, fasst Goetz selbst zusammen, sei deshalb der Widerspruch zwischen Sprache und Bild (vgl. Jdsf, 129), der sich auch als Leitgedanke der Texte von Goetz schlechthin hervorheben lässt. Diese Feststellung ist allerdings für Jeff Koons umso eindrücklicher, da der Dramentext eine der wenigen Veröffentlichungen von Goetz ist, die gänzlich ohne Bilder auskommt.
3.4
Text und Bild, Sozialität und Asozialität
Die Medientheorien Marshall McLuhans und Vilém Flussers haben, so fasst es Friedrich Kittler in seinem Aufsatz Buch und Perspektive zusammen, einen abso157
Poschmann, Theatertext, S. 214.
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luten Unterschied zwischen Schrift und Bild gezogen, der auf Begriffen aus der Geometrie beruht: Schrift und Buch werden der Seite der Linearität bzw. Eindimensionalität zugerechnet, Bilder jedoch der Seite der Zweidimensionalität. Dieser Sichtweise setzt Kittler – übereinstimmend mit den Ausführungen zum Codex und dem Paratext in dieser Arbeit158 – entgegen, dass die Buchseite spätestens seit der Scholastik des 12. Jahrhunderts alles andere als linear gelesen wurde, weil die eingesetzten Absätze, Gliederungen, Fußnoten und Überschriften die Fläche der Seite ausstellten, »deren Zweidimensionalität keinen Unterschied zu Bildern auftut.«159 Er führt dies u.a. darauf zurück, dass Gutenberg seine Drucktechnik für Bücher und Kalender zuvor als Technik für die Reproduktion von Heiligenbildern anwandte, was die »Bildlichkeit als den Ursprung der Druckerpresse [erweise]«160 . Aber auch an Gutenbergs Bleilettern selbst ist eine Geometrie der Fläche, und damit eine Zweidimensionalität, ersichtlich. Denn jede bewegliche Letter definierte sich nur durch ihre Nachbarn, die sie rechts und links, oberhalb und unterhalb umgaben; jede Letter besetzte eine Leerstelle, die auf Füllung angelegt war. Als Vergleich zieht Kittler die Übernahme des indo-arabischen Stellenwertsystems für die Vereinheitlichung der Ziffern im Hochmittelalter heran und legt die Mathematik auf diese Weise dem Buchdruck zugrunde: »Wie die Null, dieses Griechen oder Römern völlig unbekannte Zeichen, allen anderen Ziffern die Leerstelle ihrer Plätze zuwies, so auch das nackte, von Gutenberg in Blei und von Mallarmé in Poesie gegossene Spatium allen anderen Lettern.«161 Kittler begegnet mit diesen Erklärungen der Auffassung, dass die Schrift vor allem in der Form des Buchs mit der weiten Verbreitung von Film, Fernsehen und Computertechnik ausgedient habe, und das Bild als wirkmächtigeres Medium diese Stelle einnehme. Seine Gegenthese lautet, »daß das gedruckte Buch nicht einfach ausgespielt hat, sondern jenes einzigartige Medium gewesen ist, das seine eigenen hochtechnischen Überbietungen erst ermöglicht hat.«162 Goetz’ Praxis der Verwendung von Bildern in seinen Büchern läuft parallel zu dieser Erkenntnis und bildet damit neben den Hallräumen des Titels, den Motti sowie Akt- und Szenenüberschriften einen weiteren Bezug zur diesem Kapitel seinen Titel gebenden Geometrie. Von Beginn seines schriftstellerischen Schaffens an hat Goetz Bilder zumeist als Trennelemente zwischen einzelnen Abschnitten, Kapiteln
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Vgl. Kap. 1.1 dieser Arbeit. Friedrich Kittler: Buch und Perspektive. In: Joachim Knape/Hermann-Arndt Riethmüller (Hg.): Perspektiven der Buch- und Kommunikationskultur. Tübingen: Osiander 2000, S. 1931, hier S. 19. 160 Ebd. 161 Ebd., S. 20. Kittler spielt auf Stéphane Mallarmés Gedicht Un coup de dés jamais n’abolira le hasard an. 162 Ebd., S. 19.
3. Geometrie
oder Akten der Bände eingesetzt; im Roman Irre sowie in den Bänden Hirn und Kronos streute er zusätzliche Bilder in die Textteile selbst ein. Goetz setzt die von ihm ausgewählten Fotos und Zeichnungen gleichwertig zwischen und neben den Text. Auf die Bilder wird im Geschriebenen kein Bezug genommen, sie sind weniger Illustration der Schrift denn eigenständiger Text und haben die gleiche Funktion wie die Schrift selbst. Auffällig ist, dass der Großteil der von Goetz für seine Veröffentlichungen genutzten Bilder ein besonderes Verhältnis zur Schrift pflegt: Entweder setzt er Abbildungen in seine Texte ein, die bereits Schrift enthalten – wie etwa bei Ausschnitten aus Comics163 und den häufig vorkommenden Zeitungsausrissen164 der Fall. Oder aber er fügt den Bildern zusätzlich Schrift hinzu – z.B. durch den Stempel mit der Aufschrift ›Kontrolliert‹, den er für die Collagen im Text Der Attentäter nutzt,165 sowie mithilfe des Einfügens von Wörtern in seine Zeichnungen.166 Der Gebrauch von Bildern als Schrift geht bei Goetz so weit, dass er für die von Christian Kracht verantwortete Pop-Anthologie Mesopotamia einen Beitrag mit dem Titel Samstag, 5. Juni 1999/Hotel Europa beisteuert, der sämtlich aus Bildern besteht. Die zusammengestellten Fotos setzen ebenfalls Schrift als Bild in Szene, und zwar in Form von Zeitungsausschnitten, Reihen von Buchrücken, Fernsehbildern mit Schrift in der Bauchbinde und Menschen, die dem Fotografen Goetz eine Zeitschrift entgegenstrecken. Darüber hinaus fassen sie, in den Veröffentlichungszeitraum des Buchkomplexes HEUTE MORGEN fallend, die Texte der ›Geschichte der Gegenwart‹ bildlich zusammen: Auf den Fotos zu sehen sind u.a. Luhmann und Harald Schmidt, Überbleibsel der Love Parade, der Mercedes Benz-Stern auf dem Gebäude des Europa-Centers in Berlin, die Plattenveröffentlichung Word und Begebenheiten aus dem Nachtleben.167 In das Hauptmotiv von HEUTE MORGEN übertragen heißt der Gegensatz zwischen Bild und Schrift sowie zwischen Sozialität und Asozialität und schließlich zwischen Leben und Werk: Nacht und Tag. Nach Goetz’ Auffassung ist es genau die Pop-Literatur, die diese Widersprüchlichkeiten als Dissonanzen ohne Problem
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Vgl. Goetz, Irre, S. 274. Vgl. Goetz, Kronos, S. 48-70. Vgl. Goetz, Hirn, S. 127-176. Vgl. Goetz, Irre, S. 229 oder Goetz, Krieg, S. 215. Vgl. Rainald Goetz: Samstag, 5. Juni 1999/Hotel Europa. In: Christian Kracht (Hg.): Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 147-171. In ihrer Taschenbuchausgabe im Deutschen Taschenbuch Verlag trägt die Sammlung den divergierenden Untertitel »Ein Avant-Pop-Reader«. Aus Dekonspiratione erfährt man, dass Goetz’ Beitrag zur Anthologie anders – nämlich als tatsächlicher Text – geplant war, siehe Kap. 5.2 dieser Arbeit.
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vereinen kann, sodass, mit einem Begriff Heraklits, eine gegenstrebige Fügung168 entsteht: Es ist das Leben des Schreibers eben ein Leben im Geist, ein Totenleben von Anfang an. Blödsinn, sagt der Nachtlebenaktivist und zeigt stolz seine Wunden vor, seinen von Drogen, Glück und Sex zerstörten Körper. Und die Popliteratur schaut sich diese Gegensätze an und nimmt sich einmal alles bitte, danke. (Jdsf, 177) Dass Goetz seinen Beitrag zu einem Pop-Textband aus Bildern bestehen lässt, ist deshalb nur konsequent. Die Überwindung des Widerspruchs zwischen Nacht und Tag, die der Popliteratur gelingt, setzt Goetz in Bilder, in denen er die Schrift geradezu inszeniert, um: Auch hier treten die beiden Seiten der Unterscheidung Bild/Schrift verknüpft auf. Das Kriterium der ›prinzipiellen Zugänglichkeit‹, das Goetz zum Definiens des Phänomens Pop erhebt, wird eher durch Bilder denn durch Schrift ermöglicht, da diese sich seiner Meinung nach durch eine direktere Einwirkung auf die Betrachter auszeichnen. Im Pop lassen sich Bilder und Text aber gleichberechtigt kombinieren, wodurch schließlich auch die Schrift zugänglicher wird. In HEUTE MORGEN als dezidiert dem Pop zugeschriebenen Buchkomplex setzt sich die Verwendung von Bildern fort. Alle Suhrkamp-Veröffentlichungen der HEUTE MORGEN-Reihe außer dem Theaterstück Jeff Koons weisen Übergänge zwischen den Textabschnitten auf, die etwas anderes als Text sind. In der Druckversion von Abfall für alle grenzen zwar nur schwarz eingefärbte Seiten die Kapitel voneinander ab, in den Erzählungen Rave und Dekonspiratione sind es allerdings Fotos und Zeichnungen, und die Beiträge in Celebration sind durchweg bebildert. Auch in den dort verwendeten Fotos kehrt Goetz die Bedeutung der Schrift hervor. Sprechendes Beispiel dieser Vorgehensweise ist ein Foto, das den Autor selbst in einer, ihrem Wirken nach, unspektakulären Pose beim Lesen eines Buchs an einem Pool zeigt (Abb. 26). Doch Goetz liest nicht irgendein Buch und das Wasserbecken, in das er seine Füße taucht, ist kein Pool wie jeder andere: Er hält eine von Luhmanns Schriften zu den einzelnen Funktionssystemen, Das Recht der Gesellschaft, in den Händen und nahe seinen Füßen ist in das Becken der Schriftzug ›Andy Warhol‹ eingeprägt – ein Schnappschuss, der zwei von Goetz’ ›Fixsternen‹, wie er sie selbst bezeichnet (vgl. Jdsf, 156), – »Niklas Luhmann/Michel Foucault/Andy Warhol«169 – als Buch und Schrift in ein Foto integriert. Mit Foucault habe Goetz sich zur Zeit der Arbeit am Buchkomplex HEUTE MORGEN nicht weiter beschäftigt (vgl. Jdsf, 156). Allerdings führt er auf Foucault
168 Der Begriff ist in jüngerer Zeit durch die Edition des Briefwechsel zwischen Jacob Taubes und Carl Schmitt geprägt, vgl. Jacob Taubes: Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung. Berlin: Merve 1987. 169 Rainald Goetz: 1989.3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 51.
3. Geometrie
Abbildung 26: Goetz mit Luhmanns Das Recht der Gesellschaft am Pool.
sein Ordnungsbestreben zurück, das, wie im vorangegangen Kapitel ausführlich gezeigt, in den Veröffentlichungen der ›Geschichte der Gegenwart‹ stets implizit zugegen ist. Es sei »die Spannung zwischen der Wirrheit des Foucaultschen Geistes und einer extremen, über die Historizität laufenden Sehnsucht nach Ordnung«, die Goetz an Foucault besonders fasziniert habe, »also das Poetische der Grundstruktur dieses Denkens, das dann umso härter geordnet auftritt.« (Jdsf, 156) Mit Luhmann verbinde Goetz, wie er im gleichen Interview bestätigt, »die große Theorie, das klare Denken, das System« (Jdsf, 156) und mit Warhol den »Weltblick […] einer fast panikartigen Gleichgültigkeit der Faszinationsmomente und des Erschüttertseins« (Jdsf, 156); dieser Perspektive folge das Weblog Abfall für alle. Da nach Goetz’ Einschätzung das Weltgeschehen noch nicht ausreichend in Text übersetzt worden ist, sei es trotz aller Bildverehrung notwendig, weiterhin Text zu produzieren: Und obwohl es so viel Text auf der Welt schon gibt, ist mein wirklich beinahe tägliches Gefühl, dass die sprachliche Übersetzung und schriftliche Darstellung der Welt des Menschen eigentlich noch ganz am Anfang steht. Auch das meint der Titel »Heute Morgen«, diese supergrundsätzliche Anfänglichkeit. […] Die Schrift kann, gerade im Gegensatz zum Bild, ganz wenig, sie ist wirklich ein trauriger
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Krüppel. Aber für den, der die Schrift liebt, ist dieser traurige, der Welt hinterherhinkende Krüppel das Inbild des richtigen Lebens. (Jdsf, 176f.) Das Zentralstück des Buchkomplexes HEUTE MORGEN, der Dramentext Jeff Koons, besteht womöglich genau darum ausschließlich aus Text. Die sieben Akte sind nur durch Aktüberschriften und weitere Zitate, nicht aber durch eingeschobene Bilder voneinander getrennt. Goetz lässt darüber verlauten: Jeff Koons. Mein erstes Buch, das NUR aus Buchstaben besteht, das keine einzige Abbildung zeigt. Ausgerechnet in dem Buch über Kunst ist nichts sinnlich Bildliches drin, solche Scherze finde ich lustig. Alle Bilder, alles Sichtbare, alles steckt in den beiden Worten des Titels: Jeff Koons. (Afa, 499)170 Das Theaterstück ruft mit dem Namen des Künstlers, der im Drama nur als Schrift, d.h. in den beiden Worten des Titels, vorliegt, die ganze Bilderwelt des realen Jeff Koons auf; seine Werke wie die mediale Inszenierung seiner selbst stehen den Lesern allein dank des Titels vor Augen. Diese mit dem Stücktitel geschaffene Bildlichkeit wird allerdings durch jene der Aktmotti erweitert. Die den sieben Akten jeweilig vorangestellten Zitate nutzen die Zweidimensionalität der Fläche der Buchseite, indem die Paratextualität durch ihre Setzung auf der ansonsten weißen Seite betont wird, und sie nutzen die Architektur des Stücktextes, indem sie für die jeweilig nachfolgenden Szenen einen Hallraum vorgeben, der die Lesart der Szenen mitbestimmt. Zutreffender sind die Akte aus diesem Grund mit der Bezeichnung ›Bilder‹ benannt, wie auch der in einem Jeff Koons-Motto zitierte Brecht sie für seine Theaterstücke verwandte.171 Goetz legt diesen Terminus selbst nahe, wenn er im Dramentext zwei Mal von den ›sieben Bildern‹ schreibt und die entsprechenden Stellen immer einen Rückbezug auf die Struktur des Stücks darstellen – entweder durch eine Anspielung auf den Titel der Buchreihe HEUTE MORGEN oder aber mittels des Verweises auf die verhandelte Zeit im Text: »konkret geht es an diesem Morgen übrigens/[…]/um jene sieben Bilder« (Jk, 81) sowie »eine schöne Sache/ein Tag Leben und drei Nächte/die sieben Bilder in der Galerie« (Jk, 156). Wie Brecht nennt überdies auch Goetz seine Theatertexte schlicht ›Stücke‹.172 Außerdem ergibt sich durch die zentrale Setzung des Theaterstücks Jeff Koons im Buchkomplex HEUTE MORGEN auch eine Beobachtung für das Bild des Werk170 Auf das Theaterstück Jeff Koons folgen noch weitere Goetz’sche Publikationen, die keine Bilder enthalten, z.B. Klage. 171 Vgl. Bernhard Asmuth: Akt. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1. Hg. v. Klaus Weimar. Berlin/New York: De Gruyter 2007, S. 30-32, hier S. 31f. 172 Vgl. den Beginn von Brechts Lied des Stückschreibers: »Ich bin ein Stückschreiber. Ich zeige/Was ich gesehen habe. Auf den Menschenmärkten/Habe ich gesehen, wie der Mensch gehandelt wird./Das/Zeige ich, ich der Stückschreiber.« (Bertolt Brecht: Schriften zum Theater 5. 19371951. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 281)
3. Geometrie
komplexes im Gesamten, will heißen: die einheitliche Farbgestaltung der Buchcover. Jeff Koons als die Stelle, die in der zeitlichen Ordnung des Buchkomplexes zwischen Nacht und Tag und somit ganz am Anfang des die Werkgruppe betitelnden Morgens steht,173 entspricht im farblichen Wechsel vom Dunkel der Nacht zum Licht des Tages der Morgenröte, die charakteristisch für die Tageszeit des beginnenden Morgens ist. Alle zur Werkreihe gehörenden Veröffentlichungen sind, dem Mittelpunkt des Buchkomplexes entsprechend, mit einem roten Cover versehen, Ausschlag für diese Färbung gibt allein der Dramentext Jeff Koons. Er steht für die Vermittlung des Widerspruchs zwischen Nacht und Tag – wie in der Folge zwischen Leben und Werk, Sozialität und Asozialität – ein, und ist zugleich Umsetzung der ›supergrundsätzlichen Anfänglichkeit‹ des Vorhabens, die Welt ohne Zuhilfenahme von Bildern in Text zu übersetzen. Dienlich ist Goetz bei diesem Unternehmen die Musik – in ihrer tatsächlichen Ausprägung in Form von Tempo, Rhythmus und Klang sowie in ihrer sozialen Rezeption in Form von Jugend- und Subkulturen – und ihre Auswirkungen auf Sprache und den gedruckten Text.
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Vgl. Kap. 2.3 dieser Arbeit.
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4. Musik Das ist ja das Großartige an der Musik, daß da andere, vom Wort abgekoppelte Gesetze der Wahrheit herrschen. (Hirn) Denken ist in Wirklichkeit natürlich Schau der musikalischen Idee. Ideale Ordnung ist so nicht Stille, […] sondern eben noch zu kontrollierende, sehr viel rhythmische, mehr als mehr, wirklich nämlich massen stimmige, nicht nicht mehr, sondern eben noch, bestenfalls natürlich den Fraktal Gesetzen folgend strukturiert melodische Musik. (Kontrolliert) Und wenn sich das alles im abstrakten Raum für mich geordnet hat, geht es nur noch um sprachlich-musikalische Fragen. (Jahrzehnt der schönen Frauen) Goetz stellt seinen persönlichen Musikgeschmack in seinen Texten unumwunden aus. Während seine frühen Arbeiten eher die Nähe zum Punk und New Wave suchen, orientiert sich der Buchkomplex HEUTE MORGEN musikalisch vor allem an der Techno-Bewegung. Bisweilen wurde dieser Übergang vom Punk zum Techno im Hinblick darauf kritisiert, dass Goetz seinen späteren Texten schlichtweg einen gefälligeren Zuschnitt verliehen habe. Denn was die elektronische Musik vermissen lasse, sei die für Sub- und Gegenkulturen à la Punk so typische Dissidenz. Goetz stellt in seinen Reportagen, Interviews und Erzählungen ab den 1990er Jahren nämlich genau jene Spielarten des Techno zur Schau, die massenhaften Zuspruch erhielten und u.a. deshalb von der Kritik für banal erklärt wurden. Darunter fallen verschiedene Raves, wie die Love Parade und die Mayday sowie DJ-Größen wie Westbam und Sven Väth. Dissidenz zeigt sich in dieser offensichtlich affirmativen und die Gemeinschaft bejahenden Musik-Kultur aber dennoch, und zwar in einer dissidenten Haltung zur Dissidenz des Punk. Diese Einstellung ermögliche, so Goetz, sich nicht mehr ablehnend der Gesellschaft gegenüber zu verhalten, son-
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dern ihr mit Staunen zu begegnen – aus dem ›Nein‹ zur Welt wird ein ›Ja‹. Das Staunen führt zu den Anfängen der Philosophie zurück und mitten hinein in Luhmanns Kunsttheorie, die Goetz’ Aussagen zur Dissidenz aufnimmt. Die Love Parade ist vor diesem Hintergrund nicht mehr eine bloße Tanzveranstaltung, sondern ein Kunstwerk. Die Beschäftigung mit der Musik und Kultur des Techno findet in den Texten von Goetz verschiedene Ausprägungen. Zum einen referieren die Veröffentlichungen in ihren Titeln und Inhalten klar auf diese Thematik: Goetz philosophiert mit Westbam über bestimmte Begrifflichkeiten der Szene, feiert das Nachtleben auf Ibiza, in München und Berlin, porträtiert DJs für Zeitungen und Magazine. Das Vokabular für die Beobachtungen aus seinen Texten bedient sich dabei besonders eindringlich Bezügen zu Religion und Ritual, was auch in der Theorie zum Techno ein viel bemühter Vergleich ist. Ulf Poschardt ist überzeugt, dass der DJ bei Goetz nicht nur Künstler sei, sondern »zum Mythos und zur Legende mit metaphysischen Qualitäten [wird]: der Schamane, der die Massen in seine Gewalt bringt und sie als Medizinmann therapiert.«1 Die Gemeinschaft der Tanzenden wird zur Gemeinde des Priesters, das DJ-Pult zur Kanzel. Techno ist bei Goetz aber auch mit einer speziellen Sprachpraxis verschränkt. Krankenhagen urteilt, dass der »Verweis auf die Musik […] Ausdruck einer Vitalität [ist], die Text nicht hat.«2 Genau diese Vitalität – und damit auch eine Erscheinungsform von Gemeinschaft, die die Musik in Gegenüberstellung zur Schrift evozieren kann – in Text zu übertragen, ist das Vorhaben von Goetz. Die Forschung hat für die Schreibweise, in der Goetz diese Aufgabe realisiert, den Begriff ›Sound‹ geprägt. Dieser zeigt sich einerseits durch Anlehnung der Sprache an Strukturmerkmale der Musik in Form von Rhythmus, Melodie und Wiederholungen, andererseits durch Annäherung an Mündlichkeit in abbrechendem, flüchtigem oder auch sinnfreiem Sprechen. Diesem typischen Goetz-Sound, der seine literarischen Texte per se prägt, im Buchkomplex HEUTE MORGEN aber eine spezielle Ausrichtung auf Techno erfährt, wird hier vordergründig anhand des Theaterstücks Jeff Koons nachgegangen. Die im Stück wiedergegeben Wechselbeziehung zwischen Musik und (Party-)Gesprächen ist im Kern ein Abbild des Nachtlebens, das die eine Seite der Unterscheidung des für den Buchkomplex herausgearbeiteten Sujets darstellt. Der Text des Dramas ist entweder streng linksbündig in Strophenform oder aber im Block gesetzt. Wenn Goetz das Geschehen genau nach diesen Prinzipien ordnet, scheint es, als nähme er eine differenzierende Rhythmisierung vor und verweise damit im Umkehrschluss auf dialogische und monologische Sprechsituationen, die aufgrund des fehlenden Nebentextes ansonsten nur schwer zu er1 2
Ulf Poschardt: DJ Culture. Discjockeys und Popkultur. Aktualisiert und mit einem Nachwort von Westbam. Stuttgart: Tropen 2015, S. 379. Krankenhagen, Laß mich rein, S. 218.
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schließen sind. Aus der Kombination der räumlichen Aufteilung der Schrift in Verse oder Blöcke ergibt sich zusätzlich ein Schrift-Bild, das Goetz für den Theatertext als charakteristisch erachtet. Die skulpturalen Textbilder und die Musikalität der Sprache fordern wiederum die Umsetzung des toten Textes in das Leben auf einer Theaterbühne.
4.1
Techno: Das Ende der Dissidenz
Die unterschiedlichen identifikatorischen Angebote in Sachen Pop-Kultur, die Goetz in seinen Texten macht, sind eindeutig, das hat u.a. Markus Tillmann festgestellt, der in seiner Arbeit die Bezüge zwischen populärer Musik und Pop-Literatur untersucht. Die frühen Romane Irre und Kontrolliert erhalten »ganz explizit ihren schriftstellerischen Impetus durch die sich in Deutschland in dieser Zeit immer weiter ausdifferenzierende Punk-Bewegung«.3 Hinzu ließe sich der zwischen diesen beiden Publikationen liegende Buchkomplex KRIEG fügen, der sich ebenfalls aus Punk-Anleihen speist. Goetz’ Werke aus den 1990er Jahren sind dann, so Tillmann, »von der Ästhetik der sogenannten DJ-Culture geprägt.«4 Die SCHLUCHTReihe, die mit reichlich Abstand zu ihrem Vorgänger HEUTE MORGEN erscheint, zeigt sich nicht mehr in gleicher Weise von einer Jugend- oder Subkultur informiert. Goetz macht dafür mitunter sein Alter verantwortlich, was sich exemplarisch an ausgewählten Passagen seiner Ansprache zur Entgegennahme des GeorgBüchner-Preises im Oktober 2015 zeigt. Die Rede setzt das Alter in Gegenüberstellung zur Jugend: [J]eden Herbst neu kann man sich daran freuen, daß Georg Büchner JUGEND heißt; und der Georg-Büchner-Preis im Widerspruch dazu AKADEMIE. […]/Wie reagiert die Kunst darauf? VERZWEIFELT. Selten wird es gesagt: In welchem Ausmaß die Produktion von Kunst, die ein Element des Ekstatischen braucht, durch das Altern beschädigt, ruiniert, verunmöglicht wird. Das Leben zerstört die innere Stimme. […]/[…] Das Schreiben altert nicht gut. Man erfährt es an sich selbst, sieht es an vielen Beispielen anderer. Man sieht Lähmung und Selbstplagiat, ranzig hochfahrendes Herrenmenschentum, forcierte Experimentalität
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Markus Tillmann: Populäre Musik und Pop-Literatur. Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bielefeld: transcript 2013, S. 170. Ebd., S. 171. Dazu auch Jochen Bonz: Punk als Medium der Entäußerung in Rainald Goetz’ früher Prosa. In: text + kritik 190 (März 2011), S. 4-16, hier S. 12: »Dass die Popkultur bei Goetz eine überragende Rolle spielt, ist unbestritten. Ebenso, dass es im Grunde zwei verschiedene Formen sind, in welchen sie erscheint. In den 1990er Jahren handelt es sich um die Kultur, die sich rund um Technomusik entwickelte; in den 1980er Jahren um Punk.«
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und enthemmte Geschwätzigkeit, und geht selbst durch alle diese Stationen des Falschen. […]/Aus Sicht der Jugend sind diese Bestimmungen irrelevant, sie gehen einen nichts an, denn man hat fundamental andere Dinge im Kopf. Das ist die große Weltgegenwelt, der politische Sturmlauf der Jugend. Umsturz, Rasen, Gewalt, Neues! Unterdrückung: weg!, Herrschaft, Macht, Ausbeutung: weg! Bessere Welt! Es ist: Revolution! Der Moment der Radikalität und absoluten Heiterkeit ist kurz und strahlend, je anmaßender die Parolen dieses Augenblicks sind, um so besser, um so wahrer verrückterweise auch. Aber der Respekt vor dem Fernstkontinent eines unsichtbaren Morgen, von wo Jugend herkommt, gebietet den Älteren angemessene Scheu: wer nicht mehr jung ist, darf so herrlich nicht sprechen.5 Wie in der Beschreibung des Alterns knüpft Goetz auch beim Punk und Techno an persönliche Erlebnisse an. In seinem Gutachten zum Romanmanuskript von Irre charakterisiert der Suhrkamp-Lektor Hans-Ulrich Müller-Schwefe den Autor nicht etwa als einen außenstehenden Beobachter, sondern als einen Insider der Punkszene: »Goetz weiß Bescheid, bis in die letzten grauslichen Einzelheiten, und er kennt sich in den Sprachen, Redeweisen der Betroffenen aus. Es ist durchweg ein Genuß, wenn er die Leute reden läßt! Man spürt, daß das, was er schreibt, Seite für Seite ›gedeckt‹ ist.«6 Seinen ersten Auftritt im Literaturbetrieb – seine Teilnahme am Ingeborg Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt – bestreitet Goetz zwar in Hemd, Sakko und Krawatte, aber mit blondiertem, zersaustem Haar und Nietenarmband, was ihm in Kombination mit dem Rasierklingenschnitt auch von der medialen Öffentlichkeit die Betitelung ›Punk‹ einbrachte. Das ORF fasste in einem TV-Mitschnitt zusammen: »Dritter Tag beim Ingeborg-Bachmann-Literaturpreis. Nach zwei Tagen mit einigen spannenden Texten […] und mit viel psychologischen Texten begann der dritte Tag pünktlich mit Punk.«7
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Rainald Goetz: Dankrede zum Georg-Büchner-Preis 2015. In: www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/rainald-goetz/dankrede (01.12.2019). Hans-Ulrich Müller-Schwefe: Notiz vom 09.02.1983 an Siegfried Unseld. In: DLA Marbach, SUA: Suhrkamp/01 Verlagsleitung°Unseld, Siegfried (Chronik 1983, Anlagen Februar). ORF: TV-Zusammenschnitt zum Ingeborg Bachmann-Preis in Klagenfurt 1983, Teil 1. In: https://www.youtube.com/watch?v=_BEjgp9MAEY (01.12.2019), 00:34-00:50 [Transkription L.H.]. Da der Auftritt in Klagenfurt, d.h. der Text Subito, mit Goetz’ Debütroman verschränkt ist, ist bereits in Irre vom Kauf wahrscheinlich genau jenes Nietenarmbands zu lesen, das Goetz in Klagenfurt trägt: Nachdem er wiederholt von einem ›spätberufenen Punk‹ angeschnorrt wurde und dieser den Hinterreifen seines Fahrrads zerstochen hat, schlägt der IchErzähler den Schnorrer nieder und kauft sich zur eigenen Belohnung das Armband: »Zum Triumph habe ich mir am nächsten Tag ein breites, weißes NietenLederBand für mein linkes Handgelenk gekauft; schaut supergeil aus.« (Goetz, Irre, S. 319) Der TV-Zusammenschnitt verwendet auf Goetz’ geballte Faust und sein Nietenarmband sogar mehrere detaillierte Kameraeinstellungen, vgl. ORF, Zusammenschnitt Klagenfurt, 01:55-01:57 sowie 02:33-02:35.
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Aufschluss über seine Szenezugehörigkeit gibt Goetz selbst in einem Lebenslauf, der seiner medizinischen Dissertation von 1982 pflichtgemäß beigegeben ist: »Seit Winter 1979 DAMAGE. 1980 sehr viel Bier und Blut. 1981 Freizeit 81, LIPSTICK, Tempo Tempo, Anarchie. Derzeit Frechheit 82, es geht vorann, aufwiedaschann.«8 Die Münchener Punkkneipen Damage und Lipstick sind in Goetz’ Debütroman auch Handlungsorte des Romanhelden Raspe, ebenso findet die linksradikal orientierte Aktionsgruppe Freizeit 81 darin kurz Erwähnung. Die Gruppierung erlangte durch verschiedene, teils militante, teils gewaltfreie Aktionen über München hinausgehende Bekanntheit, obwohl sie ihrem Namen gemäß nur für einen kurzen Zeitraum Bestand hatte: »Freizeit 81 gab es ein halbes Jahr, es war unser Sommer der Anarchie«9 , lässt Lorenz Schröter einen Teilnehmer der Bewegung in einem Radio-Feature zu Wort kommen. Goetz war dieser Gruppierung vermutlich nur lose zugeordnet, eine Verbindung zu näher assoziierten Gruppenmitgliedern besteht dennoch. 1984 drehte der Filmemacher Anatol Nitschke ein Remake der Warhol’schen Western-Persiflage Lonesome Cowboys in München. Darsteller des eingedeutschten Kurzfilms mit dem Titel Einsame Cowboys sind wie der Regisseur Nitschke fast ausschließlich zum direkten Kreis bzw. dem Umfeld von Freizeit 81 gehörende Künstler, darunter der Autor und Filmemacher Romuald Karmakar, der Maler Florian Süssmayr und eben Rainald Goetz.10 Als Goetz im dritten Teil des Romans Irre die Bewegung Freizeit 81 erwähnt, hat diese wie das mit ihr verknüpfte Faszinosum Punk für den Autor bereits an Bedeutung verloren. Sein hellsichtiger Blick in die Zukunft birgt stattdessen den Anknüpfungspunkt für sein späteres literarisches Schreiben: Lesson Number Two: Die Sehnsucht. Wir brauchen die erste Lektion, den ganzen Punk, die geklauten Lederjacken, all die nicht erzählten Geschichten von Härte,
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Rainald Goetz: Das Reaktionszeit-Paradigma als diagnostisches Instrument in der Kinderpsychiatrie (Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde in der gesamten Medizin). München 1982, S. 57. Lorenz Schröter: Ein Fest gegen die BRD. Die Münchener Jugendrevolte »Freizeit 81« und ihre Folgen. Radio-Feature, BR 2013. In: https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiofeature/freizeit-81-revolte-muenchen-100.html (01.12.2019), 00:45-00:49 [Transkription L.H.]. In der Wendung vom ›Sommer der Anarchie‹ lässt sich eine Entgegensetzung zur Losung ›Summer of Love‹ ablesen, die zuerst 1967 von der Hippie-Generation in San Francisco ausgerufen und später von der Acid-House-Bewegung 1988 in England wiederbelebt wurde, vgl. Poschardt, DJ Culture, S. 351. Auf diese Widersprüchlichkeit zwischen Anarchie bzw. Dissidenz und Liebe bzw. Affirmation wird im Folgenden genauer eingegangen. Kurze Informationen und Filmstills lassen sich der ersten Ausgabe der Münchener Zeitschrift Grüße & Anzeigen entnehmen, in der auch Goetz’ Text Der Attentäter seinen Erstabdruck findet, bevor er im Merkur sowie schließlich in den Textzusammenstellungen Hirn und Kronos wiederveröffentlicht wird, vgl. Anatol Nitschke: Einsame Cowboys, Anzeige zum Film. In: Grüße & Anzeigen 1/1985, S. 4-10.
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Terror, Freizeit 81, Sauereien und Kaputtheit, jetzt nicht wiederholen. Plötzlich jedenfalls ist eine Heiterkeit da gewesen, eine merkwürdige Leichtgewichtigkeit, die Sehnsucht nach großen Gefühlen, und seidene Schals und weite Pullover. Was war da geschehen? Alle redeten überall vom Punk, doch dessen Blut war in geheimer Transsubstantiation inzwischen längst zum Wein der Eleganz geworden. Wann?, wodurch?, keine Ahnung. Ich weiß nur, es muß wohl, wie bei jeder Revolte, alles rasend schnell gegangen sein./Farbiges Neonlicht leuchtete hell, […] man spielte eine melodiöse leicht verzuckerte synthetische Musik, und da stand ich, wieder einmal fast allabendlich, mit dezent geröteten Unterlidern, stand da, trank das Bier und wartete, wartete voll Sehnsucht. […] Später mal kommt, vielleicht, die Liebe. Weiß jemand, was das ist? Ich nicht. Vielleicht aber geht es um nichts anderes.11 Ein Jahrzehnt danach sind die Punkkneipen bei Goetz durch Orte der elektronischen Musik wie etwa die Berliner Clubs Tresor und E-Werk abgelöst, er feiert auf der Mayday und der Love Parade. Offensichtlich sind die Techno-Bezüge in den Titeln der entsprechenden Veröffentlichungen: Die Nachtlebenerzählung Rave dreht sich um Drogen und Musik, auf einen Rave in Berlin folgt immer ein nächster in München oder auf Ibiza. Mit der Aufgabe, »[e]ine Schneise der Verwüstung durch die Clubs der Stadt zu saufen, Ehrensache. Am nächsten Wochenende wieder« (Ra, 224) und Berichte darüber zu verschriftlichen, ließe sich Rave in aller Kürze zusammenfassen. Ihren Anstoß findet die Erzählung im Merve-Band Mix, Cuts & Scratches, in dem Goetz gemeinsam mit seinem Freund Westbam zu ergründen sucht, was ›Record Art‹ ist. Wie Goetz durchlebt auch Westbam, der noch 1981 als Punk unter dem Künstlernamen Frank Xerox beim Festival ›Genialer Dilletanten‹ in West-Berlin auftrat, den Übergang vom Punk zum Techno persönlich. Westbam wie Sven Väth porträtiert Goetz dann schließlich in Celebration, außerdem gibt die Textsammlung noch einmal den Streit mit Isabelle Graw und Astrid Wege vom Magazin Texte zur Kunst über das totalisierende Potential der Love Parade wieder. Auch hier sind die Texte keine Berichte eines Beobachters aus der Distanz. Goetz ist wiederum mittendrin, reist mit den DJs von einem Auftritt zum nächsten um die Welt und trägt ihnen die Plattenkoffer, wie eine Aussage der Berliner DJ-Größe Tanith belegt: »Ich hab auf der Mayday Rainald Goetz kennengelernt. […] Ich wusste nicht, dass er Raver war. Rainald fand alles super, alles. Da war ich fast ein bisschen enttäuscht. Ich kannte den als RAF-Schreiber, den fand ich super, später schleppte er Sven Väth und Westbam die Platten.«12
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Goetz, Irre, S. 318f. Felix Denk/Sven von Thülen: Der Klang der Familie. Berlin, Techno und die Wende. Berlin: Suhrkamp 2 2012, S. 228. Ein Plattenkoffer tragender Goetz ist auch in Celebration abgebildet (vgl. Ce, 19).
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Ähnlich wie es bei Tanith anklingt, wird Goetz mit dem Wechsel vom Punk zum Techno nicht selten ein Ausverkauf vorgeworfen. Windrich fasst kritische Stimmen zusammen, die meinen, dass Goetz zu einem »gefährlichen Pathos verführt worden [sei], er habe frühere Überzeugungen aufgegeben und den Texten einen affirmativ-gefälligen Zuschnitt verliehen, möglicherweise sogar aus kommerziellen Gründen.«13 Maxim Biller nutzt dafür den Begriff: »Schlappschwanz-Literatur«14 . Biller hatte im April 2000 eine Tagung unter dem Titel ›Freiheit für die deutsche Literatur‹ im bayerischen Tutzing organisiert und viele seiner Schriftstellerkollegen dazu eingeladen. Er begrüßte sie in seiner Eröffnungsrede mit dem Vorwurf, dass er die Brecht’sche Moral in Form einer Position an ihnen vermisse. Weil es keine Gegnerschaft, keinen Kampf, keinen Mut zum Risiko gäbe, gäbe es keine Moral und deshalb auch keine Kunst. Stattdessen herrsche in der deutschen Literatur nur ein Schweigen, dessen gravierendste Ausprägung die Pop-Schreiber darstellten: Die schlimmsten, verschwiegensten aller Systemopportunisten sind die klugen Anhänger des so genannten Pop. Sie wissen genau, dass mit einer Generation etwas nicht in Ordnung sein kann, die zu Modedesignern, DJs und Grafikern so selbstvergessen betet wie andere zu Jesus Christus und der Heiligen Jungfrau Maria. Trotzdem – oder gerade deshalb – fahren sie den Kurs der totalen Affirmation, was natürlich eine besonders raffinierte Art des Schweigens ist.15 Dieser ›totalen Affirmation‹ sei zu Billers Leidwesen auch sein Freund Goetz, der unter den Kollegen eigentlich als Rebell gelte, verfallen. Biller macht dies an der zu dieser Zeit neu erschienenen Erzählung Dekonspiratione fest, die er für ein »einziges Dokument der totalen Selbstaufgabe und Mutlosigkeit«16 hält, was in der direkten Ansprache an den anwesenden Goetz mündet: »Ja, auch du, Rainald! Auch du scheinst inzwischen ein Leben ohne Risiko vorzuziehen, ohne Gegnerschaft, ohne Hass.«17
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Windrich, Technotheater, S. 56. Maxim Biller: Feige das Land, schlapp die Literatur. Über die Schwierigkeit beim Sagen der Wahrheit. In: Die ZEIT, Nr. 16 vom 13.04.2000, https://www.zeit.de/2000/16/200016.moral_.xml (01.12.2019), S. 5. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. In seinem Weblog Klage resümiert Goetz über die Begebenheiten auf der Tagung: »Seit acht Jahren hätte ich wegen ihm, Maxim Biller, nichts mehr veröffentlicht, seit TUTZING, hat Biller Lottmann vor einiger Zeit auf You Tube erzählt. Da habe ich echt gestutzt, musste selber nachrechnen, Maxim Biller wusste besser als ich selbst, wie lange ich nichts mehr veröffentlicht hatte, dass es wegen Tutzing und allem, was damit zusammenhängt, sein könnte, war mir noch nie eingefallen, obwohl ich über die Frage, woher es kommt, dass ich nicht mehr schreiben kann, relativ viel nachgedacht habe, eigentlich natürlich mehr oder weniger ununterbrochen. Auf Tutzing war ich dabei nicht gekommen. Tutzing war aber wirklich
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Grund für diese und ähnliche Vorwürfe ist darüber hinaus, dass Goetz sich in seiner Techno-Phase nicht etwa zu komplexen Formen dieser elektronischen Musik hingezogen fühlt, sondern gerade jene Spielarten überhöht, die bewusst einfach gehalten sind und den Geschmack von vielen treffen. Das für ihren abstrakten Electro-Sound bekannte Düsseldorfer Duo Mouse on Mars nennt er in Rave abschätzig »Mouse on Mice und wie diese ganzen Idioten alle heißen.« (Ra, 34) Im selben Atemzug wettert er auch gegen das experimentelle Frankfurter Label Mille Plateaux: »Mille Plateaux. Gleich tausend Plateaus. Dabei würde eigentlich EIN Plateau schon völlig reichen, als ein so richtiges Plateau.« (Ra, 34) Westbams Plattenlabel Low Spirit hingegen nimmt Goetz »gegen die häufig gebrachten Vorwürfe in Schutz, diese massentaugliche Form von Techno sei primitiv und schlichtweg ›doof‹, indem er das ›Doofe‹, ›Banale‹ und ›Prollige‹ im Gegenzug als explizit vorzugswürdig ausweist«18 , so Christoph Hägele. ›Banality as Saviour‹ lautete die Maxime in Koons’ Worten, und Goetz verteidigt diese Haltung vehement. »Ich lag da und schlief und hatte das Gefühl als würde Basic Channels Neunte in mir laufen« (Ra, 257), heißt es an einer Stelle in Rave. In einem Brief kritisch nach seinen Musikvorlieben befragt, reagiert Goetz polemisch: Ich beantworte hier einen Brief von Suso Kraut, dem Physiker […]. Er möchte außerdem wissen, warum ich einen so merkwürdigen Musikgeschmack hätte. Hinter der Frage steht in Klammern das Wort Marusha, mit zwei Fragezeichen. Gähn. Die Leute sind so hohl. Hat der Typ je eine einzige Platte von Marusha gehört? Hat er die neueste Platte, die ich neulich hier erwähnte, gehört? Nein, natürlich nicht. Und hat er irgendeinen Zweifel an der Triftigkeit und Fundiertheit seines sicher wahnsinnig tollen Musikgeschmacks und Urteils. Nochmal siebenmal NEIN. Normal, völlig normale Art per Ahnungslosigkeit sich in der Welt und in sich selbst zu orientieren. Trotzdem, auf die Art wird man von Beruf Depp, und niemals ein toller Physiker. (Afa, 691) Beim Übergang vom Punk zum Techno, den Goetz vollzieht, ist bedeutsam, dass es nicht nur um die Musik an sich geht, sondern dass Pop-Musik als Kunstform erst komplett ist »mit einer bestimmten qualifizierten sozialen Rezeption«19 , wie Diederichsen 2005 in der Einleitung seiner Kolumnensammlung Musikzimmer zusammenfasst. Hinsichtlich ihrer sozialen Rezeptionshaltung können Punk
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ein absoluter Rammbock in die Grundfesten meines bis dahin trotz allem irgendwie ungebrochenen Weltvertrauens.« (Goetz, Klage, S. 275f.) Christoph Hägele: Politische Subjekt- und Machtbegriffe in den Werken von Rainald Goetz und Thomas Meinecke. Innsbruck: Studienverlag 2010, S. 152. Das Label Low Spirit veröffentlichte beispielsweise Platten von Künstlern wie Marusha, Lexy & K-Paul, Mark Oh oder Members of Mayday. Diedrich Diederichsen: Schreiben im Musikzimmer. In: ders.: Musikzimmer. Avantgarde und Alltag. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 11-27, hier S. 13.
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und Techno als gegensätzlich betrachtet werden. Während Punk die Gesellschaft in Frage stellt, setzt Techno auf die utopische Gemeinschaft der ›Raving Society‹, die Jürgen Laarmann, Herausgeber des Techno-Magazins Frontpage, und Westbam 1994 zusammen ausriefen.20 In den Slogans der Bewegungen tritt der Antagonismus offen zutage: ›No Future‹21 wird abgelöst durch ›Friede, Freude, Eierkuchen‹22 . Thorsten Rudolph sieht in der Punk-Phase von Goetz, die er am Erstlingsroman Irre festmacht, die »(wahre) Revolution«, während die für den Techno einstehende Erzählung Rave »keine Position eines revolutionären Dagegen mehr [kennt].«23 Goetz sei mit dem Wandel vom Punk zum Techno so von einer »erhabenen weltverächtlichen Passion, von einer gepflegten Paranoia und stilisiertem Hass zu einer Bejahung übergegangen«24 , heißt das Fazit Hubert Winkels‹. Eine mit ›1. Konzeption‹ betitelte Szene im ›Ersten Akt‹ des Theaterstücks Jeff Koons lässt neben dem diesen Teil des Dramas inhaltlich prägenden Liebesakt auch diese affirmative Programmatik von Goetz aufscheinen: »ja/ja/ja/ja/ja//ja ja ja//ja/ja/ja/ja/ja/ja/jaaa/mein Gott/ist das geil//stimmt/genau/stimmt haargenau« (Jk, 37).25 Das ›Ja‹ zur Gemeinschaft, auf das es bei Goetz ab den 1990er Jahren hinausläuft, mag der traditionellen Auffassung von Pop als Jugend- und Subkultur, die die Form eines Widerstands oder einer Kampfansage annimmt, sich gegen Normen auflehnt oder sich von ihnen abgrenzt, zunächst widersprechen.26 Windrich
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Vgl. dazu Jürgen Laarmann: The Raving Society. In: Philipp Anz/Patrick Walder (Hg.): Techno. Reinbek b.H.: Rowohlt 1999, S. 290-295, hier S. 294: »Wir sehen in der Zukunft die ravende Gesellschaft, die Gesellschaft, die begreift, was wir heute sagen. Die gesellschaftlichen Folgen sind unabsehbar und werden mindestens so groß sein wie der gesellschaftliche Impact der Hippies auf die späten sechziger und siebziger Jahre. ›Stell dir vor, Montag ist Arbeitstag, und keiner geht hin‹ […].« Vgl. Philipp Anz/Patrick Walder: Die Geschichte von Techno. In: dies. (Hg.): Techno. Reinbek b.H.: Rowohlt 1999, S. 10-27, hier S. 16. Vgl. Timor Kaul: Techno. In: Handbuch Popkultur. Hg. v. Thomas Hecken/Marcus S. Kleiner. Stuttgart: Metzler 2017, S. 106-110, hier S. 107. Thorsten Rudolph: irre/wirr: Goetz. Vom ästhetischen Terror zur systemischen Utopie. München: Fink 2008, S. 16. Hubert Winkels: Grenzgänger. Neue deutsche Pop-Literatur. In: Sinn und Form 51 (1999), Heft 4 (Juli/August), S. 581-610, hier S. 596. Windrich stellt fest, dass auch die von Goetz in seinen Büchern eingefügten Bilder die Verschiebung vom ›Nein‹ zum ›Ja‹ erkennen lassen: »Irre und Hirn zeigen Fotos von körperlichen Missbildungen […], Celebration dagegen lauter glückliche Menschen auf Partys oder im Bett« (Windrich, Technotheater, S. 57). Auffällig ist hier abermals die Reihung der ›ja‹-Partikel ihrer Anzahl nach: Nach fünf untereinander gesetzten Zeilen mit ›ja‹ folgen drei ›ja‹ in einer Zeile und darauf noch einmal sieben untereinander gesetzte ›ja‹. Vgl. die zusammenfassende Darstellung der Pop-Theorie bei Windrich, Technotheater, S. 103-110.
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stellt den Goetz’schen Standpunkt als Gegenstück zur klassischen Oppositionshaltung des Pop heraus; nicht eine »wie auch immer geartete[] kritische[] Einstellung« sei der Kernpunkt seiner Texte dieser Zeit, sondern eine »Hingabe an das Attraktive.«27 Es scheint nicht mehr um das Machtverhältnis zwischen Norm und Abweichung, um die »Offensive minoritären Widerstands«28 zu gehen, die Tom Holert und Mark Terkessidis trotz des Mainstream der Minderheiten, wie ihr Sammelband heißt, gegen die institutionelle Praxis in Stellung gebracht wissen wollen. Doch spielt die für die traditionelle Pop-Theorie so wichtige Dissidenz auch in den Veröffentlichungen nach den Romanen Irre und Kontrolliert immer noch eine Rolle, nur in einem Verständnis, das – wie zuvor bei den Dichotomien Text/Paratext, Tag/Nacht, Kunst/Leben, Asozialität/Sozialität – wiederum eine dialektische Vermittlung anstrebt, dieses Mal zwischen ›Nein‹ und ›Ja‹ bzw. Dissidenz und Affirmation. Es sei eine entschiedene Stärke der Pop-Musik, im ›Ja‹ ein ›Nein‹ sowie im ›Nein‹ ein ›Ja‹ zu implizieren, wie Diederichsen in seiner jüngsten Monografie Über Pop-Musik herausstellt. »Sie [die Pop-Musik, L.H.] ist affirmativ, sie sagt Ja. Und will doch Nein sagen. […] Eine freudige und daher ermutigende, freundliche Verneinung des Bestehenden zugunsten der Umstehenden.«29 Die beiden immer wieder plakativ gegenübergestellten Momente der Pop-Kultur – Rave und Punk –, die auch Diederichsen als ein »großes glückliches Ja« kontra einer »große[n] sarkastische[n] Verweigerung« charakterisiert, bilden deshalb eine Einheit: [E]in Nein im Modus des Ja und umgekehrt. Eine Weigerung, die nicht mit einer Party zutiefst verbunden wäre, ein riesiger eskapistischer Exzess jenseits von Raum und Zeit, der nicht vor einer bestimmten und konkreten Hässlichkeit Reißaus nähme, wären nicht satisfaktionsfähig.30 Die eher für die Haltung des Punk beanspruchte Dissidenz ist derart im Techno, der oberflächlich nur Affirmation zu kennen scheint, weiterhin vorhanden – nicht zuletzt als Widerstand gegen den Widerstand des Punk und New Wave. Dirk Frank umschreibt diesen Umstand mit der Formulierung ›Gegengegenkultur‹, die er wie folgt ausbuchstabiert: »Ab den Achtzigern dient Affirmation vor allem der Abgrenzung von der orthodoxen Protestkultur. Wer fortan emphatisch Ja! sagt, sagt
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Ebd., S. 117. Tom Holert/Mark Terkessidis: Einführung in den Mainstream der Minderheiten. In: dies. (Hg.): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin/Amsterdam: Edition ID Archiv 2 1997, S. 5-19, hier S. 19. Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014, S. XIII. Diese wie die vorangehenden Zitate: ebd.
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gleichzeitig vehement Nein!, nämlich zur Protestkultur der Generation vor ihm.«31 Genauso trägt Punk mit der Bejahung einer Gemeinschaft, die gegen gesellschaftliche Konventionen opponiert, einen Faktor der Affirmation in sich. Der Übergang vom Punk zum Techno ist, in der Ablösung der Pop-Kulturen wie im literarischen Schaffen von Goetz, mithin kein arbiträrer Schritt von Dissidenz zu Affirmation, sondern eine Konsequenz, die sich auf gleiche Bedingungen stützt: die Vermittlung von ›Nein‹ mit ›Ja‹ und ›Ja‹ mit ›Nein‹. In demselben Maße, wie Pop die Qualität hat, die Gegensätze von Nacht und Tag zusammenzubringen zu können,32 vereint Pop auch die Antagonismen von Dissidenz und Affirmation in sich. Im Theaterstück Jeff Koons ist diese Fügung anhand von Kunstwerken ablesbar, die in der Rede zur Ausstellungseröffnung im Akt ›Nach der Pause‹ beschrieben werden: Keine unserer Skulpturen, keines dieser Bilder sagt einfach Ja zum Nein, oder gar, im Gegenteil, zum Ja. Auch darin ist diese Kunst politisch, daß sie ihre Protest- und Affirmations-Zustände nicht einer egal wie richtigen Idee vom besseren Leben und den mit reichlich Gratifikation und gesellschaftlicher Anerkennung bedachten Kämpfen für eine solche egal wie tolle politische Idee unterordnet, sondern der Realität echt gelebter Leben nachbildet, die immer beides ist, Bejahung und Schrei des Unrechts, des Protests, der Forderung, daß alles anders wird, sofort […]. (Jk, 120f.)33 Ein solches Verständnis von Pop setzt bereits an der Goetz’schen Verwendung des Begriffs ›Dissidenz‹ an. Seine Beschäftigung mit dieser Begriffsprägung nimmt ihren Ausgang bei Luhmanns Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Negation. Dieser schreibt mit dezidiertem Bezug auf Goetz: »Kunst sei Dissidenz«34 . Er knüpft damit an ein Gespräch zwischen Mark Terkessidis, Niels Werber und Goetz an, das im Oktober 1992 im Magazin Texte zur Kunst unter dem Titel Schlagabtausch – Über Dissidenz, Systemtheorie, Postmoderne, Beobachter mehrerer Ordnungen 31
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Dirk Frank: Die Nachfahren der ›Gegengegenkultur‹. Die Geburt der »Tristesse Royale« aus dem Geiste der achtziger Jahre. In: text + kritik Sonderband X: Pop-Literatur (2003), S. 218233, hier S. 219. Vgl. Kap. 3.4 dieser Arbeit. Joseph Beuys dekliniert das ›Ja‹ und ›Nein‹ der Kunst in einer seiner Installationen wortwörtlich durch: Sein Medienkunstwerk mit dem Titel Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee (1969) besteht aus einer Tonbandspule, die auf einem Stapel Filzplatten liegt, und die Aufnahme der Stimmen von Beuys und seines Assistenten wiedergibt, die gut eine Stunde lang die Worte »Ja, Ja, Ja, Ja, Ja, Nee, Nee, Nee, Nee, Nee« sprechen. (Vgl. Pinakothek der Moderne: Multiples von Joseph Beuys. In: http://pinakothek-beuys-multiples.de/de/product/ja-ja-ja-ja-janee-nee-nee-nee-nee-2/[01.12.2019]) Daran anschließend setzt sich 1995 Martin Kippenberger mit der Installation auseinander und nimmt eine CD namens Beuys Best auf, die Versionen von Beuys’ Tonbandaufnahme enthält. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. IV. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2 2012, S. 98.
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und Kunst abgedruckt wurde. Terkessidis und Werber hatten in der zuvor veröffentlichten Ausgabe der Zeitschrift die Grundlage für den Schlagabtausch gelegt, d.h. ihre Positionen zu den im Titel genannten Begriffen und Konzepten in einem an den jeweils anderen gerichteten Brief dargestellt.35 Der tatsächlichen Diskussion dieser Thesen schloss sich dann überraschenderweise Goetz an. Der weiß auf die Frage, was Dissidenz denn überhaupt für ihn sei, im Schlagabtausch eine klare Antwort zu formulieren: »Sie ist Abweichung vom Bestehenden, vom Herrschenden, von der Macht, vom Faktum, von der Realität. Eigentlich ist ohne sophistische Zuspitzung jedem klar, was gemeint ist: Dissidenz heißt einfach Widerstand, ganz diffus, wie das klingt, gegen alles sein.«36 Er spitzt dieses ›gegen-alles-Sein‹ noch zu, wenn er auf Werbers Zwischenruf »Alles, was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht« antwortet: »Naja, nicht nur, daß es zugrunde geht, sondern daß es sauber vernichtet wird, also daß es richtig kaputt gemacht wird.«37 Terkessidis’ Einwand, dass doch längst nicht mehr destruiert, sondern nur noch dekonstruiert würde, quittiert Goetz scharfzüngig: Nein, das schaut nur für die theoretischen Beschreibungen so aus. […] Bloß für die Theoretisiererei, die sich daran hängt, die keine Theorie ist, sondern Theoretisiererei […]. Ich will eine stärkere Trennung einziehen zwischen diesen theoretischen Beschreibungen von Geschehnissen, die meistens Theoretisiererei sind, und dem ganz aktual tatgerichteten Geschehen.38 Ein Exempel für einen dissidenten Akt hat Goetz dann auch unumwunden parat: »Acid, die ganze Dance-Szene ist ein Beispiel für Dissidenz, die total ohne irgendwelche Theorie auskommt.«39 An ihr sei dissident, dass sie sich von etablierten Pop-Musik-Diskursen, von traditionellen Begrifflichkeiten und von allem anderen abkoppeln würde und nur noch Musik, Drogen, Feiern und Glück kenne.40 Feiern und glücklich sein sind dem Abwenden von etablierten Diskursen zum Trotz grundsätzlich Ausdruck einer Bejahung, im ›Nein‹ ist das ›Ja‹ implizit. Wenn Luhmann zusammenfasst, dass Kunst für Goetz Dissidenz sei, dann ist besonders die auf seine Beobachtung folgende Parenthese für das Verständnis einer Kunst in Goetz’ Sinne von Bedeutung: »Dissidenz jetzt (und heute) gerade auch im Verhältnis zu den programmatischen Dissidenten und professionellen Kritikern, die das
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Vgl. Mark Terkessidis/Niels Werber: Grundlage für einen Schlagabtausch. In: Texte zur Kunst 6 (1992), S. 91-99. Rainald Goetz/Mark Terkessidis/Niels Werber: Schlagabtausch – Über Dissidenz, Systemtheorie, Postmoderne, Beobachter mehrerer Ordnungen und Kunst. In: Texte zur Kunst 7 (1992), S. 57-76, hier S. 58. Ebd. Ebd. Ebd., S. 60. Vgl. ebd., S. 58.
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Staunen verlernt haben.«41 In einer zusätzlichen Fußnote zu diesem Einschub liest man, dass Luhmann Goetz für eine längere Unterhaltung dankt, die ihm gegenüber den gekürzten Formulierungen des veröffentlichten Streitgesprächs noch einmal Goetz’ Position verdeutlicht habe. Er ergänzt daraufhin, »daß erst die Dissidenz im Verhältnis zum Dissidenten ein Staunen wieder möglich macht, ein Staunen über die Realität, wie sie sich alltäglich zeigt, ein Staunen ohne Vorentscheidung über Bejahung oder Verneinung.«42 Ein Staunen, wie es sich bei Goetz beispielsweise in der Erzählung Rave darbietet: Es gab einmal eine Zeit, wo es noch keine Worte gab, für das alles hier. […]/Es war die Ohne-Worte-Zeit, wo wir uns in allen möglichen Situationen immer nur so komisch anschauten mit großen Augen, den Kopf schüttelten und fast nichts mehr sagen konnten, außer:/ohne Worte –/pf –/brutal –/der Wahnsinn –/ohne Worte, echt –//Das war sozusagen unser Glücksgedicht. Gemeint war damit ein Erstaunen, eine Bewunderung für das Überwältigende, Umwerfende, das simpel und unspektakulär eben doch irgendwie Monumentale der Momente, in denen man drin war, die durch einen durch gingen, der Ausdruck des Gefühls, daß man es sich toller und abgefahrener gar nicht vorstellen konnte und noch nie erlebt hatte usw usw. (Ra, 253) Das Staunen führt zu den Anfängen der Philosophie zurück. Das deutsche Wort ›Staunen‹ bezeichnet ursprünglich eine Starre, die dem lateinischen stupor entspricht, das zusammen mit dem Begriff admiratio Übersetzungsvarianten des griechischen thaumazein bildet. Thaumazein wiederum ist mit dem Verb theastai verbunden, das ›bewunderndes Anschauen‹ bedeutet, und darüber mit dem Nomen theoria.43 In Aristoteles’ Metaphysik wie in Platons Dialog Theaitetos wird das Staunen schlechthin zum Anfang der Philosophie erklärt. Sokrates spricht zu Theätet: »Denn gerade den Philosophen kennzeichnet diese Gemütsverfassung, die Verwunderung. Denn diese, und nichts anderes, ist der Anfang der Philosophie«44 . Bei Aristoteles heißt es: »Denn aus Verwunderung fingen die Menschen, wie jetzt so auch früher, an zu philosophieren, indem sie zuerst über solche rätselhafte Dinge in Staunen gerieten, die sich unmittelbar der Beobachtung aufdrängten, dann aber allmählich auf diesem Wege weitergingen und sich auch über Größeres in
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Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. IV, S. 98. Ebd., Fn 85. Vgl. E. Jain/T. Trappe: Staunen; Bewunderung; Verwunderung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bände, Bd. 10. Hg. v. Joachim Ritter/Karlfried Gründer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 116-126, hier S. 116. Platon: Theätet. In: ders.: Sämtliche Dialoge. Hg. v. Otto Apelt. Bd. IV. Übersetzt und erläutert v. Otto Apelt. Hamburg: Meiner 2004, S. 29-144, hier Elftes Kapitel, 155. St. [S. 51].
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Zweifel einließen«45 . Stefan Matuschek arbeitet den Unterschied zwischen dem platonischen und dem aristotelischen Begriff des Staunens auf, der darin besteht, dass der eine »vom Objekt, der andere vom Subjekt der Erkenntnis her gedacht ist. Der eine steht für die Erhabenheit der Ideen, der andere für die zu beseitigende Unwissenheit der Menschen.«46 Für Luhmann hingegen, dessen Erläuterungen zu Kunst und Dissidenz hier nun weiterverfolgt werden sollen, um der Deutung der Dissidenz im Sinne Goetz’ auf den Grund zu gehen, ist eine spätere Verwendung des Begriffs ›Staunen‹ bedeutsam. Er schreibt René Descartes eine Definition der admiratio zu, die dieser in seinem späten Aufsatz Passions de l’Ame trifft, und die Luhmann im Laufe seiner Ausführungen in die Termini von ›Irritation‹ und ›Störbarkeit‹ umdeutet. Nach einem einleitenden ersten Teil über die Funktionen des Körpers und der Seele sowie über die Leidenschaften im Generellen gibt Descartes die sechs Grundaffekte des Menschen in einer geordneten Reihenfolge wieder, da die Affekte aufeinander aufbauen. An erster Stelle steht die admiratio, weil sie, so Matuschek, »noch vor der Wertung, ob das Wahrgenommene gut oder schlecht für den Menschen sei, [steht], wovon die Aufgliederung der weiteren Affekte abhängt«47 . Bei Descartes heißt es über die admiratio: Die Verwunderung. Wenn ein Objekt uns beim ersten Entgegentreten überrascht und wir urteilen, daß es neu ist und sehr verschieden von allem, was wir vorher kannten, oder von dem, was wir vermuteten, das es sein sollte, bewirkt das, daß wir uns über es wundern und erstaunt sind. Da das jedoch auftreten muß, bevor wir überhaupt erkennen, ob dieses Objekt uns angenehm ist oder nicht, ergibt sich für mich, daß die Verwunderung die erste aller Leidenschaften ist. So hat sie auch kein Gegenteil, denn, wenn das Objekt, das sich uns darbietet, nichts in sich besitzt, was uns überrascht, sind wir darüber keineswegs erregt und betrachten es ohne Leidenschaft.48 Variieren die Übersetzungen für thaumazein zwischen Staunen, Bewundern, Verwundern und auch Furcht,49 erklärt Luhmann die Passion der admiratio geradezu
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Aristoteles: Metaphysik. Übersetzt und erläutert v. Dr. Theol. Eug. Rolfes. Erste Hälfte Buch I-VII. Leipzig: Meiner 2 1920, Erstes Buch, Zweites Kapitel, 982b [S. 5]. Stefan Matuschek: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 23. Ebd., S. 127. René Descartes: Die Leidenschaften der Seele. Französisch-deutsch. Hg. und übersetzt v. Klaus Hammacher. Hamburg: Meiner 1984, Artikel 53 [S. 95]. Vgl. Jain/Trappe, Staunen, S. 116-126 sowie Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. IV, S. 56: »Es scheint, daß die antike Kernbedeutung des Staunens in der Frühmoderne mehr und mehr mit auch negativen Komponenten aufgeladen wird: nicht nur Bewunderung, sondern auch Verwunderung unter Einschluß von Leid und Mitleid, ja Schrecken und Entset-
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für »unübersetzbar«50 . Er hebt sie innerhalb der Affektlehre Descartes’ als einzige Passion hervor, die ohne einen Gegenbegriff auskommt, eben weil sie »das Negative in sich einschließt; oder besser gesagt: in bezug auf positiv und negativ unqualifiziert bleibt – wie die Welt.«51 Außerdem erkennt er in Descartes’ Deskription der admiratio eine weitere Ambivalenz, deren beide Pole gleichsam in einem Atemzug genannt werden: Neuheit und Abweichung.52 In der Anreicherung des Konzepts der admiratio um die Zwiespältigkeit hinsichtlich der Objektqualitäten ›neu‹ und ›abweichend‹ sieht Luhmann die Verwandtschaft zum Begriff der Irritation, bzw. stellt er demzufolge die Irritation als eine mögliche Aktualisierung der admiratio, die zu erregen der Sinn der alten Lehre der Kunst gewesen sei, in einer funktional differenzierten Gesellschaft heraus.53 Luhmanns weitere Ausführungen gehen der Frage nach, wovon es abhängt, ob eine solche Irritation dann entweder als neu oder als abweichend begriffen wird.54 Dabei legt er dar, dass die verschiedenen Funktionssysteme divergent auf die Unterscheidung von Abweichung und Neuheit reagierten. Politik und Religion beispielsweise behandelten Neuerungen eher mit Vorsicht oder lehnten sie ab, lösten die Irritation also vielmehr in Richtung der Abweichung auf, während vor allem die Funktionssysteme Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft Neuerungen begrüßten. In der Kunst machte sich dies etwa durch die Einführung der Unterscheidung von Original und Kopie bzw. der Zurechnung eines einmaligen Kunstwerks auf ein individuelles Genie sowie in einer dissidenten Haltung zur Tradition bemerkbar: Und nicht zuletzt, allerdings viel verdeckter, gerät die Neuheitserwartung in Konflikt mit einer Tradition, die lehrte, daß ein Kunstwerk ein Zeichen für etwas anderes sei, etwa eine Allegorie oder eine Darstellung idealer Wesensformen, wie sie in der Natur nicht zu finden seien. Das, worin das Neue besteht, kann nicht zugleich ein Zeichen für etwas anderes sein. Mit der Entwicklung einer historischen Stilkunde und mit zunehmend aggressiver, in alle Tradition eingreifender Dissidenz ergibt sich daher zwangsläufig die Notwendigkeit, Kunst als referenzlos zu
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zen, vielleicht sogar Reue vor dem Hintergrund der Vorstellung einer von Gott geschaffenen Welt.« Ebd., S. 55. Ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 58. Zusammenfassend heißt es bei Luhmann: »Die Kunst verlangt eine Art Bewunderung, die sich selbst nicht voll zu entschlüsseln, die über sich selbst nicht Rechenschaft zu geben vermag. Die antike thaumastón/admiratio-Thematik wird mit ambivalenten Gefühlsbezugnahmen (Bewunderung, Verwunderung, Erschrecken, Mitleid) angereichert und schließlich durch Descartes im Hinblick auf ›abweichend und neu‹ in die Nähe dessen gebracht, was man heute Irritation nennen würde. Das betrifft, wohlgemerkt, nicht die Motive und die Interessenlagen, sondern das Beobachten selbst.« (Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 428) Vgl. für den folgenden Absatz Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. IV, S. 63-74.
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denken; oder besser: ihre Referenz auf die Ablehnung vergangener Formen und Stile einzuschränken.55 Luhmann fasst zusammen, dass es einen Unterschied gemacht haben müsse, ob ein System sich von seiner Vergangenheit abkoppeln konnte oder inwieweit es andererseits nur durch sie legitimiert gewesen ist.56 Wenn, wie im Falle der Kunst, sich Tradition mittels Ablehnung vergangener Formen und Stile abschütteln ließ, müsste sich daraus gänzlich auf eine Auflösung der Irritation als Neuheit und nicht als negativ markierte Abweichung im System der Kunst schließen lassen. Die ›moderne Kunst‹, so Luhmann, – und damit ist auch die von Goetz gemeint – kann diese Gewichtung hin zu einer Seite der Unterscheidung allerdings wieder aufheben und zum quasi-cartesischen Zustand des Gleichgewichts der beiden Pole zurückkehren – zum ›Staunen ohne Vorentscheidung über Bejahung oder Verneinung‹, und zwar mittels Dissidenz. In einer durch Differenzen strukturierten Theorie wie der Systemtheorie muss in die Beobachtung eine formgebende Unterscheidung eingeführt werden, die man ablehnen oder annehmen kann. Das geschieht, so Luhmann, »durch eine Weltausschnitte beobachtende Operation; und wenn man wissen will, was beobachtet wird, muß man nicht die Welt, sondern den Beobachter beobachten.« Die Dissidenz erscheint in dieser Anlage als eine Form der Selbstbeobachtung: »Sie kann nie so weit gehen, daß sie auf formgebende Unterscheidungen verzichtet. Aber sie kann, wenn sie es kann, Irritation als Form wählen, ohne anzugeben, ob die Irritation in Richtung auf Neuheit oder in Richtung auf Abweichung aufzulösen ist.«57 Luhmann legt es dem Funktionssystem der Kunst in die Hände, zu entscheiden, ob es unter diesen Voraussetzungen gelingende Formen geben kann; die Gesellschaftstheorie an sich könne dazu nichts beitragen. Aber er sieht die moderne Kunst in der Lage, als Modell für eine durch Theorie beschriebene Gesellschaft einzustehen, in der es um Selbstirritation geht. »Sie [die moderne Kunst, L.H.] läßt mit dem Abhängen jeder Vergangenheit auch die Zukunft in irritierender Weise unbestimmt. Wenn das vorgeführt wird, kann die Gesellschaft darin eine Aussage über sich selbst erkennen.«58 So kündigt Goetz die Love Parade nicht nur als ein Kunstwerk, noch dazu als das »große, beste und bedeutendste Kunstwerk dieses Sommers« (Ce, 235) an. Zusätzlich verlagert er in dieses Werk eine Aussage über die Gesellschaft: Die Love Parade sei das Kunstwerk, in dem »die Gesellschaft sich als Ganzes wahrnimmt und – ohne all ihr Leid vergessen zu müssen – sich trotz allem, irgendwie, ganz diffus bejaht.« (Ce, 235) Goetz ruft damit die Bestimmung der Kunst aus Luhmanns Die Gesellschaft der Gesellschaft auf, deren
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Ebd., S. 71f. Vgl. ebd., S. 73. Dieses wie das vorhergehende Zitat ebd., S. 99. Ebd., S. 100.
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Funktion es ist, »Welt in der Welt erscheinen zu lassen, die Einheit in der Einheit darzustellen, sei es verbessert, sei es (wie heute vorzugsweise) verschlimmert.«59 Für Goetz ist diese systemtheoretische Funktionsbestimmung der Kunst gültig, weil die ihm von Luhmann zugeschriebene Haltung der ›Dissidenz im Verhältnis zum Dissidenten‹ die admiratio in der Prägung Descartes’ wieder möglich macht, die nicht zwischen Abweichung oder Neuheit bzw. zwischen Verneinung oder Bejahung entscheidet, und damit auch das von Diederichsen angeführte Charakteristikum der Pop-Musik widerspiegelt: ›Ein Nein im Modus des Ja und umgekehrt.‹ Die Unbestimmtheit lässt die Zukunft offen und ist Ausdruck der Selbstirritation der Gesellschaft. Beobachtet Goetz in seiner Nachtlebenerzählung Rave den Weltausschnitt der von ihm selbst als dissident charakterisierten Dance- und AcidSzene aus einer Perspektive heraus, die sich wiederum selbst der Dissidenz verschreibt und jegliche literarische Tradition der beobachtenden Beschreibung abwirft, ruft das Verwunderung, Staunen, Überraschtsein, Irritation auf Seiten der Rezipienten hervor – Haltungen, wie sie so oft in den Beschreibungsversuchen dessen, was Goetz produziert, zu erkennen sind. »Gute Uneindeutigkeit setzt den Rezipienten frei. In seinem Staunen kann das Kunstwerk, das die eigene Ambition geheim hält, sich vollenden«60 , heißt es dazu in Klage. Dieses Staunen kann allerdings erst durch die Kunst freigesetzt werden. Erst die Veröffentlichung als Buch, als Werk, kann als beobachtende Operation gewertet werden, da durch die Publikation eine Form gewonnen ist, die Differenz schafft, und Dissidenz als Form der Selbstbeobachtung ermöglicht. Das ist in Luhmanns Worten schließlich nur denkbar, »wenn vorab durch Ausdifferenzierung eines Mediums für Kunst entschieden ist, daß es dabei nicht nur um das geht, was sich als Wirklichkeit ohnehin zeigt.«61 Die Fügung von der ›Dissidenz im Verhältnis zum Dissidenten‹ bedeutet auf Seiten des Autors62 aber auch, dass das widerständige, jegliche Tradition abwerfende, Beobachten eines gegen-alles-Seins die ursprüngliche Gegenordnung, die betrachtet wird, wieder zur Ordnung erhebt. Die mathematische Rechnung eines Minus mal Minus geht somit in ein Plus auf. Carsten Rohde stellt für die Texte von Goetz seit der Veröffentlichung der Werkgruppe FESTUNG von 1993 eine ›Aufhellung‹ fest,
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Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 352f. Goetz, Klage, S. 86. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 237. Luhmann führt aus, dass beim ›alten Thema des überraschten Staunens‹ sowohl an den Betrachter als auch an den Künstler selbst gedacht werden muss: »Der Betrachter mag vom Gelungensein des Werkes überrascht sein und dann Schritt für Schritt nachzukonstruieren versuchen, wie das möglich war. Aber auch der Künstler läßt sich von der unter seinen Händen entstehenden Ordnung überraschen, über das Schritt für Schritt andere Verhältnis von Provokation und möglicher Antwort, von Problem und Problemlösung, von Irritation und Ausweg. So entsteht Ordnung auf der Basis einer Selbstirritation […].« (ebd., S. 236f.)
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»die obsessive Energie richtet sich nicht mehr nur ins Negative, Nihilistische, sondern in alle Richtungen; es hält Einzug ein Luhmannsches Staunen ob der gigantischen Komplexität der Welt.«63 Luhmanns auf Goetz bezogene Prägung von der ›Dissidenz gerade auch im Verhältnis zu den programmatischen Dissidenten und professionellen Kritikern, die das Staunen verlernt haben‹ erfährt dann ihre greifbare Berechtigung, indem Goetz nicht, wie die professionellen Kritiker, das, was er beobachtet, ablehnt oder kritisiert, sondern sich dem Beobachteten mit Staunen nähert. Dieses Staunen geht in einer Welthaltung auf, die Goetz im Begriff der »Ja-Kaputtheit« (Afa, 334) konzentriert, und die sich einer Fülle an Möglichkeiten öffnet: Sich/kurz ans Spektrum des Möglichen, ALLES MÖGLICHEN erinnern:/Radio/Fernseher/Musik/andere Musik/Bücher/Zeitungen/Zeitschriften –/um nur mal die wichtigsten zuhause mit einem dauernd so mit lebenden Geister zu nennen – Geisthaber, Kunstdinger, Speicher, Baller, Halter, Träger, Dinger –/abstrakte Masse/schwer, reich, dicht/was von den meisten eher als Bedrohung erlebt wird, diese Möglichkeitenflut – und von einem selber oft ja auch, in Momenten der Schwäche – wo doch eher gemeint ist davon:/Freiheit/gute Laune/Offenheit/ALLES steht dir zu, alles ist möglich –/Reichtum, Überfluß, Paradies. (Afa, 34) Rohde stellt nicht nur für Goetz, sondern auch für Luhmann das Moment des Staunens an den Beginn seiner theoretischen Beschäftigung mit der Gesellschaft: Das Staunen Goetz’ sei »dem Luhmann’schen Grundimpuls nicht unähnlich, der kühlen Konstatierung der immensen Komplexität und aufgrund dessen der extremen ›Unwahrscheinlichkeit‹ von sozialen Systemen.«64 Das Staunen als Beginn der Philosophie lässt Luhmanns soziologische Theorie zu einer philosophischen werden und so die eigentümliche Wendung vom ›Begehen der Luhmannschen Philosophie‹ – und nicht Soziologie – in Goetz’ ›ästhetischem System‹ verständlicher erscheinen.65 63
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Carsten Rohde: Heroismus der Verausgabung. Zum Werk von Rainald Goetz. In: Nikolas Immer/Mareen von Marwyck (Hg.): Ästhetischer Heroismus. Konzeptionen und figurative Paradigmen des Helden. Bielefeld: transcript 2013, S. 199-219, hier S. 202. Ebd., S. 205. Vgl. Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit. Martin Jörg Schäfer argumentiert ähnlich: »Das ›brutal Schöne‹ der Luhmannlektüre geriert sich [für Goetz, L.H.] daraus, dass diese Texte das ›brutal Schöne‹ eines universellen Weltzugriffs zu fassen bekommen und das Sublime des eigenen Zugriffs als ihre ästhetische Qualität transportieren. Vielleicht schreibt Goetz aus diesem Grund von der ›Luhmannschen Philosophie‹ statt von einer Soziologie. Gilt doch das überwältigte Erstaunen über die Gesamtheit der Welt in ihrer Faktizität als der griechische Ursprung der westlichen Philosophie« (Martin Jörg Schäfer: Luhmann als ›Pop‹. Zum ›ästhetischen System‹ Rainald Goetz. In: Christian Huck/Carsten Zorn (Hg.): Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 262-283, hier S. 271f.).
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Im Schlagabtausch mit Terkessidis und Werber folgt von Goetz außerdem ein Vorschlag für die Leitdifferenz des Kunstsystems, den er – wie dem Gespräch zu entnehmen ist – auch schon wenige Wochen zuvor bei einem Vortrag auf der documenta IX in Kassel unterbreitet hat:66 Erkennen und Handeln, oder Theorie und Praxis, ist meiner Meinung nach die Leitdifferenz der Kunst. Ich glaube, daß diese Leitdifferenz ausgewandert ist aus dem politischen System in die Kunst. […] Es geht darum, daß man eine Leitdifferenz finden muß, einen Code, der die Hochmoderne erfaßt. Dieser Code muß erfassen, daß jeder Mensch ein Künstler ist, daß alles schön ist, daß alles Kunst ist; also Beuys, Warhol, Koons.67 Goetz beendet die Aufzählung der Künstler der Hochmoderne, die seiner Denkweise nach bereits Exempel seiner Idee der Leitdifferenz der Kunst sind, nicht willkürlich mit Koons. Die documenta findet 1992 ohne den Amerikaner statt; der künstlerische Leiter der Ausstellungsreihe, Jan Hoet, hatte ihn bewusst nicht eingeladen.68 In einem Interview vor Eröffnung der Kunstschau erklärt Hoet seine Beweggründe dafür mit einer Aussage, die für die Koons-Rezeption von Seiten der Kunstkritik nicht untypisch ist: »Koons ist natürlich interessant. Das ist ein interessantes Phänomen, aber ein rein kulturelles Phänomen. Keine Kunst. Und was ist der Unterschied? Daß ein Kunstwerk immer ein Urteil ist über Kultur. Und nicht die Zelebrierung oder plakative Illustrierung von dem, was schon Kultur ist.«69 Goetz aber ist da ganz anderer Meinung. Auch auf den Einwand Werbers hin, dass Erkennen und Handeln doch eine sehr grundsätzliche Differenz sei, die in allen Kommunikationsprozessen vorkomme, und die man deshalb nicht zum Code eines Funktionssystems erheben könne, verteidigt Goetz seine Ansicht. Genau weil
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Im Manuskriptband Autoren von Texte zur Kunst halten Reden u.a. auf der Documenta IX ist Goetz’ Vortragsmanuskript abermals das einzige, was nicht aus Text, sondern ausschließlich aus Fotos besteht. Da es sich hier allerdings um Abbilder des redenden Goetz handelt, ist in diesem Fall wohl davon auszugehen, dass Goetz eher die Manuskriptherausgabe verweigert hat als dass er die Bilder als Text einsetzt, wie zum Beispiel bei seinem Beitrag zur Kracht-Anthologie Mesopotamia, vgl. Texte zur Kunst (Hg.): Autoren von Texte zur Kunst halten Reden u.a. auf der Documenta IX. Manuskripte. Texte zur Kunst Verlag 1992, S. 52f. Goetz/Terkessidis/Werber, Schlagabtausch, S. 69. Vgl. Dirk Schwarze: Der Chef. Jan Hoet als Documenta-Leiter. In: Kunstforum Bd. 119 (1992), S. 106-108, hier S. 108. Petra Kipphoff/Hans-Joachim Müller/Jan Hoet: Das Mysterium weiß man nie. In: Die ZEIT, Nr. 04 vom 17.01.1992, https://www.zeit.de/1992/04/das-mysterium-weiss-man-nie (01.12.2019), S. 7. Koons reagierte auf die Absage mit der Installation seiner monumentalen Blumenskulptur Puppy, die er für die Laufzeit der documenta nur rund 50 Kilometer von Kassel entfernt im Hof des Residenzschlosses Bad Arolsen errichten ließ. Euphorischen Berichten zufolge hat Koons der documenta damit regelrecht den Rang abgelaufen, vgl. Peter Schjeldahl: The Documenta of the Dog. In: Art in America 80, no. 9 (September 1992), S. 88-97 & 77.
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alle Kommunikationsprozesse aus Erkennen und Handeln bestünden, sei auch alles Kunst – der Pizzabäcker, der bis zu dem Zeitpunkt, wo er durch Selbstbeobachtung erkennt, dass er Kunst macht, tatsächlich jeden Tag Kunst macht, und damit den Ausspruch von Joseph Beuys, dass jeder Mensch ein Künstler sei, illustriert,70 genauso wie die auf Kommunikation basierenden Werke von Koons. Schließlich weiß Goetz auch einen weiteren Vorbehalt Werbers mit dem Hinweis auf die Verfasstheit der modernen Kunst zurückzuweisen und so nicht nur ein allgemeines Kriterium für ein Kunstwerk aufscheinen zu lassen, sondern auch eine Aussage über sein eigenes Werk zu treffen: Niels: […] Aber der Pizzabäcker macht immer dreißig Jahre lang die gleichen Pizzen, deswegen leistet er keinen Beitrag zum Erkenntnisgewinn, er leistet auch keinen Beitrag für die Kunst, weil Kunst nicht daran interessiert ist, daß fünfzig Jahre lang die gleichen Pizzen gemacht werden.//Rainald: Kunst ist genau an diesem Faktum interessiert, daß dieses Leben in seiner permanenten Wiederholung ein Kunstwerk ist. Alle Kunst der letzten dreißig Jahre ist besessen und fasziniert von der Idee, daß die Kunst eben nicht in der Natur ihr Vorbild hat, sondern im Leben und in der Praxis, in der Wirklichkeit dessen, was einzelne Leute leben. […] Kunst ist alles, was in der Welt geschieht, was Praxis ist. Darum habe ich eben auf den Begriff der Dissidenz so bestanden in seiner von Theorie abgekoppelten Qualität.71 Dissidenz ist also Praxis und Praxis ist Kunst, was im Umkehrschluss zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen bei Luhmann zurückführt, der Goetz zitiert: Kunst ist Dissidenz. Dissidenz, die durch ihre Relation zum Dissidenten ein Staunen hervorruft, und mit dem ›Nein‹ zum ›Nein‹ aus dem ›Nein‹ ein ›Ja‹ macht. Die Besessenheit und Fixiertheit von einer Idee eines emphatisch aufgeladenen Konzepts von Welt bzw. Leben ist die Grundbedingung des Goetz’schen Kunstbegriffs, den er mehrfach – wie gezeigt – auf die Kurzformel ›Werk ist Weltform‹ bringt. Mit dieser Formel lässt sich über Goetz’ Verständnis von Dissidenz nun auch das Phänomen Pop beschreiben: Dieses ist, entgegen der überwiegenden Annahmen, auch in seinen Werken der 1990er Jahre von Dissidenz geprägt. Allerdings von einer doppelten Dissidenz, die nicht Auflehnung, sondern Staunen – ein Hingerissensein – evoziert, weshalb Goetz sich sicher ist, dass man über Pop nicht anderes reden kann, ›als hingerissen auf das Hinreißende zu zeigen.‹72
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Vgl. Goetz/Terkessidis/Werber, Schlagabtausch, S. 70. Ebd., S. 71f. Vgl. Kap. 1.2 dieser Arbeit.
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In Goetz’ Auffassung von Pop bildet Abweichung demnach nicht das Ziel, sondern den Ausgangspunkt.73 In seinem Text über die Love Parade 1997 formuliert er diese Überzeugung in einer Darstellung der Stimmen, die seiner Ansicht kritisch gegenüberstehen, und die er für falsch hält: »Die ›Kritik‹ wollte das nicht in sich einarbeiten. Zielrichtung sollte bleiben: ›Dissidenz‹. ›Differenz‹ wird angestrebt, anstatt von ihr auszugehen.« (Ce, 221) Von Dissidenz ausgehend lautet die Zielrichtung bei Goetz, wiederum anhand des Idealbilds der Love Parade nachgezeichnet: das Aufgehen im Einen. »Abweichung, Individualität, Differenz, die an ihrer Selbstabschaffung arbeitet, um aufgehen zu können selig im Einen eines Gemeinsamen.« (Ce, 219) Wieder hat die Kunst, hier in Gestalt des Techno als Musik bzw. der Love Parade als in Goetz Worten: ›größtes Kunstwerk des Sommers‹, der Schrift, die für Asozialität steht, eine Gemeinschaft, also etwas Soziales, entgegenzusetzen. Die Rave-Kultur, die Goetz für »die fortschrittlichste, der Zeit am ehesten angemessene Realisation von Pop«74 hält, vereint in ihrer Beobachtung durch den Autor, die im Buch HEUTE MORGEN schriftlich fixiert ist, als Pop dann abermals die Dichotomien ›Ja‹ und ›Nein‹ wie Nacht und Tag, Sozialität und Asozialität, Leben und Kunst. In den theoretischen Beschreibungen der Techno-Kultur wie in den speziell dieser Szene zugewandten Goetz-Bänden Rave und Celebration wird diese Kollektivierung als Form einer Ersatzreligion charakterisiert. In seinem Kompendium Mehr als laut, das an die Vorgänger-Dokumentation über Punk und New Wave, Verschwende deine Jugend, anschließt, lässt Jürgen Teipel die DJane und Musikproduzentin Acid Maria zu Wort kommen, die sich erinnert: In meinem letzten Semester hier an der Hochschule habe ich es doch tatsächlich mal geschafft, von vorne bis hinten die Sloterdijk-Vorlesung zu besuchen, ohne eine einzige Sitzung zu verpassen. Da gab es eine Einführungsvorlesung, in der es um den Ursprung der Kulturen ging. Er fragt dann so in die Runde: »Was ist der Unterschied zwischen Kunst und Religion?« Betretenes Schweigen. Niemand will natürlich was Falsches sagen. Und dann schaut er mich an und meint so: »Sie müssen das doch wissen.« Damit meinte er mich als DJ. Worauf er hinauswollte, war dieses gemeinschaftliche Erleben.75
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Vgl. auch Windrich, Technotheater, S. 119. Windrich kommt ohne den Umweg über den Schlagabtausch zu dieser Auffassung. Ich halte Goetz’ Aussagen im Schlagabtausch allerdings für eine wichtige Grundlage seines Verständnisses von Pop. Ebd. Jürgen Teipel: Mehr als laut. DJs erzählen. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 83.
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Rave Maria – Techno und Religion
Schumacher fasst in einem Aufsatz zu Pop-Literatur und Religiosität bereits zur Jahrtausendwende zusammen, dass die Theorieansätze aus Kulturmarketing76 und Praktischer Theologie77 , die Techno zur ›Religion der Postmoderne‹ erklären, Abnutzungserscheinungen zeigen, weil die unbedarft wiederholte Charakteristik sich nicht mehr für die auslösenden Momente des Vergleichs interessiert. Schumachers Anliegen ist es stattdessen, die Musik, die Selbstbeschreibungen der Techno-Szene sowie deren Literarisierungen in den Fokus zu nehmen, um die Ausrufung des Techno als Religionsersatz mit Substanz zu füllen. Diese Beobachtungen werden hier kurz nachgezeichnet, um sie an verschiedenen Stellen für die Goetz’sche Konzeption des Schreibens über die Szene und seine Erlebnisse zu erweitern.78 Ihren Anfang nimmt die Gleichsetzung von Religion und Techno an den Lokalitäten, die für Disco-Events in den späten 1960er Jahren in New York genutzt wurden. Zum einen traten Diskotheken wie das Salvation hervor, die ihren Namen einem religiösen Bezug verdankten, zum anderen wurden Kirchen zu Veranstaltungsorten umfunktioniert, wie im Fall der Diskothek Sanctuary. Eine zweite Säule des Vergleichs bildet das Handwerk des DJs – um beim Titel der Veröffentlichung von Westbam und Goetz zu bleiben: die Mix, Cuts & Scratches. Die Musik des DJs entsteht, obwohl er mit dem Speichermedium der Schallplatten arbeitet, im Moment des Live-Auftritts, im Augenblick des Auflegens der Platte. Dieser Moment wird durch Wiederholungen auf Dauer gestellt und in jeder Nacht aufs Neue ritualisiert. In der Arbeit des DJs sind so Moment und Ritual gekoppelt, was Schumacher mit einem Begriff von Albert Goldman, auf dessen Buch Disco (1978) mit Beschreibungen der Anfänge von Disco- und DJ-Kultur die meisten Analysen zurückgreifen, als ›Disco-Sakrament‹ benennt. Dem DJ als isolierte Figur, der, nicht selten auf einem Podest stehend, die Tanzfläche überragt, steht schließlich die Gemeinschaft des Publikums gegenüber, die ihren Blick in bestimmten Momenten zum Hohepriester aufrichtet. Die Gemeinde empfängt die Kommunion über den
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Vgl. u.a. Norbert Bolz: Techno – die Religion der Postmoderne. In: Norbert Bolz/David Bosshart: Kult-Marketing. Die neuen Götter des Marktes. Düsseldorf: Econ 1995, S. 346-360. Vgl. u.a. Rolf Tischer: Postmoderner Synkretismus im Bereich der Rock- und Popmusik. In: Peter Bubmann/Rolf Tischer (Hg.): Pop & Religion. Auf dem Weg zu einer neuen Volksfrömmigkeit? Stuttgart: Quell 1992, S. 29-57. Vgl. für den folgenden Abschnitt: Eckhard Schumacher: Can You Feel It? Pop, Literatur und Religiosität. In: Wolfgang Braungart/Manfred Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. III: um 2000. Paderborn u.a.: Schöningh 2000, S. 219-252, hier S. 222-227. Obwohl das Staunen, das die Philosophie selbst als ihren Beginn nachzeichnet, kein spezifisch religiöses Gefühl darstellt, ist hier zumindest erwähnenswert, dass die frühgriechischen Dichter wiederholt vom Staunen sprachen, wenn die Menschen dem Göttlichen begegneten(vgl. Jain/Trappe, Staunen, S. 116).
4. Musik
Tanz. Auch an Veranstaltungsorten, die keine umgedeuteten Kirchen sind, öffnen sich so verschiedene Schnittstellen zwischen Techno und Religion: Der DJ fällt mit dem Priester, die Gemeinde mit den Tanzenden, das Mischpult mit der Kanzel, die Musik mit dem Sakrament und das Ende der Disco-Nacht mit dem Kirchgang am Sonntag zusammen. Im Buchkomplex HEUTE MORGEN sind diese Parallelen in ebensolchem Maße vorhanden wie der Vergleich von Techno mit Religion in den 1990er Jahren Konjunktur hatte. Besonders hervorzuheben sind vor diesem Hintergrund die Bände Mix, Cuts & Scratches, Rave und Celebration, die sich unmittelbar mit der Rave-Kultur auseinandersetzen. Während der erst- sowie der letztgenannte Band sich eher in Selbstbeschreibungen bzw. Reportagen und Porträts dem Techno widmen, bietet Rave einen literarischen Umgang mit dem Thema. Die Nachtlebenerzählung wartet mit Kapitelüberschriften auf, die ›Church of Fun‹ (Ra, 77) und ›Dein Leib komme‹ (Ra, 154) heißen; an einem ihrer Ausgeh-Abende betreten die Protagonisten den legendären Münchener Club P1, der sich ihnen anlässlich der Party-Reihe ›Blub Club‹ wie folgt darbietet: Am Eingang kriegt jeder einen Begrüßungsschnaps injiziert und Norbert segnet alle, in roter Kardinalsrobe, wie gesagt, mit weißen Handschuhen und rotweißroter Mitra groß am Kopf. Und wir gehen da also rein, und sofort ist man praktisch verschluckt von dem ganzen hochaufwendigen Dekoirrsinn: farbig, glimmend, würdevoll: ein düster opulentes, bayrisch schwules Pophochamt des Hochbarock, mittelalterliche Gesänge und Mönche in Kutten, knabenhafte Ministranten, die den Weihrauch schwenken, Betbänke und Beichtstühle, und vorne eine goldfunkelnde Monstranz, in deren weiß leuchtender Mitte das obligatorisch erigierte, männliche Ding zu jubilierender Anbetung ausgestellt und freigegeben ist./Sehr schön. Und die Glocken läuten schwer und drohend in das alles hinein. Und der Laden ist brechend voll und tobt da auf diese alte, irre Art ums Allerheiligste, das Sanctum und Sacrum, den Sex der Musik. (Ra, 68f.) Beim Lesen der Beschreibung der Party-Deko wie der darin Feiernden ist kaum zu unterscheiden, ob aus solchen Szenen die Analogisierung zwischen Techno und Religion erwuchs, sie also für die teilhabenden Club-Gänger eine völlige Selbstverständlichkeit darstellte, oder ob genau dieserlei Partys sich die Konnotationen aus den theoretischen Beschreibungsversuchen von Techno überspitzt zunutze machten und damit den Vergleich unterfütterten.79 An einer weiteren Stelle der Erzählung trifft eher letzteres zu: Die Zeit wird kommen, sprach der Herr, da ich zu den Menschen sprechen werde. Und er nahm sich als Werkzeug die Members, die da waren: Members of Mayday.
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Vgl. den Befund bei Schumacher, Can You Feel It?, S. 248f.
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Werk ist Weltform
Er sprach: sehet her und kommt alle, denn ihr seid alle Teil von meinem Reiche, das da kommen soll, das königreiche Königreich der Räusche und Geräusche. Dann gab er seiner Musik diesen Namen: Sonic Empire. Und er führte die Hand seinen Musikern an den Maschinen glücklich./Die so gemachte Musik ließ er dann pressen auf allerlei Weise, auf Tonträger aller Art, natürlich auch auf Platte. Und der Herr hatte beschlossen: diese Platte da wird rulen. So sollte es geschehen. Es kam dann jenes Frühjahr und es kam jener Mayday und der folgende Sommer, und es war, wie der Herr es beschlossen hatte, in seinem unerfindlichen Ratschluß, dies der Sommer des Sonic Empire der Members of Mayday. So war es bestimmt, und wie es bestimmt war, so war es geschehen. Alles geschah so. Und es geschah alles, im Namen des Herrn. Gepriesen sei der Name des Herrn. Denn sein Name ist groß. (Ra, 79) Goetz schreibt hier über ein Projekt von Westbam und dem Produzenten Klaus Jankuhn, zusammen waren sie für die Hymnen des regelmäßig stattfindenden Indoor-Raves Mayday verantwortlich. Die Titel ihrer Tracks entsprachen den jeweiligen Motti der Tanzveranstaltungen, 1997 lauteten Motto wie Hymne: »Sonic Empire«. Die Single war äußerst erfolgreich und rangierte wochenlang in den deutschen Charts; diesen ökonomischen Erfolg setzt Goetz in seiner Nacherzählung der Begebenheiten mit einer göttlichen Fügung gleich. Goetz nutzt dabei Bilder, die er von Westbam kennt. In ihrer gemeinsamen Merve-Veröffentlichung gibt Westbam einen kurzen Abriss über die Techno-Welt zwischen den Jahren 1984 bis 1991. Darin mutmaßt er zum musikalischen Begriff des Techno: »Eine zugegebenermaßen gewagte These meinerseits ist, daß auf musikalischer Ebene die Technowiederkehr mit dem Technotronic Pop-Hit ›Pump Up The Jam‹ zusammenhing, bei dessen Abmischung (speziell der 909-Bass Drum) Gott selbst beim Mix-Engineer die Hand führte« (Mcs, 142). In Westbams Beschreibung von Technotronic wie in Goetz’ Ausführungen zu den Members of Mayday führt Gott die Hand der Musiker. Im einen wie dem anderen Fall ist deutlich, dass die Rave-Szene sich der Nebeneinanderstellung von Techno und Religion nicht widersetzt, sondern sie affirmativ zelebriert. Das wird u.a. an jenen Texten deutlich, die nicht eine Überführung des einen Mediums des Techno in das andere Medium der Schrift sind, und die deshalb – wie möglicherweise bei Literarisierungen wie jener von Goetz – zu einer Verzerrung des Vergleichs beitragen könnten, sondern die genuin der Rave-Kultur entstammen. Zu solchen Texten zählen einerseits die Techno-Tracks selbst. Zugegebenermaßen sind die Songs mit Texten nur rar bestückt, wichtiger als Worte sind Rhythmus und Wiederholungen.80 Einen Kontext zu den textarmen Stücken bieten die Musikvideos, die zur Hochzeit des Techno in Deutschland mit 80
Wie zuvor bereits gezeigt, wertet das die Musik für Goetz natürlich nicht ab. In seiner Darstellung der minimalistischen Produktionen von Basic Channel setzt er Rhythmik und Wiederholungen sogar mit der fehlenden Sprache gleich: »Eine Monotonie, die wirklich die Sprache
4. Musik
den Musikvideosendern MTV und VIVA Bekanntheit erlangten. Exempel der Verknüpfung von Techno und Religion ist der offizielle Videoclip zu Westbams Single »Beatbox Rocker« (1997). Im Video ist Westbam selbst durchgängig in Kardinalsrobe zu sehen, die Anfangssekunden kündigen ihn als »The Pope of Technolectro Pop«81 an. Als Kardinal fährt Westbam im Video abwechselnd Fahrrad und befindet sich auf einer Ausstellung, bei der auch Bildnisse von Westbam als DJ in Aktion gezeigt werden. Ähnlich wie das offizielle Musikvideo inszenierte Westbam seinen Auftritt mit »Beatbox Rocker« auch bei der RTL-Musikshow Top of the Pops. Für den Live-Auftritt wählte er ebenfalls die Kardinalsrobe und ließ sich und seine Plattenteller von vier Nonnen säumen. Außerdem holte er sich Unterstützung von Goetz: Dieser steht als Mönch verkleidet in Westbams Rücken und hält beharrlich Luhmanns Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft in seinen Händen.82 In Goetz’ Erzählung Dekonspiratione wird dieses kalkulierte Setting als ein Ausdruck von Schönheit dargestellt: [W]enn vier ultrahübsche Nonnen, ein Pope of Technolectro-Pop und ein suizidaler Mönch mit Luhmanns bibelschwarzer Gesellschaft der Gesellschaft vor der Brust und in der Hand zum Beat der WestBam-Nummer Beatbox-Rocker diese Uptown-uptown-Bewegung machen und sonst, während der Pope beim Tanzen langsam durchdreht, praktisch nichts, hat man in dem Kontext ein für alle Beteiligten vergnügliches Statement der Schönheit abgegeben. Nicht um nichts anderes, aber darum doch wohl auch sollte es ja, zwischendurch jedenfalls, immer wieder mal gehen. (De, 169) Am Ende des offiziellen Musikvideos spendet der Kardinal Westbam das Abendmahl an die Anwesenden der Ausstellung in Form einer Hostie, die die Beschriftung ›Pop‹ trägt.83 Jochen Hörisch definiert das Abendmahl – und in dessen Nachfolge (auch die Form betreffend) das Geld wie die elektronischen Medien (Rundfunk und
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83
des Lebens spricht, und deshalb, so sehr sie äußerlich minimal daher kommt, in Wirklichkeit ein Maximum an Fundamentalität und Deepness formuliert.« (Ra, 266) Vgl. Westbam: Beatbox Rocker. Offizielles Musikvideo. In: https://www.youtube.com/watch?v=FJWd92Vi5Ww (01.12.2019), 00:10-00:24. Goetz nutzt diese Beschreibung für eine Überschrift in Abfall für alle, vgl. Afa, 772. Vgl. Westbam: Beatbox Rocker. Live-Auftritt bei Top of the Pops. In: https://www.youtube.com/watch?v=jWkaSeqwTyI (01.10.2018). Goetz ist auch schon im offiziellen Musikvideo zu sehen. Während der Ausstellung wird ein Foto von Westbams Gesicht am Computer mit dem Foto von Goetz sowie mit einem Abbild Adonis’ verschaltet, vgl. Westbam, Beatbox Rocker, offizielles Musikvideo, 02:31-02:57. Vgl. ebd., 03:52-04:07. Westbam scheint das Spenden des Pop-Abendmahls des Öfteren praktiziert zu haben. In Abfall für alle ist zu lesen: »Stadion der Weltjugend, mit Max [der bürgerliche Name von Westbam lautet Maximilian Lenz, L.H.]. Die Lichtleute sind noch nicht fertig in der Galerie. Er hat den Stempel für die Oblaten dabei. POP. In Disco-Schrift.« (Afa, 853)
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Werk ist Weltform
Fernsehen, bzw. CD und DVD) – als die »ontosemiologischen Leitmedien unserer Kulturtradition«84 , die die Schnittstellen von Sein und Sinn bilden.85 Verbindet die Hostie noch auf reale Weise Sein und Sinn, stellt die CD diesen Zusammenhang nur noch simuliert her, so Hörisch.86 Die Oblate, die mit ›Pop‹ beschriftet ist, bildet eine auffallende Analogie zur CD, durch die die Pop-Musik Verbreitung findet. Über das Besitzen bestimmter Pop-CDs wird die Gemeinschaft kreiert, die die Techno-Bewegung durch die Reichung der Pop-Hostie zu einer Religionsgemeinschaft macht. Die Konstitution einer Gemeinschaft ist wiederum das, was die Musik, laut Goetz, der Schrift gegenüber voraus hat: [W]enn die Musik […] für mich richtig erschreckend, muß ich sagen – schon mit dem Erklingen von einem einzigen Moment von Sound, von Ton, von Rhythmus – Gemeinschaft konstituiert, das heißt eine intuitiv eindeutige und emotional hochwertig besetzte Reaktion von: bin dabei, ja genau, ganz toll, wunderbar […]//dann kann die Schrift daran umso deutlicher erkennen, wie anti-kollektiv ihr Wesen ist, weil sie sich in der Stille und Einsamkeit des Lesens an den Einzelnen genau mit dem Angebot wendet, sich different zu ihr zu erleben und zu setzen […]. (Afa, 295) Die Gemeinschaft der Tanzenden bildet auch den Unterschied zwischen elektronischer Tanzmusik und Rock bzw. Punk, der hier ein weiteres Mal bemüht werden soll, auch weil die beiden Musikrichtungen im Titel der Westbam-Single »Beatbox Rocker« vereint sind. Diederichsen arbeitet heraus, dass die Clubkultur im Gegensatz zu den Bühnenmusiken von Rock-Konzerten andere Beziehungen zwischen den Akteuren, die an der Musik beteiligt sind, herausfordert. Rock-Bands, so Diederichsen, sind jeweils arbeitsteilig für Musik, Performance und – den unterschiedlichen C harakteren einer Band entsprechend – für verschiedene Rezeptionen verantwortlich; in der Clubkultur wird diese Arbeitsteilung ersetzt durch einen DJ, der allein für die Musik, und die Figur des Tänzers, die allein für die Rezeption sowie den überwiegenden Teil der Performance zuständig ist, ersetzt, was die organisatorischen Verantwortlichkeiten in Summe vereinfacht.87 Die Tänzer sind im Techno nicht mehr nur Beiwerk, sondern an der Musik direkt beteiligt, was die wenigen Beziehungen, die im Gegensatz zu Rock-Musikern und ihrem KonzertPublikum zwischen DJ und Tanzenden bestehen, intensiviert: »Wenn Tänzer nicht nur Ornamente der Rezeption darstellten, […] sondern gleich mehrere Funktionen dieser früheren Organisationen auf sich vereinigten, erhöhte das natürlich die
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Jochen Hörisch: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 5 2015, S. 13. Vgl. ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. Diederichsen, Über Pop-Musik, S. 171.
4. Musik
Dichte der internen Strukturen, mithin: des Spaßes.«88 Techno wird deshalb gemeinhin als Musikrichtung beschrieben, die den DJ nicht als Star versteht und stattdessen die Tanzenden in den Mittelpunkt der Musik rückt. »Techno hat von Anfang an gesagt: Stars haben wir nicht. Deswegen war das Licht ja auch auf dem Dancefloor und der DJ stand im Dunkeln. Dass das Publikum der Star ist, war ganz wichtiger Teil des Konzeptes. […] Die Idee des Gemeinsamen war das Entscheidende.«89 Eine weitere ›originale‹ Stimme aus der Techno-Welt spricht aus den Reden, die der Mitbegründer und Organisator der Love Parade, Dr. Motte, bei den Abschlusskundgebungen der Paraden hielt. In seinem Artikel Hard Times, Big Fun, den Goetz für das ZEIT-Magazin über die Love Parade 1997 schreibt, ist die Ansprache von Dr. Motte neben der Musik und dem Tanzen ein bedeutender Bestandteil des TechnoEvents. Nahe der Berliner Siegessäule tönte Dr. Motte: Let the sun shine in your heart. […] Die Love Parade und unsere Musik, das ist unser Leben. Jeder einzelne ist wichtig. Hier sind wir alle glücklich, oder? Denn das ist, was wir wollen. Aber vieles in unserem Leben ist nicht immer einfach. Wir lösen die Probleme. Fühlt die Sonne in Eurem Herzen. Wir sind eine große Familie. Unser Wunsch ist es, daß Frieden auf der Erde ist. Also schaffen wir die Grundlagen für eine friedliche, sonnige, glückliche Zukunft. Für unsere Freunde, unsere Familien und alle, die wir liebhaben und alle, die wir nicht liebhaben. Denn die, die wir nicht liebhaben, haben wir einfach lieb. Euer Beitrag ist genauso wichtig wie meiner. Jetzt möchte ich oder wir mit Euch etwas für den Frieden und die Liebe auf unserem Planten zelebrieren.90 Über diese »großen, simplen Predigten des Dr. Motte« (Ce, 217), wie Goetz sie nennt, hätten sich viele Kritiker amüsiert, da die priesterhaft eingängigen Wiederholungen ihnen viel zu banal erschienen. Goetz wertet das Einfache auf,91 für ihn hat diese Rede vor allem den »einen wunderbaren Sinn, nichts und niemanden auszuschließen, außer eines, den Ausschluß./So kamen von allen Seiten immer mehr neue Leute herbei, um mitzufeiern. Immer Jubelhochamt, Kirche der Ununterschiedlichkeit.« (Ce, 217)92 Niemanden auszuschließen heißt – neben der hier 88 89
90 91 92
Ebd. Denk/von Thülen, Klang der Familie, S. 330. Eine Ausnahme bildete u.a. Sven Väth, wie Ulrich Gutmair schreibt: »Techno war eine Verschwörungsbewegung, gegen Popstars und Starkult. Es gab Regeln, die Konsens waren. Und es gab Konterrevolutionäre wie Sven Väth.« (Ulrich Gutmair: Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende. Stuttgart: Ullstein 2015, S. 210) Love Parade ’97 [ohne Verfasserangabe]: So ist es Euch und uns in Berlin ergangen. In: Raveline 08/1997, S. 16-26, hier S. 16. Vgl. Schumacher, Can You Feel It?, S. 232. Den Begriff der ›Kirche der Ununterschiedlichkeit‹ wählt Goetz nicht unbedacht. Albert Oehlen schloss sich mit seinem Bruder Markus sowie Werner Büttner in den frühen 1980er Jahren zu einem gleichnamigen Kunst-Projekt zusammen (vgl. Albert Oehlen im Gespräch mit Wil-
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Werk ist Weltform
wieder aufscheinenden Nivellierung des Unterschieds zwischen dem DJ und den Tanzenden – grundsätzlich allen eine Zugänglichkeit zu offerieren, womit Goetz’ Verständnis von Pop erneut aktualisiert wird.93 In seiner andauernden Bemühung, die Intention seines künstlerischen Schaffens mit den immer gleichen sprachlichen Bildern zu erläutern, will sich Jeff Koons ebenso als Priester verstanden wissen, der in erzieherischer wie missionarischer Funktion die Botschaft seiner Kunst kündet. Es kommt nicht von ungefähr, dass Koons durch das Theaterstück, das seinen Namen trägt, eine herausgehobene Rolle in einem Buchkomplex spielt, der sich gleich in mehreren Teilbänden dem Techno in seinen banalen Spielformen als einer Pop-Bewegung widmet, die der Welt mit einer Feier der Gemeinschaft affirmativ begegnet. Die ›Taufe in der Banalität‹ und die damit einhergehende möglichst weitläufige Zugänglichkeit seiner Kunst ist genau das Credo von Koons, das ihn mit der Pop-Bestimmung von Goetz auf eine Stufe hebt, die im Buchkomplex HEUTE MORGEN ihre auffälligste Bestätigung erfährt. Goetz bringt seine Texte des Weiteren auf musikalische Weise in einen direkten Zusammenhang mit elektronischen Klängen. Für dieses Vorgehen steht seine CDVeröffentlichung Word (1994) ein, auf der die von Goetz gesprochenen Ausschnitte aus dem Band Kronos von Oliver Lieb und Stevie Be Zet mit Ambient-Musik untermalt sind, und von der ursprünglich diverse Fortsetzungen geplant waren.94 Die Kritiken zur CD, die Schumacher zusammenfasst, werfen Goetz – nicht zuletzt aufgrund seines »mythologisch-märchenonkelhaften Redegestus« und der »dem Gedankenkitsch nicht direkt abgeneigten Besinnlichkeit«95 – eine romantisierende Religiosität sowie die Gleichstellung von Techno als völlig unschuldiger Musik mit einem Erlösungssystem vor.96 Diese Stimmen sind zu einem nicht unerheblichen Maß vom Cover der CD diktiert, zeigt dieses doch vermutlich den heranwachsenden Goetz, dessen Vater ihm aus der Bibel vorliest, die noch treffender – wie auch im Bild – mit der ›Heiligen Schrift‹ benannt ist. Die Musik ist Goetz hilfreiches Mittel, um Sprache, d.h. Schrift, heilig zu sprechen – ein Bestreben, das seinen literarischen Texten in ihrer Gesamtheit zugrunde liegt. Es ist dabei nicht mit der konkreten Verbindung von Text und Musik, wie auf der Word-CD, oder mit dem Schreiben über bestimmte Musikkulturen getan.
93 94 95 96
fried Dickhoff und Martin Prinzhorn [= Kunst heute Nr. 7]. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991, S. 10); unter dem Titel wurde auch eine LP von ihnen und anderen Beteiligten veröffentlicht. In der Erzählung Rave zitiert Goetz ebenfalls ein Projekt Albert Oehlens: Das zweite Kapitel der Erzählung lautet mit ›Sonne Busen Hammer‹ wie das Zentralorgan der Lord Jim Loge – einem Künstlerzusammenschluss, dem neben Martin Kippenberger auch Oehlen angehörte. Vgl. Kap. 1.2 dieser Arbeit. Vgl. Kap. 2.2.4 und 2.3 dieser Arbeit. Schumacher, Can You Feel It?, S. 247. Vgl. ebd.
4. Musik
Goetz’ Sprache setzt vielmehr eine eigene Form von Musik – einen Sound – frei, der wesentlich auf Mündlichkeit und einer Art von lyrischem Sprechen, als direkte Kommunikationssituation zwischen Sprecher und Hörer,97 beruht, und der sich damit letztlich dem Ritual sowie dem Kriterium der Sozialität annähert: Die Schwierigkeit war einfach: wie müßte so ein Text klingen, der von unserem Leben handelt? Ich hatte eine Art Ahnung von Sound in mir, ein Körpergefühl, das die Schrift treffen müßte./eine Art: Ave –//»Ave Maria, gratia plena.«//Sowas in der Art von: bene –/benedictus –/bist du –/und gebenedeit auch unter deinen Leibern –//Da müßte man sich einfach nur, im wahrsten Sinn des Wortes, wirklich hineinknien, hatte Albert mir mal gesagt. Man dürfte diese Texte nicht nur rein vom Sinn her nehmen, sondern müßte sich das anders denken, nämlich betend, durch das immer wieder wiederholte Aussprechen der Worte mit dem Mund, sozusagen selbst mündlich Teil der Worte werden. (Ra, 32f.)
4.3
Sound und Bild des Textes
Goetz arbeitet sich an einer Musikalisierung von Sprache ab, wodurch sich ein ganz eigener, typischer Sound entwickelt, der, wie es Anna Opel wertet, »gleichberechtigt neben der Aussage«98 des Textes steht. Aspekte dieses Sounds sind zum einen Gestaltungsprinzipien, die der Musik entlehnt sind,99 wozu maßgeblich der Rhythmus des Geschriebenen zählt. Zum anderen ist die Annäherung an Formen der Mündlichkeit, die sich, in einer Aufzählung Schumachers, in »unvollständigen Sätzen, stotternden Wiederholungen, redundantem Stammeln, scheinbar sinnfreien Füllwörtern und ritualisierten Wendungen«100 zeigt, ein wesentliches Merkmal des Sounds, der die Texte von Goetz auch schon vor seiner Techno-Phase bestimmt und in der Forschungsliteratur hinlänglich erfasst ist. In ihrer Überblicksdarstellung zu Theaterstücken der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts fasst Poschmann verschiedene Umgänge mit der dramatischen Form als »nicht mehr dramatische Theatertext[e]«101 zusammen. Die unterschiedlichen künstlerischen Ansätze stimmen in der grundlegenden Feststellung überein, dass sich die Theatertexte der Zeit immer mehr den Kategorien herkömmlicher Dramenanalyse entzögen und damit eine Inszenierung fragwürdig machten.102 Für 97
Seine dritte Vorlesung der Poetikdozentur in Frankfurt beginnt Goetz mit Überlegungen zur Lyrik, vgl. Afa, 287-293. 98 Anna Opel: Sprachkörper. Zur Relation von Sprache und Körper in der zeitgenössischen Dramatik – Werner Fritsch, Rainald Goetz, Sarah Kane. Bielefeld: Aisthesis 2002, S. 88. 99 Vgl. ebd. 100 Schumacher, Gerade Eben Jetzt, S. 141. 101 So der Titel von Poschmanns Monografie: Der nicht mehr dramatische Theatertext. 102 Vgl. Poschmann, Theatertext, S. 1.
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Goetz’ zweites Theaterstück Festung stellt Poschmann diesen Umgang als »Unterwanderung der dramatischen Form«103 heraus und erkennt, dass der Kern der Trilogie die Auseinandersetzung mit dem eigenen Material, der Sprache, ist. Es geht (wie so oft bei Goetz, dem der Widerspruch von Wort und Wirklichkeit auch im Prosawerk zentral ist) um die Erkundung der Möglichkeiten, die verschiedenen Pole des ›logos‹ – Denken, Rede, Schrift, und damit Vorsprachliches, gesprochenes und geschrieben Wort – zur Deckung zu bringen oder einander zumindest maximal anzunähern, um Wirklichkeit zu erfassen.104 Die Erfassung der Wirklichkeit ist hier mit Gegenwärtigkeit gleichzusetzen. Poschmann schließt mit ihrer Deutung an den Befund Winkels’ an, der Goetz’ erste Theatertrilogie Krieg zum »Texas Chainsaw Textmassacre«105 erklärte, das als Ideal nicht den Text, sondern nur die Gegenwart kenne und die Schrift von ihrer Distanz zur Sprache entheben wolle.106 Christoph Schmitt-Maaß stellt Goetz’ präsentische Erzählhaltung als strukturelle Verwandtschaft zu Rolf Dieter Brinkmanns Werken heraus. Nicht das Gegenwärtige zu verstehen, sondern es durch Beschreibung, Zitat und Montage präsent zu machen, zu archivieren, es einzuholen und auf einen Zeitpunkt zuzuspitzen, sei das Ziel.107 Damit gerät die Entstehung von Andy Warhols Büchern noch einmal in den Blick, wie Schäfer belegt. Diese sind Transkriptionen von Tonbandaufnahmen. Der Künstler selbst war für die Aufnahmen der Gespräche verantwortlich, abschreiben ließ er die Bänder u.a. von seiner Sekretärin Pat Hackett. Goetz’ Zuschnitt ähnelt Warhols Arbeitsweise, indem seine Texte häufig Gespräche und andere mündliche Erzählungen wiedergeben. Der Unterschied zwischen Warhol und Goetz bestehe aber darin, so Schäfer, dass letzterer weder den Umweg über einen Kassettenrekorder noch über eine Sekretärin wähle, sondern sich ständig und überall Notizen mache und alles direkt selbst aufschreibe.108 »Notierwahn« (Afa, 559) nennt Goetz das selbst und kennzeichnet es an anderer Stelle als Verfahren der »Fiktionsfiktion«, was bedeute, »daß es ausschauen würde wie Literatur, dadurch deren Freiheitsräume hätte, die Beweglichkeit der Perspektiven und den ganzen Stimmungs103 Ebd., S. 177. 104 Ebd., S. 216. 105 Dies ist der Titel von Winkels Essay: Hubert Winkels: The Texas Chainsaw Textmassacre. Zur Trilogie »Krieg« von Rainald Goetz, dem Stück des Jahres 1988. In: Theater 1988. Jahrbuch der Zeitschrift Theater Heute, S. 61-67. Der Titel des Essays korreliert mit einem Szenentitel aus der Stücktrilogie Krieg, nämlich: ›The Texas Chainsaw Massacre‹ (vgl. Goetz, Krieg, S. 80). 106 Vgl. Winkels, Texas Chainsaw Testmassacre, S. 63. 107 Christoph Schmitt-Maaß: Wortorte des Gegenwärtigen. Strukturelle Referenzen auf Brinkmann und Fichte in Rainald Goetz’ Heute Morgen. In: Wirkendes Wort I/2008, S. 127-141, hier S. 133f. Vgl. auch Kap. 1.2 dieser Arbeit. 108 Vgl. Martin Jörg Schäfer: »Fantasy Realism«. Rainald Goetz, Jeff Koons, and the Ethics of Pop Art. In: The Germanic Review 81 (2006), S. 255-268, hier S. 260.
4. Musik
reichtum, aber in Wirklichkeit nichts daran was Ausgedachtes wäre, sondern alles echt.«109 Den Empfehlungen der Kritik, sich von diesen realistischen Ansätzen zu lösen, entsagt Goetz in seiner vierten Frankfurter Poetikvorlesung, die unter der Überschrift ›Text‹ steht: »Ich wollte die Verbindung des literarischen Schreibens zu lebensalltäglichen Wurzeln nie ganz aufgeben, davon immer irgendwie auch ausgehen, vom Schreiben von Briefen, Tagebüchern, Tabellen und Listen, von Einkaufszetteln und kleinen Notizen, wie: bin gleich zurück.« (Afa, 321) Außerdem gehe es Goetz, wie er ebenfalls selbst zu verstehen gibt, »um Melodien, mehr sogar vielleicht manchmal als um Verstehen ganz direkt, um ein Vertrauen in das Aufgehobensein im Wortgesang« (Afa, 189f.), weshalb Hägele Goetz einen »Apologet[en] des Phonozentrismus«110 heißt. Um, wie Albert Meier es nennt, »der Eindringlichkeit von Musik gleichzukommen«111 , schöpft Goetz die Mittel des Tempos und des Klangs aus, legt den Fokus auf Rhythmus und Wiederholungen, nicht geradewegs auf Sinnzusammenhänge.112 Schreiben heißt für Goetz: »[S]ich einklinken in einen Sound. Den plötzlich spüren. […] Sound meint hier vor allem Rhythmus. Aber da ist eben alles zusammen, im Sound. Die ganze Musik der Sprache, die Worte, der Rhythmus, Melodie und Sinn« (Afa, 522). Für den konkreten Fall des Sound des Textes in den Bänden des Buchkomplexes HEUTE MORGEN kann die Idee der Musik der Sprache nun auf den Techno und damit auch auf das Nachtleben zurückgeführt werden, das Goetz so eingängig im Zusammenhang mit der Rave-Kultur schildert. In seinem Text Die Ordnung der Ekstase, den Goetz über Westbam schreibt, und der sowohl in Mix, Cuts & Scratches als auch (mit leichten Änderungen) in Celebration abgedruckt wird, kennzeichnet Goetz den Techno als etwas Anfängliches, das etwas Neues eröffnet: Techno: Abschied vom Terror der Tonalität, dem Knast der Akkordwechsel in Kadenzen. Diesen alten Traum der Frühmoderne, für den sich angeblich ja auch der sogenannte Jazz interessiert hat…: erst Techno hat das musikalisch wirklich plausibel gemacht und popularisiert. Musik, die nochmal ganz am Anfang anfängt und alles, jedes Element, neu erfindet. Das ist das Irre, stumpf und naiv, geschichtslos, größenwahnsinnig, – und eben wirklich auch groß. (Mcs, 16f.) Es ist die Anfänglichkeit, die sich auf den Ausdruck ›Heute Morgen‹ als Beginn eines neuen Tages übertragen lässt. Der Theatertext Jeff Koons als der in der Reihe der Veröffentlichungen des Buchkomplexes wörtlich genommene Anfang des
109 Goetz, Kronos, S. 379. 110 Hägele, Machtbegriffe, S. 149. 111 Albert Meier: Realismus abstrakter Art. Rainald Goetz’ transitorische Poetik. In: Ivar Sagmo (Hg.): Moderne, Postmoderne – und was noch? Akten der Tagung Oslo, 25.–26.11.2004. Frankfurt a.M.: Lang 2007, S. 175-184, hier S. 177. 112 Vgl. Schumacher, Gerade Eben Jetzt, S. 141.
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Werk ist Weltform
Morgens113 müsste folgerichtig Zentrum dieses Bezugs zu Techno sein, der selbstredend jedoch nicht ohne seinen Paratext, nicht ohne die Werkumgebung, auskommt. Techno ist in Jeff Koons rein inhaltlich nicht annähernd so präsent wie in den Bänden Mix, Cuts & Scratches, Rave oder Celebration, doch schwingt der Musikstil wie dessen soziale Rezeptionshaltung stets im Dramentext mit. Augenscheinlich ist dies an der 6. Szene des ›Dritten Aktes‹, überschrieben mit ›let the bass kick‹: »bum/tscha bum/tscha bumm tscha/bumm//verstehe//tscha bumtscha/bum bum/bum/tscha bumm//genau//da bum/tscha bum/tschabum tscha/bum//lustig/schon irgendwie oder/schon« (Jk, 17). Die Szene ist der lautmalerischen Wiedergabe eines Beats gewidmet und damit sehr nah an Techno angelehnt. Musikalisiert sind im Stück Jeff Koons außerdem Absätze, die regelrecht lyrisch erscheinen, indem sie eine Kunstsprache aus jambischem Metrum, Alliterationen, Assonanzen und Schlagreimen bieten: »Die Sprache, sie brach sie, sie nahm sie, wie jede./Sie sagte zur Rede, sie lebe./Sie gehe und laufe, sie sei nicht so fest,/sie lasse das Nasse, sie trinke, er auch./So sinke, sie weiche, er schweige schon offen/der Sprache gefolgt, gebrochen, im Trieb.« (Jk, 61) Der Dramentext lässt sich an dieser Stelle den Taggedichten aus dem Merve-Band Jahrzehnt der schönen Frauen gegenüberstellen. Die Kurztexte sind einzig über formale Kriterien lyrisch zu nennen – dadurch, dass sie in Versen gesetzt und als Gedichte benannt sind. Von diesen Vorgaben abgesehen unterscheiden sie sich nur wenig von den anderen, speziell in Jeff Koons und Abfall für alle versammelten Textformen. Der Paratext aber gibt die Bestimmung eines Textes wie des folgenden als Gedicht vor: ich bins/der Text, Leute/kommt her und sagt hallo/wie gehts?/und folgt der Stimme/in die Kammer links von hier/schon ziemlich spastisch//KRANK//es pocht und bumpert/ah, ein Herz, verstehe/schön und gut, aber –//ich höre und/atme die Worte//Tag, Datum Jahr (Jsdf, 16)114 Im Stück Jeff Koons hingegen schließt die Vorgabe der Dramenform das Lyrische nicht aus und führt dieses Lyrische, das den Gedichten aus dem Jahrzehnt der schönen Frauen auch das Nutzen spezifischer, für Lyrik typischer rhetorischer Mittel voraus hat, wieder zu seiner ursprünglichen Bestimmung als gesprochene Dichtung, die zum Spiel der Lyra erklingt, zurück. Im Techno, fasst Poschardt zusammen, sei Sprache oft nur rudimentär vorhanden, der Raum sei geradezu leergefegt von Wörtern. Goetz aber bringe die
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Vgl. Kap. 2.3 dieser Arbeit. In einem Interview, das wie die Gedichte Teil des Merve-Bandes Jahrzehnt der schönen Frauen ist, gibt Goetz seine Lesart von Gedichten vor: »Was ist ein Gedicht? Ein Text, der schnell lesbar ist, weil er aus kürzeren Zeilen gemacht ist, der dabei aber irgendein Geheimnis hat. Jetzt wird dieses Formprogramm mal durchprobiert, auf täglicher Basis.« (Jdsf, 123)
4. Musik
Sprache wieder in diesen Raum zurück, stelle sie verloren dem Rhythmus und den Geräuschen der Musik gegenüber.115 Damit prallen die Sphären Musik und Literatur erneut aufeinander. Goetz nähere diese beiden konträren Gefilde im Schreiben einander an und lasse sie sich wechselseitig zerstören, jedoch »wird jede Form der Konfrontation, wenn sie richtig und wahrhaftig gefühlt und gedacht ist, mit einer wundersamen Synthese belohnt. Schwierige Texte bekommen auf einmal eine – so Goetz – ›melancholische Plausibilität‹«116 . Paradigmatisch lässt sich das an der Szene ›16. Skulptur‹ des ›Zweiten Aktes‹ zeigen: es geht/es geht/es geht/es geht//Moment/es hängt/es hängt gerade//okay/ich warte/Augenblick/wie stehts?//Momentchen noch/Moment/noch hängts//und jetzt/wie gehts?/wie stehts?//es hängt/es hängt noch/jetzt/jetzt gehts//es geht?//es geht/es geht/es geht/es geht//wie geht es so?//danke danke/gut/es geht//das ist ja/schön zu hören//ja genau/es geht es geht/es geht/es geht//meinen Sie/so gehts?//ich dachte schon/ich glaube wohl/ich meine doch/so gehts//so gehts/wie können wir/so machen wirs/so gehts ganz gut//sehr gut/phantastisch/wunderbar/bin völlig hingerissen//ich erst/Mensch, Mann, herrlich/danke, gut, ich glaube/das genügt, so gehts//es geht/es geht/es geht/es geht//es geht/und geht/und geht und/geht//bin absolut begeistert/bleibt so, lassen wir/ist fertig, ja/das paßt so, paßt (Jk, 98-100) Die Szene verhandelt das Aufhängen eines Bildes, aber zugleich auch die Frage nach dem Befinden eines oder mehrerer Beteiligter, sie ist Motiv und Variation in einem Augenblick, macht »aus Worten Sinn/aus Sinn Erscheinung« (Jk, 100f.) und gibt so den Blick auf ihre eigene Performativität frei.117 Da die Szene mit ›Skulptur‹ überschrieben ist, verweist sie außerdem auch auf ihre eigene Verortung im Theaterstück, denn für Goetz gilt: »Theatertext ist von der Grundaufgabe her SKULPTUR, das ist dieses Energiemomentum, das ist so anstrengend daran« (Afa, 441). Ohne jegliche Regieanweisung besitzt dieser Textausschnitt höchst selbst eine Theatralität, er verlangt geradewegs die Umsetzung auf einer Theaterbühne. Poschmann etabliert hierfür den Begriff der ›Texttheatralität‹ und möchte ihn verstanden wissen als jene »Qualitäten eines Textes […], die solche szenische Theatralität entweder implizieren oder durch Eigenarten sprachlicher Gestaltung nachempfinden.«118 Wenn der Theatertext oberflächlich seine Inszenierung dadurch erschwert, dass die traditionellen und einer Inszenierung hilfreichen Merkmale wie Regieanweisungen, Handlungsbeschreibungen und dergleichen fehlen, wird die Sprache selbst »unter Nutzung der Mehrdeutigkeit und Materialität sprachlicher
115 116 117 118
Vgl. Poschardt, DJ Culture, S. 381. Ebd. Poschmann weist das auch schon für Festung nach, vgl. Poschmann, Theatertext, S. 332. Ebd., S. 43.
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Werk ist Weltform
Signifikanten, deren performatives Potential als Texttheatralität fürs Theater nutzbar gemacht.«119 Die ›melancholische Plausibilität‹, die Poschardt oben anzitiert,120 erlangt der Text noch nicht durch das Aufeinandertreffen von Musik und Literatur per Übertragung von Worten in den Raum der Musik. Sondern die Worte müssen wieder in Musik übersetzt, d.h. gesprochen und auf der Bühne ausagiert, werden. Seine Erfüllung findet der Theatertext auf der Bühne, die geschriebene Sprache ist dort wieder gesprochenes Wort. Diese Feststellung lässt sich auch mit den Jeff Koons-Passagen belegen, die Goetz für die Audio-CD Heute Morgen einspricht. Goetz liest für die CD wenige Ausschnitte aus allen fünf Suhrkamp-Bänden der HEUTE MORGEN-Reihe ein, weiterer Bestandteil der CD sind Tracks von Westbam. Aus dem Theatertext Jeff Koons hat er u.a. die ›Skulptur‹-Szene sowie die lautmalerische Wiedergabe des elektronischen Beats zum Lesen ausgewählt. Auch eine ansonsten eher unverständlich bleibende Szene wie ›18. Bestellung‹ aus dem ›Dritten Akt‹ liest Goetz auf der CD121 vor: erzählt, betrinkt/getanzt vor vier//das Bier, das Bier/Geschmier verlier/wie bitte was?/und wer mit wem?//vier Bier/genau/sehr angenehm//vier Bier, vier Bier/und eine Kanne kalt//okay/kein Akt/kein Thema, Mann//getanzt und getrunken/gedrungen gespritzt/Skulptur schon gehackt/gebaut und geschaffen/betrunken getanzt/mit dir Bier und mir Bier/im Bierbier für uns vier/mit vier Bier für dich Bier/mit mir Bier und Bierbier/in unbedingt Bierbier/ganz unbedingt (Jk, 30f.) Vorgelesen wird die Musikalität des Geschriebenen, der ›Wortgesang‹, eigentümlich unmittelbar. Katrin Kazubko ist deshalb der Meinung, dass diese Qualitäten von Goetz’ Sprache den Text auch für ein nicht-deutschsprachiges Theaterpublikum öffnen würden. Die Sprache von Goetz vermittle »durch ihren performativen Charakter, ihren Rhythmus und Klang jenseits semantischer Sinnzusammenhänge Inhalte, Atmosphären oder Emotionen und kann damit über Sprachgrenzen hinaus auch einem internationalen Publikum zugänglich sein«122 . Aus Musik, die Goetz in Schrift überträgt, wird wieder Musik. 119 Ebd. 120 Das von Poschardt angeführte Zitat lautet in Gänze: »[D]aß man meine angeblich zu komplizierten Texte bestens versteht, wenn man sie vorgelesen kriegt. Gerade die komischen Reflexions- und Worte-Fetzen, die abgehackten Sätze und Substantiv-Kaskaden, die gedruckt vielleicht eher seltsam wirken, bekommen plötzlich so eine melancholische Plausibilität. Der abstrakte, ferne Text rückt durch den Klang der Stimme in die Nähe; man ist irgendwie einverstanden und bekommt so ein Gefühl von: paßt schon.« (Ce, 77) 121 Vgl. Rainald Goetz: Heute Morgen (2 Audio-CDs). Rave, Jeff Koons, Celebration, Abfall für alle, Dekonspiratione. Gelesen vom Autor. Musik: Rainald Goetz und Westbam. Der Hörverlag 2001, CD 1, Track 12. 122 Katrin Kazubko: Sex and Drugs and Techno. Jeff Koons von Rainald Goetz. In: Katharina Keim/Peter M. Boenisch/Robert Braunmüller (Hg.): Theater ohne Grenzen. Festschrift für Hans-Peter Bayerdörfer zum 65. Geburtstag. München: Utz 2003, S. 465-476, hier S. 466.
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Für eine Realisierung auf der Bühne wäre es notwendig, den gesamten Text des Stücks auf Sprecher aufzuteilen. Wie mehrfach in dieser Arbeit angedeutet, nimmt man im Dramentext Jeff Koons allerdings nur Textträger wahr, eindeutige Sprechermarkierungen gibt es nicht. Wenn auch die ›Gästeliste‹ ein ungefähres Bild der im Stück anzutreffenden Figuren nachzeichnet,123 werden den möglicherweise vorhandenen einzelnen Personen keine dezidierten Textteile zugeschrieben. Trotzdem lassen sich an den Szenen des Textes unterschiedliche Sprechsituationen ablesen. Am auffälligsten ist rein typografisch die Unterscheidung zwischen linksbündig gesetzten Szenen in Strophen und solchen, die im Blocksatz stehen. Der unmittelbar daraus folgende Versuch, die Differenz zwischen dialogischem und monologischem Sprechen an der Typografie festzumachen – der Dialog wäre an den Strophen erkennbar, der Monolog am Block –, ist allerdings zu wenig weitsichtig. Rättigs Unterfangen, die unterschiedlichen Figurenkonstellationen zu kategorisieren, stellt der Sprechsituationen im Stück vier heraus: ein dialogisches Sprechen, in dem verschiedene Sprecher wahrgenommen werden können, ein monologisches Sprechen, in dem ein größtenteils unbenanntes Ich in stark rhythmisierter Form Vorgänge beschreibt, sowie eine monologische Situation, die reflexionsartig Parataxen in einen Block reiht, und schließlich die Außensituation eines Beobachters, gekennzeichnet durch eine auktoriale Haltung ohne Zuordnung zu einem Sprecher.124 Dialogisch sind einige Szenen geradezu zwingend, obwohl keine Sprecherwechsel kenntlich gemacht sind. So zum Beispiel im ›Ersten Akt‹, der die Beziehung zwischen zwei Menschen zum Inhalt hat: glaubst du, man könnte sich jetzt schon belügen?/wieso denn lügen?/ob man jetzt schon lügen müßte/bei einer falschen Frage?/was für eine Frage denn?/ob du mich jetzt im Moment/schon anlügen würdest?/aber wieso denn?/obwohl wir gerade erst – ?/komm, Schatz/bitte, ich muß das wissen!/schau, ich zeigs dir (Jk, 37f.) Zwar deutet nicht jedes Enjambement auf einen Wechsel in der Rede hin, doch verweisen Personalpronomina und direkte Ansprachen auf ein Gegenüber. Es ist möglich, dass dieses Gegenüber immer dasselbe ist, genauso gut können in jeder dieser dialogischen Szenen aber auch neue Diskursinstanzen die Sprecher bilden. Im Gegensatz dazu stehen Szenen in Strophenform, die nur einer einzigen Figur zuzuordnen sind: Ein Punkt, ein Strich, ich seh dich sprechen/ein großer Raum, du du, mit Luft/auf einmal diese, deine, ah/aha, verstehe, gut und schön/sie lacht/die anderen, die
123 Vgl. Kap. 2.4 dieser Arbeit. 124 Vgl. Rättig, Oberfläche, S. 248.
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runden, deine blauen/im sanften Ruck der Traueraugen/es sind schon viele da/Bewegung überall/wir schauen selber rum jetzt, wild/wir atmen ein und reden/wir essen was und drehen uns weg/wir langen Sachen an und rufen kurz mal irgendwem/wir werden nicht verstanden, was, wieso/wir wiederholen den Versuch/wir schreien jetzt/jetzt kommt wer her/die schauen nett und lachen/wir sagen was zu denen/und die lachen nur und nicken/wir schreien wieder los/das Licht geht aus/so gehts ja nicht (Jk, 88) Die Anwesenheit weiterer Personen ist klar durch das Pronomen ›wir‹, das Numeral ›viele‹ und den Artikel ›die‹ ausgewiesen, doch werden diese anderen Figuren nicht als Partner in das Sprechen selbst einbezogen. Die Verwendung der Personalpronomina ›ich‹ und ›wir‹ unterstreicht darüber hinaus, dass in dieser monologischen Situation ein Ich spricht, welches Teil am Geschehen hat. Dieselbe Sprechsituation taucht im Stück allerdings auch in veränderter typografischer Form auf: Schon toll, so voll. So viel, so leicht. Beschmiert mit mir, zerkratzt ganz heiß. Die weiten Schriften, eingeniedet, die hohen Lieder abgestimmt. Jetzt ausverstaut, entsaut, betaut. Weiß nicht, wie falsch, wie wenig ohne. Weiß nur die Farbe und den warmen Mantel. Weiß deine Frage, gegen Ende, und nicht den Bruch im Klaren, die Verschiebung. Wir gehen kurz, wir liegen, wir träumten, trinken, trieben. (Jk, 16) Der Feststellung von Rättig, dass sich die Monologe im Blocksatz von den in Strophen stehenden durch ihren Inhalt aus »meist assoziativen Wortketten, die als gesprochene/gedachte Sprache beschrieben werden können und die ab und an durch Pronomina mit einem reflektierenden Ich verbunden sind«125 , unterscheiden, kann hier nicht kritiklos gefolgt werden. Zu nah sind bei Goetz assoziatives Schreiben und die Schilderung von Vorgängen beieinander. Vergleichsweise eindeutig zeigt sich das Monologische im Blocksatz, nie spricht dort noch eine weitere Instanz. Vielmehr stehen in den Blöcken aber Betrachtungen von außen, die Rättig als vierte von Goetz’ Figurenkonstellationen nennt: Da betrat die Frau und Gefährtin den Raum, sah den Geliebten so liegen, im Hader mit sich, seinem Werk und der Welt. Ging näher zu ihm hin, stand hinter ihm und schaute auf ihn nieder. Sie freute sich an ihm, er war ihr Ding, sie seines irgendwie. Sie breitet ihre Arme aus, lehnt ihren Bauch von hinten ihm entgegen, senkt ihren Kopf auf seinen, und läßt ihn so die Sache ihres Sexes träumen. (Jk, 85) Solche Beobachtungen eines vom Geschehen Externen treten wiederum auch in Versform auf und nehmen dabei ebenfalls eine auktoriale Perspektive ein:
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Ebd.
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bei Tisch wird dann geredet/über andere und die Kollegen/über Vorgänger und Freunde/Konkurrenten, Mitbetreiber/über Angelesenes, Gesehenes und Ausgedachtes/der Sohn ist da/er lacht/der Sohn ist voller Fragen/die Fragen sind dem Künstler neu/er freut sich an den Fragen seines Kindes/er sieht das Kind als Kapital/er macht da einen kleinen Fehler/er macht ganz viele Fehler übrigens (Jk, 86) Dieser, wenn auch in seiner Fülle an Formen und unklaren Grenzziehungen reiche Versuch, die Sprechsituationen des Textes zu ordnen, neigt zum Scheitern. Und Goetz wäre nicht Goetz, wenn er dieser von außen herangetragenen Systematik seines Textes nicht von vornherein schon den Boden entziehen würde. Denn er lässt die kategorisierten Sprechsituationen gehäuft auch in Kombination auftreten, Perspektive und Typografie können innerhalb einer Szene mehrfach wechseln: Am Boden liegt ein Einkaufszettel, in Prollhandschrift verfaßt. Es stehen da die Worte drauf: im Schlaf, am Grab, die Totenfeier. Kartoffel, Eier, Käse, Wurst. In Angst, am Arm, der Knecht, mit Hut. Gestank, brutal, betrunken, blöd. Zerstört, kaputt, Familie, Schrank. Gesims, Verlust, erlassen, alt. Im Schmutz, für kalt, die Nase rinnt. Versuch, gezittert, Hast, in Sorge. Der Schal, gewollt, mit Brot, sein Bein.//was liegt denn da/am Boden?//Ein Einkaufszettel liegt am Boden./Und daneben? Liegen die Kaputten./Menschen, Sachen, Sehnsüchte./Das Schicksal, Schuld und Hundescheiße./Hat er das eben nicht schon mal gesagt?/Und da? Wie nennst du das?/Auch Hundescheiße? Ist das nicht?//ein Toter/ja, ein Toter//aha//Nee, eher ein Betrunkener. Ach so. Ein Fixer und ein Penner, klar, ein Punk und sein Hund. Dann ist es ja gut. Laß mal da hinsetzen. Gute Idee. (Jk, 58f.) Auch die von Poschmann vorgeschlagene Kategorisierung des Textes in Sprechund Zusatztext,126 welche sie anstelle von Haupt- und Nebentext stark macht, kann das Stück Jeff Koons nicht befriedigend erfassen, wie Lehnert zeigt. Sein Versuch, die auktorialen Passagen – die denen der wörtlichen Rede in lyrischer, monologischer Form oder dramatischer, dialogischer Form gegenüberstehen – als Zusatztext zu behandeln, und »entweder in die Konzeption einer Figur integriert, oder aber extern als ›dem Leser vorbehalten‹, ›der Transformation bedürftig‹ o.ä.«127 zu klassifizieren, missglückt wiederum an der Ambivalenz des Textes. Eher liegt die Vermutung nahe, dass Goetz die Sprechsituationen nicht dezidiert ordnet, sondern sie einem vielstimmigen Gewirr gleichkommen, einer Polyphonie von Figuren, wie sie beispielsweise in einem Club oder bei einer Vernissage, in der Öffent126
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Poschmann stellt die Frage, »welche Teile des Theatertextes als Sprechtext in der Aufführung zu Gehör gebracht werden sollen und was als Zusatztext eine Transformation aus den linguistischen Zeichen des geschriebenen Textes in andere theatrale Zeichen als die der gesprochenen Sprache erfahren soll« (Poschmann, Theatertext, S. 279). Lehnert, Oberfläche Hallraum Referenzhölle, S. 110.
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lichkeit und der Gesellschaft aufeinandertreffen; dass DJ Rainaldo Stimmen-Track an Stimmen-Track reiht, sie pitcht, mixt und sampelt.128 In der Erzählung Rave gibt er einen Abriss einer Red-Bull-DJ-Akademie, an derem sechsten und letzten Tag die Teilnehmer »Lessons in Abenteurism« (Ra, 213) erhalten, an die Goetz sich offenbar auch selbst hält: Du bist natürlich ein schweinslässiger Red-Bull-Abenteurer. Und willst ein toller Dj werden. Das heißt auch, du traust dir bei jedem Mix bißchen mehr zu, als du wirklich kannst. […] Nur: genauso wild und abenteuerlich, wie man in einen Mix reinbrechen kann immer wieder mal, genauso SUPERSKRUPULÖS und ohrpedantisch sollte man schnell prüfen, ob man das wilde Mixmanöver unter Kontrolle kriegt, oder ob es einen in dem chaotisch rhythmischen Geprügel und Gemetzele zerreißt und schmeißt – und man also abbrechen muß./Warum? Macht doch gerade so Spaß! (Ra, 213) Kontrolle will Goetz augenscheinlich durch eine visuelle Ordnung aus Versen, Strophen und Blocksatz andeuten, doch verspricht diese für die Rezipienten mehr, als sie halten kann. Glaubt man, der Unterscheidung zwischen gesprochenem Text und impliziten Inszenierungsvorgaben anhand der Sprechsituationen auf die Spur zu kommen, wird diese Illusion bereits auf der nächsten Seite wieder untergraben, von Goetz willentlich zerstört. Der Fokus scheint darauf zu liegen, genau eine oder zwei Stimmen aus der Menge von vielen herauszugreifen und diese sich offenbaren zu lassen, sie im nächsten Moment aber wieder mit den vielen zu verschränken. »Die schiere Fülle der zerrissenen und zerstreuten Informationen, ihre mit hektischen Schnitten beschleunigte Folge erzeugen […] ein Gefühl des permanenten Übergangs, des zeit-räumlichen, psychischen, intellektuellen Gleitens«129 , wie Winkels urteilt. Das Ungleichzeitige, das Schnelle und Langsame geschieht gleichzeitig, das Unzusammenhängende und Paradoxe nebeneinander, und erfüllt damit Goetz’ Wunsch nach »mehr GLEICHZEITIGKEIT der ganzen Widersprüche […], eine[m] viel offeneren Krieg der Positionen, eine[r] schnellere[n] Wucht der Kollisionen der gegensätzlichen Sichten, Haltungen, Ideen, Perspektiven« (Afa, 55). Die in artifizielle Rahmungen gesetzte Schrift stellt das Gedachte, Gehörte, Gesagte an einen neuen Ort, übersetzt das durcheinander Gesprochene in ein Bild. Der
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Samples und Schnitte lassen dabei etwas Eigenes entstehen, wie Schumacher belegt: »Das Plattenauflegen stellt sich dar als eine Form der Präsentation, die nicht nur Vorgegebenes vermittelt und vergegenwärtigt, sondern im Moment des Auflegens tatsächlich Neues produziert« (Eckhard Schumacher: Mix, Cuts & Scratches: die Autorität der Unterhaltung. In: Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld: 25 Jahre für eine neue Geisteswissenschaft. Bielefeld: Aisthesis 1998, S. 181-193, hier S. 183). Hubert Winkels: Leselust und Bildermacht. Literatur, Fernsehen und Neue Medien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 90.
4. Musik
Theatertext Jeff Koons selbst zeichnet einen Schreiber nach, der Bilder ebenfalls aus Worten zusammensetzt: Typ am Schreibtisch, Stift in der Hand/steht auf, schreibt, steht wieder auf, geht auf und ab/schreibt, Bücher am Boden, Papier, alles da voll/[…] schreibt, was er redet, nickt, wie er schreibt/schreibt, wie er spricht, nickt mit dem Kopf/wippt mit dem Knie, schreibt, was er hört/hört, was er denkt, denkt, was er sieht/Bilder, aus Worten, Sache der Stille/und Lärm, sehr großer Lärm (Jk, 145) Die Schrift und ihr Bild im Text, ihr Inhalt und ihre Form, sind bei Goetz nicht voneinander trennbar. Erst in gegenseitiger Abhängigkeit konstituieren sie ein Ganzes, das der Autor gegen etwaige Korrekturversuche am Schriftbild verteidigt, wie eine Stelle aus Abfall für alle belegt: Die ersten drei Akte des 2. Laufs vom Stück korrigiert, Umbruch vorallem. Mit Wutanfällen. Jedesmal wieder sage ich: jedes Hurenkind, jeder Schusterbub, oder wie die Kollegen heißen, die einzeln stehenden Zeilen, jedes einzelne Wort, das der laufende Umbruch zufällig exponiert einzeln stellt: ist mein Freund, soll bleiben. Und jedes mal wieder werden die Dinger »ausgetrieben«, oder wie das heißt, wieso eigentlich? Warum dürfen die nicht da bleiben? Für mich sieht das schön aus, ein einzelnes Wort, eine ganz allein stehende Zeile. Leerzeilen, die für die Ordnung der Sache wirklich wichtig sind, werden hingegen gern geopfert. Das SIEHT man ja nicht, daß da dann was fehlt, das ändert ja nur den Sinn. Der Stumpfsinn an diesem Bürokratismus macht mich so fertig. (Afa, 497) Windrich nennt dies die »Sucht nach dem Sichtbaren im Text« und schlussfolgert, dass auch »[d]ie Tendenz zu einem freien, auf klangliche Nuancen zielenden Spiel mit Signifikanten […] dem textinternen Trieb hin zur Fülle des Visuellen zuzuschreiben«130 sei. Die visuelle Anordnung des Textes von Jeff Koons, der sich durch fehlende Regieanweisungen und Sprechermarkierungen, der Verschränkung von Strophenform und Blocksatz ohnehin vom Erscheinungsbild traditioneller Theaterstücke unterscheidet, kann demnach als Versuch gelesen werden, neben Schrift und Musik wiederum auch Schrift und Bild einander anzunähern. Stricker weist diesen Vorstoß als Eigenheit der Texttheatralität, »der verräumlichten Schrift« aus, »Text wird Szeno-Graphie«: Verräumlichte Schrift will gezeigt, nicht gedeutet werden. Texttheatralität will phonetisch oder graphisch ausgestellt, wie ein Gemälde oder Musik rezipiert werden. Text wird zur Textlandschaft, wo Textualität ihren transparenten Zeichencharakter hin zum opaken Schrift-Bild oder zum Klangmaterial verdichtet.131
130 Windrich, Technotheater, S. 414. 131 Das wie das vorhergehende Zitat: Stricker, Text-Raum, S. 26.
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Theatertexte von Autoren wie Werner Schwab oder eben Goetz, die sich neben ihrem Schrifttum auch als Bildende Künstler verdingen,132 seien demnach, so Stricker weiter, die Umsetzung »bildkünstlerische[r] Strategien in Textverfahren«133 und somit der Ansatz, »dem Text einen eigenen Platz im theatralen Prozess zu sichern.«134 »[D]ie Schreibfläche wird zur Bildfläche«135 , die Buchseite wird zur Leinwand, die der Künstler/Autor zur Verfügung hat, um die Räumlichkeit der Schrift in Szene zu setzen.136 Exemplarisch sei hierfür auf die Szene ›7. sie dämmern‹ im ›Ersten Akt‹ von Jeff Koons verwiesen (Abb. 27). Das Besondere dieser Szene liegt zunächst, ohne schon den Bildtiefen nachspüren zu wollen, im simplen Fakt, dass Goetz den Textlaut auch in seinem Weblog Abfall für alle veröffentlicht, dort jedoch im Blocksatz, überschrieben mit ›Ruhe Sanft‹ (vgl. Afa, 108f.). Nur minimale wörtliche Nuancen unterscheiden die beiden ›Auftritte‹ des Textes.137 In Jeff Koons kann sich Goetz aber nahezu gänzlich von der Interpunktion verabschieden, kann Wörter mit gleichem Anlaut doch gegensätzlicher Bedeutung untereinanderreihen, wie beispielsweise in der vierten Strophe, wo er den Text von Abfall für alle noch um ein ›bis hier‹ erweitert, damit die ›Gegangenen‹ sich direkt unter die ›Gebliebenen‹ fügen. Auch kann er die Bedeutung des Wortteils ›maß‹ in ›maßlos‹ und in ›Augenmaß‹ durch die räumliche Stellung untereinander verdichten und damit auf einer Meta-Ebene auf das Maßnehmen eines bildkünstlerischen Vorganges anspielen. In der Wortfolge, wie sie für diese Stelle in Abfall für alle zutrifft, wäre dieses Spiel mit der Silbe möglicherweise nicht aufgegangen. Durch die Akzentsetzung wird auch die Betonung eine andere. Die Aufteilung des Textes in Strophen ermöglicht darüber hinaus, Sinneinheiten abzustecken, ein Polyptoton (›König sein und Königin‹) und eine Figura etymologica (›meist das Meiste nicht‹) in einem Vers aufzuführen, Anaphern eine je eigene Zeile zuzuordnen und die erste und letzte Strophe mit dem gleichen Wort enden zu lassen: ›Schwesterlein‹. An Textstellen wie diesen ist wiederholt auch Goetz’ Nähe zur Romantik vorgeführt worden, die sich selbstredend auch aus dem Bezug zur Musik speist. Aus den Überlegungen zur angestrebten Vereinigung der Künste in der Frühromantik ragt die Musik als Vorbild »einer idealen (universellen und allgemeinverständlichen)
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Schwab hat skulptural gearbeitet, Goetz eher bildlich, vgl. die Abdrucke von Collagen und Gemälden etwa in den Bänden Kronos oder Dekonspiratione. Stricker, Text-Raum, S. 29. Ebd., S. 9. Ebd., S. 69. Vgl. auch Lehnert, Oberfläche Hallraum Referenzhölle, S. 121. In Abfall für alle heißt es: »ein Faden, Stoffe, Fetzen, ein Stück Zweig, ein Blatt, ein Halm« und »So wirr gesucht, so hart gefunden, so panisch aufgescheucht ein Leben lang, so wild und lieblich, eigensinnig, ohne Augenmaß, so maßlos, starr« (Afa, 108f., Kursivsetzungen entsprechen den Änderungen).
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Kunst-Sprache«138 heraus, weil sie Darstellungsmittel vieler anderer Künste in sich vereint. Sandro Holzheimer datiert deshalb den ersten Höhepunkt einer literarischen Musikästhetik in die Frühromantik zurück. Dort habe, so Holzheimer, sich das Verhältnis der »Integrität des Subjekts und seiner sinnhaften Beziehung zur Wirklichkeit«139 an einer Sprachkrise gezeigt. Da Sprache diese Einheit nur defizitär artikulieren könne, sich in der Musik aber »Gefühl und Innerlichkeit genuin und unmittelbar ausdrücken«140 , wäre eine Sprache, die sich einer Wahrnehmung des Erlebens von Musik annähere, in der Lage, diesen Mangel auszugleichen. Walter Dimter sieht das Streben nach der »Ermöglichung eines musikalischen Lebens«141 in der Frühromantik bereits am Titel von Wackenroders Erzählung Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger erwiesen und erkennt auch an Friedrich Schlegels Schreibweisen, dass dieser »[m]it dem Arrangement von Musik und Moral (= universale Elemente) und dem Hinweis auf den Rhythmus (= das dezidiert Individuelle) […] den Blick auf den für romantisches Daseinsverständnis unentbehrlichen Spiel-Raum zwischen dem Universalen und dem je einzelnen«142 lenke. Für Goetz mache genau diese Musikalität wie auch Skulpturalität des Theatertextes dessen Schönheit aus. Auf die Frage, warum er sich dem üblichen Dramenformat mit Nebentexten versperre, antwortet er: Weil es schöner ausschaut; weil es sich besser liest. Und vorallem weil es der Idee Theatertext am nähesten kommt. Es wird sich erst erfüllen auf der Bühne, wenn der Schauspieler das stumme Wort, das tot gedruckte Wort in den Mund nimmt und für alle hörbar ausspricht und dabei lebendig macht: ich nicht. (Jdsf, 140) Aufgabe der Rezipienten bzw. des Theaters ist es dann, »den weißen Leerstellen des Textes Leben einzuhauchen, das Ungefähre des Textes in die Präzision einer Inszenierung zu überführen.«143 Die Räumlichkeit und Leere des Goetz’schen Theatertextes, sein Schrift-Bild, muss wiederum in lebendige Sprache übersetzt werden, aber auch in das Bild der Theaterbühne, welches besetzt ist durch Schauspieler, Kostüme, Requisiten und Bühnenbild. In der »zeitlich festgelegte[n] einmalige[n] Rezeptionssituation«144 des Theaters wird eine Vereinbarung von Bild und Schrift
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Lingner, Ursprung des Gesamtkunstwerkes, S. 54. Sandro Holzheimer: »Ich stehe da genau in der Mitte«: Musikalische Poetik zwischen Präsenz und Repräsentation in Rainald Goetz’ Rave (1998). In: Andrea Bartl (Hg.): Transitträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Augsburg: Wißner 2009, S. 191-211, hier S. 193. 140 Ebd., S. 191. 141 Walter Dimter: Musikalische Romantik. In: Romantik-Handbuch. Hg. v. Helmut Schanze. 2. durchgesehene und aktualisierte Auflage. Stuttgart: Kröner 2003, S. 408-428, hier S. 416. 142 Ebd., S. 421. 143 Kazubko, Sex, Drugs, Techno, S. 475. 144 Poschmann, Theatertext, S. 226.
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sogar geradezu erzwungen. Poschmann definiert »[d]as Theater: als oralische Anstalt und als Ort der Bilder. Hier entwickeln sie in der Grenzüberschreitung zwischen Schrift, Rede und Bild ihre Kraft, die als Macht definiert ist.«145 Abbildung 27: Ausschnitt aus dem Theaterstück Jeff Koons (1998).
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5. Schöpfung [V]ielleicht gibt es das gar nicht in Wirklichkeit, das Klagenfurt, das gibt es doch bloß im Fernsehen, oder ist das Fernsehen schon wirklicher als wie die Wirklichkeit, oder ist die Wirklichkeit wirklicher als wie das Fernsehen? (Hirn) Im Halbschlaf drehten sich die Worte um Präzisierungen des Realismus-Begriffs, der Idee von Realität, um die es gehen würde. Schweißgebadet wachte ich auf. Angst. (Abfall für alle) Wieso dichten? Wieso nicht einfach sagen, was es zu sagen gibt? (Dekonspiratione) Auf eine fiktive oder erinnerte Interviewfrage hin, welches Erlebnis er im Zusammenhang mit Techno nicht missen möchte, antwortet Goetz in seiner Erzählung Rave: »Das von der exzessiven Konzentration auf Musik hervorgebrachte völlig neue Hören der alltäglichen Weltgeräusche.« (Ra, 214f.) Über Musik hört Goetz die Welt. Eine ähnliche Verbindung zur Welt zieht er sonst nur noch aus einem anderem Medium: dem Fernsehen. Dank seines spektakulären Auftritts beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis beginnt Goetz’ Karriere im Literaturbetrieb im Fernsehen; die Bilder seiner blutenden Stirn eilen seinem literarischen Erfolg voraus. Der Augenblick, in dem Goetz selbst zu einem Fernsehbild wird, ist eng mit seinem Text verschaltet. Sein Wettbewerbsbeitrag Subito erklärt das Fernsehen in Pop-Manier zum wirkungsvollen Inspirationsmoment für das Schreiben. Wenige Jahre später versucht er in dem dreibändigen Materialkonvolut 1989, das Fernsehen abzuschreiben und das Material unkommentiert zu Schrift werden zu lassen. Zwischen Fernsehen und Schrift klafft allerdings beständig eine Lücke – wenn Goetz sich den Stirnschnitt zufügt, ist seine Literatur keine Literatur mehr, sondern Fernsehen und wenn er das Fernsehen mitschreibt, wird daraus nicht Fernsehen, sondern Literatur.
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Die Reflexion der Unvereinbarkeit der Medien zieht sich durch Goetz’ Schreiben hindurch. Im Schlussband des Buchkomplexes HEUTE MORGEN, der Erzählung Dekonspiratione, entwirft er das Format einer Fernsehsendung, in der im Fernsehen über das Fernsehen, aber nach Vorbild der Literatur gesprochen werden soll; das ZDF räumt diesem Entwurf für drei Folgen tatsächlich eine nächtliche Sendezeit ein. Die Ineinandersetzung von Fernsehen und Literatur ist hier durch die vielen Ebenen, in der die beiden Medien miteinander verwoben werden, verkompliziert, der Abstand zwischen ihnen wird dadurch jedoch nicht geschlossen. Die Beschäftigung mit diesem Problem gibt aber etwas an den Text ab, was mit einer Form von Gegenwärtigkeit bezeichnet werden kann, die für die Pop-Literatur charakteristisch ist. Noch griffiger ist hier der Begriff des Realismus, der bei Goetz ein Realismus des Medialen, der durch Bilder, Musik und Fernsehen vermittelten Realität, ist. Die Nähe zu dieser Realität irritiert, was ihm bisweilen den Vorwurf eingebracht hat, dass seine Literatur überhaupt keine Kunst sei. Goetz ist die Nähe zur medial vermittelten Realität allerdings so zwingend, dass sie ihn von fiktionalen Erzählweisen abhält, wie in Dekonspiratione ersichtlich. Die Erzählung über ein Pärchen aus der Medienwelt kann Goetz nur so lange aufrecht erhalten, wie ihn die Realität der Fernsehbilder, die der Kosovokrieg nebenher liefert, nicht einholt. Als das geschieht, ist eine Fortführung des ursprünglich geplanten Plots nicht mehr möglich. Stattdessen schreibt Goetz (wieder) über sich selbst, über seine Arbeitsweise als Schriftsteller und liefert damit Einblicke in sein Schreibverfahren, die der zuvor in Frankfurt gehaltenen Poetikvorlesung Praxis ähneln. Sie gipfeln in der Erkenntnis, dass nicht Goetz selbst, sondern die Zeit der Autor seiner Texte sei. Diese Erkenntnis könnte wiederum Zweifel an der Kunstförmigkeit seiner Literatur nähren, was in der historischen Nachfolge der Avantgarde nichts gänzlich Unübliches wäre. Diesem Zweifel steht indes ein verbindlicher Werkbegriff entgegen, der in der auffälligen Buchform seiner Texte mit durchdachter Covergestaltung nur seine äußerlichste Ausformung findet. Goetz’ literarisches Schaffen, seine Schöpfung, ist durch einzelne inhaltliche Anleihen an die Systemtheorie in Luhmann’schem Verständnis geprägt, vor allem zieht sie aus der Theorie Luhmanns aber die Systemförmigkeit und den Blick der Totale auf die Gesellschaft. Goetz’ Realismus bedeutet in diesem Sinne nicht eine bloße Abbildung von Welt, er ist stattdessen ein streng systematischer, nach ästhetischen Prinzipien in eine unverrückbare Ordnung gebrachter Weltzugang, dessen werkhafte Form, wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt, durch die mit den Begriffen Zahlen, Geometrie und Musik etikettierten Produktionstechniken bestimmt ist. Goetz’ Zitat, aus dem diese Begrifflichkeiten stammen, folgend, hängen diese drei Bereiche mit der Schöpfung zusammen, erst ihr gemeinsames Wirken kulminiert in der Form eines Werks. Dass diese Form mit einem wahnhaften Hang zur Perfektion ausgestattet ist, verbindet Goetz’ Werke mit denen von Koons.
5. Schöpfung
5.1
Fernsehen – Das Fenster zur Welt
Die televisionäre Kommunikation bildet einen ähnlich durchgängigen Anlehnungskontext für die Texte von Goetz wie die Musik; beides ist ihm, wie er es in der ersten seiner Poetikvorlesungen Praxis im Angesicht von Fernseher, Videorekorder und Musikanlage, die er in Frankfurt aufbauen ließ,1 benennt, sein »Fenster zur Welt« (Afa, 232). Mit dieser Metapher bemüht Goetz ein populäres Beschreibungsmuster des Fernsehens aus den 1950er Jahren. Das deutsche Technikunternehmen Telefunken hatte jahrelang mit dem Slogan ›Ihr Fenster zur Welt!‹ für seine Fernsehgeräte geworben.2 Die Fernsehkamera übernahm, so umreißen Monika Elsner und Thomas Müller die damaligen Überzeugungen, »stellvertretend für den Menschen die Funktion, sich in der Welt zu bewegen und Wirklichkeit zu betrachten, das Fernsehen holte die Welt via Bildschirm in die Wohnstuben.«3 Angestoßen war der Werbespruch von Telefunken u.a. durch die Verunsicherung und Fremdheit, die neben der Euphorie mit den Empfangsgeräten in die Wohnungen einzog, weil die Wunder der Technik grundlegende menschliche Erfahrungsschemata außer Kraft setzten. Die Künstlichkeit des technischen Apparates und somit die Distanz zur Alltagswelt wurde durch Vergleiche mittels Anthropomorphisierungen – wie etwa die Fernsehkamera als menschliches Auge – oder eben die Semantik des Fensters abgeschwächt.4 Signifikant ist, dass mit solchen und ähnlichen Beschreibungen des Fernsehens und der diesem Programm folgenden Rezeption keine Grenze zwischen Alltagswirklichkeit und Fernsehwirklichkeit eingezogen wird, sondern »daß Fernsehwirklichkeit im späten 20. Jahrhundert Alltagswirklichkeit wird«5 , wie es Hans Ulrich Gumbrecht bündelt. Die Praxis des Schreibens, über die Goetz in Frankfurt berichten soll, ist für ihn maßgeblich durch das Fernsehen und die Musik als ›Fenster zur Welt‹ bestimmt,
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Ruthard Stäblein zufolge gleicht Goetz’ erste Poetikvorlesung einer Performance: »Rainald Goetz gibt sich […] auf der Höhe der Zeit. Nebenher läuft der Fernseher, er hat ein KörperMikro wie ein Popstar, er ist gedresst wie ein DJ, läuft auf dem Podium auf und ab […], hetzt vom Videogerät zum Vortragsmanuskript« (Ruthard Stäblein: Der Dichter als Pop-Priester. Die Frankfurter Poetik-Vorlesung von Rainald Goetz: eine Performance. In: Der Tagesspiegel vom 13.06.1998, S. 25). Vgl. Monika Elsner/Thomas Müller: Der angewachsene Fernseher. In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 392-414, hier S. 396f. Ebd. Vgl. ebd., S. 394-396. Goetz macht diese Frühzeit des Fernsehens zu einem Thema seines Werkkomplexes FESTUNG, vgl. Kap. 2.2.4 dieser Arbeit. Hans Ulrich Gumbrecht: ›Ihr Fenster zur Welt‹ oder Wie aus dem Medium ›Fernsehen‹ die ›Fernsehwirklichkeit‹ wurde. In: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Kultur und Alltag [= Soziale Welt, Sonderband 6]. Göttingen: Schwarz & Co. 1988, S. 243-250, hier S. 243.
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denn Praxis heißt für ihn: »zu 90 oder 95 Prozent: Rezeption. Rezeptivität. Aufnehmen. […] Von da her begründet sich für mich eine möglichst ungeordnete Faszination für alle Formen, die Welt hereintragen.« (Afa, 232) Seine Vorliebe für das Fernsehen hat er bereits 1983 in Klagenfurt kundgetan. Sein Beitrag zum IngeborgBachmann-Wettbewerb, der Text Subito, richtete sich – ganz seinem Punker-Image der Zeit gemäß6 – gegen den Literaturbetrieb, in den er mit seiner Teilnahme am Wettlesen gerade eintrat, und dagegen, selbst ein »blöder Literatenblödel« zu werden, der künftig nur noch »locker und dumpf Kunst um Kunst hinschreibt«7 . Stattdessen wolle er lieber »geil angreifen« und »kühn, totalitär, roh, kämpferisch und lustig«8 schreiben. Dazu bräuchte er entgegen der klassischen Künstlerkonzeption nicht die Natur,9 sondern vielmehr das Fernsehen, das er im manifestartigen Schlussakt seines Textes empfiehlt: Schaut euch lieber das Fernsehen an. Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop. Mehr vom Blauen Bock, mehr vom Hardcoreschwachsinn der Titel Thesen Temperamente Und Akzente Sendungen. […] Denn alles alles alles geht uns an.10 Goetz verwendet den Begriff des Pop hier gänzlich im Sinne des Populären, wie beispielsweise auch Lawrence Alloway ihn charakterisierte. Als Teil der Independent Group hatte sich Alloway um Analysen populärkultureller Werke verdient gemacht. Ganz bewusst betrachtete er Kultur nicht aus einer ästhetischen Distanzierung, sondern stellte Ölgemälde und Gedichte schon 1959 auf eine Stufe mit den Massenprodukten Werbung und Fernsehen: »Then, unique oil paintings and highly personal poems as well as mass-distributed films and group-aimed magazines can be placed within a continuum rather than frozen in layers in a pyramid.«11 Die Fernsehsendung Zum Blauen Block erwähnt Goetz ganz im Einklang mit dieser Überzeugung. Es ist insofern bemerkenswert, dass Goetz in seinem Text das Fernsehen preist, als die siebte Ausgabe des Bachmann-Wettbewerbs 1983 die erste war, bei der die
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Vgl. Kap. 4.1 dieser Arbeit. Goetz, Hirn, S. 19. Ebd., S. 20f. »Für mich ist Fernsehen so was, wie für andere die Natur«, heißt es später in Abfall für alle, »was Großartiges, Herrliches, Geheimnisvolles, was Unerschöpfliches, längst noch nicht wirklich Erzähltes, befriedigend Erfaßtes usw.« (Afa, 119) Goetz, Hirn, S. 21. Lawrence Alloway: The Long Front of Culture. In: ders.u.a. (Hg.): Modern dreams: The Rise and Fall and Rise of Pop. New York: Institute for Contemporary Art 1988, S. 31-33, hier S. 31. Vgl. ausführlicher zur Bedeutung Alloways das Kapitel »Die Entstehung des Pop aus der Pop Art 1955-1964« bei Thomas Hecken (Hecken, Pop, S. 51-92).
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Lesungen aufgezeichnet und an jedem Wettbewerbstag zusammengefasst im Österreichischen Fernsehen (ORF) ausgestrahlt wurden.12 Diese Aufzeichnung ermöglichte es, dass sich die Bilder des sich ereifernden Goetz, der sich während des Lesens mit einer Rasierklinge in die Stirn schnitt und seinen Text blutend zu Ende las, weiterverwenden ließen und so das mediale Bild des Debütanten prägten. Carla Spies und Thomas Doktor weisen nach, dass das einem medialen Grenzübertritt gleichkommt. Literarische Inhalte im Fernsehen zu senden, war, so erläutern sie es, nur unter dem Schlüssel der Novität möglich. Erst »[d]er Anlaß ›Wettbewerb‹ mit der Signalwirkung der Agonität von Innovationen macht eine literarische Veranstaltung wie Klagenfurt für das Fernsehen sendefähig.«13 Zusätzlich zur Entscheidung, Literatur überhaupt im Fernsehen auszustrahlen, wurden bei der Auswahl der Sendezeit ökonomische Selektionsmechanismen angewandt, weshalb davon auszugehen ist, dass die Zusammenfassungen der Lesungstage spätabends gesendet wurden und nur eine geringe Einschaltquote erreichten. Der eigentliche Skandal von Klagenfurt 1983, folgern Spies und Doktor, war dann, dass Ausschnitte aus der Sendung, die für einen engen Kreis an literaturinteressierten Zuschauern bestimmt war, in einem Nachrichtenprogramm der ARD, das bedeutet: massenwirksam, aufgegriffen wurden und dass auf der Seite der Printmedien dank Goetz’ Stirnschnitt nicht nur das eigentlich für die Literatur zuständige Feuilleton der größeren Tageszeitungen über das Wettlesen berichtete – der blutende Goetz und die dazugehörigen Bilder wurden damit Pop. Haben wir für den Auftritt von Rainald Goetz und den Kulminationspunkt der Schnittwunde eine mediale Grenzüberschreitung behauptet, so verläuft diese im Fernsehen und in den Printmedien über die Grenze der konventionellen mediensubsystematischen Selektivzuweisungen hinweg. Für das Fernsehen heißt das konkret, daß das Bild der blutenden Stirn des lesenden Rainald Goetz eben geeignet war, über das reguläre mediale Subsystem hinaus bis in die Tagesthemen weiter verwendet und gesendet zu werden. Darin liegt der »Skandal« von Klagenfurt begründet!14 In der Sekundärliteratur ist hinreichend darauf hingewiesen worden, dass der Skandal, den Goetz mit seinem Rasierklingenschnitt verursachte, mit großer Wahrscheinlichkeit kalkuliert war und werbestrategische Absichten verfolgte.15 Wie Peter Handke bei seinem Auftritt während der Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1966 in Princeton, mit dem Goetz’ Beitrag in Klagenfurt wiederholt verglichen 12 13 14 15
Vgl. Heinrich Vormweg: Vorwort. In: Humbert Fink/Marcel Reich-Ranicki: Klagenfurter Texte zum Ingeborg-Bachmann-Preis 1983. München: List 1983, S. 7-11, hier S. 9. Thomas Doktor/Carla Spies: Gottfried Benn – Rainald Goetz. Medium Literatur zwischen Pathologie und Poetologie. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 103. Ebd. Vgl. detailliert ebd., S. 87-90.
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wird, hatte Goetz beim Bachmann-Wettbewerb längst einen Vertrag für seinen ersten Roman bei Suhrkamp in der Tasche. Irre, aus dessen Beginn des zweiten Kapitels sich der Anfang des Kurztextes Subito speist, erschien nur wenige Monate nach der Lesung. Dies galt ohnehin für viele der am Wettbewerb teilnehmenden Autoren: »Eine Einbandschleife für die jeweilige Neuveröffentlichung im Herbst zu drucken, die den jeweiligen Autoren oder die Autorin als aktuellen Preisträger ausweist«, so zeichnen es noch einmal Spies und Doktor nach, »dürfte angesichts der […] organisatorischen Planungsfähigkeit der Verlagshäuser kein nennenswertes Problem dargestellt haben.«16 Die »telegene[] Wunde«17 von Goetz stehe für ein Konstrukt, das sich, schließt Kreknin, sowohl aus dem Text Subito als auch der Performanzebene von Goetz’ Vortrag in Klagenfurt sowie dem Roman Irre zusammensetze, und das »seine volle semantische Dimension nicht auf dem Papier und nicht durch den blutenden Schnitt, sondern in dem Zusammenspiel dieser beiden Bereiche« entfalte und erst komplettiert wird durch »die mediale Reproduzierbarkeit der audiovisuellen Aufzeichnung«: Die Anlage dieses Konstrukts, und damit auch des Romans Irre, sei damit »transmedial[]«18 . Die Fernsehbilder, die mit Bezug auf Goetz’ Lesung in den Tagesthemen reproduziert werden, sind aber keine Literatur mehr. Der Schnitt, den Goetz sich zufügt, »markiert« – noch einmal mit einer Beobachtung Derridas zu Sollers’ Nombres, der in Anlehnung an Mallarmé den Schnitt als einen von mehreren Zugangspunkten zum Roman isoliert – »freilich die Unterbrechung des Textes«19 , er zieht eine Differenz ein: Mit ihm ist das Vorgelesene nicht mehr Literatur, sondern Fernsehen. An dieser Unvereinbarkeit der beiden Medien wird Goetz sich fortan abarbeiten. Zehn Jahre später, für die Materialbände 1989, die Teil des Werkkomplexes FESTUNG sind, nutzt Goetz umgekehrt audiovisuelle Aufzeichnungen für die Produktion von Literatur. Der Kreis, der von einem geschriebenen Text in Gestalt von Goetz’ Wettbewerbsbeitrag Subito ausging, und dank seines Schnitts zu laufenden und sprechenden Bildern im Fernsehen mit massenmedialer Wirkung wurde, wird in dem drei Teilbände umfassenden Buch 1989 in spiegelbildlicher Folge geschlossen: Aus Fernsehen soll geschriebener Text werden. Für die Pop-Literatur ist die Beschäftigung mit elektronischen Aufzeichnungs- und Wiedergabemedien, mithin auch mit Kino und Fernsehen, etwas geradezu Ursprüngliches. Es ist wiederum Rolf Dieter Brinkmann, der in seinem programmatischen Essay Der Film in Worten die Themen und Arbeitsmethoden der ›Neuen amerikanischen Szene‹ preist, der die Anthologie Acid gewidmet ist. Diese würden »direkt oder indirekt auf die elektrifizierte, durch Elektronik veränderte Großzivilisation hin[weisen], die als die 16 17 18 19
Ebd., S. 90. Christian Schultz-Gerstein: Der rasende Mitläufer. In: Der Spiegel 39/1983, S. 244 & 247, hier S. 244. Dieses wie die vorhergehenden Zitate: Kreknin, Poetiken des Selbst, S. 113. Derrida, Dissemination, S. 338.
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›natürliche‹ angenommen worden ist und die man zu durchdringen versucht«20 . Die Zugangsweise der Kunstschaffenden dieser Szene stünde diesen Medien, wie etwa in Europa der Fall, nicht grundsätzlich kritisch gegenüber, sondern impliziere, dass »die Verwendung technischer Apparate ebenso zur Steigerung des Einzelnen dienen kann, zum Vollzug unkanalisierter, spontan schöpferischer Produktivität«21 . Brinkmann entwirft demgemäß den Aufbau eines Schreibtischs für einen Pop-Literaten: »[Z]wei Fernsehapparate aufeinandergestellt, sie sind angestellt und verschiedene Bilder laufen gleichzeitig ab, doch der Ton ist zurückgedreht, aus den zwei Verstärkern des Schallplattengeräts daneben kommt Musik«22 . Diesem Vorschlag einer Schreibtischvorrichtung scheint Goetz für sein Projekt 1989 in etwa gefolgt zu sein. Anlässlich einer Neuveröffentlichung der Materialbände 15 Jahre nach ihrem ursprünglichen Erscheinen fügt der Suhrkamp Verlag der Publikation ein Beiheft hinzu, in dem Goetz den Versuchsaufbau seiner Medienmitschrift wie folgt rekonstruiert: Die verschiedenen Kanäle, die gleichzeitig sendeten, das Abgerissene mehrerer simultan verfolgter Erzählungen […]. Vor mir standen drei Fernseher und zwei Videorekorder, und während die Stunden des Tages vergingen, saß ich in dieser sehr handwerklichen, fast stumpfen, meditativ-repetetiven und zugleich akkordartig agitierten Arbeit eines maximalen Protokolls.23 1989 ist, wie es die Inhaltsangabe der Bände anführt, »Zeitmitschrift der großen öffentlichen Rede in den Medien«24 – Goetz hat das Fernsehen abgeschrieben. Natürlich nicht vollständig oder genau, aber in Ausschnitten, die aufgrund ihres schieren Ausmaßes, in Kombination mit der erschwerten Lesbarkeit ob des Fehlen eines Plots oder einer ähnlich gearteten Handlungsstruktur, tatsächlich ein Bild der Medienflut der Jahre 1989 und 1990 wiedergeben, aus den Bereichen Politik, Sport, Unterhaltung; zusammengesetzt aus Fernsehen, Zeitungen, Stimmen um Goetz herum und Stimmen, die aus Goetz herauskommen, ohne dass die unterschiedlichen Quellen als solche kenntlich gemacht würden.25 »[W]o kurz Schrift war«, schreibt Goetz in Abfall für alle, »von 1648 bis 1933 vielleicht, sind heute wieder Bilder. Und die mediale Erzählung der Welt, die ununter-
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Brinkmann, Film in Worten, S. 382. Ebd. Ebd. Für die Deutung dieses Aufbaus als Schreibtisch eines Literaten, der sich gegen eine Form des Essay-Schreibens wendet, die zu akademisiert und anti-technisch ist, vgl. Georg Stanitzek: Essay – BRD. Berlin: vorwerk 8 2011, S. 170. Rainald Goetz: Beiheft zu 1989. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 2. Goetz, 1989.1, S. 2. Vgl. Brigitte Weingart: Flüchtiges Lesen: TV-Transkripte (Goetz, Kempowski, Nettelbeck). In: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hg.): Transkribieren. Medien/Lektüre. München: Fink 2002, S. 91-114, hier S. 97.
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brochen überall da ist, hat die real anwesende Menge von Sprache zugleich unendlich exponentialisiert.« (Afa, 677) Das Projekt 1989 verwandelt diese gesprochene ›Erzählung der Welt‹ in einen gedruckten Text. In Goetz’ Worten spricht in den drei Materialbänden einzig »in praktisch automatischer Form, die Stimme des reinen Materials«26 . Brigitte Weingart und Ulrich Plass weisen einhellig nach, dass das natürlich eine kühne Behauptung bleiben muss. »[T]here is no such thing as pure material«27 , urteilt Plass, weil »jede Transkription die Lektüre des Gegenstands als einen produktiven Akt voraussetzt, der diesen notwendig transformiert«28 , so Weingart. In 1989 zeigt sich die Transformation ohne Frage an den Selektionsmechanismen, die für eine Bearbeitung von Material so oft in Stellung gebracht werden. Allerdings ist das (Schrift-)Bild, welches der Text durch die Transkription letztendlich gewinnt, das eindringlichere Merkmal für die Gestaltung des reinen Materials. Nicht umsonst kennzeichnet Goetz das Textbild in der Inhaltsangabe als ein »Wortgebirge gegenwärtig gesprochener Sprache«29 . Dem Postkartenidyll eines Gebirges gleich, ist der Text für Goetz deshalb weniger etwas zum Lesen als etwas zum Anschauen.30 Er fasst die Medien in den Bänden 1989 in Versen zusammen, oft sind die Seiten zweispaltig gesetzt. Auf die derlei gestaltete Aufteilung lässt sich auch das im vorangegangenen Kapitel beschriebene Schriftbild des Theaterstücks Jeff Koons rückbeziehen. Goetz nämlich vergleicht das Fernsehen mit dem Theater: Wahrnehmung und Mitschrift wurden szenischer. Michael Gorbatschow und Helmut Kohl, hier gibt es einen Händedruck; Gorbatschow in Bonn, in Stuttgart, immer live, er spricht vor den Arbeitern einer Fabrik. Die spezifisch theatrale Komponente der Fernsehtexte bemerkte ich erst jetzt, es sind ja auch Regieanweisungen ohne Ende. Der Fernseherzähler spricht darüber, was er sieht, wiederholt in dem von ihm Gesagten dauernd das, was gleichzeitig auch für den Zuschauer im Bild zu sehen ist. Diese Verdopplung ergibt für den Text, unter dem Druck der sprachlich real gar nicht einholbaren Bilderfluten, eine eigentümlich simplifizierte Standardwelterzählung, die dabei aber immer auf den hochkomplexen Bildgesamteindruck bezogen bleibt, den sie signalisiert, nicht beschreibt. Und dieser rechte Haken: reicht schon, man hat den Ring, den Kampf, die johlenden Zuschauer direkt vor Augen.31 26 27 28 29 30 31
Goetz, 1989.1, S. 2. Ulrich Plass: Journalism, Television, Poetry: Rainald Goetz’s 1989. In: The Germanic Review. Literature, Culture, Theory 81, No. 3 (2006), S. 202-220, hier S. 204. Weingart, TV-Transkripte, S. 99. Goetz, 1989.1, S. 2. Vgl. Goetz, Beiheft zu 1989, S. 5. Vgl. ebd., S. 2. Eine ähnliche Stelle findet sich auch in Abfall für alle: »Dieses dauernde Nacherzählen gleichzeitig gezeigter und allen sichtbarer Bilder. Der umgekehrt theatrale Aspekt dieser Alltagstexte. Regieanweisungen ohne Ende. Dauernd wird in Worten gesagt, was geschieht, was zu sehen ist. Als würde man es nicht sehen. Als wäre man blind.« (Afa, 413)
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Augenfällig wird die Theatralität des Schriftbildes – mit dem Begriff Poschmanns: die Texttheatralität32 – an Goetz’ Mitschrift des finalen Tennismatches von Wimbledon 1989 zwischen Boris Becker und Stefan Edberg. Sein Protokolltext ist in zwei Spalten gesetzt, von denen man annehmen könnten, dass sie, wie bei einer Zeitung, nacheinander gelesen werden sollen. In Wirklichkeit aber sind sie nebeneinander gesetzt und lassen den Blick gleich dem Beobachten eines Tennisspiels von der einen Spielfeldseite zur anderen schweifen.33 Goetz’ Blick legt die Gleichzeitigkeit von Stimmen und Bildern im Fernsehen offen, die er sonst, wie in dieser Arbeit wiederholt dargelegt, im Theater realisiert findet. Seine Beobachtungsposition bringt aber auch die Gleichzeitigkeit von vielen verschiedenen Stimmen, die sich in den Medien überlagern, zutage. In seinem Protokoll der Berichterstattung aus Wimbledon mischt sich so noch eine Stimme zu einem Formel 1-Rennen,34 zum Sport mischen sich ohnehin beständig Politik, Kultur und vice versa. Es ist das »Problem der sich selbst bewusstwerdenden Form«35 , das Goetz im Schriftbild von 1989 mitdokumentiert. In den Text zieht damit ein Moment von Gegenwärtigkeit ein, mit dem PopLiteratur paradigmatisch in Verbindung gebracht wird, und das bei Goetz mit dem Kennzeichen von Wirklichkeit einhergeht. »Gleichzeitigkeit: der absolute Irrsinn der Realität, unfaßbar, das Tollste überhaupt. Und dabei DIE Ultrabanalität, banaler gehts nicht« (Afa, 628), das Fernsehen erklärt er zu »einer einzigen WAHRHEITSMASCHINE«36 . In 1989 herrsche ein »Präsentismus«, der, wie Weingart es fasst, »den Schreiber zur a-medialen Durchlaufstation stilisiert«, der aber auch dem »gleichzeitigen emphatischen Setzen auf Schrift«37 gegenüberstehe. Wie schon für die Musik, die Goetz in Schrift umzusetzen sucht, gültig, ist ihm auch der Text, den Fernsehen und Tageszeitungen liefern, heilig: »Die täglich zigfach gebenedeite Tageszeitung/das heilige Fernsehen/OHNE WITZ/ihr Arschlöcher/das meine ich ernst/das zerreißt einem schier das Hirn/diese totale Sichtbarkeit/der ununterbrochen alltäglichsten Normalität«38 . Die Heiligkeit der Schrift erwächst aus der Fokussierung auf das Alltägliche, Normale und Banale, womit Goetz sich 32 33 34 35 36 37
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Vgl. Kap. 4.3 dieser Arbeit. Vgl. Goetz, 1989.1, S. 462-466. Vgl. ebd., S. 465. Goetz, Beiheft zu 1989, S. 4. Goetz, Kronos, S. 372. Weingart, TV-Transkripte, S. 101. Weingart führt folgendes überzeugendes Zitat dafür an: »Die Leidenschaft ist nur zu gut verständlich, die durch das Abschreiben von öffentlich gesagten Sachen, im Fernsehen etwa, in dem Schreiber [sic], der das mitschreibt, sich entfacht, weil er schreibend wirklich mitschreibt mit der Wirklichkeit. Schließlich aber sind die Worte hin gedruckt nicht Hinweis auf sich selbst und ihre Wirklichkeit, die sie jetzt stumm gefroren sagen, sondern viel stärker Hinweis auf die Leidenschaft des Schreibers, der sie fest gebannt hat durch die Abschrift.« (Goetz, Kontrolliert, S. 49) Goetz, Festung, S. 48.
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klar dem Programm von Pop – etwa dem durch Warhol und Brinkmann überlieferten – verschreibt,39 zugleich aber ein viel weiter in der Zeit zurückweisendes Modell von Schriftgläubigkeit bedient: »One of the ironies in Goetz’s monumental Pop project lies in its return to an ancient model of writing as praise of the divine, based on the conviction that all text is sacred.«40 Dem Fernsehen, wie der Musik und den Bildern im Allgemeinen, ist Goetz zufolge eigen, dass es eine unmittelbare Reaktion bei den Betrachtern oder Zuhörern hervorruft; dieser Emphase, die er mit der Eigenschaft gleichsetzt, einen Raum füllen zu können, steht die Schrift machtlos gegenüber: »[I]m Fernsehn [gibt es] einen space und in der Literatur ist es bloß eine Behauptung«41 , heißt es dazu im Roman Irre, »Musik füllt den Raum, Schrift NICHT« (Afa, 213) im Weblog Abfall für alle. Literatur und Fernsehen bzw. Literatur und Musik bleiben also unvereinbar. Nur weil Goetz in 1989 das Fernsehen mitschreibt, entsteht daraus nichts, was den ›space‹ des Fernsehens einholen könnte. Die Bilder, die Goetz abschreibt, sind keine Bilder mehr, sondern Schrift. Auch die Techno-Beats, die er in ihrer Monotonie in Schrift wiedergibt, sind keine Musik mehr. Weingart aber erklärt die Strategie von Goetz, »die den Mangel an Übertragungsmöglichkeiten, also die mediale Spezifität des Transkripts, nicht unterschlägt, sondern als Restriktion, aber auch, emphatisch formuliert, als ›Chance‹ betont«42 , für eine wirkungsvolle Vorgehensweise. Die Künste und Medien, die Goetz gegenüber der Schrift für potenter hält, werden von ihm beständig in Schrift transformiert, weil er die Heiligkeit der Schrift propagiert und dieser mittels seiner Sprachpraxis Ausdruck verleiht. Seine Sprache verleibt sich Bilder, Musik und Fernsehen als Orientierungspunkte ein, um auch die Schrift mit einer Ahnung von Raum, Sound und Gegenwärtigkeit auszustatten.43 Die Werkgruppe FESTUNG hat mit der dreibändigen Materialsammlung 1989 – dem vom Theaterstück Festung und der Textsammlung Kronos fest umschlossenen Zeitkern – einen sehr seitenstarken Mittelpunkt, der das Fernsehen zentriert. Auch 39
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Im Beiheft zur Neuauflage von 1989 heißt es dementsprechend: »Mein Motto war ein WarholZitat aus ›POPism‹, in jedem der drei Teilbände dasselbe, weil ich den sowieso deutlichen Bezug zur amerikanischen Popkultur der 60er Jahre noch einmal betonen wollte, um die textexperimentelle Seite von ›1989‹, auch das besonders Visuelle der Textbildhaftigkeit des Resultats, in den historischen Kontext der Idee Pop zu stellen: die Grundorientierung auf Alltag, Material, Konkretes, Gegenwart, Banales, Populäres usw. als eine explizit künstliche, abstrakte, eben in der Logik der Kunst begründete Formentscheidung vorzuführen. Und dass dabei trotz aller Inkommensurabilität der schriftlichen Dokumentation ein den Fluten des Medialen gegenüber sinnvoller Weltorientierungsversuch gemacht wird, der zugleich aber gerade auch im üblichen Sinn des Begriffs Pop noch kickt und knallt.« (Goetz, Beiheft zu 1989, S. 5f.) Plass, Journalism, Television, Poetry, S. 214. Goetz, Irre, S. 309. Weingart, TV-Transkripte, S. 113. Vgl. Schumacher, From the garbage, S. 206.
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in der darauffolgenden Werkgruppe HEUTE MORGEN ist das Fernsehen präsent. Zuallererst und allem übergeordnet durch das Motto, das dem gesamten Buchkomplex voransteht. Dieses hat Goetz einem Kontext entlehnt, der über den medialen Verweisungshorizont des Buchs HEUTE MORGEN hinausgeht – der Harald Schmidt Show: »Heute morgen,/um 4 Uhr 11, als ich/von den Wiesen zurückkam,/wo ich den Tau aufgelesen habe« (Ra, 3). Schmidt hat diesen Satz über einen längeren Zeitraum jeweils zum Beginn einer Sendung rezitiert, Goetz ist treuer und aufmerksamer Zuschauer der Show. In den Tagesnotaten Abfall für alle ist regelmäßig davon zu lesen, was in der Harald Schmidt Show passiert und wer die Gäste sind (vgl. Afa, 15, 78, 110, 146, 173 usw.); wenn Goetz die Sendung nicht live mitverfolgen kann, zeichnet er sie sich per Videorekorder auf und schaut die Videos meistens nachts, wenn er vom Feiern nach Hause zurückkehrt (vgl. Afa, 119). Goetz feiert Schmidt vor allem als »Sprach-Maniac« (Afa, 297), der zu Recht Preise für seine Sprachkultur erhalten habe. Ihm gehe es bei Schmidt nicht um die Witze, sondern um das Sensorium für soziale Realität, das ganz weit außen, am real praktizierten Sprach-Ding hängt und wahrnimmt.//[…] Er kommt sozusagen von der phonetisch-poetischen Aufmerksamkeit des Gedicht-Worts her.//[…] Und dieses poetisch so geeichte Ohr scannt also auf die Art alle Reden, die im öffentlichen Raum geäußert werden. Es gibt im Kosmos der Aufmerksamkeits-Form von Harald Schmidt kein unmittelbares, medienjenseitiges Sprechen.//[…] Die Realität der Sprache also.//Harald Schmidts Auftritte handeln von diesem Wissen über die mediale Welt, und bringen es täglich neu, ohne es auszubreiten, in Populargestalt zur öffentlichen Anwendung.//Das, was für die alte Bundesrepublik etwa Hans Magnus Enzensberger und Adorno erledigt haben, bringt heute also, – minimale Übertreibung, aber im Prinzip stimmts –, Harald Schmidt unter die Leute.//Also: Landessprache, Eingriffe, Einzelheiten, Stichworte, Blindenschrift, Palaver, Prismen (Afa, 298f.) Diese Faszination für Schmidts Umgang mit der Sprache, die Goetz aus dem Fernsehen erfährt, eröffnet und begleitet den Werkkomplex HEUTE MORGEN aber nicht nur, sondern beschließt ihn auch. Es ist die letzte, Suhrkamp-eigene Veröffentlichung der Reihe, die Erzählung Dekonspiratione, die als Versuch eines »Medien-Roman[s]« (De, 79) ein Fernsehformat entwirft, das schließlich in die Tat umgesetzt wird. Einer der Protagonisten von Dekonspiratione, der Mitarbeiter einer TV-Produktionsfirma ist, hat ein »Kultur-Talk-Format« unter dem Titel »NOTHING SPECIAL« (De, 20)44 entwickelt: »Eine wöchentliche Talkshow übers
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Der Titel ist noch einmal eine Hommage an Andy Warhol (vgl. Afa, 338). In The Philosophy of Andy Warhol ist folgendes Gespräch aufgezeichnet: »I wake up and call B./ ›Hello.‹/ ›A? Wait and I’ll turn off the TV. And pee. […]‹/I waited for B to pee./ ›Go on‹, she said finally, ›I just woke up, my mouth is dry.‹/ ›I wake up every morning. I open my eyes and think: here we go again.‹/
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Fernsehen. Drei feste Leute, ein Gast, fünf vorher festgelegte Sendungen der vergangenen Woche, die dann nach Art des literarischen Quartetts diskutiert werden. In der Mitte gibt es einen 7minütigen Block mit freien Themen.« (De, 60)45 Bereits im Jahr nach der Veröffentlichung von Dekonspiratione findet dieses Projekt tatsächlich seine Umsetzung im Fernsehen. Innerhalb der Reihe der Gesprächsrunde nachtstudio, die zwischen 1997 und 2012 wöchentlich im ZDF ausgestrahlt wurde, wird im September 2001 Raum für das in der Erzählung skizzierte Format freigemacht. Nicht wöchentlich, aber auf drei aufeinanderfolgende Ausgaben festgelegt – darin, wie in der Nichtberücksichtigung des siebenminütigen freien Themenblocks weicht die Umsetzung vom Entwurf in der Erzählung ab –, wird das Format unter dem Titel Fernsehen I, II und III im ZDF gezeigt, und zwar, den auch 18 Jahre nach Klagenfurt geltenden Gepflogenheiten für Kultursendungen entsprechend, am sehr späten Abend. Bereits der Titel Fernsehen weist auf die Selbstreflexivität des Formats hin. »Wir werden über Fernsehen im Fernsehen reden, live und aktuell«46 , kündet der Begrüßungstext der Sendung. Zu den drei festen Mitgliedern der Talk-Runde gehört neben dem nachtstudio-Moderator Volker Panzer und dem Autoren und Journalisten Moritz von Uslar auch Goetz. Er zeigt sich damit knapp zwei Jahrzehnte nach seinem Auftritt in Klagenfurt – den Ausreißer mit »Beatbox Rocker« zu Top of the Pops ausgenommen – zum ersten Mal wieder im Fernsehen. Hinzu kommt pro Sendung jeweils ein weiblicher Gast: Alexa Hennig von Lange, Klaudia Brunst sowie Barbara Sichtermann. Besprochen werden fünf ausgewählte TV-Sendungen aus der vor der Ausstrahlung der Sendung liegenden Woche, die sowohl aus dem sogenannten Qualitätsfernsehen – darunter Kulturzeit (3sat) und Abenteuer Wissen (ZDF) – als auch aus dem Unterhaltungssektor stammen – wie etwa TV total (ProSieben), MTV – Die Clips (MTV) oder die Serie Sex and the City (ProSieben).
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›I get up because I have to pee.‹/ ›I never fall back to sleep,‹ I said. ›It seems like a dangerous thing to do. A whole day of life is like a whole day of television. TV never goes off the air once it starts for the day, and I don’t either. At the end of the day the whole day will be a movie. A movie made for TV.‹/ ›I watch television from the minute I get up,‹ B said. ›I look at NBC blue, then I turn to another channel and look at the background in a different color and see which way it looks better with the skin tones on the faces. I memorize some of Barbara Walters‹ lines so I can use them on your TV show when you get it.‹/B was referring to the great unfulfilled ambition of my life: my own regular TV show. I’m going to call it Nothing Special.« (Warhol, The Philosophy of Andy Warhol, S. 5f.) Für die spätere Umsetzung von Goetz’ literarischem Entwurf im TV wird der Titel allerdings geändert. Auch hier wieder der Hinweis darauf, dass in der kurzen Beschreibung des Formats die Zahlen 3, 5 und 7 abermals ihren Platz haben: Drei feste Beteiligte, fünf Sendungen der vergangenen sieben Tage einer Woche und ein siebenminütiger freier Themenblock. ZDF: nachtstudio vom 05.09.2001 – Fernsehen I, Teil 1/5. In: https://www.youtube.com/watch?v=XuL0Z7ZGkp4 (01.12.2019), 00:35-00:41 [Transkription L.H.].
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Das in der Literatur aufgesetzte Konzept der Fernsehsendung führt, so stellt es Natalie Binczek dar, »dem Fernsehen vor Augen, was diesem fehlt, nämlich ein Format, innerhalb dessen es über sich selbst spricht.«47 Das Reden über Fernsehen im Fernsehen soll sich an Literatur orientieren, es soll so funktionieren, wie das Literarische Quartett über Bücher spricht. Das Setting im Fernsehstudio des ZDF sieht entsprechend literarisch aus: Neben einem Fernseher, der mit Ausschnitten aus den besprochenen Sendungen das Fernsehen verdoppelt, ist der Fußboden vor den Diskutanten mit Gelesenem gepflastert, größtenteils sind Zeitungen ausgebreitet; die zur Schau gestellten Handbibliotheken enthalten Bücher von Goetz und Luhmann.48 Im Entwurf der Sendung in der Erzählung wie in der konzeptionellen Ausrichtung des Fernsehformats sind die Medien Literatur und Fernsehen so noch einmal potenziert miteinander verschränkt. Für Goetz gelte es, fasst Gregor Schwering zusammen, »das Modell der Literatur nicht einfach auf die Television zu übertragen, sondern es in ihr ins Werk zu setzen.«49 Da die tatsächliche Fernsehsendung in direkter Beziehung zum literarischen Werk Dekonspiratione steht – der Moderator Panzer stellt dies anhand des entsprechenden Zitats aus der Erzählung zu Beginn jeder Sendung aus –, kann Goetz’ Fernsehauftritt, der gemeinhin eher als Epitext des Werks angesehen würde, ohne Weiteres als zum Werk gehörig und hier deshalb zur Grundlage der hermeneutischen Interpretation des (literarischen) Werks erklärt werden. Binczek schließt das mit der Bedeutung kurz, die das Fernsehen für Goetz’ Schreiben im Generellen hat, und die sie als eine ›Poetik des Sekundären‹ fasst: Auf der Grundlage einer solchen über das ›Primärinteresse am Sekundären‹ bestimmten Literaturkonzeption müssen auch Arbeiten und Projekte als Bestandteil des literarischen Werks berücksichtigt werden, die nach Maßgabe eines normativen Literaturverständnisses als bloße Kommentare, Vorarbeiten oder Übungen allenfalls dem Bereich der parerga zuzuordnen wären.50 Die Fernsehen-Sendungen sind damit genauso Teil des Gesamtwerks von Goetz wie die Audio-CDs Word und Heute Morgen, die konkrete Werkumgebung der Talkrunde ist der Buchkomplex HEUTE MORGEN. Allerdings gehören die Sendungen als Fernsehen und nicht als Literatur zu Goetz’ Werk. Goetz’ Fernsehidol, die Harald Schmidt Show, hätte in der zweiten und dritten Ausgabe der Sendung besprochen werden sollen, allerdings fällt sie in beiden Wo47 48 49
50
Natalie Binczek: Fernsehauftritte der Literatur: Rainald Goetz. In: Sprache und Literatur 109 (2012), 1. Halbjahr, S. 73-88, hier S. 79. Vgl. ebd., S. 80f. Gregor Schwering: Literatur im Fernsehen/Fernsehliteratur. In: Handbuch Medien der Literatur. Hg. v. Natalie Binczek/Till Dembeck/Jörgen Schäfer. Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 323-332, hier S. 330. Binczek, Fernsehauftritte der Literatur, S. 75.
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chen wegen der Anschläge am 11. September 2001 und den nachfolgenden intensiven Berichterstattungen aus. Trotzdem ist die Show, wie es Binczek ausführt, die »fernsehästhetische Richtschnur, an der sich beinahe jede der besprochenen Sendungen implizit messen lassen muss«51 . Gegenüber Stefan Raabs Show TV total wird die Harald Schmidt Show etwa dahingehend in Stellung gebracht, dass es in ihr nicht um Bilder, sondern um Sprache gehe.52 Die Harald Schmidt Show ist so der Prototyp eines Redens über das Fernsehen im Fernsehen. Genau um die Sprache, die das Fernsehen produziert, ging es Goetz in der zu Literatur geformten Fernsehabschrift 1989, und um das Verhältnis von Fernsehen und Literatur, von gesprochenem und gedrucktem Text, geht es Goetz auch in der Anlage der TalkSendung. Er umreißt die für ihn wichtigen Fragen im letzten Teil der dritten und abschließenden Sendung wie folgt: Wie fernsehen wir? Wie reden wir darüber? Welche Rolle spielen gedruckte Texte? Wie kriegen wir diese Art von Information, die dort prozessiert wird, in ein Reden über das Fernsehen im Fernsehen rein? Und welche Rolle könnte die Kunst spielen – im Verhältnis dazu, dass das Fernsehen vielleicht das größte Kunstwerk des 20. Jahrhunderts überhaupt als Ganzes ist?53 Für Goetz ist das Kunst-Nahe am Fernsehen, resümiert er in der Sendung, »die reine Passivität, das rein-Rezeptive«54 , ein Moment der Stille auf Seiten der Rezipienten, weil nur dann, so Goetz weiter, »die sprachlichen Vorgänge, die dort stattfinden, in Relation zu den bildlichen […] eine andere Gewichtigkeit bekommen.«55 Goetz wiederholt damit den eingangs zitierten Hauptaspekt seines Schreibens aus seiner Poetikvorlesung, der im Aufnehmen besteht. Im so gearteten Gebrauch des Mediums Fernsehen setzt für ihn die Produktion von Schrift ein, da er den Text, der dort gesprochen wird – im Gegensatz zur sozialen Situation, in der das nicht möglich ist –, dauernd mitschreiben kann.56 Das Fernsehen hat indes der Kunst noch etwas voraus. Goetz charakterisiert die Kunst der Zeit als ein »wahnsinnig träge[s] Gerät«, das »aufgrund ihrer Rezeptionsüberlast, aufgrund der Wahrheitsvorstellungen, die sie zu einem […] Forschungsinstitut für Aspekte der Wahrheit, die im Moment zu kurz kommen, macht«, einem sehr »hohen Druck von Realität«57 ausgesetzt ist, dem sie nicht schnell und adäquat
51 52 53 54 55 56 57
Ebd., S. 82. Vgl. ZDF: nachtstudio vom 05.09.2001 – Fernsehen I, Teil 2/5. In: https://www.youtube.com/watch?v=K08lI-F47tw (01.12.2019), 04:11-04:17 [Transkription L.H.]. ZDF: nachtstudio vom 19.09.2001 – Fernsehen III, Teil 5/5. In: https://www.youtube.com/watch?v=MjaF1Ls2Aek (01.12.2019), 00:32-00:49 [Transkription L.H.]. Ebd., 03:47-03:50 [Transkription L.H.]. Ebd., 04:41-04:48 [Transkription L.H.]. Vgl. ebd., 04:50-05:01. Ebd., 07:05-07:37 [Transkription L.H.].
5. Schöpfung
genug begegnen kann. Das Fernsehen besitze genau diese Fähigkeit, dem Druck der Realität zu begegnen, und könne dann zum Kunstwerk werden, wenn man eine »Art Infektion […] von der Seite der Kunst irgendwie ins Fernsehen versucht reinzusetzen«58 , was bei Goetz in der Idealvorstellung eines Formats aufgeht, in dem Harald Schmidt, Günther Jauch, Roger Willemsen und ein wechselnder Gast genau das Konzept jener Sendung nachverfolgen würden, in der Goetz diese Behauptung von sich gibt.59 Wenn auch in zwei unterschiedlichen Bänden, so doch in ein und demselben Buchkomplex kann Goetz deshalb die Love Parade und das Fernsehen zum ›größten Kunstwerk‹ erklären. Fernsehen und Musik sind die Nachtseite eines mit Realismus zu bezeichnenden Schreibverfahrens, dem Goetz tagsüber nachgeht, wie es eine knappe Zusammenfassung der Arbeit an 1989 von Goetz deutlich macht: »In wenigen Wochen hatten sich viele hundert Seiten Text vor mir aufgeworfen. Nachts war ich beim Feiern.«60 Diesem Programm des Realismus ist auch der Theatertext Jeff Koons als Schnittstelle von Nacht und Tag verpflichtet. Beispielhaft steht im Stück dafür eine Szene, wie ›9. Das Klo‹ im ›Dritten Akt‹, die offenbar eine so oder so ähnlich stattgefundene Unterhaltung aus dem Nachtleben in die Toilette der ›Palette‹ verlegt – und so das, was man im sozialen Raum eigentlich nicht mitschreiben kann, in der Art der Abschrift des Fernsehens, das isoliert rezipiert wird und sich zum Mitschreiben eignet, aufzeichnet: ich bin aber gar nicht richtig/in ihn verliebt/ich finde ihn halt süß/und er faßt sich gut an/erst bißchen kucken/dann bißchen küssen und/und dann sieht man ja/obs das bringt/und wohin das führt/vielleicht ist man ja/auch nur ein bißchen scharf auf irgendwas/das wäre doch auch was Schönes/oder nicht? (Jk, 20) Dekonspiratione als die Erzählung, die das Format der Sendung Fernsehen vorgibt und auf diese Weise – potenziert durch die tatsächliche Realisierung der Sendung – die Beschäftigung mit dem Medium Fernsehen in Goetz’ Werk vor Augen stellt, legt einen Teil der spezifischen Praxis des Autors offen, die im Folgenden anhand der Erzählung sowie der Poetikvorlesungen betrachtet wird. Die Erzählung erfüllt damit den Anspruch, den ihr Titel an sie stellt, in ebensolchem Maße wie die Poetikvorlesungen, die unter dem Titel Praxis firmieren.
5.2
Realismus – Aufdeckung der Schreibpraxis
Goetz entnimmt die Bedeutung des der Erzählung ihren Titel gebenden Begriffs ›Dekonspiration‹ dem Wörterbuch der Staatssicherheit. Das Wörterbuch basiert auf
58 59 60
Ebd., 07:47-07:51 [Transkription L.H.]. Vgl. ebd., 07:52-08:18. Goetz, Beiheft zu 1989, S. 3.
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einem Fund der mit der systematischen Erschließung der papiernen Hinterlassenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR betreuten Behörde des Bundesbeauftragten. Diese fand das als eine ›Geheime Verschlußsache‹ eingestufte Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit als Loseblattsammlung, die 1985 als zweite und letzte Auflage eines von Erich Mielke autorisierten Kompendiums an Definitionen erschienen war. Im Vorwort zu ersten Auflage von 1970 weist Mielke der Sammlung die Funktion einer MfS-offiziellen Sprachregelung zu. Das Wörterbuch sollte sowohl Begriffe aus dem Dienstalltag erläutern als auch die ›politischoperativen‹ Aufgaben der Mitarbeiter definieren, und hatte demnach zu gleichen Teilen deskriptive und normative Eigenschaften.61 Goetz setzt den WörterbuchEintrag in die Erzählung ein: Begriff »Konspiration«. Zitat aus dem Wörterbuch der Staatssicherheit. Hier oder später?//[…]//Hier. Dekonspiration. Offenbarung bzw. Enttarnung politisch-operativer Arbeitsprinzipien, Ziele und Absichten, Maßnahmen, Kräfte, Mittel und Einrichtungen, die in der Regel zu erheblicher Gefährdung der Realisierung operativer Aufgaben, wachsendem politischen Schaden, zum Verlust operativer Potenzen und zu einer weitreichenden Einschränkung ihrer Wirksamkeit führt. Die Ursachen für Dekonspiration sind differenziert. Konspiration. Zersetzung. Denken. Delikt. (De, 194f.) Bis auf das Ende entspricht die Definition tatsächlich dem Wortlaut des Wörterbuchs. In diesem werden der Begriffsklärung lediglich noch Empfehlungen, worauf sich die Aufmerksamkeit zur Verhinderung von Dekonspiration richten sollte, hinzugefügt.62 Da der Ausdruck aus dem Begriff der ›Konspiration‹ und der lateinischen Vorsilbe ›de-‹, die eine Aufhebung oder Rückgängigmachung eines Vorgangs bedeutet, zusammengesetzt ist, spielt Goetz auch immer wieder auf die geläufigere Vokabel der Konspiration an. Diese versucht er in der Erzählung ebenfalls zu definieren, und zwar direkt im Anschluss an den zitierten Wörterbuch-Eintrag: »Benjamin hatte mir erzählt, er hätte den einen Typen in Berlin damals gefragt, was das eigentlich heißt, Konspiration? Und der: zusammen atmen, unter einer Decke stecken. Und ich: Ah, genau, das Spirare der Piraten. Ratio. Ohne, ohne. Ohne nee.« (De, 195) Obwohl Goetz mit dieser Begriffsklärung die Definition aus dem Wörterbuch der Staatssicherheit eher ins Lächerliche zieht, als sie in ihrer Bedeutung zu bestärken, kann die Offenlegung und unfreiwillige Enttarnung von Arbeitsprinzipien nachgerade als Inhalt der Erzählung Dekonspiratione bestimmt werden.
61 62
Vgl. Siegfried Suckut: Vorwort. In: Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur »politisch-operativen Arbeit«, hg. v. dems. Berlin: Ch. Links 1996, S. 7-8, hier S. 7. Vgl. Art. Dekonspiration. In: Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur »politisch-operativen Arbeit«, hg. v. Siegfried Suckut. Berlin: Ch. Links 1996, S. 86.
5. Schöpfung
Dekonspiratione beginnt als eine, zugegeben: nicht durchgängige, aber doch über weite Strecken konventionell erzählte Geschichte von Katharina, die in einer Beziehungskrise mit ihrem Freund Benjamin steckt. Benjamin arbeitet bei der für TV-Inhalte verantwortlichen Medienagentur ›Public Sword‹ und ist Autor des oben beschriebenen Konzepts der Fernsehsendung ›Nothing Special‹. Goetz nutzt die Ansiedelung einer seiner Protagonisten der Erzählung in der Medienwelt, um deren Eigenarten auszustellen, bzw. – im Sinne der Wortbedeutung des Begriffs ›Dekonspiration‹ – deren Arbeitsprinzipien aufzudecken. Martin Jörg Schäfer zufolge zählt dazu einerseits ein zum Modus des Arbeitens gewordenes permanentes Kommunizieren und Geschichtenerzählen und andererseits flache Hierarchien, die den Wettbewerb befeuern.63 »Per Konflikt die kreativen Kräfte anstacheln« (De, 67), heißt das in der Logik des Medienunternehmens. Verschiedene Prinzipiengrenzen würden dadurch verschwimmen, urteilt Schäfer: »In der Allgegenwart der Kommunikation lassen sich nicht nur Arbeit und Nichtarbeit nicht unterscheiden. Auch Gemeinschaftlichkeit und Konkurrenz fluktuieren und gehen ineinander über.«64 Heraus käme dabei, das lässt die Erzählung Dekonspiratione verlautbaren, »der tägliche kleine Verrat, […], Misstrauen, Lüge, Intrige und Schrift; gezielte Zersetzung, Menschenzerstörung; Protokolle und Observation« (De, 175), womit der der Erzählung titelnahe Begriff der Konspiration ebenfalls in den Blick gerät. Durch die Verquickung des MfS-Vokabulars mit der Medienwelt ergibt sich eine erste inhaltliche Ebene des Titels Dekonspiratione. Goetz versucht das fehlende Vertrauen, das er am Beispiel des Vorwurfs der IM-Tätigkeit an Heiner Müller (vgl. De, 172-175) für den Zusammenbruch der DDR verantwortlich macht, auf die Medienwelt zu übertragen: Dass die DDR möglicherweise wirklich daran eingegangen ist, […], dass sie auf Nicht-Vertrauen gegründet war, anstatt, schwieriger, aber stabiler, auf das RisikoKonzept Vertrauen. Und was das dann alles heißen würde, für die gegenwärtigen Verhältnisse und ihr Verständnis, was man daraus lernen könnte eventuell, wenn man, geführt von dieser Frage, auf einzelne heutige gesellschaftliche Vorgänge kuckt./Zum Beispiel in der Welt der Medien. (De, 175)65 63 64 65
Vgl. Martin Jörg Schäfer: Die Gewalt der Muße. Wechselverhältnisse von Arbeit, Nichtarbeit, Ästhetik. Zürich/Berlin: diaphanes 2013, S. 510. Ebd. Goetz schiebt deshalb ein selbst gezeichnetes Bild des Covers von Luhmanns Veröffentlichung mit dem Titel Vertrauen (1968) vor das letzte Kapitel von Dekonspiratione (vgl. De, 163). Über das Vertrauen lässt Goetz zudem in Abfall für alle verlauten: »Das Wort ›Vertrauen‹ […] meint hier also nicht eine individuelle, emotionale Kategorie, sondern ein luhmannesk abstraktes Funktionsprinzip des Sozialen, dem aber zugleich doch auch, über diese Bezeichnung, ein helles Emphase-Moment beigegeben sein soll.//Eine Art ruhige, neutrale Außensicht also auf das alltägliche Handeln von Leute, deren Handlungsgegenstand oder Inhalt ja genau das Gegenteil ist: Innenwelt, Denken, Argumente, Text.« (Afa, 267)
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In der Erzählung Rave heißt es in Anspielung auf dieses Vorhaben vorausschauend über die zweite Erzählung des Buchkomplexes: »Im Feuilleton ist die Besprechung von – un, dos, tres – Ricky Martins Erzählung ›Dekonspiratione‹, wo es um Schirrmachers Selbstmord wegen seiner Stasi-Verstrickungen geht. Die Besprechung bemängelt vor allem den sogenannten Angriff ad personam.« (Ra, 135) Neben den Medien soll aber, wie bereits im Dramentext Jeff Koons, auch die Liebe noch einmal Thema der Erzählung sein, die in den Texten von Goetz vor dem Buchkomplex HEUTE MORGEN selten Platz fand.66 Wie zur Besänftigung der dieses Fehlen der Beschreibungen von zwischenmenschlichen Beziehungen monierenden kritischen Stimmen, heißt das Motto des ersten Kapitels der Erzählung nach einer Songzeile der Gruppe Absolute Beginner: »Ihr wollt ein Liebeslied, ihr kriegt ein liebes Lied.« (De, 15) Das erste Kapitel nimmt den Leser mit auf Katharinas Reise nach München, wohin sie nach einem Streit mit Benjamin flieht, das zweite Kapitel folgt Benjamin in den Arbeitsalltag der Agentur und das dritte Kapitel führt Katharina und Benjamin beim Besuch einer Lesung wieder zusammen. Bis dahin hätte man über die Erzählung resümieren können, wie Goetz es an späterer Stelle auch tut: »Die vielen realen Schreiberleben, die ich kannte und selber geführt hatte, sollten in Dekonspiratione zusammenkommen, geordnet von der Spannung des Plots der beiden gegenläufigen Handlungsstränge: Arbeit und Liebe.« (De, 141) Nach dem dritten Kapitel aber bricht die Erzählung um Katharina und Benjamin, die Geschichte von Arbeit und Liebe ab, und das Schreiber-Ich in den Plot hinein, wodurch die zweite inhaltliche Ebene des Titels Dekonspiratione aufgerufen wird: Die Enttarnung des Arbeitsprozesses des Schriftstellers Goetz. Goetz verhehlt diesen Abbruch der Erzählung nicht. Anders als im letzten Teil des Romans Irre, der programmatisch die Erzählerstimme in den Text hineinholt, entsteht in den letzten beiden Kapiteln von Dekonspiratione der Eindruck, Goetz müsse sich zu einem Unvermögen bekennen, was nicht anders als durch die IchPerspektive zu leisten ist. Er beginnt das vierte Kapitel – es trägt den sprechenden Titel ›Krise‹ – mit dem Bericht über ein Telefonat mit Kracht bezüglich seines Beitrags für dessen Anthologie Mesopotamia. »›Ich schaffe es nicht‹«, zeichnet Goetz das Gespräch am Telefon nach, »›es ist asozial, ich weiß, es hilft aber nichts. Es wird nichts, es geht nicht. Ich kriege es einfach nicht hin.‹« (De, 135) Goetz hatte einen wenige Seiten langen Text namens KOKAIN fürs Krachts Sammelband geplant, in dem es nicht um Drogen gehen sollte, sondern um »ein ganz alltägliches Grundmoment der Erfahrung […], nämlich um die Art, wie die Wahrnehmung von Sinnesdaten und Gedanken, vor den Worten im Bewusstsein abläuft.« (De, 137) Als
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In einem seiner früheren Texte heißt es: »[Ü]ber die Liebe rede ich nicht, habe ich mir geschworen, bis ich mehr davon verstehe als ihr Idioten alle miteinander, also möglicherweise nie.« (Goetz, Hirn, S. 173)
5. Schöpfung
er Kracht zugesichert hatte, etwas für Mesopotamia beizutragen, tat Goetz dies unter der Bedingung, vorher seine Erzählung Dekonspiratione fertigstellen zu müssen, weil er Verlagstermine einzuhalten hatte. Allerdings war er sich gleichzeitig sicher, dass er es schaffen würde, weil ihm die Geschichte bereits ganz klar vor Augen stünde und es genügend Notizen dazu gäbe.67 Dann jedoch stellt ihn zum einen die innere Thematik der Erzählung vor Probleme und zum anderen – und das mit gewichtigerem Einfluss – die der Literatur äußere Wirklichkeit, was letztlich dazu führt, dass er weder die Erzählung Dekonspiratione noch den Text für Mesopotamia wie ursprünglich geplant zu Ende führen kann.68 1999 beginnt der Kosovokrieg und mit ihm ein Krieg der Bilder im Fernsehen, deren Drastik Goetz vor allem aufgrund ihrer Gegenwärtigkeit aufwühlt: Die Hölle der totalen Emotion.//Dort war man jetzt also angekommen. Es waren nicht die fern vergangenen Schreckens-Geschichten vom Anfang dieses Jahrhunderts, es war nicht der Totalitarismus im Bann einer Diktatur, nicht der totale Krieg, es war nur die reine, absolute und totale, die unentrinnbare Gegenwart, die Fratze der Totalität des Jetzt der freien Welt. (De, 145) Das nahende Ende des Jahrtausends mit Rückblicken und daran hängenden Erinnerungen tut das Übrige zur Überforderung des Schreibers hinzu. Goetz ist zwar bemüht, sich der Einflüsse von außen zu erwehren, empfindet die Bildgewalten aber als zu heftig, sodass er resümiert: »[D]iese Geschichte war ein Opfer der neuen Zeit und der in mir von ihr verursachten Verwirrung geworden.« (De, 141) Dass ihn die mediale Berichterstattung über die weltpolitischen Ereignisse an der Fertigstellung seiner Erzählung hindert, hat produktionstechnische Ursachen. Der treibende Motor des Buchkomplexes HEUTE MORGEN, der mit Dekonspiratione seinen Abschluss finden soll, ist dessen Beschreibung durch Goetz als ›Geschichte der Gegenwart‹ ganz wörtlich zu entnehmen: Die Gegenwart ist das Orientierungsmoment für den Produktionsprozess des Schriftstellers, was Goetz letztlich zu der Einsicht führt, »dass nicht ich, sondern die Zeit der Autor meiner Sachen ist.« (De, 141) Im Anschluss daran mit Blick auf Goetz’ Werk von einer ›Antikunst‹ zu sprechen, wäre zumindest in Gefolgschaft der Klassischen Moderne nicht unbegründet. 67
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Die Notizen für Dekonspiratione erfasst Goetz u.a. in Abfall für alle, zu erkennen an dem jeweilig unter einen betreffenden Abschnitt gesetzten Erzählungstitel in Großbuchstaben. Jan Wenzel bündelt diese Stichworteinträge zu einer Aufzählung: Goetz sammele »Notizen über Kulturfernsehen, Berufsalkoholismus und den Dachschaden von Redakteuren. Es sind Vorstudien zu einer Klatsch- und Tratschgroteske, bei der Goetz sich von den Methoden der Boulevardpresse inspirieren lässt. Er verknüpft die Namen von realen Personen mit absurd-indiskreten Geschichten.« (Jan Wenzel: »Could you please take out all the Wertungen, please« – Rainald Goetz beendet seinen fünfteiligen Zyklus »Heute Morgen« mit der Erzählung »Dekonspiratione«. In: Edit. Papier für neue Texte 22 (2000), S. 65-67, hier S. 65) Vgl. zur finalen Form des Beitrags zu Krachts Anthologie Mesopotamia Kap. 3.4 dieser Arbeit.
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Goetz wird mitunter zwar nicht direkt in Abrede gestellt, dass er Kunst mache, aber ob man bei seinen Texten von Literatur sprechen kann, ist nach Ansicht mancher Beobachter seines Werks nicht unumstritten – darin lässt sich auch eine Parallele zum Schaffen Koons’ erkennen. Der Laudatio des FAZ-Feuilletonchefs Jürgen Kaube auf den Georg-Büchner-Preisträger 2015 steht voran, dass Goetz Platons Vorwurf, alle Dichter würden lügen, sehr ernst nähme. Die Goetz’schen Bücher enthielten eine »Polemik gegen Illusion und Fiktion. Alle seine Stoffe werden dem tatsächlichen Erleben des Autors entnommen […]. Viele seiner Bücher geben sich als Zeugenberichte, Reportagen. Eine Zeitlang schien Goetz ohnehin alles zum Tagebucheintrag zu werden.«69 Die aristotelische Trennung von Geschichtsschreiber und Dichter scheint bei Goetz auf der Seite der Geschichtsschreibung stärker auszuschlagen.70 Ähnlich urteilt Kaubes Schweizer Kollege Roman Bucheli angesichts der Preisvergabe an Goetz: »Das Schreiben ist ihm ein Durchlauferhitzer für die Wirklichkeit. In dieser Endlosschleife bleibt Rainald Goetz gefangen. Kunst hat er trotzdem geschaffen, auch wenn seine Literatur selten danach aussieht.«71 Als Autofiktion ist dieses Programm von Kreknin für Goetz näher beschrieben worden.72 Schäfer attestiert Goetz, dass er die systemtheoretische Leitdifferenz des Funktionssystems Kunst, d.h. die Unterscheidung zwischen Kunst und Nicht-Kunst, beharrlich unterlaufe. Seine Texte würden, so Schäfer, zwischen unterschiedlichen Genres, wie »Tagebuch, journalistischem bzw. kulturkritischem Essayismus und in engerem Sinne fiktionaler Literatur [changieren]. Dieselben Texte finden so nicht nur Mehrfachveröffentlichungen in unterschiedlichen Formaten, sondern verwenden in sich diese Formate gleichzeitig.«73 Schäfers Argument aber greift zu kurz, darauf wird zurückzukommen sein. 69
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Jürgen Kaube: Das Gedanken-Anregungs-und-Aufregungs-Verfahren. Laudatio auf Rainald Goetz, den Büchnerpreisträger von 2015. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 44 vom 01.11.2015, S. 45. Vgl. dazu die einschlägige Stelle aus Aristoteles‹ Poetik: »[…] daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse –; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres, Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.« (Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1982, S. 29) Roman Bucheli: Schreiben ohne Sicherheitsabstand. Rainald Goetz hat das Unmittelbarkeitsprinzip in der Literatur radikalisiert. Nun erhält er den Georg-Büchner-Preis. In: Neue Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe vom 31.11.2015, S. 21. Vgl. dazu ausführlicher Kreknin, Poetiken des Selbst, S. 123-270. Schäfer, Luhmann als Pop, S. 263.
5. Schöpfung
Zumeist einsetzend mit den Historischen Avantgarden wurde – nicht zuletzt mit einer Erweiterung des Kunstbegriffs einhergehend – die ›Krise des Werkbegriffs‹ ausgerufen, die gemeinhin anhand von mehr oder weniger drei Wellen der Revolte innerhalb verschiedener Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts festgemacht wird, die im Folgenden knapp skizziert werden.74 Ein erster Umbruch lässt sich an den Avantgardebewegungen der 1910er und -20er Jahre ablesen, die sich gegen den spätbürgerlichen Kult des Kunstwerks richten. Sie unterliefen das überlieferte Kunstverständnis, indem sie Manifeste an die Stelle von Kunstwerken treten ließen und das Verhältnis von Realität und Kunst, beispielsweise durch den Aufruf zur Beteiligung an gesellschaftlichen Neuordnungsprozessen wie im Futurismus oder der russischen Revolutionskunst, ausloteten. Die diesen Geschehnissen nachfolgende Kunsttheorie arbeitete daran, die Kunst in ihrem Verhältnis zum gesellschaftlichen Lebensprozess zu ergründen, wodurch das Konzept des Kunstwerks in seinem geschichtlichen Wandel auf den soziohistorischen Prozess bezogen wurde. Ein zweiter Wendepunkt hatte die immanente Sprengung des Kunstwerkkonzeptes zum Inhalt, woraus sich in den 1940er Jahren ein ›Ethos der Intentionslosigkeit‹ entwickelte. John Cage steht exemplarisch für die Integration von Zufallsoperationen in den Kompositionsprozess wie den Interpretationsvorgang, was die Identität des zugrundeliegenden Werks in Abrede stellte. Auch die Ausprägungen von Minimal und Conceptual Art lenkten die Betrachtung auf konzeptionelle Fragen von Kunst und das Verhältnis zwischen der künstlerischen Idee und ihrer (potenziellen) Realisierung. Die dritte Welle der Revolte, die der Pop-Art, agierte zwischen der Orientierung an Bild und Skulptur und der Wahrnehmung medial vermittelter Alltagskultur; sie stellte den Werkbegriff nicht in Frage, banalisierte ihn aber. Der Rezipient stieß an die Grenzen der Gewohnheiten seiner eigenen Deutungsleistung; das auf Totalität und Sinneinheit zielende Kunstwerkkonzept beugte sich der Zerstreuung des Sinns. Als mögliche Antwort auf die ›Krise des Werkbegriffs‹ wird mehrheitlich eine entsprechende Öffnung oder Erweiterung des Konzepts gefordert. Eine Erweiterung, die, speziell bei Performance-Künsten auf den Prozesscharakter und die Performativität abhebt, und den ephemeren Aufführungscharakter einer musikalischen Vorführung miteinschließt. Wenn nach dieser Krise der Begriff des Werks noch angesetzt wird, dann ist er meist durch das bestimmt, was er nicht sein soll – keine Totalität, keine Sinneinheit, nichts Abgeschlossenes, nichts Dauerhaftes. »Die Moderne [also] hat,« um es mit Karlheinz Stierle zusammenzufassen,
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Vgl. für den folgenden Abschnitt Jan-Peter Pudelek: Werk. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 6. Hg. v. Karlheinz Barck u.a. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 520-588, hier S. 520-528.
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Werk ist Weltform
die Vorstellung in Frage gestellt, Kunst müsse im Kunstwerk zur Erscheinung kommen. Indem sie den Werkbegriff […] hinter sich ließ oder zu lassen schien, hat sie neue produktive und rezeptive Energien gewonnen. Sie hat gelernt, sich die Destruktion zu ihrer Muse zu machen und sich auf das Fragmentarische, das Unabgeschlossene oder Vieldeutige als Medium einer neuen Kunst einzulassen und dafür zugleich neue Zugänge des Verstehens zu eröffnen.75 Stierle jedoch möchte den Werkbegriff gegen eine »ästhetische Partikularität« verteidigt wissen, die er am Ende der Epoche der Moderne aufscheinen sieht, und »die schließlich dem Ästhetischen selbst den Boden entziehen mußte.«76 Er unternimmt die Verteidigung zunächst schlicht durch die Nennung all jener Künstler der Moderne – darunter Baudelaire, Mallarmé, Proust, Picasso und Giacometti –, die sich zum Konzept des Werks und seiner bindenden Kraft geäußert haben. Jene Verlautbarungen trügen ganz zu Beginn der Beschäftigung mit dem Begriff des Werks dazu bei, so Stierle, »die Frage nach der ästhetischen Legitimität werkhaft konzipierter Kunst offenzuhalten und die Möglichkeit, ja Verbindlichkeit werkhaft gebundener Kunst neu zu bedenken.«77 Folgt man diesem Vorgehen Stierles, müsste der Werkbegriff für Goetz allein deshalb Gültigkeit besitzen, weil sich zum Begriff des ›(Kunst-)Werks‹ immer wieder poetologische Erklärungsversuche in seinen Publikationen finden lassen, von denen die dieser Arbeit ihren Titel gebende Aussage nur ein Beispiel ist. Es ist ein überaus positiver Werkbegriff, dem Goetz mit dieser Aussage huldigt; er benutzt den Begriff des Werks nicht nur, sondern übersteigert ihn hin zu einem Systembegriff. Eine noch grundsätzlichere, da nicht über die Evidenz von Namen geführte Beobachtung trifft Hans-Georg Gadamer 1972 in seinem Nachwort zur dritten Auflage von Wahrheit und Methode: Gerade nachdem ›Antikunst‹ zur gesellschaftlichen Parole wurde, und ebenso Pop Art und Happening, und auch bei traditionellen Gebaren Kunstformen versucht werden, die sich gegen die traditionellen Vorstellungen von Werk und Werkeinheit kehren und aller Eindeutigkeit der Verstehbarkeit ein Schnippchen schlagen möchten, muß die hermeneutische Reflexion fragen, was es mit solchen Prätentionen auf sich hat. Die Antwort wird sein, daß der hermeneutische Begriff des Werks seine Erfüllung behält, solange in einer solchen Produktion überhaupt Identifizierbarkeit, Wiederholung und Wiederholungswürdigkeit eingeschlossen ist. Solange eine solche Produktion als die, die sie sein will, dem hermeneutischen
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Karlheinz Stierle: Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff. München: Fink 1997, S. 11. Ebd. Ebd.
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Grundverhalt gehorcht, etwas als etwas zu verstehen, ist die Auffassungsform für sie keineswegs eine radikal neue.78 Identifizierbarkeit als Literatur – als ein erstes Kriterium eines Kunstwerks, das Gadamer herausstellt – kann man Goetz’ Werken schon vom Äußerlichen her nicht absprechen. Er veröffentlicht Bücher, deren Oberfläche auf eine wiederkehrende Art und Weise gestaltet ist, und die aufgrund der Reihenbildung Raum für konzeptuelle Interpretationen, ähnlich einer Werkserie in der bildenden Kunst, eröffnet. Alle Bände, hier allein die des Buchkomplexes HEUTE MORGEN, sind zudem durch eine Zuordnung des jeweiligen Textes zu einem literarischen Genre gekennzeichnet: Erzählung (Rave und Dekonspiratione), Stück (Jeff Koons), und selbst die Abwandlungen ›Roman eines Jahres‹ (Abfall für alle) sowie ›Texte und Bilder zur Nacht‹ (Celebration) ziehen die Verbindungslinien eher zur Dichtung als etwa zur Geschichtsschreibung oder zum Journalismus. Dass diese Gattungszuweisungen sich beständig wiederholen, lässt auch ein Blick auf die Gesamtliste der Goetz’schen Veröffentlichungen erkennen: Romane und Stücke finden sich dort mehrfach. Wiederholungswürdigkeit und Wiederholung als weitere Faktoren einer Produktion, die des hermeneutischen Begriffs des Werks würdig ist, sind so ebenfalls gegeben. Damit fällt die Unterscheidung zwischen Kunst und Nicht-Kunst bei Goetz entschieden auf der Seite der Kunst aus. Luhmann verzichtet auf eine nähere Bestimmung der Codewerte des Kunstsystems und verlagert stattdessen die Leitdifferenz in das Kunstwerk selbst hinein: »Die Besonderheit des Kunstsystems im Vergleich zu anderen Funktionssystemen liegt […] darin, daß die Asymmetrisierung […] weitgehend dem Kunstwerk selbst obliegt und Zwischenebenen wie Regeln oder Stilvorstellungen zwar möglich, aber weitgehend entbehrlich sind.«79 Bei Goetz geschieht der Ausschlag hin zur Kunst-Seite im Kunstwerk selbst ganz offensichtlich durch die Gewichtung, die dem Buchkörper als Medium und seiner Ausgestaltung zukommt. Wodurch Goetz’ Werke irritieren und sie als Nicht-Kunst möglich scheinen, ist ihre Nähe zur Realität. Über das spezielle Verhältnis von Kunst und Realität gibt wiederum Luhmann Auskunft. In seinem Teilbuch zur Theorie der Gesellschaft, das die Kunst betrifft, bestimmt Luhmann die Funktion der Kunst »in ihrem Weltverhältnis schlechthin, also in der Art […], wie sie ihre eigene Realität in der Welt ausdifferenziert und zugleich in sie einschließt.«80 Die Welt wird durch Kunst, so Luhmann, in eine reale und eine imaginäre Realität gespalten. Die Kunst füge dem Vorhandenen nicht etwa nur etwas Weiteres hinzu, sondern habe es genau mit dem 78
79 80
Hans-Georg Gadamer: Nachwort zur 3. Auflage von »Wahrheit und Methode«, 1972. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2, Hermeneutik II, Wahrheit und Methode, Ergänzungen und Register. Tübingen: Mohr 1986, S. 449-478, hier S. 476f. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 306. Ebd., S. 229.
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Sinn dieser Spaltung in eine reale und eine imaginäre, fiktionale Realität zu tun. Wie üblich sind die Luhmann’schen Differenzschemata an Beobachtungspositionen gekoppelt: Die imaginäre Welt der Kunst […] bietet eine Position, von der aus etwas anderes als Realität bestimmt werden kann. Ohne solche Differenzmarkierungen wäre die Welt einfach das, was sie ist, und so, wie sie ist. Erst die Konstruktion einer Unterscheidung von realer und fiktionaler Realität ermöglicht es, von der einen Seite aus die andere zu beobachten.81 Im Gegensatz zu Sprache und Religion, die ebenfalls eine Trennung zwischen realer und fiktionaler Realität geltend machen können, ist die Besonderheit der Kunst, dass sie auf der Seite der imaginären Realität noch einmal Realitätsverdopplungen einziehen kann, wie etwa jene von Realität und Traum, Realität und Täuschung und auch noch einmal die von Realität und Kunst. Nur durch diese Abstufungen innerhalb der Unterscheidung zwischen realer und fiktionaler Realität ist, so Luhmann weiter, ein Verhältnis zur Realität gegeben, für das die Kunst verschiedene Formen annehmen kann: idealisierend, kritisch, affirmativ usw. In jenem Realitätsverhältnis, was Luhmann ›idealisierend‹ nennt, ist ein Bezugspunkt für Goetz’ Charakteristik von Koons’ Kunst als Idealrealismus gegeben, der als Ethik Teil von Goetz’ ›ästhetischem System‹ ist.82 Für Luhmann bedeutet dieser Begriff in etwa so viel, wie die Realität in dem zu imitieren, »was sie nicht ohne Weiteres zeigt (zum Beispiel ihren Wesensformen, ihren Ideen, ihrer göttlichen Perfektion)«83 . Im 20. Jahrhundert habe es Kunstwerke gegeben – und hier meint Luhmann vor allem solche Kunstwerke der dritten Welle der Umwälzung des Werkbegriffs, also der Pop-Art –, die versucht haben, die Differenz zwischen realer und fiktionaler Realität aufzuheben, indem die Kunstwerke gänzlich realen Objekten glichen. Dies läuft bei Luhmann aber gerade nicht darauf hinaus, diese Objekte als Nicht-Kunst zu bewerten: [K]ein gewöhnliches Ding reflektiert, daß es genau so sein will wie ein gewöhnliches Ding; aber ein Kunstwerk, das dies anstrebt, verrät sich schon dadurch. Die Funktion der Kunst besteht dann zwar nur noch in der Reproduktion ihrer Differenz. Aber daß deren Auslöschen angestrebt wird und mißlingt, sagt vielleicht mehr als alle Verschönerung oder Kritik.84 Wie im vorangegangen Kapitel dieser Arbeit für die Goetz’sche Ausprägung des Begriffs der Dissidenz, an den Luhmann das Staunen bzw. die Irritation anschließt,
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Ebd. Vgl. Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 230. Ebd., S. 233.
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gezeigt, scheinen auch die Kunstformen der Pop-Art in der angestrebten Aufhebung zwischen realer und fiktionaler Realität in einem Gleichgewicht zu verharren, das sich nicht auf die eine Seite der Kritik der Realität noch auf die andere Seite der Affirmation der Realität schlagen muss, sondern in diesem Bezug in unbestimmter Schwebe bleibt. Dieser Rückverweis ist umso bemerkenswerter, da Goetz innerhalb Luhmanns Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Realität (wieder) konkret genannt wird. An der Stelle der Kunst der Gesellschaft, an der Luhmann Goetz erwähnt, resümiert er noch einmal die Funktion der Kunst. Die soziologische Frage nach der Funktion ziele im Kommunikationssystem der Kunst auf die Seite der Unterscheidung ab, die die Kunst in die Welt einführt, und könnte nach Luhmanns Überzeugung lauten: »[W]ie zeigt sich Realität, wenn es Kunst gibt?«85 Er fährt fort mit Hinblick auf die Rezipienten: Texte können affirmativ gemeint sein und sich gegen hyperkritische Negationssucht wenden – und doch als irgendwie traurig oder ironisch oder als Wiederholung eigener Erfahrungen mit Kommunikation gelesen werden. Das Kunstwerk legt den Beobachter zwar auf die im Kunstwerk fixierten Formen fest; aber im Kontext moderner Kommunikation scheint gerade dadurch die Freiheit gegeben zu sein, mit der formfest fixierten Differenz von imaginierter und realer Realität auf verschiedene Weise umzugehen. Gerade dadurch, daß die Kunst ihre Formen in Dingen niederlegt, kann sie darauf verzichten, eine Entscheidung für Konsens bzw. Dissens oder zwischen Affirmation und Kritik der Realitäten zu erzwingen.86 Luhmann merkt zu diesem Absatz an, dass er sich auf ein Gespräch mit Goetz beziehe. Den ersten Halbsatz erweitert er in einer Fußnote mit der Bestimmung: »So z.B. die Darstellung von Gepflogenheiten der Alltagskommunikation unter Anwesenden, bei Fernsehunterhaltungen, in der Politik usw. bei Rainald Goetz unter Titeln wie Angst, Festung, Kronos, Frankfurt 1989-1993.«87 In diesem Zusatz zu seiner Argumentation ist Luhmanns spätere Bezugnahme auf Goetz, die sich in der Wendung ›Kunst sei Dissidenz‹ äußert – in der nicht nötigen Entscheidung über Bejahung oder Verneinung, die in der älteren Kunsttheorie als Staunen und in der Kunst der funktional differenzierten Gesellschaft als Irritation wahrgenommen wird –, bereits angelegt.88 Goetz’ Kunst irritiert; sie irritiert durch eine dem Pop gemäße Vermischung von high und low, weil sie sich auf Trivialitäten und Banales fixiert, was immer noch, das stellt Weingart dar, als Überschreitung wahrgenommen wird. »[A]ls zeitgenössische Variante eines literarischen Realismus ge-
85 86 87 88
Ebd., S. 231. Ebd., S. 231f. Ebd., S. 231, Fn. 24. Vgl. Kap. 4.1 dieser Arbeit.
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raten sie«, die Popkultur-Referenzen, so Weingart weiter, allerdings »nicht in den Blick.«89 Bei Goetz aber ist genau solch eine Zentrierung des Pop um ein Programm des Realismus herum anzusetzen. Er schafft Kunstwerke, die durch ihre Nähe zwischen realer und imaginierter Realität auffallen. Er nennt seinen Realismus einen »Ultrarealismus des Medialen« (Afa, 655), an dem das einzig Fiktive sei, dass er alle Figuren aus der Welt der Medien unvermittelt wie ›echte‹ Menschen behandeln würde. »Ausgedachte Bücher« hingegen kann er nicht aushalten, lässt er in seinem Roman Kontrolliert verlauten: Da kriege ich, wie durch Kritizistik, körperliche Allergieanfälle, bewirkt durch Antikörper gegen alles ausgedachte Literatenzeug. Als gäbe es nicht eine Wirklichkeit, so reich und herrlich kompliziert, tatsächlich kaum zu fassen, gleich wie man sich müht, der jeder Bücherschreiber lebenslänglich gern der Diener sein darf, sich und ihr zur Ehre.90 Der Realismus ist bei ihm nicht vorrangig Dokumentation von Ereignissen, sondern hauptsächlich Dokumentation der Sprache, wie Goetz sie im Alltag, im Nachtleben, in bestimmten Berufsgruppen, im Fernsehen, in Musik vorfindet. Diese Sprache sucht er in seinen Texten möglichst getreu der Realität nachzubilden, weshalb den Fernsehabschriften in 1989 beispielsweise keine Beschreibungen der Fernsehbilder hinzugefügt sind, sondern der Text des Fernsehens einzig aus dem Text besteht, der im Fernsehen zu den Bildern gesagt wurde. »Es gilt«, was auch für die Mitschrift von Unterhaltungen im Nachtleben oder in der Arbeitswelt der Medien bestimmend ist, »das gesprochene Wort.« (De, 153) »Immer«, resümiert Schäfer, »wenn es einem ›realistischen‹ Text gelingt, ›dass am Schluss genau dieses Gefühl so ungefähr rauskommen würde, wie es sich dauernd angefühlt hat‹. Dann hat ›Arbeit‹ in Schrift ›Leben‹ produziert«91 . Im letzten Kapitel seiner Erzählung Dekonspiratione, das Goetz mit ›De Dekonspiratione‹ übertitelt, und das damit Ausführungen zu seiner Produktionsweise von Texten verspricht, kann er so preisgeben, dass »das Geheimnis der Dichtung also nicht primär im geheimnisvollen, sogar dem Dichter selbst nicht ganz begreiflichen Vorgang des kreativ-genialischen Moments verborgen liegt. Sondern vielleicht eher weiter draußen, in der gesellschaftlich gegebenen Realität der Sprache, in ihrer alltagspoetischen Aktualität.« (De, 181) Goetz legt sich unter dieser Prämisse eine »REALBIBLIOTHEK« an, die, so sagt er es selbst, »jede phantastische Bibliothek irgendeines Phantasten weit in den Schatten [stellt]« und ein »ultradetailliertes Corpus Humanum, ein Alphabet des Menschlichen« (Ra, 173) enthält. Aufgabe
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Weingart, TV-Transkripte, S. 105. Goetz, Kontrolliert, S. 43. Schäfer, Gewalt der Muße, S. 556.
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der Dichtung ist dann zusätzlich, sich an die von Goetz ausgerufene »KRYPSEREGEL« zu halten, die den Text frei von »obskurantistische[n] Poetisierungen und Scheintiefgründigkeiten« (Ra, 209) hält: »Man müßte die Sprache von ihrer Mitteilungsabsicht frei kriegen können. Daß die Schrift nur noch so ein autistisches, reines, von der Zeit selbst diktiertes Gekritzel wäre, Atem.« (Ra, 262) In seiner zweiten Poetikvorlesung, die unter dem Titel ›Das Thema‹ steht, preist Goetz den Realismus nicht als Darstellung von etwas, das es gibt – »[W]ie ich es HASSE und wie falsch ich das finde, wenn Realismus heißt: das gibt es also, das ist so. Dieses Elend stelle ich erst mal einfach so dar. Ich weise darauf hin, daß es das gibt. Usw usw usw.« (Afa, 264) Stattdessen bestimmt er den Realismus in seiner dritten Vorlesung, die mit dem Punkt ›Welt‹ überschrieben ist, als eine Art von Interesse für die Wirklichkeit. Wie sie schlicht und einfach IST. Erstaunlicherweise ist das ja immer noch eine letztlich relativ unübliche, sensationelle Perspektive. Was liegt wirklich vor? Realismus also nicht als Phantasie der Form, sondern als Kategorie der Weltbeobachtung. (Afa, 308) Die Implementierung von Welt in Text, die für Goetz die Aufgabe der Schrift bedeutet, ist in der Praxis – in der Poetikvorlesung mit dem Titel Praxis wie in Goetz’ Schreib-Praxis – darin beschrieben, das Fenster zur Welt nur weit genug zu öffnen und als Schreiber so viel wie möglich von dem, was hereinströmt, aufzunehmen (vgl. Afa, 232). Dieser Weltzugang ist bei Goetz, in den Worten Schäfers, »so weit mediatisiert, dass er aus nichts als Sprache besteht.«92 Auf dieser Ebene der Weltbeobachtung ist Goetz alle Sprache gleich wichtig, egal ob sie aus der Hochkultur oder der Subkultur kommt; alle Sprache findet gleichzeitig statt. Windrich bestimmt Goetz’ Pop-Zuschnitt deshalb nicht – wie sonst für Pop üblich – als Kritik oder Rebellion, sondern schlicht als »Alltagspraxis«93 . Goetz heißt Pop die »Weltsprache« (Afa, 511) und bringt damit etwas Analoges zum ›Populären als Form‹, wie es Torsten Hahn und Niels Werber charakterisieren, zum Ausdruck. Jahre nach Luhmanns Tod lautet ihr Vorschlag, »›Pop‹ als Strategie des Erreichens von Vollinklusion aufzufassen, d.h. als Semantik oder Form, die von verschiedenen Funktionssystemen dazu genutzt wird, ›totale‹ Inklusion zu ermöglichen.«94 Es sei nicht nötig, das Luhmann’sche Kunstsystem mit einem eigenständigen Pop-System95 zu supplementieren, wie es vorangegangene Versuche
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Schäfer, Gewalt der Muße, S. 544. Windrich, Technotheater, S. 116. Torsten Hahn/Niels Werber: Das Populäre als Form. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für Soziologische Theorie, 10,2 (2004), S. 347-354, hier S. 347. Luhmann kennt kein System für Pop, vgl. Schäfer, Luhmann als Pop, S. 267 sowie Hahn/Werber, Das Populäre als Form, S. 349f.
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unternommen haben.96 Die Trennung von Kunst und Pop würde nur neuerlich die Differenz zwischen Höhenkamm und Unterhaltung einziehen. Hahn und Werber plädieren stattdessen zum einen dafür, Pop in das Kunstsystem zu inkludieren, und zum zweiten für eine Verwendung des Populären, die keine Beschränkung auf Pop-Musik, Pop-Literatur usw. bedeutet. Pop sei stattdessen als eine Form zu lesen, die allen Funktionssystemen als Semantik der Inklusion zur Verfügung stehe.97 Für Goetz dient in eben diesem Sinne die Bezeichnung Pop gerade nicht nur für ästhetische Phänomene, sie ist ihm ein universelles Moment für den Zugriff auf alle möglichen Lebensbereiche. Gleichzeitig überträgt er die Perspektive der Beobachtung der Welt auf die Produktion seiner Texte: Für mich ist, deswegen habe ich auch so Schwierigkeiten mit Interviews, jede Interviewäußerung gleich wichtig wie die heiligste Zeile in einem poetischen Werk. […] Egal, ob das aus dem Fernsehen kommt, ob das ein Wort ist, das irgendwo auf einem Haus steht, ob das ein Gedicht ist, ob das ein theoretischer Text ist oder ein Tagestext in der Zeitung. Die Heiligkeit der Schrift gilt für alle Texte, für jeden Buchstaben. Das ist die Rezeptionsform. Und für die eigene Produktion sehe ich das natürlich genauso. (Jdsf, 149) Vor diesem Hintergrund erscheint es noch einmal umso plausibler, dass diejenigen Texte, denen der Status des Epitextes zugerechnet wird – die also in einigem Abstand zum ›eigentlichen‹ Text stehen, nur Anhängsel des ›echten‹ Textes sind, wie zum Beispiel Interviews –, bei Goetz durch die zusammenfassende Veröffentlichung in einem Band ganz offensichtlich dem Buch hinzugesetzt werden und so nicht mehr nur als Hinzufügung zum Werk betrachtet werden können.98 Die Interviewäußerungen im Jahrzehnt der schönen Frauen sind damit genauso Teil des Buchkomplexes HEUTE MORGEN wie die im engeren Sinne literarischen Publikationen. Die Zeit, die Realität in Form der Gegenwart der Sprache, ist Goetz’ Motor des Schreibens, das zeigt sich am deutlichsten an den Zeitnotaten in Abfall für alle. Dieser Motor offenbart sich aber auch dann, wenn Goetz die ursprüngliche Erzählung Dekonspiratione aufgrund der »überdichten Zeitballung« (De, 149), die ihn mit den Fernsehbildern des Kosovokrieges ereilt, nicht mehr zu Ende schreiben kann. Die Erzählung bricht ab, weil zu viel in der Realität geschieht, als dass Goetz diese unberücksichtigt lassen könnte. Stattdessen deckt er sein Schreibverfahren auf. Die Offenlegung der Arbeitsweise in der »Taggeschichte, d[em] Gegenbuch zu Rave«
96 97 98
Vgl. Markus Fuchs/Peter Heidingsfelder: Music No Music. Zur Unhörbarkeit von Pop. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für Soziologische Theorie, 10,2 (2004), S. 292-324. Vgl. Hahn/Werber, Das Populäre als Form, S. 350-354. Vgl. Kap. 1.1 dieser Arbeit.
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(De, 138), ist Enttarnung des Tagesgeschehens bei Goetz; er schreibt tagsüber, während er nachts feiert und sich die aufgezeichneten Videos der Fernsehsendungen des Tages ansieht: »Tags war Schriftverehrung, nachts die Fleischfaszination«99 , lautet die Kurzfassung dieser Lebensaufgabe. Der Realismus, den Goetz bei seiner Arbeit am Tag zu Papier bringt, ist aus dem genährt, was sich im Fernsehen und in den Clubs nachts zeigt, genauer gesagt: in der Sprache zu den Bildern des Fernsehens, in den Gesprächen im Club. In seiner Vorlesung im Rahmen der Heiner Müller-Gastprofessur, der Goetz den Titel »Leben und Schreiben« gibt, kondensiert er das Schreiben und Leben, den Tag und die Nacht, in einem ›Existenzauftrag der Schrift‹: Der Auftrag der Schrift heißt: weggehen von ihr. Ein Leben führen, und zwar bestmöglich und so reich an allem wie es nur geht, das den schriftinhärenten Isolationismus aufsprengt, widerlegt, verunmöglicht – aber als Sehnsucht eines wahren besseren Lebens die Stille der Texte zugleich erhält und die Bewegung dorthin so immer wieder neu veranlasst. Diesen absurden Versuch, sich von den widersprüchlichen Kräften nicht zerreißen zu lassen, ihnen ausgesetzt beidem zugewendet zu bleiben, sollte das Experiment ›Leben und Schreiben‹ mit immer neuen Texten lebenslang versuchen.100 Die Besonderheit seines Realismus liegt allerdings nicht im schlichten Abbilden der Welt durch Sprache, sondern in einem Abbilden, das einer manisch-bürokratischen Ordnung unterliegt – einer zwingenden Systematik.
5.3
Systematik und Paranoia
Die Verbindungspunkte, die von Goetz’ Texten aus zur Systemtheorie Luhmann’scher Prägung gezogen werden, sind nicht zuletzt aufgrund der von Goetz offen zur Schau gestellten Begeisterung für Luhmanns Werke zahlreich. Neben den im Verlauf dieser Arbeit gezeigten Parallelen kann ein weiterer und grundlegender Verweis von Goetz auf Luhmann in der Beobachtung und schließlich Darstellung von Kommunikation angenommen werden. Poschmann urteilt über Goetz’ zweites Theaterstück Festung: »[Es] stellt nichts dar, sondern ist Kommunikation.«101 Zwar gibt es in der Trilogie tatsächlich Figuren, auf die der Sprechtext aufgeteilt ist, doch lesen sich diese einzig wie eine Partitur. Traditionelle Verstehensabsichten könne das nur scheitern lassen, so Poschmann. Eher liege Goetz’ Hauptinteresse darin, die Gesellschaft im Sinne Luhmanns als dauernden Versuch verstanden zu
99 Goetz, Kontrolliert, S. 34. 100 Goetz, Leben und Schreiben, 0:57:11-0:57:50 [Transkription L.H.]. 101 Poschmann, Theatertext, S. 220.
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wissen, »das Problem der Unmöglichkeit absoluter Verständigung zu lösen; ein Versuch, der sein eigenes Problem in Form seiner Elemente (Kommunikationen) ständig reproduziert.«102 Sprache nimmt deshalb die Stelle von Figuren ein und wird zum Akteur des Theatertextes.103 Auch für das Nachfolgestück Jeff Koons kann dieser Befund von Norbert Otto Eke gelten. Da im Gegensatz zu Festung die Sprechermarkierungen bei Jeff Koons gänzlich fehlen, ist sogar im oberflächlichen Blick auf den Text die Loslösung der Kommunikation von Menschen evident, wie sie in Luhmanns Theorie sozialer Systeme begriffen wird. Nie ist im Dramentext sicher, wer spricht, auch die artifizielle Ordnung des Textes in Verse und Blöcke vermag die Partitur der Stimmen nur wenig übersichtlicher zu machen, doch ist dies auch nicht wesentlich für die Operationen. Wichtig ist, dass die Kommunikation nicht abreißt, anschlussfähig bleibt, dass Verstehen wie Nicht-Verstehen weitere Kommunikation fordern und so die Autopoiesis des Systems aufrecht erhalten. Im Stück wird ständig kommuniziert, dabei ist egal, was kommuniziert wird – Hauptsache ist, dass kommuniziert wird, wie sich an einer beispielhaft ausgesuchten Szene zeigt: vier gewinnt/davon bin ich überzeugt/ein Machtwort wäre gesprochen worden//es ist mir fast egal/wie hier//and I would say things like/this is Jane/and her father likes black men/and her mother had a facelift/and she’s just the girl for you/because she’ll boss you around/and you like that//wrong//okay, can I/try another one/sure//this is Tom/he’s a chubby chaser//better//and if I can’t remember two people’s names/so I can’t introduce them/I just have a big sigh and say/oh, I’m tired of introducing people/I’ve been doing it all night/why don’t you introduce yourself//ich glaube, wir wurden einander/vorhin schon vorgestellt/Sie//ja ich, wir/dingens/ist ja ganz toll//super/klaro, du/meine Fresse/jetzt aber erst recht//genau, natürlich//ganz genau (Jk, 114f.) Noch wesentlicher als die Betrachtung von einzelnen in Goetz’ Texten auszumachenden Bezügen auf Luhmann,104 ist die Annahme, dass Goetz sich vor allem in der Grundausrichtung seiner Texte an der Theoriearchitektur von Luhmann orientiert. Weniger als Einzelheiten ist die Totale der Perspektive entscheidend. »Mich ERSCHÜTTERT Luhmanns Totale, immer wieder, und zwar weil ich finde, daß sie selbst so erschüttert ist. Es gibt in Luhmanns Welt nichts selbstverständlich Gegebenes. ALLES könnte auch ANDERS sein.« (Afa, 160) Es geht, wie es in einem postum veröffentlichten Vorlesungsmanuskript Kittlers mit Bezug auf Hegel
102 Ebd., S. 221. 103 Vgl. Norbert Otto Eke: Der Verlust der Gattungsmerkmale: Drama nach 1945. In: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte. Hg. v. Peter W. Marx. Stuttgart/Weimar: Metzler 2012, S. 310-322, hier S. 321. 104 Vgl. für weitere einzelne Befunde Windrich, Technotheater, S. 255-265.
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heißt, »schlicht und einfach darum, wie wenig oder wie sehr eine Rede dasjenige auch noch artikuliert, was sie logisch zusammenhält.«105 Deshalb kann Goetz die Gesamtarchitektur seines ›ästhetischen Systems‹, das für ihn die Form des Frankfurter Museumsbaus von Richard Meier angenommen hat, mit dem »Begehen der Luhmannschen Philosophie«106 gleichsetzen. »DIE WELT SPRICHT//ich höre« (Afa, 287), eröffnet Goetz seine dritte Poetikvorlesung in Frankfurt und hält dieser Ansage auch auf einen von ihm selbst prophylaktisch eingeworfenen Vorbehalt hin stand: »[H]ätten Sie es nicht vielleicht ein kleine Nummer kleiner – nee, es tut mir leid –//hier also: WELT.« (Afa, 275) So groß Goetz die Bedeutung von Welt skizziert, die er in seinem Alltag als Schreiber aufzunehmen und in Schrift umzusetzen trachtet, ist sie tatsächlich gedacht. Dieses Vorhaben heißt er nur mit etwas vergleichbar, was – das ist wohl hinreichende wie notwendige Bedingung – wie Bilder, Zeitung, Musik und Fernsehen ebenfalls Teil von Goetz’ alltäglicher Welt ist: die Bücher Luhmanns. In Abfall für alle ist Goetz – metonymisch gesprochen – »[m]it Luhmann draußen« (Afa, 390), »[m]it Luhmann auf der Post, auf der Bank, bei meinen Spirits« (Afa, 393), »[m]it Luhmann beim Eis, beim Fußball, am Balkon« (Afa, 400). Luhmanns Bücher werden, fasst Schäfer zusammen, in der Populärkultur, in der sich Goetz bewegt, »selbst zu popkulturellen Gegenständen, denen man sich während des Flanierens durch den öffentlichen Raum des Populären hingibt.«107 Goetz ist von der Luhmann’schen Theorie fasziniert und lässt von der Beschäftigung mit ihr nicht ab, eben weil sie seiner Ansicht nach die ganze Welt erfasse: Luhmann hat in den damaligen sechziger Jahren mit mächtigen Schritten in zwölf grundlegenden Aufsätzen (Soziologische Aufklärung, Band I) die Maße der gewaltigen Pyramide seines Systems zunächst am Boden vermessen, den Grund anschließend derart betoniert (Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971), daß er über den darin verankerten, ununterbrochen neu gigantische Bewegungsenergien produzierenden Kernreaktor des Ereignisbegriffs in der inzwischen fertig und auf den Kopf gestellten, zwölfpyramidal kugelig kristallin konstruierten harmonischen Konstruktion (Soziale Systeme, 1984) die Wirklichkeit der ganzen Welt in Gestalt der Theorie frei schwebend in Bewegung hält. Manchmal erschrickt man beim Anblick einer Einzelheit dieser theoretischen Welt, die die Wahrheit von allem erhellt: der Bann der Schönheit dessen, was ist.108 Luhmann hat im Vorwort zu Soziale Systeme für seine Theorie selbst einen Universalitätsanspruch reklamiert: »Universalität der Gegenstandserfassung in dem Sinne, 105 Friedrich Kittler: Philosophien der Literatur. Berliner Vorlesung 2002. Berlin: Merve 2013, S. 189. 106 Goetz, Kronos, S. 374. 107 Schäfer, Gewalt der Muße, S. 569. Vgl. auch Kap. 1.2 dieser Arbeit. 108 Goetz, Kronos, S. 262.
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daß sie als soziologische Theorie alles Soziale behandelt und nicht nur Ausschnitte«109 . Dieser Anspruch sei Luhmanns Meinung nach aufgrund der hohen Komplexität, die eine facheinheitliche Theorie bedinge, nur zu halten, wenn man die Theorie anders konstruiere als in der Soziologie bis dahin üblich. Er strebt deshalb ein »Theoriedesign«110 an, das nicht nur fähig ist, den hohen Grad an Komplexität in sich einzuschließen, sondern diese Komplexität auch zu reflektieren. Da die Theorie aber gleichzeitig transparent bleiben muss, vollzieht sie, »was sie empfiehlt, an sich selbst: Reduktion von Komplexität.«111 Die Theorieanlage erfordert also »eine Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage«, bei der aber »der Wirklichkeitsbezug gewahrt [bleibt]«112 . In Goetz’ Worten heißt dies: Ein besonderer Charme von Luhmanns Denken besteht darin, daß er immer zu jeder spinnösen Logelei-Spinnerei, gerade in den erkenntnis-theoretischen Fragen, bereit ist. Und dann doch immer wieder […] an der Evidenz des Alltäglichen die abstrakte Begriffsbildung nicht nur plausibel macht, sondern immer auch ÜBERPRÜFT./Der große Meister des abstrakten Höhenflugs ist zugleich ein Ultra-Realist. Es gibt keine andere Theorie, auch wenn Luhmann oft ganz anders gelesen wird, die sich so schutzlos und offen von Realität irritieren läßt. (Afa, 301) Das Theoriedesign Luhmanns erfüllt in Goetz’ Augen somit den Anspruch, den er selbst an seine Textproduktion stellt – so viel Komplexität, d.h. Welt wie möglich in sich aufnehmen und das Aufgenommene in Text umsetzen, der transparent, d.h. alltäglich und zugänglich ist, oder wie es an früherer Stelle dieser Arbeit hieß: totale Hermetik und voraussetzungsloser Zugang für alle zur gleichen Zeit.113 Das Phänomen Pop, wie Goetz es verstanden wissen will, ist sowohl auf der Seite der Komplexität wie auf der Seite der Transparenz in Anwendung begriffen: als Marker der Vollinklusion wie der prinzipiellen Zugänglichkeit. Am alternativen Titel, den Goetz seiner fünften Werkgruppe gibt, ist dieser Anspruch wörtlich abzulesen: ›Geschichte der Gegenwart‹. Da die Gegenwärtigkeit »sich gerade durch ihre Nähe dem Zugriff entzieht«, so formuliert es Ulrich Plass, erfordert sie »ein grundsätzlich zum Experimentellen tendierendes Schreiben«114 . Den Versuch, die Gegenwart als Ganzes, in ihrer Realität darzustellen, geht Goetz vom denkbar realitätsfernsten Standpunkt aus an, der durch einen hohen Abstraktionsgrad bestimmt ist und sich auf dem Schematismus einer strengen Ordnung gründet. Der Schlusssatz von Luhmanns Vorwort zu Soziale System hätte – unter Austausch des Wortes Theorie 109 110 111 112 113 114
Luhmann, Soziale Systeme, S. 9. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 12f. Vgl. die Einleitung zu Kap. 2 dieser Arbeit. Ulrich Plass: Realismus und Vitalismus. Rainald Goetz und seine Kritiker. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 170 (2013), S. 39-52, hier S. 39.
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– so oder so ähnlich auch von Goetz geschrieben werden können: »Während die Theorie, was die Begriffsfassungen und die Aussagen inhaltlich angeht, sich wie von selbst geschrieben hat, haben Arrangierprobleme mich viel Zeit und viel Überlegung gekostet.«115 Goetz’ Form der Literatur ist ein System,116 also im Gegensatz zur Antikunst etwas Totalitäres, das sich in einer geschlossenen Werkeinheit zeigt, in der die einzelnen Werkbestandteile nur als Systemganzes funktionieren; das Arrangieren und Ordnen gehört zu den ästhetischen Prinzipien dieses Systems: Ästhetische Prinzipien.//Fast immer Stumpfsinn. Trotzdem sind OrdnungsKategorien Produktions-Motoren für Hervorbringungen im ästhetischen Bereich. Wo beginnen? Wie fortfahren? Und was nun? Ununterbrochen entstehen theorieartige und geradezu abstrus präzise Gedanken, wie alles warum so und so sein und werden muß. […]//Ästhetische Prinzipien sind was für wilde, freie, ungeordnete Geister, die sich nach Ordnung sehnen. Ästhetische Prinzipien sind der Ort der Rebellion des Kunstwerks – gegen alles. (Afa, 334) Goetz bezeichnet sich selbst als jemanden, der Wirrnis anhäuft (vgl. Afa, 219) – die Poetikvorlesung in Frankfurt trug ursprünglich den Titel »Praxis Dr. Wirr« (Afa, 227) –, und dem die Theorie Luhmanns dazu wie das Gegenstück erscheint, das die eigene Wirrnis ordnen kann. Er preist Luhmann deshalb für seine Klarheit, für seinen »Denk-Systeme-Röntgenblick« (Afa, 226): Und die erste […] nachästhetische Theorie der Ästhetik ist dann auch wirklich sofort gesellschaftlich: Die Kunst der Gesellschaft. Es mußte so ein kühler, klarer Geist wie Luhmann kommen, um das richtig sehen und vorallem auch darstellen zu können. Im Vergleich zu ihm ist Adorno ja ein kompletter Wirrkopf, Foucault ein Märchenerzähler. So wirr und märchenhaft war aber der Status des Geistes in den 60er und 70er Jahren noch. Erst die 80er Jahre bringen den Durchbruch in diese hochkomplizierte Klarheit, die Luhmann dann niederschreibt und Meier baut. (Afa, 148) Goetz lässt Luhmann Hegel ablösen, wie ein von ihm gemaltes und in das Theaterstück Festung eingeschobenes Bild zeigt (Abb. 28);117 Luhmanns in der Reihe suhr115 116
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Luhmann, Soziale Systeme, S. 14. Dieter Thomä bringt in einem Artikel über Nachlassfunde von Hans Blumenberg die Architektur eines Systems in den wörtlichen Zusammenhang mit einem Festungsbau, wenn er ein Zitat Blumenbergs widergibt, in dem dieser darüber nachsinnt, ob ein Philosoph dem Vorbild der Baumeister folgend ein System errichten solle, vgl. Dieter Thomä: Neues aus dem Blumenbergwerk. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 229 vom 02.10.2018, S. 12. Weil Luhmann zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Festung noch lebte, setzt Goetz im Bild nur dessen Geburtsdatum 1927 ein. In Celebration wird ein Ausschnitt dieses Bildes in seitenfüllendem Format reproduziert, vgl. Ce, 132.
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Abbildung 28: Luhmann als Hegel, gezeichnet von Goetz.
kamp taschenbuch wissenschaft (stw) mit der Reihennummer 666 publiziertes Werk Soziale Systeme bildet das Äquivalent zu Hegels System der Philosophie: Daß man Zeitgenosse einer Zeit ist, immer wieder bewegt mich das bei der Luhmann Lektüre, in der eine solche Theorie gedacht und niedergeschrieben werden kann, 200 Jahre wichtiger als Kant und so folgenreich wie Hegel, allein das ist ein Geschenk der Götter, jedem geschenkt, der heute lebt. (Afa, 440)
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Die Systematik, die Goetz’ Geist und sein Schreiben ordnet, zeigt sich bei ihm anhand von Zahlen, die das Gefüge von Einzeltexten wie von gesamten Buchkomplexen prägen. Sie sind als ein bestimmendes ästhetisches Prinzip von Anfang an in seinem Werk angelegt und ziehen sich konsequent durch dieses hindurch.118 Die Systematik zeigt sich in Form einer Geometrie des Textes, die nichts mehr mit Linearität gemein hat, und die, wie Luhmann es für seine Theorieanlage beschreibt, »eher einem Labyrinth als einer Schnellstraße zum frohen Ende«119 gleicht.120 Die Systematik zeigt sich unter dem Stichwort der Musik in Form eines Prinzips, das eine Schreibweise des Textes vorgibt, die sich an der Nähe zur Realität ausrichtet, und Eigenarten wie Wiederholungen und Zyklik mit sich bringt.121 Daraus erwächst letzten Endes eine Schöpfung, ein literarisches Werk, das für sich den Begriff des Realismus beanspruchen kann, der sich durch die möglichst vielstimmige Rezeption und Wiedergabe von Welt bestimmt, womit das Werk zur Weltform wird. Zusammen ergeben Zahlen, Geometrie, Musik und Schöpfung das System der Goetz’schen Literatur: Die Außenordnung gehört, heute ist mit 6.6.6 der Tag, das hier zu wiederholen, tief ins inhaltlich Innerste der formalen Vorphantasie vom Ganzen einer Sache […]. Der liebe Gott hat sich bei der Erschaffung der Welt auch von der Ordnung der Woche inspirieren lassen, völlig normal. Zahlen, Geometrie, Musik und Schöpfung hängen eben zusammen. (Afa, 732) Die Nummerierung, die Goetz im Zitat aufruft, hängt mit der Struktur von Abfall für alle zusammen – der Eintrag erfolgt in der Laufzeit des Weblogs am sechsten Tag der sechsten Woche des sechsten Teils. Trotzdem kommt die Nähe dieses Eintrags zur stw-Nummer von Soziale Systeme auf der einen Seite wie zum Diabolischen auf der anderen Seite sicher nicht von ungefähr. In Die Gesellschaft der Gesellschaft erkennt Luhmann dem Teufel eine Sonderposition der Beobachtung zu: »Er hatte als einziger die Sünde begangen, die man nicht bereuen kann: die Sünde der Beobachtung Gottes.«122 Goetz’ System ist ein System, das alles in sich einschließt, und sich nahezu dauerhaft, besonders aber in der Poetikvorlesung Praxis bzw. dem letzten Drittel von Dekonspiratione, selbst beschreibt. Es ist deshalb ein hyperkomplexes System, das sich, laut der Definition Luhmanns, »an seiner eigenen Komplexität orientiert und sie als Komplexität zu erfassen sucht«, allein »Systemplanung erzeugt zwangsläufig Hyperkomplexität.«123 Auch das Misslingen des Plots von Dekonspiratione ist 118 119 120 121 122 123
Vgl. Kap. 2 dieser Arbeit. Luhmann, Soziale Systeme, S. 14. Vgl. Kap. 3 dieser Arbeit. Vgl. Kap. 4 dieser Arbeit. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 860, Fn. 469. Luhmann, Soziale Systeme, S. 637.
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Teil dieser Systemplanung und hebt sie nicht aus den Angeln. Denn durch den Bezug zum Tag, der im ursprünglich angelehnten Medien-Roman, aber auch in den Reflexionen aus Goetz’ Schriftstelleralltag gewahrt bleibt, bildet Dekonspiratione beständig den Gegenpol zur Nacht-Erzählung Rave und damit die nötige andere Seite, um das Theaterstück Jeff Koons als funktionierende Mitte dieser Gegenüberstellung zu etablieren. In das hyperkomplexe System der Kunst von Goetz ist auch die Paranoia eingeschlossen. Für das Scheitern der ursprünglich geplanten Erzählweise von Dekonspiratione macht Goetz neben der äußeren Wirklichkeit der Literatur auch das Innere der Erzählung verantwortlich, »die Schwierigkeiten kamen auch direkt aus der Sache selber.« (De, 139) Goetz hatte die Geschichte von Katharina erzählen wollen, die über das Schreiben an ihrer Magisterarbeit zu Wittgenstein verrückt geworden war. Diesen in seinen Augen zwangsläufigen Weg hatte er nachzeichnen wollen, »vom Denken philosophischer Gedanken in die Philosophie hinein, von dort auf deren Grund, von politisch engagierten Ideen zur Paranoia, von der Literatur zur Sprache, von den Zusammenhängen zum Beziehungswahn« (De, 139). Was ihm als Mediziner aus der Psychiatrie hinlänglich bekannt sein müsste, gerät ihm allerdings im »konkreten Nahfall« (De, 139) zu etwas Unfassbarem. Ebenso zu nah gerät Goetz die Presselandschaft, deren Figuren und Intrigen er in Dekonspiratione hatte abbilden wollen. Nach der Premiere eines Schlingensief-Stücks findet er sich im Keller der Berliner Volksbühne wieder, mit einer versammelten Mannschaft von Vertretern genau dieser Klientel. Inmitten der Theaterkritiker und Feuilletonchefs von taz, Spiegel, Süddeutscher Zeitung und Tagesspiegel ist Goetz sich sicher: »[D]as ist mein Buch über das Schreiben, das ich hier erlebe, das sich hier abspielt und ich bin selber mitten drin, ich bin zu nahe dran. Ich kann es nicht schreiben. Ich werde es nicht schreiben können.« (De, 142) Torsten Hahns Beschreibung des paranoischen Verhaltens als »Interpretation der Umwelt, als ob diese Literatur wäre«124 , scheint auf diesen zwischen den Stühlen stehenden Goetz zuzutreffen – eine Unterscheidung zwischen Realität und der in der Erzählung anvisierten Fiktion ist nicht mehr möglich. Hahn stützt sich bei der Definition der Paranoia auf Wolfgang Schäffners Studie zum psychiatrischen Wissen bei Alfred Döblin, der wiederum die Paranoia mit der Hermeneutik korreliert: Ein Wort ist ein Parasit oder eine parodierende Wiederholung, das Identische eine Parallele, die Einheit der Vernunft Paranoia. Literaturwissenschaftliche Deutung und Deutungswahn, hermeneutische Reduktion der Vielheit auf Einheit und die delirante Vielheit von Netzwerken: diese Gegensätze, die in der hermeneutischen 124 Torsten Hahn: Heinrich von Kleist: Hermeneutik, Paranoia und die Einrichtung der trauerspielförmigen Welt in Die Familie Schroffenstein. In: Timm Ebner u.a. (Hg.): Paranoia. Lektüren und Ausschreitungen des Verdachts. Wien: Turia + Kant 2016, S. 22-39, hier S. 22f.
5. Schöpfung
Praxis so nahe beieinander liegen, versuchen die Geisteswissenschaftler mit aller Macht zu trennen, denn allzu leicht kippt die hermeneutische Bemächtigung selber in die Verdoppelung und Vervielfältigung um. Die Disziplinierung des Sinns als hermeneutische Machtstrategie gerät selbst immer wieder in die Position der Ohnmacht, die dann ausbricht, wenn statt der Einheit von Personen, Subjekten oder Sinn rhizomatische Vernetzungen auftauchen, in denen die Machtpositionen nicht mehr eindeutig zu lokalisieren sind.125 Goetz hat sich in einem seiner frühen Texte der Paranoia aus- und sie in Literatur umgesetzt. In Das Polizeirevier (1982), wiederveröffentlicht im Band Kronos, beobachtet Goetz die seiner Wohnung in München gegenüberliegende Polizeistation, von der er sich beobachtet fühlt: »Der Verdacht, man beobachte mich, hat sich in den verlorenen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr verdichtet.«126 Als sich der Verdacht für ihn selbst bestätigt hat, beginnt Goetz mit der »Gegenobservation«127 . Er notiert, welche Beamten Streifenwagendienst machen, legt Strichlisten mit dem Alter der Beamten an, verknüpft das Alter mit Bartmoden, macht Fotos, identifiziert Zivilpolizisten, notiert die Kennzeichen derer Wagen – immer in der Gewissheit, dass alles, was auf der gegenüberliegenden Straßenseite passiert, auf ihn selbst bezogen ist. Es ergibt sich daraus, wie Anna Häusler und Johannes Windrich zusammenfassen, folgende Beobachtungslage: »Zu beobachten, beobachtet zu werden, bedeutet, eine Beobachtung zu beobachten, die genau das beobachtet, was für einen selbst unbeobachtbar bleibt: sich selbst als Beobachter.«128 Mit der Beobachtung des Polizeireviers beobachtet Goetz also vor allem sich selbst und die von ihm vorgenommenen Beobachtungen. »Durch meine Gegenobservation bin ich in ein Denken geraten, in dem zu vieles zueinander in Beziehung steht, und vor allem auch zu mir«129 , heißt es zum Abschluss von Goetz’ Bericht. Indem Goetz all diese Beobachtungen, obwohl sie letztlich ohne Befund bleiben, mit sich selbst verbindet, vollzieht sich einerseits eine »musterhafte Erzeugung paranoischer Evidenz«130 , dessen sind sich Häusler und Windrich sicher. Andererseits ist die Beobachtung gerade in ihrer Genauigkeit auch »Motor der Welterschließung«131 für Goetz, die seiner Vorstellung eines Realismus sehr nahe kommt. In dieses Verhältnis von Beobachtung und Beobachtbarkeit als Möglichkeit von Welterschließung 125
Wolfgang Schäffner: Die Ordnung des Wahns. Zur Poetologie psychiatrischen Wissens bei Alfred Döblin. München: Fink 1995, S. 18f. 126 Goetz, Kronos, S. 11. 127 Ebd., S. 14. 128 Anna Häusler/Johannes Windrich: Rainald Goetz: Gegenwahn. In: Timm Ebner u.a. (Hg.): Paranoia. Lektüren und Ausschreitungen des Verdachts. Wien: Turia + Kant 2016, S. 215-229, hier, S. 216. 129 Goetz, Kronos, S. 41. 130 Häusler/Windrich, Gegenwahn, S. 215. 131 Ebd., S. 229.
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muss überdies noch die Beobachterposition der Leser miteingeschlossen werden, schließt Kreknin: »Der poetische Kern der Beobachtbarkeit von Welt ist […] darin zu sehen, dass die Leser/innen die Beobachtbarkeit der Beobachtung antizipieren und sich in Analogie der Autor-Figur selbst wandeln: Sie sind notwendige Bestandteile des literarischen Werks.«132 Es ist die Genauigkeit, hin zu einer wahnhaften Deutung von Welt schwankend, die sich als Modus der Welterschließung in Goetz’ Werk fortsetzen wird. Was im Text Polizeirevier die Strichlisten, sind im Weblog und späteren Roman Abfall für alle die pedantisch notierten Zeitziffern; nicht umsonst heißt Goetz die Zeit den Autor seiner Texte. »Die paranoid hysterische Aufladung der Zeitziffer durch die gleichzeitige Sinnlosigkeit ihrer Präzision. Das eröffnet inhaltlicher Genauigkeit ein vernünftiges Feld. Es könnte ja noch viel genauer zugehen dauernd, merkt man, weil ja JEDE Minute für sich allein in echt ein ganzer KOSMOS ist.« (Afa, 414) In Form der Zeit- und Datumsprotokolle in Abfall für alle, aber auch in Gestalt der unvermeidbar geordneten Anlage seines (vorläufigen) Gesamtwerks wie seiner Einzeltexte, ist die Genauigkeit Teil des Systems von Goetz. In einem weiteren frühen Text, Der Attentäter (1985), heißt es dementsprechend: Daher dieses zwanghafte Ordnen, Ermitteln, Zählen, Klassifizieren. Diese Exerzitien der Klassifikation wiederum gebären den Beziehungswahn, weil ja alles zählbar ist, kategorisierter, weil so doch alles mit allem zusammenhängt, die Vernunft der Paranoia schließlich bringt logischerweise Konspiration hervor, und so ist alles doch hochgradig vernünftig, kein Quatsch, im Gegenteil, Quatsch sagen ist Quatsch, die konspirative paranoide Besessenheit ist die einzig vernünftige gültige Haltung zur Welt. Keineswegs reagiert so der Zufall, keineswegs eine den Sinnen und also dem Sinn sich verweigernde oder gar gezielt widersetzende Kombinatorik, vielmehr ist alles ekstatisch jubilierende Registratur.133 Im hyperkomplexen System, in dem alles mit allem zusammenhängt, ist das ordnende Klassifizieren, das sich als paranoide Besessenheit äußert, die für Goetz einzig gültige Haltung zur Welt. Und diese Haltung zur Welt bestimmt seine Praxis, ist seine Arbeitsgrundlage als Schriftsteller: »Wie man sich fühlt, wie man drauf ist, das ist das Betriebskapital, die Produktionsanlage, das zu verarbeitende Rohmaterial, die zur Herstellung notwendige Energie und was nicht noch alles in einem, zuletzt natürlich auch noch das Produkt.« (De, 149) In Goetz’ Werk ist die Paranoia als Welterschließungsmodus, als Teil seines Realismus so, wenn auch nicht vordergründig, enthalten.
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Innokentij Kreknin: Der beobachtbare Beobachter. Visuelle Inszenierungen von Autorschaft am Beispiel von Rainald Goetz. In: Matthias Schaffrick/Marcus Willand (Hg.): Theorien und Praktiken der Autorschaft. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 485-518, S. 514. Goetz, Hirn, S. 156.
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In Hahns Deutung des Kleist-Dramas Die Familie Schroffenstein korrespondiert die Negation des Zufalls, die auch Goetz im obigen Zitat betont, mit einem Text, der sich streng an die Regeln klassizistischer Dramenpoetik hält: Die Haupthandlung wird nicht von Nebensträngen unterbrochen, das Geschehen auf einen einzigen Konflikt zurückgeführt. »Was sich als Wirkung zeigt, kann nur eine Ursache haben – und deren Motive sind bekannt, was wiederum alles Geschehen als Teil eines Plans erscheinen lässt.«134 Goetz’ Theaterstück Jeff Koons ist auf einen »Plan ohne Absicht« (Jk, 141) gegründet, ein Plan um des Plans willen. Geht man der durch die verschiedenen Kontexte – Zahlen, Geometrie und Musik – bestimmten Gesamtarchitektur von Jeff Koons nach, ist der Text, der nach außen hin wie ein ›nicht mehr dramatischer Theatertext‹ wirkt, ebenfalls durch die Regeln der klassizistischen Dramenpoetik bestimmt. Der Plan – die Vorgabe des szenischen Konzepts, der dramatischen Handlung, Sprache und Figuren – besteht von Vornherein, nur setzt Goetz ihn strikt an der Gegenwart der Zeit gemessen um. Einer im Theaterstück angesiedelten Rede bei der Eröffnung einer Ausstellung lässt sich, obwohl sie dem Titel des Stücks gemäß auf den bildenden Künstler Koons gemünzt ist, in der Verfahrensweise der Selbstbezüglichkeit, die Ausweis der paranoiden Deutung ist, eine Charakteristik von Goetz’ eigenem Schaffen ablesen: Das Politikum dieser Kunst, […] die Sie hier sehen, eine Kunst, deren Angst und Elend in der Paranoidgestalt der Perfektion auftritt, deren Bild von Dreck und Schmutz eine Reinheit und Asepsis ist, die fast zu zittern scheint vor Panik, nicht zu leuchten, deren Eingeschlossensein im Eigensinn, im hochprivaten Kosmos ihres Schöpfers, um so lauter dauernd Kommunikation schreit […], eine Kunst, die so sehr fleht, geliebt zu werden, daß sie Hass und Abscheu, Widerstand, Verwerfung und Protest in einem Maße provoziert, hervorruft, schafft, daß alles, was an ihr ganz einfach logisch, simpel, einleuchtend und so sehr doch nur gewinnend sein will, nichts ist als Absurdität, Groteske, Lächerlichkeit, Quatsch, deren Politikum also in der Provokation einer solche Masse an Widersprüchen liegt, um so mehr als sie selbst sich nur sehnt nach Ruhe und Anmut, Betrachtung und Schau, nach Besänftigung, Begütigung und Trost. (Jk, 119f.) Eine der Werbeanzeigen zu Koons’ Werkserie Banality ist im Sinne der Paranoidgestalt der Perfektion seines Werks mit einem Foto von Goetz zu kontrastieren (Abb. 29 und 30).135 Das Foto zeigt ihn bei seiner ersten Vorlesung der Frankfurter Poetikdozentur. Entgegen der vier folgenden Vorlesungen gestaltete Goetz die erste
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Hahn, Familie Schroffenstein, S. 24. Eine Gegenüberstellung dieser bzw. ähnlicher Aufnahmen hat auch das Programmheft der Aufführung des Theaterstücks Jeff Koons unter der Regie von Martin Pfaff in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin (2004) vorgenommen.
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Lesung frei bzw. nur mit Notizen. Die Ordnung, die er selbstredend auch für seine freie Redegestalt vorgesehen hatte und die hinter ihm an der Tafel aufscheint, ist ohne Schriftfixierung aber nur schwer umzusetzen, weshalb Goetz dazu überging, die anderen Teile seiner Vorlesung vollständig auszuschreiben und vorzulesen. Umso mehr ist Goetz’ Werk daher an die Schrift und deren Publikationsform, das Buch, gebunden. Die Systemhaftigkeit des Werks ist nur in der Materialität des Mediums Buch, in Gestalt des auffällig geformten Objekts zu haben. Das Theaterstück Jeff Koons ist die perfekte Paranoidgestalt des Goetz’schen Systems, das den Titel HEUTE MORGEN trägt, weil es dieses System – in der roten Farbe des Covers, in der ›Verkörperung‹ des Über-Titels – kondensiert wiedergibt. Ohne das Beiwerk der Einzelveröffentlichung wären allerdings weder das System noch diese kondensierte Form zu erkennen, es geht Goetz um das Ganze. Wo die Realschöpfer – Gott und Mensch – mit dem Gesamtsystem Schwierigkeiten haben […], treten die phantastischen Schöpfer auf den Plan: die Künstler; sie springen dann ein als Gesamtleute für das Gesamte, so daß das Gesamte – das System – nun ästhetisch als Kunstwerk definiert wird und, schließlich, dann – in der Folge – auch nach jenem Kunstwerk konkret gesucht wird, das das Gesamte ist.136
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Odo Marquard: Gesamtkunstwerk und Identitätssystem. Überlegungen im Anschluß an Hegels Schellingkritik. In: Harald Szeemann (Hg.): Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800. Aarau/Frankfurt a.M.: Sauerländer 1983, S. 40-51, hier S. 40f.
5. Schöpfung
Abbildung 29: Anzeige in der Zeitschrift Artforum für Koons’ Werkserie Banality (1988).
Abbildung 30: Goetz bei seiner ersten Frankfurter Poetikvorlesung (1998).
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6. Ausblick: Dunkelblau ist die schönste Farbe der Welt
»Wozu ist Kunst eigentlich da?«, fragt Goetz gegen Ende von Abfall für alle und beantwortet sich seine Frage selbst mit: »Daß wir die Welt besser verstehen. Die Antwort kommt mir selber bißchen komisch vor, aber ich glaube, das ist der Spaß, der für mich von Kunst ausgeht.« (Afa, 816) Kunst ist Weltverständnis, Werk ist Weltform. Die vorliegende Arbeit ist nicht um ein bestimmtes Charakteristikum von Goetz’ Schreibweise, einen inhaltlichen Aspekt seiner Bücher oder die Inszenierungspraktiken des Autors zentriert, sondern richtet ihren Blick ganz bewusst auf das Ganze eines seiner Kunstwerke. War in der Forschung ein solcher Blick bisher entweder auf eine Einzelveröffentlichung verengt oder wurde auf einen Überblick über Goetz’ vorläufiges Gesamtwerk ausgeweitet, so steht hier ein einzelnes Buch im Fokus. Ein Buch, das ein ganzer Werkkomplex ist. Denn die meisten von Goetz’ Büchern bestehen aus mehreren einzelnen Veröffentlichungen, die Goetz zu Werkverbünden ordnet. Grundannahme dieser Arbeit ist, dass kein Einzeltext aus einem solchen Werkverbund ohne den Kontext der anderen im Buchkomplex enthaltenen Bände gelesen werden kann. Der Paratext der Bände gibt eine solche Lesart vor – die Einzelbände sind durch einen übergeordneten Titel zusammengefügt und ihre Cover einheitlich gestaltet. Für den konkreten Fall des im Zentrum dieser Arbeit stehenden Buchkomplexes heißt das: Die Erzählungen Rave und Dekonspiratione, das Theaterstück Jeff Koons, der Text- und Bildband Celebration sowie der ›Roman eines Jahres‹ Abfall für alle sind allesamt Teil des Buchs mit der Ordnungsnummer 5 und dem Über-Titel HEUTE MORGEN. Die Einbände bzw. Umschläge der Einzelbände sind flächig rot eingefärbt, Autorenname, Bandtitel und Gattungsangabe heben sich davon in Weiß ab. Zu diesen, im Suhrkamp Verlag – Goetz’ Stammverlag – erschienenen Bänden kommen außerdem zwei Merve-Publikationen hinzu, die eine ähnliche, lediglich dem Merve-Verlag angepasste Gestaltung aufweisen: die Gemeinschaftsarbeit mit Westbam, Mix, Cuts & Scratches, sowie der Gedichtund Interviewband Jahrzehnt der schönen Frauen. Die Vorgehensweise der Zusammenfügung von Einzelbänden zu Buchkomplexen hat in Goetz’ Schaffen Kontinuität. Der Werkkomplex HEUTE MORGEN sticht
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allerdings insofern aus der Reihe der Vorgängerbücher heraus, als dass die Einzelbände nicht zusammenhängend veröffentlicht werden, sondern sukzessive. Ihnen ist jedoch eine bestimmte Reihenfolge der Veröffentlichung einbeschrieben. Goetz nämlich beziffert nicht nur chronologisch die Folge seiner Bücher, sondern bringt auch die Einzelbände innerhalb eines Buchkomplexes per Ordnungszahlen in eine bestimmte Reihung. Bei der Werkgruppe HEUTE MORGEN fällt diese Reihung besonders auf, weil die Folge der Ordnungszahlen von der Chronologie der Veröffentlichungen der Einzelbände abweicht. Aus dieser Beobachtung heraus ist davon auszugehen, dass die interne Ordnung der Einzelbände eines Werkkomplexes einem tieferliegenden Grund als nur schierer Ordentlichkeit folgt. Der Paratext in Gestalt der Gliederung des gesamten Buchkomplexes ist somit nicht bloßes Beiwerk, wie die Wortbedeutung des Begriffs suggeriert, sondern Teil des Textes. Der Paratext, so fasst es Gérard Genette zusammen, macht, etwa durch Titel- und Umschlagseite, Vorwort und Kapitelstrukturen, das Material Text erst zum Medium Buch und übernimmt damit auch Funktionen der Lektüresteuerung. Um der Komplexität des Paratextes bei Goetz beizukommen, wurde das Konzept hier mit Überlegungen von Jacques Derrida zum Parergon, von Niklas Luhmann zum Ornament sowie von Friedrich Schlegel zur Arabeske angereichert. Entscheidend ist dabei die Beobachtung, dass sich der Paratext, obwohl er sich an der Außenseite des Werks befindet, als innere Schönheitslinie des Kunstwerks erweist und deshalb basal für die Interpretation desselben ist. Dem Werkkomplex HEUTE MORGEN kann sich aufgrund dieses Befundes von außen her angenähert werden. Mit dem Beginn des Lesens an der Oberfläche agiert man dazu ganz im Sinne des Phänomens Pop, in dessen Traditionslinie Goetz sich einordnet. Tatsächlich legen Interviewaussagen von Goetz, die dem Werkkomplex in Form des Merve-Bands Jahrzehnt der schönen Frauen beigegeben sind, eine Lesart des Paratextes als etwas Äußeres, was in den Text hineinprojiziert und so zu dessen Ornament wird, offen. Er gibt u.a. zu Protokoll, dass die Gliederung der Einzelbände nach Zahlen einer inhaltlichen Logik folgt, die so auch noch einmal den Zusammenhang der Einzelbände als Buchkomplex preisgibt. Zahlen spielen in den Texten von Goetz ohnehin eine bedeutsame Rolle. Von Beginn seines Schaffens an verwendet er besonders häufig die Untergliederung seiner Bücher in drei Großkapitel und ordnet die handelnden Figuren seiner Theaterstücke in Dreiergruppen. In den späteren Veröffentlichungen kommen zur Zahl 3 auch noch die Nachfolge-Primzahlen 5 und 7 hinzu. Im Theaterstück der Werkgruppe 5, Jeff Koons, fällt der Gebrauch von Zahlen zur Strukturierung des Textes deshalb auf, weil er irritiert. Das Stück, das insgesamt aus sieben Akten besteht, beginnt mit dem ›Dritten Akt‹. Alle Akte erhalten neben einem Titel eine Nummerierung per römischem Zahlzeichen, die allerdings nicht der Reihe nach erfolgt. Da Jeff Koons zudem außer der Aktund Szenenunterteilung weder eine Sprechermarkierung noch Regieanweisungen oder andere Nebentexte aufweist, und damit die klassische Form eines traditio-
6. Ausblick: Dunkelblau ist die schönste Farbe der Welt
nellen Dramentextes negiert, gilt das Werk als schlechterdings hermetisch, was ein reizvoller Ausgangspunkt für den Versuch einer Interpretation des Stücks ist. Aus der Analyse der Nutzung von Zahlen im Buchkomplex HEUTE MORGEN – aus dem Paratext heraus also – geht vor dem Hintergrund der Zahlenverwendung in Goetz’ bisherigem Gesamtwerk hervor, dass der Dramentext das Zentrum des Komplexes bildet. Jeff Koons ist die Mitte zwischen der Nachterzählung Rave und der Tagerzählung Dekonspiratione und damit Verkörperung des Titels HEUTE MORGEN, der den Einzelbänden übergeordnet ist, da der Morgen die Mitte zwischen Nacht und Tag darstellt. Die Bände Celebration und Abfall für alle sowie die beiden Merve-Veröffentlichungen gruppieren sich um dieses Zentrum herum und verleihen Bedeutung an diese Mitte. Als Mittelpunkt ist Jeff Koons damit die Basis für die Betrachtung des Buchkomplexes im Gesamten. Umgekehrt setzt die Beschäftigung mit dem Theatertext die Auseinandersetzung mit der Werkumgebung in Form der anderen Bände des Buchkomplexes voraus, weil erst aus dem Zusammenwirken von Text und Paratext die Einheit des Werks gesichert ist. Die Interpretation des Theaterstücks greift deshalb immer wieder auf die anderen Texte aus der Werkgruppe zurück. Bei Jeff Koons selbst ist ebenfalls ein Zugang über den Paratext fruchtbar. Goetz setzt vor jeden Akt des Theaterstücks ein Motto, das den jeweilig nachfolgenden Textabschnitt konturiert und in einen größeren Zusammenhang stellt. Ähnlich funktioniert der Titel des Stücks. Der amerikanische Pop-Künstler Jeff Koons wird im Stücktext oft vergeblich gesucht, tatsächlich aber färbt sein Name, hinter dem sich seine Biografie, sein künstlerisches Werk sowie die Aufarbeitung dessen in den Medien verbergen, den kompletten Text. Goetz bezeichnet den Titel als Hallraum – alles, was im Stück gesprochen wird, erhält im Kontext des Wissens um Jeff Koons eine (zusätzliche) Bedeutung. Goetz hatte sich überdies schon jahrelang mit dem Amerikaner beschäftigt, das geben frühere Texte preis. Seine Persönlichkeit und seine Kunst sind Goetz nicht nur einen Theatertext wert, vielmehr heißt er Koons’ künstlerische Sichtweise auf die Welt, die dem Pop-Paradigma verpflichtet ist, auch einen Pfeiler seines eigenen ›ästhetischen Systems‹, das neben Koons auf dem Künstler Albert Oehlen und dem Architekten Richard Meier fußt. Es spricht für das Verständnis des Theaterstücks Jeff Koons als Zentrum des Buchkomplexes, dass auch Oehlen und Meier im Dramentext vorkommen und die Abbildung von Goetz’ ästhetischem System somit komplettieren. Den Werkkomplex HEUTE MORGEN charakterisiert Goetz als eine ›Geschichte der Gegenwart‹ und diese Bestimmung ist gleichzeitig das Programm der Bände. Die Zeit, in der der Buchkomplex erscheint, ist die Zeit, der sich die Bände inhaltlich zuwenden; auch das ist ein Zuschnitt, der die Bezeichnung Pop verdient. Die einzelnen Bände bedienen dabei ganz unterschiedliche Textsorten – es sind Interviews und Erlebnisberichte, Tagebuchnotizen und poetologische Reflexionen, Erzählungen und Gedichte. Die ›Geschichte der Gegenwart‹ schließt als Dokumen-
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tation der Gegenwärtigkeit so viele Textformen wie möglich in sich ein. In den späten 1990er Jahren widmet Goetz sich intensiv der Beschäftigung mit Techno und dem dazugehörigen Nachtleben. Im Gegensatz zu seiner Neigung zu Punk und New Wave aus den Jahren zuvor, zeitigt die Auseinandersetzung mit dem Techno einen Tenor seiner Texte, der maßgeblich affirmativ ist. Weil Goetz seiner Idee von Kunst ein eigenes Verständnis von Dissidenz zugrunde legt, die die Schreibweise seiner Texte bestimmt, kann diese ›Ja‹-Haltung, die prägend für den Buchkomplex HEUTE MORGEN ist, trotzdem dem Pop als einer Art von Subkultur zugerechnet werden. Die Beschäftigung mit Musik prägt sich darüber hinaus als Sound des Textes in den Klang des Goetz’schen Schreibens, hier speziell des Theatertextes Jeff Koons, ein. Die Verse und im Block gesetzten Abschnitte des Stücks kommen genau genommen erst als gesprochene Worte zur Geltung, was ein Fingerzeig auf die eigentliche Bestimmugn des Dramentextes ist – seine Aufführung auf einer Bühne. Neben der Musik spielen Medien im Generellen eine große Bedeutung für Goetz ’ Texte. Er setzt sich dem Konsum von verschiedenen Medien – besonders dem Fernsehen und Tageszeitungen – aus, um das, was er dabei an Welt aufnimmt, an sein Schreiben abzugeben. Maximale Welthaltigkeit ist sein Werkanspruch, der für ihn gleichzeitig eine Definition von Realismus bedeutet. In seinen Texten zeigt sich dieser im Abtippen von Kassenzetteln, dem Aufnehmen und Wiedergeben von Gesprächen aus dem Nachtleben oder wortwörtlichen Mitschriften von Fernsehprogrammen. Wiederum dem Phänomen Pop entsprechend, schließt er alles Denkbare und Mögliche in seine Weltbeobachtung mit ein. Die Folie für diese allumfassende Beschäftigung mit der Welt entnimmt er dabei der Systemtheorie Luhmann’scher Prägung, die in Goetz’ ästhetischem System die Grundarchitektur bildet. Luhmann ist in Gestalt seiner Veröffentlichungen Teil von Goetz’ alltäglicher Welt; es lassen sich einzelne Anhaltspunkte aus der Theorie in Goetz’ Schreiben wiedererkennen, grundlegender ist allerdings der Blick auf das Totale und die Systemhaftigkeit, die er daraus für sein Schaffen zieht. Im Gesamten gleicht der Werkkomplex HEUTE MORGEN dann auch einem System. Es ist ein System, das nach einem strengen Ordnungsschema aufgebaut ist und Querverweise zwischen den einzelnen Teiltexten des Buchkomplexes in sich einschließt. Der Nukleus dieses Systems ist das Theaterstück Jeff Koons. Im Stück werden Dichotomien verhandelt, die sich durch den gesamten Buchkomplex ziehen. Zur Gegenüberstellung von Außen und Innen in Gestalt des Verhältnisses von Paratext und Text tritt der Gegensatz von Nacht als Seite des Lebens und Tag als Seite der Arbeit, die bei Jeff Koons vor allem in Anlehnung an die Werke und die Person des realen Künstlers Jeff Koons in eine Verbindung gebracht werden. Zudem ist die Relation von Einzelnem und Gemeinschaft bzw. Gesellschaft virulent, die sich bei Goetz in der Konfrontation von Literatur mit anderen Künsten wie Bildender Kunst und Musik zeigt. Die Unvereinbarkeit von Schrift mit diesen
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anderen Künsten und Medien ist eine Problemstellung, über die er unentwegt in seinen Texten reflektiert. Das Theaterstück ist so die ›Geschichte der Gegenwart‹ als verdichtetes Gebilde. Man erreicht durch diese Herangehensweise des Abgleichens des Einzeltextes mit seiner Werkumgebung auch eine Annäherung an den abstrakten Dramentext, die Anlass gibt, ihn entgegen aller äußeren Anzeichen doch als Theaterstück in traditioneller Weise zu verstehen. Goetz ist ein Adept der Tradition, die er an der gegebenen Wirklichkeit der Gegenwart ausrichtet, um daraus eine neue Formung der traditionellen Form zu schaffen. Die Vorgabe eines szenischen Konzepts, einer dramatischen Handlung, Sprache und Figuren setzt er durch die hier in Schlagworten zusammengefassten Aspekte seines Schreibens – Zahlen, Geometrie und Musik – in eine Schöpfung um, die das Werk zur Weltform macht: »Wobei ja, eh klar, Wirklichkeit hier steht für rot und Rotinstanz, als großes Buch, das sein Geist IST, in echt.« (Jk, 28) Die wirkliche Weltform des Werks liegt allerdings erst im Nächstkommenden, in dem, was sich noch nicht realisiert hat – das kann für eine Inszenierung des Stücktextes auf einer Theaterbühne gelten oder aber sich auf einen folgenden Buchkomplex beziehen. Goetz ist der Überzeugung: Gemeint sind solche Überlegungen nur unter dem Aspekt der AUGENBLICKLICHEN Lage, im Hinblick auf neue PRODUKTION, auf noch nicht geschriebene Texte also. Das ist die Lebendform der Ansicht, die man als Schreiber aufs Tote der schon geschriebenen Texte hat: was heißt das für das noch zu Schreibende, fürs Kommende, die nächsten Aufgabenstellungen. So ähnlich vielleicht, wie Luhmann seine Bücher und Aufsätze vor Soziale Systeme als Nullserie sieht, vorbereitend, insofern unverzichtbar, aber noch nicht das eigentlich Ding an sich. (Afa, 433) Auf den Werkkomplex HEUTE MORGEN folgt die königsblaue Reihe SCHLUCHT. Die bis dato letzte Buchpublikation Johann Holtrop erscheint in dieser Werkgruppe wie eine Zäsur. Nicht nur wartet man seit Erscheinen des Romans 2012 bislang vergeblich auf einen weiteren Band in der Reihe, auch ist der Roman die einzige Veröffentlichung von Goetz, die als ›echter‹ Roman daherkommt, mit abgestecktem Personal und einer stringenten Handlung. Die neu anvisierte Weltform des Werks – mit Blick auf das Alte, Tote, Zurückliegende – ist der Roman. Hans Blumenberg hat gezeigt, dass Roman und Wirklichkeitsbegriff verwoben sind. Die ontologische Frage nach der Möglichkeit des Romans zu stellen, bedeutet für ihn die Forderung, »nicht mehr nur Gegenstände der Welt, nicht einmal mehr nur die Welt nachbildend
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darzustellen, sondern eine Welt zu realisieren. Eine Welt – nichts Geringeres ist Thema und Anspruch des Romans.«1 Über den Roman als jene literarische Gattung, »die maximale Lebens- und Welthaftigkeit beansprucht«2 , denkt Goetz in seinem Aufsatz zum Spekulativen Realismus nach, der im März 2014 im Magazin Texte zur Kunst erschienen ist. Goetz entwickelt dabei – wie so oft bei seinen Begriffsprägungen – eine eigene Definition eines Spekulativen Realismus, der unabhängig und inhaltlich verschieden von der gleichnamigen philosophischen Strömung ist. Beim Schreiben seines Romans Johann Holtrop sei er auf die Idee gekommen, dass der Realismus »sich eben nicht einfach nur in der Faktizität dessen, was ist, erschöpft, sondern erst aus allen Möglichkeiten, die im Gegebenen mitgegeben sind, seinen Sinn bekommt.«3 Sein Auftrag an einen Roman sei deshalb, diesen Reichtum an Möglichkeiten spekulativ zu erschließen. Die Königsdisziplin solch spekulativ-realistischen Arbeitens wäre eigentlich das Totengespräch, das Goetz in seinem Aufsatz mit Luhmann und Wolfgang Herrndorf gedanklich führt. Von Luhmann wünscht er sich das Buch Der Mensch der Gesellschaft, von Herrndorf die Einsicht, dass seine Selbsttötung falsch war. Ausformung von Goetz’ Idee der maximalen Welthaltigkeit in Form des Spekulativen Realismus ist jedoch sein Roman Johann Holtrop. In der Konzeption der Schreibweise des Romans lassen sich beachtliche Parallelen zum Theaterstück Jeff Koons erkennen, die auf die Kontinuität in Goetz’ Schreiben abzielen, auf die die vorliegende Arbeit gleichsam hinweist: Auf stumme Art muss im Roman eine Analyse des Lesens und des Lesers mitlaufen, deren Kohärenz Fiktion und Realität zusammenhält. Der Ort dieser Analyse ist der Sound des Romans. Er ergibt sich aus der dauernden dreifachen Spekulation des Autors auf den Leser, auf die Welt und auf die beide vermittelnde SPRACHE. Im Leser sind die alten Romane gegenwärtig, in der Welt die heutige Lebenspraxis, sprachlich völlig anders codiert, und die Erwartung des Lesers ist es, beides im Romantext der Gegenwart vorzufinden. Die Reflexion auf diesen Widerspruch ist das eigentliche Abenteuer des heutigen Romans, experimenteller als jedes Formexperiment: die ahnende Erschließung der in der Sprache sedimentierten Objektivität, von Worten, Syntax, Diktionsanmutungen, der aus ihr heraus mitgeteilten und so in die Vorstellungswelt des Lesers übermittelten Bilder, Stimmungen, Gefühle.4
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6. Ausblick: Dunkelblau ist die schönste Farbe der Welt
Johann Holtrop ist Fortführung von Jeff Koons als Werk, das Weltgestalt annimmt. Im Theatertext von 1998 ist diese Perspektive bereits angelegt; sie nimmt auf die Covergestaltung der Nachfolge-Werkreihe SCHLUCHT Bezug: »dunkelblau: schönste Farbe der Welt« (Jk, 48 sowie Afa, 108). Als Roman ist Johann Holtrop dann auch endlich die einzig gültige Form, die die Frühromantiker, deren Bedeutung für Goetz in den vorangegangenen Kapiteln ebenfalls ausgestellt wurde, als das Paradigma ihrer Poesie anerkennen: Nur »[e]in Roman ist ein romantisches Buch.«5 Ob Theaterstück oder Roman – gleichbleibend ist bei Goetz die Gewichtung, die er dem Medium Buch in seiner materialen Gestalt, die das Konzept der Paratextualität offensiv betont, zuschreibt. Als er Johann Holtrop 2012 vor der offiziellen Veröffentlichung im Suhrkamp Verlag geladenen Pressevertretern präsentiert, bekommen die Journalisten nicht, wie sonst üblich, die Fahnen des Buchs zur Besprechung vorgelegt oder vorab geschickt, sondern sie halten ein eigens für diesen Anlass gedrucktes Leseexemplar in ihren Händen. Von dieser Buchvorstellung hat der Verlag offiziell ein Video veröffentlicht, das als Beiwerk zum Roman im Netz kursiert. Goetz begrüßt die anwesenden Journalisten darin mit einer Ansprache, in der er von seinem ursprünglichen Vorhaben berichtet, bei der Drucklegung des Buchs dabei zu sein. Seine Bindung zur Objektizität des Buchs ist allerdings so stark, dass er sich letztlich dagegen entscheidet, weil es existenzielle Fragen in ihm auslöst: »Je mehr ich mir das vorgestellt habe, wie das sein wird, das miterleben zu müssen, umso mehr kam es mir vor, zu meiner eigenen Exekution anreisen zu müssen, und dann hab ich’s nicht gemacht und bin nicht hingefahren.«6 Als er ein paar Tage danach ein Exemplar der Lesefassung von der Herstellungsleiterin des Verlags bekommt, ist Goetz jedoch begeistert von allen paratextuellen Einzelheiten des Buchs – von der Farbe des Covers, der Beschaffenheit des Papiers, der Schwärze des Drucks, dem Satzspiegel, dem Zeilendurchschuss, dem Durchscheinenden der Anfangsseiten, dem Geruch.7 Weltform kann das Werk nur in Abhängigkeit von diesen Qualitäten des Mediums Buch für ihn erlangen. Am Schluss gibt es eine Frage: Was taugt das Buch? Früher ist man so verfahren, da hat man sich das Buch an den Kopf geschlagen und wusste, was es taugt. Wir haben dieses Leseexemplar gemacht, da können sie diese alte Praxis mal testen. Zum gleichen Zeitpunkt, wie wir hier zusammen sind, tagt – ich weiß nicht, in Frankfurt oder irgendwo – die Buchpreisjury und ich habe mich fast schreiend und mit Händen und Füßen hier in diesem Zimmer dagegen gewehrt, dass die Fahnen meines Buchs dort zur Beurteilung eingereicht werden, weil: Nicht die Fahnen, 5 6
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Schlegel, Gespräch über die Poesie, S. 335. Rainald Goetz: Rainald Goetz präsentiert »Johann Holtrop« (im Suhrkamp Verlag). In: https://www.youtube.com/watch?v=gS96txHrUXc (01.12.2019), 01:58-02:08 [Transkription L.H.]. Vgl. ebd., 02:40-03:12.
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nicht die Idee, nicht der Inhalt, nicht die Geschichte, nicht all das, sondern erst dieses fertige Objekt hier mein Roman Johann Holtrop ist.8
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Ebd., 09:30-10:16 [Transkription L.H.].
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Anzeige des Suhrkamp Verlags in der Spex, Januar 1999. Spex 1 (1999), S. 59. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019................................................................................52 Abbildung 2: Anzeige im Suhrkamp Taschenbuch-Journal, Frühjahr 1999. Suhrkamp Taschenbuch-Journal Frühjahr (Januar bis März) 1999. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 26f. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019...................................................................... 53 Abbildung 3: Front- und Rückseite des Buchumschlags der Erstausgabe des Romans Irre (1983). Rainald Goetz: Irre. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, Front- und Rückseite des Buchumschlags. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019 .........................................................53 Abbildung 4: Front- und Rückseite des Buchumschlags der Erstausgabe des Romans Kontrolliert (1988). Rainald Goetz: Kontrolliert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, Front- und Rückseite des Buchumschlags. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019......................................54 Abbildung 5: Front- und Rückseiten der Einbände von Krieg und Hirn (1986). Von links nach rechts abgebildete Einbände: Rainald Goetz: Krieg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, Frontseite; – : Krieg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, Rückseite; – : Hirn. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, Frontseite; – : Hirn. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, Rückseite. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019 ..........................................................................................54 Abbildung 6: Front- und Rückseiten der Einbände des Werkkomplexes FESTUNG (1993). Von links nach rechts abgebildete Einbände: Rainald Goetz: Festung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Frontseite; – : 1989.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Frontseite; – : 1989.2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Frontseite; – : 1989.3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Frontseite; – : Kronos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Frontseite; – : Festung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Rückseite; – : 1989.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Rückseite; – : 1989.2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Rückseite; – : 1989.3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Rückseite; – : Kronos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Rückseite. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019 ......................................................................................................55 Abbildung 7: Schutzumschlag von Celebration (1999). Rainald Goetz: Celebration. 90s Nacht Pop. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, Schutzumschlag. © Suhrkamp Verlag Berlin ...... 55 2019
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Abbildung 8: Frontseiten der Schutzumschläge der Erstausgaben der Werkkomplexe 1986-2012. Von links nach rechts abgebildete Cover: Rainald Goetz: Krieg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, Frontseite; – : Hirn. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, Frontseite; – : Festung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Frontseite; – : 1989.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Frontseite; – : 1989.2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Frontseite; – : 1989.3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Frontseite; – : Kronos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Frontseite; ; – : Rave. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, Frontseite; – : Jeff Koons. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, Frontseite; – : Dekonspiratione. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, Frontseite; – : Celebration. 90s Nacht Pop. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, Frontseite; – : Abfall für alle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, Frontseite; – : Klage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, Frontseite; – : loslabern. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, Frontseite; – : Johann Holtrop. Berlin: Suhrkamp 2012, Frontseite; – : elfter september 2010. Bilder eines Jahrzehnts. Berlin: Suhrkamp 2010, Frontseite. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019................................. 56 Abbildung 9: Rückseiten der Schutzumschläge der Erstausgaben der Werkkomplexe 1986-2012. Von links nach rechts abgebildete Cover: Rainald Goetz: Krieg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, Rückseite; – : Hirn. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, Rückseite; – : Festung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Rückseite; – : 1989.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Rückseite; – : 1989.2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Rückseite; – : 1989.3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Rückseite; – : Kronos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Rückseite; ; – : Rave. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, Rückseite; – : Jeff Koons. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, Rückseite; – : Dekonspiratione. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, Rückseite; – : Celebration. 90s Nacht Pop. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, Rückseite; – : Abfall für alle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, Rückseite; – : Klage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, Rückseite; – : loslabern. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, Rückseite; – : Johann Holtrop. Berlin: Suhrkamp 2012, Rückseite; – : elfter september 2010. Bilder eines Jahrzehnts. Berlin: Suhrkamp 2010, Rückseite. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019 .........57 Abbildung 10: Philipp Otto Runges Konstruktionszeichnung zu Der Morgen (1802). Philipp Otto Runge: Der Morgen. Konstruktionszeichnung. © bpk/Hamburger Kunsthalle/Christoph Irrgang ......................................................................................................... 70 Abbildung 11: Philipp Otto Runges Kupferstich zu Der Morgen (1807). Philipp Otto Runge: Der Morgen. Kupferstich. © Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin .................. 71 Abbildung 12: Eintrag im Weblog Abfall für alle vom 08.02.1998. Rainald Goetz: Screenshot der HTML-Datei des Weblogs Abfall für alle, Eintrag vom 08.02.1998. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019 ........................................................................................................... 72 Abbildung 13: Zeichnung aus Runges Brief an Tieck. Philipp Otto Runge: Gedanken und Erörterungen über die Kunst und das Leben. In: ders.: Hinterlassene Schriften. Hg. v. dessen ältestem Bruder [Johann Daniel Runge], Erster Teil. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965, S. 1-214, hier S. 41 .............................................................................. 74 Abbildung 14: Zeichnung von Sollers zu Nombres. Philippe Sollers: Nombres. Paris: Éditions du Seuil 1968, S. 22 ........................................................................................80
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 15: Werkverzeichnis aus dem Roman Johann Holtrop (2012). Rainald Goetz: Johann Holtrop. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 2. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019 ................... 83 Abbildung 16: Parabel aus der Stücktrilogie Festung. Rainald Goetz: Festung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 53f. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019......................................... 99 Abbildung 17: Werkverzeichnis aus Rave (1998). Rainald Goetz: Rave. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 4. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019......................................................... 105 Abbildung 18: Werkverzeichnis aus Jeff Koons (1998). Rainald Goetz: Jeff Koons. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 4. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019..................................... 106 Abbildung 19: Werkverzeichnis aus Celebration (1999). Rainald Goetz: Celebration. 90s Nacht Pop. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 6. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019 ............... 108 Abbildung 20: Werkverzeichnis aus Abfall für alle (1999). Rainald Goetz: Abfall für alle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 4. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019 ............................... 109 Abbildung 21: Werkverzeichnis aus Dekonspiratione (2000). Rainald Goetz: Dekonspiratione. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 4. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019 ..................... 111 Abbildung 22: Bildausschnitt aus elfter september 2010 (2010). Bildausschnitt aus: Rainald Goetz: elfter September 2010. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 80. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019 ..........................................................................................................118 Abbildung 23: Innenseite des Umschlags (U2) des Programmbuchs zu Jeff Koons, Deutsches Schauspielhaus Hamburg 1999. Rainald Goetz: Programmbuch zur Uraufführung von Jeff Koons. Hamburg: Deutsches Schauspielhaus 1999, U2. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019.............................................................................................................. 121 Abbildung 24: Runge, Sollers, Goetz. Von links nach rechts: Siehe Abb. 13; siehe Abb. 14; siehe Abb. 23 ...................................................................................................... 124 Abbildung 25: Entwurfszeichnung von Richard Meier für das Frankfurter Museum für Kunsthandwerk. Richard Meier: Entwurfszeichnungen für das Frankfurter Museum für Kunsthandwerk © Courtesy of Richard Meier and Partners........................................... 159 Abbildung 26: Goetz mit Luhmanns Das Recht der Gesellschaft am Pool. Rainald Goetz: Celebration. 90s Nacht Pop. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 126f. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019 .......................................................................................................... 185 Abbildung 27: Ausschnitt aus dem Theaterstück Jeff Koons (1998). Rainald Goetz: Jeff Koons. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 48f. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019................. 230 Abbildung 28: Luhmann als Hegel, gezeichnet von Goetz. Rainald Goetz: Festung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 245. © Suhrkamp Verlag Berlin 2019.................................. 264 Abbildung 29: Anzeige in der Zeitschrift Artforum für Koons’ Werkserie Banality (1988). Jeff Koons: Art Ad Portfolio für die Werkserie Banality. Wie abgebildet in: Julie Champion (Hg.): Jeff Koons – la rétrospective. Le portfolio de l’exposition./a retrospective. The Portfolio of the exhibition. 26. November 2014 – 27. April 2015, Centre Pompidou. Paris: Éditions du Centre Pompidou 2014, S. 75 .................................................................. 271
305
306
Werk ist Weltform
Abbildung 30: Goetz bei seiner ersten Frankfurter Poetikvorlesung (1998). Rainald Goetz: Poetikvorlesung in Frankfurt. Wie abgebildet in: Ruthard Stäblein: Der Dichter als Pop-Priester. Die Frankfurter Poetik-Vorlesung von Rainald Goetz: Eine Performance. In: Tagesspiegel vom 13.06.1998, S. 25 © Claus Gretter.................................................... 271
Literaturwissenschaft Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Thorsten Carstensen (Hg.)
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Literaturwissenschaft Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)
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Jürgen Brokoff, Robert Walter-Jochum (Hg.)
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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 1 2019, 190 S., kart., 5 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4459-3 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4459-7
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