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German Pages [435] Year 2021
STEVEN MÜLLER-UHRIG
Wer regiert RusslanD? DAS AUFBEGEHREN DES RUSSISCHEN ADELS 1730 ALS VERMEINTLICHE GEFÄHRDUNG DER MONARCHEN EUROPAS
Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts Band 20 Herausgegeben von Franz M. Eybl, Wolfgang Schmale und Thomas Wallnig (Bd. 1–8 hg. von Moritz Csáky)
Steven Müller-Uhrig
Wer regiert Russland? Das Aufbegehren des russischen Adels 1730 als vermeintliche Gefährdung der Monarchen Europas
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1/6a, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-205-21280-5
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1.1 Der Thronwechsel 1730 – historischer Hintergrund und Erkenntnisinteresse . . 1.2 Begründung der Auswahl der zu untersuchenden Höfe . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Methodischer Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Der Kreis der Diplomaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 19 30 39 46 52 66
2.
Die Erkrankung und der Tod Zar Peters II. . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.1 Synchrone Betrachtungen europäischer Diplomaten am Moskauer Hof – Informationszugänge und -vermittlung in europäischen Diplomatennetzwerken . 70 2.2 Europäische Reaktionen – von Fassungslosigkeit bis Freude . . . . . . . . . . . 93 2.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
3.
Nachfolgedebatte, Designation und Beurteilung Annas . . . . . . . . . 117 3.1 Die weibliche Herrschaft als Ergebnis eines Aushandlungsprozesses . . . . . . . 122 3.2 Die Blicke der europäischen Höfe auf die Wahl Annas . . . . . . . . . . . . . . 159 3.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
4.
Die Beschränkung der Macht der Zarin – Gerüchte, Vorstellungen, Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
4.1 Die Konditionen des Obersten Geheimen Rates . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 4.2 Russland zwischen europäischer Macht und Ohnmacht? . . . . . . . . . . . . . 227 4.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
6
5.
Das Aufbegehren Jagužinskijs gegen die Einschränkung der Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
5.1 Die Festnahme Jagužinskijs und ihre Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 5.2 Zwischen Macht und Machtbeschränkung – das Aufbegehren des russischen Adels gegen den Obersten Geheimen Rat . . . . . . . . . . . . . . . 260 5.3 Europäische Beurteilungen des Falls Jagužinskij . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 5.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
6.
Annas Ankunft in Moskau – Kommunikation ohne Worte? . . . . . . . 295 6.1 Erste Amtshandlungen als Zarin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 6.2 Die Wahrnehmung Annas in der europäischen Fürstengemeinschaft . . . . . . . 317 6.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
7. „… ist endlich dennoch nichts darauß geworden“ – die Souveränitätserklärung der Zarin und das Scheitern der Machtbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
7.1 Die Souveränitätserklärung der Zarin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 7.2 Die Auswirkungen der Souveränitätserklärung Annas . . . . . . . . . . . . . . 356 7.3 Europa – die Deutungshoheit über die Militärunterstützung Russlands . . . . . 372 7.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
8.
Diplomatische Kommunikation in Netzwerken: die Darstellung und Bewertung des russischen Thronwechsels 1730 – eine Ergebnissicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
9.
Anhang: Verzeichnis aller in der Arbeit genannten diplomatischen Vertreter . . . . . . . . . . . . . . . 407
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Internetdokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
Danksagung Mein besonderer Dank gilt als Erstes meiner Doktormutter Privatdozentin Dr. Franziska Schedewie und meinem Zweitbetreuer Professor Dr. Christoph Augustynowicz für die hervorragende Betreuung meiner Arbeit und das hohe in mich gesetzte Vertrauen. Besten Dank auch für die konstruktiven und gewinnbringenden Anregungen und den stets aufmunternden Zuspruch. Zudem möchte ich mich für die Unterstützung bei der Bewerbung für das gewährte Promotionsstipendium der Gerda-Henkel-Stiftung bedanken. Herrn Professor Dr. Wolfgang Schmale danke ich für die Aufnahme in die Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts. Der Gerda-Henkel-Stiftung danke ich für mein Promotionsstipendium und den Druckkostenzuschuss, die diese Arbeit ermöglichten. Ich danke darüber hinaus stellvertretend namentlich Anna Kuschmann, die alle meine Anliegen im Sinne des Gelingens meiner Arbeit umgehend bearbeitete. Meinen Taufpaten Angelika Haller-Wolf und Henning Wolf sei der herzlichste Dank ausgesprochen für die beständige Begleitung meines privaten und akademischen Lebenswegs. Für die erfolgte – immer als selbstverständlich angesehene – Unterstützung und die beständige Motivation kann ich nicht genug danken. Die inhaltlichen Hinweise und die aufbauenden Worte in anstrengenden Phasen und das mühevolle Korrekturlesen haben sehr zum Gelingen beigetragen. Ich danke von Herzen meiner Oma Gertrud Müller, die mich ermunterte und bestärkte, meine Dissertation zu beginnen und mich beharrlich – aber überaus liebevoll – daran erinnerte, sie mit Fleiß in gebührender Zeit zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Meiner Mutter Bianca Müller und Frank Harbusch gilt mein herzlichster Dank für den emotionalen Rückhalt und die Unterstützung, die ich seit Jahren von beiden erfahre. Auch meinem Vater Peter Müller danke ich überaus für sein offenes Ohr und die finanzielle Unterstützung nach Ablauf meines Stipendiums. Den Dank, den ich gegenüber meinem Ehemann Björn Uhrig empfinde, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Er verschaffte mir nicht nur die nötige Abwechslung, indem er mir – mit Freunden und meinen Schwiegereltern – manch ausgelassene Stunde schenkte; ebenso ermunterte er mich beständig und ertrug selbstlos, dass so mancher Abend meiner Arbeit gewidmet war. Unermüdlich stand er mir zur Seite – gegen Ende hin oft bis spät in die Nacht mein Manuskript lesend. In Liebe und Dankbarkeit sei ihm diese Arbeit gewidmet.
Vorbemerkung Das vorliegende Buch wurde 2019 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Dissertation angenommen. Die Transliteration kyrillischer Schreibweisen ins Deutsche erfolgte nach der wissenschaftlichen Transliteration (ISO 9). Ausnahmen bilden Herrscher- und Städtenamen, für die es eine gängige Schreibweise im deutschsprachigen Raum gibt, wie beispielsweise Peter, Elisabeth oder Katharina und St. Petersburg oder Moskau. Für den Betrachtungszeitraum dieser Arbeit sind in verschiedenen Herrschaftsgebieten Datierungen des julianischen und gregorianischen Kalenders zu finden. Der julianische Kalender wies im 18. Jahrhundert elf Tage Differenz zum gregorianischen Kalender auf. Alle Datumsangaben sind, sofern nicht anders gekennzeichnet, nach dem gregorianischen Kalender datiert. Der julianische Kalender galt damals für Russland, Mecklenburg-Schwerin und England. Während die kaiserlichen, preußischen und sächsischen Korrespondenzen nach dem gregorianischen Kalender datiert sind, sind die mecklenburgischen und englischen Korrespondenzen nach dem julianischen Kalender datiert. Allein die holstein-gottorfischen Relationen weisen eine doppelte Datierung nach julianischem und gregorianischem Kalender auf. Die Datierung wurde in den Archivalien wahlweise doppelt belassen oder die gregorianische Datierung hinzugefügt. In der vorliegenden Arbeit werden die Bezeichnungen Russland, Russländisches Reich und Zarenreich als Synonym verwendet. Obgleich die Bedeutungen unterschiedlich sind, wird vorliegend der sprachlichen Gewohnheit des deutschsprachigen Raums gefolgt. Russland beziehungsweise russisch beziehen sich auf die Ethnie der Russen.1 Die Bezeichnung Russländisches Reich und das zugehörige Adjektiv russländisch hingegen haben eine supraethnische Bedeutung und tragen den verschiedenen Ethnien innerhalb des Zarenreiches Rechnung.2 Die Adjektive russisch und moskowitisch sind in den Gesandtschaftsrelationen weitgehend synonym verwendet. Eine pejorative Verwendung3 kann zumeist nicht damit verbunden werden. Ist dies der Fall, wird dies gesondert interpretiert. Das Kurfürstentum Sachsen wurde im zugrunde liegenden Zeitraum in Personalunion mit dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen regiert. Während August der Starke im Kurfürstentum Sachsen als Friedrich August I. in die Geschichte einging, war seine 1 2 3
Vgl. Andreas Kappeler: Russische Geschichte, München 2014, S. 13 f. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. Birgit Fissahn: Faszination und Erschrecken. Die Rußlandberichterstattung der „Europäischen Fama“ in der nachpetrinischen Ära, in: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 18. Jahrhundert: Aufklärung, hg. von Mechthild Keller, München 1987, S. 136–152, hier S. 142. Eckhard Matthes: Das veränderte Rußland und die unveränderten Züge des Russenbilds, in: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 18. Jahrhundert: Aufklärung, hg. von Mechthild Keller, München 1987, S. 109–135, hier S. 118.
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Vorbemerkung
offizielle Bezeichnung im Königreich Polen und Großfürstentum Litauen König August II. Es wurden durchgängig der ranghöhere Titel des Königs von Polen und die Namensbezeichnung König August II. verwendet. Die Bezeichnung Kurfürst von Sachsen wird nur dort gebraucht, wo der Titel Kurfürst von Sachsen verfassungsgeschichtlich relevant ist. Die ranghöhere Bezeichnung des Königs von Polen findet sich zumeist in den Quellen. Dadurch wird der formal korrekte, aber sperrige Ausdruck Friedrich August I., Kurfürst von Sachsen und König von Polen und Großfürst von Litauen, August II. vermieden. Es soll die Lesefreundlichkeit erhalten bleiben und nicht fälschlicherweise der Eindruck beim Leser erweckt werden, dass es sich hier um zwei Personen handeln könnte. Die verwendete Bezeichnung sächsischer Gesandter oder sächsisch-polnischer Gesandter müsste formal korrekt sächsischer und polnisch- litauischer Gesandter lauten, da der sächsische Gesandtschaftsdienst die diplomatische Vertretung für das Kurfürstentum Sachsen und für das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen übernahm.4 Die Bezeichnungen Preußen und preußisch schließen das Kurfürstentum Brandenburg mit ein. Der Name des souveränen Königreiches setzte sich seit 1701 mehr und mehr als Bezeichnung durch.5
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Vgl. Jacek Staszewski: Diplomatie und Außenpolitik, in: Unter einer Krone. Kunst und Kultur der sächsisch-polnischen Union, hg. von Werner Schmidt, Leipzig 1997, S. 162–164, hier S. 162. Rex Rexheuser: Einleitung, in: Die Personalunionen von Sachsen-Polen 1697–1763 und Hannover-England 1714–1837. Ein Vergleich, hg. von Rex Rexheuser, Wiesbaden 2005, S. 11–33, hier S. 24. Józef Andrzej Gierowski: Ein Herrscher – Zwei Staaten. Die sächsisch-polnische Personalunion als Problem des Monarchen aus polnischer Sicht, in: Die Personalunionen von Sachsen-Polen 1697–1763 und Hannover-England 1714–1837. Ein Vergleich, hg. von Rex Rexheuser, Wiesbaden 2005, S. 121–152, hier S. 139–141. Zum polnischen diplomatischen Dienst ausführlicher, siehe Judith Matzke: Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, Leipzig 2011, S. 118–127. Józef Gierowski; Józef Leszczynski: Dyplomacja polska w dobie unii personalnej polsko-saskiej, in: Polska służba dyplomatyczna XVI–XVIII wieku. Studia, hg. von Zbigniew Wójcik, Warszawa 1966, S. 369–430. Vgl. Wolfgang Neugebauer: Geschichte Preußens, Hildesheim 2004, S. 57.
1. Einleitung
1.1 Der Thronwechsel 1730 – historischer Hintergrund und Erkenntnisinteresse „Wieder alle schon beser angeschienen gewese Hofnung ist es mit dem Zustand des hiesigen Monarchens vorvorgestern an beständig schlimmer worden, bis derselbe endlich früh morgens umb ein uhr nach mitter-nacht Tods verblichen, ohne eine letzte Willens Verordnung gemachet zu haben.“6
Diese Nachricht von der Erkrankung und dem Tod Zar Peters II. (1715–1730) vermeldete am 30. Januar 1730 der kaiserliche Gesandte aus Moskau an den Wiener Hof. Während der Hochzeitsvorbereitungen Peters II. war dieser an einer seltenen Art der Pocken erkrankt, die gänzlich unerwartet in nur zwölf Tagen zu seinem Tod führte. Der erst 14-jährige Zar hatte weder Nachkommen, noch war es ihm aufgrund der krankheitsbedingten Fieberschübe möglich, seine Nachfolge zu regeln. Dies stellte eine besondere Herausforderung für das unter Peter I. zur Großmacht aufgestiegene Russländische Reich dar, da die männliche Linie der Romanovs mit dem Tod Peters II. erlosch.7 Nun standen eine Vielzahl von möglichen Nachfolgerinnen und ein Nachfolger zur Auswahl: die Prinzessin Elisabeth Petrovna, Tochter Peters I., der zweijährige Herzog von Holstein, Karl Peter Ulrich, als Enkel Peters I. und Sohn Anna Petrovnas, und die weiblichen Nachkommen von Peters älterem Halbbruder Ivan V.: Katharina Ivanovna, verheiratete Herzogin von Mecklenburg, Anna Ivanovna, verwitwete Herzogin von Kurland, und deren jüngere Schwester Praskov’ja Ivanovna. Zudem versuchte die mächtige Familie Dolgorukij, eines der vornehmsten und ältesten Geschlechter Russlands mit Schlüsselpositionen am Hof Peters II., ihrerseits dessen Verlobte Katharina Dolgorukaja als künftige Zarin durchzusetzen. Allein diese Komplexität der Thronfolge, die die Diplomaten der europäischen Höfe besonders beschäftigte, hätte ausgereicht, um das europäische Mächtegleichgewicht durch eine langwierige Suche nach einer geeigneten Kandidatin oder einem geeigneten Kandidaten empfindlich zu stören. Zudem lag während des Interregnums die Macht in den Händen des 1726 gegründeten Obersten Geheimen Rats. Er war
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Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 30.1.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 47r. Vgl. Igor‘ Vladimirovič Kurukin; Aleksej Borisovič Plotnikov: 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda. Sobytija, ljudi, dokumenty, Moskva 2010, S. 31. Vasilij Osipovič Ključevskij: Kurs russkoj istorii, Mos kva, Petrograd 1923, S. 352. Evgenij Viktorovič Anisimov: Frauen auf dem russischen Thron, Wien 2008, S. 72.
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Einleitung
das mächtigste institutionalisierte Gremium des Zarenreichs.8 Da diesem Rat unter anderem das Kriegskollegium, die Admiralität und das Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten unterstanden,9 hatte dieser Einfluss auf die russische Außenpolitik10 – mithin ebenso auf die Informationspolitik gegenüber den Gesandten am Moskauer Hof. Noch in der Todesnacht verfasste der Oberste Geheime Rat, der vor allem aus Vertretern der zwei mächtigsten Adelsfamilien Dolgorukij und Golicyn bestand, Konditionen als Voraussetzung für die Erlangung der Zarenwürde. Diese sollten die absolute Macht der Nachfolgerin oder des Nachfolgers in den außenpolitischen, dynastischen und erbfolgerechtlichen Kompetenzen beschneiden. Der Adel sicherte sich Schutzrechte zu, einschließlich eines eigenen Kooptationsrechts für den achtköpfigen Rat. Jeder Bruch dieser Konditionen sollte mit dem Entzug der Zarenkrone einhergehen.11 Die europäischen Diplomaten am Moskauer Hof waren über die plötzlich ungeklärten Machtverhältnisse zutiefst besorgt,12 denn Europa befand sich zu diesem Zeitpunkt am Rande eines Krieges. Zwischen der spanischen Königin Elisabeth Farnese, die an Stelle ihres Ehemanns König Philipp V. de facto regierte, und Kaiser Karl VI. war von Neuem ein seit dem Spanischen Erbfolgekrieg bestehender Konflikt um umstrittene Besitztümer auf der italienischen Halbinsel entbrannt.13 Beide erhoben dynastische Ansprüche auf die Großherzogtümer Toskana und Parma, seitdem sich das Aussterben der dort regierenden Medici abzeichnete, da der homosexuelle, letzte Großherzog Gian Gastone kinderlos war.14 Die Interessen der 8
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Vgl. David L. Ransel: The Government of Crisis of 1730, in: Reform in Russia and the U.S.S.R. Past and Prospects, hg. von Robert O. Crummey, Urbana 1989, S. 45–71, hier S. 47. Der Oberste Geheime Rat wurde am 8. Februar 1726 gegründet und am 4. März 1730 von Zarin Anna aufgelöst. Zu seiner personellen Zusammensetzung siehe Erik Amburger: Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, Leiden 1966, S. 62 f. Vgl. Aleksandr Kamenskiĭ; David Mark Griffiths: The Russian Empire in the Eighteenth Century. Searching for a Place in the World, Armonk 1997, S. 131. Vgl. Anna Joukovskaïa-Lecerf: Le conseil du tsar dans la culture politique de l’époque pétrovienne. La genèse du Conseil suprême secret, fin XVIIe s. 1726, in: CMR 44, 2003, S. 577–603, hier S. 579. Siehe dazu ediert: Protokol zasedanij Verchovnogo tajnogo soveta, soderžaščij rešenie ob izobranii na rossijskij prestol carevny Anny Ivanovny i utverždennyj verchovnikami tekst pred’javljaemych ej „kondicij“ (19.01.1730Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 118–120. Vgl. Evgenij Viktorovič Anisimov: Rossija bez Petra. 1725–1740, Sankt-Peterburg 1994, S. 390 f. Karl-Heinz Ruffmann: Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, in: JGO 5, 1957, S. 257–269, hier S. 258. Nikolaj Ivanovič Pavlenko: Anna Ioannovna, Moskva 2017, S. 29. Vgl. Charles C. Noel: ‘Bárbara succeeded Elizabeth …’. The Feminisation and Domestication of Poli tics in the Spanish Monarchy 1701–1759, in: Queenship in Europe 1660–1815. The Role of the Consort, hg. von Clarissa Campbell Orr, Cambridge 2004, S. 155–185, hier S. 155. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 257 f. Michael Erbe: Frühe Neuzeit, Stuttgart 2007, S. 202–208. Matthias Schnettger: Geschichte einer Dekadenz? Die italienischen Dynastien im Europa der Frühen Neuzeit, in: JbEurG 8, 2007, S. 51–75, hier S. 69–73. Walter Demel: Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts. Ständische Gesellschaft und europäisches Mächtesystem im beschleunigten Wandel (1689/1700–1789/1800), Stuttgart 2000, S. 235 f. Vgl. Christian Wieland: Gefangen im Mythos der Familientradition. Das Ende des Hauses Medici, in: Zwischen Schande und Ehre. Erinnerungsbrüche und die Kontinuität des Hauses. Legitimations-
Der Thronwechsel 1730 – historischer Hintergrund und Erkenntnisinteresse
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betroffenen Dynastie der Medici blieben in diesem Nachfolgekonflikt nahezu unberücksichtigt.15 Für den Fall eines Krieges hatte Zar Peter II. seinem Onkel, Kaiser Karl VI., bereits militärische Unterstützung zugesichert. Daher verlor der Kaiser nicht nur seinen Neffen, sondern auch einen bedeutenden Verbündeten. Die 1726 geschlossene kaiserlich-russische Allianz war für die Stabilität der europäischen Bündniskonstellationen wichtig. Ein Herrscherwechsel bedeutete im 18. Jahrhundert stets die Gefährdung geschlossener Bündnisverträge, da diese zwischen Personen geschlossen wurden und es zudem bei Herrscherwechseln oft zum Austausch oder sogar zum Sturz von einflussreichen Amtsträgern des Hofs kam.16 Es stellten sich die Fragen, ob die geschlossenen Bündnisse Russlands mit Preußen und dem Kaiser verlängert werden oder eine langwierige Thronfolgekrise und innerrussische Auseinandersetzungen das fragile Kräftegleichgewicht in Europa ernsthaft gefährden konnten. Gab es Versuche, den Wiener Hof, den für Russland wichtigsten Bündnispartner in Europa,17 von diesem zu lösen? Gerade die schnellen Bündniswechsel der 1720er Jahre ließen solche Befürchtungen 1730 aufkommen.18 Die Königreiche England und Frankreich waren seit dem Ende 1729 geschlossenen Vertrag von Sevilla mit Spanien und den Niederlanden einem Bündnis beigetreten, das sich gegen die kaiserlichen Interessen wandte. Der Thronwechsel erfolgte in einem Zeitraum, in dem sich die europäischen Staaten in einer „undurchsichtigen Zeit allgemeiner Neuorientierung“19 befanden. Die verschiedenen Spannungsfelder lassen erahnen, welche Sprengkraft die unerwarteten Ereignisse des Thronwechsels im Russländischen Reich auf das fragile europäische Mächtegleichgewicht haben konnten. Die vorliegende Arbeit untersucht daher den russischen Thronwechsel 1730 aus den Perspektiven ausgewählter europäischer Höfe. Dazu zählen neben dem Kaiserhof in Wien die
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muster und Traditionsverständnis des frühneuzeitlichen Adels in Umbruch und Krise, hg. von Martin Wrede und Horst Carl, Mainz 2007, S. 445–464, hier S. 448–452. Vgl. Schnettger, Geschichte einer Dekadenz?, S. 69. Wieland, Gefangen im Mythos der Familientradition, S. 457. Vgl. Christian Steppan: Simvoličeskaja politika v epoche oživlenija avstro-russkich otnošenij. Imper atorskij posol Franz Karl Graf Vratislav v Rossii 1728–1733, in: Slavjanskij mir v tret’em tysjačeletii. Slavjanskie narody. vektory vzaimodejstvija v Central’noj, Vostočnoj i Jugo-Vostočnoj Evrope, hg. von E. S. Uzenëva, Moskva 2010, S. 130–139, hier 132. Christian Steppan: Akteure am fremden Hof. Politische Kommunikation und Repräsentation kaiserlicher Gesandter im Jahrzehnt des Wandels am russischen Hof (1720–1730), Göttingen 2016, S. 412. Andreas Pečar: Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711–1740), Darmstadt 2003, S. 57 f. Jan Hennings: Russia and Courtly Europe. Ritual and the Culture of Diplomacy, 1648–1725, Cambridge 2016, S. 186. Brenda Meehan-Waters: Elite Politics and Autocratic Power, in: Great Britain and Russia in the Eight eenth Century. Contacts and Comparisons, hg. von Anthony G. Cross, Newtonville, Mass. 1979, S. 229–246, hier S. 236. Vgl. Christine Roll: Dynastie und dynastische Politik im Zarenreich. Befunde und Überlegungen zur Heiratspolitik der Romanovs im 17. und 18. Jahrhundert, in: JbEurG 8, 2007, S. 77–102, hier S. 80. Vgl. Demel, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts, S. 219. Hans Jochen Pretsch: Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736. Ein kursächsischer Kabinettsminister im Dienst des Prinzen Eugen von Savoyen und Kaiser Karls VI., Bonn 1970, S. 13.
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Einleitung
Höfe Preußens, Holstein-Gottorfs, Mecklenburg-Schwerins, Frankreichs, Englands und die in Personalunion regierten Höfe Kursachsens und Polen-Litauens. Die Analyse erfolgt auf der Grundlage der umfangreich in den Archiven vorhandenen Gesandtschaftsakten dieser Höfe, welche dadurch gleichzeitig erschlossen werden. Um die europäischen Sichtweisen auf die Entwicklungen im Russländischen Reich zu bestimmen, werden die bilateralen Beziehungen zwischen dem Moskauer Hof und den genannten Höfen analysiert. Zudem werden die vorhandenen geheimen und offiziellen Gesandtschaftskorrespondenzen zwischen den genannten Höfen und dem Kaiserhof ausgewertet, um die Auswirkungen der russischen Ereignisse auf die europäische Bündnispolitik und im Besonderen auf die kaiserliche Politik zu ermessen. Wie und mit welchen Mitteln suchte der Kaiser Einfluss auf die Reaktionen der anderen Höfe zu nehmen? Die Wahl des Wiener Hofs als zweiten Fixpunkt dieser Arbeit liegt darin begründet, dass dieser Hof für das politische Gefüge Europas – als Bündnispartner Russlands und Preußens, als ranghöchster weltlicher Herrscher Europas und als Gegner der spanischen Krone – unerlässlich war. Mit dem Thronwechsel ging sowohl der Versuch der Limitierung der russischen Autokratie als auch der Wahl einer Frau zur Herrscherin einher, um das dynastische Nachfolgeproblem zu lösen. Welche Auswirkungen der Thronfolgekrise und der mit ihr einhergehenden Ausdifferenzierung der außenpolitischen Akteure im Zarenreich antizipierten die europäischen Höfe und deren in Moskau anwesenden Diplomaten in Bezug auf die gesamteuropäischen Bündniskonstellationen? Es gilt, die Berichte der Gesandten in Moskau vor dem Hintergrund der europäischen Bündnisinteressen zu untersuchen. Zweifel an einer Rekonstruktion der Ereignisgeschichte des Thronwechsels anhand diplomatischer Relationen werden seit Langem immer wieder geäußert.20 Da die Situation 1730 durch Gerüchte, Vermutungen, Widersprüchlichkeiten und offene Fragen geprägt war, muss konstatiert werden, dass diese Quellenart – nämlich die diplomatischen Relationen – nur bedingt, wenn überhaupt dafür geeignet ist, Ereignisse detailliert zu rekonstruieren. Dies ist, wie bereits die akademische Antrittsrede Ueber den Werth diplomatischer Depeschen als Geschichtsquellen des Historikers Heinrich Ulmann 1874 diskutierte, keine genuin neue Erkenntnis der Neuen Diplomatiegeschichte. Bereits Ulmann wies auf die vielfältigen Probleme bei der Rekonstruktion von vermeintlichen Wahrheiten anhand diplomatischen Schriftguts hin. Er plädierte dafür, die Befähigung, die Sprachkenntnisse, die Vertrautheit mit den Vertretern fremder Höfe und die Entstehungsumstände und die Gefahr der Spionage und Chiffrierungen besonders in den Blick zu nehmen. Auch geheime Korrespondenzen, von denen möglicherweise der Gesandte selbst nichts wusste, können die Aussagekraft der offiziellen Korrespondenz gänzlich infrage stellen. Zudem waren Widerrufungen von vorher Genanntem durch den Gesandten möglich und üblich, weswegen eine möglichst vollständige Auswertung notwendig ist.21 Diese Er20
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Vgl. Nikolaj Nikolaevič Petruchincev: Carstvovanie Anny Ioannovny. Formirovanie vnutripolitičeskogo kursa i sudʹby armii i flota 1730–1735 g., Sankt-Peterburg 2001, S. 37. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 25–27. Vgl. Heinrich Ulmann: Ueber den Werth diplomatischer Depeschen als Geschichtsquellen, Leipzig 1874.
Der Thronwechsel 1730 – historischer Hintergrund und Erkenntnisinteresse
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kenntnisse und kulturgeschichtliche Betrachtungen erlebten erst mit der so genannten Neuen Diplomatiegeschichte ihren Durchbruch.22 Hierbei werden unter anderem nicht nur politische, sondern auch ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte und die Art der Kommunikation und die vielfältigen Interessenlagen einschließlich der Loyalitäten einzelner Akteure in den Blick genommen.23 Die vielfältigen Auswertungsmöglichkeiten diplomatischer Korrespondenzen jenseits der Rekonstruktion politischer Geschehnisse24 bedingten das verstärkte Interesse an einer lange vernachlässigten Quellenart.25 Stereotypenforschung, Kulturtransfer und Wahrnehmung des Fremden sind einige von vielen möglichen Forschungsansätzen, die sich aus Gesandtschaftsakten ergeben können.26 Auch Themen wie Klima und Gesundheit finden sich in Gesandtschaftsberichten vielfach wieder.27 Dabei sei angemerkt, dass aufgrund der klimatischen Bedingungen Gesandtschaftsposten in Russland besonders unbeliebt waren.28 22
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Vgl. Friedrich Edelmayer: Gesandtschaftsberichte in der Frühen Neuzeit, in: Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, hg. von Josef Pauser, Martin Scheutz und Thomas Winkelbauer, Köln/Wien 2004, S. 849–860, hier S. 855. Harriet Rudolph; Gunda Barth-Scalmani; Christian Steppan: Einleitung, in: Politische Kommunikation zwischen Imperien. Der diplomatische Aktionsraum Südost- und Osteuropa, hg. von Gunda Barth-Scalmani, Harriet Rudolph und Christian Steppan, Innsbruck 2013, S. 9–17. Corina Bastian: Verhandeln in Briefen. Frauen in der höfischen Diplomatie des frühen 18. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2013, S. 14–20. Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 4 f. Hillard von Thiessen; Christian Windler: Außenbeziehungen in akteurszentrierter Perspektive, in: Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, hg. von Hillard von Thiessen und Christian Windler, Köln 2010 (Externa), S. 1–12, hier S. 3–10. Vgl. Rudolph, Barth-Scalmani, Steppan, Einleitung, 9–11. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 10–15. Vgl. Edelmayer, Gesandtschaftsberichte in der Frühen Neuzeit, S. 855. Vgl. Thiessen, Windler, Außenbeziehungen in akteurszentrierter Perspektive, S. 1–3. Vgl. Edelmayer, Gesandtschaftsberichte in der Frühen Neuzeit, S. 855. Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785, Paderborn, München, Wien, Zürich 1997, S. 35. Zu Forschung in Bezug auf abendländisch-russische Stereotypenforschung anhand von diplomatischen Akten siehe Gabriele Scheidegger: Perverses Abendland – barbarisches Russland. Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse, Zürich 1993. Zur kritischen Hinterfragung von (konstruierten) Fremd- und Feindbildern in östlichen Europa siehe Christoph Augustynowicz, Agnieszka Pufelska (Hg.): Konstruierte (Fremd-?)Bilder. Das östliche Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts, Berlin 2016. Christoph Augustynowicz: „Ablegations-Negocien von keiner Erhöblichkeit“? Wirken und Wirkung der Moskauer Großgesandtschaft in Wien 1687, in: 200 Jahre russisches Außenministerium, hg. von Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs, Innsbruck, Wien, Bozen 2003, S. 43–63, hier S. 52–60. In Bezug auf die Schweizer Eidgenossenschaft siehe Christian Windler: Diplomatie als Erfahrung fremder politischer Kulturen. Gesandte von Monarchen in den eidgenössischen Orten (16. und 17. Jahrhundert), in: GG 32, 2006, S. 5–43. Vgl. Matthew P. Romaniello: Humoral Bodies in Cold Climates, in: Russian History Through the Senses. From 1700 to the Present, hg. von Matthew P. Romaniello und Tricia Starks, London, Oxford, New York, New Delhi, Sydney 2016, S. 23–43, hier S. 30–34. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 362 und S. 534 f. Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 174. Klaus
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Einleitung
Es ist das Ziel vorliegender Arbeit, anhand diplomatischer Berichte die Vorstellungswelten der einzelnen Akteure innerhalb der diplomatischen Netzwerke und der jeweiligen Höfe offenzulegen. Die schnellen Veränderungen und die fortwährenden Unsicherheiten der Gesandten, aber auch der Herrscher darüber, ob die empfangenen Informationen über den Thronwechsel 1730 bloß Gerüchte, gesicherte Informationen oder bewusst gestreute Fehlinformationen waren, bieten eine gute Grundlage dafür. Die Darstellung und Analyse mitunter bloß antizipierter Vorstellungen, die nicht zum realen Ereignis wurden, bieten einen Einblick in die Denkmuster des frühen 18. Jahrhunderts. Diese Muster waren mitunter lediglich Projektionen, Mutmaßungen, Missverständnisse, stereotype Denkweisen über das Fremde oder aber Zukunftserwartungen und notwendige Komplexitätsreduktionen der gemachten Beobachtung.29 Diese gilt es hierbei nicht zu bewerten oder gar abzuwerten, sondern im Sinne der Mentalitätsforschung zu historisieren und in ihrem zeitlichen Kontext zu erklären.30 In widersprüchlichen Meldungen, Gerüchten und Halbwahrheiten liegen diesem Ansatz nach die Stärken der zu untersuchenden Quellen. Die Verschleierung oder Benennung der Informationsquellen der Gesandten und deren Wissensstand legen offen, wie diplomatische und höfische Netzwerke kommunizierten und funktionierten. Diplomaten waren integraler Bestandteil der höfischen europäischen Gesellschaften.31 Dabei waren sie Akteure und Rezipienten,32 außerdem Sender und Verarbeiter von Informationen. Gesandte waren dabei nicht nur Beobachter, sondern auch Teilnehmer an den zu untersuchenden Ereignissen;33 dies muss zwingend bei der Untersuchung berücksichtigt werden. Die Kommunikation zwischen Personen und Höfen in verbaler und nonverbaler Form und Symbole und Geschenkaustausch, einschließlich deren Umwidmung, werden hierbei ebenso untersucht. Besonders diplomatische Geschenke dienten der Klientelbildung und der Kalkulier- und Vorhersehbarkeit von Entscheidungen und durch öffentliche Inszenierung der
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Müller: Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648– 1740), Bonn 1976, S. 183. Romaniello, Humoral Bodies in Cold Climates, S. 30–37. Vgl. Jan Kusber: Die Autokratie, Wahl und Wahlkapitulationen im Russländischen Reich der frühen Neuzeit, in: Wahlkapitulationen in Europa, hg. von Heinz Duchhardt, Göttingen 2015, S. 73–93, hier S. 76. Black erhebt diese Forderung für die englischen Gesandtschaftsberichte aus Polen, siehe Jeremy Black: Hannover/England, Saxony/Poland. Political Relations between Staates in the Age of Personal Union: Interests and Aims, in: Die Personalunionen von Sachsen-Polen 1697–1763 und Hannover-England 1714–1837. Ein Vergleich, hg. von Rex Rexheuser, Wiesbaden 2005, S. 431–454, hier S. 440 f. Vgl. Gabriele Scheidegger: Endzeit. Russland am Ende des 17. Jahrhunderts, Bern 1999, S. 11 f. Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 270. Lorenz Erren, Tagungsbericht: Russland und der russische Hof aus der Sicht europäischer und osmanischer Diplomaten (1697–1762), https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3552, 17.09.2020. Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 270. Vgl. Lorenz Erren, Tagungsbericht: Russland und der russische Hof aus der Sicht europäischer und osmanischer Diplomaten (1697–1762), https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3552, 17.09.2020.
Der Thronwechsel 1730 – historischer Hintergrund und Erkenntnisinteresse
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Versinnbildlichung politischer Machtverhältnisse.34 Symbolische Kommunikation war in der Frühen Neuzeit ein integraler Bestandteil politischen Handelns, der in der Forschung wieder als unverzichtbarer Bestandteil der Analyse politischer Ereignisse gilt.35 Die Erfahrung, wie bedeutend für die Ordnungsvorstellung der europäischen Monarchen die Rang- und Formensprache und unter anderem der prunkvolle Aufwand bei Gesandtenempfängen waren, musste der sparsame preußische König Friedrich Wilhelm I. in seinen ersten Herrscherjahren erfahren.36 Es gilt, außen- und innenpolitische Prozesse vor dem Hintergrund ihrer Interdependenz zu betrachten,37 da beide Politikfelder nicht strikt voneinander getrennt und die jeweiligen höfischen Akteure in der Frühen Neuzeit eng miteinander verflochten waren.38 Ebendiese Interaktionen diplomatischer und höfischer Netzwerke am Beispiel des russischen Thronwechsels aufzuzeigen, ist das zentrale Forschungsinteresse dieser Arbeit. Auch die Beurteilung der Ereignisse in Russland durch die Diplomaten vor dem Hintergrund der europäischen machtpolitisch-militärischen Konfliktlinien39 sind noch stärker einzubeziehen. Somit sind es nicht die vermeintlich übermittelten Wahrheiten, die von Interesse sind; aufschlussreicher sind die aufgrund der langen Übertragungsdauer von mehreren Wochen oft nur möglichen antizipierten Mutmaßungen der Gesandten in Moskau und der Adressaten an den jeweiligen Höfen, die durch Gerüchte und mitunter falsch gestreute Informationen über die Ereignisse in Moskau informiert wurden. Hierbei spielt die Modifikation der Information eine entscheidende Rolle, um die Vorstellungswelten und Stereotype der Akteure über Russland zu verstehen. Informationsbeschaffung und die damit verbundenen sozialen Kontakte und Übertra34
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Vgl. Jeannette Falcke: Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgisch-preußischen Hof im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 278–293, insbesondere S. 280. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 18–22. Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe–Forschungsperspektiven–Thesen, in: ZHF 31, 2004, S. 489–527, hier S. 489–492. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 141–145. Andreas Pečar: Symbolische Politik. Handlungsspielräume im politischen Umgang mit zeremoniellen Normen. Brandenburg-Preußen und der Kaiserhof im Vergleich (1700– 1740), in: Preußen, Deutschland und Europa 1701–2001, hg. von Jürgen Luh, Vinzenz Czech und Bert Becker, Groningen 2003, S. 280–295, hier S. 280. Vgl. Neugebauer, Geschichte Preußens, S. 60. Wolfgang Neugebauer (Hg.): Handbuch der Preußischen Geschichte. Band. 3: Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und große Themen der Geschichte Preußens, Berlin, New York 2001, S. 255 f. Vgl. Jeremy Black: Parliament and Foreign Policy in the Eighteenth Century, Cambridge 2004, S. 2. Jeremy Black: The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, Gloucester 1987, S. XV. Vgl. Franziska Schedewie: Die Bühne Europas. Russische Diplomatie und Deutschlandpolitik in Weimar 1798–1819, Heidelberg 2015, S. 37. Bastian, Verhandeln in Briefen, S. 18. Windler, Diplomatie als Erfahrung fremder politischer Kulturen. Gesandte von Monarchen in den eidgenössischen Orten, S. 9. Ulrike Jordan: Anna. 1702–1714, in: Englische Könige und Königinnen. Von Heinrich VII. bis Elisabeth II., hg. von Peter Wende, München 1998, S. 177–187, hier S. 181. Black, Hannover/England, Saxony/Poland, S. 442. Vgl. Lorenz Erren, Tagungsbericht: Russland und der russische Hof aus der Sicht europäischer und osmanischer Diplomaten (1697–1762), https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3552, 17.09.2020.
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Einleitung
gungswege mit langen Postlaufzeiten sind wichtige Bestandteile dieser Arbeit.40 Dabei gilt es, beispielsweise die Verbindungen zur russischen Hofgesellschaft und zu diplomatischen Kollegen zu berücksichtigen. Ebenso sind vorhandene oder nicht vorhandene Sprachkenntnisse der Diplomaten von Interesse; eine Analyse der Berichte in Bezug auf sprachwissenschaftliche Aspekte wird hingegen nicht angestrebt. Für den Informationszugang und die Stellung innerhalb des Personengefüges ist der Rang eines diplomatischen Vertreters von besonderer Bedeutung. Die Dauer und die Zielsetzungen der jeweiligen Mission sind ebenso kritisch zu reflektieren, um die Gesandtschaftsberichte fundiert einordnen zu können.41 Dafür ist es zudem relevant, das europäische Machtgefüge 1730 in Europa in den Blick zu nehmen. Diese europäische Perspektive soll die Motivation und die Hintergründe der Berichterstattung ergänzend beleuchten. Die Motive und Interessen der jeweiligen Akteure sowohl am russischen Hof als auch an den anderen europäischen Höfen darzustellen und zu analysieren; wie diese von den ausländischen Vertretern in Erfahrung gebracht, begriffen und vermittelt wurden, bedeutet gleichzeitig, Einblick in die politische Kultur der Zeit zu gewinnen. Die Analyse des Gesandtschaftsschriftgutes dient der Erforschung diplomatischer und dynastischer Netzwerke und politischer Vorgehensweisen und Grundüberzeugungen des frühen 18. Jahrhunderts. Es stellt sich die Frage, ob es ein differenziertes Russlandbild gab oder inwieweit Russland eine „Projektionsfläche für Ordnungsvorstellungen“42 war, die die Diplomaten aus ihren Heimatländern mitbrachten und übertrugen. Dabei gilt es zu beachten, dass getroffene Wertungen nicht selten durch eigenes Vorwissen oder überlieferte Stereotypen geprägt waren, es sich somit bei den Bewertungen und Beobachtungen um subjektive Wahrnehmungen handelte,43 die nicht nach heutigen Maßstäben zu bemessen sind. Bei der Bewertung der Aussagekraft von Gesandtschaftsberichten sind außerdem die neueren Forschungserkenntnisse zu berücksichtigen: Russland war diplomatisch in europäische Prozesse eingebunden, wurde aber gleichzeitig in europäischer Reiseliteratur auf kultureller Ebene als barbarisch und rückschrittlich dargestellt.44 Diese Negativstereotype wurde auch 40
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Vgl. Edelmayer, Gesandtschaftsberichte in der Frühen Neuzeit, S. 855. Rainer Babel: Einleitung, in: Le diplomate au travail. Entscheidungsprozesse, Information und Kommunikation im Umkreis des Westfälischen Friedenskongresses, hg. von Rainer Babel, München 2005, S. 7–9, hier S. 7 f. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 12–15. Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 26 f. V. P. Naumov: Nekotorye osobennosti istočnikovedčeskogo analiza diplomatičeskich reljacij XVIII v., in: Istočnikovedenie i kraevedenie v kul‘ture Rossii. Sbornik k 50-letiju služenija Sigurda Ottoviča Šmidta Istoriko-archivnomu institutu, hg. von Vladimir F. Kozlov, Moskva 2000, S. 145–148. Franziska Schedewie, Relationen vom russischen Hof, http://quellen-perspectivia.net/de/russische_relationen/introduction, 17.09.2020. Nolde entwickelt diesen Ansatz vor allem für Beobachtungen von Frauen in Reiseberichten. Er kann jedoch auch für Diplomaten weiterentwickelt werden, siehe Dorothea Nolde: Aufbruch und Festschreibung. Zum Verhältnis von Geschlechtergrenzen und kulturellen Grenzen auf europäischen Auslandsreisen in der Frühen Neuzeit, in: Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, hg. von Christine Roll, Frank Pohle und Matthias Myrczek, Köln 2010, S. 547–557, hier S. 548. Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 27–35 und S. 63–68.
Begründung der Auswahl der zu untersuchenden Höfe
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von russischer Seite aufgegriffen und bewusst verbreitet, um die Leistungen Zar Peters I. positiver hervorzuheben.45 Mit der militärischen Großmachtstellung war Russland keineswegs schlagartig auf allen Ebenen Bestandteil einer – wenn auch imaginären – europäischen Staatengemeinschaft.46 Dass Russland Bestandteil dieser imaginären europäischen Staatenwelt wurde, verlief im militärischen, diplomatischen, kulturellen oder publizistischen Bereich keineswegs gradlinig und gleichzeitig. Durch die synchrone Analyse der diplomatischen Kommunikationsprozesse in Europa kann diese Problematik auf breiterer Quellengrundlage erörtert und sich der Frage angenähert werden, wie stark Russland in gesamteuropäische Prozesse eingebunden war.47 Die Berücksichtigung dieser Erkenntnisse erhellt die diplomatische Kultur und die politischen Kommunikationsprozesse in Europa in Bezug auf die Neuausrichtung des europäischen Staatengefüges als Ganzes im 18. Jahrhundert. Dabei ist die Frage zentral, ob das Aufbegehren des Russischen Adels gegenüber Anna die Monarchen Europas gefährdete. Die vorliegende Arbeit umfasst die Ereignisse seit dem Beginn der Erkrankung Peters II. (18. Januar 1730) bis zur Ausrufung Anna Ivanovnas zur Autokratin (8. März 1730). Dieser sehr kurz erscheinende, aber überaus ereignisreiche Betrachtungszeitraum wurde aufgrund der stark wachsenden Anzahl diplomatischer Relationen mit dem russischen Hof nach 170048 und im Besonderen während der krisenhaften Situation seit dem Tod Peters II. bis zur Ausrufung Annas zur souveränen Herrscherin ausgewählt. Bei der Untersuchung werden alle Relationen und Weisungen, die die Ausrufung Annas zur souveränen Herrscherin thematisieren, analysiert, auch wenn diese aufgrund der langen Übertragungsdauer deutlich später den jeweiligen Adressaten erreichten.
1.2 Begründung der Auswahl der zu untersuchenden Höfe Durch militärische, kulturelle und ab Beginn des 18. Jahrhunderts in zunehmendem Maße durch dynastische Verbindungen kam es vermehrt zum Austausch ständiger Gesandtschaften zwischen dem Russländischen Reich und anderen europäische Staaten. Die diplomatischen Beziehungen Russlands intensivierten sich bereits unter den Vorgängern Zar Peters I. und seiner Halbschwester Sophia und wurden seit seiner Regierungszeit zu ständigen Gesandtschaften ausgebaut.49 Die Entstehung ständiger Gesandtschaften brachte die Neuerung mit 45 46 47
Vgl. ebd., S. 43. Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 73–75. Vgl. Franziska Schedewie, Relationen vom russischen Hof, http://quellen-perspectivia.net/de/russische_relationen/introduction, 17.09.2020. Für eine synchrone Analyse diplomatischer Gesandtschaftsberichte Preußens, Frankreichs und Wiens bezüglich der Regierungszeit Zarin Elisabeths siehe Francine-Dominique Liechtenhan: La Russie entre en Europe. Elisabeth Ire et la succession d’Autriche (1740–1750), Paris 1997. 48 Franziska Schedewie, Relationen vom russischen Hof, http://quellen-perspectivia.net/de/russische_relationen/introduction, 17.09.2020. 49 Walter Leitsch: Die ersten 300 Jahre in den Beziehungen Russlands zu Österreich, in: 200 Jahre rus-
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Einleitung
sich, dass ununterbrochen Informationen durch eigene Diplomaten eingeholt und fremden Regierungen Interessen vermittelt werden konnten.50 Da Diplomatie in verschiedenen politischen und kulturellen Räumen agiert, jedoch notwendigerweise auf gemeinsame zeremonielle und kommunikative Standards angewiesen ist, kam es zwischen Russland und den anderen europäischen Staaten zu einem evolutionären Austausch- und Annährungsprozess. Dabei widersprachen die stereotypen Beschreibungen eines andersartigen Russlands nicht der gleichzeitig stattfindenden Integration des Zaren in die europäische Fürstengemeinschaft und der Herausbildung gemeinsamer zeremonieller Normen.51 Die Vorstellung einer einseitigen Übernahme europäischer Normen übersieht die Verschiedenartigkeit Europas, in das sich Russland hätte einfügen müssen.52 Da Russland 1730 noch nicht zu allen europäischen Staaten diplomatische Beziehungen unterhielt, ist der mögliche Kreis der zu betrachtenden Höfe eingeschränkt. Eine Auswahl besonders relevanter Gesandtschaftskorrespondenzen war dennoch aufgrund deren Umfangs notwendig. In Moskau waren 1730 ein kaiserlicher, ein preußischer und ein sächsisch-polnischer Gesandter, zwei holsteinische Gesandten, ein mecklenburgischer Gesandter, ein französischer Chargé d’Affaires und ein Konsul und ein Sekretär der englischen Krone anwesend. Diese werden in der vorliegenden Arbeit primär berücksichtigt und noch ausführlich vorgestellt. Daneben weilten Gesandte des Fürstentums Braunschweig-Blankenburg,53 des
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sisches Außenministerium, hg. von Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs, Innsbruck, Wien, Bozen 2003, S. 65–77. Augustynowicz, „Ablegations-Negocien von keiner Erhöblichkeit“? Iskra Schwarcz: Die diplomatischen Beziehungen Österreich-Russland in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts, in: 200 Jahre russisches Außenministerium, hg. von Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs, Innsbruck, Wien, Bozen 2003, S. 29–42. Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 69–111. Rudolph, Barth-Scalmani, Steppan, Einleitung, S. 13 f. Swetlana Turilowa: Ostermanns Beitrag zur Organisation des Kollegiums für Auswärtige Angelegenheiten, in: Ein Deutscher am Zarenhof. Heinrich Graf Ostermann und seine Zeit 1687–1747, hg. von Johannes Volker Wagner, Bernd Bonwetsch und Wolfram Eggeling, Essen 2001, S. 171–174. Dan Altbauer: The Diplomats of Peter the Great, in: JGO 28, 1980, S. 1–16, hier S. 1–4. Lucien Bély: Les enjeux européens. La diplomatie de la Russie, in: L’influence française en Russie au XVIIIe siècle, hg. von Jean-Pierre Poussou, Anne Mézin und Yves Perret-Gentil 2004, S. 23–30, hier S. 23–27. Boris Meissner: Die zaristische Diplomatie, in: JGO 4, 1956, S. 237–245, hier S. 243–245. Vgl. Adolf Schaube: Zur Entstehungsgeschichte der ständigen Gesandtschaften, in: MIÖG 10, 1889, S. 501–552, hier S. 535. Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 70 f. Vgl. ebd., S. 247–254. Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 89–92. August Adolf von Cramm (1685–1763) entstammte einem niedersächsischen Uradelsgeschlecht. Er war Herzoglicher Rat, Staatsminister und Diplomat. Er besuchte bis 1705 die Ritterakademie in Wolfenbüttel und studierte anschließend an der Universität Halle Rechtswissenschaften. Er traf 1713 in Holstein mit Zar Peter I. zusammen. Er war legitimierter Bevollmächtigter des Fürstentums Braunschweig-Blankenburg auf dem Reichstag zu Regensburg vom 26. April 1715 bis zum 3. Dezember 1715 (Abreise) und vom 14. Februar 1722 bis 1724. Vom 25. August 1727 (erste Audienz) bis zum 18. Februar 1731 (letzte Audienz) war er Gesandter in Russland. Der ursprüngliche Anlass war die Gratulation Zar Peters II. zu seiner Thronbesteigung. Seine Tätigkeit in Russland scheint durch Aufenthalte in Schweden (seit dem 18. Januar 1729) und in Dänemark (seit dem 3. März 1729) un-
Begründung der Auswahl der zu untersuchenden Höfe
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Königreichs Dänemark,54 des Königreichs Schwedens55 und des Königreichs Spaniens56 und ein diplomatischer Sekretär der Niederlande57 am Zarenhof. Allein die Existenz eines ständigen Vertreters und dessen diplomatischer Rang sagen etwas über die Bedeutung bilateraler Beziehungen aus.58 Die Absendung eines ranghohen kaiserlichen Gesandten 1725/26 an den russischen Hof wurde als demonstratives Zeichen der sich verbessernden diplomatischen Beziehungen inszeniert und ebenso von den anwesenden Vertretern interpretiert, nachdem sich zuvor aufgrund von Differenzen um den russischen Kaisertitel dort nur noch ein kaiserlicher Legationssekretär befunden hatte.59 Der Wiener Hof ist aufgrund seiner besonderen Rang- und machtpolitischen Stellung in Europa zu berücksichtigen.60 Diese kaiserliche Vorrangstellung manifestierte sich auch in der
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terbrochen zu sein. Für seine diplomatischen Tätigkeiten wurde er zum Wirklichen Geheimen Rat ernannt. Anlässlich der Hochzeit Anna Leopol’dovnas mit Anton Ulrich 1739 reiste er als diplomatischer Vertreter für das Fürstentum Brauschweig-Wolfenbüttel erneut nach Russland. Er stieg 1744 zum Premierminister auf, siehe Joachim Schmid: Cramm, August Adolf von, in: Braunschweigisches Biographisches Lexikon – 8. bis 18. Jahrhundert, hg. von Horst-Rüdiger Jarck, Braunschweig 2006, S. 161. Friedrich Hausmann: Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648). 1716–1763, Zürich 1950, S. 18. Hans Georg Westphal(en) war vom 1. März 1715 (Ankunft) bis 4. September 1717 (letzte Relation aus Amsterdam, wohin er den Zaren durch die deutschen Territorien begleitet hatte) außerordentlicher dänischer Gesandter in Russland und erneut vom Januar 1718 (erste Relation) bis zum 9. September 1720 (Abberufungsschreiben) und abermals vom 23. April 1722 (erste Relation) bis zu seinem Tod am 22. Dezember 1733. Siehe ebd., S. 41 f. Joachim von Ditmer (Ditmar) war vom 28. August 1729 (erste Relation) bis zum 27. September 1738 (letzte Audienz) außerordentlicher Gesandter, siehe ebd., S. 379. Jacobo Francisco Fitzjames Stuart duque de Liria war spanischer Botschafter und bevollmächtigter Minister in Russland vom 23. November 1727 (Ankunft) bis zum 15. November 1730 (Abreise), siehe ebd., S. 392. Ana Maria Schop Soler: Die spanisch-russischen Beziehungen im 18. Jahrhundert, Wiesbaden 1970, S. 48/49. De Swart war vom 28. März 1729 (Beglaubigungsschreiben) als Sekretär am russischen Hof, den er erst am 1. November 1760 (Rekreditiv) wieder verließ. Ab dem 24. Januar 1733 (Beglaubigungsschreiben) war er Resident und seit dem 11. November 1747 (Beglaubigungsschreiben vor diesem Datum) außerordentlicher Gesandter, siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 248. Vgl. Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 21 f. Vgl. Christian Steppan: Kaiser Karl VI. und sein Neffe, der Großfürst. Repräsentation, Interaktion und Kommunikation kaiserlicher Gesandter im Konflikt um die Thronfolge von Zar Peter II., in: Politische Kommunikation zwischen Imperien. Der diplomatische Aktionsraum Südost- und Osteuropa, hg. von Gunda Barth-Scalmani, Harriet Rudolph und Christian Steppan, Innsbruck 2013, S. 125–144, hier S. 129 f. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 48 f. Edelmayer weist auf die mitunter „nur sporadisch und lückenhaft“ edierten kaiserlichen Gesandtschaftsberichte im Allgemeinen hin. Im Gegensatz dazu verweist er darauf, dass es im Vergleich mit anderen Ländern eine relativ gute Auswertung diplomatischen Schriftguts zwischen der Habsburgermonarchie und Russland gäbe, siehe Edelmayer, Gesandtschaftsberichte in der Frühen Neuzeit, S. 856. Andere Autoren wiederum weisen explizit auf den Nachholbedarf der diplomatischen Forschung in Südostund Osteuropa hin, siehe Rudolph, Barth-Scalmani, Steppan, Einleitung, S. 11. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 120 f.
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Einleitung
Behandlung der kaiserlichen Repräsentanten.61 Kaiser Karl VI. schloss mit Zarin Katharina I. ein Bündnis, mit dem die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion – einer zentralen Prämisse seiner Politik – einherging.62 1728 folgte ein Bündnis zwischen dem Kaiser und Preußen.63 Seit dem Allianzschluss mit Russland 1726 war der Kaiser bemüht, auch Preußen in dieses Bündnis miteinzubeziehen, was schließlich am 20. September 1729 zur Erneuerung des russisch-preußischen Allianztraktats von 1726 führte.64 Die Korrespondenzen zwischen dem Kaiser und dem Zarenreich und mit Preußen lassen daher tiefe Einblicke in die Funktionsweise der Bündnispolitik dieser Staaten erhoffen. Auf den Leistungen seiner Vorgänger und seiner Vorgängerin Sofia aufbauend, war es Zar Peter I. im Verlauf des Großen Nordischen Krieges gelungen, eine epochale Veränderung der Stellung Russlands im europäischen Mächtesystem herbeizuführen,65 die seine Ehefrau und Nachfolgerin Katharina I. durch das Bündnis mit dem Kaiser und Preußen festigte.66 Die Nähe Preußens zu Russland bedingte die russische Anerkennung der Standeserhöhung Preußens 1701 zum Königreich. Russland wiederum strebte durch die Nähe zu Preußen eine stärkere Einbindung in die europäischen Angelegenheiten an.67 Durch vielfältige Reformen, den Aufbau eines Staatsschatzes, eine kai61
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Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 19 f. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 186. Vgl. Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 275 f. Michael Erbe: Die Habsburger. 1493– 1918. Eine Dynastie im Reich und in Europa, Stuttgart, Berlin, Köln 2000, S. 137. Zur Vorgeschichte und des Zustandekommen des Bündnisses ausführlich: Walter Leitsch: Der Wandel der österreichischen Rußlandpolitik in den Jahren 1724–1726, in: JGO 6, 1958, S. 33–91. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 287–354. Der preußisch-kaiserliche Allianzvertrag im Wortlaut samt Geheimartikel vom 23. Dezember 1728, siehe Victor Loewe (Hg.): Preussens Staatsverträge aus der Regierungszeit König Friedrich Wilhelms I., Leipzig 1913, S. 357–373. Der preußisch-russische Allianzvertrag im Wortlaut samt Geheimartikel vom 21. August 1726, siehe Loewe, Preussens Staatsverträge aus der Regierungszeit König Friedrich Wilhelms I, S. 301–311. Der erneuerte preußisch-russische Allianzvertrag im Wortlaut samt Geheimartikel vom 20. September 1729, siehe Loewe, Preussens Staatsverträge aus der Regierungszeit König Friedrich Wilhelms I, S. 392–394. Vgl. Klaus Zernack: Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin 1994, S. 232–234. Hugh Ragsdale: Introduction. The Traditions of Imperial Russian Foreign Policy – Problems of the Present, Agenda for the Future, in: Imperial Russian Foreign Policy, hg. von Hugh Ragsdale, Cambridge 1994, S. 1–20, hier S. 12. Demel, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts, S. 223–226. Vgl. Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 265 und S. 271–276. Erbe, Die Habsburger, S. 137. Demel, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts, S. 235. Harm Klueting: Ausländer in Rußland im 17. und 18. Jahrhundert. Der Fall Ostermann, in: Ein Deutscher am Zarenhof. Heinrich Graf Ostermann und seine Zeit 1687–1747, hg. von Johannes Volker Wagner, Bernd Bonwetsch und Wolfram Eggeling, Essen 2001, S. 143–153, hier S. 151 f. Martin Schulze Wessel: Systembegriff und Europapolitik der russischen Diplomatie im 18. Jahrhundert, in: HZ 266, 1998, S. 649–670, hier S. 657–660. Peter Hoffmann: Rußland im Zeitalter des Absolutismus, Vaduz 1988, S. 175. Vgl. Zernack, Polen und Rußland, S. 242. Martin Schulze Wessel: Die Epochen der russisch-preußischen Beziehungen, in: Handbuch der Preußischen Geschichte. Band. 3: Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und große Themen der Geschichte Preußens, hg. von Wolfgang Neugebauer, Berlin, New
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sertreue Außenpolitik bei gleichzeitigem Verzicht auf eine expansive Eroberungspolitik legte der sogenannte Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. (1688–1740) den Grundstein für den weiteren Machtzuwachs Preußens.68 Dass auch der Kaiser den preußischen König neben Russland als unabdingbaren Bündnispartner erachtete, zeigt die besondere Stellung des kaiserlichen Diplomaten Friedrich Heinrich von Seckendorff (1673–1763)69 am preußischen Hof. Er war zugleich akkreditierter Gesandter am Dresdner Hof. Dass Seckendorff innerhalb des diplomatischen Netzwerks ein zentraler Akteur war, belegen nicht nur seine Fähigkeit, ein Vertrauensverhältnis zum preußischen König aufzubauen, sondern auch seine Zugehörigkeit zu einem geheimen diplomatischen Netzwerk Prinz Eugens.70 Da bei Seckendorff aus verschiedenen europäischen Höfen Korrespondenzen zusammenliefen, können mit diesen Betrachtungen wichtige Erkenntnisse über die kaiserliche Geheimdiplomatie gewonnen werden. Die geheimen Korrespondenzen zwischen Prinz Eugen und Seckendorff der Jahre 1726 bis 1734 haben im Vergleich zu ihren offiziellen Korrespondenzen den doppelten Umfang.71 Eugen unterhielt nicht nur mit den Gesandten in Berlin und Dresden, sondern auch mit denen in Moskau,
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York 2001, S. 713–787, hier S. 729–731. Das Streben nach einer Königswürde war ein zeitgenössisches Phänomen der Prestige- und Machtsteigerung. Unter anderem errangen die Kurfürstentümer Sachsen, Preußen und Hannover in Polen, Preußen und England die Königswürde, siehe Hendrik Thoß: Sachsen-Polen und Preußen. Facetten einer Nachbarschaft, in: Zwei Staaten, eine Krone. Die polnisch-sächsische Union 1697–1763, hg. von Frank-Lothar Kroll und Hendrik Thoß, Berlin 2016, S. 59–78, hier S. 59–64. Karlheinz Blaschke: Sachsens Interessen und Ziele in der sächsisch-polnischen Personalunion, in: Die Personalunionen von Sachsen-Polen 1697–1763 und Hannover-England 1714–1837. Ein Vergleich, hg. von Rex Rexheuser, Wiesbaden 2005, S. 67–86, hier S. 68 f. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 44 f. Zur Person Friedrich Wilhelms I. und zu den politischen Strukturen Brandenburg-Preußens während seiner Regierungszeit siehe Neugebauer, Handbuch der Preußischen Geschichte, S. 245–285. Peter Baumgart: Friedrich Wilhelm I. – ein Soldatenkönig?, in: Die Preußische Armee. Zwischen Ancien Régime und Reichsgründung, hg. von Peter Baumgart, Bernhard R. Kroener und Heinz Stübig, Paderborn, Wien, München, Zürich 2008, S. 3–26. Friedrich Heinrich von Seckendorf (1673–1763) war ein bedeutender kaiserlicher Heerführer und Gesandter. Bereits vor seinen Tätigkeiten als Gesandter am Hof des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. unterhielt er zu diesem gute Beziehungen. Zudem war er einer der wenigen protestantischen Angehörigen des Hofs Kaiser Karls VI. siehe Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 242 und S. 249 f. Zur neueren Bewertung seiner historischen Leistungen siehe Björn Schmalz: Friedrich Heinrich von Seckendorff. Soldat und Diplomat mit pietistischer Gesinnung?, in: JGPÖ 126, 2010, S. 187–196. Bruno Kuntke: Seckendorff, Friedrich Heinrich Graf von, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 24, hg. von Historische Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2010, S. 118 f. Es sei hier nur verwiesen auf Bruno Kuntke: Friedrich Heinrich von Seckendorff (1673–1763), Husum 2007. Vgl. Max Braubach: Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen, Köln, Opladen 1962, S. 26 f. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 16 f. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 296 f. Vgl. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 15.
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Warschau, Paris und London neben den offiziellen Briefwechseln zusätzliche Geheimkorrespondenzen.72 Der sächsische Hof ist relevant, da die kaiserliche und preußische Politik vergeblich versuchte, August II. als Bündnispartner zu gewinnen. Dies gelang trotz kaiserlicher Geheimdiplomatie nicht.73 Zudem weigerte sich August II., die Pragmatische Sanktion anzuerkennen, um mögliche Ansprüche über seine Schwiegertochter Maria Josepha auf ein zukünftiges habsburgisches Erbe nicht aufzugeben.74 Während August II. 1728 ein Bündnis mit Preußen geschlossen hatte, bliebendiese Beziehungen nicht spannungsfrei. Zudem war August II. mitunter auf die Unterstützung des Kaisers und Friedrich Wilhelms I. bezüglich der Thronfolge seines Sohnes in Polen angewiesen, da Frankreich den Schwiegervater des französischen Königs Ludwig XV., Stanislaus Leszczyński, förderte.75 Mit dem Vertrag von Sevilla versuchten die beiden Bündnisse jeweils von Neuem, August II. für sich zu gewinnen.76 Der kursächsische Hof hingegen lavierte aufgrund seiner inneren gegensätzlichen pro-französisch und pro-kaiserlichen Ausrichtung zwischen diesen beiden Bündnisblöcken.77 Die abwartende Haltung Augusts II., sich 1730 einer der beiden Allianzen anzuschließen, gründete sich zudem auf der Erwartung, zwischen beiden vermitteln zu können. Mit dem Gewinn Preußens 1728 für eine Allianz mit Karl VI. ließ das Werben des Kaisers um Sachsen nach.78 Die Königin der Mittelmacht Spanien, Elisabeth Farnese, konnte als die eigentliche Gegnerin des Kaisers in dem drohenden Krieg um die Besitztümer auf der italienischen Halbinsel gelten. Da Frankreich militärisch und politisch die entscheidende Macht in Westeuropa war,79 werden die französischen Berichte den spanischen vorgezogen. Zudem finden sich durch Informationsweitergaben des spanischen Gesandten de Liria an seine Kollegen in Moskau und an andere europäische Höfe vielfach Bezugspunkte zu seinen Gesandtschaftsberichten.80 72
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Vgl. Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen, S. 27–30. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 43–59. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 14 f. Vgl. Lothar Schilling: Der Wiener Hof und Sachsen-Polen (1697–1765), in: Sachsen und Polen zwischen 1697 und 1765, hg. von Verein für sächsische Landesgeschichte e.V. 1998, S. 118–136, hier S. 125 f. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 24 f. Zu den Versuchen der Einbindung Sachsens in ein Bündnis mit dem Kaiser unter preußische Vermittlung seit dem Bündnisschluss Sachsens mit Preußen im Jahre 1728 siehe ausführlich: Albrecht Philipp: August der Starke und die Pragmatische Sanktion, Leipzig 1908, S. 69–104. Zur Haltung Sachsens gegenüber der Pragmatischen Sanktion und zu den mit dem Eheschluss des sächsischen Kurprinzen mit Maria Josepha verbundenen sächsischen Hoffnungen siehe ausführlich: ebd. Vgl. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 24–29. Vgl. Philipp, August der Starke und die Pragmatische Sanktion, S. 98 f. Vgl. Black, Hannover/England, Saxony/Poland, S. 444. Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 60 f. Vgl. Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 282. Zernack, Polen und Rußland, S. 240. Demel, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts, S. 217. Zu den spanisch-russischen Beziehungen des 18. Jahrhunderts ausführlicher siehe Schop Soler, Die
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Neben der machtpolitischen Bedeutung dieser Königreiche in Europa sind die französischen und englischen Gesandtschaftskorrespondenzen aus einem weiteren Grund überaus relevant: Beide Länder unterhielten in Russland lediglich niederrangige diplomatische Vertreter. Da die Untersuchung der Informationsbeschaffung durch Diplomaten integraler Bestandteil dieser Arbeit ist, ist es erforderlich, den Aussagewert der Berichte der niederrangigen mit denen der hochrangigen diplomatischen Akteure zu vergleichen. Aufgrund der Diskrepanz zwischen der Machtstellung und der Repräsentation der Vertreter wird die Analyse der Berichte Frankreichs und Englands derjenigen des niederländischen Sekretärs vorgezogen, da die Niederlande zu diesem Zeitpunkt nur noch als Mittelmacht galten. Frankreich, England, Spanien und die Niederlande waren seit Ende 1729 in der Allianz von Sevilla verbunden, die sich maßgeblich gegen den Kaiser richtete. Auch Dänemark und Schweden wurden aufgrund ihrer bereits nachrangigen Machtstellung in Europa als Untersuchungsgegenstand als weniger relevant als andere europäische Mächte bewertet.81 Obwohl Polen-Litauen ebenfalls seine ehemalige Machtstellung zugunsten Russland eingebüßt hatte,82 bedurften die sächsisch-polnischen Gesandtschaftsberichte der Untersuchung – immerhin könnte die polnische Republik als Vorbild für etwaige Machteinschränkungen in Russland gegolten haben. Während Schweden in der Literatur bereits vielfältig als Vorbild diskutiert wurde,83 trifft dies nicht auf
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spanisch-russischen Beziehungen im 18. Jahrhundert. Eine Erkenntnis dieser Arbeit wird sein, dass de Lirias Handeln wie anfänglich angenommen eindrücklich aus den anderen diplomatischen Berichten hervorgeht, aber auch, dass die weitere Erforschung seiner Korrespondenzen erkenntnisreich wäre. De Lirias Bedeutung wird ausführlich dargelegt werden, war aber zu Beginn dieser Arbeit in diesem Maße noch nicht abzusehen. Vgl. Schulze Wessel, Systembegriff und Europapolitik der russischen Diplomatie im 18. Jahrhundert, S. 652–657. David G. Kirby: Northern Europe in the Early Modern Period. The Baltic World 1492–1772, London 1990, S. 295–297. Zu den polnisch-russischen Beziehungen des 18. Jahrhunderts ausführlicher: Matthias Stadelmann: Gegner, Verbündeter, Abhängiger: Polen(-Sachsen) im Blickfeld der russischen Politik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Zwei Staaten, eine Krone. Die polnisch-sächsische Union 1697–1763, hg. von Frank-Lothar Kroll und Hendrik Thoß, Berlin 2016, S. 45–58. Ein zwangsläufig unumkehrbarer Niedergang, der mitunter in der wissenschaftlichen Literatur artikuliert werde, war jedoch für die Zeitgenossen nicht absehbar, siehe Michael G. Müller: Sachsen-Polen im europäischen Mächtesystem des 18. Jahrhunderts, in: Sachsen und Polen zwischen 1697 und 1765, hg. von Verein für sächsische Landesgeschichte e.V. 1998, S. 48–51. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 46–56. Demel, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts, S. 25 f. Die schwedischen Einflüsse wurden vor allem von der Historiografie des 19. Jahrhunderts betont, siehe Harald Hjärne: Ryska Konstitutionsprojekt år 1730 efter svenska forebilder, in: Historisk Tidskrift, 1884, S. 189–272. Pavel Nikolaevič Miljukov“: verchovniki i šljachetstvo, in: Iz“ istorii russkoj intelligentcii. Sbornik“ statej i ėtjudov“, hg. von Pavel Nikolaevič Miljukov“, St. Peterburg“ 1902, S. 1–51. Dmitrij Aleksandrovič Korsakov: Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny. Istoričeskij ėtjud. Band 1, Kazan 1880a, S. 280–286. Zu anderen Stellungnahmen siehe Karl Stählin: Aus den Papieren Jacob von Stählins. Ein biographischer Beitrag zur deutsch-russischen Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Königsberg 1926, S. 39. Ransel, The Government of Crisis of 1730, S. 69. Tret´jakova V.: Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny. Perevorot 1762 goda, Moskva 1997, S. 27. Evgenij Viktorovič Anisimov: Anna Ioannovna, Moskva 2002, S. 21 f. Matthias Stadelmann:
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das in Personalunion mit Sachsen regierte Polen zu. Ebenso wenig wurde England als Vorbild diskutiert.84 Bezüglich der Adelspartizipation in England und Polen gilt es zu erörtern, ob es in diesen Königreichen eine andere Wahrnehmung der russischen Machtbeschränkung gab. Indem neben den englischen und schwedischen auch die polnisch-litauischen Verfassungskulturen in den Blick genommen werden, soll der in der Forschung zu Recht beklagten Westzentrierung bei Betrachtung politischer Systeme in der deutschen historischen Forschung entgegengewirkt werden. Der Blick allein nach westeuropäischen Vorbildern und die Unkenntnis der osteuropäischen politischen Organisationen führte zu Fehlinterpretationen.85 Im Falle Polens gilt es besonders zu hinterfragen, ob die Ereignisse in den beiden Residenzen Dresden und Warschau unterschiedlich bewertet wurden. Durch die von Peter dem Großen initiierte Heiratspolitik war Russland mit den übrigen europäischen Mächten dynastisch verflochten.86 Diese Gemeinsamkeit traf auf die Fürstentümer Braunschweig-Blankenburg, Mecklenburg-Schwerin und Holstein-Gottorp
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Die Romanovs, Stuttgart 2008, S. 96. Unter besonderem Verweis auf Heinrich von Fick als Ideengeber siehe Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft, Stuttgart 1986, S. 68 f. Francine-Dominique Liechtenhan: Elisabeth Ire de Russie. l’autre impératrice, Paris 2007, S. 64. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 140. Ransel, The Government of Crisis of 1730, S. 58 f. Vgl. Zernack, Polen und Rußland, S. 244–247. Kusber, Die Autokratie, Wahl und Wahlkapitulationen im Russländischen Reich der frühen Neuzeit. Vgl. Adam Perłakowski; Robert Bartczak; Anton Schindling: Vorwort der Herausgeber, in: Die Reiche Mitteleuropas in der Neuzeit. Integration und Herrschaft. Liber memorialis Jan Pirożyński, hg. von Adam Perłakowski, Robert Bartczak und Anton Schindling, Kraków 2009, S. 7–9, hier S. 8. Auch Davies betont die Vorbildwirkung verfassungsrechtlicher Bestimmungen Polens in Bezug auf die Glorious Revolution 1688 in Großbritannien und auf die Amerikanische Revolution 1776, siehe Norman Davies: Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2000, S. 268 f. František Stellner: Die dynastische Politik des russischen Imperiums im 18. Jahrhundert, in: Prague Papers on History of International Relations 7, 2004, S. 33–55. Anisimov, Rossija bez Petra, S. 208 f. Martha Lindemann: Die Heiraten der Romanows und der deutschen Fürstenhäuser im 18. und 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung in der Bündnispolitik der Ostmächte, Berlin, Bonn 1935, S. 16–27. Die scharfe Kritik Rolls gegenüber Lindemann („eine Arbeit, die ohnedies kaum brauchbar ist, da sie vor allem die ‚Entfaltung des echten Frauentums‘ darstellen möchte“) wird in dieser pauschalen Wertung vom Autor nicht geteilt, siehe Roll, Dynastie und dynastische Politik im Zarenreich, S. 78 (FN 4). Die Arbeit Lindemanns basiert neben Archivalien vor allem auf Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, folgt sprachlich der Wertung diesen Publikationen und ist nicht frei von zeitgenössischen Wertungen. Verdienstvoll ist der Hinweis auf den direkten und indirekten Einfluss von Ehefrauen auf die männliche Herrschaft. Zudem nimmt die Arbeit die gescheiterten Versuche der Heiratspolitik russischer Herrscher vor Zar Peter I. in den Blick und bietet Anlass, auch diese in der Forschung vernachlässigten Heiratsprojekte neu zu erforschen Manfred von Boetticher: Einführung, in: Braunschweigische Fürsten in Rußland in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, hg. von Manfred von Boetticher, Göttingen 1998, S. 12–23, hier S. 12. Vertieftend dazu: Svetlana Romanova Dolgova: Das Heiratsprojekt zwischen dem Zarewitsch Aleksej und Prinzessin Charlotte, in: Braunschweigische Fürsten in Rußland in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, hg. von Manfred von Boetticher, Göttingen 1998, S. 24–91. Gerd Steinwascher: Die Oldenburger. Die Geschichte einer europäischen Dynastie, Stuttgart 2011, S. 186 f.
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zu. Obwohl sie aufgrund ihres geringen machtpolitischen Einflusses in Europa als wenig relevant galten, sollten diese drei Fürstentümer aufgrund ihrer dynastischen Verbundenheit mit Russland und dem Kaiser vielfältige politische Zusammenhänge in ihrer diplomatischen Kommunikation offenlegen. Die Heiratsprojekte dieser Fürstentümer waren in ihrer Langzeitwirkung von unterschiedlichem Erfolg. Daher sind sie mitunter aus dem Blick der Forschung geraten, trugen aber maßgeblich zur europäischen Verflechtung Russland bei.87 Heiratspolitik erfolgte nach bündnispolitischen, machtpolitischen und dynastischen Gesichtspunkten.88 Der holsteinische Herzog Karl Friedrich (1700–1739),89 der 1725 mit der Tochter Peters I., Anna Petrovna, verheiratet wurde, hielt sich sogar mit seinem Hof von 1721 bis 1727 in St. Petersburg auf und war mit den russischen Hofkreisen vertraut.90 Karl Friedrich war an der Konzeption des Obersten Geheimen Rates in Russland beteiligt und nahm regelmäßig an den Sitzungen dieses Gremiums teil.91 Der Sturz Karl Friedrichs 1727 und seine Abreise mit Anna Petrovna nach Kiel ergaben eine besondere Spannung zwischen beiden Höfen.92 Der dänischen Politik widerstrebte die durch die Heirat ausgelöste Unter87
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Vgl. Boetticher, Einführung, S. 12 f. Zu den mit diesen Heiraten verbundenen Zielen Russlands siehe Hans Bagger: The Role of the Baltic in Russian Foreign Policy, 1721–1773, in: Imperial Russian Foreign Policy, hg. von Hugh Ragsdale, Cambridge 1994, S. 36–72, hier S. 42–53. Martin Schulze Wessel: Zur Rationalität von Ostermanns Außenpolitik, in: Ein Deutscher am Zarenhof. Heinrich Graf Ostermann und seine Zeit 1687–1747, hg. von Johannes Volker Wagner, Bernd Bonwetsch und Wolfram Eggeling, Essen 2001, S. 165–170, hier S. 166–169. Klauspeter Strohm: Die kurländische Frage (1700–1763). Eine Studie zur Mächtepolitik im Ancien Régime, Berlin 1999, 47–54. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 58–65. Vgl. Anne-Simone Knöfel: Dynastie und Prestige. Die Heiratspolitik der Wettiner 2009, S. 1–6. Katrin Keller: Frauen – Hof – Diplomatie. Die höfische Gesellschaft als Handlungsraum von Frauen in Außenbeziehungen, in: Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, hg. von Corina Bastian, Eva Kathrin Dade, Hillard von Thiessen und Christian Windler, Köln, Weimar, Wien 2014, S. 33–50, hier S. 40–42. Karl Friedrich (1700–1739) war Herzog von Holstein-Gottorf. Er war der Ehemann der Zarentochter Anna Petrovna und der Vater Karl Peter Ulrichs, dem späteren Zaren Peter III. Nachdem der Vater Karl Friedrichs und seine Mutter bereits früh verstorben waren, wuchs der junge Herzog am schwedischen Hof auf. Karl Friedrich versuchte mit der Hilfe Russlands Schleswig wiederzugewinnen, nachdem er 1720 den holsteinischen Teil des Herzogtums durch Unterstützung Kaiser Karls VI. zurückerlangt hatte. Seine Thronrechte in Schweden konnte er nicht durchsetzen. Von 1721 bis 1727 war er am russischen Hof und hatte zum Teil bedeutenden Einfluss auf die Regierungsgeschäfte unter Zarin Katharina I. Er war vom 8. Februar 1726 bis zu seiner Abreise aus Russland am 25. Juli 1727 Mitglied des Obersten Geheimen Rates und versuchte die russische Politik zur Rückgewinnung Schleswigs zu bewegen. Nach dem Verlassen Russlands begab er sich nach Kiel. Siehe Hubertus Neuschäffer: Karl Friedrich, in: Schleswig-holsteinisches biographisches Lexikon, hg. von Olaf Klose, Eva Rudolph und Ute Hayessen, Neumünster 1979, S. 143 f. Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 63. Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 221 und S. 353. Vgl. Robert Pries: Das Geheime Regierungs-Conseil in Holstein-Gottorf 1716–1773, Neumünster 1955, S. 25 f. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 324. Vgl. Hubertus Neuschäffer: Anna Petrovna, in: Schleswig-holsteinisches biographisches Lexikon, hg. von Olaf Klose, Eva Rudolph und Ute Hayessen, Neumünster 1979 (Bd. 5), S. 23 f. Olaf Klose,
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stützung Holsteins aus machtpolitischem Kalkül.93 Des Weiteren verdankte der Kieler Hof die Restituierung Holsteins nach dem Großen Nordischen Krieg allein Kaiser Karl VI.94 Die brisante Lage des holsteinischen Herzogtums, ausgelöst durch den Thronwechsel in Russland, findet in der Darstellung der Gottorfer Frage bisher keine ausreichende Erwähnung.95 Die braunschweig-blankenburgischen Beziehungen zu Russland müssen hinter der Analyse der mecklenburgischen und holsteinischen zurückstehen. Die Gründe dafür sind, dass die Erwartungen der dynastischen Verflechtung, die mit der Heirat Charlottes von Braunschweig-Wolfenbüttel mit dem Sohn Peters I., Aleksej, innerhalb weniger Jahre enttäuscht wurden: Charlotte starb bereits 1715, ihr Ehegatte und Thronfolger Aleksej starb 1718. Mit dem Tod deren Sohns, Zar Peter II., war die dynastische Verbundenheit beider Häuser unterbrochen.96 Damit gewannen Katharina von Mecklenburg und deren Tochter und der junge Herzog von Holstein, Karl Peter Ulrich, in der Diskussion der Thronfolge in Russland neue Relevanz. Die Herzogin von Mecklenburg-Schwerin, Katharina Ivanovna, lebte nach dem Zerwürfnis mit ihrem Ehemann Karl Leopold (1678–1747)97seit 1722 wieder am russischen
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Christian Degn (Hg.): Die Herzogtümer im Gesamtstaat 1721–1830, Neumünster 1960, S. 25–27. Vgl. Karl-Erik Frandsen: The Conglomerate State of Denmark-Norway-Schleswig-Holstein 1523– 1864 under the Rulers of the House of Oldenburg. Integration, Preservation and Dissolution, in: Die Reiche Mitteleuropas in der Neuzeit. Integration und Herrschaft. Liber memorialis Jan Pirożyński, hg. von Adam Perłakowski, Robert Bartczak und Anton Schindling, Kraków 2009, S. 83–96, hier S. 92. Vgl. Bastian Hallbauer; Jan Schlürmann: Das schleswig-holstein-gottorfische Militär 1623–1773, in: Handbuch zur nordelbischen Militärgeschichte. Heere und Kriege in Schleswig, Holstein, Lauenburg, Eutin und Lübeck, 1623–1863/67, hg. von Eva Susanne Fiebig und Jan Schlürmann, Husum 2010, S. 61–92, hier S. 78. Eckhard Hübner: Ferne Nähe. Die Beziehungen zwischen Schleswig-Holstein und Russland in Mittelalter und Neuzeit, Heide 2003, S. 50–62. Eckhard Hübner: Kiel, Eutin, St. Petersburg. Das Fürstentum Lübeck, Schleswig-Holstein und die nordeuropäische Politik im 18. Jahrhundert, in: Kiel, Eutin, St. Petersburg. Die Verbindung zwischen dem Haus Holstein-Gottorf und dem russischen Zarenhaus im 18. Jahrhundert, Politik und Kultur, hg. von Dieter Lohmeier und Eckhard Hübner, Heide in Holstein 1987, S. 10–26, hier S. 11 f. Vgl. Klose, Degn, Die Herzogtümer im Gesamtstaat 1721–1830, S. 65–88. Hübner, Ferne Nähe, S. 54–64. Dieter Lohmeier: Die gottorfische Frage am Ende des Nordischen Krieges, in: Kiel, Eutin, St. Petersburg. Die Verbindung zwischen dem Haus Holstein-Gottorf und dem russischen Zarenhaus im 18. Jahrhundert, Politik und Kultur, hg. von Dieter Lohmeier und Eckhard Hübner, Heide in Holstein 1987, S. 34–36. Vgl. Boetticher, Einführung, S. 12 f. Karl Leopold war Herzog von Mecklenburg-Schwerin. Als Geburtsjahr findet sich in der Literatur wahlweise 1678 oder 1679. Karl Leopold erlangte die Herzogenwürde 1713. Er war in erster Ehe von 1708 bis 1710 mit Sophie Hedwig von Nassau-Dietz (1690–1734) verheiratet. 1710 ging er eine Heirat mit Christine Dorothee von Lepel ein, die bereits nach einem Jahr wieder geschieden wurde. Durch die Eheschließung 1716 mit der Nichte Zar Peters I., Katharina Ivanovna, erhoffte sich Karl Leopold die Stärkung seiner Landesherrschaft, da mit dieser Ehe ein Bündnisvertrag zwischen Russland und dem Herzogtum Mecklenburg geschlossen wurde. Da Karl Leopold das bei der Scheidung von seiner ersten Frau ausgesprochene Wiederverheiratungsverbot durch den Reichshofrat ignorierte, forderte er die Autorität des Kaisers heraus. Durch Konflikte mit den mecklenburgischen Ständen verkomplizierte sich das angespannte Verhältnis zwischen Kaiser Karl VI. und Karl Leopold zunehmend. Der Konflikt führte zur Suspendierung des Herzogs von seiner Landesherrschaft durch den
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Hof98 und gilt als Schwester der designierten Zarin Anna als zentrale Akteurin während des Thronwechsels. Die Beziehungen zwischen Kaiser Karl VI. und dem mecklenburgischen Herzog waren spätestens seit der Suspendierung des Herzogs von seiner Landesherrschaft im Jahre 1728 zerrüttet.99 Der Kaiser fühlte sich durch das widerspenstige Verhalten des Herzogs in seiner Autorität als Haupt des Reiches herausgefordert. Weniger bekannt ist, dass die Scheidung der ersten Ehe des protestantischen Karl Leopolds vor dem kaiserlichen katholischen Reichshofrat in Wien bereits zu Verwerfungen zwischen beiden Monarchen geführt hatte. Da Karl Leopold 1716 mit der Heirat Katharina Ivanovnas das Wiederverheiratungsverbot des Kaisers ignorierte, bedurfte es einer Kompromisslösung, damit der Kaiser diese Ehe anerkannte.100 Laut anekdotischen Ausführungen reiste Katharina mit ihrem Ehemann 1720 nach Wien, was durch ungebührendes Verhalten beider zu einer Vertiefung der Differenzen geführt habe.101 Katharina war zudem auch dem polnischen König August II. persönlich bekannt, da dieser bei ihrer in Danzig stattgefundenen Hochzeit anwesend war.102 Ob Katharina von Mecklenburg so unpolitisch war, wie sie in der Literatur beschrieben wird,103 wird im Verlauf der Arbeit analysiert.
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Reichshofrat 1728. Zeit seines Lebens versuchte der Herzog seine seinem Bruder Christian Ludwig II. übertragene Landesherrschaft vergeblich wiederzugewinnen. Siehe Gerhard Heitz: Carl Leopold, in: Biographisches Lexikon für Mecklenburg, hg. von Andreas Röpcke, Rostock 2009, S. 99–103. Siegrid Westphal: Der kaiserliche Reichshofrat als protestantisches ‚Scheidungsgericht‘, in: ÖZG 20, 2009, S. 31–58, hier S. 45–52. Hildegard Thierfelder: Karl Leopold von Mecklenburg, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 11, hg. von Historische Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1977, S. 239 f. Vgl. Igor‘ Vladimirovič Kurukin: Anna Ioannovna, Moskva 2014, S. 29. Vgl. Johannes Arndt: Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstellung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich 1648–1750, Göttingen 2013, S. 431–447. Erika Borchardt; Jürgen Borchardt: Mecklenburgs Herzöge. Ahnengalerie Schloß Schwerin, Schwerin 1991, S. 89. Trotz marxistischer Deutung und Unkenntnis des Reichssytems ist die Arbeit Wicks für den Konflikt aufgrund der breiten Quellenauswertung unverzichtbar: Peter Wick: Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Territorialabsolutismus, Berlin 1964. Zur Kritik: Arndt, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit, S. 432 (FN 2). Vgl. Westphal, Der kaiserliche Reichshofrat als protestantisches ‚Scheidungsgericht‘, S. 45–52. Arndt, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit, S. 441. Zum Zustandekommen der Ehe und der machtund bündnispolitischen Ziele ausführlicher, ohne jedoch auf den Konflikt mit dem Kaiser in dieser Sache einzugehen: Wick, Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 75–108. Vgl. Paul Graff: Die zweite Ehe des Herzogs Karl Leopold. Ein Kulturbild aus Mecklenburg im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts, in: Verein für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, 1895, S. 199–308, hier S. 275–293. Die Darstellung erhebt zwar bereits einen wissenschaftlichen Anspruch, hat zum Teil jedoch einen zeitgenössisch-anekdotischen Charakter. Dennoch ist der Informationsgehalt der Darstellung bisher in der Forschungsliteratur nicht übertroffen. Zur Wienreise Karl Leopolds siehe Arndt, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit, S. 442. Vgl. Graff, Die zweite Ehe des Herzogs Karl Leopold, S. 222. Vgl. ebd., S. 252.
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Neben den genannten inhaltlichen Gesichtspunkten der Berücksichtigung Mecklenburg-Schwerins und Holstein-Gottorfs wird zudem der Kritik der mangelnden Berücksichtigung kleiner Höfe des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation Rechnung getragen.104
1.3 Methodischer Zugang Diese Arbeit überwindet einerseits aufgrund der Fragestellung und des methodischen Zuschnitts, andererseits aufgrund des Quellenzugangs bewusst die ‚klassischen‘ historiografischen Disziplinengrenzen und integriert die oftmals abgegrenzte Osteuropäische Geschichte in einen gesamteuropäischen Kontext. Durch die beiden Fixpunkte – Moskau und Wien – wird aufgezeigt, dass Europa als ein geografischer Handlungsraum angesehen wurde, denn es wurden sowohl gesamteuropäische Entwicklungen in Relationen aus Russland als auch russische Entwicklungen in anderen europäischen Relationen diskutiert. Russland war nicht nur ein „Umschlagplatz für diplomatische Nachrichten“, sondern galt auch als „Zentrum und Zielort“105 innerhalb eines weit verzweigten europäischen Kommunikationsnetzwerkes. Eine für spätere Jahrhunderte charakteristisch angenommene Ost-West-Dichotomie muss für das 18. Jahrhundert infrage gestellt werden – allein deswegen, weil die Bezeichnung Osteuropa im 18. Jahrhundert so nicht existierte.106 Die Kurfürstentümer Brandenburg und Sachsen hatten mit der Erlangung der preußischen und polnischen Königswürde ohnehin ein Herrschaftsgebiet aufzuweisen, das sich nach heutigem Verständnis von Mittel- bis Mittelosteuropa erstreckte.107 Für die Habsburgermonarchie, die zu diesem Zeitpunkt den Kaiser des Heiligen 104 In der national geprägten Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts erschien es nachrangig, auch diplomatische Korrespondenzen kleiner Höfe zu edieren, siehe Franziska Schedewie, Relationen vom russischen Hof, http://quellen-perspectivia.net/de/russische_relationen/introduction, 17.09.2020. Schedewie, Die Bühne Europas, S. 31. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 11. 105 Franziska Schedewie, Relationen vom russischen Hof, http://quellen-perspectivia.net/de/russische_relationen/introduction, 17.09.2020. 106 Vgl. Christoph Augustynowicz; Agnieszka Pufelska: Einleitung, in: Konstruierte (Fremd-?)Bilder. Das östliche Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts, hg. von Christoph Augustynowicz und Agnieszka Pufelska, Berlin 2016, S. 1–10, hier S. 4. Zur russischen Selbstverortung in Europa im frühen 18. Jahrhundert siehe Sergey Glebov: „Unser Europa“. Russen über Europa und Russlands Platz in ihm (1697–1920), in: JbEurG 5, 2004, S. 83–111, hier S. 90–92. Zur Problematik des Europabegriffs allgemein, siehe Peter Burke: Did Europe exist before 1700?, in: History of European Ideas 1, 1980, S. 21–29, hier 26 f. 107 Vgl. Neugebauer, Handbuch der Preußischen Geschichte, S. XVI–XIX. Neugebauer, Geschichte Preußens, S. 8 f. Frank-Lothar Kroll: Kursachsen im Zeitalter der polnisch-sächsischen Staatenunion 1697–1763, in: Zwei Staaten, eine Krone. Die polnisch-sächsische Union 1697–1763, hg. von Frank-Lothar Kroll und Hendrik Thoß, Berlin 2016, S. 13–24, hier S. 15. Bömmelburg und Kizik plädieren dafür, die deutsch-polnische Geschichte der Frühen Neuzeit als Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte darzustellen, siehe Hans-Jürgen Bömelburg; Edmund Kizik: Deutsch-Polnische Geschichte – Frühe Neuzeit. Altes Reich und Alte Republik. Deutsch-polnische Beziehungen und Verflechtungen 1500–1806. Band II, Darmstadt 2014, S. 7–17.
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Römischen Reiches Deutscher Nation stellte, trifft dies ebenso zu.108 Die regen kulturellen Austauschbeziehungen zwischen Russland und dem Kurfürstentum Sachen und Frankreich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts seien hierfür exemplarisch erwähnt.109 Zar Peter I. gelang es durch erste Kooperationen mit Spanien in Handelsfragen, die spanische Monarchie als möglichen Partner für künftige russische Herrscherinnen und Herrscher zu etablieren.110 Die Heiratspolitik Zar Peters I. und die damit verbundene Stationierung russischer Truppen in Mecklenburg verstärkten die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der vorher abstrakten Macht und veränderte das Russlandbild nachhaltig.111 Ebenso wurden Standardwerke über diplomatische Verhaltensweisen auch ins Russische übersetzt,112 was auf europäische Interaktionen im Bereich der Diplomatie hinweist. Die Veränderungen der diplomatischen Kultur Russlands war durch kulturellen Austausch entstanden, wodurch ein Ost-West-Gegensatz in der europäischen Diplomatie anachronistisch wirkt.113 Ein solcher Gegensatz findet sich dagegen in der Historiografie. Die Auswirkungen des russischen Thronwechsels für die europäischen Beziehungen finden in russischen Darstellungen ebenso wenig Beachtung114 wie in Abhandlungen über die außenpolitischen Spannungen des Kaisers und seiner Verbündeten gegen die Alliierten von Sevilla. Darin werden die sich aus dem russischen Thronwechsel 1730 für den Kaiser ergebenden Folgen entweder nicht oder lediglich in wenigen Sätzen abgehandelt.115 Dies trifft ebenso auf David Bayne Horns Great Britain 108 Zur räumlichen Verortung der Habsburgermonarchie siehe Karl Vocelka: Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im Habsburgischen Vielvölkerstaat, Wien 2001, S. 21 f. 109 Vgl. Ada Raev: Sachsens Glanz und Russlands Machtentfaltung, in: Bilder-Wechsel. Sächsisch-russischer Kulturtransfer im Zeitalter der Aufklärung, hg. von Volkmar Billig, Birgit Dalbajewa, Gillbert Lupfer und Yulia Vashchenko, Köln 2009, S. 17–31, hier S. 17–25. Erich Donnert: Peter der Große. Der Eintritt Russlands in Europa, in: Zar Peter der Große. Die zweite große Reise nach Westeuropa 1716–1717, hg. von Dieter Alfter, Hameln 1999, S. 11–31, hier S. 26–29. 110 Vgl. Schop Soler, Die spanisch-russischen Beziehungen im 18. Jahrhundert, S. 24–43. Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Zar Peter I. auf frühere Gesandtenaustausche zurückgreifen konnte. Siehe ebd., S. 19–24. 111 Vgl. Gert Robel: Berichte über Rußlandreisen, in: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 18. Jahrhundert: Aufklärung, hg. von Mechthild Keller, München 1987, S. 216–247, hier S. 221 f. Bagger, The Role of the Baltic in Russian Foreign Policy, 1721–1773, S. 36 f. 112 Vgl. Dorothea Nolde: Was ist Diplomatie und wenn ja, wie viele? Herausforderungen und Perspektiven einer Geschlechtergeschichte der frühneuzeitlichen Diplomatie, in: HA 21, 2013, S. 179–198, hier S. 184 f. 113 Vgl. Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 7–9. 114 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda. 115 Vgl. Erbe, Frühe Neuzeit, S. 202–208. Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 280–283. Demel, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts, S. 236 f. Martin Naumann: Österreich, England und das Reich. 1719–1732, Berlin 1936, S. 160. Die Darstellung von Naumann ist mitunter durch starke zeitgenössische Wertungen geprägt, die als widerlegt gelten. Dennoch basiert seine Darstellung auf der Auswertung archivalischer Bestände. Die Darstellung Kösters über russische Truppen für den Kaiser thematisiert die angedachte russische Militärunterstützung für den Kaiser 1730 nicht. Siehe Maren Köster: Russische Truppen für Prinz Eugen. Politik mit militärischen Mitteln im frühen
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and Europe in the Eighteenth Century zu, obwohl der Autor explizit auf die englisch-russischen Beziehungen eingeht.116 Allein die diplomatiegeschichtliche Arbeit Jeremy Blacks, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, geht umfänglicher auf die europäischen Auswirkungen des russischen Thronwechsels 1730 ein.117 Dem in der neuesten Forschung erhobenen, aber zumeist nicht umgesetzten Anspruch der Überwindung einer in nationalen Paradigmen verharrenden Historiografie wird in diesem Buch durch eine gesamteuropäische Perspektive Rechnung getragen.118 Daraus ergibt sich notwendigerweise, dass sich diese Arbeit an der Methode der Entangled history orientiert. Eine Aneinanderreihung oder bloße Gegenüberstellung der Interessen einzelner Höfe ohne Querverbindungen – verhaftet in nationalen Blickwinkeln – gilt es zu überwinden, um europäische Interdependenzen und Verflechtungen zu untersuchen. Dass Moskau neben den politischen Zentren Paris und Berlin in das Netzwerk geheimer Korrespondenzen Prinz Eugens eingebunden war, zeigt, dass Ereignisse in Russland aus Sicht des Wiener Hofs von europäischer Dimension waren. Diese parallelen Geheimkorrespondenzen Prinz Eugens mit den kaiserlichen Diplomaten am preußischen, englischen, sächsischen, französischen und preußischen Hof verdeutlichen, inwieweit Geheimkorrespondenzen im Vergleich zu offiziellen Korrespondenzen unterschiedliche Interessen und Einschätzungen durch die Analyse unterschiedlicher Informationskanäle liefern. Sowohl Höfe als auch Gesandtschaften selbst waren keineswegs „monolithische Blöcke“ mit einer einheitlichen Interessensausrichtung, sondern je nach Akteur und dessen Interessen in verschiedene Netzwerke oder Fraktionen bei Hof eingebunden.119 Ein akteurbezogener und multiperspektivischer Blick muss die in der Geschichtswissenschaft tradierten Vorstellungswelten des „vektoriellen Verständnisses von Kulturtransferprozessen, die angeblich immer nur in eine Richtung laufen“,120 weiter hinterfra-
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18. Jahrhundert, Wien 1986. Johannes Wagner: Das Reisejournal des Grafen Seckendorff vom 15. Juli bis zum 26. August 1730, in: MÖStA 10, 1957, S. 186–242, hier S. 186. David Bayne Horn: Great Britain and Europe in the Eighteenth Century, London 1967, S. 201–208. Vgl. Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, S. 178–181. Vgl. Augustynowicz, Pufelska, Einleitung, S. 1 f. Lorenz Erren, Tagungsbericht: Russland und der russische Hof aus der Sicht europäischer und osmanischer Diplomaten (1697–1762), https://www. hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3552, 17.09.2020. Dieser Forschungsansatz wird unter anderem auch von Neugebauer für zukünftige Betrachtungen der preußischen Geschichte mehrfach erhoben, siehe Neugebauer, Geschichte Preußens, S. 8 f. Neugebauer, Handbuch der Preußischen Geschichte, S. XVI–XIX. Daniel Schönpflug: Die Heiraten der Hohenzollern. Verwandtschaft, Politik und Ritual in Europa 1640–1918, Göttingen 2013, S. 29 f. Für eine gesamteuropäische Darstellung und Überwindung des Ost-West-Gegensatzes in der Zeitgeschichte siehe Agnes Arndt, Joachim C. Häberlen, Christiane Reinecke (Hg.): Vergleichen, verflechten, verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, Göttingen 2011, S. 89 f. Vgl. Franziska Schedewie, Relationen vom russischen Hof, http://quellen-perspectivia.net/de/russische_relationen/introduction, 17.09.2020. Hillard von Thiessen: Diplomatie und Patronage. Die spanisch-römischen Beziehungen 1605–1621 in akteurszentrierter Perspektive, Epfendorf/Neckar 2010, S. 14–25. Thiessen, Windler, Außenbeziehungen in akteurszentrierter Perspektive, S. 3–9. Black, Hannover/England, Saxony/Poland, S. 438. Augustynowicz, Pufelska, Konstruierte (Fremd-?)Bilder, S. 8.
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gen, indem auch die Verbindungen und das soziale Umfeld der Akteure in die Untersuchung einbezogen werden.121 Die Betrachtung der Protagonisten der verschiedenen Höfe zeigt, dass diese auf familiäre, freundschaftliche und kollegiale Strukturen für ihre Informationsvermittlung zurückgriffen.122 Daraus konnten sich entgegenlaufende Interessen und Loyalitäten herausbilden, die durch innerhöfische Verbindungen – seien sie formeller oder eher informeller Natur – gestärkt wurden. Höfe werden damit als polyzentrisch verstanden. Sie bedürfen nicht nur der Betrachtung des Herrschers bzw. der Herrscherin als Person, sondern auch die unterschiedlichen Mitglieder des Hofs müssen jeweils als eigenständige Akteure mit eigenständigen, zum Teil divergierenden Interessen wahrgenommen werden.123 Diese polyzentrische Betrachtung ist erforderlich, da der Monarch beziehungsweise die Monarchin als die zentrale Figur der Dynastie angesehen wird, aber neben dem Hof des Staatsoberhaupts auch Hofstaaten der Ehepartnerinnen und Ehepartner und der Thronfolger existierten.124 Zudem war es für die Entscheidungsfindung und -durchsetzung für die europäischen Monarchen und Monarchinnen des 18. Jahrhunderts unabdingbar, mit den unterschiedlichen Hofkreisen zu kommunizieren und zu interagieren.125 Die Bedeutung verwandtschaftlicher Verflechtungen an europäischen Höfen für politische Entscheidungsprozesse gilt dabei als essenziell. 126 Die einzelnen verwandtschaftlich verflochtenen diplomatischen Akteure waren vielfach in die sie entsendenden Hofstrukturen eingebunden. Diplomaten und Angehörige der Höfe agierten in Form eines Netzwerkes miteinander.127 Die verwandtschaftlichen Verflechtungen des preußischen, sächsisch-polnischen und kaiserlichen Hofadels sind in der Forschung bekannt, insbesondere im Hinblick auf den Einfluss des Hofadels auf die Außenpolitik.128 Wie in der Forschung bereits 121 Vgl. Augustynowicz, Pufelska, Einleitung, S. 8–11. 122 Vgl. Lorenz Erren, Tagungsbericht: Russland und der russische Hof aus der Sicht europäischer und osmanischer Diplomaten (1697–1762), https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3552, 17.09.2020. Thiessen, Diplomatie und Patronage, S. 35–38. 123 Vgl. Clarissa Campbell Orr: Introduction, in: Queenship in Europe 1660–1815. The Role of the Consort, hg. von Clarissa Campbell Orr, Cambridge 2004, S. 1–15, hier S. 1 und S. 6. Bastian, Verhandeln in Briefen, S. 18–20. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 13–15. Schedewie, Die Bühne Europas, S. 19–22 und S. 34. 124 Vgl. Clarissa Campbell Orr: Court Studies, Gender and Women’s History, 1660–1837, in: Queen ship in Britain, 1660–1837. Royal Patronage, Court Culture and Dynastic Politics, hg. von Clarissa Campbell Orr, Manchester 2010, S. 1–52, hier S. 24–32. 125 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 108 f. 126 Vgl. Valerie A. Kivelson: Kinship Politics/Autocratic Politics. A Resonsideration of Early-EighteenthCentury Political Culture, in: Imperial Russia. New Histories for the Empire, hg. von Jane Burbank und David L. Ransel, Bloomington 1998, S. 5–31, hier S. 22 f. 127 Vgl. Steven Müller: Der Aufenthalt Peters I. in Paris 1717 aus Sicht des Wiener Hofes, in: QR 5, 2017, S. 354–366, hier S. 365. Franziska Schedewie, Relationen vom russischen Hof, http://quellen-perspectivia.net/de/russische_relationen/introduction, 17.09.2020. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 14. 128 Vgl. Neugebauer, Handbuch der Preußischen Geschichte, S. 274 f. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 152–155. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 241 f. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 31–53.
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angedeutet, trifft dies auch auf den holsteinischen Hofstaat zu.129 Durch die Betrachtung eines Gesandtennetzwerkes lassen sich kollegiale Briefwechsel diplomatischer Vertreter aufzeigen, die den Korrespondenzen zwischen Herrscher und Diplomat als Beilagen beigefügt sind oder bei denen sich Vermerke darüber finden. Ob diplomatische Akteure mit ihren Kollegen regelmäßig direkte Korrespondenzen austauschten, gilt es herauszuarbeiten. Kollegiale Korrespondenzen systematisch zu erschließen, ist allerdings ein schwieriges Unterfangen, da diese – wenn überhaupt – lediglich als Beilagen archiviert sind. Integraler Bestandteil dieser Untersuchung sind Herrscherinnen und Ehefrauen der Herrscher, da sie zentrale Akteurinnen in der höfischen Politik und Diplomatie waren.130 Da es bis auf den jungen holsteinischen Prinzen, Karl Peter Ulrich, keine männlichen Thronfolger der Dynastie der Romanovs mehr gab, rücken am russischen Hof Frauen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Nicht nur die designierte Zarin Anna, sondern auch ihre am Hof anwesende Schwester, Katharina Ivanovna, Herzogin von Mecklenburg, und deren Tochter waren ein integraler Bestandteil des Moskauer Hofs. Aber auch an anderen europäischen Höfen waren Frauen als Akteurinnen sichtbar.131 Der Einfluss der spanischen Königin, Elisabeth Farnese, auf die politischen Entscheidungen, einschließlich der Auswahl der Minister und Diplomaten, wuchs aufgrund der lang anhaltenden depressiven Phasen ihres Ehemannes, König Philipp V., stetig.132 Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Königin nicht für, sondern nur mit dem König handeln durfte.133 Sie verfügte als Ehefrau des spanischen Königs aber wie andere europäische Königinnen über einen exklusiven Zugang zu Informationen und nahm an allen Audienzen und Beratungen des Königs teil. Auch wenn sie aufgrund ihres Geschlechts von der formalen Herrschaftsausübung ausgeschlossen war, bestimmte sie als Gattin des Königs faktisch die spanische Außenpolitik.134 Mit der grundsätzlichen Schlussfolgerung, dass in der hö129 Vgl. Pries, Das Geheime Regierungs-Conseil in Holstein-Gottorf 1716–1773, S. 20. 130 Vgl. Schedewie, Die Bühne Europas, S. 19–22. Katrin Keller: Frauen und dynastische Herrschaft. Eine Einführung, in: Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit, hg. von Bettina Braun, Katrin Keller und Matthias Schnettger, Wien 2016, S. 13–26, hier S. 21. Nadir Weber, Rezension zu: Braun, Bettina; Keller, Katrin; Schnettger, Matthias (Hrsg.): Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26072, 17.09.2020. 131 Der Überblick umfasst nicht nur die Kaiserinnen, sondern auch einen Forschungsüberblick v.a zu den englischen und französischen Herrscherinnen, siehe Keller, Frauen und dynastische Herrschaft, S. 13– 26. Weber lobt den „souveränen Forschungsüberblick“ Kathrin Kellers, siehe Nadir Weber, Rezension zu: Braun, Bettina; Keller, Katrin; Schnettger, Matthias (Hrsg.): Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26072, 17.09.2020. 132 Vgl. Noel, ‘Bárbara succeeded Elizabeth …’, S. 158–165. Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, S. 2. 133 Vgl. Noel, ‘Bárbara succeeded Elizabeth …’, S. 168. 134 Vgl. Corina Bastian; Eva Kathrin Dade; Eva Ott: Weibliche Diplomatie? Frauen als außenpolitische Akteurinnen im 18. Jahrhundert, in: Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, hg. von Corina Bastian, Eva Kathrin Dade, Hillard von Thiessen und Christian Windler, Köln, Weimar, Wien 2014, S. 101–114, hier S. 104 f. und S. 110. Richard Lodge: The Treaty of Seville (1729), in: Transactions of the Royal Historical Society 16, 1933, S. 1–43, hier S. 4 f. und S. 33–37.
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fischen Gesellschaft der Zugang und die Nähe zum Herrscher ein entscheidender Machtfaktor war, ist auch das Bild über Herrscherinnen zu erweitern.135 Demnach wurden und werden die politischen Rollen der Königin von England, Caroline (1683–1739), und der preußische Königin Sophie Dorothea (1687–1757) unterschätzt. Mit dem Wandel des Verständnisses der Königinnen ist auch eine Neubetrachtung ihrer Ehemänner und Könige notwendig.136 Nachdem die französische Königin Maria nach anfänglichen politischen Ambitionen durch die Feindschaft zu Fleury im Winter 1725/26 ihre einflussreiche Stellung am französischen Hof eingebüßt hatte, war ihr Einfluss auch aufgrund ihres geringen dynastischen Status’ in den europäischen Angelegenheiten gering.137 Politische Ambitionen werden dagegen Kaiserin Elisabeth Christine (1691–1750)138 – wenn überhaupt – lediglich in geringem Maße zugeschrieben.139 Ob sich diese auf geringer Forschungsgrundlage getroffene Beurteilung140 als richtig erweist, bleibt weiteren Untersuchungen vorbehalten. In Russland markierte der Herrschaftsantritt der ehemaligen verwitweten Herzogin von Kurland, Anna Ivanovna, die letztendlich zur souveränen Zarin Anna I. wurde, einen Einschnitt in die Herrscherpraxis. Während Peters I. Halbschwester Sofia lediglich als Regentin herrschte, war Zarin Katharina I.
135 Vgl. Bastian, Verhandeln in Briefen, S. 429. Zur Bedeutung des Zugangsrechts und der Nähe zum Monarchen siehe Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 20–30. 136 Vgl. Andrew Hanham: Caroline of Brandenburg-Ansbach and the ‘Anglicisation’ of the House of Hanover, in: Queenship in Europe 1660–1815. The Role of the Consort, hg. von Clarissa Campbell Orr, Cambridge 2004, S. 276–299, hier besonders S. 276–283 und S. 295 f. Das Beispiel des englischen Königspaars zeigt, dass Caroline eine herausragende Königin ist, während zur Regierungszeit Georgs II. weiterführende Forschung erstrebenswert wäre, siehe Orr, Court Studies, Gender and Women‘s History, 1660–1837, S. 4–6. Christine Gerrard: Queens-in-waiting: Caroline of Anspach and Augusta of Saxe-Gotha as Princesses of Wales, in: Queenship in Britain, 1660–1837. Royal Patronage, Court Culture and Dynastic Politics, hg. von Clarissa Campbell Orr, Manchester 2010, S. 143–161, hier S. 143–151. Neugebauer, Handbuch der Preußischen Geschichte, S. 321. 137 Vgl. John Rogister: Queen Marie Leszczyńska and Faction at the French Court 1725–1768, in: Queenship in Europe 1660–1815. The Role of the Consort, hg. von Clarissa Campbell Orr, Cam bridge 2004, S. 186–210, hier S. 198–203. 138 Elisabeth Christine (1691–1750) war eine geborene Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel. Sie war die Ehefrau Kaiser Karls VI. 1707 konvertierte sie für die Heirat zum Katholizismus. Die Frage nach ihrem Einfluss auf politische Ereignisse kann nicht beantwortet werden, da zu ihrem Leben nur Forschungsdesiderate vorliegen. Siehe Michael Pölzl: Die Kaiserinnen Amalia Wilhelmina (1673– 1743) und Elisabeth Christine (1691–1750). Handlungsspielräume im Spannungsfeld dynastischer und persönlicher Interessen, in: Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit, hg. von Bettina Braun, Katrin Keller und Matthias Schnettger, Wien 2016, S. 175–192. Ferdinand Spehr: Elisabeth Christine, Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 6, hg. von Historische Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften, München, Leipzig 1877, S. 11 f. Volker Press: Elisabeth Christine, in: Die Habsburger. Ein biographisches Lexikon, hg. von Brigitte Hamann, München 1988, S. 88–90, hier S. 89. 139 Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 232. 140 Vgl. Pölzl, Die Kaiserinnen Amalia Wilhelmina (1673–1743) und Elisabeth Christine (1691–1750), S. 175–178.
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bereits gekrönte Ehefrau Peters I., als sie 1727 zur Zarin wurde. Anna war aber die erste Frau in Russland, die ihre Herrschaft aus eigenem Recht ausübte. Eine weibliche Herrschaft aus eigenem Recht ist in der europäischen Geschichte nicht häufig anzutreffen und bedarf daher der Untersuchung.141 Im 18. Jahrhundert ist in Russland eine fast 70-jährige Herrschaftsausübung von Frauen zu belegen.142 Die Untersuchung weiblicher Herrschaft im 18. Jahrhundert in gesamteuropäischer Perspektive muss aufgrund einer Vielzahl unterschiedlicher herrschender Frauen in der Zukunft noch verstärkter erfolgen. Der Bogen könnte hierbei beispielsweise von den Zarinnen Katharina I. (1684–1727), Anna I. (1693–1740) und Elisabeth I. (1709–1761) über die schwedische Königin Ulrike Eleonore (1688–1741), die englische Königin Anne (1665–1714) bis zur portugiesischen Königin Maria (1734–1816) gespannt werden. Aber auch auf Ebene der Diplomaten lassen sich die Gattinnen der englischen und sächsisch-polnischen diplomatischen Vertreter als aktive, in die Geschehnisse eingreifende Personen in den Archivalien verorten.143 Jane Vigor (1699–1783),144 die als Ehefrau des englischen Generalkonsuls nach Russland kam und nach dessen Tod seinen Sekretär Claudius Rondeau heiratete, hinterließ sogar ein literarisches Werk. Sie veröffentlichte von ihr in Russland geschriebene Briefe.145 141 Vgl. Charlotte Backerra, Tagungsbericht: Weibliche Herrschaft im 18. Jahrhundert – Maria Theresia und Katharina die Große, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7210, 17.09.2020. Keller, Frauen und dynastische Herrschaft, S. 15 f. Barbara Stollberg-Rilinger: Nur die Frau des Kaisers? Kommentar, in: Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit, hg. von Bettina Braun, Katrin Keller und Matthias Schnettger, Wien 2016, S. 245–251, hier S. 245. Allgemein zur Thematik Geschlecht als historische Kategorie im 18. Jahrhundert siehe Barbara Stollberg-Rilinger: Väter der Frauengeschichte? Das Geschlecht als historiographische Kategorie im 18. und 19. Jahrhundert, in: HZ 262, 1996, S. 39–71. 142 Vgl. Stellner, Die dynastische Politik des russischen Imperiums im 18. Jahrhundert, S. 36. John T. Alexander: Favourites, Favouritism and Female Rule in Russia 1725–1796, in: Russia in the Age of the Enlightenment. Essays for Isabel de Madariaga, hg. von Roger P. Bartlett und Hartley Janet M., London 1990, S. 106–124, hier S. 106. Cynthia Hyla Whittaker: Russian Monarchy. Eighteenth-Century Rulers and Writers in Political Dialogue, DeKalb/Illinois 2003, S. 64. Im 18. Jahrhundert war es nur in England, Schweden, Portugal und Russland möglich, als Frau den Thron zu besteigen, siehe Erbe, Frühe Neuzeit, S. 196–198, 208–210, 214 und 222. 143 Vgl. Herbert Sommerfeld: Axel von Mardefeld als Gesandter Friedrich Wilhelms I. am russischen Hofe (1728–1740). Dissertation, Berlin 1924, S. 32. Dazu ausführlicher siehe Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 283. 144 Jane Vigor begleitete ihren ersten Mann Thomas Ward 1728 nach St. Petersburg, wo dieser Konsul der englischen Krone und Agent der Russia Company wurde. Nach dessen Tod im Februar 1731 heiratete sie am 23. November 1731 dessen Sekretär Claudius Rondeau. Sie vermittelte innerhalb der Russia Company erfolgreich Streitigkeiten. Nach Rondeaus Tod im Oktober 1739 kehrte sie mit dem Kaufmann William Vigor aus St. Petersburg nach England zurück und heiratete ihn 1740. Sie starb am 6. September 1783 in Windsor, siehe Katherine Turner: Vigor, Jane (1699–1783), in: Oxford Dictionary of National Biography. From the Earliest Times to the Year 2000, hg. von Henry Colin Gray Matthew und Brian Harrison, Oxford 2004. Anthony G. Cross: By the Banks of the Neva. Chapters from the Lives and Careers of the British in the Eighteenth Century Russia, Cambridge 1997, S. 340. 145 Jane Rondeau: Letters from a Lady Who Resided Some Years in Russia to Her Friend in England, London 1777. Die publizierten Briefe umfassen jedoch nicht den Betrachtungszeitraum dieser Arbeit.
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Dass Ehefrauen in diplomatische Tätigkeiten unmittelbar eingebunden waren, lässt sich nur in seltenen Fällen nachweisen.146 Für die kaiserlichen Gesandtschaften wird in der Literatur angenommen, dass die Ehegattinnen auf Gesandtschaften mitgenommen wurden.147 Ob dieser Befund so auf alle hier zu untersuchenden Gesandten zutrifft, kann aufgrund des kurzen Betrachtungszeitraums nicht umfassend beantwortet werden. Jedoch sind die Gattin des holsteinischen Gesandten und ihre Mutter in den Quellen greifbar, da es Nils Bonde ohne das Vermögen seiner Schwiegermutter nicht möglich gewesen wäre, das kostspielige Amt eines Gesandten zu übernehmen. Durch den Prozess zur Geltendmachung der Forderungen nach dem Tod ihres Mannes sorgte die Ehefrau Bondes dafür, dass die finanziellen Ausgaben der Moskauer Gesandtschaft ihres Mannes detailliert aufgelistet wurden und bis heute überliefert sind. Daraus geht hervor, dass Nils Bonde 1725 durch die Heirat seiner Frau von seiner Schwiegermutter Anna Margaretha Dreyer, verwitwete schwedische Etatsrätin, über eine Mitgift in Höhe von 12.000 Reichstalern verfügen konnte, die ihm seine diplomatische Tätigkeit ermöglichte.148 Dies lässt nicht nur Schlüsse über den Alltag und die Lebensführung der Gesandten zu; die Auflistung finanzieller Ausgaben während des Thronwechsels 1730 in Russland sind daher für die holsteinischen Gesandten überliefert. Sowohl die Herrscherinnen und Herrscher als auch die Diplomaten und deren Ehefrauen werden als Amts- und Arbeitspaar in den Blick genommen, sofern dies die Quellen zulassen.149 Die Betrachtung von außenpolitisch aktiven Frauen erfolgt verstärkt seit den 2000er Jahren. Es besteht in diesem Bereich trotzdem noch viel Forschungsbedarf.150 Diplomaten-
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Zur Rezeptionsgeschichte siehe Leo Loewenson: Lady Rondeau’s Letters from Russia (1728–1739), in: SEER 35, 1957, S. 399–408. Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 282. David Bayne Horn: The British Diplomatic Service. 1689–1789, Oxford 1961, S. 257 f. Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 109 f. Müller verweist bei den Ausnahmen unter anderem auf die Weigerung der Ehefrau Stephan Kinskys, ihn 1721 nach Russland zu begleiten. Ebd. Die Prozessakten lassen weitere Untersuchungen zu seinen Familienverhältnissen und zur Finanzierung seiner Gesandtschaften zu. Darin befinden sich Abschriften über Rechnungsaufstellungen mit den dazugehörigen Bewilligungsvermerken über die Ausgaben während seiner diplomatischen Tätigkeit in Russland. Seine Ehefrau strengte zur Eintreibung der ausgelegten Gelder einen Prozess gegen das Haus Holstein-Gottorp an, um die ausstehenden Forderungen ihres Mannes einzuklagen, siehe Die Forderung der verwittibten Gräfin Bonde betreffend, LASH, Abt. 8.2, Nr. 1798, ohne Foliierung. Vgl. Keller, Frauen und dynastische Herrschaft, S. 19–22. Keller, Frauen – Hof – Diplomatie, S. 35. Hier sei auch auf das Dissertationsprojekt Lars-Dieter Leisners verwiesen: Lars-Dieter Leisner, Das Ehepaar als Arbeitspaar in der frühneuzeitlichen Diplomatie, http://www.univie.ac.at/diplomacy/ members/lars-dieter-leisner/, 17.09.2020. Vgl. Nolde, Was ist Diplomatie und wenn ja, wie viele?, S. 179 f. Corina Bastian; Eva Kathrin Dade; Hillard von Thiessen; Christian Windler: Einleitung, in: Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, hg. von Corina Bastian, Eva Kathrin Dade, Hillard von Thiessen und Christian Windler, Köln, Weimar, Wien 2014, S. 7–14, hier S. 7. Britta Kägler: Dynastische Ehen in der Frühen Neuzeit. Partnerwahl zwischen Sozialprestige und Außenpolitik, in: GWU 65, 2014, S. 5–20, hier S. 9. Keller, Frauen – Hof – Diplomatie, S. 33 f. Schedewie, Die Bühne Europas.
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frauen sind bisher nur an der einen oder anderen Stelle greifbar,151 es besteht aber eine Notwendigkeit nach systematischen Untersuchungen. Dies ist für die Forschung besonders lohnenswert, da es im zeitgenössischen Verständnis der höfischen Gesellschaft keine Trennung zwischen öffentlichen und privaten Sphären nach heutigem Verständnis gab.152 Eine Differenzierung der Handlungsspielräume der weiblichen und männlichen Akteure nach ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Stand ist dabei zu berücksichtigen.153 Inwieweit Herrscherinnen, die durch ihre Heirat in eine andere Dynastie wechselten, als Bindeglieder und Vermittlerinnen zwischen Dynastien wirkten154 oder aber auch Allianzen aus diesen Gründen gegen den Willen des Ehemanns fördern oder verhindern konnten,155 gilt es zu untersuchen. Dabei geht es nicht um eine isolierte Betrachtung der Handlungsweisen von Frauen, sondern diese werden in ihrem sozialen Gefüge mit männlichen Akteuren analysiert.156 Dafür wird das soziale Umfeld der handelnden Akteurinnen und Akteure in den Blick genommen, um neuere Forschungen zur Struktur von Höfen und verstärkt die Bedeutung von Akteurinnen aufzugreifen.157 Die anachronistische Vorstellung, dass an den Höfen nur politische Entscheidungen durch Männer herbeigeführt wurden, gilt es dabei zu widerlegen.158
151 N. E. Mateeva, die Ehefrau des russischen Diplomaten A.A. Mateev in Wolfenbüttel, begann aus eigenem Antrieb ein Heiratsprojekt zwischen dem braunschweigischen und dem russischen Hof. Siehe dazu: Dolgova, Das Heiratsprojekt zwischen dem Zarewitsch Aleksej und Prinzessin Charlotte, S. 28. Bastian nennt beispielhaft diplomatisch tätige Frauen, siehe Corina Bastian: Paper Negotiations: Women and Diplomacy in the Early Eighteenth Century, in: Women, Diplomacy and International Politics since 1500, hg. von Carolyn James und Glenda Sluga, New York 2015, S. 107–119, hier S. 114 f. Bastian, Verhandeln in Briefen, S. 432–435. 152 Vgl. Keller, Frauen und dynastische Herrschaft, S. 21. Bastian, Dade, Thiessen, Windler, Einleitung, S. 10–12. Keller, Frauen – Hof – Diplomatie, S. 34 f. 153 Vgl. Keller, Frauen und dynastische Herrschaft, S. 18. Bastian, Dade, Thiessen, Windler, Einleitung, S. 13. 154 Vgl. Keller, Frauen und dynastische Herrschaft, S. 19. Stollberg-Rilinger, Nur die Frau des Kaisers?, S. 248. Keller, Frauen – Hof – Diplomatie, S. 40–42. 155 Vgl. Stollberg-Rilinger, Nur die Frau des Kaisers?, S. 248. 156 Diese Forderung erhebt die Herausgeberin Clarissa Campbell Orr bereits in dem von ihr herausgegebenen Buch „Queenship in Europe 1660–1815“ mit der Einschränkung, dass dies aufgrund der schlechten Forschungslage zu Königinnen in Europa nicht erfolgen werde, siehe Orr, Introduction, S. 1 f. Eine ähnliche Meinung vertritt Barbara Stollberg-Rilinger in Bezug auf die Kaiserinnen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, siehe Stollberg-Rilinger, Nur die Frau des Kaisers?, S. 246 f. Bettina Braun analysierte bei der Beurteilung der Herrschaft Maria Theresas explizit nach den Handlungsspielräumen ihres Mannes, Kaiser Franz I. Stephan, siehe Bettina Braun: Maria Theresia. Herrscherin aus eigenem Recht und Kaiserin, in: Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit, hg. von Bettina Braun, Katrin Keller und Matthias Schnettger, Wien 2016, S. 211–228. 157 Vgl. Orr, Introduction, S. 1 f. 158 Vgl. Stollberg-Rilinger, Nur die Frau des Kaisers?, S. 245–251. Stollberg-Rilinger, Väter der Frauengeschichte? Das Geschlecht als historiographische Kategorie im 18. und 19. Jahrhundert.
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1.4 Der Kreis der Diplomaten Zur Geschichte des Gesandtschaftswesens in der frühen Neuzeit liegt umfangreiche Literatur vor.159 Für das sächsische,160 das kaiserliche,161 das englische162 und das russische163 Gesandtschaftswesen finden sich Studien – wenn auch unterschiedlichen Alters und Ausführlichkeit – über die Entstehung, das Institutionengefüge, das Gesandtschaftspersonal oder die Finanzierung. Bezüglich des brandenburg-preußischen Gesandtschaftswesens wurden diese Themen von Jeannette Falcke aufgegriffen, wobei ihre Arbeit niemals das Ziel hatte, diese Fragen allumfänglich zu beantworten.164 Daher ist das Werk Josef Krusches zur Entstehung der preußischen Gesandtschaften in Russland, deren Gesandtschaftspersonal und deren Finanzierung unverzichtbar, wenn auch nicht umfassend.165 Systematische Untersuchungen des diplomatischen Dienstes Brandenburg-Preußens umfassen hauptsächlich – wenn auch nicht
159 Otto Krauske: Beiträge zur Geschichte der ständigen Diplomatie vom 15. Jahrhundert bis zu den Beschlüssen von 1815 und 1818, Leipzig 1884. Zur Kritik siehe Josef Krusche: Die Entstehung und Entwicklung der ständigen Vertretung Brandenburg-Preußens am Zarenhofe bis zum Eintritt Rußlands in die Reihe der europäischen Großmächte. Dissertation, Breslau 1932, S. 5. Ebenso: Schaube, Zur Entstehungsgeschichte der ständigen Gesandtschaften, S. 504–508. Zur Entstehung des ständigen Gesandtschaftswesens Sachsens, des Kaisers, Englands und Preußens in Bezug auf Russland im 18. Jahrhundert siehe Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 23–30. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 60–85, insbesondere S. 81 f. Horn, The British Diplomatic Service, S. 1–11. Krusche, Die Entstehung und Entwicklung der ständigen Vertretung Brandenburg-Preußens am Zarenhofe bis zum Eintritt Rußlands in die Reihe der europäischen Großmächte, S. 6–33. Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 19–25. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 80–92. 160 Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763. 161 Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740). Erwin Matsch: Der Auswärtige Dienst von Österreich(-Ungarn) 1720–1920, Wien, Köln, Graz 1986. Für niedriges und mittleres Personal, beispielsweise Kuriere, siehe Irene Kubiska-Scharl; Michael Pölzl: Die Karrieren des Wiener Hofpersonals 1711–1765. Eine Darstellung anhand der Hofkalender und Hofparteienprotokolle 2013. 162 Vgl. Horn, The British Diplomatic Service. 163 Zur Organisation des russischen Gesandtschaftswesen bis 1725 siehe Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 69–111. Zur Auflistung der ständigen russischen Gesandtschaften und der diplomatischen Vertreter siehe Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 440–464. 164 Zur Entstehung des ständischen Gesandtschaftswesens Brandenburg-Preußens siehe Falcke, Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgisch-preußischen Hof im 17. und 18. Jahrhundert, S. 28–32. Zum diplomatischen Institutionengefüge: ebd., S. 33–37. Zur Finanzierung siehe ebd., S. 37–46. Zum Institutionengefüge siehe auch: Peter Baumgart: Zur Gründungsgeschichte des Auswärtigen Amtes in Preußen (1713–1728), in: JGMO 7, 1958, S. 229–248. 165 Vgl. Krusche, Die Entstehung und Entwicklung der ständigen Vertretung Brandenburg-Preußens am Zarenhofe bis zum Eintritt Rußlands in die Reihe der europäischen Großmächte.
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ausschließlich166 – die Zeiträume von 1815 bis 1866 und von 1871 bis 1945.167 Über den gesandtschaftlichen Dienst Mecklenburg-Schwerins oder Holstein-Gottorps fehlen systematische Abhandlungen gänzlich.168 Über die holsteinischen Regierungsinstitutionen und deren Arbeitsweise gibt es nur rudimentäre Informationen.169 Für die französischen diplomatischen Vertreter existiert ein Nachschlagewerk, das aber aufgrund der bloßen Auflistung diplomatischer Akteure wissenschaftlich überholt ist.170 Obwohl das Gesandtschaftswesen Frankreichs als gut erforscht gilt,171 trifft dies nicht auf die Vertreter am russischen Hof zu. Kurze biografische Skizzen französischer Vertreter am russischen Hof gibt es erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.172 Diese aufgezeigten Forschungslücken erschweren die akteurbezogene Analyse der Beziehungen. Daher mussten Informationen über Institutionen und zu den einzelnen Diplomaten aus Archivalien und Literatur zusammengetragen werden.173 Eine kurze biografische Darstellung aller am Moskauer Hof weilenden diplomatischen Vertreter wird im Folgenden geleistet. Die übrigen in diesem Buch vorkommenden 31 diplomatischen Akteure, tätig an den verschiedenen übrigen europäischen Höfen, sollen an dieser Stelle bewusst nicht besprochen 166 Elise Jagenburg: Die Diplomatie Brandenburgs zur Zeit des Großen Kurfürsten. Dissertation, Würzburg 1936. 167 Vgl. Dietmar Grypa: Der diplomatische Dienst des Königreichs Preußen (1815–1866). Institutioneller Aufbau und soziale Zusammensetzung, Berlin 2008, S. 14. 168 Die Arbeit Baumgartners geht nur sehr rudimentär auf die Regierungszeit Karl Leopolds ein. Für die Außenpolitik relevante Institutionen oder das Gesandtschaftswesen werden nicht behandelt, siehe Gabriele Baumgartner: Die Entwicklung der obersten Landesverwaltung Mecklenburg-Schwerins vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Eine Studie zur Verwaltungsgeschichte. Dissertation, Rostock 1991, S. 61–63. Die Darstellung de Boors verzichtet auf die Einbeziehung von Gesandten, siehe A. Boor de: Verzeichnisse großfürstlicher Beamte in Holstein, in: ZSHG 27, 1897, S. 137–170. Die Darstellung Arpes enthält Informationen zu den holsteinischen Gesandten, entspricht aber anekdotischem statt wissenschaftlichem Charakter: Peter Friedrich Arpe (Hg.): Geschichte des Herzoglich Schleswig-Holstein Gottorfischen Hofes und dessen vornehmsten Staats-Bedienten, unter der Regierung Herzog Friedrichs IV. und dessen Sohnes Herzog Carl Friedrichs, mit geheimen Anecdoten zur Erläuterung der Schleswig-Holsteinischen Historie besonders als der Nordischen Begebenheiten überhaupt, Frankfurth, Leipzig 1774. 169 Vgl. Pries, Das Geheime Regierungs-Conseil in Holstein-Gottorf 1716–1773, S. 32–52. 170 François Marie Guérard: Liste des ambassadeurs, envoyés, ministres et autres agents politiques de la Cour de France, Paris 1833. 171 Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 12 f. Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen, S. 9. 172 Claire Béchu: Les ambassadeurs français en Russie au XVIIIe siècle brève présentation, in: L’influence française en Russie au XVIIIe siècle, hg. von Jean-Pierre Poussou, Anne Mézin und Yves Perret-Gentil 2004, S. 65–71. 173 Die Notwendigkeit der Untersuchung von historischen Zusammenhängen und des Institutionengefüges des gesandtschaftlichen Dienstes als unerlässliche Grundlage für die Kulturgeschichte betonen: Schedewie, Die Bühne Europas, S. 31. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 11–13.
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werden, sondern sie werden bei Erstnennung eingeführt. Am Ende der Arbeit wurde ein Verzeichnis aller diplomatischer Vertreter angefügt, in dem die in den Fußnoten ergänzten biografischen Informationen bei Bedarf zudem benutzerfreundlich nachgeschlagen werden können. Keineswegs ist mit diesem Vorgehen eine Wertigkeit der Akteure verbunden. Die biografischen Hintergründe des mecklenburgischen Gesandten, Johann Christoph Dietrich Ostermanns (1683–1757),174 sind besonders aufschlussreich. Er war niemand anderer als der Bruder des Leiters der russischen Außenpolitik, Heinrich Johann Friedrich Ostermanns (1687–1747).175 Die Anfänge der Karrieren der Brüder Ostermann sind enger verflochten, als dies bisher in der Forschung dargestellt wurde. J.C.D. Ostermann hatte sich bereits 1703 erstmals mit dem ebenfalls aus Bochum stammenden und verwandten Heinrich von Huyssen (1666–1739) nach Moskau begeben. J. C. D Ostermann soll seinen jüngeren Bruder Heinrich Johann Ostermann dem Zaren empfohlen haben, woraufhin jener ihm nach Russland gefolgt sei. J.C.D. Ostermann wurde zudem zum Hauslehrer der Nichten des Zaren Peter I., Katharina, Anna und Praskov’ja Ivanovna, ernannt.176 Auch auf der zweiten großen Reise Peters I. durch Europa und der zu deren Beginn initiierten Hochzeit zwischen Herzog Karl Leopold und Katharina Ivanovna treten die Brüder in Erscheinung. Der 1730 für die Diplomaten so bedeutende Leiter der äußeren Angelegenheiten in Russland, Heinrich Johann Friedrich Ostermann, gelangte in russische Dienste, wohingegen sein Bruder – bedingt durch die Heirat Karl Leopolds mit Katharina Ivanovna und die Intensivierung der diplomatischen Beziehungen – bereits 1717 zum Gesandten des mecklenburgischen Her174 Johann Christoph Dietrich Ostermann wurde am 1. Januar 1683 in Bochum geboren. Er wurde am 30. August 1721 zum russischen Baron erhoben, siehe N.N.: Ostermann, in: Genealogisches Handbuch des Adels, hg. von Hans Friedrich von Ehrenrook, Limburg an der Lahn 1965 (Genealogisches Handbuch der Gräflichen Häuser. Gräfliche Häuser B Band III.), hier S. 203. Er war vom 12. Januar (erste Relation) bis April 1717 (letzte Relation) mecklenburgischer Gesandter in Amsterdam, um über die Reise Peters I. zu berichten, siehe J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Amsterdam, 12.01.1717, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1152, fol. 3r–5v. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Amsterdam, 10.04.1717, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1152, fol. 13r/14r. Auf Initiative Zar Peters wurde er mecklenburgischer Gesandter in Russland, da es zu einer Intensivierung der diplomatischen Beziehungen aufgrund der Heirat zwischen Katharina Ivanovna und Karl Leopold kam, siehe Zar Peter I. an Herzog Leopold, 21.08.1717, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1152, fol. 30r–32r. Er reiste am 15. November 1717 über Danzig und Königsberg nach Moskau und kam dort voraussichtlich am 19. Januar an, siehe Auflistung, ohne Datum, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1152, fol. 2r. Abrechnung, 09.01.1719, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1152, fol. 50v/51r. Er war bis zum Sturz seines Bruders im Jahr 1741 mecklenburgischer Gesandter in Russland. Er starb unverheiratet um 1757 bei Werden an der Ruhr, siehe: N.N., Ostermann, S. 202 f. 175 Zum biografischen Hintergrund unter anderem: Johannes Volker Wagner: Ein Deutscher am Zarenhof. Heinrich Graf Ostermann und seine Zeit, in: Ein Deutscher am Zarenhof. Heinrich Graf Ostermann und seine Zeit 1687–1747, hg. von Johannes Volker Wagner, Bernd Bonwetsch und Wolfram Eggeling, Essen 2001, S. 19–47. 176 Vgl. Svetlana Korzun: Heinrich von Huyssen (1666–1739). Prinzenerzieher, Diplomat und Publizist in den Diensten Zar Peters I., des Großen, Wiesbaden 2013, S. 21–31. Wagner geht von einem Aufenthalt J.C.D. Ostermanns am russischen Hof ab 1702 aus, siehe Wagner, Ein Deutscher am Zarenhof, S. 31.
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zogs in Russland ernannt wurde. Beiden Brüdern wurde am 30. August 1721 der Titel eines russischen Barons verliehen.177 Bis zum Sturz Heinrich Johann Friedrich Ostermanns Ende 1741 war deren Schicksal am russischen Hof eng verwoben. Der mecklenburgische Gesandte verfügte zudem über gute Russischkenntnisse.178 Auch der holsteinische Gesandte, Nils Bonde,179 sprach fließend russisch.180 Er hatte lange Zeit als Kriegsgefangener im Russländischen Reich leben müssen.181 Es ist anzunehmen, dass seine Kenntnisse der Sprache und des Landes darauf zurückgehen. Zudem war er aufgrund des zeitweiligen Aufenthalts des holsteinischen Hofs in St. Petersburg mit diesem Hof vertraut. In Moskau war am 17. Dezember 1729182 ein zweiter holsteinischer Gesandter, Cordt Philipp von Tessin († 1732),183 mit dem Anliegen angekommen, seinen Kollegen Bonde ab177 Vgl. N.N., Ostermann, S. 202 f. Dort befinden sich auch weitere Hinweise zu den Vorfahren der Brüder Ostermann und obige durch Archivalien belegte Fußnote. 178 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, St. Petersburg, 26.11.1741 a.St. [07.12.1741], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1157, 365r/v. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Berlin, 11.02.1742, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1157, fol. 386r/387r. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Berlin, 17.03.1742, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1157, fol. 388r/v. 179 Graf Nils Bonde war holstein-gottorpischer Oberkammerherr und Gesandter und später ein schwedischer Konferenzrat und Landeshauptmann von Nyköping, siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 529. Er wurde als Untertan der schwedischen Krone geboren, trat aber in holsteinische Dienste. Er war nicht nur diplomatisch am russischen Hof tätig, sondern stieg zum Oberkammerherr auf. Zudem war er Träger des Alexander-Nevskij-Ordens. Nach Beendigung seiner Tätigkeiten beantragte er seine Entlassung und kehrte nach Schweden zurück, siehe Demissions-Acte für den Grafen Bonde, Kiel, 13.01.1738, LASH, Abt. 8.2, Nr. 1798, ohne Foliierung. Die Angaben zu seiner Ankunft bei Hausmann sind falsch. Bonde erhielt sein Rekreditiv für die Beendigung seiner Gesandtentätigkeit in Russland am 6. Juni 1736. Er trat danach wieder in schwedische Dienste und kehrte zur Beglückwünschung Elisabeths zur Thronfolge nach Russland zurück. Er verweilte dort vom 2. bis zum 18. Januar 1743 in Russland, siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 194 und S. 379. Seinen Aufstieg in holsteinischen Diensten war durch Henning Friedrich Graf von Bassewitz begünstigt, mit dem er über seine Ehefrau verwandt war, siehe Hubertus Neuschäffer: Henning Friedrich Graf von Bassewitz, Schwerin 1999, S. 132. Arpe, Geschichte des Herzoglich Schleswig-Holstein Gottorfischen Hofes und dessen vornehmsten Staats-Bedienten, unter der Regierung Herzog Friedrichs IV. und dessen Sohnes Herzog Carl Friedrichs, mit geheimen Anecdoten zur Erläuterung der Schleswig-Holsteinischen Historie besonders als der Nordischen Begebenheiten überhaupt, S. 102. Weitere relevante biografische Hintergründe werden in diesem Buch erarbeitet. 180 Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 181 Vgl. Arpe, Geschichte des Herzoglich Schleswig-Holstein Gottorfischen Hofes und dessen vornehmsten Staats-Bedienten, unter der Regierung Herzog Friedrichs IV. und dessen Sohnes Herzog Carl Friedrichs, mit geheimen Anecdoten zur Erläuterung der Schleswig-Holsteinischen Historie besonders als der Nordischen Begebenheiten überhaupt, S. 102. 182 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 08.12./19.12.1729, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 183 Generalmajor Cordt Philipp von Tessin gehörte der mecklenburgischen Ritterschaft an. Er war Oberst und Generaladjutant und wurde zum Generalmajor befördert. Er war außerordentlicher holsteinischer Gesandter am Berliner Hof vom 31. Oktober 1720 (Beglaubigungsschreiben) bis zum 10. September 1729, siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem West-
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zulösen. Da der erfahrene Diplomat Bonde durch die unerwarteten Ereignisse des Thronwechsels 1730 unverzichtbar wurde, sollte es letztendlich nie dazu kommen. Dies zeigt, wie bedeutend seine Sprach- und Landeskenntnisse und die Vertrautheit zu den russischen Akteuren waren. Auch der sächsisch-polnische Gesandte, Jean Le Fort (1685–1739),184 weilte mit seiner Ehefrau bereits seit Ende 1721 zuerst als Legationssekretär, seit 1725 als außerordentlicher Gesandter am russischen Hof. Madame Le Fort schien in Moskau so geschickt zu agieren, dass es erfolglose Versuche gab, sie in das Netzwerk der Geheimkorrespondenzen Prinz Eugens einzubeziehen.185 Der preußische Gesandte, Axel von Mardefeld (1691–1748),186 hielt sich seit 1723 mit fälischen Frieden (1648), S. 194 und S. 680. Aus einem herzöglichen Schreiben geht hervor, dass Tessin seine Tätigkeit als Gesandter dort erst 1725 aufnehmen sollte, siehe Herzog Karl Friedrich an die hochfürstliche Rentenkammer, St. Petersburg, 11./22.11.1725, LASH, Abt. 8.1, Nr. 215, ohne Foliierung. Tessin genoss einen guten Ruf in Berlin. Neuschäffer, Henning Friedrich Graf von Bassewitz, S. 116. Er kam nach eigenen Angaben nach 15 Tagen Reisezeit am 19. Dezember 1729 in Moskau an, wodurch die Angaben bei Hausmann korrigiert werden können. Seine letzte Audienz erhielt er am 26. August 1730, siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 194. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 08.12./19.12.1729, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Auf seiner Rückreise verunglückte Tessin mit dem Schiff bei Hogland. Eine Quittung, ausgestellt am 23. Februar 1732, belegt, dass Tessin dort aus dem Wasser geborgen und begraben wurde, siehe Quittung, St. Petersburg, 23.02.1732, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2552, ohne Foliierung. Zusammen mit seiner Leiche wurden seine Chiffrenschlüssel geborgen und an den holsteinischen Hof ausgeliefert. Diese bei ihm gefundenen Chiffrenschlüssel, die bis heute überliefert sind, ermöglichten es dem Autor, die chiffrierten Stellen der Briefe Tessins lesbar zu machen, siehe Chiffrenschlüssel, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2552, ohne Foliierung. 184 Baron Jean (Johann) Le Fort (1685–1739) entstammte einem ursprünglich aus der Normandie kommenden Geschlecht. Er wurde in Genf geboren. Er war seit dem 5. Oktober 1721 sächsischer Legationssekretär in Russland. Am 13. Mai 1725 wurde er zum dortigen außerordentlichen Gesandten befördert und behielt diese Stellung bis zu seiner letzten Audienz am 2. Juni 1734. Ab 1732 war er Geheimer Kriegsrat, und zwei Jahre später wurde er zum Geheimen Rat ernannt. Mit dem Ausscheiden aus dem aktiven diplomatischen Dienst lebte er unter Zusicherung einer Pension für sich und seine Frau in Dresden. Das Ehepaar Le Fort war mit Moritz von Sachsen befreundet. Seine Ehefrau war während seiner diplomatischen Tätigkeit mit ihm in Russland und ebenfalls diplomatisch tätig. Matzkes Angabe, dass Le Fort zuerst in russischen Diensten stand und sogar russischer Oberzeremonienmeister war, ist auf eine Verwechslung mit Peter Le Fort zurückzuführen, siehe Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 283, 287 und 335. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 340. 185 Vgl. Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen, S. 28 f. 186 Axel Freiherr von Mardefeld (1691–1748) trat als Kammerjunker in die Dienste Preußens. Seit Ende 1723 war er Adlatus seines am russischen Hof als Gesandter weilenden Onkels, Gustav von Mardefelds. Sein Beglaubigungsschreiben vom 25. Juli 1724 übergab er im November 1724. Sein Onkel sandte ihn am 20. April 1725 an den preußischen Hof zurück. Genau ein Jahr später kehrte er an den russischen Hof mit einem Beglaubigungsschreiben zurück, das er am 20. April 1726 überreichte. Er war seit 20. März 1726 subsistierender Minister. Zum außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister wurde er am 18. Mai 1728 ernannt und blieb dies bis zum 1. Oktober 1746 (letzte Relation). Am 17. März 1742 wurde er Wirklicher Geheimer Staatsrat und übernahm die Auswärtigen
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Unterbrechungen am russischen Hof auf. Er wurde von seinem Onkel, Gustav von Mardefeld, auf seine diplomatische Mission vorbereitet und übernahm dessen Amtsgeschäfte. Der kaiserliche Gesandte, Franz Karl Wratislaw von Mitrowitz († 1750),187 wurde 1728 vom polnischen an den russischen Hof berufen. Er wurde in seiner Arbeit durch den sich seit 1721 dort weilenden Legationssekretär und 1727 zum Residenten erhobenen Nikolaus Sebastian Hochholzer188 unterstützt. Der kaiserlichen Gesandtschaft gehörte zudem seit 1726 Angelegenheiten. Mardefeld starb am 8. Dezember 1748 in Berlin. Siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 304. Sommerfeld, Axel von Mardefeld als Gesandter Friedrich Wilhelms I. am russischen Hofe (1728–1740) N.N.: Mardefeld, die Freiherren von, in: Neues Preussisches Adels-Lexicon. Bd. 3, hg. von Leopold von Zedlitz-Neukirch, Leipzig 1837, S. 355 f. Ernst Heinrich Kneschke (Hg.): Neues allgemeines Deutsches Adelslexicon, Leipzig 1865, S. 130 f. Rheinhold Koser: Mardefeld, Gustav von, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 20, hg. von Historische Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften, München, Leipzig 1884, S. 308–311. Krusche, Die Entstehung und Entwicklung der ständigen Vertretung Brandenburg-Preußens am Zarenhofe bis zum Eintritt Rußlands in die Reihe der europäischen Großmächte, S. 72. 187 Graf Franz Karl Wratislaw von Mitrowitz (zwischen 1670 und1680–1750) war nach dem plötzlichen Tod seines Vorgängers Rabutin seit 26. Juni 1728 kaiserlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister am russischen Hof. Seine Ankunft erst in das Jahr 1729 zu datieren, ist falsch. Seine letzte Audienz am russischen Hof erhielt er am 13. Januar 1733. Zarin Anna verlieh ihm den Andreasorden. Ob Anna ihm diesen Orden am Ordensband des verstorbenen Zaren Peter II. verlieh, kann nicht geklärt werden. Als Abschiedsgeschenk erhielt er für seine Verdienste ein mit Juwelen besetztes Porträt der Zarin. Die Grafen Wratislaw von Mitrowitz gehörten zu einem der ältesten und ehrwürdigsten Geschlechter Böhmens. Franz Karl Wratislaw von Mitrowitz war Reichsgraf des Heiligen Römischen Reiches, Obrister Erbkuchelmeister des Königreichs Böhmen, Träger des Alexander-Nevskij- und des Andreas- und des polnischen Weißen-Adler-Ordens. In kaiserlichen Diensten stand er seit 1699 und war von 1709 bis 1715 kurböhmischer Appellationsrat und kurböhmischer Gesandter auf dem Reichstag zu Regensburg. 1722 wurde er zum Wirklichen Geheimen Rat ernannt. Von Februar 1724 bis März 1728 war er kaiserlicher Gesandter am königlich polnischen und kursächsischen Hof und Hofmeister Prinzessin Maria Josepha, einer geborenen Erzherzogin. Seine Aufgabe war, über die in ihrem Hochzeitsvertrag gewährten Rechte Maria Josephas zu wachen und sie als Interessenswahrerin der kaiserlichen Politik zu unterstützen. Am 3. August 1727 erhielt er von König August II. den polnischen Weißen-Adlerorden. Nach seiner Gesandtentätigkeit in Russland war er abermals vom August 1733 bis Oktober 1740 kaiserlicher Gesandter am kursächsischen und polnischen Hof und wurde auch erneut Obersthofmeister der mittlerweile zur Königin gewordenen Maria Josepha. Im Dienst der österreichischen Monarchie war er zudem von Januar 1741 bis Januar 1742 als Gesandter in Polen tätig. Am 12. Mai 1743 wurde er zum Wirklichen Geheimen Rat ernannt. 1747 zog er sich aufgrund seines Alters in den Ruhestand zurück und starb am 23. April 1750 auf seinen böhmischen Gütern. Er vermählte sich 1727 mit Maria Elisabetha Kinsky, Tochter des Obersten Hofkanzlers in Böhmen, Graf Wenzel Norbert Kinsky. Steppan zählt ihn zu den wichtigsten Diplomaten der Ära Kaiser Karls VI. Siehe Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 18 (FN14). Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 275. Aus der Zeit der Gräfin Elisabeth Wratislaw, geborenen Gräfin Kinsky, Wien, 1748, Österreichisches Staatsarchiv; Allgemeines Verwaltungsarchiv, Familienarchiv Kinsky, 37.3, Zedler, Johann Heinrich: Großes vollständiges Universal-Lexikon, Halle/Leipzig 1732–1754, Bd. 59, Sp. 626 und 633/634. 188 Nikolaus Sebastian Hochholzer wurde nach eigenen Angaben in Stockerau geboren. Im Jahre 1709
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der Sekretär Lorenz von Caramé189 an. Wratislaw kannte Caramé bereits aus Warschau; das Verhältnis zwischen Caramé und Hochholzer galt hingegen als angespannt.190 Über den niederrangigen französischen Chargé d’Affaires, Jean Magnan,191 ist nur zu ermitteln, dass er als Sekretär des französischen Gesandten Jacques de Campredon 1726 als diplomatischer Repräsentant ohne Rang zurückgelassen wurde. Mehr Informationen sind hingegen über den niederrangigen englischen Generalkonsul Thomas Ward († 1731)192 und seinen Sekretär Claudius Rondeau193 bekannt. Ward war seit 1728 englischer Generalkonsul in Russland. Er trat diese Stelle als Kaufmann ohne weitere diplomatische Vorkenntnis an, konnte jedoch länger Aufenthalte in Russland vorweisen. Rondeau war seit April 1728 englischer Sekretär zur Erledigung nicht kommerzieller Belange. Für die Berichterstattung über
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begleitete er den Grafen Wilczek nach Moskau. Ab 1721 diente er dort als Legationssekretär und wurde 1727 zum Residenten erhoben. Er wurde in diesem Zusammenhang 1727 in den Adelsstand erhoben und durfte ab 1734 als Angehöriger des Reichsritterstandes den Zusatz Edler von Hohenholz führen. Diese Erhebung begründete der Kaiser mit den Verdiensten Hochholzers und dessen zunehmender Anwesenheit bei gesellschaftlichen Veranstaltungen am Petersburger Hof. Hochholzer starb in Russland am 8. Januar 1748. Siehe quellengestützt aufgearbeitet bei: Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 81 (FN141). Dass kaiserliche Legationssekretäre lange zumeist auf einem Posten blieben, ist zeittypisch, siehe Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 211–214. Die Nobilitierung in den einfachen Adel (Edler von) kann als Anerkennung der Leistung Hochholzers angesehen werden. Kubiska-Scharl, Pölzl, Die Karrieren des Wiener Hofpersonals 1711–1765, S. 110–112. Lorenz von Caramé war bereits seit 1726 Sekretär des am russischen Hof weilenden kaiserlichen Gesandten Rabutin. Caramé wurde in dieser Funktion von Wratislaw und dessen Nachfolger Heinrich Karl Graf Ostein übernommen. Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 395 (FN 957). Vgl. ebd., S. 397 f. Er wurde als ehemaliger Sekretär des französischen Gesandten Jacques de Campredon 1726 als diplomatischer Repräsentant ohne Rang zurückgelassen, siehe ebd., S. 337. Thomas Ward war von 1728 bis 1730 englischer Generalkonsul in Russland. Seine Akkreditierung am russischen Hof zog sich über ein Jahr hin. Vom 16. Mai 1730 (Beglaubigungsschreiben) bis zu seinem Tod am 4. Februar 1731 war er dortiger Resident. Er wurde 1693 geadelt und als Kaufmann ohne weitere diplomatische Vorkenntnis, jedoch scheinbar aufgrund längerer Aufenthalte in Russland zum Generalkonsul ernannt. Er starb 1731 in Russland während seiner diplomatischen Tätigkeit. Er war mit Jane Goodwin, der späteren Jane Rondeau verheiratet. Weitere biografische Ausführungen siehe Karl-Heinz Ruffmann: Die diplomatische Vertretung Großbritanniens am Zarenhof im 18. Jahrhundert, in: JGO 2, 1954, S. 405–421, hier S. 407 und S. 416. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 162. Cross, By the Banks of the Neva, S. 53 f. Claudius Rondeau war englischer Sekretär am russischen Hof seit April 1728 zur Erledigung nicht kommerzieller Belange. Am 11. September 1731 wurde er zum Residenten erhoben und behielt diesen Posten bis zu seinem Tod am 16. Oktober 1739 in Russland. Er sprach fließend deutsch. Nach dem Tod Wards heiratete er 1731 in Moskau die verwitwete Jane Ward, geborene Vigor. Weitere biografische Ausführungen siehe Ruffmann, Die diplomatische Vertretung Großbritanniens am Zarenhof im 18. Jahrhundert, S. 416. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 162. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 257. Cross, By the Banks of the Neva, S. 54 f.
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den Thronwechsel 1730 ist er der bedeutendere Akteur von beiden, da er ausführlicher über politische Sachverhalte berichtete. Die Beschreibung der Akteure am russischen Hof zeigt, dass der diplomatische Rang, die Landeskenntnisse, das Beherrschen der russischen Sprache, die Anwesenheitsdauer und die Vertrautheit mit den Hofkreisen deutlich variierte. Diese Erkenntnisse sind keinesfalls nebensächlich, sondern beeinflussten die Berichterstattung, wie im Verlauf der Arbeit gezeigt werden wird.
1.5 Quellenlage Die Grundlage dieser Arbeit bilden die Ausfertigungen von Berichten und Weisungen, während die mitunter vorhandenen Konzepte nicht berücksichtigt werden. In Fällen, in denen es Erkenntnisgewinn bringt, Kopien in die Analyse einzubeziehen, wird darauf verwiesen. Beilagen werden bewusst in die Analyse einbezogen, da sie über die Informationsgewinnung und vermittlung wichtige Auskünfte liefern. Die Berichte aller betrachteten diplomatischen Vertreter in Moskau und die darauf erfolgten Weisungen der Herrscher sind als Original in den Archiven vorhanden. In Editionen fand allein das englische, französische, sächsisch-polnische und die preußische Gesandtschaftsschriftgut vom russischen Hof Berücksichtigung. Editorisch nicht erfasst sind die kaiserlichen, mecklenburgischen und holsteinischen Berichte und Weisungen aus und nach Moskau. Dies trifft ebenso auf alle Relationen und Weisungen der anderen zu untersuchenden europäischen Höfe mit dem Kaiserhof zu. Die umfassende Editionsreihe British Diplomatic Instructions (1689–1789), herausgegeben von J.F. Chance und L.G. Wickham Legg in den Jahren 1922 bis 1928, umfasst die englisch-kaiserliche Korrespondenz des Jahres 1730 nicht. Alle relevanten Korrespondenzen mit dem Kaiserhof werden demnach auf Grundlage von Archivalien analysiert. Das Gesandtschaftsschriftgut der zu untersuchenden Höfe mit dem Kaiserhof weist in der Überlieferung folgende Besonderheiten auf: Die Relationen des preußischen Gesandten in Wien, Christian von Brandt,194 können nicht in die Analyse einbezogen werden, da diese Archivalien eine Lücke zwischen Juni 1727 bis November 1730 aufweisen.195 194 Christian von Brandt war preußischer Staatsminister, Kämmerer und Diplomat. Seine erste Tätigkeit als Gesandter absolvierte er in Dänemark vom 21. Februar 1719 bis zum 2. November 1720 (Abberufungsschreiben). Er war vom 24. Februar 1721 (erste Relation) bis zum 23. September 1723 preußischer Gesandter in Schweden. Seit dem 3. Juni 1724 war er bis zu seiner Abreise am 12. Dezember 1732 außerordentlicher Gesandter am Kaiserhof und dort erneut als Gesandter und bevollmächtigter Minister vom 3. März 1736 bis 1738 tätig. Als bevollmächtigter Minister kam er am 22. Januar 1733 am polnischen Hof an und verließ diesen am 29. November 1733. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 291–293, S. 302 und S. 306. 195 GStA PK, I. HA Rep. 96 Geheimes Kabinett 2 F Christian von Brand, seine Depeschen aus Wien und Kabinettsbefehle an ihn, 1726–1738. Auch der Bestand I. HA GR, Rep. 11, Nr. 339 beinhaltet keine für diese Arbeit relevanten Schriftstücke.
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Im Haus-, Hof-, und Staatsarchiv Wien lassen sich nach Sichtung der vorhandenen Bestände für den relevanten Zeitraum im Jahre 1730 ebenso keine direkten Korrespondenzen zwischen dem Kaiserhof und dem mecklenburgischen Herzog auffinden, obwohl diplomatische Korrespondenzen für frühere Jahre in der Literatur ausdrücklich benannt werden.196 Möglicherweise verliefen die bereits dargelegten juristischen Streitigkeiten allein über den kaiserlichen Reichshofrat.197 Während es sowohl vom kursächsischen und polnischen Hof Relationen an den Kaiser und Weisungen des Kaisers gab, weilte kein polnischer Gesandter am Kaiserhof. Der polnische Gesandte wurde durch den sächsischen vertreten. Weder das in Personalunion regierte Königreich Polen und das Kurfürstentum Sachsen noch das Königreich England und das Kurfürstentum Hannover hatten zwei parallele Gesandtschaftsnetzwerke. Daher war das polnische Gesandtschaftswesen meist dem effizienteren sächsischen Gesandtschaftswesen untergeordnet, dasjenige Hannovers dem englischen Gesandtschaftswesen, auch wenn weder das polnische noch das hannoverische Gesandtschaftswesen völlig substituiert wurden.198 Es gab daher auch keine gesandtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Kaiser und Hannover.199 Wie lassen sich die äußeren Merkmale der verwendeten Berichte und Weisungen beschreiben? Die Lesbarkeit der mitunter in Kurrentschrift verfassten Archivalien ist zum Teil erschwert, da diese partiell starke Papierbeschädigungen aufweisen, die Tinte verblasst ist oder korrigierte Textpassagen einfach überschrieben wurden. Zudem wurden über chiffrierte Textstellen die dechiffrierten Textpassagen geschrieben.200 In Einzelfällen musste der Autor dieser Arbeit chiffrierte Passagen zeitaufwendig mit einem Chiffrenschlüssel lesbar machen. Der Aufgabe der Edition europäischer Gesandtschaftsrelationen mit dem russischen Hof nahmen sich die Quelleneditionen Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskogo Obščestva (im Folgenden SIRIO) von 1867 bis 1916 an.201 Dass in der Reihe SIRIO innerhalb von 50 Jahren lediglich ein Bruchteil der vorhandenen Gesandtschaftskorrespondenzen, die zudem mit einer Übersetzung ins Russische versehen wurden, ediert werden konnte, lässt die immense Kraftanstrengung eines Editionsprojekts dieser Größenordnung erahnen. Diese in der Forschung vielfältig verwendeten Editionen sollten bis zur Durchführung des Online-Editionsprojekts Relationen vom russischen Hof. Berichte europäischer Diplomaten, 1690–1730 im Jahre
196 Vgl. Wick, Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 164–166. 197 Vgl. ebd., S. 158. 198 Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 120–125. Horn, The British Diplomatic Service, S. 9–11. 199 Vgl. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 174. 200 Vgl. hierzu auch: Franziska Schedewie, Relationen vom russischen Hof, http://quellen-perspectivia. net/de/russische_relationen/introduction, 17.09.2020. 201 Zur Geschichte der SIRIO-Editionen siehe: Franziska Schedewie, Relationen vom russischen Hof, http://quellen-perspectivia.net/de/russische_relationen/introduction, 17.09.2020.
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2016 die umfangreichsten ihrer Art bleiben.202 Die Edition SIRIO enthält für den relevanten Betrachtungszeitraum nur die Korrespondenzen der sächsisch-polnischen203, preußischen204, englischen205 und französischen206 diplomatischen Akteure am Moskauer Hof. Anhand dieser Aufzählung zeigt sich, dass die Relationen des Kaiserhofs von 1730 keine Berücksichtigung bei SIRIO fanden, was aufgrund der rang- und machtpolitischen Stellung dieses Hofs in Europa und als Bündnispartner Russlands verwundert.207 Weitere Korrespondenzen vom und an den russischen Hof wurden hingegen ediert, werden aber in der Analyse dieser Arbeit nicht berücksichtigt. Dazu zählen die Berichte des dänischen und spanischen Gesandten. Aber auch diese Editionen umfassen weder alle Berichte noch entsprechen sie den heutigen Anforderungen.208 Die Edition der spanischen Gesandtschaftskorrespondenzen über die Regierungszeit Zar Peters II. und Zarin Annas sind der Memoirenliteratur zuzuordnen, da de Liria diese Darstellung nur auf Grundlage seiner Berichte nach Beendigung seiner Tätigkeit am russischen Hof verfasste.209 Die schwedischen Gesandtschaftsberichte werden nur in Auszügen in einem Artikel verwendet, dessen Sichtweisen und Interpretationen als veraltet gelten können.210 Es ist davon auszugehen, dass die Anfang des 20. Jahrhunderts edierte Korrespondenz des dänischen Gesandten211 keinesfalls umfassend ist und heutigen wis202 Vgl. Franziska Schedewie, Relationen vom russischen Hof, http://quellen-perspectivia.net/de/russische_relationen/introduction, 17.09.2020. Aufgrund des immensen Umfangs des Schriftgutes musste der Bearbeitungszeitraum verringert werden, sodass die Edition das Jahr 1730 nicht beinhaltet, siehe Ebd.: „Diese Edition enthält 660 Transkripte von Diplomatenberichten vom russischen Hof in das Heilige Römische Reich. Davon 34 für die Jahre 1690–95 (an den kaiserlichen Hof in Wien und nach Berlin) und 624 für die Jahre 1726 und 1727, und teilweise 1728, an nunmehr sechs Höfe (Wien, Berlin, Schleswig, Dresden, Schwerin, Braunschweig-Wolfenbüttel).“ 203 Vgl. [Berichte des kurfürstlich-sächsischen und königlich-polnischen Gesandten Le Fort 1728– 1734], in: Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskogo Obščestva. Bd. 5, hg. von A.A. Polovcov, Sankt-Peterburg 1870, S. 295–479. 204 Vgl. [Berichte der preußischen Gesandten Gustav und Axel von Mardefeld 1721–1730], in: Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskogo Obščestva. Bd. 15, hg. von A.A. Polovcov, Sankt-Peterburg 1875, S. 175–414. 205 Vgl. [Berichte des englischen Konsuls Ward und des Sekretärs und späteren Residenten Rondeau 1728–1733], in: Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskogo Obščestva. Bd. 66, hg. von A.A. Polovcov, Sankt-Peterburg 1889 . 206 Vgl. [Berichte des französischen Chargé d’Affaires Magnan 1727–1730], in: Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskogo Obščestva. Bd. 75, hg. von G.F. Štendman, Sankt-Peterburg 1891. 207 Vgl. Igor‘ Vladimirovič Kurukin: Ėpocha „dvorskich bur‘“. Očerki političeskoj istorii poslepetrovskoj Rossii 1725–1762 gg, Rjazan‘ 2003, S. 40. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 25. 208 Vgl. ebd., S. 26. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 40. 209 Vgl. N.N.: Zapiski djuka Lirijskogo, in: Russkij Archiv 47, 1909, S. 337–442, hier S. 337–442. Walther Recke: Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, in: Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte 2, 1912, S. 11–64 und S. 162–203, hier S. 166/167 f. 210 Miljukov“, verchovniki i šljachetstvo, S. 1–51. 211 Die edierten Berichte Westphalens umfassen den Zeitraum vom 26. Januar 1730 bis zum 23. März
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senschaftlichen Ansprüchen nicht mehr genügt. Dies ergibt sich aus dem Vergleich mit den in den Archiven erschlossenen Korrespondenzen. Um Fehlschlüsse zu vermeiden, werden diese Quellenpublikationen und Darstellungen zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht herangezogen. Die Beobachtungen dieser Diplomaten gehen zum Teil aus den archivalisch erschlossenen Quellen oder durch Beilagen der zu betrachtenden Gesandtschaftsberichte hervor. Die Erschließung und Analyse dieser Quellenpublikationen wäre zwar möglicherweise erkenntnisreich, bleibt aufgrund des Umfangs der in diesem Buch zu untersuchenden Korrespondenzen weiterer Forschung überlassen. Der Vollständigkeit halber ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Gesandtschaftskorrespondenzen des braunschweig-blankenburgischen Gesandten und des Sekretärs der Niederlande in Moskau bislang weder ediert noch analysiert wurden.212 Vergleiche der SIRIO-Editionen mit den in den Archiven vorhandenen Quellenbeständen zeigen ebenso auf, dass auch diese Quelleneditionen nicht mehr heutigen wissenschaftlichen Standards genügen. Die Editionen wurden und werden in der Wissenschaft unkritisch für die Betrachtung des Thronwechsels herangezogen.213 Die Mängel, die im Folgenden ausführlich besprochen werden, wurden durch die jeweiligen Autoren oftmals nicht bemerkt. In der für die österreichisch-russischen Beziehungen von 1720 bis 1730 bedeutenden Arbeit Christian Steppans aus dem Jahre 2015 werden die Editionen ausführlich problematisiert und die Notwendigkeit des Rückgriffs auf Archivalien betont,214 um dann im Falle der französischen und sächsisch-polnischen Gesandten doch unkritisch auf ebendiese Editionen zurückzugreifen.215 Über die SIRIO-Quelleneditionen lässt sich sagen, dass weder alle Relationen Berücksichtigung finden noch Auslassungen hinreichend ersichtlich sind.216 Da nicht alle Gesandten an
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1730, siehe Dmitrij Aleksandrovič Korsakov: Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny. Istoričeskij ėtjud. Band 2, Kazan 1880b, S. 65–88. Vgl. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 40. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 25 f. Dass die braunschweig-blankenburgischen und die mecklenburgischen Gesandtschaftsberichte nicht ediert oder analysiert sind, schien den Autoren nicht erwähnenswert. Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna. Cywja Wojdyslawska: Andrej Ivanovič Ostermann, sein Leben und Wirken. Dissertation, Wien 1930. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron. Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 116–118. Es gilt zudem anzumerken, dass die englischen, französischen und preußischen Relationen ausführlich kritisch besprochen werden, die später zitierten edierten sächsisch-polnischen Berichte jedoch keinerlei kritische Einordnung finden. Vgl. ebd., S. 137–465. Bushkovitch weist darauf hin, dass edierte Gesandtschaftsberichte auch für die Beurteilung der Zeit Peters I. aufgrund von Kürzungen zu Fehlschlüssen verleiten, siehe: Paul Bushkovitch: Aristocratic Faction and the Opposition to Peter The Great: The 1690‘s, in: Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte, 1995, S. 80–120, hier S. 115. Vgl. Franziska Schedewie, Relationen vom russischen Hof, http://quellen-perspectivia.net/de/russische_relationen/introduction, 17.09.2020. Für eine sehr unaussagekräftige Kritik siehe Ragsdale, Introduction, S. 3. Bei den preußischen Relationen ist aufgrund einer von den Archivalien übernommenen Nummerierung erkennbar, dass Briefe ausgelassen wurden. Nicht erkennbar ist hingegen, ob es sich um eine vollständige Relation, ein ergänzendes Postskriptum oder eine Weisung handelt. In der Edition der englischen Gesandtschaftskorrespondenz sind Auslassungen gekennzeichnet. Die ausgelassenen Briefe sind hingegen nicht erkenntlich. Dies trifft auch auf die französischen Relationen zu.
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beiden Posttagen in der Woche217 einen Bericht absandten oder mehrere Briefe versandten, ist ein numerischer Vergleich der Gesandtschaftsberichte wenig aussagekräftig. Zur Illustration der Qualität der Editionen wurde dennoch ein numerischer Abgleich der in den Editionen erhaltenen Berichte mit den in den Archiven überlieferten angestellt:218 Von den in den Archiven überlieferten 14 englischen Berichten, sind neun ediert. Die 16 französischen Berichte sind, wenn auch gekürzt und zum Teil ohne Beilagen, alle ediert. Von den 23 preußischen Relationen deckt die Edition nur sieben ab. Von den 42 sächsisch-polnischen Relationen finden sich nur 22 in der Edition.219 Hinzu kommt, dass auch Kürzungen innerhalb einzelner Berichte meist jeglicher Kennzeichnungen entbehren. Nicht nur Kürzungen formaler Einleitungs- und Schlussformeln, sondern auch ganze Sachverhalte wurden ohne erkennbares Muster ausgespart. Zum Teil wurden ganze Absätze und zusammengehörige Inhalte und einzelne Wörter innerhalb eines Satzes ausgelassen,220 vereinzelt wurde dadurch der Sinn der Aussagen verändert. Einige Berichte wurden regestenartig zusammengefasst.221 Ebenso wurden in Einzelfällen Hinzufügungen, die sich in den Briefen nicht finden und sinnentstellend sind, vorgenommen.222 Dass Kürzungen aufgrund von politischen Rücksichtnahmen erfolgten, ist sehr wahrscheinlich.223 In zumindest einem Fall kann eine Kürzung aus Rücksicht auf Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts aufgezeigt werden: Eine Auflistung von Charakterisierungen russischer Adliger sparte diejenige Pavel Ivanovič Jagužinskijs aus.224 Besonderheiten der Übermittlungs217 Die diplomatischen Vertreter konnten regulär montags und donnerstags Post absenden. Dies ergab ein Vergleich aller Berichte. 218 Diesem Abgleich liegt der Zeitraum vom 19. Januar bis 23. März. 1730 zugrunde. 219 Für den Zeitraum vom 19. Januar bis 23. März. 1730 sind 31 Briefe des kaiserlichen Gesandten, drei Briefe des Residenten und zwei des Legationssekretärs an den Wiener Hof archiviert. Es sind neun Berichte des mecklenburgischen Gesandten an seinen Herzog erhalten. Der holsteinische Gesandte Bonde verfasste 14 Berichte, sein Kollege Tessin hingegen 26 Berichte. 220 Dies trifft auf alle hier verwendeten Quelleneditionen in gleichem Maße zu. Die Kürzungen sind quantitativ aber unterschiedlich zu bemessen. 221 Beispielsweise A.A. Polovcov (Hg.): SIRIO, Bd. 15, S. 402. 222 Vgl. G.F. Štendman (Hg.): SIRIO, Bd. 75, S. 513. Hier wurden die Mitglieder des neu errichteten Senats genannt. Es gibt hierbei jedoch zwei abweichende Überlieferungen: eine Auflistung als Beilage, die nicht ediert wurde, und eine Relation, die abweichende Namen erhält. In der Edition wurde die Namensliste in die Relation übernommen. Somit wurden zwei Dokumente zu einer fiktiven Edition zusammengefügt. Zum Vergleich siehe Magnan an Chauvelin, Moskau, 16.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, 109r–114r. Magnan an Chauvelin (Beilage), Moskau, 16.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 108r. 223 Vgl. Franziska Schedewie, Relationen vom russischen Hof, http://quellen-perspectivia.net/de/russische_relationen/introduction, 17.09.2020. 224 Vgl. A.A. Polovcov (Hg.): SIRIO, Bd. 66, S. 156–161. Diese lautete wie folgt: „General Jagoushinsky is the son of a Lutheran organist belonging to the Lutheran church at Moscou, who was all his fortune to his pretty face formerly, for bying a handsome youth, he was taken by the Great cham. Gollowin, who was notorious for unnatural amours, to be his Page, and in two years time taken from him by the Late Czar Peter the Ist for the same purpose under the title of Page of the Chamber where this merit joyn’d with an active, lively, gay spirit soon rais’d him and prevaild with the Czar to declare him at once
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formen wie beispielsweise die Überbringung von Gesandtschaftsberichten durch Kuriere und Stafetten, die einen Rückschluss auf deren Wichtigkeit vermuten lassen, fehlen zudem in allen eingesehenen Editionen. Auch die auf den Archivalien zu findenden Eingangsvermerke, die die Postlaufzeiten erkennen lassen, wurden nicht wiedergegeben. Ebenso fehlt die Kenntlichmachungen von Chiffrierungen.225 Generell wurden besonders brisante Textstellen am Ort der Absendung chiffriert und am Ankunftsort dechiffriert, um einen Schutz vor Spionage zu gewähren.226 Die Erforschung von Chiffrierungen bildet in der Forschung der Frühen Neuzeit ein Forschungsdesiderat.227 Aussagen über die Funktion diplomatischer Netzwerke und über die Arten der Informationsübermittlung können – angesichts der Defizite von SIRIO – demnach nur auf Grundlage von Archivalien fundiert getroffen werden. Die Weisungen der Herrscher finden in manchen Editionen Berücksichtigung; 228 in anderen wurden sie ohne Kennzeichnung ausgelassen.229 Die Beilagen der Relationen, wie beispielsweise Briefe anderer Gesandten, die für das Verstehen diplomatischer Kommunikationsweisen und Informationsbeschaffung essenziell sind, fanden ebenso meist keine Berücksichtigung. Die Edition der Berichte englischer Vertreter am russischen Hof weist die beschriebenen Mängel in geringerer Form auf, auch wenn sich darin nicht gekennzeichnete Auslassungen von Beilagen finden.230 Hinzu kommt, dass die Betrachtungen des preußischen Gesandten
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Capt. of his Preobrashinsky Guards, and not long after adjutand General. This advancement with many marks of the Czars increasing affection gave Pr. Menshikof great uneasiness, and jealousy. The Czar, who had lost much of his former kindness for the Prince, perceiving it, affected to gave him every day fresh mortifications by repeated favours to Jagoushinsky and at last declard him his Favorite. His parts are not extraordinary, but Courtlife has given him politeness of behaviour, and his goodnature would make him belov’d, if a passionate temper which is natural to him, and very often inflamed by excessive drinking, did not destroy all command of his reason, and hurry him sometimes to abuse his best friends in the most insolent manner and divulge the most important Secrets; Coward without an equet and profus to the highest degree for he has squanderd ample fortunes of his wifes, with all the vast presents he had received from abroad and at home“, siehe Rondeau an Secretary of State Townshend (Beilage), Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], TNA, SP 91/11, fol. 46v/47r. Vgl. Polovcov, SIRIO, Bd. 15, S. 401–414. Polovcov, SIRIO, Bd. 66, S. 119–184. G. F. Štendman (Hg.): SIRIO, Bd. 75, 1891, S. 432–528. Vgl. Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 37 f. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 37–39. Die Erkenntnisse Rous’ für den sächsischen Bestand lassen sich auf untersuchten Relationen übertragen, siehe Anne-Simone Rous: Geheimschriften in sächsischen Akten der Neuzeit, in: NASG 82, 2011, 243–253. Mehrheitlich auf die sächsischen Gesandtschaftsberichte bezogen, siehe Knöfel, Dynastie und Prestige, S. 7 f. Rous, Geheimschriften in sächsischen Akten der Neuzeit, S. 243 f. Zum gleichen Befund für die englischen Gesandtschaftsberichte siehe Horn, The British Diplomatic Service, S. 236. Vgl. Štendman, SIRIO, Bd. 75, S. 432–528. Dies trifft auf die Höfe Preußen, England und Sachsen zu, siehe Polovcov, SIRIO, Bd. 66, S. 119–186. Polovcov, SIRIO, Bd. 15, S. 401–414. A.A. Polovcov (Hg.): SIRIO, Bd. 5, S. 513. Vgl. Polovcov, SIRIO, Bd. 66. Während Briefe des spanischen Gesandten an Rondeau berücksichtigt und diverse Appendizes ediert sind, trifft dies nicht auf einen Projektentwurf eines russisch-dänischen Vertrages vom 30. März zu. Da zuvor alle Beilagen ediert wurden, ist auch hier kein einheitliches Muster zu erkennen.
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am Moskauer Hof unvermittelt und ohne Erklärung am 16. Februar 1730 – mitten im zentralen Geschehen der Ereignisse des Thronwechsels – abbrechen.231 Die Druckvorlagen für die Fortführung des Editionsprojekts befinden sich in fertigem Zustand im Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Drevnich Aktov (RGADA).232 Ebenso sind dort einzelne Relationen des kaiserlichen Residenten Hochholzers durch diese Editionstätigkeit in russischer Übersetzung vorhanden. Bei bisherigen Analysen wurde unkritisch auf diese Editionen zurückgegriffen, ohne die Originale zu sichten.233 Nach kritischem Abgleich der übrigen edierten Gesandtschaftsberichte Mardefelds mit den Archivalien ist zweifelhaft, dass die oben angeführten Druckvorlagen lückenlos sind und heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Quantitativ weisen besonders die edierten polnisch-sächsischen und preußischen Gesandtschaftsberichte234 große Lücken auf, während hingegen die Auslassungen in den edierten englischen und französischen Berichten geringer sind. Diese ausführliche Besprechung edierter Relationen macht deutlich, dass jeder Band vor seiner Nutzung mit den zugrunde liegenden Archivalien abgeglichen werden muss, da je nach Edition die Qualität unterschiedlich zu beurteilen ist. Die Forschungsergebnisse des oben erwähnten Projekts des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, „dass die Editionen fälschlicherweise Vollständigkeit suggerier[t]en“,235 können in vollem Umfang bestätigt werden. Aus der Darlegung der Problematik der edierten Gesandtschaftsrelationen ergibt sich, dass auch für die Höfe Preußens, des Kurfürstentums Sachsen und des Königreichs Polen und Englands die Auswertung der in den Archiven vorhandenen Relationen und Weisungen unabdingbar ist. Die Grundlage dieser Arbeit sind demnach diplomatische Berichte und Weisungen, die mitunter bis zum heutigen Zeitpunkt weder hinreichend editorisch erschlossen, geschweige denn umfassend ausgewertet sind.
1.6 Forschungsstand Das verstärkte Forschungsinteresse der letzten Jahre bedingte eine Neubetrachtung der gesamten Regierungszeit Zarin Annas. Da diese Erkenntnisse auch in neuesten Publikationen oftmals nicht aufgegriffen werden, gilt es in einem ersten Schritt den Forschungsstand zur historischen Person Annas dazulegen. Diese Forschungsimpulse bewirkten auch eine Neubetrachtung des Thronwechsels 1730, dessen Forschungsstand in einem zweiten Schritt ausführlich dargelegt wird. 231 232 233 234
Polovcov, SIRIO, Bd. 15, S. 414. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 25 f. Vgl. ebd., S. 26. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur’“, S. 40. Vgl. ebd., S. 40. Steppan kommt für die 1720er Jahre zum gleichen Ergebnis: Steppan, Akteure am fremden Hof, fol. 116–117. 235 Vgl. Franziska Schedewie, Relationen vom russischen Hof, http://quellen-perspectivia.net/de/russische_relationen/introduction, 17.09.2020.
Forschungsstand
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Zarin Anna als historische Person Durch die Fokussierung auf Zar Peter I. und Zarin Katharina II. sind die Zarinnen und Zaren zwischen 1725 und 1762 in der historischen Forschung bis heute nicht sehr präsent236 und werden daher in der Überblicksliteratur oftmals schlicht mit wenigen Sätzen als schwach abgetan.237 Während zur Zeit der Sowjetunion vor allem englische und amerikanische Historikerinnen und Historiker die nachpetrinische Zeit erforschten,238 sind derzeitige Forschungsimpulse in besonderem Maße der russischen Historiografie zu verdanken239 – was ebenso auf die Regierungszeit Zarin Annas zutrifft.240 Die zehnjährige Herrschaft Annas wurde lange Zeit vor allem in populärwissenschaftlichen Werken behandelt.241 Ihre Regierungszeit wurde zumeist als Bironovščina, benannt 236 Vgl. Petruchincev, Carstvovanie Anny Ioannovny, S. 5. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 11. Alexander Lipski: Some Aspects of Russia’s Westernization during the Reign of Anna Ioannovna, 1730–1740, in: American Slavic and East European Review 18, 1959, S. 1–11, hier S. 1. Catherine Merridale: Der Kreml. Eine neue Geschichte Russlands, Frankfurt am Main 2014, S. 598. Lindsey Hughes: The Romanovs. Ruling Russia, 1613–1917, London 2008, S. 2. Hildermeier betont diese Sichtweise ausdrücklich, ohne den aktuellen Forschungsstand zur Kenntnis zu nehmen. Seine Abhandlung über die Regierungszeit Annas ist im Detail häufig fehlerbehaftet, worauf im Einzelnen an betreffender Stelle hingewiesen wird, siehe Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München 2016, S. 459–489, insbesondere S. 459. 237 Vgl. Erbe, Frühe Neuzeit, S. 222. Christoph Schmidt: Russische Geschichte 1547–1917, München 2003, S. 44. 238 Vgl. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 37 f. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 8. 239 Vgl. Nikolaj Ivanovič Pavlenko: Ekaterina I, Moskva 2009. Nikolaj Ivanovič Pavlenko: Petr II, Moskva 2006. Igor‘ Vladimirovič Kurukin: Biron, Moskva 2006. Manfred von Boetticher (Hg.): Braunschweigische Fürsten in Rußland in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1998. Konstantin Anatolʹevič Pisarenko: Elizaveta Petrovna, Moskva 2014. Liechtenhan, Elisabeth Ire de Russie Liechtenhan, La Russie entre en Europe Alexander Sergeevič Myl’nikov: Petr III, Moskva 2009. Evgenij Viktorovič Anisimov: Rossija v seredine XVIII veka. Borʹba za nasledie Petra, Moskva 1986. Maksim Ju. Anisimov: Rossijskaja diplomatija v Evrope v seredine XVIII veka. Ot Achenskogo mira do Semiletnej vojny, Moskva 2012. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur’“. 240 Evgenij Viktorovič Anisimov: Anna Ivanovna, in: Voprosy Istorii, 1993, S. 19–33. Anisimov, Anna Ioannovna Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron. Pavlenko, Anna Ioannovna Petruchincev, Carstvovanie Anny Ioannovny. Nikolaj Nikolaevič Petruchincev: Vnutrennaja Politika Anny Ionannovny (1730–1740), Moskva 2014. Kurukin, Anna Ioannovna Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda. 241 Exemplarisch sind die folgenden Werke als populärwissenschaftliche Literatur genannt: M.K. Curtiss: A forgotten empress. Anna Ivanovna and her era, 1730–1740, New York 1978. Mina Curtis ist weder Historikerin noch konnte sie russisch. Dazu ausführlicher: Isabel de Madariaga: Rezension zu: Curtis, Mina: Anna Ivanovna and her Era, 1720–1740, in: SEER 53, 1975, S. 439 f. Der Historiker Fenster kategorisiert die Arbeiten von Curtis, Mina: Anna Ivanovna and her Era, 1720–1740, New York 1978 ebenso wie Longworth, Philip: The three Empresses: Catherine I, Anna and Elizabeth of Russia, London, 1972 als „Produkte historisierender Belletristik“, siehe Aristide Fenster: Anna, in: Die russischen Zaren. 1547–1917, hg. von Hans-Joachim Torke, München 2012, S. 191–202, hier S. 383. Wladi-
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nach Annas Favoriten und Minister Biron, bezeichnet und überaus nachteilig für Russland gewertet. Die sogenannte Bironovščina ist eine Konstruktion historischer Belletristik und der Historiografie des 19. Jahrhunderts,242 die seit dem Krönungserlass Zarin Elisabeths 1741 dankbar auf eine Negativbeurteilung der Regierungszeit Annas zurückgriff und der Geschichtspolitik Zarin Katharinas II. folgte. Diese Geschichtspolitik diente beiden Zarinnen zur Stabilisierung ihrer Herrschaftslegitimation.243 Es ist eine anachronistische Sichtweise, Annas Herrschaft als Fremdherrschaft darzustellen.244 Diese Annahme ist keineswegs mir Fedorovski: Die Zarinnen. Rußlands mächtige Frauen, München 2001, S. 105–116. (Fehlerhafte Datierung und Darstellung von Ereignissen S. 110) sowie: Fussenegger: Herrscherinnen – Frauen, die Geschichte machten, Düsseldorf 2003. Das Werk Almedingens gibt weder Literatur an, noch enthält es Fußnoten. Es ist zudem stark psychologisierend geschrieben, besitzt anekdotischen Charakter und ist von der Forschung überholt, siehe Almedingen, E.M.: Die Romanows. Die Geschichte einer Dynastie, Russland 1613–1917, Frankfurt am Main 1992. Gordin, Jakov Arkadʹevič: Mež rabstvom i svobodoj. 19. janvarja–25. fevralja 1730 goda, Sankt-Peterburg 1994. Kamenskij kritisiert das Buch des Literaten Gordins als stark polemisch, unwissenschaftlich und tendenziös, siehe Aleksandr Borisovič Kamenskij: Ot Petra I do Pavla I. Reformy v Rossii XVIII veka, Moskva 1999, S. 181 f.; Jakov N. Dlugolenskij: Vek Anny i Elizavety. Panorama stoličnoj žizni, Sankt-Peterburg 2009. Dieses Buch hat weder Fußnoten noch ein Literaturverzeichnis. Parfenov, Leonid: Rossijskaja imperia. Petr II. Anna Ioannovna. Elizaveta Petrovna, Moskva 2013. Der Autor Parfenov ist Journalist und TV-Moderator. 242 Vgl. Fenster, Anna, S. 191. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 17–21. Zur Historiografie des 19. Jahrhunderts siehe Sergej Fedorovič Platonov: Lekcii po russkoj istorii, Moskva 1993, S. 543– 575. Petruchincev, Carstvovanie Anny Ioannovny, S. 5–10. Ključevskij, Kurs russkoj istorii, S. 338. Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 104–113. Anisimov widerlegt schlüssig Ansichten über die Bironovščina Ključevskijs, siehe Anisimov, Anna Ivanovna, S. 25–33. Zur Bedeutung des Historikers Ključevskijs und seines Werkes siehe V. O. Ključevskij: A Course in Russian History. The Seventeenth Century, Armonk 1993, S. XIII–XL. 243 Vgl. Petruchincev, Carstvovanie Anny Ioannovny, S. 5. A.S. Suvorova (Hg.): Zapiski imperatricy Ekateriny vtoroj, Sankt-Peterburg 1907, S. 642. Kamenskij, Ot Petra I do Pavla I, S. 167. Aleksandr Borisovič Kamenskij: Die russische Gesellschaft und die Thronbesteigung Ivans VI., in: Braunschweigische Fürsten in Rußland in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, hg. von Manfred von Boetticher, Göttingen 1998, S. 150–167. Evgenij Evgen‘evič Ryčalovskij: Die ‚Partey‘ Ivans VI. in den Akten der Geheimen Kanzlei, in: Braunschweigische Fürsten in Rußland in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, hg. von Manfred von Boetticher, Göttingen 1998, S. 168–175. Ingrid Schierle: Damnatio memoriae. Ivan VI. als Unperson, in: Braunschweigische Fürsten in Rußland in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, hg. von Manfred von Boetticher, Göttingen 1998, S. 176–205. Kamenskij, Ot Petra I do Pavla I, S. 165–168. John T. Alexander: Rezension zu: Ragsdale, Hugh: State-Building in Eighteenth-Century Russia, in: The International History Review 17, 1995, S. 228–238, hier S. 332. Hughes, The Romanovs, S. 90. 244 Der Begriff deutsch war im frühen 18. Jahrhundert noch rein kulturell und nicht nationalstaatlich geprägt und bezog sich allein auf die Sprache. Unter Deutsche wurden dementsprechend auch Deutsch-Balten, die Anna aus ihrer Residenzstadt Mitau mit nach Moskau brachte, subsummiert. Zu dieser Argumentation ausführlicher siehe Stadelmann, Die Romanovs, S. 98–99. Kamenskij, Ot Petra I do Pavla I, S. 170–173. Fenster, Anna, S. 191. Alexander Lipski, A Re-Examination of the “Dark Era” of Anna Ioannovna, in: American Slavic and East European Review 15, 1956, S. 477–488. Zernack, Polen und Rußland, S. 247. Zur Übernahme negativer Beurteilungen des angeblichen deutschen Einflusses siehe: Gertrud Fussen
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eine russische Besonderheit, sondern erfolgte ebenso nach dem Aussterben von Dynastien auf der italienischen Halbinsel oder bei der Beurteilung der sächsisch-polnischen Personalunion (1697–1763) und kann daher als eine für das 19. Jahrhundert charakteristische Sichtweise interpretiert werden. Die Revision dieser dem 18. Jahrhundert nicht gerecht werdenden Sichtweise soll im europäischen Kontext erfolgen.245 Der Historiker Matthias Stadelmann nennt die Bironovščina ein „zählebige[s] Konglomerat aus Halbwahrheiten und Unsinn“, das „sich zum Teil aus den Voreingenommenheiten des damaligen Geschlechterrollenverständnisses, zum Teil aus den […] Umständen Annas Nachfolge, zum Teil aus oberflächlicher Analyse und nationalistischen Ressentiments späterer Zeiten“ ergibt.246 Diese durch Stadelmann widerlegte Sichtweise findet aber bis heute Eingang in Veröffentlichungen.247 Die verschiedenen Negativzuschreibungen werden erst allmählich revidiert. Hierbei zeigen sich auch Parallelen in der Beurteilung der gleichnamigen englischen Königin Anne, die mehr Rückschlüsse auf die Historiografie bezüglich der Beurteilung des Geschlechts als auf den Erfolg beziehungsweise den Misserfolg der Herrscherinnen zulassen.248 Zudem ist die historische Darstellung zumeist auf die Würdigung der Berater der Zarin, wie beispielsweise Ostermann, Biron und Münnich, gerichtet.249 Bei Recke heißt es zu Annas Regierungsantritt und der Wiedererlangung der Souveränität:
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egger: Herrscherinnen. Frauen, die Geschichte machten, Düsseldorf 2003, S. 154. Fedorovski, Die Zarinnen, S. 116. Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich, S. 65–88. Die wegweisende Arbeit zur Kritik an dieser Sichtweise ist: Lipski, A Re-Examination of the “Dark Era” of Anna Ioannovna, S. 477–488. Bereits die Monografie V.M. Stroevs erklärte die Bironovščina zum Mythos, siehe V.M. Stroev: Bironovščina i kabinet ministrov, Moskva 1909. Hughes, The Romanovs, 87f. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 150 f. Kurukin beklagt, dass die negative Sichtweise auf Anna bis heute in russischen Schulbüchern präsent ist, siehe Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 31. In Bezug auf Dynastien der italienischen Halbinsel siehe Schnettger, Geschichte einer Dekadenz?, S. 73 f. In Bezug auf die Bewertung der sächsisch-polnischen Union beispielsweise: Gierowski, Ein Herrscher – Zwei Staaten, S. 121–125. Stadelmann, Die Romanovs, S. 97–104. Vgl. Elisabeth Heresch: Die Romanows. Russlands Zarenfamilie 1613–2013, Berlin 2014, S. 105. Leonid Parfenov: Rossijskaja imperija. Petr II. Anna Ioannovna. Elizaveta Petrovna, Moskva 2013, S. 141–144 und S. 148. John P. LeDonne: Absolutism and Ruling Class. The Formation of the Russian Political Order, 1700–1825, New York, Oxford 1991, S. 82. Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 465–473. Pavlenko, Anna Ioannovna. Zur Übernahme vor allem des deutsch-russischen Gegensatzes siehe Detlef Jena: Die Zarinnen Russlands (1547–1918), Regensburg 1999, S. 122 und S. 127. Jena rezipiert vor allem russische Autoren des 19. Jahrhunderts und populärwissenschaftliche neuere Veröffentlichungen, ohne die neueste Forschungsliteratur zu berücksichtigen. Vgl. Robert O. Bucholz: Queen Anne: Victim of her Virtues?, in: Queenship in Britain, 1660–1837. Royal Patronage, Court Culture and Dynastic Politics, hg. von Clarissa Campbell Orr, Manchester 2010, S. 94–129. Zu Stereotypen und Diskreditierung von weiblicher Herrschaft siehe Bastian, Dade, Ott, Weibliche Diplomatie?, S. 112. Vgl. Erich Donnert: Das russische Zarenreich. Aufstieg und Untergang einer Weltmacht, München, Leipzig 1992, S. 152–154 und S. 160–166.
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„Auch in den Ereignissen vor ihrer Thronbesteigung spielte sie ihre Rolle nach vollständig festgelegtem Plan; und der Regisseur hinter der Szene war ihr Vertrauter Ostermann.“250
Dass Anna nur „mäßige Führungsqualitäten“251 zugesprochen werden oder ihr gleich jegliche politische Gestaltung abgesprochen wird,252 gilt es in Bezug auf ihren Herrschaftsantritt zu hinterfragen. Die Regierungszeit Annas war durch Stabilität,253 die Wahrung der europäischen Großmachtstellung Russlands und durch kulturelle und innenpolitische Leistungen geprägt.254 Auch wirtschaftlich255 und militärisch256 kann die Zeit Annas positiv betrachtet werden. Die Außenpolitik Annas war ebenso wenig durch eine nach nationalen Interessen handelnden deutschen Partei am Hof oder gar eine Frontstellung zwischen Deutschen und Russen geprägt.257 In der Bündnispolitik oder in den Kriegshandlungen unter Zarin Anna zeigen sich keine national motivierten Affinitäten zum deutschsprachigen Raum, sondern die Handlungsweisen der Akteure unterliegen machtpolitischen Interessen.258 Pečar legte schlüssig dar, dass vor allem in Gesandtschaftsberichten häufig die Rede von verschiedenen Parteien an den unterschiedlichen europäischen Höfen ist. Demnach wird diese Begrifflichkeit übernommen, muss aber problematisiert werden, um keine falschen Assoziationen hervorzurufen. Es war 250 Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 184 f. 251 Donnert, Das russische Zarenreich, S. 152. 252 Vgl. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 120–123. 253 Vgl. Aristide Fenster: Palastrevolutionen, in: Lexikon der Geschichte Rußlands. Von den Anfängen bis zur Oktober-Revolution, hg. von Hans-Joachim Torke, München 1985, S. 284 f. Kamenskij, Ot Petra I do Pavla I, S. 182–184. 254 Vgl. Lipski, A Re-Examination of the “Dark Era” of Anna Ioannovna, S. 487 f. Fenster, Anna, S. 191. Wagner, Ein Deutscher am Zarenhof, S. 37. Stadelmann, Die Romanovs, S. 97–103. Stählin, Aus den Papieren Jacob von Stählins, S. 44–51. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 135–140. 255 Vgl. ebd., S. 135. 256 Petruchincev, Carstvovanie Anny Ioannovny. 257 Vgl. Fenster, Anna, S. 195. Klueting, Ausländer in Rußland im 17. und 18. Jahrhundert, S. 145. Aristide Fenster: Das Erbe Peters I. in der russischen Innenpolitik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und ein Beitrag deutscher Staatsmänner, in: Ein Deutscher am Zarenhof. Heinrich Graf Ostermann und seine Zeit 1687–1747, hg. von Johannes Volker Wagner, Bernd Bonwetsch und Wolfram Eggeling, Essen 2001, S. 175–182, hier S. 177. Steinwascher, Die Oldenburger, S. 189. Auch Meehan-Waters widerlegte in ihrer Detailstudie über die Elite in Russland eine nationale Trennlinie bei den Karrieremustern, wobei religiöse Trennlinien stärker beachtet werden sollten, siehe Brenda Meehan-Waters: Autocracy and Aristocracy. The Russian Service Elite of 1730, New Brunswick 1982, S. 23–29. Philip Longworth: The Three Empresses. Catherine I, Anne and Elizabeth of Russia, New York 1973, S. 108. Lew Kopelew: Deutsche und Russen im 18. Jahrhundert, in: Ein Deutscher am Zarenhof. Heinrich Graf Ostermann und seine Zeit 1687–1747, hg. von Johannes Volker Wagner, Bernd Bonwetsch und Wolfram Eggeling, Essen 2001, S. 15–18, hier S. 16 f. 258 Lipski, A Re-Examination of the “Dark Era” of Anna Ioannovna, S. 483–488. Stadelmann, Die Romanovs, S. 100 f. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 129–134. Anisimov, Anna Ivanovna, S. 27–32.
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Aufgabe von Gesandten an fremden Höfen, die Möglichkeiten der zukünftigen politischen Verhältnisse darzulegen, sodass die Herrscherinnen und Herrscher mit einigem Zeitverzug darauf in Form von Instruktionen reagieren konnten. Demnach ist der Quellenbegriff Partei als eine zu diesem Zeitpunkt existierende Verbindung von Personen zu verstehen. Es ist keineswegs eine dauerhafte, strikt von anderen Gruppen abgegrenzte Personenverbindung gemeint.259 Diese Arbeit trägt mit der Analyse der gesandtschaftlichen Bewertung der Wahl und des Regierungsantritts Annas zur notwendigen Neubetrachtung bei. Dabei ist zu beachten, dass die Dynastien und Höfe in Europa im 18. Jahrhundert durch Heiratspolitik verbunden waren und landesfremde Personen Hofämter innehatten. Trennlinien verliefen standesmäßig und konfessionell, nicht aber national.260
Der Forschungsstand zum Thronwechsel 1730 Der Versuch der Veränderung der Regierungsform zu Beginn der Herrschaft Annas und dessen Scheitern zogen immer wieder das Forschungsinteresse auf sich.261 Die Historiografiegeschichte der Ereignisse um den Thronwechsel und die Bewertung der Quellen sind für russische und englischsprachige Darstellungen ausführlich dargelegt.262 Diese Aufarbeitung erübrigt, die englisch- und russischsprachigen Interpretationen des russischen Thronwechsels erneut zu erörtern. Diesen Forschungstand gilt es jedoch im Folgenden, um bisher nicht berücksichtigte, vor allem deutsch- und französischsprachigen Werke zu erweitern. Die Darstellung und Quellenedition 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda. Sobytija, ljudi, dokumenty aus dem Jahre 2010 ist die aktuellste zu diesem Thema, die nicht nur auf den überlieferten Archivalien russischer Provenienz basiert, sondern diese auch zum ersten Mal in Gänze publizierte. Die bis 2010 veröffentlichten Quelleneditionen sind weder vollständig, 259 Vgl. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 70–92. 260 Orr, Court Studies, Gender and Women‘s History, 1660–1837, S. 7–16. Bömelburg, Kizik, Deutsch-Polnische Geschichte – Frühe Neuzeit, S. 64 f. Schönpflug, Die Heiraten der Hohenzollern, S. 114–124. Steinwascher, Die Oldenburger, 183–184. Helen Watanabe-O’Kelly: Religion and the Consort. Two Electresses of Saxony and Queens of Poland (1697–1757), in: Queenship in Europe 1660–1815. The Role of the Consort, hg. von Clarissa Campbell Orr, Cambridge 2004, S. 252–275, hier S. 252–255. Katrin Keller: Personalunion und Kulturkontakt. Der Dresdener Hof im Zeitalter der sächsisch-polnischen Union, in: Die Personalunionen von Sachsen-Polen 1697–1763 und Hannover-England 1714–1837. Ein Vergleich, hg. von Rex Rexheuser, Wiesbaden 2005, S. 153–176, hier S. 170. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 129. Demel, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts, S. 218 f. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 23–29. 261 Vgl. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 5 f. Kamenskij, Ot Petra I do Pavla I, S. 213. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur’“, S. 164. 262 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 7–30. Ohne das vorher genannte Werk zu rezipieren, erfolgte 2011 eine erneute Zusammenstellung der Literatur des 18. Jahrhunderts bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, siehe Sergej Vladimirovič Pronkin: Političeskij krizis 1730 g. v literature XVIII. – pervoj poloviny XIX vv, in: Gosudarstvennoe upravlenie. Èlektronnyj vestnik 26, 2011, S. 1–14.
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noch genügen sie heutigen wissenschaftlichen Standards. Der Anspruch der Autoren war es, neue Quellen zu erschließen, neue Interpretationen zu liefern und die richtige Datierung einzelner Dokumente vorzunehmen.263 Auf dieser Grundlage kam es zu umfassenden Neubewertungen, die einen Großteil der bisherigen Forschung obsolet macht.264 Die generelle und nicht belegte Behauptung, dass vorhandene Quellen über die Ereignisse 1730 keine differenzierten Darstellungen zulassen,265 ist dabei zurückzuweisen. Kurukin und Plotnikov kamen nach der Betrachtung des neu erschlossenen und analysierten Quellenmaterials zu der Schlussfolgerung, dass die Beschränkung der Autokratie aus dem Inneren des Machtapparats selbst erfolgte. Der Umbau der staatlichen Herrschaft sollte darüber hinaus zu keinerlei gesellschaftlichen Veränderungen führen. Nach dem Tod Zar Peters I. 1725 erwiesen sich die personenbezogenen Herrschaftsstrukturen unter seiner Nachfolgerin Katharina I. (1684–1727)266 als instabil, weswegen der Oberste Geheime Rat als ein beständiges und beratendes Regierungsgremium geschaffen wurde. Er war – neben dem Zaren oder der Zarin – das höchste institutionalisierte Herrschaftsorgan des Russischen Reiches, das unter Katharina I. und Peter II. seine Befugnisse schnell auszuweiten wusste.267 Daher konnten die Umgestaltungen des Machtaufbaus Ende Januar 1730 innerhalb kürzester Zeit erfolgen. Die Pläne für eine Beschränkung der russischen Selbstherrschaft konnten sich aufgrund der Schwäche Katharinas I. und Peters II. seit Mitte der 1720er Jahre entwickeln. Ein Erfolg dieser Pläne war dabei nach Kurukin und Plotnikov nicht ausgeschlossen. Sowohl der Bruch der Traditionen und die Erschöpfung des Landes nach dem Großen Nordischen Krieg bewirkten Forderungen nach Korrekturen der petrinischen Politik und stellten das Verhältnis zwischen Herrscher und Untertanen zur Disposition. Der Oberste Geheime Rat arbeitete die Machtbeschränkung im Verborgenen aus. Bei deren Veröffentlichung verweigerte der Adel dem Obersten Geheimen Rat aber die Zustimmung und musste daher in die Veränderung der Regierungsform einbezogen werden, was von den Mitgliedern des Obersten Geheimen Rates aber weder erwünscht noch geplant war.268 Die Mitglieder des Obersten Geheimen Ra-
263 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 5f. 264 Ebd., S. 24–30. Zur Beurteilung des Werks siehe Dmitry Redin: Rezension zu: I.V. Kurukin, A.B. Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, in: CMR 52, 2011, S. 670–674. 265 Vgl. Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 465 f. 266 Zarin Katharina I. wurde 1684 als Martha Skavronskaja geboren. Ihre frühen biografischen Hintergründe sind mitunter ungeklärt. Sie war die zweite Frau Zar Peters I., die 1724 zur Zarin gekrönt wurde. Sie regierte von 1725 bis 1727 als Zarin Russland. Ihre Person und ihre Leistungen gelten als schlecht erforscht, siehe Erich Donnert: Katharina I., in: Die russischen Zaren. 1547–1917, hg. von Hans-Joachim Torke, München 2012, S. 179–184. Lindsey Hughes: Catherine I. of Russia, Consort to Peter the Great, in: Queenship in Europe 1660–1815. The Role of the Consort, hg. von Clarissa Campbell Orr, Cambridge 2004, S. 131–154. Vertiefend, siehe Pavlenko, Ekaterina I. 267 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 113 f. Zur Entstehung des Obersten Geheimen Rates und zu dessen Funktionen siehe Joukovskaïa-Lecerf, Le conseil du tsar dans la culture politique de l’époque pétrovienne. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 324. Kamenskij, Ot Petra I do Pavla I, S. 192 f. 268 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 114–116.
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tes werden im Folgenden der russischen Sprachgewohnheit nach auch Verchovniki genannt. Dass es keinen Plan zur konstitutionellen Umgestaltung Russlands gab, wie bereits mehrfach in der Forschung angezweifelt wurde,269 konnte abschließend bestätigt werden. Bereits 1897 wies A.S. Alekseev auf die Problematik der auf Gerüchten basierenden Darstellung der Gesandten hin, ohne dass sich diese Sichtweise in der Historiografie durchsetzen konnte.270 Es ist Aufgabe der vorliegenden Arbeit zu zeigen, wie dieser angebliche Plan Golicyns Eingang in die Gesandtschaftsberichte und durch diese innerhalb des Gesandtennetzwerks Verbreitung fand. Da der Oberste Geheime Rat während des Interregnums als Einziger die Macht in den Händen hielt, konnte ihm der Adel nicht gefährlich werden. Als die Zarin Anna in Moskau ankam, bildete sie ein zweites Machtzentrum, sodass der Adel sich gegen den Obersten Geheimen Rat wenden konnte, nachdem die Ausgestaltung der Machtbeschränkung ins Stocken geraten war. Dies führte dazu, dass die Mehrheit zu den altbekannten Machtstrukturen tendierte und die Selbstherrschaft stützte. Diejenigen Adligen, die für die Wiedergewinnung der Macht Annas eintraten, waren nicht zahlreich, aber sie konnten sich auf die neue Zarin stützen. Der Oberste Geheime Rat schien auf die Antragung der Souveränität nicht vorbereitet gewesen zu sein.271 Die nun in der Forschung geklärten Ereignisse in Russland ermöglichen es, die Aussagekraft der Gesandtschaftsberichte zu überprüfen, auf deren Grundlage die meisten sich als falsch erweisenden Interpretationen getroffen wurden. Sie sind zudem für die Ereignisse in Moskau noch insoweit relevant, da für Teilaspekte der Abläufe 1730 die überlieferten russischen Quellen keine detaillierte Auskunft geben.272 Warum waren die Gesandtschaftsberichte für Historiker überhaupt eine so zentrale Quelle für die Darstellung des russischen Thronwechsels? Nachdem es Zarin Anna gelungen war, die Beschränkung ihrer Macht aufzuheben, erließ sie am 11. März 1730 ein Manifest anlässlich ihrer Thronfolge, was jegliche Kritik an ihrer Macht unmöglich machte. Sie legte damit einen Schleier des Vergessens über diese Ereignisse, der bis in die Zeit Katharinas II. wirkmächtig blieb.273 Da Memoiren von russischen Hofadligen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts selten sind, beruhten erste historische Darstellungen über den Versuch der Machtbeschränkung der Zarin vom Ende des 18. Jahrhunderts vor-
269 Vgl. Hedwig Fleischhacker: 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, in: JGO, AF 6, 1941, S. 201–274, hier S. 218–228. Marc Raeff: Plans for Political Reform in Imperial Russia 1730–1905, Englewood Cliffs/NJ 1966, S. 42. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 162–183. 270 Vgl. G.A. Protasov: Suščestvobal li političeskij plan D.M. Golicyna?, in: Istočnikovedžeskie raboty, Tambov 3, 1973, S. 90–107, hier S. 90–93. 271 Vgl. ebd., S. 115 f. 272 Vgl. ebd., S. 28. 273 Vgl. ebd., S. 7. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 12. Pronkin, Političeskij krizis 1730 g. v literature XVIII. – pervoj poloviny XIX vv, S. 1. Sergej Viktorovič Pol’skoj, Dvorjanskij konstitucionalizm v Rossii XVIII – načala XIX vv. i ego zapadnoevropejskie istočniki, http://www.perspectivia.net/publikationen/vortraege-moskau/polskoi_konstitutionalismus, 17.09.2020.
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nehmlich auf außerhalb Russlands publizierten Memoiren.274 Hierzu zählen beispielsweise die Memoiren Mansteins,275 die auf außerhalb Russlands kursierenden Informationen der 1730er und 1740er Jahre beruhen. Keinesfalls können sie als Augenzeugenberichte gelesen werden, sondern sind spekulativer Natur.276 Nichtsdestotrotz werden sie seit ihrer Veröffentlichung 1770 bis heute unkritisch rezipiert.277 Der Mangel an überlieferten biografischen Niederschriften oder privaten Korrespondenzen russischer Zeitzeugen begünstigte dies.278 Als eines der bekanntesten überaus seltenen biografischen Selbstzeugnisse wird die briefliche Korrespondenz Artemij Volynskijs betrachtet.279 Die zeitgenössischen Berichte Feofan Prokopovičs280 und Vasilij Nikitič Tatiščevs (1686–1750) galten fälschlicherweise als authentische Augenzeugenberichte, waren aber nachträglich verfasste Rechtfertigungsschriften.281 Kriti274 Vgl. Jan Kusber: Zur Frage von Schande und Ehre im russischen Hochadel des 18. Jahrhunderts. Das Beispiel der Familie Razumovskij, in: Zwischen Schande und Ehre. Erinnerungsbrüche und die Kontinuität des Hauses. Legitimationsmuster und Traditionsverständnis des frühneuzeitlichen Adels in Umbruch und Krise, hg. von Martin Wrede und Horst Carl, Mainz 2007, S. 125–140, hier S. 128 f. 275 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 7 f und S. 27 f. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 34–36. 276 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 28 und S. 94. Pronkin, Političeskij krizis 1730 g. v literature XVIII. – pervoj poloviny XIX vv, S. 3 f. 277 Vgl. Christoph von Schmidt-Phiseldek: Materialien zu der Russischen Geschichte seit dem Tode Kaisers Peters des Großen. Zweiter Theil: 1730–1741: mit XIII. Kupfertafeln, Riga 1784, S. 1–63. Es handelt sich beispielsweise um die Fehldatierung des blutroten Nordlichts, siehe Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 101. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 49. Korsakov verbreitet, aufbauend auf den Schriften Mansteins, die Annahme, dass es drei Boten gab, die Anna vor den Konditionen warnten, siehe Korsakov, Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny, S. 82. Die Absendung der Boten Prokopovičs und vor allem demjenigen Löwenwoldes, der erfolgreich zu Anna vordrang, wurde häufig unkritisch in die Forschungsliteratur übernommen, siehe beispielsweise: Anisimov, Anna Ioannovna, S. 26. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 77. Petruchincev, Carstvovanie Anny Ioannovny, S. 43f. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 174. Pavlenko, Anna Ioannovna, S. 48f. Liechtenhan, Elisabeth Ire de Russie, S. 65. Rudolph L. Daniels: V.N. Tatishchev and the Succession Crisis of 1730, in: SEER 49, 1971, S. 550–559, hier S. 551. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 257. Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 43. In diesem Zusammenhang zur Neubewertung der Rolle Feofan Prokopovičs: James Cracraft: The Succession Crisis of 1730, in: Canadian-American Slavic Studies 12, 1978, S. 60–86, hier S. 70–84. 278 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 27 f. 279 Vgl. ebd., S. 28. 280 Feofan Prokopovič (1681–1736) war Erzbischof von Novgorod (Anisimov schreibt hier fälschlicherweise Erzbischof von Pskov) und Vizepräsident des Synods. Prokopovič war einer der maßgeblichen Organisatoren der Kirchenreformen Peters I. und legitimierte als Staatstheoretiker dessen Herrschaft. Zudem war er Theologe, Historiker und Literat, siehe Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 417. 281 V.N. Tatiščev: Proizvol´noe u soglasnoe rassuždenie sobravšegosja šljachetstva russkogo o pravlnii gosudarstvennom, Moskva 1858. Feofan Prokopovič: O smerti imperatora Petra Vtorogo i o vozšestvii na prestol gosudaryni imperatricy Anny Ioannovny, Moskva 1830. Zur Neubeurteilung der beiden Schriften, siehe Cracraft, The Succession Crisis of 1730. G.A. Protasov: Zapiska B.N. Tatiščeva o „proitvol’nom pazsuždenii“ dvorjanstva sobytijach 1730 g., in: Problemy istočnikovedenija, Moskva 11, 1963, S. 237– 265. Daniels, V.N. Tatishchev and the Succession Crisis of 1730. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 140. Pronkin, Političeskij krizis 1730 g. v literature XVIII. – pervoj poloviny XIX vv, S. 4–6.
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sche Auseinandersetzungen mit der Darstellung Tatiščevs aus dem Jahre 1963 wurden wenig rezipiert, konnten aber durch eine quellenbasierte Analyse aus dem Jahr 2010 bestätigt und differenziert werden.282 Dennoch fanden und finden die Darstellungen Tatiščevs, Prokopovičs und Volynskijs bis heute unkritischen Eingang in Publikationen.283 Weitere Schriften Feofan Prokopovičs, einem Befürworter der Autokratie, führten seit dem 18. Jahrhundert dazu, die Handlungen des Obersten Geheimen Rates als einen Versuch der Errichtung einer tyrannischen Oligarchie zu interpretieren.284 In Werken des späten 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über den Thronwechsel 1730 fand noch keine Trennung von Publizistik und wissenschaftlicher Darstellung statt, auch wenn die Autoren bereits einen wissenschaftlichen Anspruch für sich erhoben.285 Aufgrund der damaligen sehr schlechten Quellenlage und infolge von langen Zitierketten finden mitunter damalige Deutungsmuster in neueste Publikationen Eingang. Ein grundsätzliches Problem ist, dass einige Arbeiten über den Thronwechsel 1730 den Forschungsstand nicht hinreichend zur Kenntnis nehmen.286 Dies macht wissenschaftliche 282 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 29 f. 283 Vgl. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 95. Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 466. Hughes, The Romanovs, S. 87. Ključevskij, Kurs russkoj istorii, S. 357 f. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 224–265. Whittaker, Russian Monarchy, S. 69–78. Pavlenko, Anna Ioannovna, S. 32–58. Sergej Viktorovič Pol’skoj; Michel Tissier: L’élite dirigeante russe dans la crise politique de 1730, in: CMR 50, 2009, S. 395–407, hier S. 402–404. Frederick I. Kaplan: Tatiščev and Kantemir, Two Eighteenth Century Exponents of a Russian Bureaucratic Style of Thought, in: JGO 13, 1965, S. 497–510, hier insbesondere S. 504. Raeff, Plans for Political Reform in Imperial Russia 1730–1905, S. 41–44. Ransel, The Government of Crisis of 1730, S. 52–58. Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 39–53. Kusber, Die Autokratie, Wahl und Wahlkapitulationen im Russländischen Reich der frühen Neuzeit, S. 89 f. 284 Vgl. Isabel de Madariaga: Portrait of an Eighteenth-Century Russian Statesman. Prince Dmitry Mikhaylovich Golitsyn, in: SEER 62, 1984, S. 36–60, hier S. 58. Petruchincev, Carstvovanie Anny Ioannovny, S. 5 f. Ransel, The Government of Crisis of 1730, S. 66. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 7 f. 285 Vgl. Hans Hecker: Rußland und die deutsche Historiografie des 18. Jahrhunderts, in: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 18. Jahrhundert: Aufklärung, hg. von Mechthild Keller, München 1987, S. 184–215, hier S. 188. Exemplarisch hierfür sind zu nennen: Schmidt-Phiseldek, Materialien zu der Russischen Geschichte seit dem Tode Kaisers Peters des Großen. Arpe, Geschichte des Herzoglich Schleswig-Holstein Gottorfischen Hofes und dessen vornehmsten Staats-Bedienten, unter der Regierung Herzog Friedrichs IV. und dessen Sohnes Herzog Carl Friedrichs, mit geheimen Anecdoten zur Erläuterung der Schleswig-Holsteinischen Historie besonders als der Nordischen Begebenheiten überhaupt. Johann Georg Peter Möller: Historische und urkundliche Nachrichten von dem Leben und Staatsverrichtungen des ehemaligen Holsteinischen geheimen Raths Hans Friedrich von der Kettenburg, zur Erläuterung der Holsteinischen Geschichte seiner Zeit, in: Der Geschichtsforscher, hg. von Johann Georg Meusel, Erfurt 1777, S. 1–32. F. W. Barthold: Anna Ioannovna: Kabinett, Hof, Sitte und gesellschaftliche Bildung in Moskau und St. Petersburg, in: Historisches Taschenbuch, hg. von Friedrich von Raumer, Leipzig 1836, S. 175–397. 286 Beispielsweise Evgenij Viktorovič Anisimov: Kuda ž nam plytʹ? Rossija posle Petra Velikogo, Moskva 2010. Tatj‘ana Anatol‘evna Belova: Političeskoe dviženie 1730 g. i verchovnyj tajnyj sovet, in: Omskij vestnik 111, 2012, S. 12–15. Tatj‘ana Anatol‘evna Belova: „Konstituconnye proekty“ 1730
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Darstellungen des Ereignisses mitunter besonders problematisch – insbesondere, weil der Wahrheitsgehalt von Gerüchten nicht hinterfragt wird. Auch die vorliegende Arbeit muss an einigen Stellen Fragen unbeantwortet lassen, wo andere Darstellungen scheinbare Gewissheiten des Faktischen suggerieren. Dies hängt mit der Unsicherheit der Quellen zusammen und dem weitverbreiteten Wunsch, Unklarheiten mitunter durch unbelegbare Behauptungen zu beseitigen. Besonders anfällig zeigen sich Überblicksdarstellungen, die überholte Thesen bloß wiedergeben.287 Aufbauend auf den bereits im frühen 19. Jahrhundert herausgegebenen memoirenartigen Berichten des ehemaligen spanischen Gesandten de Liria über seine Zeit am russischen Hof setzte im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine verstärkte Edition und Betrachtung von Gesandtschaftsberichten ein.288 Das zweibändige Werk Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny des Historikers Dmitrij Korsakov (1880) war bis 2010 die umfangreichste Quellensammlung und monografische Darstellung, die für viele folgende Arbeiten die Grundlage bildete. Neben Dokumenten des Obersten Geheimen Rates fanden darin auch Gesandtschaftsberichte Berücksichtigung.289 Marc Raeff übersetzte mehrheitlich auf der Grundlage Korsakovs einzelne Quellen ins Englische.290 Unter anderem auf Grundlage der oben genannten Quellen und der Gesandtschaftsberichte vertrat Korsakov die Ansicht, dass Golicyn 1730 eine konstitutionelle Monarchie unter starker Beteiligung des Adels einführen wollte.291 Ab dem 19. Jahrhundert folgten dieser Sichtweise viele – vornehmlich liberale – Historiker, die unter dem Einfluss der Revolution 1905 zu Beginn des 20. Jahrhunderts regelrecht wünschten, in Golicyn einen frühen Verfechter eines liberalen Konstitutionalismus in Russland zu erblicken, um die Reformfähigkeit des politischen Systems Russlands historisch zu belegen.292
287 288 289 290 291
292
g., in: Vestnik tomskogo gosudarstvennogo universiteta. Istorija 25, 2013, S. 13–15. Pronkin, Političeskij krizis 1730 g. v literature XVIII. – pervoj poloviny XIX vv, S. 14. Sergej Viktorovič Pol’skoj: Vnutrisoslovnaja stratifikacija dvorjanstva i „konstitucionnoe“ dviženie 1730 goda, in: Vestnik Samarskogo Gosudarstvennogo Universiteta 82, 2011, S. 59–64. Sergej Viktorovič Pol’skoj, Dvorjanskij konstitucionalizm v Rossii XVIII – načala XIX vv. i ego zapadnoevropejskie istočniki, http://www.perspectivia.net/publikationen/vortraege-moskau/polskoi_konstitutionalismus, 17.09.2020. Vgl. dazu grundsätzlich: Scheidegger, Endzeit, S. 19–25. Vgl. Pronkin, Političeskij krizis 1730 g. v literature XVIII. – pervoj poloviny XIX vv, S. 8 f. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 25 f. Korsakov, Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny. Korsakov, Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 11. Vgl. Raeff, Plans for Political Reform in Imperial Russia 1730–1905, S. 44–52. Vgl. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 132 und 145. Fenster, Anna, S. 194. Korsakov, Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny, S. 179–181. Miljukov”, verchovniki i šljachetstvo, S. 1–51. Madariaga, Portrait of an Eighteenth-Century Russian Statesman, S. 58. Stadelmann, Die Romanovs, S. 96. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 140 f. G.A. Protasov: Dvorjanskie prošenija 1730g., in: Istočnikovedžeskie raboty, Tambov 4, 1975, S. 87–107. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 135–148. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 166–170. Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 17–22. Petruchincev, Carstvovanie Anny Ioannovny, S. 10 f. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 5. Ransel, The Government of Crisis of 1730, S. 45. Alexander Yanov: „The Drama of the Time of Troubles, 1725–1730“, in: Canadian-American
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Besonders Evgenij Anisimov, dessen (Mit-)Verdienst es ist, dass gerade Zarin Anna wieder ins historische Blickfeld rückte, verwendet in seinen überaus anschaulichen, fast schon belletristisch anmutenden Darstellungen mitunter zu unkritisch diese Aussagen, die sich in der Memoirenliteratur oder in Gesandtschaftsberichten wiederfinden, ohne dass der Forschungsstand in ausreichendem Maße Berücksichtigung findet.293 Diese Problematik trifft ebenso auf Nikolaj Pavlenko zu.294 Die Werke Anisimovs weisen mitunter keine Belege auf, was eine kritische Auseinandersetzung überaus erschwert. Neben seiner sehr lesbaren Schreibweise sind seine Darstellungen als eine der wenigen russischsprachigen Studien auch in deutscher und englischer Sprache erschienen, was eine Rezeption nicht russisch sprechender Historiker vereinfacht. Die in der historiografiegeschichtlichen Darstellung bisher unberücksichtigten Werke, die auf diplomatischen Relationen basieren, gilt es ebenso kritisch einzuordnen. Der Historiker Ettel Melamud verfasste 1928 in Wien eine Dissertation zum Thema Die Anteilnahme des russischen Adels an den Palastrevolutionen von 1725–1741 in Russland, die auf den Archivalien des kaiserlichen Gesandten Wratislaws in Moskau, den SIRIO-Berichten anderer Gesandter und Memoirenliteratur basiert.295 Die Interpretationen Melamuds bezüglich der zivilisatorisch unterlegenen Slawen und der als deutsch empfundenen Adligen am russischen Hof als zivilisatorisch höherstehende Lehrmeister ist der sogenannten Ostforschung zuzuordnen.296 Mit dem ausdrücklichen Beklagen, dass mit dem Tod Peters I. „eine starke Führerhand verschwunden war“297 und nur die „Macht der Bajonette“298 in der folgenden Epoche ein Gewaltmonopol herstellen könnte,299 eilt Melamud in seiner Betonung der Notwendigkeit der starken Führerpersönlichkeit bereits dem Zeitgeist des österreichischen Ständestaats und dem aufkommenden Nationalsozialismus voraus.300 Die Historikerin Cywja Wojdyslawska
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Slavic Studies 12, 1978, S. 1–60, hier S. 1–7. Auch das populärwissenschaftliche Werk Gordins folgt dieser Logik, siehe Jakov Arkadʹevič Gordin: Mež rabstvom i svobodoj. 19 janvarja – 25 fevralja 1730 goda, Sankt-Peterburg 1994. Vgl. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 7–49. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 71–102. Anisimov, Kuda ž nam plytʹ?, S. 207–265. Dieser Teil des letztgenannten Werks ist identisch mit den Seiten 7 bis 49 der erstgenannten Biografie Annas. Pavlenko, Anna Ioannovna. Ettel Melamud: Die Anteilnahme des russischen Adels an den Palastrevolutionen 1725–1741 in Rußland, Wien 1928. Vgl. Christoph Augustynowicz: Geschichte Ostmitteleuropas. Ein Abriss 2014, S. 22 f. Melamud, Die Anteilnahme des russischen Adels an den Palastrevolutionen 1725–1741 in Rußland, S. 2, 7, 9, 15, 45 uvm. Ebd., S. 8. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 10, 24, 27, 45, 66, 77 uvm. Vgl. Ernst Hanisch: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, S. 310–314. Einer der betreuenden Professoren Melamuds war Hans Uebersberger. Siehe in diesem Zusammenhang: Arnold Suppan; Marija Wakounig: Hans Uebersberger (1877–1962), in: Osteuropäische Geschichte in Wien. 100 Jahre Forschung und Lehre an der Universität, hg. von Arnold Suppan, Innsbruck 2007, S. 91–165, hier S. 91–165.
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analysierte Berichte Wratislaws und die in SIRIO edierten Berichte in Bezug auf Verdienste Graf Ostermanns am russischen Hof, bei der die kaiserliche Sichtweise dominierte.301 Der Historiker Walter Recke verwendete für seine Darstellung die unzureichend edierten spanischen, englischen, sächsisch-polnischen, schwedischen und französischen Gesandtschaftsberichte und die nicht edierten kaiserlichen Berichte.302 Das Verdienst Reckes ist es, dass er auf Grundlage der Gesandtschaftsberichte bereits die Vermutung widerlegte, dass es einen Plan Golicyns zur konstitutionellen Umgestaltung Russlands gab, indem er eine synchrone Betrachtung der Moskauer Ereignisse vornahm. Eine synchrone Betrachtung findet sich auch in dem 1958 veröffentlichen Aufsatz Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, in dem der Historiker Karl-Heinz Ruffmann den Blickwinkel der englischen Krone und deren in Europa weilenden Diplomaten auf die Moskauer Ereignisse 1730 anhand von Archivalien aus den National State Archives betrachtet.303 Dieser Aufsatz basiert allein auf dem Gesandtschaftsschriftgut englischer diplomatischer Vertreter an verschiedenen europäischen Höfen. Ruffmann erkannte bereits 1958 im Gegensatz zu Wojdyslawska und Recke und vielen bis heute damit arbeitenden Historikern304 die Problematik der Quelleneditionen, indem er Kürzungen thematisierte und die Hinzunahme der Archivalien als notwendig erachtete.305 Die auf Recke aufbauende Arbeit Hedwig Fleischhackers 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform beruht neben den kaiserlichen Archivalien auf den SIRIO-Berichten und weiteren diplomatischen Berichten. Ihre Verdienste sind die abermalige Falsifizierung des konstitutionellen Plans Golicyns und die Feststellung, dass die Gesandten die Trennlinien zwischen einzelnen politischen Bewegungen nicht wahrnahmen. Ihre Arbeit weist allerdings eine starke Überhöhung Zar Peters I. und seiner Wirkungen auf.306 Die Darstellung Ferdinand Schneiders La cour de la Russie il y a cent ans 1725–1783 fußt ebenso auf den SIRIO-Editionen der englischen und französischen diplomatischen Vertreter in Russland. Aufgrund des langen Betrachtungszeitraums erfolgte die Auswertung in Bezug auf den Thronwechsel 1730 nicht nur unsystematisch, sondern durchaus lückenhaft. Zudem 301 Vgl. Wojdyslawska, Andrej Ivanovič Ostermann, sein Leben und Wirken, S. 77–91. 302 Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 11–64 und S. 161–203. 303 Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730. 304 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 116–118. Es gilt zudem anzumerken, dass die englischen, französischen und preußischen Relationen ausführlich kritisch besprochen werden, die später zitierten edierten sächsisch-polnischen Berichte jedoch keinerlei kritische Einordnung finden. 305 Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 269. 306 Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform. Fleischhacker war wie ihr Mann und Mentor, Hans Übersberger, vom Nationalsozialismus überzeugt. Trotz differenzierter politisch-historischer Betrachtungsweisen sind ihre Arbeiten mitunter durch ihr nationalsozialistisches Selbstverständnis geprägt, das auch eine starke Überhöhung Zar Peters des Großen bedingte, siehe Brigitte Mazohl-Wallnig: Fleischhacker, Hedwig, in: Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken, hg. von Ilse Korotin und Brigitta Keintzel, Wien, Köln, Weimar 2002, S. 179–181. Suppan, Wakounig, Hans Uebersberger (1877–1962), S. 135–164.
Forschungsstand
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werden die Berichte nicht hinreichend kontextualisiert und hinterfragt, stattdessen erfolgt lediglich eine zeitgenössisch typische Rekonstruktion der Ereignisse, indem die Aussagen der Gesandten zum Teil kommentarlos aufeinanderfolgend zitiert werden.307 Auch die auf den preußischen Gesandtschaftsberichten beruhende Arbeit Sommerfelds Axel von Mardefeld als Gesandter Friedrich Wilhelms I. am russischen Hofe (1728–1740) ging nur marginal auf den Thronwechsel 1730 ein.308 Der Historiker Protasov wies auf Grundlage der SIRIO-Berichte bereits darauf hin, dass die Gesandten mitunter Gerüchte in ihren Berichten aufgriffen und die Berichterstattung daher nicht immer verlässlich war.309 Auch wenn die Relationen kaiserlicher Gesandter an anderen Höfen für den in diesem Buch relevanten Zeitraum nicht ediert sind, fanden sie bereits partiell in der Forschung Beachtung, nicht jedoch für die Betrachtung des Thronwechsels 1730 in Russland. Die Korrespondenzen und Geheimkorrespondenzen Seckendorffs aus Berlin und Dresden an den Kaiserhof wurden vielfach ausgewertet.310 Dies trifft ebenso auf die Relationen des sächsischen Gesandten Joseph Anton Gabaleon Graf von Wackerbarth-Salmours (1685–1761)311 in Wien zu.312 Auch die Relationen Philipp Kinskys aus London an den Kaiserhof sind Grundlage für historische Darstellungen, wobei die Auswirkungen des russischen Thronwechsels 307 Vgl. Ferdinand Schneider: La cour de la Russie il y a cent ans 1725–1783. Extraits des dépêches des ambassadeurs anglais et français, Berlin 1858, S. 1–43. Auch Mediger geht zu unkritisch mit den Berichten Magnans um, siehe Walther Mediger: Moskaus Weg nach Europa. Der Aufstieg Russlands zum europäischen Machtstaat im Zeitalter Friedrichs des Großen, Braunschweig 1952, S. 92–94. 308 Vgl. Sommerfeld, Axel von Mardefeld als Gesandter Friedrich Wilhelms I. am russischen Hofe (1728– 1740), S. 25–29. 309 Vgl. G.A. Protasov: Dvorjanskie proekty 1730g., in: Istočnikovedžeskie raboty, Tambov 2, 1971, S. 61–102, hier S. 65–67. 310 Vgl. u.a. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 71–84. Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen. Philipp, August der Starke und die Pragmatische Sanktion, S. 98–106. 311 Joseph Anton Gabaleon Graf von Wackerbarth-Salmour (1685–1761) war sächsischer Gesandter, Oberhofmeister, Kabinettsminister und war vom 31. Juli 1723 (Instruktion) bis zum 4. Oktober 1727 (letzte Relation) als sächsischer Gesandter in Bayern tätig. Nach dem unerwarteten Tod Flemmings übernahm der wegen Privatsachen in Wien weilende Wackerbarth-Salmour die sächsische Gesandtschaft am Kaiserhof am 18. Mai 1728 (Beglaubigungsschreiben) bis zu seiner Abberufung am 9. August 1730. Anlässlich der Königswahl Augusts III. war er bevollmächtigter Minister in Warschau vom 6. April 1733 bis zum 17. Januar 1734. Siehe ausführlich: Judith Matzke, Wackerbarth-Salmour, Joseph Anton Gabaleon Graf von, http://saebi.isgv.de/biografie/Joseph_Anton_Gabaleon_von_Wackerbarth-Salmour_(1685-1761), 16.01.2019. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 330, S. 332, S. 339 und S. 741. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 374f. Zur sächsischen Gesandtschaft in Wien ausführlicher: Judith Matzke: Die sächsische Gesandtschaft in Wien in der Augustinischen Zeit. Politische und dynastische Beziehungen zwischen Wettinern und Habsburgern, in: Dresdner Hefte, 2005, S. 5–14. 312 Vgl. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 71–84.
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Einleitung
auch hier nur bedingt einbezogen wurden.313 Eine umfassende Analyse dieser in den Archiven vorhandenen Berichte stand demnach für den Thronwechsel 1730 bisher noch aus.
1.7 Aufbau der Arbeit Der Aufbau der Arbeit folgt der chronologischen Abfolge der Ereignisse des Thronwechsels 1730 am russischen Hof. Diese Vorgehensweise erlaubt die synchrone Analyse der verschiedenen Gesandtschaftsberichte und macht es möglich, diplomatische Netzwerke darzustellen und zu untersuchen. Innerhalb der Kapitel werden zuerst die Sichtweisen der in Moskau weilenden Diplomaten und im Anschluss die Reaktionen der verschiedenen europäischen Höfe analysiert. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Wahrnehmung der Erkrankung und des Todes Zar Peters II. Der polyzentrische und akteurbezogene Ansatz kann dabei diplomatische Netzwerke und Kommunikationsmuster der Diplomaten aufzeigen. Die Reaktionen der Monarchen Europas auf den Tod Peters II. liefern Erkenntnisse über mögliche antizipierte Auswirkungen auf die europäischen Bündnisse und die unterschiedliche Bedeutung Russlands für die einzelnen Höfe. Im dritten Kapitel stehen die Nachfolgedebatte, die Designation und die Beurteilung Annas als Thronfolgerin im Mittelpunkt. Warum konnte sie sich umgehend durchsetzen und wurde von den übrigen europäischen Höfen sofort anerkannt? Es ist zu klären, ob die weibliche Herrschaft Annas ein Aushandlungsprozess war, bei dem einzelne Legitimationselemente nach macht- und außenpolitischen Erfordernissen gewichtet wurden. Die Gesandtenberichte ermöglichen dabei Einblicke in zeitgenössische Vorstellungswelten über die Legitimation weiblicher Herrschaft. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der Beschränkung der Macht der Zarin. Was konnten die Diplomaten über die zu diesem Zeitpunkt noch geheimen Machtbeschränkungen in Erfahrung bringen? Die Gesandtschaftsberichte dienten lange als Beleg dafür, dass 1730 eine Konstitutionalisierung Russlands angestrebt worden wäre. Dies wurde mittlerweile widerlegt. Bei der Klärung, warum die diplomatischen Berichte nicht als Quelle für einen Konstitutionalisierungsprozess Russlands nach europäischen Vorbildern dienen können, sind abermals insbesondere die Beeinflussung der Berichterstattung durch europäische Bündniskonstellationen zu untersuchen. Im fünften Kapitel wird die Warnung Annas durch den russischen Adligen Jagužinskij, die machtbeschränkenden Konditionen nicht zu unterschreiben, thematisiert. Es wird der Frage nachgegangen, ob die Gesandtschaftsberichte die bisherigen, auf spärlicher Quellenlage getroffenen Erkenntnisse über die Warnung Jagužinskijs erweitern können. Die Versuche der Gesandten, Befürworter und Gegner der Machtbeschränkung zu benennen und aufkommende alternative Vorschläge zur Machtbeschränkung in Erfahrung zu bringen, liefern 313 Vgl. Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, insbesondere S. 178–185.
Aufbau der Arbeit
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Einblicke in das zeitgenössische Verständnis der Gesandten über den russländischen Adel. Zudem wird erarbeitet, warum diesen Ereignissen auf europäischer Ebene wenig Bedeutung beigemessen wurde. Das sechste Kapitel umfasst die Ankunft der Zarin in Moskau. Durch ihre nunmehr physische Anwesenheit am Hof war es ihr möglich, mit ihrer Umgebung in Interaktion zu treten. Wie interpretierten die Gesandten die ersten Handlungen Annas, und wie nahmen sie die politische Lage in Moskau wahr? Nutzte die Zarin erste Audienzen und ihren feierlichen Einzug, um in einer für ihre Macht kritischen Lage symbolisch zu kommunizieren? Wie und ob über diese Handlungen berichtet wurde und ob diese von der europäischen Fürstengemeinschaft wahrgenommen wurden, gibt mehr Aufschluss über die Interessen der einzelnen Akteure als über die Ereignisse selbst. Das siebte Kapitel thematisiert die Souveränitätserklärung der Zarin und das Scheitern der Machtbeschränkung. Die Analyse der Archivalien ermöglicht es, aufzuzeigen, dass die Gesandten ausführlichere Kenntnisse hatten, als es die Editionen suggerierten. Bei der Interpretation der sich widersprechenden Gesandtschaftsberichte gilt es, eigene Vorstellungen der Gesandten und deren Zugänge zu Informationen offenzulegen, um Spekulationen und Gerüchte von offiziellen Meldungen des russischen Hofes zu unterscheiden. Durch die Berücksichtigung der diplomatischen Netzwerke können die Abläufe der Souveränitätserklärung, die Anzahl der Bittsteller und die Frage nach Gegnerinnen und Gegnern neu bewertet werden. Die auf den edierten Gesandtschaftsberichten getroffene und in der Forschung bis heute allgemein verbreitete Aussage, dass die Garde ursächlich für die Wiedergewinnung der Macht gewesen sei, kann widerlegt werden. Abschließend lassen die Reaktionen der europäischen Monarchen auf die Souveränitätserklärung erkennen, welche Brisanz der Thronwechsel für die europäischen Monarchen hatte. Zudem zeigt die Verbreitung der Meldungen über dieses Ereignis in Europa, wie die Kommunikation in diplomatischen Netzwerken erfolgte.
2. Die Erkrankung und der Tod Zar Peters II. Die Berichterstattung der am Moskauer Hof anwesenden diplomatischen Vertreter über die Erkrankung Zar Peters II. bis zu dessen Tod steht im Fokus dieses Kapitels. Durch eine synchrone Betrachtung der Relationen der kaiserlichen, preußischen, sächsisch-polnischen, mecklenburgischen, französischen, englischen und der beiden holsteinischen diplomatischen Akteure in Moskau soll geklärt werden, ob und inwieweit sich deren Berichterstattung innerhalb dieser zwölf Tage unterscheidet. Dabei steht die Frage nach dem Zugang der diplomatischen Vertreter zu Informationen im Vordergrund.314 Diese Analyse der Ereignisse am Moskauer Hof anhand von Gesandtenberichten sechs verschiedener Höfe ist aufgrund der parallelen Überlieferung möglich. Dieses Kapitel leistet einen Beitrag zur Erforschung diplomatischer Kommunikationsmuster. Aus der vergleichenden Betrachtung aller abgesandten Briefe ergibt sich, dass alle diplomatischen Berichte nur an zwei festgelegten Posttagen in der Woche übermittelt werden konnten. Daraus folgt eine Vergleichbarkeit des Wissensstandes, da die Gesandten ihre Relationen am selben Tag versenden mussten. Dass es festgelegte Posttage gab, ist auch für andere Höfe zutreffend.315 Im Zeitraum von der Erkrankung bis zum Tod Zar Peters II., also vom 18. bis 30. Januar 1730, lagen lediglich vier Posttage. Dies waren der 19., 23., 26. und der 30. Januar 1730. Für den Fall, dass am 30. Januar 1730 kein Bericht verfasst wurde, wird der nächste Posttag, der 2. Februar 1730, mit in diese Betrachtung einbezogen. Die diplomatischen Vertreter waren zu einer regelmäßigen Berichterstattung an ihren Herrscher angehalten. Dies bedeutet aber nicht, dass sie an jedem Posttag auch tatsächlich Relationen versandten. Die Anzahl der Weisungen an die Gesandten war im gesamten Betrachtungszeitraum deutlich geringer als diejenige der Relationen. Die Anzahl der Berichte an die Herrscher und die abgesandten Weisungen an die diplomatischen Akteure zu Beginn des Betrachtungszeitraums steigen – im Vergleich zur Zeit davor – signifikant an und gehen anschließend wieder deutlich zurück. Dies liegt ursächlich am gesteigerten Informationsbedürfnis seit der Erkrankung Peters II. bis zur Souveränitätserklärung der Zarin Anna sowohl der europäischen Höfe als auch der in Moskau weilenden 314 Recke skizziert die Ereignisse für den Zeitraum nur in groben Zügen. Eine vergleichende Darstellung findet sehr begrenzt statt, da mehrheitlich allein die Archivalien des kaiserlichen Gesandten Wratislaw zitiert werden. Die Zusammenarbeit der Gesandten bzw. deren Zugang zu Informationen und die Übermittlung der Berichte an die jeweiligen Höfe werden nicht behandelt, siehe Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 15–19. Der Zugang zu Informationen und die Übermittlung der Kommunikation an die jeweiligen Höfe wurden ebenfalls in der auf Archivalien basierenden Arbeit des Historikers Sommerfeld über die Tätigkeit des preußischen Gesandten Axel von Mardefeld nicht beachtet. Zudem geht der Autor nur rudimentär auf den zu betrachtenden Zeitraum ein, siehe Sommerfeld, Axel von Mardefeld als Gesandter Friedrich Wilhelms I. am russischen Hofe (1728–1740), S. 25–27. 315 Vgl. Horn, The British Diplomatic Service, S. 231.
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Die Erkrankung und der Tod Zar Peters II.
diplomatischen Akteure. In der Regel sollten sowohl kaiserliche als auch sächsische Gesandte einmal pro Woche einen Bericht abstatten. In der Praxis wich diese Vorgabe nicht nur in Krisenzeiten durch eine erhöhte Beförderung durch Stafetten und Kuriere ab, sondern bei wenig ereignisreichen Zeiten wurde diese Vorgabe auch unterschritten. Die Wartezeiten auf Antwortschreiben der Herrscher an die Gesandten waren wegen der langen Übertragungswege beträchtlich.316 Des Weiteren wird gezeigt werden, wie sich die Nachrichten der Moskauer Ereignisse innerhalb Europas verbreiteten.317 Auch hier ist nach den Informationsquellen und den Kommunikationsstrukturen der europäischen Höfe zu fragen. Wurden die europäischen Höfe allein durch ihre Gesandten am Moskauer Hof über den Verlauf der dortigen Ereignisse informiert, oder wie und in welchem Maße kommunizierten die unterschiedlichen diplomatischen Akteure auch untereinander? Welche Reaktionen rief der Tod des Zaren an den anderen europäischen Höfen hervor, und was bedeutete dies für den Aussagewert der Berichterstattung? Welche Folgen befürchteten oder erhofften die Diplomaten und die gekrönten Häupter durch den unerwarteten Tod Peters II. in Moskau sowie für die politische Lage in Europa? Durch die Untersuchung der Korrespondenzen der Akteurinnen und Akteure am russischen Hof mit den Diplomaten anderer Höfe werden diplomatische Verflechtungen innerhalb Europas offengelegt.
2.1 Synchrone Betrachtungen europäischer Diplomaten am Moskauer Hof – Informationszugänge und -vermittlung in europäischen Diplomatennetzwerken « Dans ce moment Je viens d’apprendre que S. M. Cz.e est incomodée et que la Copulation ne se fera pas Dimanche prochain »,318 vermerkte am 19. Januar 1730 der sächsisch-polnische Gesandte Le Fort in seinem Postskriptum. Damit war er der einzige der für diese Arbeit relevanten diplomatischen Akteure in Moskau, der zu diesem Zeitpunkt im Zusammenhang mit der Verschiebung der Hochzeit des Zaren etwas über dessen Erkrankung in Erfahrung gebracht hatte. Der kaiserliche Gesandte Wratislaw und der preußische Gesandte Axel von Mardefeld berichteten zum gleichen Zeitpunkt zwar über Gespräche mit dem russischen Vizekanzler und Vizepräsidenten des Kollegiums für Auswärtige Angelegenheiten, Heinrich 316 Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 247 f. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 33. 317 Für die Betrachtung des Thronwechsels 1730 aus der Sicht verschiedener an europäischen Höfen weilenden englischen Diplomaten siehe Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 257–270. 318 Le Fort an König August II., Moskau, 19.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 17r.
Synchrone Betrachtungen europäischer Diplomaten am Moskauer Hof
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Johann Friedrich Ostermann, schienen aber keine Informationen über die Erkrankung des mit ihnen verbündeten Zar erhalten zu haben.319 Dies trifft ebenso auf die Briefe des holsteinischen Gesandten Bonde und auf die des französischen Vertreters Magnan zu, der den Rang eines Chargé d’Affaires innehatte.320 Magnan vermerkte stattdessen am 19. Januar, dass die Hochzeitsvorbereitungen schnell voranschritten und er damit rechne, dass diese Zeremonie nach alten Bräuchen des Landes stattfinden werde, und keine Ausländer dazu eingeladen werden sollten. Da die Dolgorukij durch diese bevorstehende Hochzeit am Hof ein Übergewicht an Macht erlangen würden, ging er davon aus, dass das Ansehen Ostermanns aufgrund der Konflikte mit den Dolgorukij gemindert würde. Daher schien eine Ersetzung dieses für den kaiserlichen Hof so wichtigen Garanten des gemeinsamen Bündnisses möglich.321 Diesen Ausführungen liegt die Annahme zugrunde, dass der russische Hof sich aus den unter Peter I. forcierten europäischen Angelegenheiten zurückziehen könnte, was den französischen Interessen in Europa sehr zweckdienlich gewesen wäre. Keine Relationen an diesem Posttag verfassten hingegen die folgenden Gesandten:322 der englische Generalkonsul Ward beziehungsweise sein Sekretär Rondeau, der mecklenburgische Gesandte J.C.D. Ostermann, der Bruder des bereits genannten Ostermanns, und der holsteinische Gesandte Tessin, der erst am 17. Dezember 1729 in Moskau angekommen war,323 um seinen Kollegen Bonde als holsteinischen Gesandten am Moskauer Hof abzulösen. Bei einer Gegenüberstellung der Berichte der Diplomaten vom 23. Januar 1730, also vier Tage nach dem Beginn der Erkrankung Peters II., ergibt sich eine ausgesprochen divergente Informationslage und daraus folgend eine unterschiedliche Einschätzung der Situation. Am 23. Januar schienen zumindest der preußische Gesandte und der neu in Moskau angekommene holsteinische Gesandte Tessin noch keine Informationen über eine Erkrankung erhalten zu haben, da sie ebenso an diesem Posttag keinen Bericht versandten. Der holsteinische Gesandte Bonde berichtete hingegen darüber, dass der Zar vermutlich an Pocken erkrankt, dies allerdings noch unklar sei.324 Ebenso vage berichtete der mecklenburgische Gesandte, 319 Dem Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten standen ein Präsident und ein Vizepräsident vor. Der Präsident dieses Kollegiums war gleichzeitig Kanzler; der Vizepräsident war gleichzeitig Vizekanzler. Von 1709 bis 1734 war Gavril Ivanovič Golovkin Kanzler, von 1725 bis 1740 hatte Heinrich Johann Friedrich Ostermann das Amt des Vizekanzlers inne, siehe Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 127 f. 320 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 19.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 16r–18r (teilweise chiffriert). Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 08.01.1730 a.St. [19.01.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung. 321 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 19.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 16r/v (chiffriert). 322 Da die Gesandten fast immer das Datum ihrer zuletzt versandten Relation nannten, kann als sicher gelten, dass sie keine Relationen schrieben. Ein Überlieferungsproblem kann mithin ausgeschlossen werden. 323 Vgl. ebd. 324 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 12.01.1730 a.St. [23.01.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung.
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Die Erkrankung und der Tod Zar Peters II.
dass er für den an den Pocken erkrankten Zaren bete.325 Auch der englische Generalkonsul Ward berief sich auf weitverbreitete Gerüchte, dass der Zar an den Pocken leide,326 während sein Sekretär Rondeau die Krankheit des Zaren bereits bestätigte und gegenüber Charles Townshend (1674–1738)327 meldete, dass sich daraus eine Verschiebung des Hochzeitstages des Zaren ergebe.328 Rondeau berichtete am selben Tag ausführlich darüber, dass er mit dem spanischen Gesandten Duque de Liria die Lage in Europa bezüglich des Ende 1729 geschlossenen Vertrages von Sevilla besprochen habe und sein Verhältnis zum spanischen Gesandten nun so gut sei wie früher de Lirias Verhältnis zum kaiserlichen Gesandten Wratislaw. Aufgrund der gemeinsamen Allianz von Sevilla galt es, den Zaren zu überzeugen, sich aus dem Bündnis mit dem Kaiser zu lösen, das den Interessen Spaniens, Englands und Frankreichs entgegenstehe.329 Einen von de Liria erhaltenen Brief, der die Vertrautheit zwischen den beiden seit dem Vertragsschluss von Sevilla belegt, sandte Rondeau nach England.330 Die ursprünglich anti-englische und anti-französische Politik de Lirias mit pro-kaiserlicher Ausrichtung kehrte sich mit dem Bündniswechsel 1729 ins Gegenteil.331 Die niedrige und wenig prestigeträchtige diplomatische Rangstufe Rondeaus als einfacher Sekretär ebenso wie diejenige Wards als Generalkonsul, der zudem als Kaufmann über keinerlei Erfahrung im diplomatischen Dienst vor seiner Versendung nach Moskau verfügte,332 konnte durch bündnispolitisch orientierte Informationsweiterleitung des spanischen Gesandten ausgeglichen werden. Während Konsuln der englischen Krone hauptsächlich wirtschaftliche Interessen zu vertreten hatten, war es weitgehend die Aufgabe der Gesandten, über politische Sachverhalte Bericht zu erstatten, auch wenn diese Aufgaben sich zum Teil überschnitten.333 Dass die englischen Interessen nur durch einen Generalkonsul und dessen Sekretär vertreten waren, zeigt, dass 325 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 12.01.1730 a.St. [23.01.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 259r/260v. 326 Vgl. Ward an Secretary of State Townshend, Moskau, 12.01.1730 a.St. [23.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 3r/4v. 327 Charles second Viscount Townshend (1674–1738) war ein englischer Politiker und Diplomat. 1709 übernahm er die englische Gesandtschaft in Den Haag. Er ging 1713 mit Dorothy Walpole, der Schwester seine Jugendfreundes Robert Walpole, seine zweite Ehe ein, siehe Linda Frey; Marsha Frey: Townshend, Charles, Second Viscount Townshend (1674–1738), in: Oxford Dictionary of National Biography. From the Earliest Times to the Year 2000, hg. von Henry Colin Gray Matthew und Brian Harrison, Oxford 2004 (Bd. 55). Dorothy starb 1726. Townshend war von 1714 bis 1716 Sekretär des Northern Department. Nach 1721 wurde er von Georg I. erneut zum Sekretär des Northern Department bestimmt. Durch die Rivalität mit seinem Schwager Robert Walpole trat Townshend im Mai 1730 zurück, siehe ebd. 328 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 12.01.1730 a.St. [23.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 4v–8v. 329 Vgl. ebd., fol. 4v–8v. 330 Vgl. De Liria an Rondeau, Moskau, 12.01.1730 a.St. [23.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 10r/v. 331 Vgl. Schop Soler, Die spanisch-russischen Beziehungen im 18. Jahrhundert, S. 49–51. 332 Vgl. Ruffmann, Die diplomatische Vertretung Großbritanniens am Zarenhof im 18. Jahrhundert, S. 407. Cross, By the Banks of the Neva, S. 53. 333 Vgl. Horn, The British Diplomatic Service, S. 238–242. Cross, By the Banks of the Neva, S. 50 f.
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die englische Krone bisher vor allem an ökonomischen Beziehungen zu Russland interessiert war. Die politische Macht Russlands unter Zar Peter II. innerhalb des europäischen Machtgefüges schätzten englische Entscheidungsträger hingegen als gering ein, wie dies ebenso die zeitgenössische englische politische Publizistik offenlegt.334 Auch Rondeau hatte 1728 nach einem Besuch in Kronstadt vom Niedergang der unter Zar Peter I. aufgebauten Flotte berichtet.335 Die diplomatischen Beziehungen zwischen Russland und England wurden nach dem Abbruch 1719 erst durch die Entsendung eines Generalkonsuls 1728 unter der Mitwirkung Ostermanns wieder aufgenommen.336 Allerdings wurden lediglich niederrangige Vertreter der englischen Krone nach Russland entsandt.337 Seit den verstärkten diplomatischen Beziehungen der petrinischen Zeit war die Bedeutung der verschiedenen Abstufungen der Gesandtenränge aufgrund der Reziprozität in der Diplomatie bekannt.338 Allerdings entwickelte sich ein gemeinsames Verständnis über die Rechte und Funktionen diplomatischer Ränge verstärkt erst in der Spätphase petrinischer Politik, nachdem es zuvor immer wieder zu diplomatischen Zwischenfällen gekommen war.339 Das damit einhergehende gemeinsame Verständnis zeremonieller Normen war durch Adaption und Austausch seit 1698 entstanden, nicht jedoch durch einen einmaligen einschneidenden Erlass des Zaren.340 Dass die Rangstufen341 für die Berichterstattung aufgrund des unterschiedlichen Zugangs zum Hof und somit zu Informationen relevant waren, ist in der Forschung bekannt.342 Eine Zusammenarbeit von verbündeten bzw. gleiche Interessen vertretenden Diplomaten lässt sich am Moskauer Hof immer wieder feststellen und erscheint als keineswegs außergewöhnlich.
334 Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 264–368. Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, S. 6 f. Mediger, Moskaus Weg nach Europa, S. 63. Ausführlicher zu den diplomatischen Vertretungen Großbritanniens am Zarenhof im 18. Jahrhundert und deren Vertreter siehe Ruffmann, Die diplomatische Vertretung Großbritanniens am Zarenhof im 18. Jahrhundert, S. 405–421. Romaniello, Humoral Bodies in Cold Climates, S. 30–34. Cross, By the Banks of the Neva, S. 53. 335 Vgl. ebd., S. 176. 336 Vgl. Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 280. Mediger, Moskaus Weg nach Europa, S. 65. Horn, Great Britain and Europe in the Eighteenth Century, S. 207. 337 Vgl. Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, S. 179. 338 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 155 f. 339 Vgl. Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 96–111 und 208–215. 340 Vgl. ebd., S. 208–215. 341 Zu den unterschiedlichen Rangstufen der einzelnen diplomatischen Akteure siehe Krauske, Beiträge zur Geschichte der ständigen Diplomatie vom 15. Jahrhundert bis zu den Beschlüssen von 1815 und 1818, S. 165–186. Krusche, Die Entstehung und Entwicklung der ständigen Vertretung Brandenburg-Preußens am Zarenhofe bis zum Eintritt Rußlands in die Reihe der europäischen Großmächte, S. 38–42. Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 24 f. Falcke, Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgisch-preußischen Hof im 17. und 18. Jahrhundert, S. 33 f. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 116–143. 342 Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 116 f.
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Bereits am 19. Januar berichtete der sächsisch-polnische Gesandte Le Fort von einer Tafel, die der französische Chargé d’Affaires für den Duque de Liria und den englischen Generalkonsul Ward und den Sekretär Rondeau gegeben habe.343 Solche gemeinsame Festessen dienten dem gemeinsamen Austausch und der Pflege der persönlichen Beziehungen.344 Le Fort erhielt durch eine Unterhaltung seiner Ehefrau mit dem spanischen Gesandten de Liria am 17. Januar 1730 die Informationen, wie dieser über die möglichen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Wiener und dem Madrider Hof auf der italienischen Halbinsel dachte und über welche Informationen er verfügte. Le Forts Gattin agierte mit ihrem Ehemann gemeinsam, um Informationen zu gewinnen. Le Fort unterhielt sowohl zu dem spanischen als auch zu dem kaiserlichen Gesandten gute Beziehungen. Mit Ausnahme des kaiserlichen Gesandten Wratislaw tauschte sich jeder ausländische Vertreter mit de Liria aus.345 Ferner besprachen sich der preußische Gesandte Mardefeld und der kaiserliche Gesandte Wratislaw am 23. Januar über den Vertrag von Sevilla, den Mardefeld in Abschrift erhalten hatte und seinem Kollegen zu lesen gab.346 Diese Beispiele zeigen, dass die Zusammenarbeit diplomatischer Akteure unter anderem durch persönliche Sympathie und den Wechsel von Allianzen bedingt sein konnte, die mitunter einem stetigen Wandel unterlagen.347 Während die bisher betrachteten Akteure sehr unbestimmte Vermutungen und daher eher spekulative Berichte über den Krankheitsverlauf des Zaren übermittelten, waren die zeitgleich am 23. Januar verfassten Berichte Magnans, Le Forts und Wratislaws bereits etwas aussagekräftiger. Indessen überlieferte Le Fort in seinem ersten Brief an den sächsischen Kurfürsten und polnischen König lediglich die ungenauen Angaben nach Dresden, dass gesagt werde, der Zar liege aufgrund „un rhume et rafroidissement“ seit fünf bis sechs Tagen im Bett.348 Seine zweite, gänzlich chiffrierte Berichterstattung ebenfalls an den König wich von seiner ersten Darstellung deutlich ab.349 Auch wenn beide Schreiben den gleichen Adressa343 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 19.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 16v. 344 Vgl. Windler, Diplomatie als Erfahrung fremder politischer Kulturen. Gesandte von Monarchen in den eidgenössischen Orten, S. 24 f. 345 Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 19.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 18r–21r (chiffriert). 346 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 23.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 41r. 347 Ausführlich zu den kaiserlichen Gesandten am Moskauer Hof 1720 bis 1730 Steppan, Akteure am fremden Hof, insb. S. 395–459. Das Zusammenwirken des preußischen Gesandten Axel von Mardefeld und seinem vorher in Moskau tätigen Onkel mit anderen dort anwesenden Gesandten lässt sich ebenso von 1722 bis 1730 nachverfolgen. Siehe dazu vertiefend die auf Archivalien fußende Arbeit Sommerfeld, Axel von Mardefeld als Gesandter Friedrich Wilhelms I. am russischen Hofe (1728– 1740), S. 4–29. In Bezug auf die Thronbesteigung Zarin Elisabeths erfolgte wiederum die Zusammenarbeit Mardefelds mit dem französischen Gesandten am Moskauer Hof gegen die dortigen Gesandten Englands und Österreichs, siehe Liechtenhan, La Russie entre en Europe, S. 23. 348 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 23.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 22r/v. 349 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 23.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 24r/25v (chiffriert).
Synchrone Betrachtungen europäischer Diplomaten am Moskauer Hof
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ten hatten, ist davon auszugehen, dass sie von unterschiedlichen Ministern des Königs empfangen wurden, denn der parallel, voneinander inhaltlich divergierende Schriftwechsel Le Forts hielt über den Betrachtungszeitraum an. In diesem zweiten vom gleichen Tag datierten Brief Le Forts berichtete dieser nun ebenso wie der kaiserliche Gesandte und der französische Chargé d’Affaires detailliert über den Krankheitsverlauf des jungen Zaren. Magnan, der am 19. Januar ausführlich über dessen geplante Hochzeit berichtete,350 informierte Versailles am 23. Januar, dass es zur Verschiebung dieser Hochzeit kommen müsse, bis der Zar von seiner fiebrigen Erkältung genesen sei.351 Er präzisierte die Lage Peters II. in seinem gänzlich chiffrierten Brief wie folgt: « L’indisposition de ce P[rin]ce est un gros rhume accompagné de fievre qu’il a gagné par trop peu de menagement et de regime de vie, et pour etre sorty par un extreme froid qu’il a fait icy quelques jours de la semaine d[erni]ere. Les Medecins ont eté vendredi et samedi passez dans l’apprehension que ce ne soit la petite verole, parce que cette maladie regne actuellement icy et que plusieurs Personnes de la famille de Dolhoruki en sont principalement attaquées; Mais on pretend qu’il ny en a jusqu’à present a aucun simptome dans la maladie du Czar, qui a ce qu’assurent les Medecins, se trouve depuis hier beaucoup mieux, ce P[rin]ce ayant meme commencé ce matin a se promener dans sa Chambre. »352
Den Verdacht einer Pockenerkrankung äußerte Magnan bereits, nahm aber unter Berufung auf die behandelnden Ärzte an, dass der Zar nicht an den Pocken leide und sich bereits auf dem Wege der Besserung befinde. Dass Magnan mit dem Rang eines Chargé d’Affaires zu diesem Zeitpunkt an streng geheim gehaltene Informationen kam oder auf direktem Wege über Kontakte zu den Ärzten am Moskauer Hof verfügte, erscheint unmöglich. Die Informationsweitergabe erfolgte mit großer Wahrscheinlichkeit durch den gut informierten dänischen Diplomaten Westphalen.353 Die Bestürzung über die Verschiebung der Vermählung des Zaren mit Katharina Dolgorukaja und die Gefahren der Krankheit thematisierte allerdings bis zu diesem Zeitpunkt niemand so ausführlich und detailliert wie der sächsisch-polnische und der kaiserliche Gesandte. Wratislaw schrieb: „Die Doloruky sollen billig dahierüber [die Verschiebung der Hochzeit und des kritischen Gesundheitszustandes des Zaren] sehr bestürtzet seyn, da bevorab sie vor dermaßen auf das beylager des herrn getrungen hatten, das ohne den Zufall würcklich gestern vor sich hette 350 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 19.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 16r–18r (teilweise chiffriert). 351 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 23.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 20r (chiffriert). 352 Ebd., fol. 20r/21r (chiffriert). 353 Der dänische Gesandte Westphalen arbeitete eng mit Magnan zusammen, wie die Ausführungen Magnans vom 26. Februar 1730 belegen. Magnan konnte seine Berichterstattung auf dessen Informationsweitergabe stützen, siehe Magnan an Chauvelin, Moskau, 26.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 23r–28r (chiffriert).
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gehen sollen: Der Brautvatter weichet so zu sagen gar nicht von dem herrn, der favorit aber, wie ich höre, bleibet auß ursache, daß Er, oder seine braut die blateren noch nicht gehabt, hinweg.“354
Die beschriebene Bestürzung der Dolgorukij ist auf den Krankheitsverlauf Peters II. zurückzuführen, der sich innerhalb kurzer Zeit verschlechterte und dessen Hochzeit mit Katharina Dolgorukaja gefährdete. Le Fort äußerte sich ausführlich in einem zweiten chiffrierten Brief zur Lage der Dolgorukij wie folgt: « Le mariage du Czaar paroit être differé, s’il est vray ce, qui se debite, qu’il a la petite verole. Ce qui est indisputable c’est que la famille, qui est en vogue, paroit fort consternée, un sang échauffé, un esprit chagrin ne vaut rien fait la perte ce jeune Prince, on verra icy beau jeu. »355
Über die genannten Auseinandersetzungen am Moskauer Hof zwischen den russischen Würdenträgern spekulierte Le Fort weiter, dass der Feldmarschall Golicyn nur nach Moskau zurückkomme, um das Gegengewicht gegen die Dolgorukij zu vergrößern. Ebenso würden nicht näher genannte, in großem Ansehen stehende weibliche Mitglieder der Dolgorukij versuchen, Peter Pavlovič Šafirov wieder an den Hof zurückzuholen.356 Šafirov war von 1709 bis 1723 Vizekanzler der Auswärtigen Angelegenheiten gewesen357 und ein entscheidender Rivale Ostermanns. Andere Lesarten der Krankheit gebe es jedoch auch, wie Le Fort weiter meldete: « Il y a d’autres gens qui pensent differement au sujet de maladie du Czaar et pretendant que ce n’est qu’une feinte pour tirer á la longue avec Son mariage. L’on m’assure que dans son particulier il est de bonne humeur mais que si tôt, que quelqu’un de la famille Dolhorouky se fait annoncer, il se jette au lit pour saie le malade ; Ostermann ne le quite presque pas une lettre du Feldmarechal de Gallitzin qu’Ostermann luy a remis doit donner lieu à cette feinte et qu’il a ordre de passer vîte ici. »358
Alle diese Ausführungen belegen, wie ungewiss die Nachrichten über die tatsächliche Lage Peters II. waren. Le Fort konnte im Postskriptum des Briefes bereits konkretisieren, dass nun feststehe, dass der Zar seit vorgestern an den Pocken erkrankt sei, es aber unter Androhung
354 Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 23.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 40v–38r (chiffriert). 355 Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 23.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 24r/v. 356 Vgl. ebd., fol. 24v–25r (chiffriert). 357 Vgl. Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 128. 358 Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 23.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 25r/v.
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von Strafen verboten sei, darüber zu sprechen.359 Auch der kaiserliche Gesandte Wratislaw schrieb, dass es „noch iezo sehr geheim gehalten [werde], was dem herrn fehle.“360 Dass Wratislaw sich hingegen auf einen verlässlichen, aber anonym bleibenden Informanten berufen konnte,361 zeigt seine guten Verbindungen zu russischen Adligen. Er hoffte ebenso wie seine Kollegen auf einen guten Ausgang der Erkrankung, da die Auswirkungen eines möglichen Todes des Zaren beträchtlich und zweifelsohne kompliziert seien würden: Prinzessin Elisabeth könnte sich am Moskauer Hof mit ihren Unterstützern, zu denen auch Dmitrij Michaj lovič Golicyn gehöre, der derzeitigen Übermacht der Dolgorukij entgegenstellen. Dass dessen Bruder, der Feldmarschall Michail Michajlovič Golicyn, aus der Ukraine nach Moskau zurückgerufen worden sei, führte auch Wratislaw auf diese Problematik zurück.362 Damit antizipierten Wratislaw und Le Fort bereits eine mögliche Auseinandersetzung um die Thronfolge zwischen den beiden damals mächtigsten Familien am Hof Peters II.363 Aus diesen Ausführungen bis zum 23. Januar 1730 zeigt sich mit aller Deutlichkeit der unterschiedliche Informationsstand über den am Moskauer Hof geheim gehaltenen Krankheitsverlauf des erst 14-jährigen Zaren. Bis zu diesem Tag war es möglich, dass die diplomatischen Akteure entweder keinerlei Information darüber vernommen hatten oder aber detaillierte Krankheitsbeschreibungen liefern konnten und so über eine mögliche Nachfolge, für den Fall eines tödlichen Verlaufes, diskutierten. Dass alle bis zu diesem Zeitpunkt informierten Akteure außer J.C.D. Ostermann zumeist die Krankheit des Zaren im Zusammenhang mit der Verschiebung seiner Hochzeit thematisierten, macht deutlich, dass der Tod Peters II. nur schwer vorstellbar schien. Die Abschätzung möglicher Folgen und die Genauigkeit der Beschreibung des Krankheitsverlaufs liefern bereits erste Hinweise für eine mannigfaltige Be359 Vgl. ebd., fol. 25v. 360 Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 23.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 40r. 361 Vgl. ebd. 362 Vgl. ebd., fol. 38r/v (chiffriert). 363 Die Aussage Wojdyslawska, dass die „Kandidatur der jungen und leichtsinnigen Elisabeth […] überhaupt nicht in Erwägung gezogen“ wurde, ist aus zwei Gründen als falsch zurückzuweisen. Erstens zog der kaiserliche Gesandte Elisabeth ganz explizit als mögliche Kandidatin der Thronfolge in Erwägung, wie der kaiserliche Bericht vom 23. Januar 1730 belegt. Da Wojdyslawskas Arbeit auf ebendiesen Archivalien basiert, erscheint ihre Aussage umso verwunderlicher. Zweitens beruft sich Wojdyslawska in ihrer Fußnote auf einen Bericht Le Forts vom 31. Januar 1730, in dem folgende Stelle des Briefes in ihrem Sinne zu interpretieren wäre: „Cette nomination unanime, Sire, a une très grande approbation“, siehe A.A. Polovcov (Hg.): SIRIO, Bd. 5 1870, S. 343. In klarem Widerspruch dazu steht jedoch, dass sich in der Edition ein Brief Le Forts vom 26. Januar 1730 findet, der diesem gänzlich widerspricht: „Il semble aussi, que les parties de la succession prématurent leur plan en cas d’accident, dont nous en jugeons cinq: la Grand’mère, la princesse Elisabeth, la princesse promise, le fils du duc de Holstein pro forma et la parti, qui n’est pas le moindre, incline à l’imitation de la Suède par une élection.“ Siehe dazu Polovcov, SIRIO, Bd. 5, S. 341. Ebenso thematisierte der kaiserliche Gesandte Wratislaw am 26. Januar 1730 Elisabeth als mögliche Thronfolgerin. Der von Wratislaw ebenso erwähnte Karl Peter Ulrich findet ebenso keinerlei Erwähnung bei Wojdyslawska, siehe Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 44r–42v (chiffriert).
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wertung der sich ankündigenden Ereignisse am Moskauer Hof – welche verschieden relevant für die europäischen Mächte waren. Die Verlässlichkeit der an die Höfe übermittelten Informationen divergierte aufgrund des Informationszugangs je nach Akteur. Erst am 26. Januar 1730, also am neunten Tag der Erkrankung des Zaren und vier Tage vor seinem unerwarteten Tod, verdichteten sich die Informationen. Nun berichten alle Diplomaten darüber. Die Intensität und die daraus abzuleitenden Folgen unterschieden sich abermals deutlich, was bereits am Umfang der Berichte von zwei bis zu acht Seiten sichtbar wird.364 Ob sich die Quantität und Qualität der Berichterstattung aber allein aus dem unterschiedlichen Zugang zu Informationsquellen ableiten lassen oder darin begründet liegen, dass die Krankheit als wenig relevant oder gefährlich eingestuft wurde, muss im Folgenden ermittelt werden. Der holsteinische Gesandte Tessin und der preußische Gesandte Mardefeld, die bisher noch keinerlei Informationen an ihre Höfe gesandt hatten, berichteten ab dem 26. Januar ausführlich. Tessin meldete nach Kiel, dass es seit dem 19. Januar lediglich Gerüchte über eine Pockenerkrankung gegeben habe. Zudem betonte er die Geheimhaltung des Zustandes des Zaren; insbesondere russischen Adligen sei es gar verboten gewesen, darüber Auskunft zu geben. Ostermann verweile bis zur Genesung Peters II. an dessen Bett. Allerdings sei es dem Zaren vor zwei Tagen so schlecht ergangen, dass die Dolgorukij auf eine Trauung am Krankenbett drängten, was der Zar abgelehnt habe: Ziel der Familie Dolgorukij sei es, durch die Vollziehung dieses Aktes Katharina Dolgorukaja die Thronfolge zu sichern.365 Die plötzliche Relevanz des Themas für Tessin wird durch die Adressierung des ersten Briefes an den holsteinischen Herzog und einem zweiten an diesem Tag versandten Brief an den holsteinischen Geheimratspräsidenten Andreas Ernst von Stambke (1670–1739)366 deutlich, den er ausführlich über den bisherigen neuntägigen Krankheitsverlauf unterrichtete. Ergänzend verwies Tessin darauf, dass er nicht mit Ostermann habe sprechen können, da dieser am Bett des Zaren weile und er von ihm erst an diesem Tag Informationen erhalten habe. Der Zar sei
364 Der Umfang der Relationen aller Gesandten vom 26. Februar 1730 ist wie folgt: Wratislaw acht Blatt, Le Fort fünf und zwei Blatt, J.C.D. Ostermann drei Blatt, Ward/Rondeau drei Blatt, Mardefeld drei Blatt, Tessin drei Blatt, Bonde zwei Blatt, Magnan zwei Blatt. 365 Vgl. Tessin an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 15.01./26.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (teilweise chiffriert). 366 Andreas Ernst Baron von Stambke (1670–1739) war in Braunschweig geboren und stand in hannoverischen Diensten, bis er auf Empfehlung des Barons von Görtz in holsteinische Dienste trat. Von 1710 bis 1713 war er Geheimer Kammersekretär. Nachdem er 1719/20 als außerordentlicher Gesandter an den russischen Hof geschickt wurde, verblieb er bis auf kurze Unterbrechungen dort bis August 1729. Zarin Katharina I. erhob ihn 1721 in den russischen Freiherrenstand, und 1725 bekam er den Alexander-Nevskij-Orden verliehen. Er wurde 1724 zum Hofkanzler ernannt und 1727 zum Geheimen Rat und zum Mitglied des Geheimen Regierungs-Conseils. Durch den Sturz des Grafen von Bassewitz geriet er in Bedrängnis und fiel 1733 endgültig in Ungnade. Nach seiner Verhaftung 1735 verblieb er bis zu seinem Tod im Gefängnis, siehe Joachim Stambke: Stambke, Andreas Ernst, in: Schleswig-holsteinisches biographisches Lexikon, hg. von Olaf Klose und Eva Rudolph, Neumünster 1974, S. 252 f.
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nun außer Gefahr, resümierte Tessin abschließend.367 Bonde hingegen erwähnte in seinem Bericht gleichen Datums den Zustand des Zaren mit keinem Wort.368 Die ersten Berichte des preußischen Gesandten Mardefeld wirkten ebenfalls wenig beunruhigt: „Der Rußische Kayser hat die Kinderblattern. Selbige aber so häuffig und gut ausgeschlagen, daß Ihro Mth. völlig außer Gefahr sind, und des Nachts ruhig schlaffen.“369
Allein ein darauffolgender chiffrierter Nachsatz lässt eine mögliche Brisanz erkennen: Die Familie Dolgorukij habe in Anbetracht, dass der Zar stürbe, auf den geschlechtlichen Vollzug der Ehe mit Katharina Dolgorukaja gedrungen. Somit könne sie aufgrund der Annahme einer Schwangerschaft auf den Zarenthron folgen. Ostermann habe sich diesem Vorhaben ebenso wie der Zar widersetzt. Sich auf eine geheime Nachricht berufend, führte Mardefeld aus, dass Prinzessin Elisabeth oder die verwitwete Herzogin von Kurland die Nachfolge Peters II. antreten könnten. Während Anna beliebter sei, werde trotzdem Elisabeth favorisiert, da von ihr noch Nachkommen zu erwarten seien.370 Dies ist der erste Hinweis auf eine potenzielle Nachfolge Annas, welche zu diesem Zeitpunkt ausschließlich der preußische Gesandte äußerte. Da sich Mardefeld zur Unterstützung seines als Gesandten tätigen Onkels abgesehen von einer kurzen Unterbrechung bereits seit November 1723 am russischen Hof befand und sie sich beide wegen der Kurländischen Frage mit einer möglichen Vermählung Annas befassten,371 musste ihm Anna bekannt sein. Die Behauptung in der Historiografie, dass Anna in diplomatischen Kreisen unbekannt gewesen sei,372 ist demnach nicht haltbar. Die Äußerungen über mögliche Nachfolgerinnen scheinen damit zusammenzuhängen, dass der Gesundheitszustand des Zaren sich zwischenzeitlich deutlich verschlechtert hatte, wie alle Gesandten übereinstimmend berichteten. In diesem Moment sei der Moskauer Hof über mögliche Folgen sehr bestürzt gewesen, wie der mecklenburgische Gesandte von seiner dort weilenden Herzogin, Katharina von Mecklenburg, der Nichte Peters I. und Schwester Annas, erfuhr. Auch diese hoffe auf Besserung und sei zwischenzeitlich höchst besorgt.373 Diese Berichterstattung J.C.D. Ostermanns ist inhaltlich 367 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 15.01./26.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 368 Vgl. Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 15.01.1730 a.St. [26.01.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung. 369 Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 26.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 14r. 370 Vgl. ebd., 14v (chiffriert). 371 Vgl. Krusche, Die Entstehung und Entwicklung der ständigen Vertretung Brandenburg-Preußens am Zarenhofe bis zum Eintritt Rußlands in die Reihe der europäischen Großmächte, S. 31–33. Sommerfeld, Axel von Mardefeld als Gesandter Friedrich Wilhelms I. am russischen Hofe (1728–1740), S. 4–7. Strohm, Die kurländische Frage (1700–1763), S. 121. 372 Vgl. Anisimov, Rossija bez Petra, S. 201. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 50. 373 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 15.01.1730 a.St. [26.01.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 262v/263r.
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im Vergleich mit zeitgleichen Äußerungen seiner Kollegen ausgesprochen deutungsoffen und kurz. Besonders aussagekräftig ist aber, dass der mecklenburgische Gesandte mit Katharina von Mecklenburg über diesen Sachverhalt kommunizierte und sie als seine Herzogin betitelte. Als Angehörige des Zarenhofs verfügte Katharina von Mecklenburg über die Möglichkeit, als außenpolitische Akteurin zu wirken, indem sie Informationen des russischen Hofs vermitteln oder ebendiese verwehren konnte. Somit verfügte J.C.D. Ostermann durch Verbindungen zur Herrscherfamilie über einen exklusiven Zugang zu Informationen.374 Dass sein Bruder in dieser Situation einer der engsten Vertrauten des erkranken Zaren war und auch Katharina von Mecklenburg dem Herrscherhaus angehörte, schien sich nicht auf seinen Informationsstand auszuwirken. Zumindest lässt seine Korrespondenz mit dem Herzog von Mecklenburg dies bisher nicht erkennen. Dies ist ein neuer Befund, der sich aus den untersuchten Quellen ergibt. Im Verlauf der Arbeit wird das Spannungsfeld, in dem sich der mecklenburgische Gesandte bewegte, immer wieder zu thematisieren sein: Sein Bruder galt als Garant des kaiserlichen und preußischen Bündnisses mit Russland und somit als wichtiger Vertrauter des Wiener Hofs in Russland, während er selbst dem Herzog von Mecklenburg-Schwerin diente, dessen Verhältnis zum Kaiser seit vielen Jahren als zerrüttet galt375 – ebenso wie die Ehe Karl Leopolds mit der zur Zarenfamilie gehörenden Katharina von Mecklenburg, die deswegen 1722 aus Danzig nach Russland zurückgekehrt war.376 Aus der Korrespondenz mit ihrer Mutter geht hervor, dass ihr ihre Rückkehr samt Tochter durch Zar Peter I. erlaubt worden war.377 J.C.D. Ostermann war zudem der Hauslehrer Katharinas, Annas und Praskov’jas gewesen.378 Dass sich daraus ein Loyalitätskonflikt für den mecklenburgischen Gesandten ergab, wird erst im weiteren Verlauf der Betrachtung der Quellen offensichtlich werden. 374 Diese Ausführungen stützen die These, dass Frauen mannigfaltig als außenpolitische Akteurinnen in Erscheinung treten konnten. Zu deren Möglichkeiten und Beschränkungen als außenpolitische Akteurinnen ausführlicher siehe Bastian, Dade, Ott, Weibliche Diplomatie?, S. 101–114. Keller, Frauen – Hof – Diplomatie, S. 34–37. Schedewie, Die Bühne Europas, S. 19–22. 375 Vgl. Arndt, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit, S. 433–477. Westphal, Der kaiserliche Reichshofrat als protestantisches ‚Scheidungsgericht‘, S. 45–54. 376 Vgl. Kurukin, Anna Ioannovna, S. 29. Wilhelm Raabe: Abriss d. mecklenburg. Geschichte von d. ältesten bis auf d. neueste Zeit u. Staatskunde beider Mecklenburg. Gänzl. umgearb. u. bis zur Gegenwart verb. u. vervollst. von Gustav Quade, Wismar 1896, S. 387 f. Hughes, The Romanovs, S. 87. Igor‘ Vladimirovič Kurukin: Anna Leopol‘dovna, Moskva 2012, S. 17 f. Dass Karl Leopold sich mit seiner Ehefrau und seiner Tochter nach Moskau begeben hätte und dort bis zu seinem Lebensende verblieben wäre, wie Roll behauptet, ist falsch. Siehe dazu Roll, Dynastie und dynastische Politik im Zarenreich, S. 88 f. 377 Vgl. Graff, Die zweite Ehe des Herzogs Karl Leopold, S. 301–303. Kurukin, Anna Leopol‘dovna, S. 17 f. 378 Vgl. Korzun, Heinrich von Huyssen (1666–1739), S. 31–33. Wagner, Ein Deutscher am Zarenhof, S. 31. Anisimov, Frauen, S. 81. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 27 f. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 81. Valentina Grigorjan: Die Romanows und die Mecklenburger Fürsten. Verwandtschaftliche Verflechtungen und Schicksale, Schwerin 2007, S. 12. Diese Darstellung ist eine der wenigen eigenständigen Abhandlungen über Katharina Ivanovna, jedoch aus eher populärwissenschaftlicher Perspektive, auf Grundlage alter Literatur, ohne neue Quellen zu erschließen.
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Bis hierhin deckte sich die Berichterstattung des englischen Generalkonsuls Ward mit den kurzen inhaltlichen Ausführungen Ostermanns.379 Das chiffrierte Postskriptum von Wards Brief überlieferte auch die Informationen Rondeaus, dass im Falle eines Todes des Zaren die Familie Dolgorukij alle Hoffnungen der holsteinischen Partei auf den russischen Thron zunichte machen würden und diese die Inthronisierung Katharina Dolgorukajas anstrebten.380 Rondeau bevorzugte die Machtposition der Dolgorukij, da er von ihnen erhoffte, sie würden sich aus europäischen Konflikten heraushalten, während ein holsteinischer Thronfolger die Konflikte im Ostseeraum wegen der Rückgewinnung Schleswigs neu anfachen könnte.381 Die Nachfolgeregelungen beschäftigten auch den kaiserlichen Gesandten.382 Der Brautvater Aleksej Dolgorukij habe eigens seinen Bruder Vasilij Vladimirovič Dolgorukij zu Wratislaw geschickt, um dem kaiserlichen Gesandten von der Besserung des Zustandes des Zaren zu berichten und ihm zu versichern, dass fähige Ärzte Peter II. behandelten.383 Es ist anzunehmen, dass sich Vasilij Vladimirovič Dolgorukij und der kaiserliche Gesandte Wratislaw seit ihrer Gesandtentätigkeit in Polen kannten. Wratislaw weilte als kaiserlicher Gesandter zwischen 1724 und 1728 in Polen und war – letztendlich vergeblich – um ein Bündnis zwischen Kaiser Karl VI. und König August II. bemüht.384 Die Nachricht über die Besserung des Gesundheitszustandes habe Wratislaw nicht nur von Vasilij Vladimirovič Dolgorukij erhalten, sondern ebenso von Heinrich Ostermann.385 Diese beiden Personen unterstrichen somit die Verlässlichkeit der Information. Zudem versicherte Vasilij Vladimirovič Dolgorukij seine volle Ergebenheit gegenüber dem Kaiser. Zugleich versuchte er eine Positionierung zu umgehen, wie er eine potenzielle Nachfolge Prinzessin Elisabeths oder des jungen Prinzen von Holsteins, Karl Peter Ulrichs, und die Ambitionen der Familie Dolgorukij auf den Thron bewerte.386 Dass die Dolgorukij Katharina Dolgorukaja durch testamentarische Verfügung die Thronfolge zu sichern suchten, verneinte Ostermann strikt. Dies könne jedoch nicht gegenstandslos sein, so Wratislaws Mutmaßungen. Der kaiserliche Gesandte vermied ebenso eine genaue Positionierung in diesen heiklen Fragen, um sich alle Handlungsspielräume offen
379 Vgl. Ward/Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 15.01.1730 a.St. [26.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 11r/v. 380 Vgl. ebd., fol. 11v/12r (chiffriert). 381 Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 59 f. 382 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 44r–42v (chiffriert). 383 Vgl. ebd., fol. 44r. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 151-11, fol. 255r/v. 384 Vgl. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 75. Philipp, August der Starke und die Pragmatische Sanktion, S. 28–87. 385 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 44r. 386 Vgl. ebd., fol. 44r–42v (chiffriert). Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 3r/4r. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 151-11, fol. 255r/v.
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zu lassen.387 Dass Wratislaw trotz guter Kontakte zu den wichtigsten Adligen am russischen Hof hoffte, dass diese Erörterungen der Thronfolge, die er aufgrund deren Brisanz chiffriert nach Wien übermittelte, niemals eintreffen mögen, zeigen seine den Brief beschließenden Gedanken: „Gott verhüte den fall des Monarchen, sonst von einem unbändig und denen frembden sehr unholten Volck große unordnungen zu besorgen seyn würden.“388
Mit einem möglichen Thronwechsel verband er demnach mögliche Veränderungen innerhalb des Hofstaats, die nicht unbedingt zum Vorteil des Kaisers sein würden. Aus den Ausführungen werden die Informationen des gut am russischen Hof vernetzten kaiserlichen Gesandten abermals deutlich, die nicht nur auf seinem hohen diplomatischen Rang als Vertreter des Kaisers beruhten, sondern auch auf guten persönlichen Kontakten zum russischen Hofstaat, auch wenn er die Dolgorukij negativ beurteilte. Der Kaiser missbilligte nicht nur deren Einfluss auf den Zaren, sondern versuchte auch die angedachte Hochzeit mit Katharina Dolgorukaja seit deren Bekanntwerden zu verhindern, um seinen Neffen mit einer europäischen Prinzessin vermählen zu können.389 Die kaiserlichen Vertreter nahmen am russischen Hof als Repräsentanten des Kaisers, der der Onkel des jungen Zaren war, und des 1726 geschlossenen Bündnisses, eine bedeutende Stellung ein.390 Wratislaw wurde als so bedeutend für den russischen Hof erachtet, dass er sowohl durch die am Hof Peters II. mächtige Familie Dolgorukij persönlich informiert wurde als auch durch Ostermann. Im Gegensatz zu Wratislaw betonte der französische Chargé d’Affaires Magnan, dass die Geheimhaltung des Zustandes des Zaren nicht nur seine Berichterstattung vom 23. Januar eingeschränkt hatte, sondern sie noch immer mitunter unverlässlich mache: « La maladie dont le Czar est attaqué est la petite verolle mais l’extreme soin qu’ont pris les ministres et les medecins de ce Prince d’en cacher la connaissance jusques apres le depart du dernier ord[inai]re ne m’a pas permis sur de simples soupçons de vous en informer par ma depeche du 23., que j’ay même lieu decrire qui aura onte retenue a la Poste. Il m’est impossible de vous rendre compte, M[onseigneu]r, d’aucun detail sur les progrez de cette maladie parce que l’on ne peut pas tabler sur ce qu’il plait aux ministres et aux medecins d’en dire […] »391
387 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 44r-42v (chiffriert). 388 Ebd., fol. 43v (chiffriert). 389 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 446–449. 390 Vgl. Steppan, Kaiser Karl VI. und sein Neffe, der Großfürst. Repräsentation, Interaktion und Kommunikation kaiserlicher Gesandter im Konflikt um die Thronfolge von Zar Peter II., S. 127–129. 391 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 26.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 23r/v (chiffriert).
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Anhand Magnans Ausführungen über die Erkrankung zeigt sich noch einmal eindringlich, dass die Berichterstattung mitnichten den exakten Krankheitsverlauf widerspiegelt, sondern offenbart, wie gut die einzelnen Diplomaten an die jeweiligen Informationen gelangten und die Geheimhaltung auf verschiedene Weise umgehen konnten. Magnan thematisierte ebenso wie Rondeau, Tessin, Mardefeld und Wratislaw die scheiternden Versuche der Dolgorukij, Peter II. mit Katharina Dolgorukaja auf dem Krankenbett die Ehe vollziehen zu lassen, was aufgrund des sich zwischenzeitlich verschlechternden Zustandes des Zaren scheiterte. Der französische Chargé d’Affaires beschrieb die gesundheitliche Verfassung für jeden einzelnen Tag, um letztendlich eine Besserung nach Versailles zu melden. Die detailreiche Darstellung ist abermals ein Beleg, dass er seine Informationen vom dänischen Gesandten Westphalen erhielt, wie durch Magnans Relation vom 26. Januar nachgewiesen werden kann. Weiter berichtete Magnan, dass die Unruhe am Hof derzeit unaussprechlich groß sei. Die Ärzte würden alles in ihrer Macht stehende für Peter II. tun. Magnan kam auf ein anderes Testament zurück, das seiner Berichterstattung zufolge die Nachfolge regeln solle.392 Hierbei handelt es sich um das Testament der verstorbenen Zarin Katharina I., die von 1725 bis 1727 Russland regierte. Aufgrund dieser Nachlassregelung vermeinten einige nicht genannte Personen, dass die Prinzessin Elisabeth und der Sohn der Herzogin von Holstein, Karl Peter Ulrich, von den Russen ins Auge gefasst worden seien. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass die Dolgorukij, die gleich an Macht im Obersten Geheimen Rat und bei den Truppen seien, diesen Thronprätendenten nicht mit allen Mitteln entgegentreten würden. Die Dolgorukij hätten die Rache Elisabeths zu fürchten, da sie die Stellung Elisabeths unter Zar Peter II. verschlechtert und sich stark bereichert hatten. Deswegen sei es das Ziel der Dolgorukij, Katharina Dolgorukaja zur Nachfolgerin zu erklären.393 Dies wiederum erzeuge den Widerstand der Familie Golicyn. Bei diesen Machtverhältnissen am Hof sei es laut Magnan notwendig, dass sich beide Familien auf die alte Zarin und erste Ehefrau Zar Peters I., Evdokija Fëdorov na Lopuchina, einigen müssten, um furchtbare Folgen eines „guerre civile“ zu vermeiden.394 Da sich in den Niederschriften Westphalens ähnliche Äußerungen finden,395 sind diese als interessengeleitet zu betrachten: Eine Schwächung Russlands oder allein das Gerücht darüber entsprach den Interessen des dänischen Hofs. Zudem beschrieb Magnan die verstärkten Aktivitäten des dänischen Gesandten Westphalen seit dem Beginn der Krankheit Peters II., der Tag und Nacht bei den Golicyns und den Dolgorukij verbringe, um deren Pläne in Erfahrung zu bringen.396 Demnach würden die Golicyns die Durchsetzung einer holsteinischen Partei am russischen Hof strikt ablehnen. Westphalen hoffte laut Magnan auf eine baldige Genesung des derzeitigen Zaren, da es Westphalens Ziel sei, dass keinerlei Nachkommen der ehemaligen Zarin Katharina I. den russischen Thron besteigen würden.397 Dies war eine klare 392 393 394 395 396 397
Vgl. ebd., fol. 23v–25r (chiffriert). Vgl. ebd., 24v/25r (chiffriert). Vgl. ebd., fol. 25v/26r (chiffriert). Vgl. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 97. Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 26.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 26v. Vgl. ebd., fol. 26v/27v (chiffriert).
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Positionierung gegen die in Moskau weilende Prinzessin Elisabeth und gegen den jungen holsteinischen Herzog Karl Peter Ulrich, da Westphalen ein Wiedererstarken der holsteinischen Partei, wie es sie bis zum Tod der Zarin Katharina I. am Moskauer Hof gegeben hatte,398 zu verhindern suchte. Eine solche Thronfolge würde die Familie Golicyn, deren Aversion gegen die Holsteiner bekannt sei, ebenso ablehnen wie die Dolgorukij, wie der Feldmarschall Dolgorukij dies dem dänischen Gesandten bei einem Besuch versicherte.399 Dies alles erfuhr Magnan von einem persönlichen Treffen mit Westphalen, wie er selbst schrieb: « J’y allay dans l‘esperance d’apprendre au moins quelque chose de certain sur l’etat de la santé du Czar, car il n’y a point a compter sur les nouvelles qui en viennent de la Cour. »400
Da Westphalen die große Diskretion Magnans kenne, habe er ihm mitgeteilt, dass der Feldmarschall von einer baldigen Genesung der – erst jetzt bestätigten – Pockenerkrankung des Zaren überzeugt sei und die Beratschlagungen über eine potenzielle Nachfolge allein der Verhinderung eines Nachkommens Katharinas I. diene. Magnan versicherte, dass er seine Relation im letztmöglichen Moment absandte, um vermelden zu können, dass der Zar am 25. Januar abends noch lebe.401 Demnach erscheint es, als sei er sich der kritischen Lage des jungen Zaren bewusst gewesen. Die Informationsweitergabe des dänischen Gesandten, der in Opposition zu den holsteinischen Gesandten und deren Interessen stand,402 diente Magnan als wichtige Informationsquelle und glich seine Nachteile in der Informationsbeschaffung aufgrund seines niedrigen diplomatischen Ranges aus. An dieser Stelle zeigt sich offenkundig, dass seine gute Informationslage auf seine Beziehungen mit dem ranghöheren dänischen Gesandten Westphalen zurückging, auch wenn Magnan dies nicht immer explizit deutlich machte. Es schien Westphalen wichtig, seine Informationen mit Magnan zu teilen, sodass der in Europa militärisch und politisch sehr bedeutende französische Hof über die Vorkommnisse in Russland unterrichtet war. Bei den Ausführungen Westphalens werden abermals die zwei wichtigsten Adelsgruppierungen am Moskauer Hof als rivalisierende Fraktionen beschrieben, die es in seinen Augen zu gewinnen gelte, um eine Nachfolge in Russland zu verhindern, die den Interessen des holsteinischen Hofs in Kiel dienlich sein könnte. Der sächsisch-polnische Gesandte Le Fort versandte zwei Berichte, die sich in ihrer Genauigkeit und ihrem Informationsgehalt deutlich unterschieden. Seinem ersten Empfänger bestätigte er die unerwartete Erkrankung Peters II. an den Pocken, was am Moskauer Hof große Bestürzung hervorgerufen habe. Seine Informanten, die beiden den Zaren behandeln398 Vgl. Hübner, Ferne Nähe, S. 52–58. Hübner, Kiel, Eutin, St. Petersburg, S. 10–13. Duchhardt, Bal ance of Power und Pentarchie, S. 276. 399 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 26.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 26v/27r (chiffriert). 400 Vgl. ebd., fol. 27r. 401 Vgl. ebd., fol. 27v/28r. 402 Vgl. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 11.
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den Ärzte Laurentius und dessen Bruder Johann Gottlieb Blumentrost und der später zu Rate gezogene Arzt Bidlo, gehörten zum inneren Machtzirkel des Moskauer Hofs.403 Demnach war das medizinische Vorgehen der Ärzte erfolgreich, und es bestand nach einer überstandenen kritischen Phase die Hoffnung auf eine Besserung des Gesundheitszustandes. « Cette esperance de conserver ce jeune Monarque cause icy une joye qui n’est pas conscevable »,404 resümierte Le Fort. Im klaren Widerspruch zu diesen Informationen betonte Le Fort in einem zweiten Bericht die Gefährlichkeit der Krankheit und benannte bereits fünf Parteien, die alle eine gewisse Anhängerschaft haben: Dies seien die alte Witwe Peters I., die Prinzessin Elisabeth, Katharina Dolgorukaja, der Sohn der holsteinischen Herzogin, Karl Peter Ulrich, und diejenigen, die eine Wahlmonarchie – wie sie in Schweden existiere – strikt ablehnen. Zudem sei es schwer, zu sagen, wer für die Behauptung der Dolgorukij eintrete, dass nach der Orthodoxie die Braut Peters II. ein Recht auf die Nachfolge Peters habe.405 Grundsätzlich verdeutlichen all diese Ausführungen der Diplomaten die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Berichterstattung und der Informationsbeschaffung und eine sich daraus ableitende differente Bewertung der Situation. Es zeigt sich bei allen Unterschieden der Schilderungen, dass der Tod des Zaren in das Zentrum der Diskussionen am Hof rückte. Die im 18. Jahrhundert weitverbreitete und zumeist für Leib und Leben ungefährliche Erkrankung an den Pocken406 wurde beim Zaren zunehmend als gefährlich eingeschätzt. Dies belegen die mannigfaltigen Spekulationen über eine mögliche Thronfolge. Die Berichterstattungen können daher als Indiz gelten, wie ernst die Lage am Hof nun eingeschätzt wurde. Eine Ausnahme hierbei bildete abermals der Bericht des mecklenburgischen Gesandten, der als Einziger noch immer nur spärliche Informationen versandte. Gerade J.C.D. Ostermann hätte durch seinen Bruder und durch Katharina von Mecklenburg Informationen erhalten können. Warum er auf diese Informationsquellen nicht zurückgriff bzw. zurückgreifen konnte, wird im Zusammenhang der Thronfolge diskutiert werden. Die vom Moskauer Hof an ihre Herrscher berichtenden diplomatischen Akteure verfügten demnach über sehr unterschiedliche Informationsquellen. In Einzelfällen blieben ihnen diese sogar verwehrt, was mit dem Rang des jeweiligen diplomatischen Vertreters zusammenhing. Die zur Verfügung stehenden Informanten variierten je nach diplomatischem Akteur deutlich und konnten partiell den Mangel an direkten Kontakten zum russischen Hof ausgleichen. Die Quellen reichten, wie gezeigt werden konnte, von Gerüchten über zum Teil explizit nicht genannte Informanten, anderen verbündeten Diplomaten bis zu dem direkten Kontakt zum innersten Machtzirkel – Ärzte des Zaren, Zarenfamilie, wichtige Würdenträger am Hof. Gerade jene nicht vorhandenen Informationszugänge und die Art der Informationsquellen waren für die Berichterstat403 Vgl. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 28. 404 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 26.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 26r/27r. 405 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 26.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 29r/v (chiffriert). 406 Vgl. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 7 f.
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tung und Bewertung der Informationen der diplomatischen Akteure ausgesprochen wichtig. Ebendiese Informationszugänge zu schaffen, war integraler Bestandteil der diplomatischen Tätigkeiten.407 Die jeweilige Berichterstattung war demnach sowohl dem unterschiedlichen Informationszugang geschuldet als auch der anfänglich als ungefährlich eingeschätzten Krankheit des Zaren. Zu Beginn der Krankheit zeigt sich deutlich, dass selbst Wratislaw und Mardefeld trotz des persönlichen Kontakts zu Ostermann keine Information erhielten. Dass beispielsweise Mardefelds Berichterstattung spät einsetzte, erscheint ebenso ein Indiz dafür zu sein, dass die Erkrankung des Zaren von ihm anfangs als ungefährlich eingeschätzt wurde. Als einem erfahrenen Diplomaten hätte ihm eine solche Fehleinschätzung nicht unterlaufen sollen, insbesondere, da er über gute Verbindungen zum russischen Hofadel verfügte.408 Die Verdichtung der Berichterstattung erfolgte zudem zu einem Zeitpunkt, als der Zar sich zum ersten Mal in einer kritischen Phase seiner Erkrankung befand. Da die Genauigkeit der Berichterstattung sich in dieser Situation je nach diplomatischem Akteur unterscheidet, hängt die Berichterstattung ebenso wesentlich von den jeweils zugänglichen Informationsquellen ab. Hierbei war die Informationsweitergabe von gut vernetzten Gesandten besonders für den französischen Chargé d’Affaires und den englischen Sekretär bedeutend, da diese über einen niedrigen diplomatischen Rang verfügten. Über den Tod des Zaren berichteten fast alle am Moskauer Hof anwesenden Diplomaten am 30. Januar 1730.409 Eine Ausnahme stellte der holsteinische Gesandte Bonde dar. Obwohl sein Kollege den holsteinischen Hof informierte, rechtfertigte sich Bonde am 2. Februar, dass er seine Berichte nicht habe abschicken können.410 Der mecklenburgische Gesandte Christoph Dietrich Ostermann war der Einzige, der erst am 2. Februar den Herzog von 407 Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 254 f. 408 Vgl. Sommerfeld, Axel von Mardefeld als Gesandter Friedrich Wilhelms I. am russischen Hofe (1728– 1740), S. 25. 409 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 30.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 30r/v. Magnan an Chauvelin, Moskau, 30.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 30r/31r. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 30.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 18r/v. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 15r/16v. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 30.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 15r/16v. Rondeau an Under-Secretary of State Tilson, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 17r/18v. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 19.01./30.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ebd., ohne Foliierung. Ward an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 13r/14v. Wratislaw an Hofkanzler Sinzendorf, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 53r/v. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, ohne Foliierung. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 30.1.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 47r/48v. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 151-11, fol. 257r. Wratislaw an Prinz Eugen/Graf Grundacker von Staremberg, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 5r/v. 410 Vgl. Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung.
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Mecklenburg über die Vorkommnisse unterrichtete.411 Die Todesnachricht und die Erhebung der verwitweten Herzogin von Kurland, Anna Ivanovna, auf den russischen Thron wurde allen ausländischen Gesandten bereits am Morgen des Todestages durch den Oberzeremonienmeister Baron Georg von Habichtsthal412 offiziell bekannt gemacht.413 Es war die Aufgabe des Oberzeremonienmeisters, Todesfälle, Geburten, Krönungen, Hochzeiten, festliche Diners oder diplomatische Empfänge zu verkünden. Dieses Amt gab es unter anderem in Preußen, Schweden und Dänemark, während es am Kaiserhof erst deutlich später eingerichtet wurde.414 Die in Moskau anwesenden Diplomaten waren bis dahin alle wenigstens von einer Besserung des Gesundheitszustandes ausgegangen, wenn sie den Zaren nicht sogar schon völlig außer Gefahr gesehen hatten.415 Peter II. war der letzte männliche Vertreter der Dynastie der Romanovs. Er starb zudem ohne Testament, da ihm dafür die Kräfte gefehlt hatten, wie sowohl der kaiserliche416 als auch der preußische Gesandte417 berichteten. Die Bestürzung über den unerwarteten Tod war wohl den meisten Gesandten anzumerken, so auch dem holsteinischen Gesandten Bonde: „Alwiederumb ein betrübtes evenement hier, unßer junge Keyßer ist an den blattern gestorben, in der dieße Woche in der Nacht zwischen Sontag und Montag umb I uhr nach Mitter Nacht, ich habe schon zwey Todesfälle hier erlebet aber in solche bestürtzung nie geweßen, 411 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 264r/265v. 412 Baron Georg von Habichtsthal war ein Schweizer Calvinist. Er war von 1714 bis 1721 mecklenburgischer Gesandter am russischen Hof und danach am preußischen Hof. 1727 übernahm er das Amt des Oberhofmeisters in Russland. Er starb 1730, siehe Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 80 f. Die Angaben bei Hausmann können somit korrigiert und erweitert werden, siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 221 f. 413 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 30.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, 18r/v. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 30.1.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 47v. 414 Vgl. Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 80–82. 415 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, fol. 264r/v. Magnan an Chauvelin, Moskau, 30.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 30r. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 30.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 18r/v. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 30r. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (zweiter Brief ), Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 30r. Ward an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 13r. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 47r. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 30.1.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 47r. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 151-11, fol. 257r. 416 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 30.1.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 47r. 417 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 30.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 18r.
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dan alles hatt sich in ein augenblick verändert, auß ein erbreich hatt man ein wahlreich gemacht, und ist die Hertzogin von Cuhrland Anna zu Keyßerin erwehlet worden, gegen aller vermuthen.“418
In dieser unklaren Situation versuchten die diplomatischen Vertreter, ihren Herrschern möglichst schnell Bericht zu erstatten. Sie beklagten, dass ihre umgehend verfassten Briefe Moskau auf dem normalen Postweg nicht mehr verlassen konnten, da eine Nachrichtensperre verhängt worden war.419 Deswegen versuchten die Diplomaten, ihre Höfe per Kuriere über die aktuelle Entwicklung zu unterrichten.420 Die Postsperre um Moskau sollte bewirken, dass der Oberste Geheime Rat die Kontrolle über die Verbreitung der Designation Annas behielt. Die Bekanntmachung des Todes Peters II. und der Erhebung Annas erfolgte beispielsweise in Zeitungen in Petersburg erst Ende Februar 1730.
Diplomatische Kommunikationswege zwischen europäischen Höfen Welche Auswirkungen hatte die von den Diplomaten beklagte Postsperre bis zum Abgang der Deputation nach Mitau, dem Aufenthaltsort der neu erwählten Zarin? Auf welchen Kommunikationswegen sich die Nachricht über den Tod des Zaren und über die Erhebung Annas zur Zarin verbreitete, wenn der reguläre Postweg offenbar versperrt blieb,421 bedarf der Klärung. 418 Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. 419 Vgl. Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 08.01.1730 a.St. [19.01.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 265r. Magnan an Chauvelin, Moskau, 30.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 30v. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (zweiter Brief ), Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 29r. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 19.01./30.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 19. 01./30.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01./02.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 48r. 420 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (zweiter Brief ), Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 29r. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 16r. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 19.01./30.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 48r/v. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 48r/v. Wratislaw an Hofkanzler Sinzendorf, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 53r. Le Fort an König August II., Moskau, 30.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 30r. Magnan an Chauvelin, Moskau, 30.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 31r–33r. 421 Die Betrachtung von Kommunikationsstrategien anhand von Gesandtschaftsberichten – wie sie auch hier erfolgt – wird in der Neuen Politikgeschichte stark vertreten, siehe Christian Steppan: Kaiserliche Gesandte und ihre Annäherungspolitik durch die Kraft der Gesten. Der symbolische Startschuss zum
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Die Gesandten waren sich über die Wirksamkeit der Postsperre nicht im Klaren.422 In dieser unübersichtlichen Situation legte der kaiserliche Gesandte den versandten Briefen vorsorglich Auflistungen seiner Berichte bei.423 Neben Mardefeld, der wegen der Postsperre die ordnungsgemäße Ankunft seiner Relationen bezweifelte,424 verschickte auch Wratislaw Duplikate seiner Relationen.425 Diese Abschriften wurden dann auf verschiedenen Postrouten versandt, um mögliche Verzögerungen zu vermeiden. Dass Briefe ihre Empfänger verspätet erreichten, war ein gängiges Problem, das Abhandenkommen gesandtschaftlicher Korrespondenz hingegen selten.426 Auch wenn die Wirksamkeit der Postsperre lediglich vermutet werden konnte, galt es, alternative Wege des Nachrichtenversands zu finden. Oftmals berichteten die diplomatischen Vertreter am Moskauer Hof erst in Retrospektive über die Art und Weise des Versands ihrer Briefe, wenn dieser gescheitert war oder sie zumindest mutmaßten, dass ihre Kuriere aufgehalten wurden. Mardefeld erklärte, dass er am Todestag Peters II. seine Berichte dem sächsisch-polnischen Kurier namens Below mitgegeben habe, da die Post nicht habe versandt werden können. Dieser Kurier sollte Mardefelds Briefe nach Danzig zum dortigen preußischen Gesandten befördern, der wiederum die Nachricht dem preußischen König per Stafette weiterleiten sollte. Da Mardefeld erfuhr, dass niemand durchgelassen werde, gab er zudem Duplikate seiner Briefe einem Kurier des spanischen Gesandten de Liria mit, auch wenn dessen Durchkommen ebenso fraglich war.427 Wratislaw kündigte dem Wiener Hofkanzler Sinzendorf am Todestag des Zaren an, in drei Tagen einen Bericht mit den wichtigsten Entwicklungen per Kurier abzusenden.428 In einer geheimen und einer offiziellen Korrespondenz,
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österreichisch-russischen Bündnis von 1726, in: Forschungswerkstatt: die Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert. Research Workshop: The Habsburg Monarchy in the 18th Century, hg. von Gunda Barth-Scalmani, Bürgschwentner Joachim, Matthias König und Christian Steppan, Bochum 2012, S. 27–41, hier S. 27 f. Dazu ausführlicher: Edelmayer, Gesandtschaftsberichte in der Frühen Neuzeit, S. 849–859. Dass die Kommunikationsstrategien lange als unbeachtete Facetten galten, belegen die Quelleneditionen SIRIO, die Eingangsvermerke von Relationen nicht als editionswürdig hielten. Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 15.01./26.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (zweiter Brief ), Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 29r. Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 23.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 124r (2. Beilage). Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (zweiter Brief ), Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 29r. Vgl. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 151-11, fol. 257r. Wratislaw an Prinz Eugen (Duplikat), Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 151-11, fol. 258r/v. Wratislaw an Prinz Eugen/Graf Grundacker von Staremberg, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 5r/v. Vgl. Horn, The British Diplomatic Service, S. 231 f. Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (zweiter Brief ), Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 29r. Vgl. Wratislaw an Hofkanzler Sinzendorf, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 53r.
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die Wratislaw mit Prinz Eugen parallel zu seinen Korrespondenzen mit dem Hofkanzler und dem Kaiser pflegte, merkte Wratislaw an, dass er Details der derzeitigen Situation nicht der Post anvertrauen könne.429 Diese Äußerung belegt die Befürchtung von Spionage, die auch aus der Chiffrierung brisanter Textstellen aller Diplomaten hervorgeht. Der Versand per Kurier war im Vergleich zum regulären Postweg wesentlich teurer, aber deutlich schneller und sicherer vor Verrat und Ausspähung.430 Prinz Eugen vermerkte in einem Antwortschreiben, dass die Briefe vom 26. und 30. Januar und vom 2. Februar gleichzeitig per Kurier angekommen waren.431 Daher ist davon auszugehen, dass die Bemühungen Wratislaws, die Briefe auf anderem Weg zu versenden, an der Postsperre um Moskau scheiterten. Der englische Sekretär und der französische Chargé d’Affaires gaben ihre Relationen vom 30. Januar 1730 mit der Todesnachricht des Zaren ebenfalls einem Kurier des spanischen Gesandten de Liria mit.432 Der holsteinische Gesandte Tessin schrieb, dass ein Kurier von allen ausländischen Gesandten gemeinsam abgeschickt worden sei.433 Der holsteinische Gesandte Bonde wiederum präzisierte am 2. Februar, dass dieser auch über Berlin und Wien geschickt werde.434 Daher scheint es wahrscheinlich, dass die Diplomaten trotz der Angehörigkeit zu zum Teil feindlichen Bündnissen in dieser Krisensituation zur Zusammenarbeit gezwungen waren. Aus retrospektiver Betrachtung Tessins geht hervor, dass die reguläre Post nach Kiel sogar schneller erfolgte als der Versand per Kurier. Dies habe daran gelegen, dass die russischen auswärtigen Gesandten zuerst über den Tod des Zaren informiert werden sollten. Der von de Liria versandte Kurier sei in Riga und Danzig aufgehalten worden. Ab Danzig konnte er den Brief Tessins mit der regulären Post weiterversenden.435 Die Weiterleitung der Post aus Russland war ab Riga und Danzig besser möglich, da von dort mehrere Postrouten in verschiedene europäische Städte verliefen.436 429 Vgl. Wratislaw an Prinz Eugen (Duplikat), Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 151-11, fol. 257r. Wratislaw an Prinz Eugen/Graf Grundacker von Staremberg, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 3r/v. In diesem Fall sind die offizielle und die geheime Korrespondenz bezüglich des Informationsgehalts identisch. 430 Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 277. Horn, The British Diplomatic Service, S. 218–225. 431 Vgl. Prinz Eugen an Wratislaw, Wien, 22.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 16r/17r. 432 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 16r. Magnan an Chauvelin, Moskau, 30.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 31r. 433 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 19.01./30.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 434 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. 435 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 05.03./16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 436 Vgl. Daniel C. Waugh; Ingrid Maier: How Well Was Muscovy Connected with the World?, in: Imperienvergleich. Beispiele und Ansätze aus osteuropäischer Perspektive, hg. von Guido Hausmann und Angela Rustemeyer, Wiesbaden 2009, S. 17–38, hier S. 32. Horn, The British Diplomatic Service, S. 217 f.
Synchrone Betrachtungen europäischer Diplomaten am Moskauer Hof
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Die genaue Ankunftszeit der diplomatischen Mitteilungen geht aus der Vielzahl der betrachteten Berichte ebenso hervor wie aus der Literatur, da Sender und Empfänger einander den Eingang der Schriftstücke fast immer bestätigten.437 Dies war Gepflogenheit, um die Zuverlässigkeit des Versands sicherzustellen. Ein besonderes Beispiel weiterer Schwierigkeiten der Briefzustellung liefert der holsteinische Gesandte Tessin. Seine seit der Abreise aus Kiel bis zu seiner Ankunft in Moskau geschriebenen Berichte erreichten aus einem sehr anschaulichen Grund seinen Empfänger nicht, wie Tessin beklagte: „Auß Ewr. hochgräfflen Excellentz letzt an den H[err]n Graffen Bonde abgelaßenem Schreiben Ersehe nicht ohne Verwunderung, daß auch Selbige sich beschwehren, keine Nachricht von Mir empfangen zu haben, da Ich dennoch auß Kiel, auß Lübeck, auß Petersburg, wie auch von herrauß derselben durch meine brieffe auffzuvorhen nicht ermangelt habe, weilen aber von allen ohrten Mir dergleichen Klagen einkommen, so besorge, daß ein liederlicher Laquais […] meine brieffe weggeworfen und das Postgeld versoffen, denn sonsten nicht natürl., daß dergleichen unrichtigkeiten alleine mir mit der hiesigen Post arivieren sollten.“438
Die Beförderung der Post aus Moskau nach Kiel sollte zu Beginn der Krankheit des Zaren immer wieder ins Stocken geraten. Diese Information erhielt er aber aufgrund der langen Transportwege erst, als die neue Zarin Anna sich für souverän erklärt hatte.439 Um die Nachvollziehbarkeit der erfolgreich zugestellten Post gewährleisten zu können, fügte der sächsisch-polnische Diplomat Le Fort – wie auch Wratislaw – zum Ende eines jeden Monats eine Auflistung seiner versandten Relationen bei.440 Nach dem Tod Peters II. handelte es sich keinesfalls nur um die gängigen Unwägbarkeiten und Gefahren des normalen Postversands.
Die Informationsübermittlungen am Beispiel des Wiener Hofs Da die auf regulärem Wege versandten Berichte der in Moskau weilenden Gesandten aufgrund der Postsperre um Moskau nur eingeschränkt ihre Empfänger erreichten, ist zu klären, wie lange es tatsächlich dauerte, bis sich die Nachrichten aus Moskau an den anderen europäischen Höfen verbreiteten und auf welchem Wege dies geschehen konnte. Um diese Fragen beantworten zu können, muss die Kommunikationsübermittlung innerhalb der diplomati437 Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 33. 438 Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 15.01./26.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 439 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 02.03./13.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 440 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ), Moskau, 02.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 45r (Beilage). Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 02.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 103v (Beilage). Le Fort an König August II., Moskau, 03.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 180r (Beilage).
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schen Netzwerke europaweit in den Blick genommen werden. Vorangestellt werden kann, dass die Postlaufzeiten unter normalen Bedingungen wie folgt waren: Nach Wien 25 Tage, nach Berlin 21 Tage, nach Danzig etwa 16 Tage, nach Kiel 24 Tage, nach Dresden 21 bis 26 Tage, nach Paris 29 Tage und nach London 17 bis 21 Tage.441 Um die Abweichungen von der regulären Postzustellung aufzuzeigen, ist die Betrachtung des Kaiserhofs besonders aufschlussreich: Zum einen, da der kaiserliche Gesandte unterschiedlichen Empfängern, wie dem Kaiser, dem Obersten Hofkanzler Sinzendorf und dem Prinzen Eugen, schrieb und unterschiedliche Arten der Kommunikationsübermittlungen wählte.442 Neben dem Kaiser übten der Hofkanzler und Prinz Eugen den größten Einfluss auf die Außenpolitik am Wiener Hof aus.443 Während der Versand per Post nach Wien scheiterte, erreichten die durch Kuriere versandten Briefe ihre Empfänger in der üblicherweise benötigten Zeit.444 Zum anderen bieten die Auswertungen der übrigen Korrespondenzen zwischen Wien und den anderen betrachteten Höfen in Versailles, London, Berlin, Dresden, Kiel und Danzig, dem Sitz des sich im Exil befindlichen Herzogs von Mecklenburg-Schwerin, die Möglichkeit der synchronen Betrachtung des Eingangs der Information. Prinz Eugen erhielt das Schreiben Wratislaws vom 23. Januar 1730 über die ernsthafte Erkrankung des Zaren am 17. Februar 1730. Er erwartete in dieser für ihn als krisenhaft empfundenen Situation mit großer Ungeduld weitere Nachrichten.445 Daraus lässt sich deutlich erkennen, was für eine Spannung sich für die Akteure aufbauen konnte, wenn sie aufgrund der langen Übertragungswege aus Russland auf wichtige Nachrichten warten mussten. Das in Gefahr geratene Bündnis mit Russland und der mögliche bevorstehende Krieg auf der italienischen Halbinsel zwischen dem Kaiser und seinen Verbündeten Preußen und Russland gegen Spanien und dessen Verbündete England und Frankreich begründete die negativen Folgen, die Prinz Eugen in den Ereignissen in Russland befürchten musste.446 441 Dies sind die aus den Absende- und Ankunftsvermerken berechneten Übertragungsdauern, die bis auf wenige Ausnahmefälle als Übertragungsdauer angenommen werden können. Zur Übertragungsdauer nach London siehe auch: Ruffmann, Die diplomatische Vertretung Großbritanniens am Zarenhof im 18. Jahrhundert, S. 405. Zu Übertragungsdauern an den sächsischen Hof siehe Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 276 f. Zur Einbindung Russlands in das europäische Postwesen im 17. Jahrhundert und verschiedener Postrouten siehe Reinhard Wittram: Peter I. Czar und Kaiser; zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, Göttingen 1964, S. 74 f. Daniel C. Waugh, Ingrid Maier, How Well Was Muscovy Connected with the World?, S. 32–35. Es sei hier auf das laut Waught und Maier trotz seines Alters immer noch unverzichtbare Standardwerk Kozlovskijs über das russische Postwesen verwiesen, siehe ebd., S. 31. I.P. Kozlovskij: Pervye počmy u pervye počtmejstery Moskovskogo gosudarstva, Varšava 1913. 442 Vgl. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 7r/v. 443 Vgl. Demel, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts, S. 220. 444 Vgl. Prinz Eugen an Wratislaw, Wien, 22.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 16r/17r. 445 Vgl. Prinz Eugen an Wratislaw, Wien, 18.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 12r/v. 446 Vgl. Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 280.
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Bereits am 19. Februar erhielt Prinz Eugen dann gleichzeitig drei Berichte Wratislaws. Denjenigen des 26. Januars, der mit der Post verschickt wurde und die Besserung des Gesundheitszustandes des Zaren vermeldete, und die Todesnachricht vom 30. Januar und bereits Wratislaws Relation vom 3. Februar, die per Kurier verschickt worden waren.447 Dies zeigt, dass die Übertragungsdauer je nach Art der Informationsübermittlung deutlich variierte. Während eine reguläre Postsendung von Moskau nach Wien etwa 25 Tage in Anspruch nahm, verkürzte sich die Übertragungsdauer dorthin durch einen Kurier auf 17 Tage. Die Berichte, die per Post nach Wien durch den kaiserlichen Gesandten ebenfalls am 30. Januar 1730 abgeschickt wurden, kamen nicht bei ihrem Empfänger an. Jedoch erreichten die Abschriften des Briefes vom 30. Januar 1730, die dem später abgesandten Kurier nach Wien mitgegeben wurden, ihren Adressaten. Die durch Kuriere versandten Berichte erreichten ihre Empfänger sogar in der regulär benötigten Zeit.448
2.2 Europäische Reaktionen – von Fassungslosigkeit bis Freude Reaktionen des Wiener Hofs über den Tod des Neffen und Verbündeten Aus den Korrespondenzen der am Kaiserhof anwesenden Diplomaten geht hervor, dass diese die Todesnachricht einen Tag später als Prinz Eugen erhielten. Am 20. Februar 1730 traf diese per Stafette aus Danzig in Wien ein, wie sowohl der dortige französische Sekretär449 als auch der dortige sächsisch-polnische Gesandte450 vermeldeten. Der Informationsstand über den Tod Peters II. und über die Erhebung Annas der am Wiener Hof anwesenden Diplomaten war durchaus sehr unterschiedlich. Diese Unterschiede lassen sich dadurch begründen, dass die Informationen in den folgenden Tagen über mehrere Wege ihre Empfänger erreichten. Prinz Eugen teilte beispielsweise seine Nachrichten mit dem am Wiener Hof anwesenden sächsisch-polnischen Gesandten Wackerbarth-Salmour während einer Audienz. Aus den Berichten dieses Gesandten an den Dresdner Hof ist überliefert, dass der russische Gesandte am Wiener Hof am 23. Februar in einer Audienz dem Kaiser die offizielle Notifikation über den Tod des Zaren und die Erhebung Annas überbrachte, woraufhin der Wiener Hof eine Staatstrauer von drei Monaten verhängt habe. Aus den Berichten Wackerbarth-Salmours wird ebenso deutlich, dass Prinz Eugen den Tod Peters II. der Kaiserin Elisabeth Christine 447 Vgl. Prinz Eugen an Wratislaw, Wien, 22.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 16r/17r. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 7r/8r. 448 Vgl. Prinz Eugen an Wratislaw, Wien, 18.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 12r/v. 449 Vgl. De Bussy an Chauvelin, Wien, 25.02.1730, Paris, Autriche 165, fol. 200v. 450 Vgl. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 22.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 52r/v.
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vorenthielt, um deren Stimmung während der Fastnachtfeierlichkeiten nicht zu trüben.451 Diese habe Briefe aus Blankenburg erhalten, die den kritischen Gesundheitszustand des Zaren, ihres Neffen, thematisierten, was sie sehr beunruhige. Der russische Gesandte habe über den Tod seines Monarchen erfahren, als er sich auf einem Ball befand.452 Auch der holsteinische Gesandte in Wien, Hans von der Kettenburg (1671–1743)453, bestätigte, dass die Kaiserin empfindlich darauf reagieren werde, „wie Sie dan auch allem ansehen noch gar viel dabey verlieren könte.“454 Diese uneindeutige Äußerung Kettenburgs gibt einen möglichen Hinweis auf ein besonderes Näheverhältnis Elisabeth Christines zu ihrem Neffen Peter II. Ebenso kann dies auf die Gefahren des Bündnisbruchs zwischen dem Hause Habsburg und dem Hause Romanov hindeuten. Möglich ist ebenso, dass Kettenburg im Tod des Zaren nur einen Auslöser für sich verstärkende Depressionen der Kaiserin ausmachte, da diese keinen männlichen Nachfolger zur Welt brachte.455 Wackerbarth-Salmour machte deutlich, dass die Kaiserin wenige Tage später durch den Kaiser über den Tod unterrichtet wurde und seitdem betrübt sei und das Bett nicht mehr verlasse. Der russische Gesandte am Wiener Hof habe, so Wackerbarth-Salmour, zudem eine Audienz beim Kaiser erhalten, wobei er ihm die Notifikation überreicht habe.456 Der Kaiser, sein Hofkanzler Sinzendorf als auch Prinz Eugen nahmen 451 Vgl. ebd. Ähnlich äußerte sich der englische Gesandte über die Reaktion der Kaiserin auf den Tod des Zaren, siehe Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 24.02.1730, TNA, SP 80/66, fol. 157r. 452 Vgl. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 22.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 53r. 453 Hans von der Kettenburg (1671–1743) begann 1688 ein Studium an der Universität Rostock, worauf er 1690 an die Universität Jena wechselte, siehe Kersten Krüger, Matrikelportal der Universität Rostock, http://purl.uni-rostock.de/matrikel/100037292, 17.03.2017. Er trat wechselnd in holsteinische und mecklenburgische Dienste. 1693 war er holsteinischer Kammerjunker, wovon er beurlaubt wurde, um von 1695 bis 1698 und 1698 bis 1701 die Angelegenheiten der mecklenburgischen Ritterschaft am Kaiserhof diplomatisch zu vertreten. Auf Vermittlung seines Halbbruders, Henning von Bassewitz, wurde er holsteinischer Gesandter am Wiener Hof. Die Angaben über den Beginn sind widersprüchlich, jedoch spätestens ab 1724 zu belegen, siehe Unterthänigste Vorstellung der hochfürstlichen Amtskammer, 1727, LASH, Abt. 8.1, Nr. 215, ohne Foliierung. Die Veruntreuung von Geldern durch seinen Halbbruder Bassewitz beeinflussten auch sein Ansehen, obwohl er daran keine Anteil hatte. Als holsteinischer Gesandter wurde er gegen den Willen Kaiser Karls VI. 1732 abberufen. Nach der Ausübung weiterer Ämter für den holsteinischen und mecklenburgischen Herzog starb Kettenburg 1743 in Güstrow, siehe Johann Wilhelm Franz von Krohne: Allgemeines Teutsches Adels-Lexicon. Darinn von den alten und neuen Gräflich- Freyherrlich- und adelichen Familien ihrem Alterthum, Ursprunge, Vertheilungen in unterschiedene Häuser, Verwandschaften und denen daraus entsprossenen berühmtesten Personen gehandelt wird, Hamburg 1776, S. 175–178. Möller, Historische und urkundliche Nachrichten von dem Leben und Staatsverrichtungen des ehemaligen Holsteinischen geheimen Raths Hans Friedrich von der Kettenburg, zur Erläuterung der Holsteinischen Geschichte seiner Zeit, S. 1–32. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 191 f. 454 Vgl. Kettenburg an Herzog Karl Friedrich, Wien, 22.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 455 Vgl. Press, Elisabeth Christine, S. 89. 456 Vgl. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 25.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 54r.
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die Todesnachricht überrascht und bedauernd bis sorgenvoll auf.457 Die gegenseitige Zusendung von Notifikationsschreiben anlässlich von Sterbefällen, Geburten oder Regierungsantritten entsprach den Gepflogenheiten der europäischen diplomatischen Kommunikation zwischen den Herrscherhäusern.458 Die Schnelligkeit des Versands von russischer Seite mag ein Hinweis darauf sein, dass eine europäische Debatte über die Thronfolge Annas vermieden werden sollte. Die Gesandten berichteten über die allgemeine Bestürzung am Wiener Hof.459 Die Gründe hierfür waren ausgesprochen vielfältig. Der Kaiser befürchtete, dass er einen Verbündeten im bevorstehenden Krieg gegen Spanien in Italien verloren habe, denn die Verlängerung des militärischen Bündnisses mit Russland schien zu diesem Zeitpunkt unklar.460 Der spanische Sekretär Eguiluz hingegen hatte Briefe seines Kollegen aus Moskau, des spanischen Gesandten de Liria, erhalten und verbreitete diese Nachrichten explizit in der ganzen Stadt und am Wiener Hof außer bei der Kaiserin, wie Wackerbarth-Salmour darlegte. Der französische Sekretär erwähnt ausdrücklich, dass die Informationen über den Tod des Zaren auf Berichte de Lirias zurückgehen, die der spanische Sekretär in Wien erhalten habe.461 Das Kalkül der spanischen diplomatischen Akteure erschien aus einem Grund ausgesprochen zweckdienlich und folgerichtig: Es galt, den Eindruck zu erwecken, dass die bereits begonnenen Kriegsvorbereitungen Kaiser Karls VI. auf der italienischen Halbinsel empfindlich geschwächt seien, da die bereits zugesagte russische Militärunterstützung nun fragwürdig erscheine. Aus den Korrespondenzen der in Wien weilenden französischen und englischen Diplomaten geht hervor, dass diese untereinander sowie mit den niederländischen und spanischen Sekretären zusammenarbeiteten und ihre Informationen teilten.462 Diese Mächte waren in der Allianz von Sevilla zusammengeschlossen und galten als militärische Gegner des Kaisers und seiner
457 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 22.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 65r. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 91r/v. Kaiser Karl VI. an Wratislaw (zweiter Brief ), Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 77r. Prinz Eugen an Wratislaw, Wien, 22.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 16r/v. Die formale Ausfertigung der Schreiben des Kaisers erfolgte durch den Hofkanzler Sinzendorf und/oder durch den Sekretär der Geheimen Konferenz, Johann Christoph von Bartenstein, wie auf den Archivalien zumeist vermerkt ist. Zum Geschäftsgang der Geheimen Kanzlei: Matsch, Der Auswärtige Dienst von Österreich(-Ungarn) 1720–1920, S. 30–37. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 63–65. Zum formalen Aufbau der kaiserlichen Gesandtschaftsberichte siehe Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 33 f. 458 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 288. 459 Vgl. Kettenburg an Herzog Karl Friedrich, Wien, 22.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 22.02.1730, TNA, SP 80/66, fol. 137v/138r. 460 Vgl. Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 280. 461 Vgl. De Bussy an Chauvelin, Wien, 25.02.1730, Paris, Autriche 165, fol. 201r. 462 Vgl. ebd., 198r–203v. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 22.02.1730, TNA, SP 80/66, fol. 132r/140v.
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Alliierten.463 Während der französische Sekretär die Unterstützung Preußens gegenüber dem Kaiser nach Versailles meldete,464 schrieb der englische Gesandte James Waldegrave465 aus Wien nach London über die Ereignisse: „for my part I think they lose little besides the name of an ally.“466 Der englische Gesandte Waldegrave war ein Verfechter der englisch-französischen Allianz. Vor der Aufnahme seiner Mission in Wien war er über Paris gereist, um sich mit Fleury zu besprechen.467 Kardinal Fleury war seit 1726 der engste Berater des noch jungen französischen Königs Ludwig XV. Der Kardinal prägte entschieden den Kurs der französischen Politik. Aufgrund der schlechten Finanzlage Frankreichs versuchte Fleury, Frankreich vor einem europäischen Krieg zu bewahren.468 Aus der Bemerkung des englischen Gesandten, der die militärische Unterstützung des Kaisers durch russische Truppen bereits vor dem unerwarteten Tod des Zaren in Zweifel gezogen hatte,469 lässt sich die rudimentäre Berichterstattung über die Ereignisse in Moskau durch den englischen Gesandten am Wiener Hof nach London erklären.
Die befürchteten Auswirkungen auf das Herzogtum Holstein In deutlichem Kontrast dazu steht die ausführliche und aufschlussreiche Berichterstattung des holsteinischen Gesandten am Wiener Hof, Kettenburg, der aus eigenem Interesse die Nachrichten aus Moskau sehr ausführlich kommentierte – und dies auch in den darauffolgenden Wochen fortsetzte. Dies zeigt einmal mehr, dass die Betrachtung der diplomatischen Korrespondenz kleiner Höfe ausgesprochen aufschlussreich sein kann und keinesfalls nachrangig ist. Kettenburg tauschte sich nicht nur eng mit dem Kieler Hof über die Moskauer Ereignisse aus und erhielt aus Kiel die Berichte Tessins aus Moskau als Abschrift,470 sondern unterhielt auch eine regelmäßige Briefkorrespondenz mit seinem in Moskau weilenden Kol463 Vgl. Demel, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts, S. 237 f. 464 Vgl. De Bussy an Chauvelin, Wien, 25.02.1730, Paris, Autriche 165, 201r. 465 James Waldegrave (1715–1763) war ein englischer Lord, der 1729 zum Earl befördert wurde. Er war vom 16. September 1725 bis zum 18. Oktober 1725 (Abreise) als außerordentlicher Botschafter Großbritanniens zu Gratulationszwecken am französischen Hof. Er reiste von England über Paris, wo er als Chargé d’Affaires vom 23. Januar bis 24. März 1728 tätig war, nach Wien. Vom 26. April 1728 (Ankunft) bis zum 7. Juni 1730 (Abreise) war er außerordentlicher Gesandter am kaiserlichen Hof in Wien, siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 146, S. 150 und S. 692. Ausführlich zu seiner Person, siehe Peter D.G. Thomas: Waldegrave, James, second Earl Waldegrave (1715–1763), in: Oxford Dictionary of National Biography. From the Earliest Times to the Year 2000, hg. von Henry Colin Gray Matthew und Brian Harrison, Oxford 2004. 466 Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 22.02.1730, TNA, SP 80/66, fol. 138r. 467 Vgl. Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, S. 37 f. 468 Vgl. Klaus Malettke: Die Bourbonen. Band II: Von Ludwig XV. bis Ludwig XVI. (1715–1789/1792), Stuttgart 2008, S. 33–44. Mediger, Moskaus Weg nach Europa, S. 68. 469 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 11.02.1730, TNA, SP 80/66, fol. 110r/v. 470 Beilage Brief Tessins vom 15./26.01.1730 (Hofkanzler Stryk an Kettenburg), Kiel, 20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung.
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legen.471 Das gesteigerte Interesse Kettenburgs erklärt sich aus den politischen Interessen des holsteinischen Hofs sowohl gegenüber dem Wiener als auch gegenüber dem Moskauer Hof. Das kleine Herzogtum Holstein hatte im Großen Nordischen Krieg Schleswig an Dänemark verloren. Es kämpfte seitdem nicht nur um die Restitution Schleswigs, sondern war auch darum bemüht, die Finanz- und Wirtschaftslage, die durch den Krieg und die schwierige militärische Lage sehr angespannt war, aufzubessern.472 Nachdem die Schutzmacht Holsteins, das Königreich Schweden, im Großen Nordischen Krieg massiv geschwächt wurde, traten zunehmend das habsburgische Kaiserhaus und der dynastisch verbundene Zarenhof an dessen Stelle.473 In dem 1726 geschlossenen russisch-kaiserlichen Bündnis war die Restitution Schleswigs explizit festgehalten.474 Die Nachricht vom Tod des Zaren unterbrach deswegen die mühsam angelaufenen und zumindest erfolgreich verlaufenden Verhandlungen um finanzielle Unterstützung Holsteins abrupt. Falls der Kaiser nun noch in den Krieg gegen Spanien ziehe, sei auch mit einer angespannten Finanzlage des Kaisers zu rechnen, berichtete Kettenburg. Die Ausgangslage in Moskau wurde durch den Tod Zar Peters II. als kompliziert angesehen.475 Im Zuge des Bündnisschlusses zwischen dem Kaiser, Russland und Spanien hatte Bassewitz und sein Halbbruder Kettenburg am Wiener Hof im Jahre 1726 Subsidienzahlungen in Höhe von 100.000 Reichstaler jährlich für den Herzog von Holstein und jährlich 100.000 Rubel von Russland und 50.000 Reichtaler von Spanien ausgehandelt, bis die Restitution Schleswigs erfolgen werde.476 Diese finanziellen Zusicherungen waren höher als die gesamten Einkünfte des Herzogtums Holstein.477 Der spanische König hatte die Bereitschaft gezeigt, dem mit Russland dynastisch verbundenen Holstein Schleswig zu garantieren, um Zarin Katharina I. für ein Bündnis zwischen Spanien, Russland und dem Kaiser zu gewinnen.478 Der Bruch dieser Allianz 471 Kettenburg an Herzog Karl Friedrich, Wien, 22.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. Kettenburg an Hofkanzler Stryk, Wien, 25.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 472 Vgl. Hübner, Ferne Nähe, S. 59. Jann M. Witt: Frieden, Wohlstand und Reformen. Die Herzogtümer im dänischen Gesamtstaat, in: Schleswig-Holstein von den Ursprüngen bis zur Gegenwart. Eine Landesgeschichte, hg. von Jann M. Witt und Heiko Vosgerau, Hamburg 2005, S. 221–261, hier S. 221 f. Otto Brandt: Geschichte Schleswig-Holsteins. Ein Grundriss, Kiel 1976, S. 197 f. 473 Vgl. Hallbauer, Schlürmann, Das schleswig-holstein-gottorfische Militär 1623–1773, S. 78 f. 474 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 314. 475 Vgl. Kettenburg an Herzog Karl Friedrich, Wien, 22.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 476 Vgl. Möller, Historische und urkundliche Nachrichten von dem Leben und Staatsverrichtungen des ehemaligen Holsteinischen geheimen Raths Hans Friedrich von der Kettenburg, zur Erläuterung der Holsteinischen Geschichte seiner Zeit, S. 23–25. Arpe, Geschichte des Herzoglich Schleswig-Holstein Gottorfischen Hofes und dessen vornehmsten Staats-Bedienten, unter der Regierung Herzog Friedrichs IV. und dessen Sohnes Herzog Carl Friedrichs, mit geheimen Anecdoten zur Erläuterung der Schleswig-Holsteinischen Historie besonders als der Nordischen Begebenheiten überhaupt, S. 92. Klose, Degn, Die Herzogtümer im Gesamtstaat 1721–1830, S. 68 f. Neuschäffer, Henning Friedrich Graf von Bassewitz, S. 133 f. 477 Vgl. Pries, Das Geheime Regierungs-Conseil in Holstein-Gottorf 1716–1773, S. 41. 478 Vgl. Schop Soler, Die spanisch-russischen Beziehungen im 18. Jahrhundert, S. 46. Duchhardt, Bal ance of Power und Pentarchie, S. 276.
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zwischen Spanien und dem Kaiser durch den Vertrag von Sevilla Ende 1729 führte allerdings dazu, dass die von Spanien vorgesehenen Zahlungen an Holstein eingestellt wurden.479 Deswegen war es nicht nur Kettenburgs Aufgabe in Wien, sondern auch die der holsteinischen Gesandten in Moskau, ebendiese ins Stocken geratenen Subsidienzahlungen wieder zu erhalten. Kettenburg berichtete sehr ausführlich über die Ereignisse in Moskau und deren Folgen. In seinen Ausführungen wird deutlich, dass der russische Gesandte am Wiener Hof die Anweisung erhalten habe, die holsteinischen Forderungen am Wiener Hof zu unterstützen. Aus Kettenburgs Mitteilungen an den holsteinischen Herzog Karl Friedrich wird dabei auch ersichtlich, dass die Verhandlungen in Wien mit dem Kaiser nur dann erfolgreich sein werden, wenn auch die russische Seite ihren Verpflichtungen nachkomme. Der Wiener Hof habe den russischen Gesandten Lancziński über die Zahlung des russischen Anteils der Subsidien für Holstein ausführlich befragt. Dass dieser zur Auszahlung der Gelder keine Informationen hatte, meldete Kettenburg an Tessin nach Moskau, sodass Tessin die Zusicherung Russlands zur Auszahlung der Subsidien umgehend erhalte.480 Offenbar dienten die detaillierten Ausführungen auch dem Schutz der Reputation Kettenburgs als erfolgreichem Gesandtem. Die drohende Beendigung – wenigstens eine Verzögerung – der in Kiel dringend erhofften Subsidienzahlungen sollte nicht Kettenburgs mangelnden Verhandlungsgeschick angelastet werden können, sondern schien der überaus schwierigen Lage sowohl in Moskau als auch in Wien durch den Tod des Zaren geschuldet. Bei der Analyse der holsteinischen Weisungen an Kettenburg wird deutlich, dass dem holsteinischen Hof seit dem 12. Februar aus Moskau bekannt war, dass der Zar an den Pocken erkrankt war. Die Nachricht vom Tod des Zaren und die Erhebung Annas erreichte Kiel, als der Hof durch die Versicherungen Tessins vom 26. Januar 1730 glaubte, dass es dem Zaren besser ginge. Die Nachricht war mithin eine Überraschung und löste große Bestürzung aus – zumal auch der holsteinische Hof glaubte, dass die Pockenerkrankung Peters II. nicht lebensbedrohlich sei.481 Es waren nicht die holsteinischen Gesandten Bonde und Tessin, die den Herzog über den Tod informierten, sondern der holsteinische Herzog erhielt diese Nachricht am 18. Februar 1730 durch den russischen Residenten Johann Friedrich von Böttiger (1659–1739)482 aus Hamburg, der wiederum per Stafette aus Moskau darüber informiert 479 Möller, Historische und urkundliche Nachrichten von dem Leben und Staatsverrichtungen des ehemaligen Holsteinischen geheimen Raths Hans Friedrich von der Kettenburg, zur Erläuterung der Holsteinischen Geschichte seiner Zeit, S. 25. 480 Vgl. Kettenburg an Herzog Karl Friedrich, Wien, 22.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 481 Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 482 Johann Friedrich Böttiger (1659–1739) trat 1709 in russische Dienste, nachdem er vorher für das Kurfürstentum Sachsen und das Königreich Polen tätig gewesen war. Er war von März 1709 bis März 1712 russischer Resident im Niedersächsischen Kreis mit Sitz in Hamburg. Böttiger setzte trotzdem seine Berichterstattung für den Zaren fort und wurde am 20. Februar 1713 erneut russischer Resident und Kommerzienrat im Niedersächsischen Kreis, wo er am 30. März 1731 abberufen wurde. Da er seiner Berufung am 29. April nach Danzig nicht folgte, wurde er mit einer finanziellen Abfindung aus
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worden war. Aus einer Weisung aus Kiel an Tessin vom 20. Februar geht hervor, dass zudem der in der Stettiner Garnison weilende Prinz Christian August von Anhalt-Zerbst, Ehemann Johanna Elisabeths von Schleswig-Holstein-Gottorf, den Kieler Hof über die Vorfälle in Moskau bereits informiert hatte.483 Die von Tessin am Todestag des Zaren mit dem sächsisch-polnischen Kurier versandte Depesche war sowohl in Riga als auch in Mitau aufgehalten worden, weswegen es unvermeidlich wurde, den Herzog durch andere Personen als durch Tessin und Bonde zu informieren.484 Die holsteinischen Berichte erreichten erst kurze Zeit später Kiel. Der Prinz von Anhalt-Zerbst wiederum erhielt die Information, weil eine Stafette auf dem Weg nach Berlin Stettin passierte. Tessin bestätigte nicht nur die vorher erhaltene Information, dass der Zar bereits verstorben und Anna neu gewählte Zarin sei; sondern es sei zudem eine Deputation am 5. Februar in Kurland angekommen, und es stehe fest, dass Anna umgehend nach Moskau aufbreche.485 Die Ankunft der Deputation in Mitau ist für dieses Datum belegbar.486 Dass dem holsteinischen Herzog diese Informationsfülle bereits so früh und über verschiedene Wege zukam, ist ein relevanter Befund, der die verschiedenen Facetten der frühneuzeitlichen diplomatischen Kommunikation aufdeckt, die jenseits der offiziellen Korrespondenzen stattfand. Der holsteinische Herzog könne die erhaltene Information – laut seinem Hofkanzler – kaum glauben und warte daher auf die Korrespondenz seiner in Moskau weilenden Gesandten, um von diesen zu erfahren, ob die Nachrichten zuträfen. Dies sei aufgrund des Alters des Zaren eine schwer vorstellbare Begebenheit.487 Noch am gleichen Tag verfasste Hofkanzler Heinrich Christian Stryk (1673–1732)488 an den holsteinischen Gesandten Kettenburg: Der am folgen-
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dem russischen Dienst suspendiert. Er wurde von Kaiser Karl am 24. Mai 1731 in den Adelsstand berufen und starb am 19. August 1739 in Hamburg, siehe Michail Fundaminski: Resident Johann Friedrich Böttiger und die russische Propaganda in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Europa in der Frühen Neuzeit, hg. von Erich Donnert, Weimar, Köln, Wien 1997, S. 47–60, hier S. 48 f. Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 451. Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 12.03/23.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 39. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 175. Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Heinrich Christian Stryk (1673–1732) war Jurist und Staatsmann. Er promovierte 1699 in Halle und wurde noch im gleichen Jahr kaiserlicher Legationssekretär und auch am Reichsgerichtshof tätig war. 1707 wurde er holsteinischer Justizrat und vertrat die holsteinischen Interessen in Wien. 1711 stieg er zum holsteinischen Geheimen Kammersekretär auf. 1725 war er Gesandter am russischen Hof, wo er 1726 zum Staatsrat bestellt wurde. Ab 1727 war er Hofkanzler in Kiel und somit für die außenpolitische Korrespondenz zuständig. Er starb dort am 12. März 1732. Die Literaturgrundlage zu Stryk ist ausgesprochen gering. Ernst Landsberg: Stryck, Heinrich Christian, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 36, hg. von Historische Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften, München, Leipzig 1893, S. 698. Pries, Das Geheime Regierungs-Conseil in Holstein-Gottorf 1716–1773, S. 43.
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den Tag drei Jahre alt werdende junge Herzog Karl Peter Ulrich „scheinet auch ebenfals bereits die selbige Fata weg Rußland zu haben, die der durchläuchtigste Vater weg Schweden leyder ! hat erleben müßen“.489 Kettenburg verweist hierbei darauf, dass bereits Karl Friedrich als schwedischer Thronfolger gehandelt, aber zum entscheidenden Zeitpunkt übergangen worden war.490 Nachdem zeitgleich zur Abfassung ebendieses Briefes die Bestätigung der Vorgänge aus Moskau in Kiel eintraf,491 schien auch die Möglichkeit der Thronfolge des jungen holsteinischen Prinzen und Enkels Zar Peters I. in Russland vertan. Somit war es den Holsteinern trotz aussichtsreicher Perspektiven auf einen mächtigen europäischen Thron abermals nicht gelungen, den Trumpf der dynastischen Verflechtungen zu nutzen.492 Den Befehl des holsteinischen Hofs, Bonde dürfe wider Erwarten nicht die Rückreise aus Moskau antreten, erhielt er durch ein Schreiben des Herzogs von Holstein493 und des holsteinischen Hofkanzlers Stryk.494 Letzterer betonte wenig später abermals, dass Bondes Verbleib in Moskau in dieser neuen und noch unklaren Situation unumgänglich sei.495 Bonde war in Moskau deswegen unabkömmlich, da er im Gegensatz zu seinem vor wenigen Wochen angereisten Kollegen Tessin fließend sussisch sprach496 und mit den Gegebenheiten und den Akteuren am Moskauer Hof vertraut war.497 Die Geburt seines Sohnes am 14. Januar 1730498 verzögerte Bondes bereits geplante Rückreise,499 sodass der Befehl seines Herzogs seine Familie noch in Moskau erreichte. Dass Bondes erhoffte Heimreise mit seiner Familie nicht mehr umzusetzen war, hatte somit politische und familiäre Gründe, die in dieser Situation eng miteinander verbunden waren.500 Tessin wurde Taufpate des neugeborenen Sohnes seines diplomatischen Kollegen.501 489 Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 490 Vgl. Pries, Das Geheime Regierungs-Conseil in Holstein-Gottorf 1716–1773, S. 19. Neuschäffer, Henning Friedrich Graf von Bassewitz, S. 108 f. 491 Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 492 Vgl. Hübner, Ferne Nähe, S. 50–52. 493 Vgl. Herzog Karl Friedrich an Bonde, Kiel, 23.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. 494 Vgl. Hofkanzler Stryk an Bonde, Kiel, 23.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2225, ohne Foliierung. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 23.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 495 Vgl. Hofkanzler Stryk an Bonde, Kiel, 27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2225, ohne Foliierung. 496 Vgl. ebd. 497 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 11.07.1729, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/6, 107r. Die Angabe bei Hausmann, dass Nils Bonde zeitgleich mit Tessin sein Beglaubigungsschreiben erst am 11. Dezember 1730 überreicht bekommen habe, erscheint somit falsch, siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 194. 498 Vgl. Bonde an Hofkanzler Stryk, 09.01.1730 a.St. [20.01.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung. 499 Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 500 Dass die Betrachtung des Berufs-, Sozial- und Alltagsleben von Diplomaten aufschlussreich für die Analyse von politischen Netzwerken sein kann, belegt somit nicht nur der hier geschilderte Fall Nils Bondes, sondern auch der bereits vorher kurz dargestellte Fall Thomas Wards und Claudius’ Rondeaus. Vergleiche dazu auch: Edelmayer, Gesandtschaftsberichte in der Frühen Neuzeit, S. 849–859. 501 Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 09.02./20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 09.02./20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung.
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Die Doppelrolle der preußischen Königin als zusätzliche Gefahr für das russisch-preußische Bündnis Auch der mit Kaiser Karl VI. und dem russischen Hof alliierte preußische König Friedrich Wilhelm I. reagierte am 18. Februar erschüttert auf den unerwarteten Tod des jungen Zaren: „Wir können auch nicht läugnen, daß Uns der Todesfall dieses in der ersten Blühte seiner Jugendt der Welt entzogenen Kaysers schwertlich falle.“502 Erst aus der Weisung Friedrich Wilhelms I. vom 25. Februar geht hervor, dass der Tod des Zaren und die Erhebung Annas bereits vor dem Eingang der Relation Mardefelds durch den russischen Gesandten in Berlin, Sergej Dmitrievič Golicyn,503 bekannt gemacht worden war. Sergej Dmitrievič Golicyn war der Sohn des in Moskau bedeutenden Dmitrij Michaj lovič Golicyn. Rückblickend zeigte sich Mardefeld darüber wenig verwundert, da sein Kurier mehrfach angehalten wurde.504 Der preußische König strebte die Verlängerungen seines Bündnisses mit Russland und des Bündnisses zwischen Russland und dem Kaiser an. Er zeigte sich gegenüber Mardefeld zuversichtlich, dass die neue Zarin diese Bündnisse fortsetzen werde,505 womit er die Hoffnung Prinz Eugens und des kaiserlichen Hofs teilte.506 Aus dem Schreiben des kaiserlichen Sekretärs Franz Christian Joseph von Demrath507 und des kaiserlichen Gesandten Friedrich Heinrich Seckendorff in Berlin geht hervor, dass der preußische König diese Bündnisse und die militärische Unterstützung durch den Tod Peters II. in großer Gefahr sehe.508 Die Todesnachricht erreichte auch Berlin keineswegs als Erstes durch die Briefe Mardefelds, sondern war bereits aus Mitau, Danzig und Königsberg 502 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 18.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 61r. 503 Vgl. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 326. Sergej Dmitrievič Golicyn war bevollmächtigter Gesandter in Preußen. Er kam am 09. Januar 1730 in Berlin an und verließ es am 15. Oktober 1730. 504 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 23.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 118r/v. 505 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 18.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 61r/v. 506 Vgl. Prinz Eugen an Wratislaw, Wien, 22.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, 16r/v. Kaiser Karl VI. an Wratislaw (zweiter Brief ), Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 77v–80v. 507 Franz Christian Joseph von Demrath war vom 18. Januar 1727 (Beglaubigungsschreiben) bis zum Mai 1728 (letzte Audienz) kaiserlicher Resident in Preußen. Von 1733 bis 1739 war er dann Resident am preußischen Hof für Kaiser Karl VI. Er war der Sohn eines würzburgischen Geheimrats, der von Reichsvizekanzler Friedrich Karl von Schönborn zum kaiserlichen Residenten in Berlin ernannt wurde, um unabhängiger von Prinz Eugen zugeneigten Gesandten Seckendorff zu sein. Siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 77 und S. 548. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 220 f. 508 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Berlin, 14.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, fol. 84v/85r. Demrath an Kaiser Karl VI., Berlin, 14.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, 86r/87r.
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bekannt.509 Demrath vermeldete aus Berlin an den Kaiser, dass die russische Notifikation des Todes des Zaren durch einen russischen Kurier in Berlin bestätigt worden sei und der russische Gesandte Golicyn sich von Berlin zu König Friedrich Wilhelm I. nach Potsdam begebe, um ihm davon offiziell Bericht abzustatten.510 Demrath sah verschiedene Gefahren für den Kaiser: nicht nur, dass eine anti-kaiserliche Partei am Berliner Hof den König „wanckelbar und irrig“511 machen, sondern auch, dass sich Russland derzeit aus seinen Bündnissen wieder zurückziehen könne.512 Dass diese Annahme keinesfalls eine Einzelmeinung blieb, sollten spätere Äußerungen Rondeaus und anderer englischer diplomatischer Vertreter in ganz Europa belegen.513 Wie vertraut der Gesandte Seckendorff mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm I. war, zeigt, dass dieser laut eigenen Angaben die versiegelte Todesmeldung aus Mitau und Danzig dem König zukommen ließ. Er hoffte zudem, diesen auf dem Paradeplatz anzutreffen, um mit ihm zu sprechen. Seckendorff berichtete am 14. Februar über die ausgesprochen unterschiedlichen Reaktionen auf den Tod des Zaren am Berliner Hof. Während das Ableben Peters II. dem König auf sein Gemüt schlage, herrsche bei dem schwedischen Gesandten und den hannoverisch gesinnten Alliierten große Freude.514 Seckendorff, der sich abwechselnd am Dresdner und am Berliner Hof aufhielt, unterhielt eine Geheimkorrespondenz mit Prinz Eugen,515 die weitere Facetten über die Lage am sächsischen und preußischen Hof verdeutlicht. Diese inoffiziellen Kontakte waren Kaiser Karl VI. bestens bekannt und dienten zur Festigung der Machtbasis sowie des Einflusses Prinz Eugens auf außenpolitische Angelegenheiten.516 Während die offiziellen diplomatischen Mitteilungen zwischen den Konferenzministern zirkulierten, waren diese Korrespondenzen diesem Personenkreis, insbesondere auch dem Hofkanzler Sinzendorff weder bekannt noch zugänglich.517 Für den in diesem Kapitel betrachteten Zeitraum ist neben der Geheimkorrespondenz mit Seckendorff die mit dem 509 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Berlin, 14.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, fol. 84v. Demrath an Kaiser Karl VI., Berlin, 14.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, 86r. 510 Vgl. Demrath an Kaiser Karl VI., Berlin, 18.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, 90r/v. 511 Ebd., fol. 90v. 512 Vgl. ebd., 90r/91r. 513 Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 260 f. 514 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Berlin, 14.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, fol. 84r/85r. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 14.02.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 110b, fol. 278v. Zu den freudigen und erwartungsvollen Äußerungen der englischen Gesandten du Bourgay am preußischen Hof in Berlin und Woodwards am sächsischen Hof in Dresden ausführlicher siehe Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 260 f. 515 Vgl. Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen, S. 16–18. 516 Vgl. ebd., S. 32–41. 517 Vgl. Michael Hochedlinger: Krise und Wiederherstellung. Österreichische Großmachtpolitik zwischen Türkenkrieg und „Zweiter Diplomatischer Revolution“ 1787–1791, Berlin 2000, S. 46 und S. 65.
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kaiserlichen Vertreter in Paris ausgesprochen aufschlussreich, während die anderen genannten Briefwechsel – wider Erwarten und entgegen der in der Literatur getroffenen Aussagen518 – im Vergleich zur parallel geführten offiziellen Korrespondenz keinerlei Mehrwert liefern. Allein die Existenz dieser geheimen Korrespondenzen zeigt das Vorhandensein verschiedener Parteiungen am Wiener Hof ebenso wie am preußischen Hof: Während Prinz Eugen eher eine Aussöhnung mit England anstrebte, sympathisierte der Wiener Hofkanzler Sinzendorf mit Frankreich und Spanien.519 Prinz Eugen hielt zudem die Allianzen des Kaisers mit dem russischen und preußischen Hof für unabdingbar.520 Aber nicht nur die verschiedenen Akteure und Akteurinnen an den Höfen in Berlin und Wien, sondern auch die in Dresden tendierten jeweils zu unterschiedlichen Bündnissen, wie aus den Ausführungen zwischen Prinz Eugen und Seckendorff hervorgeht. Während die preußische Königin Sophie Dorothea und die Mitglieder des Geheimen Staatsrats, Adrian Bernhard Graf von Borcke (1668–1741) und Friedrich Ernst Freiherr zu Innhausen und Knyphausen (1678–1731)521, der mehrheitlich die Berichte Mardefelds in Empfang nahm, als pro-britisch charakterisiert werden, war der preußische König pro-kaiserlich und somit für die Wahrung des Bündnisses. Prinz Eugen sah ebendiesen Einfluss der Königin Sophie Dorothea und der genannten Minister als problematisch an. Er wollte den Einfluss der beiden Minister verringern und arbeitete daher auf deren Enthebung aus ihren Hofämtern hin, wodurch er sich Schmälerung des Einflusses der Königin auf den König erhoffte. Wenn die Minister Borcke und Knyphausen ersetzt würden, dann durch Personen, die „weder durch die [preußische] Königin noch Engli[sches] Geld sich verführen lasten“.522 Der preußische König dürfe durch die Königin und gewisse Minister nicht zu einem Bündnis mit England und Frankreich verleitet werden, so Prinz Eugen.523 Seckendorff erhielt zudem die Warnung durch den sächsischen Kabinettsminister Graf Ernst Christoph von Manteuffel
518 Vgl. Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen, S. 25. Zur Forderung nach Berücksichtigung von geheimer oder privater Korrespondenz zur Ergründung der Motive einzelner Akteure siehe auch: Gisela Steuer: Englands Österreichpolitik in den Jahren 1730–1735 nach den Berichten des englischen Gesandten am Wiener Hof, Thomas Robinson, Bonn 1957, S. 7. 519 Vgl. ebd., S. 11–15. 520 Vgl. Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen, S. 36. 521 Friedrich Ernst Freiherr zu Innhausen und Knyphausen (1678–1731) stammte von altem ostfriesischem Adel ab. Nach verschiedenen diplomatischen Tätigkeiten leitete er seit 1718 mit Illgen die auswärtigen Angelegenheiten. Nach dessen Tod 1722 leitete diese gemeinsam mit Borck und Thulemeyer. Da er die englischen Heiratsabsichten zu stark vertrat, entließ ihn der preußische König Friedrich Wilhelm I. unter einem gesundheitlichen Vorwand aus diesem Amt. Knyphausen starb 1731, siehe Krusche, Die Entstehung und Entwicklung der ständigen Vertretung Brandenburg-Preußens am Zarenhofe bis zum Eintritt Rußlands in die Reihe der europäischen Großmächte, S. 71. 522 Prinz Eugen an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 22.02.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 110b, fol. 335r. Vergleiche dazu auch: Schönpflug, Die Heiraten der Hohenzollern, S. 172– 175. 523 Vgl. Prinz Eugen an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 22.02.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 110b, fol. 334r/335r.
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(1676–1749)524, der ebenfalls eine Geheimkorrespondenz aus Dresden mit Prinz Eugen unterhielt,525 dass es am sächsischen Hof gleichfalls eine große pro-französisch gesinnte Partei gebe, die auch August II. zu einer Allianz mit Frankreich verleiten könnte.526 Auch wenn die Gründe für Manteuffels Agieren für den Kaiser nicht restlos geklärt werden können, so erscheint seine politische Überzeugung ausschlaggebend gewesen zu sein, obgleich die finanziellen Motive des ständig verschuldeten Manteuffels durchaus eine Rolle gespielt haben mögen.527 Die parallelen voneinander abweichenden Korrespondenzen Le Forts aus Moskau scheinen ein Resultat der gegeneinander arbeitenden Parteien am sächsischen Hof zu sein. Er schrieb einerseits dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Manteuffel,528 einem Parteigänger des Kaisers und Preußens, und parallel dem Minister des Inneren Graf, Karl Heinrich von Hoym (1694–1736)529, einem Unterstützer der Alliierten von Sevilla. Zwischen beiden war seit 1729 zudem ein Kompetenzstreit um die Zuständigkeiten für Innere und Auswärtige Angelegenheiten ausgebrochen, der sich zu einem politischen Richtungsstreit entwickelte.530 524 Ernst Christoph Graf von Manteuffel (1676–1749) entstammt einem pommerschen Adelsgeschlecht. Er studierte Jura und Philosophie in Leipzig. Von 1699 bis 1701 stand er in preußischen Diensten, bevor er in kursächsische Dienste trat. Zu seinen diplomatischen Tätigkeiten gehörten Gesandtschaften von 1705 bis 1707 und 1709/1710 nach Dänemark, 1711 im niedersächsischen Kreis und von 1711 bis 1717 am preußischen Hof. 1715 wurde er Kabinettsminister, von 1717 bis 1730 war er Kabinettsminister des Auswärtigen Departments des Geheimen Kabinetts. Diesen Posten führte er in den Jahren 1728 bis 1730 gleichrangig mit Franz Joseph Wicardel Marquis de Fleury aus. Er war Informant Prinz Eugens und quittierte seinen Dienst in Sachsen 1730. 1713 heiratete er Gottlieba Agnes Charlotte, geborene von Bludowska, verwitwete von Trach (1690–1756), siehe ausführlicher: Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 350 f. 525 Vgl. Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen, S. 27–30. Siehe dazu ausführlicher, insbesondere: Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 71–84. 526 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 14.02.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 110b, fol. 278v. 527 Vgl. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 18–22. 528 Zu den biografischen Hintergründen siehe Judith Matzke, Manteuffel, Ernst Christoph Graf von, in: Sächsische Biografie, http://saebi.isgv.de/biografie/Ernst_Christoph_von_Manteuffel_(1676-1749), 29.8.2017. Ausführlicher, siehe Dorothea von Seydewitz: Ernst Christoph Graf Manteuffel. Kabinettsminister Augusts des Starken. Persönlichkeit und Wirken, Dresden 1926. 529 Karl Heinrich Graf von Hoym (1694–1736) war kursächsischer Kabinettsminister und Gesandter. Er war 1711 als Angehöriger der kursächsischen Gesandtschaft bei der Kaiserkrönung Karls VI. anwesend. Seit 1720 war er Gesandter in Frankreich und von 1725 bis 1729 dortiger Botschafter. Seit 1729 war er Kabinettsminister des Inneren Departements im Geheimen Kabinett und seit 1730 Vorsitzender des Geheimen Konsiliums. 1731 wurde er seiner Ämter enthoben und ab 1731 inhaftiert. Er beging 1736 Suizid. Zu den biografischen Hintergründen siehe Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 341. Virgine Spinlé, Hoym, Karl Heinrich Graf, in: Sächsische Biographie, http://saebi.isgv.de/biografie/Karl_Heinrich_von_Hoym_(1694-1736), 3.9.2017 530 Vgl. ebd., S. 96–102. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 36 f.
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Seit Anfang 1730 wurde erbittert um die außenpolitische Positionierung des Dresdner Hofs gestritten.531 Obwohl Le Forts eigene Position schwer zu ermitteln ist, bietet seine Erwähnung in einer Mitteilung Seckendorffs an den Kaiser erste Anhaltspunkte für eine pro-kaiserliche Einstellung: Seckendorff leitete dem Kaiser einen an ihn aus Memel adressierten Brief des Barons von Werthern532 weiter.533 Darin hieß es, dass ein vom sächsisch-polnischen Gesandten Le Fort aus Moskau abgesandter Kurier auch durch Memel reise. Dieser habe Berichte für den Wiener und den Berliner Hof erhalten, aber auch einen Brief Le Forts an die in Mitau verweilende designierte Zarin, ohne dass die dorthin geschickte russische Delegation davon erfahren habe.534 Über den Inhalt des Briefes an Anna ist leider nichts bekannt. Dies zeigt aber, dass der sächsisch-polnische Kurier auch Briefe für die Höfe in Berlin und Wien transportierte. Die Geheimkorrespondenz Seckendorffs zeigt, dass die preußische Königin Sophie Dorothea, eine Schwester des englischen Königs Georg II., dem König entgegengesetzte außenpolitische Ambitionen hegte und Unterstützerin der pro-britischen Fraktion am Hof war.535 In ihrer privilegierten Position am Hof als Königin nutzte sie ihre „Doppelrolle als Ehefrau des Königs und Vertreterin ihrer Herkunftsfamilie“536 zugunsten letzterer.537 Seckendorff hingegen, der das 1728 geschlossene preußisch-kaiserliche Bündnis verhandelt hatte,538 wollte eine Hinwendung zu England im Interesse des Kaiserhofs strikt verhindern. Während Seckendorff das Vertrauen des preußischen Königs genoss, war er bei der pro-britischen Partei in Berlin verhasst.539 Diese Betrachtungen belegen damit die Notwendigkeit der akteurbezogenen Perspektive in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit, die sich auf vielfältige personenbezogene Netzwerke stützten, wie dies bereits zu Beginn der Arbeit dargelegt wurde. Die Annahme einer monolithischen Interessenlage innerhalb einzelner Höfe kann damit widerlegt werden. Der frühneuzeitliche Hof wird hierbei als Interaktionsraum zwischen dem Monarchen beziehungsweise der Monarchin und den höfischen Entscheidungsträgern beziehungsweise zwischen Personen, die Zugang zu ebendiesem Personenkreis hatten, verstanden.540 Diese in der Forschung vertretenen Ansichten können hier an konkreten Beispielen bestätigt werden.
531 Vgl. ebd., S. 71–84. 532 Über den Absender, Baron von Werthern, konnten leider keine weiteren Angaben gefunden werden. 533 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Berlin, 14.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, fol. 73r. 534 Vgl. Werthern an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Memel, 10.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, fol. 73r–75r. 535 Vgl. Schönpflug, Die Heiraten der Hohenzollern, S. 172–177. Neugebauer, Handbuch der Preußischen Geschichte, S. 321. 536 Bastian, Dade, Ott, Weibliche Diplomatie?, S. 105. 537 Vgl. ebd., S. 105. Schedewie, Die Bühne Europas, insbesondere S. 19–22. Der gleiche Befund in Bezug auf die italienischen Dynastien, siehe Schnettger, Geschichte einer Dekadenz?, S. 62 f. 538 Vgl. Schönpflug, Die Heiraten der Hohenzollern, S. 172. 539 Wagner, Das Reisejournal des Grafen Seckendorff vom 15. Juli bis zum 26. August 1730, S. 187. 540 Vgl. und dazu ausführlicher: Thiessen, Windler, Außenbeziehungen in akteurszentrierter Perspektive Nolde, Was ist Diplomatie und wenn ja, wie viele?, S. 179. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 13–19. LeDonne, Absolutism and Ruling Class, vii-vii.
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London – keine Notwendigkeit der Instruktion der Gesandten in Moskau? Auch am Londoner Hof kam es seit der Vertragsunterzeichnung von Sevilla Ende 1729 wieder zu verstärkten Auseinandersetzungen zwischen der pro-kaiserlichen Parteiung unter Premierminister Robert Walpole und den Vertretern der neu geschlossenen Allianz mit Frankreich und Spanien.541 Die Spannungen zwischen diesen beiden Fraktionen dominieren die Berichte des kaiserlichen Gesandten Philipp Kinsky542 an Karl VI., der das Eintreffen der Todesnachricht des Zaren in London nicht thematisierte.543 Den Tod des Zaren vermeldeten in London ebenfalls nicht als Erstes die englischen Vertreter in Moskau, sondern der englische Diplomat aus Hamburg.544 Diplomatische Berichte wurden im Privy Council besprochen und die daraus folgenden Instruktionen durch Beratung oder Weisung des Königs formuliert.545 Nachdem die Todesnachricht aus Moskau laut Eingangsvermerk vom 21. Februar 1730 in London angekommen war,546 fand der Tod Zar Peters II. in der folgenden Weisung nach Moskau an die englischen diplomatischen Vertreter Ward und Rondeau keinerlei Erwähnung.547 Im klaren Gegensatz dazu steht, dass diplomatische Vertreter der englischen Krone in ganz Europa mannigfaltig auf dieses Ereignis in Moskau reagierten. Der Leiter der Auswärtigen Angelegenheiten, Charles Townshend, sandte detaillierte Weisungen über den Tod des Zaren an seine diplomatischen Vertreter nach Kopenhagen und Dresden, aber nicht nach Moskau. Townshend wollte vom englischen Gesandten in Dresden wissen, wie am sächsischen Hof die unterwartete Todesnachricht aufgenommen worden sei und ob es
541 Dazu ausführlicher siehe Black, Parliament and Foreign Policy in the Eighteenth Century, S. 48–61. Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, S. 162–177. Steuer, Englands Österreichpolitik in den Jahren 1730–1735 nach den Berichten des englischen Gesandten am Wiener Hof, Thomas Robinson, S. 15–17. 542 Graf Philipp Josef Kinsky war der Bruder Stephan Wilhelm Kinskys. Er war Geheimer Rat, Appellationsvizepräsident, Statthalter in Böhmen, Kämmerer in Diensten Kaiser Karls V. Er war außerordentlicher Gesandter des Kaisers in Großbritannien seit dem 1. September 1728 (Anreise), wurde am 8. Dezember 1732 zum Botschafter befördert und beendete seine Tätigkeit am 6. September 1736. Kurzzeitig diente er als subsistierender Botschafter in Hannover (20. April 1734), um einen Vertrag über ein Hilfskorps gegen Frankreich zu schließen. Er war wie sein Bruder gegen den Willen Sinzendorfs nach London entsandt worden. Gründe dafür waren unter anderem die Protektion Eugens und sein großer Reichtum. Nachdem er seine finanziell kostspielige Gesandtschaft in London beendet hatte, erbat er sich die Würde des Geheimen Rats. Siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 65, S. 67 und S. 599. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 224 f. und S. 252. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 29. 543 Philipp Kinsky an Kaiser Karl VI., London, 25.02.1730, HHStA Wien, England, Karton 67, Konvolut 1, fol. 92r–103v (teilweise chiffriert). 544 Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 260. 545 Vgl. Horn, The British Diplomatic Service, S. 2–5. 546 Vgl. Ward an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 13r/14v. 547 Vgl. Secretary of State Townshend an Ward, Whitehall, 03.03.1730, TNA, SP 91/11, fol. 25r/26v.
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nun Ambitionen gebe, dem Bündnis mit dem Kaiser und Preußen beizutreten.548 Schätzte Townshend die Stellung Rondeaus und Wards am russischen Hof als zu gering ein? Oder wollte er als Befürworter des englischen Bündnisses mit Frankreich und Spanien549 den bisherigen Einschätzungen seiner in ganz Europa weilenden Diplomaten Glauben schenken, dass Russland zu schwach sei, um den Kaiser militärisch zu unterstützen und sich langfristig aus den europäischen Angelegenheiten zurückziehen werde?550 Die Klärung dieser Fragen kann anhand der relevanten Archivalien nicht beantwortet werden. In der Literatur finden sich die Erklärungen, dass die englische Krone aufgrund des erneuten Thronwechsels mit politischer Instabilität rechnete, woraus eine Schwächung Russlands abgeleitete wurde. Während die Gewinnung Preußens und Polens als zentral angesehen wurde, war England in Bezug auf Russland zurückhaltend, um seine Verbündeten Schweden und Dänemark nicht zu brüskieren.551
Schweigen in Dresden – Verwirrung in Warschau Der Dresdner Hof, der laut Eingangsvermerk des Berichts seines Gesandten in Moskau am 18. Februar über den Tod informiert wurde,552 reagierte mit keinem Wort auf dieses Ereignis.553 Erst am 9. März ordnete August II. als einzige Bezugnahme auf den Tod Peters II. an, Le Fort solle sich bezüglich der einzuhaltenden Trauer wie die anderen Gesandten verhalten.554 Der Blick auf die zweite sächsisch-polnische Residenzstadt Warschau offenbart, dass der kaiserliche Gesandte, Heinrich Wilhelm Graf von Wilczek (1665–1739)555, durch den preußischen Generalpostmeister persönlich über die Ereignisse in Moskau informiert wurde, 548 Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 258–262. 549 Vgl. Steuer, Englands Österreichpolitik in den Jahren 1730–1735 nach den Berichten des englischen Gesandten am Wiener Hof, Thomas Robinson, S. 15. 550 Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 258–264. 551 Vgl. Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, S. 179–181. 552 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 30.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 30r. 553 Vgl. König August II. an Le Fort, Dresden, 25.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03362/09, fol. 13r. 554 Vgl. König August II. an Le Fort, Dresden, 09.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 51r. 555 Heinrich Wilhelm Graf von Wilczek wurde am 15. September 1665 geboren. Er trat früh in die Dienste Kaiser Leopolds I. und wurde aufgrund seiner militärischen Verdienste von Eugen gefördert. Er war von 1711 bis zum 26. Februar 1712 kaiserlicher Gesandter in Moskau. 1714 erhob ihn Kaiser Karl VI. in den erblichen Reichsgrafenstand. Er führte zudem diplomatische Missionen den Höfen in Moskau, Sachsen-Gotha, Bayreuth, Ansbach und Darmstadt aus. Von 1729 bis 1734 war er kaiserlicher Gesandter in Polen, um die Thronfolge Augusts III. zu erwirken. Ausführlicher siehe Karl Schrauf: Wilczek, Heinrich Wilhelm Graf von, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 42, hg. von Historische Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften, München, Leipzig 1897, S. 479–481.
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nachdem dieser Nachricht aus Danzig erhalten hatte. Warschau erreichten zeitgleich ein vom 26. Januar datierter Brief mit der Information der Besserung des Gesundheitszustandes des Zaren und ein Brief aus Mitau, der die Ankunft einer russischen Delegation ankündigte, die ihrerseits den Tod des Zaren vermeldete sowie die umgehende Wahl der verwitweten Herzogin von Kurland, Anna, am gleichen Morgen. Somit wurden beide Nachrichten zeitgleich empfangen – wie ebenso für Kiel und Wien belegt werden konnte. Wilczek erhielt die Nachricht über die Erhebung Annas vom polnischen Primas und zeigte sich sehr verwundert, darüber keine Mitteilungen von seinem Kollegen Wratislaw aus Moskau erhalten zu haben. Auch der russische Gesandte in Warschau, der am Vortag bei ihm gespeist habe, habe die Erkrankung Peters an den Pocken nicht einmal erwähnt, geschweige denn dessen Tod. Daher habe Wilczek direkt den russischen Gesandten in Warschau kontaktiert, der auch sofort zu ihm gekommen sei. Dieser habe allerdings keinerlei Informationen über den Tod, sondern lediglich einen Brief vom 23. Januar 1730 mit der Nachricht erhalten, dass der Zar an den Pocken erkrankt sei, sich aber auf dem Weg der Genesung befinde. Diese Verwirrung habe Wilczek dazu veranlasst, dem Kaiser darüber Mitteilung zu machen.556 Erst wenige Tage später erhielt der russische Gesandte in Warschau die Nachricht vom Tod Peters II. und von der Erhebung Annas.557 Wilczek war nicht nur ein enger Vertrauter Prinz Eugens,558 sondern er unterhielt auch eine geheime Korrespondenz mit ihm,559 die jedoch den Tod des Zaren nicht thematisierte.
Die Hoffnung des mecklenburgischen Herzogs auf russische Unterstützung Wie reagierte der sich seit Ende 1721 im Danziger Exil befindliche Herzog Karl Leopold560 auf den Tod des Zaren? Der Kaiser hatte den Herzog seiner Landesherrschaft in Mecklenburg-Schwerin im Mai 1728 enthoben.561 Die seit 1713 anhaltenden Konflikte des Herzogs mit den mecklenburgischen Landständen, die juristisch vor dem Reichsgerichtshof in Wien ausgetragen wurden, führten nach Missachtung verschiedener richterlicher Urteile zu einer militärischen Intervention und Wiederherstellung der kaiserlichen Autorität.562 Der mecklenburgische Herzog versuchte, gegen die kaiserliche Politik Fürsprecher für seine Interessen in Russland zu finden. Da Danzig geografisch wesentlich näher an Moskau liegt als die anderen 556 Vgl. Wilczek an Kaiser Karl VI., Warschau, ohne Datum, HHStA Wien, Polen II, Karton 5, Konvolut 1, fol. 56r/v. 557 Vgl. Wilczek an Kaiser Karl VI., Warschau, 22.02.1730, Polen II, Karton 5, Konvolut 1, fol. 63r. 558 Vgl. Schrauf, Wilczek, Heinrich Wilhelm Graf von, S 479–481. 559 Vgl. Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen, S. 13–18. 560 Vgl. Wick, Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 158. Arndt, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit, S. 439 f. 561 Vgl. Wick, Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 172. Ausführlicher zu Fürstenabsetzungen in vergleichender Perspektive siehe Werner Troßbach: Fürstenabsetzungen im 18. Jahrhundert, in: ZHF 13, 1986, S. 425–454, hier S. 425–430. 562 Siehe dazu ausführlich: Wick, Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 43–158.
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europäischen Höfe, könnte vermutet werden, dass der Herzog die Berichte seines Gesandten früher erhalten habe. Karl Leopold erhielt die Nachricht J.C.D. Ostermanns mit der Todesmeldung des Zaren jedoch nahezu zeitgleich wie die anderen europäischen Höfe um den 21. Februar,563 da der mecklenburgische Gesandte aus unbekannten Gründen diese Nachricht erst am 2. Februar – statt wie alle seine Kollegen am 30. Januar – abgeschickte hatte. Bereits am 14. Februar erreichten den Herzog in Danzig jedoch Gerüchte, dass große Veränderungen in Russland vor sich gegangen seien. Karl Leopold forderte von seinem Gesandten in Moskau Rechenschaft darüber, warum seine in Moskau lebende Frau, Herzogin Katharina von Mecklenburg, nicht auf seine Briefe antworte. Da Katharina von Mecklenburg seine auf Deutsch verfassten Briefe nicht lesen könne, solle der mecklenburgische Gesandte ihr übermitteln, dass sie sich bei ihrer Schwester für eine Verlängerung der mecklenburgisch-russischen Allianz einzusetzen habe.564 Dabei ging es Karl Leopold um die Bestätigung der bei der Heirat 1716 geschlossenen Allianz mit Zar Peter I., um Unterstützung gegen den Kaiser zu erhalten. Im Heiratsvertrag war zudem diplomatische Hilfe bei der Lösung von Streitigkeiten mit Kaiser Karl VI. von russischer Seite zugesagt worden.565 Karl Leopold drängte seinen Gesandten zur Berichterstattung, die dieser einem hierfür nach Moskau geschickten Kaufmann übergeben solle, um die Übermittlung zu gewährleisten. Der mecklenburgische Herzog forderte mit Nachdruck ebenso wie der preußische und kaiserliche Hof eine Bündnisverlängerung mit dem Russländischen Reich.566 Diese Reaktionen zeigen, dass er versuchte, durch seine in Moskau getrennt von ihm lebende Frau Einfluss auf den russischen Hof zu erlangen.
Versailles: Der Tod des Zaren als Beginn großer Veränderungen? Nachdem festgestellt wurde, dass die Nachricht vom Tod Peters II. mit großer Konsternation in Kiel, Berlin und Wien aufgenommen wurde, gilt es ebenso, den Blick nach Versailles zu wenden, um die europäische Dimension dieses Ereignisses zu untersuchen. Seit dem Vertrag von Sevilla im Dezember 1729 war die französische Krone neben England der mächtigste Partner Spaniens, der auf territoriale Veränderungen zu Lasten des Kaisers auf der italienischen Halbinsel drängte. Wie beurteilte die französische Krone den Tod des Zaren vor dem Hintergrund, dass der Kaiser bereits unablässig Truppen auf die italienische Halbinsel schickte, wie alle in Wien anwesenden Gesandten genauestens beobachteten?
563 Vgl. Herzog Karl Leopold an J.C.D. Ostermann, Danzig, 21.02.1730, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 267r. 564 Herzog Karl Leopold an J.C.D. Ostermann, Danzig, 14.02.1730, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 266r. 565 Vgl. Bagger, The Role of the Baltic in Russian Foreign Policy, 1721–1773, S. 44 f. Graff, Die zweite Ehe des Herzogs Karl Leopold, S. 219 f. Wick, Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 80–82. 566 Vgl. Herzog Karl Leopold an J.C.D. Ostermann, Danzig, 21.02.1730, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 266r.
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Auch der Versailler Hof erhielt die Todesnachricht nicht zuerst durch seinen in Russland weilenden diplomatischen Vertreter, sondern über eine andere nicht namentlich genannte Person. In einer Weisung an Magnan vom 26. Februar 1730 wurden lediglich die Berichte vom 19. und 23. Januar, die über Berlin geschickt wurden, als zur Kenntnis genommen angegeben.567 Dieses Beispiel zeigt abermals nicht nur, wie wichtig es war, weitere Nachrichten zu den offiziellen Berichten aus Moskau zu erhalten, sondern auch wie relevant eine synchrone Betrachtung diplomatischer Relationen ist. Der in den französischen Weisungen nicht genannte Urheber der Nachricht über den Tod des Zaren war offenbar der französische Gesandte in Berlin. Dieser hatte demnach aus Berlin umgehend einen Kurier nach Paris entsandt, wie aus den Berichten des kaiserlichen Geschäftsträgers in Paris, Baron Marcus von Fonsecas,568 hervorgeht.569 Dieser war neben dem Gesandten Stephan Wilhelm Kinsky (1679–1749)570 in Paris für den Kaiser tätig. Stephan Kinsky war 1721 ein knappes Jahr lang 567 Vgl. Chauvelin an Magnan, Versailles, 26.02.1730, A.A.E. Paris, Russie 23, fol. 22r/v. 568 Marcus Baron de Fonseca war brabantischer Finanzrat. Er war kaiserlicher Bevollmächtigter in Frankreich (Ankunft vor dem 27. Juli 1719). Vom 21. Februar 1722 (Beglaubigungsschreiben) bis zum 19. Dezember 1730 (letzte Relation) war er als kaiserlicher Chargé d‘Affaires erneut in Frankreich tätig. Zunächst vertrat er den kaiserlichen Botschafter Freiherr Dr. Johann Christoph Pentenriedter von Adelshause in Paris während dessen Tätigkeit am Kongress von Cambrai. Nach dessen Tod (20. Juli 1728) blieb Fonseca neben dem kaiserlichen Botschafter Stephan Kinsky in Paris tätig. Gleichzeitig war er bevollmächtigter Minister der Österreichischen Niederlande in Frankreich vom 29. August 1720 (erste Relation) bis zum 23. Dezember 1729 (letzte Relation). Da Fonseca im Verlauf von 1730 allzu großer Sympathien gegenüber Fleury verdächtigt wurde, ließ ihn der Kaiser überwachen. Es kam zudem zu Spannungen zwischen Kinsky und Fonseca. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 61, S. 65, S. 72, S. 258 und S. 565. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 50 und S. 91–94. 569 Vgl. Fonseca an Sinzendorf, Paris, 23.02.1730, HHStA Wien, Frankreich, Karton 37, Konvolut I, fol. 61v. Fonseca scheint diejenigen Berichte, die er allein unterzeichnete, wirklich an den Hofkanzler statt wie üblicherweise an den Kaiser gerichtet zu haben. 570 Graf Stephan Wilhelm Kinsky (1679–1749) war der Bruder des kaiserlichen Gesandten Philipp Kinsky. Er war kaiserlicher Geheimer Rat in Böhmen, Oberst und Kämmerer. Kinsky gehörte von 1702 bis 1719 der kaiserlichen Armee an und verließ diese mit dem Rang eines Obersts. Vom 21. September 1721 (Ankunft) bis zum 28. Juli 1722 (Abreise) war er außerordentlicher Gesandter in Russland. Seine Abreise war durch die Annahme des Kaisertitels durch Peter bedingt, was zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen und der aufgenommenen Bündnisverhandlungen führte. Der niederrangige Legationssekretär Hochholzer blieb allein in Russland zurück. Kinsky verhandelte als kaiserlicher Abgesandter in der Pfalz vom 22. Januar 1727 (Ankunft) bis zum 2. April 1727 (Rekreditiv) und seit 27 Dezember 1726 (Beglaubigungsschreiben) in Pfalz-Sulzbach über die Erbfolge Jülisch und Berg. Seit dem 13. Juni 1729 (Ankunft) bis zum 16. März 1732 (Abreise) war er kaiserlicher Botschafter in Frankreich. Er wurde nach seinen diplomatischen Tätigkeiten Präsident des Kommerzkollegiums, Oberstlandeshofmeister und Oberster Landkämmerer in Böhmen. 1747 gelang es ihm als Erster aus seiner Familie, in den Reichsfürstenstand erhoben zu werden. Dies geschah unter anderem aufgrund seiner Verdienste als kaiserlicher Gesandter in Russland und Frankreich, siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 61, S. 74 f., S. 78 und S. 599. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfäli-
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Gesandter am russischen Hof gewesen, wurde im Zuge der Spannungen um den russischen Kaisertitel aber von dort abgezogen.571 Aus den französischen Weisungen an Magnan wiederum geht hervor, dass der Versailler Hof aufgrund des Ausbleibens direkter Nachrichten vom Moskauer Hof vermutete, dass Magnan die Absendung eines Kuriers aus Moskau nach Versailles nicht möglich war.572 Dennoch hielt Chauvelin Magnan explizit an, über den Tod Peters II. und die Erhebung Annas ausführlich zu berichten. Dies sei besonders wichtig, denn: «C’est certainement un grand evenement qui vâ vraisemblablement changer tout le systeme du Gouvernement de Russie tant au dedans qu’au dehors.»573
Während Chauvelin sich durch diese unerwartete Situation innen- und außenpolitische Veränderungen in Russland erhoffte, fürchtete Fonseca diese Veränderungen geradezu. Er war sich dieser Hoffnungen in Paris bewusst, die mit der Todesmeldung des Zaren als nahen Verbündeten des Kaisers einhergingen, und erbat daher Instruktionen, wie sich die kaiserliche Gesandtschaft zu verhalten habe. Gleichzeitig zeigte er sich verwundert, dass er über dieses tragische Ereignis noch keine Nachricht erhalten habe.574 Aus der Sekundärliteratur geht hervor, dass die englischen Vertreter in Paris, Thomas Robinson und Stephen Poyntz, – wenn auch in unterschiedlicher Qualität – von einer Schwächung der kaiserlichen Macht aufgrund der eingeschränkten Handlungsfähigkeit Russlands ausgingen.575 In der Geheimkorrespondenz mit Prinz Eugen betonte Stephan Kinsky die außenpolitischen Vorgänge in Europa. Kardinal Fleury und der Garde des Sceaux hätten den Plan, dass Stanislaus Leszczyński im Todesfall Augusts II. polnischer König werden solle. Um Konflikte mit dem Kurprinzen um die polnische Thronfolge zu vermeiden, solle dieser eine französische Prinzessin ehelichen und nach Leszczyńskis Tod auf den polnischen Thron folgen. Frankreich hatte ein Interesse daran, Stanislaus Leszczynski gegen August II. zu stärken, nachdem seine Tochter Maria seit der Heirat mit Ludwig XV. französische Königin war.576 Am sächsischen Hof stifte Hoym Zwietracht, und Manteuffel habe ein schlechtes Ansehen, vermeldete Kinsky.577 schen Frieden (1648–1740), S. 198. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 81 (FN 142) und S. 103 f. 571 Die Gesandtschaft Stephan Kinskys am russischen Hof ist ausführlich dargestellt, siehe ebd., S. 137– 245. 572 Vgl. Chauvelin an Magnan, Versailles, 26.02.1730, A.A.E. Paris, Russie 23, fol. 22r. 573 Ebd. Die Unterstreichung wie im Original. 574 Vgl. Fonseca an Sinzendorf, Paris, 23.02.1730, HHStA Wien, Frankreich, Karton 37, Konvolut I, fol. 61v/62r (chiffriert). 575 Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 258 f. 576 Vgl. René Hanke: Zur Beurteilung der sächsisch-polnischen Union (1697–1763). Grundlagen, Entwicklungsmöglichkeiten und Vorteile, in: NASG, 2003/04, S. 227–275, hier S. 255. Malettke, Die Bourbonen, S. 34 f. Schulze Wessel, Die Epochen der russisch-preußischen Beziehungen, S. 736. 577 Vgl. Stephan Kinsky an Prinz Eugen, Paris, 25.02.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 95a-1, fol. 59r–65r.
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Die Erkrankung und der Tod Zar Peters II.
Bezüglich der Beurteilung der Lage in Russland ist eine in der Geheimkorrespondenz zwischen Stephan Kinsky und Prinz Eugen liegende Abschrift eines Schreibens Stefan Kinskys an den kaiserlichen Gesandten Wratislaw nach Moskau besonders aufschlussreich. Stephan Kinsky vernahm die Nachricht vom unerwarteten Tod Peters II. zu einem Zeitpunkt, als er nach einem Brief Wratislaws vom 26. Januar nur eine leichte Erkrankung des Zaren angenommen hatte. Den Ausführungen Kinskys folgend, zeigte sich der in Paris anwesende Gesandte Alexander Gavrilovič Golovkin (1689–1760)578 erleichtert darüber, dass die der ausländischen Reputation des Zaren abträgliche Heirat mit Katharina Dolgorukaja nicht zustande gekommen war. Der lange außerhalb Russlands lebende Golovkin habe generell eine ausländische Prinzessin bevorzugt, da die Familie Golovkin ein verstärktes Streben der zahlreichen Dolgorukij nach Hofämtern und einer möglichen Rückkehr des ehemaligen Vizekanzlers Peter Pavlovič Šafirov auf diesen Posten aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehungen zu Katharina Dolgorukaja befürchtete. Der russische Gesandte begrüßte zudem die Versicherung des russischen Hofes, die Allianz mit dem Kaiser beizubehalten. Der Hof in Paris sei sehr bemüht, in Erfahrung zu bringen, ob der Tod des Zaren und nahen Verwandten des Kaisers zu Veränderungen bezüglich der Allianz beider Höfe führe.579 Aus dieser Darstellung wird deutlich, dass der russische Gesandte in Paris eigene, von seinem Hof divergierende politische Ansichten vertrat. Den durch den Tod ausgelösten Machtverlust der Dolgorukij begrüßte er, da diese Familie zu mächtig geworden war und Golovkin sich für die Stärkung der Beziehungen Russlands zu auswärtigen Mächten aussprach. Insbesondere die Stärkung des russisch-kaiserlichen Bündnisses schien ihm wichtig. Stefan Kinsky konnte dem Kaiser umgehend vermelden, dass Golovkin mit der Todesmeldung die Nachricht erhalten habe, dass die eingegangenen Bündnisse mit fremden Mächten fortgeführt werden. Nach dem Tod des Neffen des Kaisers, Peter II., mutmaßte Stefan Kinky, dass das Interesse des Kaisers an diesem Hof nicht mehr die bisherige Relevanz habe, da es keine dynastische Verbundenheit mehr zwischen beiden Höfen gab.580 Diese Einschätzung Kinskys war nicht zutreffend, offenbart aber, welcher Stellenwert dynastischen Verbindungen beigemessen wurde. Die Herzogin von Kurland sei – laut Kinsky – vom Senat nicht aufgrund des Geblütsrechts, sondern des Wahlrechts bestimmt worden; ihre Herrschaft werde hierdurch nach schwedischem Vorbild beschränkt. Es werde vermutet, dass der Zarin wie der englischen Königin Anna ein Ehemann gegeben werde, um die Nachfolge in Russland zu sichern. Demnach wolle Stephan Kinsky Wratislaw umgehend vertraulich wissen lassen, dass Moritz von Sachsen mögliche Heiratspläne Annas bereits ergründe. Kinsky zeigte sich überzeugt, dass in Russland 578 Alexander Gavrilovič Golovkin (1689–1760) war von 1711 bis 1730 am preußischen Hof als russischer Gesandter tätig, wobei er seit 1728 auf dem Kongress von Soissons und dann bis 1731 in Paris weilte, siehe Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 449 f. 579 Vgl. Stephan Kinsky an Wratislaw, Paris, 25.02.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 95a-1, fol. 62r/63r. 580 Vgl. ebd., fol. 63v/64r (teilweise chiffriert).
Fazit
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möglicherweise ein Russe statt eines ausländischen Prinzen favorisiert werde, worüber er sich bei Gelegenheit beim russischen Gesandten in Paris erkundigen werde. Diese Entscheidung impliziere, welche Stellung Russland in Europa außenpolitisch einnehmen wolle. Jedermann müsse bekennen, dass der holsteinische Herzog unter einem unglückseligen Stern geboren sein müsse, da er abermals die Nachfolge nicht habe antreten können.581 Die Ausführungen Kinskys waren mitunter spekulativ und zeigen daher bisweilen seine eigenen Denkmuster auf. Er war sich der Ungenauigkeit seiner Informationen bewusst und versuchte, diese mit Informationen des russischen Gesandten abzugleichen. Er nahm wie der Kaiser und der französische Hof eine umgehende Vermählung Annas an. Eine daraus resultierende dynastische Verbindung Russlands mit anderen europäischen Dynastien beziehungsweise deren Verhinderung sah er als richtungsweisend für die Bedeutung Russlands in Europa an.
2.3 Fazit Aus der Untersuchung der Berichte über den unerwarteten Tod des jungen Zaren geht hervor, dass zu dessen Pockenerkrankung unterschiedliche Informationen vorlagen. Ursächlich hierfür waren unterschiedliche Zugänge zu Informationen – hierdurch wurden Spekulationen und Gerüchte begünstigt. Diese Darstellungen sind daher durch Mutmaßungen geprägt, die die Vorstellungswelten der Akteure offenlegen, mitunter für die Erörterung der tatsächlichen Ereignisse aber nur einen begrenzten Nutzen aufweisen. Die Spekulationen der Gesandten blieben oftmals nur Zukunftsvorstellungen, die nicht in reale Ereignisse umgesetzt wurden. Umso besser verdeutlichen sie aber, wie innerhalb der vielverzweigten europäischen Diplomatenwelt kommuniziert wurde. Diese Spekulationen und Gerüchte wurden durch lange Übertragungswege und die fehlende Möglichkeit, Informationen zu prüfen, begünstigt. Nichtsdestotrotz entfalteten diese mitunter eine große Wirkung und wurden daher sogar gezielt gestreut, um eigene machtpolitische Ziele zu erreichen. Der Tod des Zaren löste an den anderen europäischen Höfen unterschiedliche Reaktionen aus: Während der mit Russland verbündete preußische König sowie der Kaiser und die Kaiserin über den Tod ihres Neffen und Alliierten, Zar Peter II., bestürzt waren, weckte die personelle Veränderung an der Spitze des Russischen Reiches bei den Höfen in Versailles und London die Hoffnung auf die Schwächung des gegnerischen kaiserlichen Bündnisses. Die kaiserlichen Vertreter in Berlin sahen in den Verständigungsversuchen der preußischen Königin, Sophie Dorothea, mit der englischen Königin, Caroline, eine Gefahr für das kaiserlich-preußische Bündnis. Da auch die spanische Königin, Elisabeth Farnese, als die bedeutende Akteurin in Spanien wahrgenommen wurde, zeigt dies auf, dass Frauen wichtige diplomatische Akteurinnen waren. In Kiel weckte der Tod des Zaren die Hoffnung, dass Karl Peter Ulrich 1730 Zar werden könnte. Diese umgehend enttäuschte Hoffnung und die dynastische Verbundenheit bedingte 581 Vgl. ebd., fol. 63v/64r.
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Die Erkrankung und der Tod Zar Peters II.
die ausführliche Thematisierung des russischen Thronwechsels. Ein weiterer Grund waren die finanziellen und politischen Abhängigkeiten Holsteins von den mächtigen Höfen Wien und Moskau. Die These, dass kleine Höfe für das Verständnis europäischer Zusammenhänge weniger relevant wären, kann an diesem Beispiel ebenso widerlegt werden wie an dem des Mecklenburger Hofs. Das Herzogtum Mecklenburg-Schwerin war zwar machtpolitisch in Europa unbedeutend, es bestand aber vor allem aus Sicht des Kaisers die Gefahr, dass der Herzog aufgrund der dynastischen Verbundenheit mit Russland dort mächtige Fürsprecher für seine Interessen gewinnen könnte. Dass der mecklenburgische Gesandte und Bruder des Leiters der Auswärtigen Angelegenheiten, J.C.D. Ostermann, später als andere Gesandte über den Tod berichtete, obwohl er Zugang zur Schwester der Zarin hatte, kann durch die synchrone Betrachtung der Berichterstattung der Diplomaten aufgedeckt werden. Dies wirft die Frage nach der Loyalität des mecklenburgischen Gesandten auf, die in den folgenden Kapiteln abermals thematisiert wird. Den mecklenburgischen Herzog erreichten zuerst Gerüchte über den Tod Zar Peters II., bevor die Meldungen seines Gesandten darüber eintrafen. Eine potenzielle Thronfolge Katharinas von Mecklenburg thematisierte dieser wider Erwarten nicht. Die Berichterstattungen, nicht nur an den mecklenburgischen Hof, zeigen in ihrer ganzen Komplexität die verschiedenen Wege diplomatischer Kommunikation auf. Die Schnelligkeit der Informationsübermittlung hing nicht nur vom Zeitpunkt der Absendung der Berichte ab, sondern auch von der Übermittlungsart, der Postroute oder dem Erfolg der Umgehung der Postsperre um Moskau. Es wird deutlich, dass Diplomaten durch befreundete Kollegen desselben Hofs Nachrichten erhielten. Ein direkter Briefwechsel nicht nur mit dem Herrscher, sondern auch mit Kollegen, der – wenn überhaupt – lediglich als Beilage der Hauptkorrespondenz archiviert ist, war keinesfalls selten, wie beispielsweise die Korrespondenz zwischen den holsteinischen Gesandten Tessin und Kettenburg zeigt. In Instruktionen waren derartig kollegiale Korrespondenzen fast immer gefordert und keinesfalls die Ausnahme.582 Eine aktuelle Informationsversorgung der diplomatischen Akteure war durch diese Kommunikationsnetzwerke mithin gewährleistet. Zudem hatten dafür weder der Monarch noch die höfischen Behörden einen Mehraufwand, und die jeweiligen Gesandten waren trotzdem
582 Dieser Befund wird für die kaiserlichen Gesandten vertreten, siehe Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 42 und S. 58. Müller, Der Aufenthalt Peters I. in Paris 1717 aus Sicht des Wiener Hofes, S. 362. Für die englischen Gesandten siehe Steuer, Englands Österreichpolitik in den Jahren 1730–1735 nach den Berichten des englischen Gesandten am Wiener Hof, Thomas Robinson, S. 6. Für die spanischen Gesandten siehe Thiessen, Diplomatie und Patronage, S. 43. Für die sächsischen Gesandten siehe Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 277 f. Zur Instruktion der kaiserlichen und russischen Gesandten bezüglich der Zusammenarbeit an verschiedenen Höfen nach dem Bündnisschluss 1726 zum Erreichen gemeinsamer Ziele siehe Friedrich Förster: Die Höfe und Cabinette Europa‘s im achtzehnten Jahrhundert. Bd. I, Potsdam 1836, S. 147. Bezüglich der kaiserlichen Gesandten am Russischen Hof in den 1720er Jahren siehe Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 121 f.
Fazit
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in möglichst kurzer Zeit umgehend unterrichtet.583 Des Weiteren tauschten aber ebenso Gesandte anderer – meist alliierter – Höfe Informationen aus, wie etwa die Zusammenarbeit zwischen dem kaiserlichen Gesandten in Warschau und dem dortigen preußischen Postmeister belegt.584 Dass der russische Gesandte in Warschau auffallend lange über den Tod Peters II. uninformiert blieb, veranschaulicht, wie unterschiedlich schnell die Meldungen zu ihren Empfängern gelangten und wie wichtig die Nutzung verschiedener Informationsquellen und -wege war, um Gerüchte und Meldungen zu falsifizieren oder zu verifizieren. Zudem waren persönliche Beziehungen, wie beispielsweise gegenseitige Esseneinladungen oder die Teilnahme an höfischen Feierlichkeiten, wichtige und in den Gesandtschaftskorrespondenzen immer wieder erwähnte Möglichkeiten, um Informationen zu erlangen und auszutauschen sowie um Vertrauensverhältnisse aufzubauen und zu pflegen. Dies zeigten auch die Ausführungen am Moskauer und Wiener Hof. Die Bedeutung von Gerüchten in der Informationsübermittlung und als Informationsquelle bestätigte sich auch bei der Betrachtung des im Danziger Exil lebenden Herzogs von Mecklenburg-Schwerin. Da ihn nur Gerüchte, nicht aber Informationen über die Lage in Russland erreichten, deutet sich erstmals an, dass ihm sein eigener Gesandter Informationen vorenthalten könnte.
583 Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 278 f. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 58 f. Horn bestätigt diesen Befund mit der Einschränkung, dass englische Vertreter an entlegeneren Höfen wie Russland oder dem Osmanischen Reich wegen der langen Übertragungswege über weniger aktuelle Informationen verfügen konnten, siehe Horn, The British Diplomatic Service, S. 189. 584 Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 59. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 278 f.
3. Nachfolgedebatte, Designation und Beurteilung Annas Die Nachfolgedebatte sowie die Designation Annas und deren Beurteilung der Höfe stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels. Zar Peter I. hatte mit seinem Thronfolgegesetz 1722 in frühaufklärerischer Gesinnung festgelegt, dass der Herrscher das Recht auf eine freie Designation des Nachfolgers habe.585 Diese Festlegungen und dynastische Diskontinuitäten bedingten im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts rivalisierende Thronansprüche. Die Designation eines Nachfolgers beziehungsweise einer Nachfolgerin stellte ein zentrales Element der Legitimität dar. Die Thronfolge 1730 war besonders unklar,586 da der Zar ohne Testament gestorben und die Dynastie der Romanovs in männlicher Linie mithin erloschen war. Als mögliche Thronfolgerinnen oder Thronfolger finden sich in den meisten Publikationen die Braut des Zaren, Katharina Dolgorukaja, die erste Ehefrau Peters I., Evdokija, sowie die Nachfahren Peters I. und seiner Ehefrau Katharina I. – nämlich deren Tochter Elisabeth und in weiblicher Linie deren Enkel, der junge Herzog von Holstein, Karl Peter Ulrich. Weiter heißt es zumeist, dass der russische Hofadel die petrinische Linie von einer Nachfolge ausgeschlossen, die Linie des älteren Halbbruders Peters I., Ivan VI., präferiert und dabei Annas ältere Schwester Katharina Ivanovna aufgrund ihrer Hochzeit mit dem Herzog von Mecklenburg in der Thronfolge übergangen habe.587 Die Diskussion der Thronfolge 1730 innerhalb einer umgehend nach dem Tod des Zaren einberufenen Versammlung des Obersten Geheimen Rates geht aus den bisher edierten zeitgenössischen Quellen gar nicht oder nur sehr spärlich hervor.588 Aus dem Journal des Obersten Geheimen Rates wird lediglich ersichtlich, dass Dmitrij Michajlovič Golicyn die Wahl Annas verkündete, die bei den Anwesenden auf Zustimmung
585 Feofan Prokopovič: Das Recht der Monarchen, In Willkühriger Bestellung der Reichs-Folge, Durch Unsers Großmächtigsten Landes-Herrn, Petri des Ersten, Vater des Vaterlandes, Käysers und Selbsterhalters von allen Reussen, [et]c. [et]c. [et]c., Berlin 1724. 586 Vgl. Whittaker, Russian Monarchy, S. 59 f. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 132. Raeff, Plans for Political Reform in Imperial Russia 1730–1905, S. 41. 587 Vgl. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 72. Ključevskij, Kurs russkoj istorii, S. 352–354. Ani-simov lässt sich bei seiner Darstellung sehr stark durch die Aussagen Westphalens leiten, ohne diese kritisch zu hinterfragen, siehe Anisimov, Anna Ioannovna, S. 19 f. In einer früheren Publikation nennt Anisimov nur Elisabeth und Karl Peter Ulrich und Katharina Dolgorukaja als mögliche Nachfolger, siehe Anisimov, Anna Ivanovna, S. 19. Liechtenhan, Elisabeth Ire de Russie, S. 62 f. Evdokija Fëdorovna Lopuchina wird nicht immer als Kandidatin genannt, siehe Whittaker, Russian Monarchy, S. 69 f. Daniels, V.N. Tatishchev and the Succession Crisis of 1730, S. 550 f. 588 Siehe dazu ediert: Iz pokazanij A.I. Ostermana (15.12.1741Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 183 f. Iz pokazanij V. L. Dolgorukogo (06.11.1739 Jul), in: Ebd. S.184 f. Iz „Memuarov“ P.V. Dolgorukova, in: Ebd., S. 180–182 (zitiert nach: Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 39–41.).
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stieß. Zudem wurde die ehemalige Verlobte des Zaren, Katharina Dolgorukaja, aus den Bittgebeten ausgeschlossen. Eine Diskussion der Thronfolge findet sich darin nicht.589 Das Protokoll der Sitzung des Obersten Geheimen Rates vom 30. Januar 1730 hingegen benennt diejenigen für die nächtliche Wahl Annas verantwortlichen Gremien und Personen: den Obersten Geheimen Rat, die Generalfeldmarschälle, den Synod und den Senat sowie die Generalität.590 Unter dem Begriff Generalität sind die vier obersten zivilen und militärischen Ränge der Rangtabelle Peters zu verstehen, die im Januar 1730 179 Personen umfasste.591 Da laut Vorstellung Golicyns die männliche Linie der Dynastie unterbrochen war, haben die oben genannten Personen die kurländische Herzogin Anna Ivanovna, die von zarischem Geblüt abstamme, gewählt. Der Verweis auf die Zugehörigkeit Annas zur Zarenfamilie ist der einzige Bezug auf ihre Legitimität. Eine Debatte darüber oder gar eine Diskussion über weitere Thronprätendenten oder Thronprätendentinnen finden sich in dieser Quelle nicht – lediglich der Hinweis, dass die Wahl der neuen Zarin bei einer Versammlung des hohen Adels, erweitert um Mitglieder der staatlichen und militärischen Elite bis zum Rang des Brigadiers, bereits morgens auf Zustimmung stieß und eine Deputation zu ihr abgesandt wurde, um ihr den Thron anzutragen.592 Allein ein Augenzeugenbericht des in dieser Versammlung anwesenden Vasilij Michajlovič Dolgorukij-Krymskij (1722–1782), der in den Memoiren Peter Vladimirovič Dolgorukijs zu finden ist, geht ausführlicher auf die möglichen Thronprätendentinnen und den Thronprätendenten ein.593 Nach diesem Augenzeugenbericht habe Dmitrij Michajlovič Golicyn die Versammlung geleitet und bezüglich der Thronfolge vorgebracht, dass die männliche Linie der Dynastie ausgestorben sei und es daher keine rechtmäßigen Nachfolger Zar Peters I. mehr gebe. Somit waren – wenn auch nicht namentlich genannt – Elisabeth Petrovna und der holsteinische Herzog Karl Peter Ulrich ausgeschlossen. Das Testament Katharinas I. sei laut Golicyn eine Fälschung, weswegen ihre unehelichen Kinder keine Thronansprüche hätten. Golicyn habe sich über die niedere Abstammung Katharinas I. und darüber, dass sie selbst kein Recht auf den Thron gehabt habe, sehr ausgelassen. Den Widerspruch Vasilij Lukič Dolgorukijs594 wehrte der Feldmarschall Vasilij Vladimirovič Dolgorukij ab, indem 589 Siehe dazu ediert: Žurnal zasedanij Verchovnogo tajnogo soveta (19.01.1730 Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 150–152. 590 Siehe dazu ediert: Protokol zasedanij Verchovnogo tajnogo soveta, soderžaščij rešenie ob izobranii na rossijskij prestol carevny Anny Ivanovny i utverždennyj verchovnikami tekst pred’javljaemych ej „kondicij“ (19.01.1730Jul), in: ebd., S. 118–120. 591 Vgl. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 23. Aufgrund der besonderen abweichenden Bedeutung ist der Begriff kursiv. 592 Siehe dazu ediert: Protokol zasedanij Verchovnogo tajnogo soveta, soderžaščij rešenie ob izobranii na rossijskij prestol carevny Anny Ivanovny i utverždennyj verchovnikami tekst pred‘javljaemych ej „kondicij“ (19.01.1730Jul), in: ebd., S. 118–120. 593 Siehe dazu ediert: Iz „Memuarov“ P.V. Dolgorukova, in: Vgl. ebd., S. 180–182. (zitiert nach: Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 39–41.). Weitere Informationen zu den Memoiren P.V. Dolgorukijs, siehe ebd., S. 5 f. 594 Vasilij Lukič Dolgorukij begleitete 1687 seinen Onkel an den französischen Hof. 1700 gehörte er
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auch er betonte, dass das Testament Katharinas I. eine Fälschung sei. Er habe als enger Vertrauter der ehemaligen Zarin Evdokija Fëdorovna Lopuchinas diese als Nachfolgerin auf dem Zarenthron vorgeschlagen. Dmitrij Michajlovič Golicyn erkannte zwar deren Verdienste an, lehnte Evdokija aber als Nachfolgerin ab, da sie lediglich als Witwe des Herrschers legitimiert sei. Demnach kämen nur die drei Töchter Zar Ivans V. als rechtmäßige Nachfolgerinnen infrage. Obwohl er die Würde Katharina Ivanovnas anerkenne, sei auch ihre Wahl aufgrund ihres Ehemanns, „eines bösen und gefährlichen Narren“595, unmöglich. Demnach werde die Wahl Annas präferiert. Vasilij Lukič Dolgorukij habe der Wahl Annas schnell zugestimmt, da er einige Zeit Resident in Mitau und sehr vertraut mit der zukünftigen Zarin war.596 Dass Golicyn angeblich neben Annas Heirats- und Gebärfähigkeit auch auf ihre russische Herkunft rekurrierte, wie Anisimov in einer vermeintlich wörtlichen, aber nicht belegten Aussage Golicyns darstellt,597 scheint Gesandtschaftsberichten entnommen zu sein. Dies zeigt beispielhaft, dass mitunter Aussagen aus Gesandtschaftsberichten vielfach unkritisch in die Forschungsliteratur übernommen wurden. Während die Gebär- und Heiratsfähigkeit für die einzelnen Gesandten und die europäischen Höfen bedeutend war, ist die Relevanz dieser beiden Themenkomplexe für den russischen Hochadel durch das verwendete Quellenkorpus nicht zu belegen. Die Darstellung der Wahl Annas in den Gesandtschaftsberichten sagt daher weniger über die nur schwer zu klärende Frage nach den Gründen für ihre Wahl aus, sondern zeigt die Vorstellungswelten der Gesandten auf. Die Darstellung ihrer Legitimität bildete die Entscheidungsgrundlage für die Souveräne, die Wahl Annas und damit ihre Zugehörigkeit zur europäischen Fürstengemeinschaft anzuerkennen. Wie und warum es aus Sicht der Gesandten und europäischen Monarchen so schnell zur Wahl Annas und der Anerkennung ihrer Herrschaft als legitim kommen konnte, gilt es anhand der synchronen Analyse der Gesandtschaftsberichte zu erörtern. Die Gesandten zeigten sich sehr verwundert, dass die Wahl einer Thronfolgerin bereits am Morgen des 30. Januars einstimmig auf Anna, verwitwete Herzogin von Kurland und Nichte Peters I., gefallen und offiziell durch den Oberzeremonienmeister an alle ausländischen Gesandten verkündet worden war. Ihre Wahl markiert einen Einschnitt in der weiblichen Herrschaftspraxis im Russländischen Reich. Auch wenn im 18. Jahrhundert weibliche Herrschaft in Europa möglich war, war diese nur dann formell oder informell anzutreffen, wenn die männliche Herrschaft nicht ausgeübt werden konnte. Im Gegensatz zur Regentin Sof ’ja
der diplomatischen Delegation seines Onkels in Warschau an. Nach sechs Jahren übernahm er die Gesandtschaft allein. Ein Jahr später wurde er Gesandter am dänischen Hof, siehe Altbauer, The Diplomats of Peter the Great, S. 10 f. 595 Siehe dazu ediert: Iz „Memuarov“ P.V. Dolgorukova, in: Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 181. 596 Siehe dazu ediert: Iz „Memuarov“ P.V. Dolgorukova, in: Vgl. ebd., S. 180–182. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 208–210. Anisimov nimmt in seiner ausgeschmückten historischen Darstellung hierauf Bezug, siehe Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 74. 597 Vgl. ebd., S. 74. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 18 f.
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(1682–1689) und der als Frau Peters I. bereits zur Zarin gekrönten Katharina I. wird Anna zur ersten Zarin aus eigenem Recht, was wiederum in Europa nur auf wenige Herrscherinnen zutraf und zudem Vorbild für die nachfolgenden Zarinnen des 18. Jahrhunderts werden sollte. Die petrinischen Reformen und die Einbindung Katharinas in die politischen Entscheidungen ihres Mannes begünstigten die Akzeptanz einer weiblichen Thronfolge.598 Dass es verschiedene Thronprätendentinnen und -prätendenten gab, ist keinesfalls auf das Jahr 1730 beschränkt, sondern für das ganze 18. Jahrhundert in Russland anzutreffen. Andere Thronprätendenten und -innen bildeten beständig eine Gefahr für eine herrschende Zarin.599 Dass 1730 alle genannten Thronprätendentinnen und der Thronprätendent über eine gewisse Legitimation verfügten, den russischen Thron zu besteigen, zeigt der weitere Verlauf der russischen Geschichte des 18. Jahrhunderts: Nach dem Tod Zarin Annas 1740 folgte ihr ihre Nichte Anna Leopol’dovna, die Tochter Katharinas von Mecklenburg, als Regentin für ihren minderjährigen Sohn Ivan V. auf den Thron. Elisabeth Petrovna beendete wiederum diese Regentschaft nach wenigen Monaten, um 1741 als Elisabeth I. selbst den Zarenthron für sich zu beanspruchen. Der 1730 erst dreijährige holsteinische Herzog, Karl Peter Ulrich, erlangte als Peter III. im Jahr 1762 die Würde eines Zaren. Beachtenswert hingegen ist, dass Anna selbst bis zum Tod Peters II., außer durch den preußischen Gesandten Mardefeld, noch nicht einmal als Thronfolgerin in Erwägung gezogen wurde. Die Sicherung ihrer Herrschaft 1730, die bis dahin seit 13 Jahren verwitwete Herzogin in Mitau gewesen war und die in der Thronfolge des Russländischen Reiches keine Rolle gespielt hatte, gilt es aus zeitgenössischer Sicht zu erklären. Gerade ebendiese Betrachtung der Vorstellungswelten der handelnden Akteure legt die zeitgenössischen Legitimationsmuster einer weiblichen Herrscherin offen. Dabei sind verschiedene Aspekte zu beachten: 1. Rechtsauffassungen, wie beispielsweise das Testament der verstorbenen Zarin Katharina I. bei der Anerkennung möglicher Rechte Elisabeths und Karl Peter Ulrichs; ebenso das durch die Dolgorukij fingierte Testament Zar Peters II., um die Thronfolge Katharina Dolgorukajas zu legitimieren; 2. dynastische Legitimationen, die auf einer Geblütserbfolge basieren; 3. machtpolitische Strukturen sowohl innerhalb des Moskauer Hofs als auch durch europäische Bündniskonstellationen; 4. persönliche Ambivalenzen gegenüber einzelnen Thronprätendentinnen oder dem Thronprätendenten; 5. spezifisch weibliche Aspekte bei der Beurteilung der Thronfolge, wie beispielsweise Gebärfähigkeit. Dabei ist zu klären, ob die Legitimation der weiblichen Nachfolge Annas ein Aushandlungsprozess war und ob die einzelnen Legitimationselemente der Thronprätendentinnen und des -prätendenten durch die handelnden Akteure gegeneinander abgewogen wurden. Thronfolgen in Russland im 18. Jahrhundert waren keine Willkürhandlungen, sondern basierten auf 598 Vgl. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 126–128. 599 Vgl. Kusber, Zur Frage von Schande und Ehre im russischen Hochadel des 18. Jahrhunderts, S. 138.
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Designation, Abstammung, Eignung und Wahl, die verschieden gewichtet wurden, da keine Thronfolgerin und kein Thronfolger alle Kriterien in Gänze erfüllte.600 Dieser Aushandlungsprozess von legitimer Herrschaft bei Legitimationsdefiziten war in der Frühen Neuzeit keine Seltenheit.601 Dass Anna erwählt worden sei, weil sie keinerlei Beziehungen mehr zu den Moskauer Hofkreisen gehabt habe und somit besonders schwach gegenüber den Interessen des Obersten Geheimen Rates gewesen sei,602 ist daher zurückzuweisen: Anna hielt sich mehrfach in St. Petersburg und Moskau auf, unter anderem für die Krönung Katharinas 1724 und die Krönung Peters II. 1727. Ihre Schwester Katharina Ivanovna besuchte sie zudem 1719 in Mitau.603 Die Betrachtung der Reaktionen der auswärtigen Monarchen auf die Erhebung Annas sind von herausragender Bedeutung, da legitime Herrschaft in der Frühen Neuzeit immer sowohl auf der Akzeptanz der Beherrschten als auch der Akzeptanz der Fürstengemeinschaft beruhte.604 Dabei gilt es besonders, die mit der Wahl Annas verbundenen Erwartungen bezüglich inner- und außenpolitischer Auswirkungen in den Blick zu nehmen. Das Aussterben einer Dynastie im Europa des 18. Jahrhunderts war ein häufig vorkommendes Phänomen, das mehrfach Erbfolgekriege auslöste.605 Auch weibliche Thronfolgen 600 Vgl. Whittaker, Russian Monarchy, S. 60–67, insbesondere S. 63. 601 Lisa-Maria Speck, Tagungsbericht: Defizitäre Souveräne? Frühneuzeitliche Rechtfertigungsnarrative im Konflikt / Deficient Monarchs? Legitimation in Conflict, www.hsozkult.de/conferencereport/id/ tagungsberichte-5929, 17.09.2020. 602 Vgl. Igor Smolitsch: Feofan Prokopovic‘ Dankgebete für die Selbstherrschaft der Kaiserin Anna Ivoannovna, in: Zeitschrift für Slawische Philologie 25, 1956, S. 212–224, hier S. 216. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 74 f, S. 88 und S. 101. Anisimov, Anna Ivanovna, S. 19f. Roll, Dynastie und dynastische Politik im Zarenreich, S. 85f. Köster, Russische Truppen für Prinz Eugen, S. 31. Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich, S. 68. Mediger, Moskaus Weg nach Europa, S. 90 f. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 20. Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 465. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 17 f. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 139 f. Kusber, Die Autokratie, Wahl und Wahlkapitulationen im Russländischen Reich der frühen Neuzeit, S. 87. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 20. Whittaker, Russian Monarchy, S. 70. Madariaga, Portrait of an EighteenthCentury Russian Statesman, S. 38. 603 Vgl. Kurukin, Anna Ioannovna, S. 25–47, insbesondere S. 26 und S. 28. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 397. Steven Müller: Eine Aristokratie für Russland? Bewertungen des Regierungsantritts Zarin Annas 1730 durch den Wiener Kaiserhof, in: Konstruierte (Fremd-?)Bilder. Das östliche Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts, hg. von Christoph Augustynowicz und Agnieszka Pufelska, Berlin 2016, S. 71–92, hier S. 77. Hughes, The Romanovs, S. 87. 604 Vgl. Rexheuser, Einleitung, S. 11 f. 605 Vgl. Martin Wrede; Horst Carl: Einleitung: Adel zwischen Schande und Ehre, Tradition und Traditionsbruch, Erinnerung und Vergessen, in: Zwischen Schande und Ehre. Erinnerungsbrüche und die Kontinuität des Hauses. Legitimationsmuster und Traditionsverständnis des frühneuzeitlichen Adels in Umbruch und Krise, hg. von Martin Wrede und Horst Carl, Mainz 2007, S. 1–26, hier S. 19–21. Wieland, Gefangen im Mythos der Familientradition, S. 449. Jean Bérenger: Die Habsburger und ihre Erbfolgekrisen als Formationsphase des neuen europäischen Staatensystems, in: Das europäische Staa-
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waren im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert keine Seltenheit. Es sei hier auf die Thronfolge der Königinnen Maria und Anna von England oder Ulrike Eleonores in Schweden verwiesen. In den genannten Fällen ging die Thronfolge mit der Einschränkung von politischer Macht einher.606 Fraglich ist, wie sich die Kommunikation auf die staatspolitisch sensible Diskussion einer weiblichen Thronfolge auswirkte. Die Informationen der Gesandten speisten sich mitunter nur aus Spekulationen und Gerüchten. Versuchten die Mächte von Sevilla die Instabilität und die vielfach antizipierten mitunter blutigen Unruhen rivalisierender Gruppen im Zuge der Thronfolge in Russland zu nutzen, um dem Kaiser die ohnehin nun als fraglich angesehene militärische Unterstützung Russlands vollkommen zu entziehen?
3.1 Die weibliche Herrschaft als Ergebnis eines Aushandlungsprozesses Katharina Dolgorukaja – scheiternde Legitimationsversuche Da Zar Peter II. mit nur 14 Jahren an seinem geplanten Hochzeitstag starb und es sich immer deutlicher abzeichnete, dass er in Lebensgefahr schwebte, ist es kaum verwunderlich, dass die Gesandten vor seinem Tod bereits Informationen über eine potenzielle Nachfolge seiner Braut Katharina Dolgorukaja an ihre Höfe sandten. Bis zum Todestag Peters II. nahmen die am Moskauer Hof weilenden Gesandten wahr, dass der Brautvater Aleksej Grigor’evič Dolgorukij auf den Vollzug der Hochzeit zwischen dem kranken Zaren und seiner Tochter drängte, um auf dieser rechtlichen Grundlage – der geschlossenen Ehe – den Thron für seine Tochter zu sichern.607 Magnan schrieb am 26. Januar – basierend auf den Informationen de Lirias – über die Erfolgschancen dieses Vorgehens, dass die Dolgorukij nur Mut und Entschlossenheit bräuchten, da sie über ausreichendes Ansehen sowohl im Obersten Geheimen Rat, beim Militär und bei der Garde verfügten. Zugleich würde dies den Widerstand der Golicyns, insbesondere des gleichnamigen bei den Truppen sehr beliebten Feldmarschalls, hervorrufen. Da die Golicyns entschlossen seien, sich den Plänen der Dolgorukij zu widersetzen, könne dies zu schwerwiegenden Auseinandersetzungen führen.608 Nach dem Tod Peters II. griff Magnan die Aktivitäten der Dolgorukij in der Thronfolgedebatte erneut auf. Die Dolgorukij hätten alle Mittel angewandt, um Katharina Dolgorukaja den Thron zu tensystem im Wandel. Strukturelle Bedingungen und bewegende Kräfte seit der frühen Neuzeit, hg. von Peter Krüger, München 1996, S. 63–88, hier S. 63–65. Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, S. 4–8. Lodge, The Treaty of Seville (1729), S. 2–7. 606 Vgl. Madariaga, Portrait of an Eighteenth-Century Russian Statesman, S. 49–51. 607 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 19.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 25r (chiffriert). Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 23.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 40v (chiffriert). Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 15.01./26.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). 608 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 26.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 25r/26r (chiffriert).
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sichern. Zum einen versuchten sie dies durch den Vollzug der Heirat; zum anderen durch ein Testament Peters II. zugunsten seiner Verlobten.609 Die zuvor bereits als Vermutung auch durch den preußischen Gesandten Mardefeld genannte Strategie des Vollzugs der Ehe, um unter dem Vorwand der Schwangerschaft Katharina Dolgorukaja als Nachfolgerin zu benennen, blieb ohne Folgen. Ostermann habe diese Pläne immer wieder verhindert.610 Obwohl diese beiden Legitimationsstrategien scheiterten, ließen die Dolgorukij den Obersten Geheimen Rat laut Magnan darüber beraten, Katharina Dolgorukaja zur Nachfolgerin zu ernennen. Dmitrij Michajlovič Golicyn habe der Familie Dolgorukij daraufhin zu verstehen gegeben, dass ihr Vorhaben sehr gefährliche Folgen haben könne, woraufhin sie von ihrem Plan absahen. Magnan charakterisierte das Verhalten des bisherigen Favoriten Ivan Alekseevič Dolgorukij (1708–1739)611 als unbesonnen. Der Feldmarschall Vasilij Vladimirovič Dolgorukij, laut Magnan ein vernünftiger Mann, habe Mühe gehabt, seinen Neffen Ivan abzuhalten, die Garde zugunsten seiner Schwester einzusetzen.612 Dass der Oberste Geheime Rat die Thronfolge Katharina Dolgorukajas ablehnte, ist bereits eingangs mit einem russischen Augenzeugenbericht belegt worden,613 während die Details zu einem Treffen der Dolgorukij zur Fälschung des Testaments zugunsten Katharina Dolgorukajas aus einem Jahre später erstellten Verhörprotokoll hervorgehen.614 Bei einer Versammlung der Dolgorukij im Haus Aleksej Grigor’evič Dolgorukijs waren demnach die Brüder des Brautvaters, Sergej und Ivan Grigor’evič Dolgorukij, sein Sohn Ivan Dolgorukij und Vasilij Lukič Dolgorukij anwesend. Trotz der Einwände durch Vasilij Lukič Dolgorukij sei das besagte Testament verfasst worden. Anscheinend habe auch der dänische Gesandte Westphalen gegenüber Vasilij Lukič Dolgorukij die Thronfolge Katharina Dolgorukajas befürwortet. Falls der Zar zu einer Unterschrift nicht mehr fähig sei, vereinbarten sie, dass Ivan Dolgorukij das Testament mit dem Namenszug des Zaren versehen werde. Der Feldmarschall Vasilij Vladimirovič Dolgorukij sei über dieses Vorgehen entsetzt gewesen, und nachdem Ivan sogar den Einsatz der Garde vorschlug, deren Major er war, erhob der Feldmarschall vergeblich Einwände, dass Katharina Dolgorukaja nur die Verlobte und nicht die Braut sei.615 Diese Vorgänge sind nicht un609 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 02.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 35r/v (chiffriert). 610 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 26.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 14v (chiffriert). 611 Ivan Alekseevič Dolgorukij (1708–1739) war engster Vertrauter des Zaren Peter II. Er war seit 1726 Hofjunker und wurde zum Oberkammerherr befördert sowie zum Major der Preobraženskij-Garde. Er war einflussreicher Favorit Peters II., der nach der Regierungsübernahe Annas verbannt wurde, siehe: Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 402. 612 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 02.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 35r/v (chiffriert). 613 Iz „Memuarov“ P.V. Dolgorukova, in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 181 (zitiert nach: Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 39–41). 614 Ebd., S. 37 f. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 72 f. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 11– 13. Ključevskij, Kurs russkoj istorii, S. 337 f. 615 Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 37 f. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 72 f. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 11–13. Ključevskij, Kurs russkoj istorii, S. 337 f.
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bekannt, sondern wurden in der Literatur aufgegriffen.616 Bereits Recke weist aber auf den nicht unproblematischen Quellenwert dieser Aussagen hin, da diese unter Folter acht Jahre nach den Ereignissen erpresst worden seien. Ähnliche Hinweise fänden sich auch in den kaiserlichen Gesandtschaftsberichten, die auf die Richtigkeit der Darstellung hindeuteten würden.617 Westphalen bestätigte diese Darstellung. Er wollte aus machtpolitischen Gründen um jeden Preis die Herrschaft Elisabeths oder Karl Peter Ulrichs verhindern.618 Die Berichte des sächsisch-polnischen Gesandten Le Fort bestätigen die Aussagen des Verhörprotokolls, indem sie ebenfalls Uneinigkeiten innerhalb der Familie Dolgorukij und die innerfamiliäre Opposition des Feldmarschall Dolgorukijs gegen die Bemühungen des Brautvaters hervorheben. Solange es noch Nachkommen eines Zarenzweiges gebe, sei es einem Dolgorukij nicht erlaubt, die Zarenkrone anzustreben, so der Feldmarschall Vasilij Vladimirovič Dolgorukij.619 Die Behauptung Aleksej Grigor’evič Dolgorukijs, seine Tochter habe nach den Riten der Orthodoxie das Recht, den Thron zu erben, ein Gerücht, das Le Fort noch wenige Tage vorher nach Dresden meldete, war damit gegenstandslos.620 Auch der englische Vertreter Rondeau berichtete am 30. Januar bereits über die mangelnde Unterstützung der Designation Katharina Dolgorukajas, nachdem Rondeau noch am 26. Januar versichert hatte, dass die Familie Dolgorukij im Todesfall des Zaren die Hoffnungen der holsteinischen Partei zunichtemachen könne: „Just before he [Peter II.] departed this life Alixey Grigoritz Dolgorucky, the promised Czarina’s Father, proposed to marry him to his daughter, but was opposed by Baron Osterman, who said it was necessary to think on a successor who was most likely to please the people, to which Felt-Marshal Prince Dolgorucky joyn’d as well as Felt-Marshal Prince Gallitzin & several others.“621
Ob diese Ausführungen in allen Details wahren Begebenheiten entsprachen, muss ungeklärt bleiben. Diese Berichte belegen aber die getroffene Aussage, dass eine mögliche Inthronisierung Katharina Dolgorukajas aus Sicht diplomatischer Vertreter nur aufgrund machtpolitischer Strukturen durchzusetzen gewesen wäre, nachdem die übrigen Legitimationsstrategien 616 Vgl. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 14 f. Anisimov, Anna Ivanovna, S. 19. Daniels, V.N. Tatishchev and the Succession Crisis of 1730, S. 551. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 139. Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 465. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 134. 617 Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 17 und S. 28. 618 Vgl. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 208. 619 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 31.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 33v (chiffriert). 620 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 26.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 29v. 621 Rondeau an Under-Secretary of State Tilson, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 15r.
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der Dolgorukij gescheitert waren. Diesen Machtverlust der Dolgorukij, der durch den Tod und das Scheitern der Thronfolge eingeleitet wurde, nahmen die Gesandten deutlich wahr. Mardefeld berichtete am 2. Februar, dass der Brautvater, seine Brüder und Kinder über ein sehr schlechtes Ansehen verfügten.622 Die Familie Dolgorukij wurde in seinen Relationen bereits deutlich ungünstiger beurteilt, besonders durch den kontrastierend dargestellten vertrauensvollen Beistand Heinrich Johann Friedrich Ostermanns in den letzten Stunden des jungen Zaren. Der preußische Gesandte war überzeugt, dass die Dolgorukij nichts unversucht gelassen hätten, um die geschlechtliche Vollziehung der Hochzeit noch zu erwirken, wenn der Zar auch nur einige Stunden länger den Verstand behalten hätte, obwohl Ostermann die Sichtweise leugnete.623 „Dem Verlaut nach, soll der Baron von Osterman folgende drey projecte abgefasset haben, wie es nach des jungen Monarchen tod etwa könte gehalten werden[:] in dem ersten wird der kayserlen Brauth der Trohn destiniret[;] in dem zweyten dem krancken Kayser aufgetragen einen Successorem zu nennen und in dem dritten die wahl der jetzigen Kayserin Anna Iwanovna vorgeschlagen[.] durch die zwey ersteren projecte hat er die Dolhoruky einge schläffert weil deroselben hochmuth und stoltz unerträglich wahr[.] über das letztere hat er mit denen Galitzins heimlich ein concert gemacht und hält man durchgehends davor, daß er der H[err] von Osterman das primum mobile in dieser affaire gewesen […].“624
Mardefeld sah es demnach als Ostermanns Verdienst an, dass die Pläne der Dolgorukij bezüglich der Thronfolge scheiterten, da er diese hochmütige Familie in Absprache mit der Familie Golicyn in Sicherheit gewogen habe, um die Wahl Annas letztendlich durchzusetzen. Da diese Äußerungen nicht den Ablauf der Ereignisse darstellen, legen sie die Vorstellung der Gesandten offen, die den Dolgorukij hingegen ein solches Vorgehen zutrauten. Zudem besitzen die Berichte Mardefelds und Wratislaws bezüglich der Vorgänge um das Scheitern der Thronfolge Katharina Dolgorukajas inhaltlich auffallende Ähnlichkeiten. Hierbei verwies Mardefeld explizit auf den gedanklichen Austausch zwischen beiden Gesandten.625 Nach wohlwollenden Worten der Feldmarschälle Golicyn und Dolgorukij sowie des Ministers Ostermann, die sich gegenüber dem Kaiser loyal und bündnistreu gaben, sah Wratislaw im Scheitern der Dolgorukij und der erfolgten Wahl Annas das Wiedererstarken der Familie Golicyn.626 Er begründete den Machtverlust der Dolgorukij stärker als Mardefeld und be-
622 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 25v. 623 Vgl. ebd., fol. 30v (chiffriert). 624 Ebd., fol. 30v/31r (chiffriert). 625 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 65r–67v. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 30v (chiffriert). 626 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 70r/v.
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rief sich auf einen nicht namentlich genannten, aber glaubwürdigen Informanten. Demnach seien einige Personen der Meinung, die Dolgorukij wären auch ohne den Tod Peters II. in Kürze gestürzt worden, da ihre Machtfülle am Zarenhof von anderen Adelsgeschlechtern als zu umfänglich angesehen worden sei. Der Zar habe sich auch bereits vermehrt gegen den Favoriten Ivan und dessen Familie gewandt. Durch das Schicksal Peters II. haben die vermuteten weiterführenden Ambitionen dieser Familie „einen annoch empfindlichen Strich durch ihre rechnung erlitten“627, so der kaiserliche Gesandte. Da es noch nicht sicher sei, welche Personen sich am Moskauer Hof durchsetzen würden, fand sich Wratislaw persönlich bei Katharina Dolgorukaja und anderen Personen dieser vornehmen Familie ein, um ihnen seine Anteilnahme auszudrücken. Das Ziel Wratislaws war es in dieser Situation, den Dolgorukij das Gefühl zu geben, für den kaiserlichen Hof auch in Zukunft wichtige Partner zu sein. Dass diese Familie ihre Machtstellung bereits massiv eingebüßt hatte, wird in den Berichten Wratislaws aber bereits mehr als deutlich. Über den ehemaligen Favoriten und dessen Vater, welche beide angeblich große Geldsummen veruntreut haben sollten, spreche man nur noch unter der Hand.628 Auch Le Fort bestätigte dieses Fehlverhalten: „On trouve les caisses fort epuisées du mauvais menage de la famille tombée.“629 Der französische diplomatische Vertreter empfand am Tod des Zaren sogar tröstlich, dass der furchtbare Stolz des Favoriten gemildert werde, der nicht nur für die Untertanen, sondern auch für die ausländischen Diplomaten unerträglich geworden sei. Sogar die ranghöchsten Gesandten Wiens und Madrids seien davon nicht verschont geblieben, wie Magnan die Dolgorukij wie seine diplomatischen Kollegen gleichermaßen kritisierten:630 « Il n’y a pas eu jusqu’aux amba[ssadeu]rs de Vienne et de Madrid qui n’ayent eprouvé eux memes des traits d’impolitesses des Dolhoruki Pere et fils, qui ne se sont pas mis en peine de les faire souvent attendre des heures entieres dans leurs antichambres dans le temps qu’ils prenoient leur Caffé. A dire la vérité la complaisance de ces deux amb[assadeu]rs a eté en cela selon bien des Gens un peu portée trop loin. »631
Diese nach dem Tod des Zaren getroffenen Aussagen diplomatischer Vertreter offenbaren, dass die Dolgorukij als mächtig galten, aber gleichzeitig unbeliebt waren, da sie selbst den ranghohen Gesandten Madrids und Wiens nicht die ihnen gebührende Wertschätzung bei Audienzen zukommen ließen. Diese Einschätzungen waren jenseits aller Bündniskonstellationen konsensfähig. Der Kaiser war im Vorfeld der Hochzeit seines Neffen gegen die Vermählung mit Katharina Dolgorukaja. Um seinen Einfluss auf den jungen Zaren zu erhalten, versuchte Karl VI. 627 Ebd., fol. 72r. 628 Vgl. ebd., fol. 72r/73r. 629 Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 02.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 42r (chiffriert). 630 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 02.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 40r/v (chiffriert). 631 Ebd., fol. 40v (chiffriert).
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trotzdem die Gunst der Dolgorukij durch Geschenke zu gewinnen. Die Vergabe von Kaiserporträts zögerte Karl VI. bis zum Bekanntwerden der Hochzeit hinaus, weswegen diese Porträts erst nach dem Tod des Zaren in Moskau eintrafen. Die eigentliche Absicht – die Gewinnung der Dolgorukij – hatte bis dahin ihre Relevanz verloren.632 Somit manifestierte sich der Machtverlust der Dolgorukij nicht nur verbal, sondern auch in der Umwidmung der ursprünglich für diese Familie bestimmten Hochzeitsgeschenke. Wratislaw berichtete umgehend chiffriert, dass die mit Diamanten besetzten Kaiserporträts in Absprache mit Heinrich Johann Friedrich Ostermann dem Wunsch des Kaisers entsprechend umgewidmet wurden,633 was auch sein seit Langem in Moskau weilender Legationssekretär Sebastian Hochholzer befürwortete.634 Geschenke bildeten eine unverzichtbare Verdeutlichung von Gunst und Nähe in den diplomatischen Gepflogenheiten.635 Eine Hochzeit beziehungsweise ein Herrscherantritt stellten einen von vielen Anlässen für Gesandte dar, im Namen ihres Herrschers Geschenke zu überbringen.636 Ziel von Geschenken war vielfach die Gewinnung wichtiger Vertreter des Hofs für die eigenen machtpolitischen Ziele. Sie dienten zudem der Informationsgewinnung.637 Bereits zum Herrschaftsantritt Zar Peters II. waren Geschenke umgewidmet worden, um die Mitglieder des Hofstaates für die Interessen des Kaisers zu gewinnen.638 Diesem Ziel folgten auch die diplomatischen Vertreter des Kaisers, weswegen für eine Verteilung der Geschenke eine möglichst genaue Kenntnis des Machtgewinns oder -verlustes der einzelnen Personen in der derzeitigen Situation in Erfahrung zu bringen war. Der kaiserliche Legationssekretär Hochholzer betonte, dass letztendlich das Verhältnis zwischen dem Wiener und dem Moskauer Hof nur davon abhängen werde, inwieweit es zu Veränderungen der Machtpositionen einzelner Personen am Moskauer Hof komme. Nachdem es den russischen Akteuren gelungen sei, Unruhen in Moskau vorzubeugen, erwartete Hochholzer, dass sich die russisch-kaiserlichen Beziehungen verbessern würden. Heinrich Johann Friedrich Ostermann werde durch die Veränderung kein Nachteil entstehen, während die Familie Golicyn mit der neuen Zarin verwandt sei und daher ihre Stellungen behalten werde. Hochholzer betonte außerdem, dass die Oberhäupter dieser Familie in der Vergangen632 Vgl. Steppan, Simvoličeskaja politika v epoche oživlenija avstro-russkich otnošenij, S. 132–138. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 420–422, S. 446, S. 454–457 und S. 466–471. 633 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 30.1.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 48v (chiffriert). 634 Vgl. Hochholzer an Prinz Eugen, Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 57r/v. 635 Vergleiche hierzu die Geschenke und Gunstbeweise der Zarin Katharina I. gegenüber Hochholzer bei der Beilegung der Streitigkeiten bezüglich des russischen Kaisertitels und der bündnispolitischen Annährung zwischen Kaiser Karl VI. und Zarin Katharina I.: Steppan, Kaiserliche Gesandte und ihre Annäherungspolitik durch die Kraft der Gesten. Der symbolische Startschuss zum österreichisch-russischen Bündnis von 1726, S. 34–41. 636 Vgl. Falcke, Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgisch-preußischen Hof im 17. und 18. Jahrhundert, S. 67–71. 637 Vgl. ebd., S. 220. 638 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 380 und S. 430 f.
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heit dem Kaiser und den Bündniskonstellationen wohlwollend gegenüberstanden. Demnach antizipierte Hochholzer die künftigen Machtoptionen am Hof Annas anhand ihres Wahlaktes. Daraus leitete er für das kaiserliche Interesse ab, dass die Feldmarschälle Golicyn und Dolgorukij mit kaiserlichen Porträts zu beschenken seien. Hochholzer sah es zudem positiv, dass es unter den neuen mächtigen Männern nicht mehr so viel Neid wie unter den Dolgorukij gebe und daher Verhandlungen mit ihnen einfacher würden.639 Demnach sollten diese Porträts dazu dienen, die Gunst des Hofadels zu gewinnen.640 Hochholzer verfügte aufgrund seiner langen Anwesenheit am russischen Hof über gute Verbindungen zum russischen Adel und zu den anderen diplomatischen Akteuren, da er zudem aufgrund diplomatischer Spannungen nach der Abberufung des hochrangigen kaiserlichen Gesandten Kinsky über mehrere Jahre die alleinige Vertretung der kaiserlichen Interessen in Russland wahrgenommen hatte.641 Zudem war er der russischen Sprache mächtig,642 was zweifelsohne einen großen Vorteil bedeutete. Auch Bonde beschäftigten ehemals für die Dolgorukij beorderte Hirsche, die als Geschenke nicht mehr notwendig seien. Er erachtete es nicht mehr als ratsam, diese Ivan Dolgorukij zukommen zu lassen, denn „seine Regierung ist durch des Kayßers Tod auß!“643 Daher bat Bonde um einen Befehl, wem er die Geschenke zukommen lassen solle.644 Auch Le Fort widmete gerade angekommene für die Jagd ausgebildete Hunde für die Dolgorukij in Absprache mit Ostermann um.645 Da Zar Peter II. und die Dolgorukij immer wieder ausgedehnte Jagdausflüge unternommen hatten, waren diese Geschenke bestens auf die ursprünglich angedachten Empfänger abgestimmt.646 Nichtsdestotrotz ließ auch Le Fort sich die bisherigen guten Beziehungen Sachsen-Polens mit Russland durch den Feldmarschall Dolgorukij bestätigen. Der Feldmarschall versicherte Le Fort die Bündnistreue, indem er ihm auf Deutsch mit der Redewendung „Ein Mahl, alle Zeit“ antwortete.647 An dem Verhalten der Gesandten zeigt sich, dass sie allein im Sinne der Interessen ihres Souveräns handelten. Es galt in dieser unklaren machtpolitischen Lage am Moskauer Hof, allen wichtigen Entscheidungsträgern gleichermaßen Ehrerbietung zu erweisen. Somit si639 Vgl. Hochholzer an Prinz Eugen, Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 56v–58v. 640 Vgl. Steppan, Simvoličeskaja politika v epoche oživlenija avstro-russkich otnošenij, S. 136–138. 641 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 245 f. 642 Vgl. ebd., S. 289. 643 Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung. 644 Ebd. 645 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 02.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 36r/37v. 646 Auch Wratislaw hatte sich aus diesem Grund vergeblich bemüht, Jagdhunde als Geschenk an die Dolgorukij und Zar Peter II. nach Russland senden zu lassen, siehe Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 442–444. 647 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 02.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 42r/v.
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cherten sich die Gesandten alle Spielräume und konnten auf unterschiedliche Informationsquellen zurückgreifen. Es galt demnach, nicht nur die neue Zarin zu gewinnen, sondern auch die wichtigsten Entscheidungsträger des russischen Hofs, die als Informationsquellen dienten und zugleich Einfluss auf zu treffende Entscheidungen nehmen konnten.648 Über das Schicksal Katharina Dolgorukajas berichtete der holsteinische Gesandte Tessin mit einiger Verwunderung: „Nur ist zu verwundern, wie dieses reich so großen und gefährlichen Revolutionen unterworffen, die dennoch alle in der Stille und ohne eintziges Bluth-Vergießen abgetahn werden, bey dieser letzteren hat allein, die Dolhorukische Familie das meiste eingebüßet und ist insonderheit die Versprochene Keyserl.e braut zu beklagen, als welche nicht allein von einem so hohen Staffel der Ehren und Glückseeligkeit heruntergefallen sondern überden noch gezwungen ist, ihre Tage in einer traurigen und immerwährenden witwerschaft zu zubringen, man will sagen, daß man Ihr 5000 Rubel Jährliche pension zugeleget, welches aber nicht glauben will will, weilen diese Spahrsahmkeit an Ihr erwiesen vor muß andrn Geldsollicitarten ein verzweiffelt böses omen seyn würde.“649
Auch Le Fort glaubte, dass die ehemalige Braut am meisten leiden werde. Nachdem sich sowohl die Dolgorukij als auch die Golicyns letztendlich auf Anna einigten, sah er die beiden Familien wieder in der Macht vereint. Zudem kam es zu entscheidenden Machtverschiebungen zwischen den russischen Adligen: Während es anfänglich schien, dass der Brautvater Aleksej Grigor’evič Dolgorukij und sein Sohn Ivan die mächtigsten Männer in Russland wären, erweckte die Situation nun den Eindruck, dass der Feldmarschall Vasilij Vladimirovič Dolgorukij sowie sein Verwandter Vasilij Lukič Dolgorukij und der Feldmarschall Golicyn sowie Dmitrij Michajlovič Golicyn und Ostermann diese Stellung einnehmen würden.650 Mit dem Scheitern der Thronfolge Katharina Dolgorukajas antizipierten die diplomatischen Vertreter zudem eine Veränderung der Mächtekonstellation am russischen Hof zuungunsten der Dolgorukij. Diese Vorstellungen der Gesandten über die sich verändernde Stellung russischer Adliger dienten europäischen Höfen als Interpretationsgrundlage für eine etwaige Veränderung der russischen Außenpolitik. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich die Befürchtungen beziehungsweise Hoffnungen der verschiedenen diplomatischen Akteure, dass Katharina Dolgorukaja den Zarenthron bestieg, deshalb zerschlugen, dass die rechtliche-religiöse Grundlage der Ehe mit dem Zaren ebenso nicht gegeben war wie ein Testament des ablebenden Zaren, das als Legitimationsgrundlage hätte dienen können. Da die Ehe niemals geschlossen werden konnte, fehlten dem Brautvater, seinem Sohn und Favoriten alle Mittel, um die legitime Nachfolge 648 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 162 f. 649 Tessin an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01./02.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 650 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 31.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 33v/34r (chiffriert).
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Katharina Dolgorukajas durchsetzen zu können. Dies erkannten selbst die Mitglieder der Familie Dolgorukij, die sich, verbunden mit der mächtigen Familie Golicyn, ebenso wie Ostermann diesen Plänen entgegenstellten. Folglich fehlten den Dolgorukij also insgesamt die nötigen Machtressourcen, um ihre Pläne durchzusetzen. Die ohnehin schwache bis nicht vorhandene Legitimationsgrundlage und der Machtverlust durch den Tod Peters II. können als Gründe genannt werden, die für das Scheitern der Nachfolge Katharina Dolgorukajas ausschlaggebend waren. Eine gewaltsame Auseinandersetzung, die vor dem Tod des Zaren diskutiert wurde, blieb aus. Es wird sich bei der Betrachtung der anderen Thronfolgekandidatinnen und des Thronfolgekandidaten herausstellen, dass die bloße Designation allein für eine Thronfolge eine zu schwache Legitimation darstellte und trotz des Thronfolgegesetzes Zar Peters II. die dynastische Herkunft eine große Rolle spielen sollte.651
Evdokija – eine Thronfolge zwischen realer Option oder plötzlichem Tod? Die mögliche Thronfolge der ersten Ehefrau Peters I., Evdokija, die von Magnan und Westphalen als Kompromisskandidatin zwischen den Familien Golicyn und Dolgorukij vorgebracht wurde, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden,652 spielte dagegen keine Rolle in den Diskussionen des Obersten Geheimen Rats. Die Gesandten Wratislaw, Mardefeld, Ward und J.C.D. Ostermann erwähnten Evdokija noch nicht einmal in ihren Relationen. Evdokija war erst durch ihren Enkel, Zar Peter II., 1727 aus der seit 1698 andauernden klösterlichen Verbannung in Suzdal befreit worden. Unter der Regierung Peters II. wurde ihr ein ehrenvoller Rang am russischen Hof eingeräumt.653 Magnan schrieb am 2. Februar, dass die alte Zarin ebenso wenig wie der junge Herzog von Holstein oder die Prinzessin Elisabeth in der Thronfolge berücksichtigt worden seien. Er fügte hinzu, dass es Intrigen um deren Stellung in der Thronfolge gegeben habe.654 Zu Evdokija hieß es weiter, « lorsqu’elle a eté sondée sur la chapitre de la succession, qu’elle n’avoit plus d’autres desirs que de mourir en repos dans sa retraite […]. »655 Der englische Sekretär Rondeau kam zu der gleichen Einschätzung, als er darstellte, wie es zur Wahl Annas gekommen sei. Nachdem Katharina Dolgorukaja von der Nachfolge ausgeschlossen worden sei, habe es lange Debatten gegeben, aber die alte Zarin habe aufgrund ihres Alters die Krone abgelehnt.656 Diese Darstellungen sind gleichfalls bei de Liria zu finden
651 Vgl. Whittaker, Russian Monarchy, S. 60. 652 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 26.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 26r (chiffriert). 653 Vgl. Erich Donnert: Peter II., in: Die russischen Zaren. 1547–1917, hg. von Hans-Joachim Torke, München 2012, S. 185–190, hier S. 188. Erich Donnert: Peter (I.) der Große, in: Die russischen Zaren. 1547–1917, hg. von Hans-Joachim Torke, München 2012, S. 155–178, hier S. 157158 f. Kozljakov Vjačeslav Nikolaevič: Carica Evdokija, ili Plač po Moskovskomu carstvu, Moskva 2014, S. 9 f. Zu ihrer Rolle am Hof Peters II. bis zur Thronerhebung Zarin Annas ausführlicher siehe ebd., S. 206–260. 654 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 26.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 38v (chiffriert). 655 Ebd. 656 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 15r.
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und haben so Eingang in die Literatur gefunden.657 Ob die Darstellung zutreffend ist, muss offen bleiben. Es kann aber festgestellt werden, dass diese Darstellung den spanischen Interessen sehr gut gepasst hätte. Dass auch der dänische Gesandte Westphalen Evdokija ausführlich in seinen Gesandtschaftsberichten erwähnte658, erscheint ebenso machtpolitischen Interessen – hier Dänemarks gegen Holstein – geschuldet zu sein. Demnach blieb trotz der Wahl Annas die Lage vor allem für die holsteinischen Gesandten unübersichtlich. Tessin vermeldete die Gerüchte, die er über Evdokija erfuhr. Ob es sich hierbei aber lediglich um bloße Gerüchte oder Tatsachen handelte, ließ der Gesandte bewusst offen: „Die alte Kayserin, vor welche auch einige sich außgelaßen, wird totd gesaget, ob sie nun auß Schrecken oder ärgerniß gestorben kan nicht wißen, auch ob die Zeitung so gar autendique, weilen bey jetziger Zeit tausend nouvellen in einer Stunde debitiret werden, die in der anderen Stunde wieder falsch befunden werden.“659
Le Fort versandte abermals sich gegenseitig ausschließende Meldungen über die alte Zarin. Zuerst hieß es in einem ersten Brief vom 2. Februar 1730: « La Czarienne Douairiere s’est trouvée à la mort du defunt Czar. Elle tomba en foiblesse, on la saigna, et depuis ce tems la on dit qu’elle est fort mal, d’une attaque d’apoplexie à quoy elle est fort la jette, elle a passé hyer pour morte. »660
Im zweiten Brief des 2. Februar hieß es hingegen wesentlich vager nur: « L’on dit que la Czar ienne Douairiere se trouve fort mal. »661 Diese beiden zeitgleich verfassten Relationen belegen abermals die unterschiedliche Informationsvermittlung Le Forts. An den Nachrichten über Evdokija und deren potenzielle Nachfolge wird deutlich, wie spekulativ die Nachrichten über sie blieben und wie schwer es für die in Moskau weilenden Diplomaten war, in einer Umbruchssituation verlässliche Informationen zu erhalten. Zudem hatten alle Meldungen gemein, dass Evdokija niemals ernsthaft als Nachfolgerin auf dem Zarenthron betrachtet wurde. Dies schien vor allem an ihrem Unwillen gelegen zu haben, sich mit 61 Jahren noch auf ein solches Wagnis einzulassen. Zum anderen musste den Beteiligten klar sein, dass sie in diesem Alter lediglich eine Übergangskandidatin hätte sein können. Entgegen aller Meldungen und Gerüchte lebte Evdokija bis zum 7. September 1731. Sie wurde 657 Vgl. Kozljakov Vjačeslav Nikolaevič, Carica Evdokija, ili Plač po Moskovskomu carstvu, S. 257 f. 658 Vgl. ebd., S. 55 f. 659 Tessin an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01./02.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 660 Le Fort an König August II., Moskau, 02.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 42v/43r. 661 Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 02.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 47r.
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nur von wenigen Gesandten überhaupt beachtet, denen es mehr um die Verhinderung eines Vertreters der petrinischen Linie ging. Obwohl Vasilij Lukič Dolgorukij in seinem Verhörprotokoll 1739 erwähnte, dass Dmitrij Michajlovič Golicyn Evdokija Fëdorovna Lopuchina zur Wahl vorgeschlagen habe662 und sie auf dieser Grundlage beziehungsweise auf Grundlage unterschiedlicher Gesandtschaftsberichte663 als Thronfolgekandidatin im Jahre 1730 genannt wird, erscheint dies mehr als den einzelnen Betrachtern dienlich oder als Drohszenarium. Es bleibt weiteren Forschungen vorenthalten, zu prüfen, ob Evdokija persönlich eine Thronfolge in Erwägung zog oder überhaupt von diesen Diskussionen erfuhr.
Die Petrinische Linie – Elisabeth Petrovna und Karl Peter Ulrich Die Betrachtungen zu Elisabeth Petrovna und zu Karl Peter Ulrich in Bezug auf die Thronfolge 1730 in Russland werden gemeinsam dargestellt, da sie die überlebenden Nachkommen der petrinischen Linie waren. Die Ansichten über eine mögliche Thronfolge Karl Peter Ulrichs beziehungsweise Elisabeths 1730 reichen in der Literatur oft nur so weit, dass vom Obersten Geheimen Rat beide von der Thronfolge ausgeschlossen worden seien.664 Die Ausführungen der Gründe dafür sind aber für zeitgenössische Denkmuster überaus aufschlussreich. Grund ihrer Berücksichtigung war das Testament Zarin Katharinas I. Es wurde im Manifest zur Thronbesteigung Zar Peters II. am 7. Mai 1727 publiziert und bestimmte für den Fall seines Todes nacheinander ihre Töchter Elisabeth und Anna und deren Nachkommen als Thronfolgerinnen. Männliche Nachkommen sollten weiblichen vorgezogen werden, und jede Kandidatin oder jeder Kandidat müsse orthodoxen Glaubens sein. Die Autorenschaft des Testaments kann aber nicht mit Sicherheit geklärt werden; der holsteinische Gesandte Bassewitz behauptete, Verfasser gewesen zu sein. Auch Ostermann und der ehemalige kaiserliche Gesandte Rabutin sollen daran mitgearbeitet haben. Es steht fest, dass diese Thronfolgeregelung den holsteinischen Interessen entsprochen hätte,665 während es den dänischen Interessen zuwiderlief. Da das Testament Katharinas I. für den Fall gelten sollte, dass Zar Peter II. minderjährig sterbe, ist seine Gültigkeit umstritten. Peter II. hatte sich nämlich selbst für volljährig erklärt.666 Während von russischer Seite die Gültigkeit des Testaments nach 662 Siehe dazu ediert: Iz pokazanij V. L. Dolgorukogo (06.11.1739 Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 185. 663 Vgl. Kozljakov Vjačeslav Nikolaevič, Carica Evdokija, ili Plač po Moskovskomu carstvu, S. 258. Da der von Kozljakov erwähnte Bericht eine nachträglich verfasste Rechtfertigungsschrift ist, ist dieser Beleg problematisch. 664 Vgl. Kusber, Die Autokratie, Wahl und Wahlkapitulationen im Russländischen Reich der frühen Neuzeit, S. 86. Daniels, V.N. Tatishchev and the Succession Crisis of 1730. 665 Vgl. Günther Stökl: Das Problem der Thronfolgeordnung in Russland, in: Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates, hg. von Johannes Kunisch, Berlin 1982, S. 273–289, hier S. 280 f. Neuschäffer, Henning Friedrich Graf von Bassewitz, S. 137 f. Ključevskij, Kurs russkoj istorii, S. 336 f. 666 Siehe die Argumentation mit Quellenverweisen dazu: Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oli-
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dessen Veröffentlichung umgehend bestritten wurde, verbreitete es sich am Stockholmer und Wiener Hof nach dem Tod Katharinas I.667 Zudem verlangte das Thronfolgegesetz Peters I. die Artikulation des Herrscherwillens über die Nachfolge zu Lebzeiten, während die Veröffentlichung des Testament Katharinas erst nach deren Tod erfolgte.668 Magnan berichtete über ein Gespräch mit dem dänischen Gesandten Westphalen, sich auf das Testament Zarin Katharinas I. berufend, dass die russischen Entscheidungsträger Karl Peter Ulrich und Elisabeth berücksichtigen würden. Dass Westphalen strikt versuchte, Nachkommen Katharinas I. auf dem russländischen Thron zu verhindern, vermeldete Magnan am 26. Januar 1730 nach Versailles. Westphalen versuchte dadurch, eine pro-holsteinische Ausrichtung der russischen Politik zu verhindern. Magnan hielt es für wahrscheinlich, dass die Familie Dolgorukij, die die gleiche Autorität beim Militär und im Obersten Geheimen Rat wie Elisabeth genoss, alles bis zu ihrem Leben opfern würden, um deren Thronfolge entgegenzutreten. Als Grund nannte Magnan, dass Elisabeth sich an den Dolgorukij rächen würde, da sie durch Intrigen der Familie Dolgorukij bei Peter II. in Ungnade gefallen sei. Laut Magnan habe der Feldmarschall Dolgorukij Westphalen persönlich mitgeteilt, dass der Moskauer Hof eine Nachfolge der Nachfahren Katharinas geschlossen hatte.669 Mag nan vermeldete am 2. Februar, dass weder Evdokija, Elisabeth noch der Sohn der Herzogin von Holstein, Karl Peter Ulrich, in der Thronfolge berücksichtigt worden seien. Fürsprecher Elisabeths und Karl Peter Ulrichs sei der kaiserliche Gesandte Wratislaw, unterstützt durch den blankenburgischen Gesandten August Adolf von Cramm (1685–1763), gewesen. Magnan versicherte gegenüber Versailles, dass diese beiden Gesandten sich eine Steigerung der Machtstellung des Wiener Hofs erhofften – wie zu Zeiten der Zarin Katharina –, wenn der holsteinische Herzog unter der Vormundschaft Elisabeths die Krone erhalte. Die beiden holsteinischen Gesandten Bonde und Tessin würden alles tun, um die Rechte des jungen Herzogs von Holstein geltend zu machen, die ihm die Zarin Katharina I. gegeben habe.670 Weiter hieß es chiffriert: « Mais les demarches des vus et des autres ont tellement deplu aux vieux Russes, qu’on assure qu’ils ont rembarré avec la dere dureté les deux Ministres de holstein leur disant pour toute reponse que le Duc leur M[aîtr]e ne les touchoit en rien du Monde et que s’il avoit cy devant reçu des secours de la Russie, ça avoit été par pure charité et sans aucune obligation. Voila a ce qu’on m’a assure quel a ete le sucess des sollicitations en faveur du P[rinc]e de Holstein […]. »671
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garchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 28 f (FN 4). Kamen skij, Ot Petra I do Pavla I, S. 213. Vgl. Neuschäffer, Henning Friedrich Graf von Bassewitz, S. 138. Vgl. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 133. Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 26.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 24r–27v (chiffriert). Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 02.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 38v/39r. Ebd., fol. 39v (chiffriert).
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Dieses Zitat zeigt, wie sehr gewisse Kreise am russischen Hof die Unterstützung für das Herzogtum Holstein gegen Dänemark ablehnten, die durch die Hochzeit zwischen Karl Friedrich und Anna Petrovna, der ältesten Tochter Peters I. und Katharinas I., entstanden war. Indem diese Kreise betonten, dass die Unterstützung Holsteins durch Zarin Katharina I. freiwillig und auf nicht bündnispolitischen und dynastischen Grundlagen erfolgt wäre, versuchten sie, alle Verpflichtungen und mögliche Thronansprüche gegenüber Holstein zu negieren. Möglicherweise ist dies ein Verweis darauf, dass Anna Petrovna und Karl Friedrich bei ihrer Hochzeit auf alle Thronansprüche verzichtet hatten.672 Laut einem zusätzlichen Geheimartikel zum Thronverzicht hatte sich Zar Peter I. dennoch offengelassen, einen Nachkommen aus dieser Ehe zum Nachfolger zu ernennen.673 Die unter Zar Peter I. geschlossenen Verträge samt den Geheimartikeln wurden von seinem Enkel, Zar Peter II., urkundlich bestätigt.674 Dass Anna Petrovna für sich und ihre Nachkommen auf die russischen Thronrechte verzichtet habe, ist hingegen falsch.675 Dass sich die holsteinischen Gesandten, der kaiserliche und der blankenburgische Gesandte für Elisabeth und Karl Peter Ulrich eingesetzt hätten, findet sich in der Literatur. Es handelt sich aber hierbei um eine nicht gekennzeichnete Übernahme aus ebendiesem Gesandtschaftsbericht Magnans.676 Es war Magnans übergeordnetes Ziel, die Allianz zwischen Moskau und Wien unter allen Umständen als unsicher darzustellen.677 Laut de Liria müsste nach dem Testament Katharinas Karl Peter Ulrich – bis zu seiner Volljährigkeit unter der Vormundschaft seiner Tante Elisabeth – auf den russischen Thron folgen. Elisabeth werde mitunter gegenüber Karl Peter Ulrich bevorzugt, da er protestantisch sei und zudem seine Mutter auf ihre russischen Thronrechte verzichtet hätte. De Liria führte weiter aus, dass Wratislaw Wein und Gelder verteilen würde, um Unterstützer für die Thronfolge Karl Peter Ulrichs unter der Vormundschaft Elisabeths zu gewinnen. Von englischer und dänischer Seite gebe es ein gleiches Vorgehen nur mit der Zielsetzung, die holsteinische Thronfolge zu verhindern. Der Oberste Geheime Rat habe die Thronrechte Elisabeths negiert, da diese unehelich geboren worden sei. Außerdem zeige sie kein Interesse an der russischen Krone. Diese Darstellung, die Schriften de Lirias entnommen ist, findet sich weder in 672 Vgl. Neuschäffer, Anna Petrovna, S. 24. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 204. Alexander Sergeevič Myl’nikov: Kaiser Peter III. von Russland, in: Europa in der Frühen Neuzeit, hg. von Erich Donnert, Weimar, Köln, Wien 1997, S. 121–145, hier S. 122. 673 Vgl. Donnert, Katharina I., S. 181. Svetlana Dolgova; Marina Osekina: Die Ehe der Zarentochter Anna Petrovna und des Herzogs Karl Friedrich von Holstein-Gottorf, in: Die Gottorfer auf dem Weg zum Zarenthron. Russisch-gottorfische Verbindungen im 18. Jahrhundert, hg. von Michail Lukičev und Reimer Witt, Schleswig 1997, S. 27–33, hier S. 29. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 205. Myl’nikov, Kaiser Peter III. von Russland, S. 122. 674 Dolgova, Osekina, Die Ehe der Zarentochter Anna Petrovna und des Herzogs Karl Friedrich von Holstein-Gottorf, 30. 675 Vgl. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 132. 676 Vgl. Pisarenko, Elizaveta Petrovna, S. 49 f. 677 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 02.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 39v/40r (chiffriert).
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den englischen noch in den kaiserlichen Berichten. Daher ist sie als Spekulation de Lirias zu charakterisieren, die zwar plausibel klingen mag, aber jeder Grundlage entbehrt. Allein dass Elisabeth 1730 keinerlei Thronambitionen gezeigt habe, ist glaubwürdig.678 Der holsteinische Gesandte Tessin sah sich durch die Geheimhaltung der lebensgefährlichen Krankheit Peters II. aller Möglichkeiten einer Intervention Holsteins bezüglich der Thronfolge beraubt. Da der Wahlakt erst nachträglich öffentlich gemacht worden sei, müssten sich die holsteinischen Gesandten ruhig verhalten, um weder bei der neuen Regentin noch denjenigen, die sie designierten, in Verruf zu geraten. Der russische Oberzeremonienmeister Habichtsthal habe bereits alle bisherigen Verträge mit ausländischen Mächten offiziell bestätigt; explizit auch gegenüber Tessin bezüglich aller Verträge mit Holstein. Nur falls der Herzog den Befehl erteile, gegen die Wahl Annas Einspruch zu erheben, würden dies die Gesandten tun.679 Bonde habe sich vergeblich bei alten Bekannten um die Berücksichtigung Karl Peter Ulrichs bemüht, als der Gesundheitszustand Zar Peters II. sich verschlechtert habe. Der holsteinische Gesandte bat die russischen Entscheidungsträger, sich im Falle des Todes an den Erbprinzen zu erinnern, worin diese aber noch keine Notwendigkeit sahen. Bei Bekanntwerden des Todes Peters II. habe Bonde diese abermals vergeblich aufgesucht. Nun habe es geheißen, die Maßnahmen die Thronfolge betreffend seien bereits erfolgt. Dmitrij Michajlovič Golicyn, der einzig namentlich genannte Adressat Bondes, habe ihn der Tür verwiesen und ihm mitgeteilt, er müsse zum Obersten Geheimen Rat aufbrechen.680 Bonde suchte Tage zuvor auch Prinzessin Elisabeth auf, um ihre Meinung zu möglichen Thronfolgen in Erfahrung zu bringen. Elisabeth habe Bonde entgegnet, sie habe niemanden, auf den sie bauen könne, und sei auf ihrem Bett liegen geblieben.681 Der persönliche Zugang zu Elisabeth und deren Verhalten zeigt ein bemerkenswertes Näheverhältnis zwischen dem holsteinischen Gesandten und der russischen Prinzessin. Bonde verfügte im Gegensatz zu seinem wenige Monaten zuvor in Moskau angekommenen Kollegen Tessin über andere Zugangswege zu den russischen Adligen und der russischen Prinzessin Elisabeth. Da Elisabeth neben russisch sowohl französisch, deutsch und schwedisch sprach,682 war die Kommunikation mit dem holsteinischen Gesandten problemlos gegeben, da er ebenso mehrere Sprachen fließend sprach. Als Bonde Elisabeth entgegnet habe, dass die Herzogin von Kurland für die Thronfolge vorgeschlagen worden sei, die „ihr und unßere kleinen Printz von Gott und rechts wegen zu kähmen“, habe Elisabeth darauf entgegnet, „daß sie kein credit mehr bei der Nation hatt, und könte alßo weder sich noch ihrem neven helffen“.683 Die Ausführungen Bondes sind 678 Vgl. Liechtenhan, Elisabeth Ire de Russie, S. 62 f. Pisarenko, Elizaveta Petrovna, S. 49 f. 679 Vgl. Tessin an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01./02.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 680 Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. 681 Vgl. ebd. 682 Vgl. Dolgova, Osekina, Die Ehe der Zarentochter Anna Petrovna und des Herzogs Karl Friedrich von Holstein-Gottorf, S. 27. 683 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung.
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ein weiterer Beleg für die in der Literatur getroffene Annahme, dass Elisabeth 1730 keine Ambitionen auf den russischen Thron hatte.684 Da Bonde versuchte, Elisabeth von der Notwendigkeit der Wahrung ihrer Thronrechte zu überzeugen, um die Machtposition Holsteins in Russland zu sichern, sind seine Aussagen diesbezüglich glaubhaft. Zudem schrieb Bonde, überall, wo er hinkomme, „saget man mich daß sie von eim testament und erbe zur Krohne nichts wißen, sondern auß ein Erbreich ein Wahlreich gemacht haben“. Bonde bemühte sich sehr um die Berücksichtigung Karl Peter Ulrichs, „aber seine entfernung, religion, zarte Jugend, und anietzo verfaßete neue Sisteme giebet mich wenig hoffnung, ob schon ich proponiret, man solte ihm herein kommen laßen, und erziehen nach eigenem Wohlgefallen; zum anderen bin ich bang wan ihnen zu viel incommodire, daß sie unß gar sitzen laßen […]“.685
Bonde nannte somit mehrere Argumente, die Karl Peter Ulrich betrafen, die gegen seine Thronfolge angeführt werden konnten, auch wenn dessen dynastische Legitimation vorhanden war. Das Testament Katharinas bevorzugte zwar eine männliche Nachfolge vor der weiblichen,686 diese Nachfolge war aber an die orthodoxe Konfession gebunden.687 Der Versuch, dass Karl Peter Ulrich nach Russland gebracht werde, um dort eine Erziehung zu genießen, fand 1730 keinen Anklang und sollte erst 1742 unter Zarin Elisabeth verwirklicht werden. Die Veränderung des Regierungssystems schien hinderlich, ebenso wie die Gefahr, dass die Holsteiner ihre Stellung durch überzogen erachtete Forderungen vollends gefährdeten. Bonde und Tessin suchten mehrmals vergeblich Ostermann auf, der sich verleugnen ließ. Bonde artikulierte, dass die derzeitige Lage der holsteinischen Gesandten schlimmer als jemals zuvor sei. Wenn sie Geld zu verteilen hätten, würden sie wohl einiges erreichen können. Bloße Versprechen hingegen hätten dagegen wenig Aussicht auf Erfolg.688 Das immer wieder aufkommende Thema der Informationsgewinnung durch Geldleistungen sowohl am russischen als auch an anderen europäischen Höfen war in der Frühen Neuzeit in der Diplomatie ein akzeptiertes Mittel diplomatischer Praxis und nicht mit modernen Vorstellungen über Korruption gleichzusetzen. Sowohl Geschenke als auch finanzielle Zuwendungen waren ein allgemein akzeptiertes Zeichen des Gunstbeweises und dienten der Stärkung sozialer Beziehungen.689 Trotz aller Risiken, die er eingehe, könne Bonde leider wenig erreichen. In seinem 684 Vgl. Liechtenhan, La Russie entre en Europe, S. 71 f. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 139. 685 Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. 686 Vgl. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 207 f. 687 Vgl. Whittaker, Russian Monarchy, S. 60. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 207 f. 688 Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. 689 Hillard von Thiessen: Korrupte Gesandte? Konkurrierende Normen in der Diplomatie der Frühen Neuzeit, in: Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation,
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Postskriptum schrieb Bonde, dass er gerade bei Fertigstellung des Briefes Nachricht „von einem guthen Freunde“690 erhalten habe, dass der Feldmarschall Golicyn mit ihm sprechen wolle und er den Erbprinzen nicht vergessen habe. Bonde resümierte, Gott möge alles zu einem guten Ausgang bringen, und er könne sich aufgrund seines Fleißes vor Gottes Gericht verantworten.691 Diese Formulierungen können als Rechtfertigungen des Scheiterns Bondes bei der Durchsetzung der holsteinischen Interessen gewertet werden und offenbaren den Druck, der auf ihm lastete. Die Ausführungen der beiden holsteinischen Vertreter am russischen Hof belegen die prekäre Situation. Sie versuchten, bestmöglich die Interessen des holsteinischen Hofs am Moskauer Hof zu vertreten und die plötzlich auftretende Chance der Thronfolge Karl Peter Ulrichs zu ihren Gunsten zu nutzen. Dies gestaltete sich jedoch aus mehreren Gründen ausgesprochen schwierig. Aufgrund der Erfahrungen des russischen Hofadels unter der Regierungszeit Katharinas, die in der Frage der Restitution des kleinen Herzogtums Schleswig eine pro-holsteinische Position eingenommen und die russische Außenpolitik danach ausgerichtet hatte, gab es nun große Vorbehalte gegenüber den holsteinischen Vertretern.692 Karl Friedrich hatte sich durch seine Versuche, Schleswig zurückzugewinnen, überaus unbeliebt am russischen Hof gemacht. Bei einer Thronfolge seines erst zweijährigen Sohnes hätte er in Russland maßgeblichen politischen Einfluss erlangt.693 Aufgrund des Testaments Katharinas I. und der dynastischen Verbindung bestand nichtsdestotrotz eine Legitimation der Thronfolge Karl Peter Ulrichs als einzigem männlichen Nachfolger. Die Beibehaltung der Thronfolge der petrinischen Linie, um die Bonde bemüht war, sollte mögliche Einflussnahmen Holsteins sichern. In diesem Zusammenhang sind auch seine Bemühungen zu sehen, Elisabeth als Thronfolgerin zu etablieren. Tessins Ausführungen, Elisabeth als Regentin für ihren dreijährigen Neffen Karl Peter Ulrich zu etablieren, zeigen erste Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Herrschaft im Vergleich zu männlicher Herrschaft auf. An dieser Stelle wurde die weibliche Herrschaft ganz explizit als Platzhalter für die übliche männliche Herrschaft benannt. Den holsteinischen Vertretern war es aufgrund der asymmetrischen Machtverhältnisse gegenüber dem Russländischen Reich nicht möglich, die Thronfolge durch Macht zu forcieren. Sie hätten mächtige Fürsprecher am russischen Hof gebraucht, um ihre Forderungen durchzusetzen. Die Gefahr, dass der holsteinische Hof jegliche Unterstützung durch den Moskauer Hof verlieren könnte, wenn holsteinfeindliche Akteure die Oberhand gewännen, nahmen Bonde und Tessin gleichermaßen wahr. Eine Inthronisierung Karl Peter Ulrichs oder Elisabeths, wie sie andere Gesandte
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hg. von Niels Grüne und Simona Slanička, Göttingen 2010, S. 205–220, hier S. 207–218. Horn, The British Diplomatic Service, S. 262. Zu einem anderen Urteil kommt Ruffmann, jedoch basierend auf der von von Thiessen kritisch betrachteten Traktatliteratur, siehe Ruffmann, Die diplomatische Vertretung Großbritanniens am Zarenhof im 18. Jahrhundert, S. 412 f. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. Vgl. ebd. Vgl. Hübner, Ferne Nähe, S. 58. Vgl. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 139.
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diskutierten, erschien aus holsteinischer Sicht unmöglich. Die Gefahr bestand zudem darin, dass Gegner eine Opposition Holsteins zur Diskreditierung dessen Ziele nutzten. Trotz dynastischer und rechtlicher Legitimationen gelang es daher den holsteinischen Vertretern nicht, diese Ansprüche aufgrund von persönlichen Ambivalenzen durchzusetzen. Diese hatten ihren Ursprung mitunter in gesamteuropäischen Problemstellungen wie beispielsweise der Restituierung Schleswigs. Aus den Berichten Wratislaws wird deutlich, dass er eine Thronfolge Elisabeths und Karl Peter Ulrichs für legitim hielt und deren Chance auf Erfolg erörterte. Da Wratislaw ein vitales Interesse daran hatte, jegliche Thronfolgedebatte zu vermeiden unterstützte er Karl Peter Ulrichs Thronfolge gegen Anna nicht. Ursächlich dafür war die Garantie der bündnispolitischen Verpflichtungen, die unter Anna problemlos gewahrt schienen. Während im Besonderen Elisabeth vor dem Tod Peters II. als aussichtsreiche Kandidatin galt,694 aber auch Karl Peter Ulrich als Nachfolger diskutiert wurde,695 präferierten die kaiserlichen Vertreter nach ihrer erfolgreichen Designation Anna.696 Der kaiserliche Legationssekretär Hochholzer kommentierte als langjähriger Beobachter am russischen Hof den Wahlvorgang Annas ausführlich und fand besonders bemerkenswert, dass sowohl der junge holsteinische Herzog als auch Prinzessin Elisabeth mit Stillschweigen übergangen worden seien. Die Eingaben, die Bonde zu gegebener Zeit gemacht habe, haben „gar schlechte antwort bekommen“697. Die Annahme Magnans, dass die holsteinischen Gesandten sich mit Wratislaw gemeinsam für die Rechte der petrinischen Linie eingesetzt hätten, widerlegt Wratislaw: „Die einige welche nach der vorabgelebten Czaarin Catharine I. testamentarische anordnung die nechste seyn solten, als nemblich der junge Prinz von Hollstein qua reprasentaris seiner verstorbenen Frau Mutter, so dann die Prinzeßin Elisabeth, kamen hierbey so wenig in consideration, das ihrer nicht einmahl fast gedacht würde, auch befanden die für des herzogs interesse dermahlen allhier seyende Graf Bonde und accreditirter Minister v. Tessin nicht einmahl rathsam, ihre zu erst gefaßeten gedanken nach etwas umb das recht des iungen Prinzens anzureg.“698
Diese Ausführungen belegen die Rechtmäßigkeit der Nachfolge des jungen Herzogs von Holstein und Elisabeths aus Sicht des kaiserlichen Gesandten. Dass die holsteinischen Ge694 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 23.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 38r/v (chiffriert). Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 44v (chiffriert). 695 Vgl. ebd., fol. 44r (chiffriert). 696 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 47v–48r. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 64r–77r (teilweise chiffriert). 697 Hochholzer an Prinz Eugen, Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 59r/v. 698 Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 66v-67r.
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sandten alle Mühen einstellten, um die Rechte Karl Peter Ulrichs zu wahren, schien dem Umstand geschuldet, dass die Nachkommenschaft Katharinas I. von der Wahl ausgeschlossen wurde,699 wie Wratislaw ausführte. Während die mögliche Thronfolge Elisabeths oder Karl Peter Ulrichs von den holsteinischen, kaiserlichen und den französischen Vertretern ausführlich berichtet wurde, thematisierten andere diese nach der Erhebung Annas zur Zarin nur rudimentär. Le Fort bestätigte lediglich, weder Elisabeth noch der junge Herzog von Holstein seien bei der Wahl berücksichtigt worden.700 Während Mardefeld sich am 26. Januar noch auf geheime Nachrichten berief und ausführte, dass Elisabeth aufgrund ihrer Gebärfähigkeit bessere Chancen als die beliebtere Anna hätte,701 berichtete er erst am 2. Februar, dass Elisabeth in der Thronfolge übergangen worden sei.702 Zwei Tage später schrieb er, Elisabeth habe nicht die geringsten Thronambitionen gezeigt und bereits die Gratulationskomplimente bei der Herzogin von Mecklenburg abgelegt.703 Damit bekunde Elisabeth öffentlich, dass sie die Wahl Annas anerkenne und keinen Widerstand gegen Anna leisten werde. Mardefeld fügte hinzu: Hätte Elisabeth sich bereits früher dazu entschlossen, den Markgrafen von Bayreuth zu heiraten, wäre ihr diese komplexe Situation am russischen Hof zudem erspart geblieben.704 Zum Verhalten der holsteinischen Gesandten schrieb er chiffriert: „Die Holsteiner halten sich auch ganz stille, theils umb die ordre ihres Hoffes abzuwarten theils auch umb die neu erwehlte Kayserin, welche amitia für den Hertzog v. Holstein und jederzeit seiner Gemahlin gehabt nicht zu desobligiren.“705
Diese Betrachtungen eröffnen die Möglichkeit, dass die holsteinischen Gesandten aufgrund der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Karl Friedrich und Anna den Einfluss der holsteinischen Vertreter sicherten. Dem entgegengesetzt stand die knappe Einschätzung Rondeaus zu den Folgen von Annas Wahl: “This great event will certainly be the ruin of the Holstein party in this Country, for they made some efforts to get the Duke’s Son or Princess Elizabeth named.“706 699 Vgl. ebd., fol. 67v. 700 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 31.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 34r. 701 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 26.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 14v (chiffriert). 702 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (zweiter Brief ), Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 31r (chiffriert). 703 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 06.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 45r. 704 Vgl. ebd. 705 Ebd. 706 Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 16r.
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Dieses von Rondeau erwünschte Fiasko der holsteinischen Partei am russischen Hof entsprach den Interessen Englands 1730. Sowohl England als auch Frankreich hatten Dänemark Garantien für Schleswig zugesichert.707 Ein Einflussverlust Holsteins in Russland entsprach somit den politischen Interessen Englands und Dänemarks. Beide Mächte hatten die Parteinahme Zarin Katharinas I. für ihren holsteinischen Schwiegersohn für die Wiedererlangung Schleswigs überaus kritisch gesehen.708 Ostermann hatte sich nach dem Regierungsantritt Elisabeths 1741 zu rechtfertigen, warum Elisabeth 1730 keine Berücksichtigung in der Thronfolge fand. Er wurde nach seinem Sturz dazu verhört und beteuerte, dass er als Ausländer 1730 bei der Wahl Annas nicht anwesend gewesen war und somit nicht für die Nichtberücksichtigung Elisabeths verantwortlich gemacht werden könnte. Er bat Elisabeth 1741 um Gnade, dass er 1730 das Testament Katharinas I. zugunsten Elisabeths nicht vorgebracht habe.709 Diese Aussage findet sich auch in der Literatur710 und ist glaubhaft, obwohl der mitunter eingeschränkte Quellenwert eines Verhörprotokolls beachtet werden muss.
Die Ivan’sche Linie – Katharina von Mecklenburg Nachdem sich die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates auf den Ausschluss der petrinischen Linie in der Thronfolge einigten, ist noch zu klären, warum die Entscheidungsträger Annas in Moskau weilende ältere Schwester Katharina, Herzogin von Mecklenburg, von der Thronfolge ausschlossen. In der Literatur findet sich die Behauptung, dass Katharina von Mecklenburg aufgrund ihres Ehemannes nicht zur Zarin gewählt worden war, obwohl sie älter als Anna war. Es galt offenbar zu verhindern, dass Karl Leopold durch den Einfluss auf den russischen Hof Bündnishilfe gegen den Kaiser erhalten könnte. Da diese Darstellung aber nicht hinreichend belegt ist,711 ist davon auszugehen, dass diese Informationen unkritisch aus den Gesandtschaftsberichten übernommen wurden. Um zu klären, ob diese Aussagen zutreffen, müssen diese jedoch in die außenpolitischen Zusammenhänge einge707 Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 257. Kirby, Northern Europe in the Early Modern Period, S. 323–326. Neuschäffer, Henning Friedrich Graf von Bassewitz, S. 133 f. 708 Horn, Great Britain and Europe in the Eighteenth Century, S. 208. Demel, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts, S. 236. Evgenij Viktorovič Anisimov: The Imperial Heritage of Peter the Great in the Foreign Policy of his Early Successors, in: Imperial Russian Foreign Policy, hg. von Hugh Ragsdale, Cambridge 1994, S. 21–35, hier S. 25–27. 709 Siehe dazu ediert: Iz pokazanij A. I. Ostermana (15.12.1741Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 183 f. 710 Vgl. Ransel, The Government of Crisis of 1730, S. 47. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 14. Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 39. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 30. Wojdyslawska, Andrej Ivanovič Ostermann, sein Leben und Wirken, S. 82. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 134. 711 Kurukin, Anna Leopol’dovna, S. 23.
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ordnet werden, was bisher nicht ausreichend erfolgte. Den Gesandten war überaus bewusst, dass mit der Wahl einer Nachfolgerin aus der Linie des älteren Halbbruders Peters I., Ivans V., folgende Nachfolgerinnen zur Auswahl standen: Katharina, Herzogin von Mecklenburg, Anna, verwitwete Herzogin von Kurland, und die jüngste Schwester Praskov’ja.712 Als älteste Tochter des ehemaligen Zaren Ivans V. hätte Katharina in der Thronfolge präferiert werden müssen, wie der französische Chargé d’Affaires Magnan ausführte. Aufgrund der Ehe mit dem mecklenburgischen Herzog sei sie dennoch ausgeschlossen worden, da Russland dadurch möglicherweise Schwierigkeiten im Ausland erwachsen würden.713 Die Möglichkeit der Einflussnahme auf Entscheidungen Annas durch deren Schwester Katharina zugunsten ihres Ehemanns Karl Leopold sah auch der kaiserliche Gesandte Wratislaw äußerst kritisch. Heinrich Johann Friedrich Ostermann werde seinem Bruder, dem mecklenburgischem Gesandten, zweifellos helfen, erleichterten Zugang zur Zarin und Unterstützung für die mecklenburgischen Interessen zu erhalten.714 Wratislaw sah somit in Karl Leopold das eigentliche Problem einer Thronfolge der erstgeborenen Katharina von Mecklenburg. Die politische Interessenlage der Brüder Ostermann schätzte er allerdings falsch ein, indem er von der Unterstützung des mecklenburgischen Gesandten bei der Durchsetzung der Interessen Karl Leopolds durch den Vizekanzler Ostermann ausging. Der kaiserliche Legationssekretär Hochholzer lehnte die Thronfolge Katharinas von Mecklenburg aufgrund deren Ehestandes und wegen der Streitigkeiten Karl Leopolds in Europa ab, die für das Russländische Reich nur von Nachteil wären.715 Auch Rondeau und Mardefeld führten den Ausschluss von der Thronfolge auf die Unbeliebtheit ihres Gatten Karl Leopolds am russischen Hof zurück.716 Dies belegt, dass Karl Leopold nicht nur von Karl VI., sondern auch von anderen Mächten als regelrechter Störfaktor angesehen wurde. Le Fort, Bonde und Tessin erwähnten die mögliche Thronfolge Katharinas nicht. Die Formulierung, dass Katharina hingegen von russischen Adligen als Thronanwärterin angesehen worden sei717, bestätigt sich durch diplomatische Berichte nicht. Sie wurde nur von den Gesandten als mögliche Thronfolgerin genannt.
712 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 02.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 36r/v. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 67v–68r. Hochholzer an Prinz Eugen, Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 58v/59r. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 53r/v. 713 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 02.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 36r/v. 714 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 61/2r-61/2 (chiffriert). 715 Vgl. Hochholzer an Prinz Eugen, Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 59r. 716 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 16r. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 31r/v. 717 Vgl. Valentina Grigorjan: Die Romanows und die Mecklenburger Fürsten. Verwandtschaftliche Verflechtungen und Schicksale, Schwerin 2007, S. 26.
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Wratislaw war der einzige Gesandte, der auf die Thronfolge der Tochter Katharinas von Mecklenburg einging. Die Minderjährigkeit der späteren Anna Leopol’dovna war – ebenso wie bei Karl Peter Ulrich – der Grund für ihre Nichtberücksichtigung.718 Direkt nach der Wahl Annas griff Mardefeld Gerüchte auf, deren Schwestern, Katharina und Praskov’ja, würden gegen ihre Wahl opponieren, was er richtigerweise als Gerüchte einstufte: „Ich vernehme auch in diesem Moment, daß die Hertzogin von Mecklenb[urg] und ihre Schwester die Printzessin Proskovia ins geheim suchen einen anhang zu machen umb sich dero Schwester der Kayserin zu opponiren. Ich habe jedennoch Mühe, solches zu glauben, weil sie es unmöglich mit Success thuen können undt sich selber dadurch den grösten schaden thun würden.“719
Diese chiffrierte Meldung Mardefelds über die Gerüchte zeigt – wie bereits die Betrachtung der anderen Nachfolgekandidatinnen und des -kandidaten –, dass die Legitimation der potenziellen Thronfolger anfechtbar, wenigstens aber diskutabel war. Die Gerüchte über eine mögliche Opposition verdeutlichen diese Gefahr. Katharina von Mecklenburg wurde von den Gesandten und vom russischen Adel trotz ihres dynastischen Anspruchs über Bündnisgrenzen hinweg in der Nachfolge übergangen.
Zarin des Russländischen Reiches – Konkretisierungen der Wahl Annas All diese Diskussionen über die Thronfolge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass bereits am Morgen nach dem Tod Zar Peters II. die Wahl Annas zur Zarin einstimmig beschlossen war. In der historischen Forschung besteht Übereinstimmung darüber, dass der Oberste Geheime Rat sich in einer nächtlichen Sitzung im Lefortovskij Dvorec, der Moskauer Zarenresidenz, zusammenfand, um sich auf die verwitwete Herzogin von Kurland, Anna Ivanovna, zu einigen.720 Magnan stellte die Ereignisse – basierend auf Informationen de Lirias – wie folgt dar: « Par ma derniere depeche qui est du 26. de ce moins, j’eus l’honneur de vous marquer qu’il y avoit esperance de la guerison du Czar Il a plu a Dieu d’en disposer autrement, ce Prince étant mort la nuit passée Entre minuit et une heure qui étoit le 9me jour de sa Maladie. Des aussitot qu’il a eu les yeux fermez, les Ministres du haut Conseil et les feld-marechaux assemblez, ayant fait apeller a la Cour, le Senat, de meme que toute la Generalité, la Prin718 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 68r. 719 Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 35v (chiffriert). 720 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 31.
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cesse Anna Ivanowna, Duchesse de Curlande, fille du feu Czar Iwan Alexiowitz qui etoit frere ainé du defunt Czar Pierre Premier, a êté, d’un accord unanime, reconnue Souveraine de l’Empire Russien. Ensuite de quoy la Proclamation de cette Princesse en qualité d’Imper atrice, a êté faite sur les 10 heures du matin a la Tête des Troupes et au bruit du Canon et des Cloches. Le tout s’etant passé avec une tranquillité d’autant plus parfait, que ce Choix a eu un aplaudissement universel. En sorte qu’il n’est plus question de la part de cette P[rincesse] qui est actuellement en Curlande, que de venir Incessamment prendre possession du Trône selon les desirs de la Nation Russienne. Vous trouverez, Monseigneur, cette disposition bien differente de l’idée que jen avoir donnée par ma derniere dépêch, mais comme le tems est trop court avant le départ de la poste d’aujourd’hui pour en déveloper les misteres avec éxactitude, je ferai mon possible pour étre en état de vous en rendre compte par l’ordinaire prochain […]. »721
An dieser Meldung Magnans vom 30. Januar 1730 ist zu erkennen, dass der Tod Peters II. zwar unerwartet war, der Rat aber bereits in der Todesnacht Vorkehrungen für die Nachfolge traf, während die Diplomaten zu diesem Zeitpunkt nur über die Lage spekulieren konnten. Die Stellung der bisher am russischen Hof dominierenden Adelsfamilie Dolgorukij war bekanntlich durch den Tod Peters II. stark gefährdet.722 Daher versuchte sie, ihre Machtstellung im Obersten Geheimen Rat zu festigen. Hierzu sollte ein Kompromiss mit der ebenso mächtigen Familie Golicyn dienen: Der Rat wurde um die Generalfeldmarschälle Vasilij Vladimirovič Dolgorukij und Dmitrij Michajlovič Golicyns Bruder, Michail Michajlovič Golicyn, erweitert, um ein Übergewicht der beiden Familien herzustellen. Demnach bestand dieses Gremium, das zum Zeitpunkt der Wahl Annas die Herrschergewalt im Reich ausübte, insgesamt aus folgenden Mitgliedern: Gavril Ivanovič Golovkin, Heinrich Johann Friedrich Ostermann, Dmitrij Michajlovič Golicyn, Vasilij Lukič Dolgorukij und Aleksej Grigor’evič Dolgorukij, Vasilij Vladimirovič Dolgorukij und Michail Michajlovič Golicyn und Michail Vladimirovič Dolgorukij.723 Die Zusammensetzung und dessen nächtliche Zusammenkunft in der Todesnacht Peters II. sind durch Teilnehmer belegt.724 Die Diplomaten nahmen des721 Magnan an Chauvelin, Moskau, 30.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 30r/v. 722 Vgl. Kurukin, Anna Ioannovna, S. 29. 723 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 31. Siehe dazu ediert: Žurnal zasedanij Verchovnogo tajnogo soveta (19.01.1730 Jul), in: Ebd., S. 152. Zur Zusammensetzung und der erfolgten Erweiterung des Obersten Geheimen Rates siehe Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 62 f. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 73. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 140. Daniels, V.N. Tatishchev and the Succession Crisis of 1730, S. 550. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 208. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 133. Die fehlerhafte Zusammensetzung des Obersten Geheimen Rates bedarf einer Korrektur bei: Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 465. Kusber, Die Autokratie, Wahl und Wahlkapitulationen im Russländischen Reich der frühen Neuzeit, S. 86. 724 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 32. Siehe dazu ediert: Iz pokazanij A. I.
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sen Erweiterung und dessen umgehende Beratschlagung der Thronfolge erst nach und nach wahr.725 Dass die Wahl Annas bereits um zehn Uhr morgens offiziell verkündet wurde, machte offensichtlich, dass der Oberste Geheime Rat bereits zu Lebzeiten des Zaren Vorkehrungen für die Thronfolge getroffen haben musste. Dies belegt etwa die Äußerung des holsteinischen Gesandten Tessin, nachdem dieser zuvor ausführlich auf die ihm nachträglich bekannt gewordenen Details des Krankheitsverlaufs Peters II. eingegangen war:726 „Nun haben zwar die Herrn auß dem Hohen Conseil schohn in selbiger unglückseeligen Nacht, als Sie gesehen, daß keine Hoffnung mehr zum leben übrig, unter sich abgeredet, wen sie auff dem erledigtem Thron wieder erheben wolten, dennoch umb alle Formalitäten zu observiren, haben Sie am Montage frühe umb 7 Uhr alle General, Presidenten der Collegia, Obersten und Obersten Lieutenants, wie auch Majors von der Garde nach den Kremmelin einladen laßen […].“727
Aufgrund des raschen Vorgehens des Obersten Geheimen Rates waren die Einspruchsmöglichkeiten von anderen Thronprätendentinnen und des Thronprätendenten sowie ausländischer Mächte sehr begrenzt, zumal die Wahl nicht nur im Rat, sondern auch bei den russischen Eliten auf Zustimmung stieß. In einer ersten Reaktion betonte der sächsisch-polnische Gesandte Le Fort, dass der Tod Peters II. eine unglaubliche Bestürzung und Unsicherheit in Moskau hervorgerufen habe. Eine weise Regierung habe Vorkehrungen getroffen, und morgens um fünf Uhr habe sich bereits der Rat mit der Generalität und den Großen des Reiches versammelt. Auf Vorschlag Dmitrij Golicyns sei die Herzogin von Kurland einmütig gewählt worden. Alles sei nun ruhig und zufrieden mit dieser Nominierung.728 Der Wahlgang Annas und deren Benennung durch den russischen Adligen Golicyn rückten schnell in den Mittelpunkt der Berichterstattungen. Aus den Gesandtschaftsberichten lässt sich schließen, dass sich der Blick der Diplomaten sofort auf die mächtigen russischen Adligen richtete, denen die Zarin ihre Wahl verdankte. Am Ostermana (15.12.1741Jul), in: Ebd. S. 183 f. Iz pokazanij V.L. Dolgorukogo (06.11.1739 Jul), in: Ebd. S.184 f. Iz pokazanij S.G. Dolgorukogo (06.11.1739 Jul), in: Ebd. S. 186 f. Zapiska V.V. Stepanova, in: Ebd. S. 187–189 (zitiert nach: Konstantin Nikolaevič Bestužev-Rjumin; Vasilij Vladimirovič Kašpirev: Pamjatniki novoj russkoj istorii, Sankt-Peterburg 1871, Band 1, Teil 2, S. 10 f.). Iz „Memuarov“ P.V. Dolgorukova, in: Ebd., S. 180–182 (zitiert nach: Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 39–41.) 725 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 30.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 30r/v. Tessin an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01./02.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 02.02.1730 a.St. [13.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 22v. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 25r (chiffriert). 726 Vgl. Tessin an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01./02.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 727 Ebd. 728 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 30.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, 30r/v.
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30. Januar vermeldeten die meisten diplomatischen Vertreter, dass Dmitrij Michajlovič Golicyn sehr großen Anteil an der Wahl Annas habe.729 Aus dieser Information zogen die Diplomaten unterschiedliche Schlussfolgerungen: Magnan sah darin einen deutlichen Machtverlust der Dolgorukij, während Ostermann so viel Macht wie nie zuvor bekommen werde. Da Ostermann sich mit dem Konflikt um Mecklenburg zu beschäftigen habe, sei er zudem mit der Schwester der zukünftigen Zarin, der Herzogin von Mecklenburg, und dem Herzog von Mecklenburg vertraut. Diese Information erachtete Magnan als so wichtig, dass er sie sowohl auf regulärem Postweg als auch durch einen spanischen Kurier abschicke.730 Dieser ersten Einschätzung über die zukünftigen Personenkonstellationen am Hof folgte auch der preußische Gesandte Mardefeld: Die Wahl sei für Ostermann ein großes Glück, da Anna ihn seit Langem gefördert habe und er ihr Vertrauter sei.731 Diese Einschätzung Mardefelds war den Interessen Preußens zweckdienlich. Aus anderen Quellen ist aber bekannt, dass Ostermann und Anna während ihres Aufenthalts in Mitau in brieflichem Kontakt standen.732 Mardefeld hoffte zudem, dass durch den Beitrag Dmitrij Michajlovič Golicyns zur Wahl Annas dessen Sohn, der Gesandter in Berlin war, in Zukunft hohe Ämter einnehmen werde.733 Chiffriert berichtete Mardefeld, er habe eine geheime Mitteilung erhalten, dass die Wahl bereits seit einigen Tagen zwischen Ostermann und Golicyn abgesprochen gewesen sei – allerdings unter der Bedingung der Einschränkung ihrer Souveränität. Dies bedürfe jedoch der Bestätigung.734 Tessin rechtfertigte sich sowohl gegenüber dem Geheimratspräsidenten Stambke als auch gegenüber dem holsteinischen Herzog, dass die Großen des Reiches nach dem Tod des Zaren die ganze Nacht versammelt gewesen seien und bereits am Morgen das Ergebnis der Wahl verkündet hätten.735 Anna sei unter Ausschluss aller Thronprätendenten zur Erbin der Krone ernannt worden. Tessin habe vergeblich versucht, mit Ostermann darüber zu sprechen. Tessin betonte jedoch, Anna sei dem Herzog von Holstein bisher immer freundschaftlich verbunden gewesen. Zudem stehe Ostermann bei ihr aller Voraussicht nach in hoher Gunst und werde diese Stellung trotz möglicher Veränderungen beibehalten.736 729 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 30.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 31r (chiffriert). Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 30.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 22v. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 30.1.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 47r/v. Le Fort an König August II., Moskau, 30.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 30r/v. Ward an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 15v/16r. 730 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 30.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 31r (chiffriert). 731 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 30.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 18r/v. 732 Vgl. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 72. 733 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 30.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 22v. 734 Vgl. ebd., fol. 22v (chiffriert). 735 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 19.01./30.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 736 Vgl. Tessin an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 19. 01./30.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung.
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Die Vertreter der englischen Krone am Moskauer Hof, Ward und Rondeau, berichteten am 30. Januar in unterschiedlicher Ausführlichkeit. Ward vermeldete lediglich – ebenso wie Rondeau –, dass der Oberste Geheime Rat Anna einstimmig zur Nachfolgerin gewählt habe.737 Dmitrij Michajlovič Golicyn habe in einer langen Rede Anna als die fähigste der möglichen Nachfolger vorgeschlagen, worin ihm der Rat zugestimmt habe. Daraufhin sei dieser Beschluss allen „general officers“ verkündet worden, die bereits im Vorzimmer gewartet hätten und dies an Soldaten und das Volk verkünden sollten. Es scheine jeder sehr zufrieden mit der Wahl zu sein. Es gebe Gerüchte, dass die Regierungsform durch den russischen Adel verändert werden solle und Anna machtbeschränkende Konditionen unterschreiben müsse. Sonst könne eine andere Nachfolge bestimmt werden. Die Zarin solle so schnell wie möglich aus Mitau nach Moskau kommen, „because her presence is very necessary to hinder all the Cabals that may be made against her”738, resümierte Rondeau angesichts der Unklarheiten der Regierungsform und anderer potenziell möglichen Thronfolgen. Wratislaw berichtete ebenso wie Mardefeld,739 dass Peter II. ohne Testament verstorben sei und die Minister und die Generalität unmittelbar zusammengetreten seien, um über die Nachfolge zu beratschlagen. Da es keine Nachkommen Zar Peters II. gebe, sei Anna von Dmitrij Golicyn vorgeschlagen worden. Dmitrij Golicyn habe den Vorsitz im Obersten Geheimen Rat geführt, da der Großkanzler Gavrijl Ivanovič Golovkin krankheitsbedingt abwesend gewesen sei. Die Anwesenden seien dem Vorschlag einmütig gefolgt. Die Garde habe dies öffentlich verkündet. Dass dies alles so ruhig und ohne Anfechtung geschehen sei, verwunderte Wratislaw sehr. Nach vorläufigen, wenn auch noch nicht bestätigten Berichten sei zu hoffen, dass die kaiserlichen Interessen in Russland gewahrt blieben.740 Dass es sich mitunter um unklare Äußerungen und in Eile niedergeschriebene Gerüchte handelte, belegen die Ergänzungen der Meldungen vom 30. Januar durch Postskripta. Die Unübersichtlichkeit der Lage und die kurze Zeitspanne bis zum Versand der Post ließen eine detaillierte und zuverlässige Berichterstattung nicht zu.741 Noch galten viele Nachrichten als zweifelhaft, da sie in der kurzen Zeit nicht durch andere Informationsquellen bestätigt oder überprüft werden konnten. Die Bedeutung der Ereignisse für die europäischen Höfe machte einen sofortigen Versand dieser Informationen erforderlich. Der Tod Peters II. und die Er737 Vgl. Ward an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 13r. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 15v. Rondeau an Under-Secretary of State Tilson, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 17r. 738 Ward an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 15v/16r. 739 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 30.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 18r/v. 740 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 30.1.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, 47r/v. 741 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 30.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 30v (chiffriert). Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, ohne Foliierung.
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hebung Annas wurden den hochrangigen Gesandten einheitlich am 30. Januar 1730 durch den Oberzeremonienmeister Habichtsthal bekannt gegeben. Der detaillierte Ablauf der Wahl konnte aber erst am 2. bzw. 3. Februar konkretisiert werden.742 Die offizielle Notifikation findet in den niederrangigen Gesandtschaftsberichten Magnans, Rondeaus oder Wards keine Erwähnung.743 Tessin vermeldete am 2. Februar, dass der Großkanzler Golovkin wegen Heiserkeit nicht habe sprechen können, weswegen Dmitrij Golicyn die Wahlversammlung geleitet habe. Da „in liniea directa et descendendi keiner von ihrem altem czaarischem geblühte mehr übrig“, forderte Golicyn, dass aus der älteren Linie Zar Ivans V. eine Nachfolgerin zu wählen sei. Anna Ivanovna sei nach einer kurzen Aussprache gewählt worden, und dies sei offiziell verkündet worden.744 Entgegen seiner verhalten optimistischen Einschätzungen vom 30. Januar schrieb Tessin aufgrund erster Hinweise auf eine Veränderung der Regierungsform, der Nachfolgedebatten und der unklaren Lage nun pessimistischer über die Durchsetzung holsteinischer Interessen in Moskau: „Es wird aber der H[err] Graff Bonde, als welcher beßer als Ich mit diesen Leuten zu sprechen und umbzugehen weiß, Selbsten zu erkennen geben, wie wenige Consideration man hiesieges Ohrths vor unß zu haben scheinet und befürchte Ich, wann unsere Sachen noch einige Zeit in Statu quo verbleiben solten, man mögte wohl gar ermüden auch unß die Subsidien zu zahlen.“745
Nach Tessins Einschätzung werde Ostermann trotz aller derzeitigen Veränderungen die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten inne behalten, da es zum einen keinen anderen so fähigen Mann gebe und er zum anderen die Anerkennung der Zarin genieße. Tessin verwies
742 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 19.01./30.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01./02.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 30.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 18r/v. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 30.1.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 47r/v. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 265r. Von den Gesandten erwähnte nur Le Fort die offizielle Notifikation nicht. 743 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 30.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 30r/31r (chiffriert). Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 15r/16v. Rondeau an Under-Secretary of State Tilson, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 17r/v. Ward an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 13r/14v. 744 Vgl. Tessin an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01./02.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 745 Ebd.
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später als andere darauf, dass Ostermann Anna als zukünftige Zarin vorgeschlagen habe.746 Die Ausführungen Bondes vom 2. Februar waren etwas detaillierter. Hierfür waren seine Fremdsprachenkenntnisse und der vertrauensvollere Umgang aufgrund langer Anwesenheit Bondes am russischen Hof ausschlaggebend, wie Tessin selbst betonte. Auch Bonde verwies auf die augenblickliche Zusammenkunft des Rates und der sofortigen Wahl Annas auf Vorschlag Golicyns. Die Äußerung Golicyns, dass „kein Manßgesohn von dem keyßerl. geblüt übrig wäre“747, erscheint von Bonde bewusst in Zweifel gezogen. Bonde berichtete, dass Anna wider Erwarten zur Zarin gewählt worden sei.748 Da Bonde sehr bemüht um die Berücksichtigung Karl Peter Ulrichs bei der Thronfolge war, erscheint dies folgerichtig und diente der Rechtfertigung des Scheiterns der beiden holsteinischen Gesandten. Magnan hatte Zweifel, dass seine Briefe vom 23., 26. und 30. Januar in Versailles angekommen seien, und reichte eine detailliertere Darstellung der Ereignisse nach. Der Tod des Zaren und die Erhebung Annas nannte er eine « grande et interessante Revolution »749 und ging erneut auf den Wahlvorgang ein.750 Das Rekurrieren auf den Begriff der Revolution ist an dieser Stelle nicht wörtlich zu verstehen, sondern vielmehr Magnans stereotypen Vorstellung geschuldet, dass Russland ein unberechenbarer Akteur in Europa sei. Zudem wäre es zweckdienlich für Frankreich gewesen, wenn das Russländische Reich durch innere Unruhen außenpolitische Macht in Europa eingebüßt hätte.751 Magnan selbst betont, dass der Oberste Geheime Rat bereits versammelt gewesen sei, als der Zar verstarb. Ostermann habe vor dem Wahlvorgang seinen Kollegen mitgeteilt, dass er als Ausländer nicht das Recht habe, über die Nachfolge zu entscheiden. Er werde ihrer Entscheidung nachträglich zustimmen, worauf er den Raum verlassen habe.752 Unter den Versammelten habe Dmitrij Golicyn das Wort ergriffen und gesagt, « que la Monarchie êtoit un Corps qui ne pouvoit subsister sans Chef ».753 Da mit dem Tod Peters II. die Dynastie Peters I. ausgelöscht worden sei, könne man die Familie Zar Ivans V. nicht übergehen. Anna sei ihrer älteren Schwester Katharina vorgezogen worden, da sie unverheiratet sei und für Russland keine Verwerfungen mit ausländischen Mächten zu erwarten seien. Sie besäße alle notwendigen Qualitäten, und Golicyn verspreche sich von ihr eine stabile Regierung. Die anderen Anwesenden hätten der Wahl der Herzogin von Kurland einhellig zugestimmt, worauf keine anderen Überlegungen mehr erforderlich gewesen seien. Der hinzugerufene Ostermann habe die Wahl bestätigt. Daraufhin habe sich der Oberste 746 Vgl. ebd. 747 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. 748 Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung. 749 Magnan an Chauvelin, Moskau, 02.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 34r. 750 Vgl. ebd., fol. 34v/35v (teilweise chiffriert). 751 Das Bild von bevorstehenden Unruhen und einer bald ausbrechenden Revolution wurde bereits bei der Thronbesteigung Zarin Katharinas aus außenpolitischen Motiven bemüht, siehe: Leitsch, Der Wandel der österreichischen Rußlandpolitik in den Jahren 1724–1726, S. 65. 752 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 02.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 35v/36r. 753 Ebd., fol. 36r.
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Geheime Rat in den Kreml begeben, wo sich die unterschiedlichen Stände der Monarchie versammelt hätten, um der Wahl zuzustimmen. Anschließend habe der Rat befohlen, der Prinzessin die Nachricht nach Kurland zu überbringen, dass sie als souveräne Zarin erwählt sei.754 Diese Darstellung der Rolle Ostermanns beim diesem Wahlvorgang ist so ebenfalls in anderen Darstellungen verbürgt.755 Aus einem im Namen des Obersten Geheimen Rates am 15. Februar 1730 erlassenen Manifest – als bekannt war, dass Anna den Thron annahm –, heißt es, Anna sei „nach allgemeinem Verlangen und der Zustimmung der gesamten russländischen Nation“ („obščim želaniem i soglasiem vsego rossijskogo naroda“) auf den russischen Thron „gewählt“ („izobrana“) 756 worden.757 Dies war notwendig, da sich Anna 1730 nicht wie Katharina I. auf den Willen ihres Vorgängers berufen konnte.758 Obwohl ihre Wahl mit ihrer Zugehörigkeit zur Zarenfamilie begründet wurde und sie die Tochter des ehemaligen Zaren Ivan V. war,759 konnte sie sich auf keine traditionelle Nachfolge gemäß dem Geblütsrecht berufen. Daher gewann die Betonung ihrer Wahl wie auch die Zustimmung der gesamten Nation als Legitimation an Bedeutung. Dieses Legitimationsmuster übernahmen die ihr nachfolgenden Zarinnen und Zaren.760 Die Behauptung, dass Anna über keine dynastische Legitimation verfüge,761 ist jedoch nicht zutreffend. Auch Le Fort betonte die einmütige Nomination Annas und die sehr große Zustimmung zu ihrer Wahl.762 Le Fort betonte zudem die Tugenden Annas. Sie habe mit August II. immer eine wahre Freundschaft verbunden, an der er auch in Zukunft nicht zweifle.763 Am 2. Februar verfasste Le Fort gleich drei Briefe mit divergierendem Inhalt. Der erste thematisierte die Umwidmung der Geschenke.764 Der zweite und dritte Brief hatten allerdings unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Inhalte. Den zweiten Brief versandte 754 Vgl. ebd., fol. 36r/37r. 755 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 32. 756 Die Übersetzung ist durch den Autor erfolgt. Siehe dazu ediert: Manifest verchovnogo tajnogo soveta o smerti imperatora Petra II i izbranii na prestol carevny Anny Ioannovny (04.02.1730 Jul), in: ebd., S. 137 f. 757 Siehe dazu ediert: Manifest verchovnogo tajnogo soveta o smerti imperatora Petra II i izbranii na prestol carevny Anny Ioannovny (04.02.1730 Jul), in: ebd., S. 137 f. 758 Vgl. ebd., S. 39. 759 Siehe dazu ediert: Manifest verchovnogo tajnogo soveta o smerti imperatora Petra II i izbranii na prestol carevny Anny Ioannovny (04.02.1730 Jul), in: ebd., S. 137 f. 760 Vgl. ebd., S. 39 f. 761 Vgl. Mediger, Moskaus Weg nach Europa, S. 90. Dass es Elisabeth leichtgefallen sei, Anna Ivanovna mithilfe der Garde zu stürzen, da diese auf große Ablehnung gestoßen sei, ist falsch und entbehrt jeder Grundlage. Hildermeier verwechselt in seinem auf alter Forschungsliteratur basierenden und somit oftmals fehlerbehafteten Werk Anna Ivanovna mit Anna Leopol’dovna, siehe Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 459 f. 762 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 31.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 33v. 763 Vgl. ebd., fol. 35r. 764 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 02.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 35r–37v.
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Le Fort mit einem Kurier des kaiserlichen Gesandten Wratislaw, in dem er ausführlich auf die Vorhaben der Alliierten von Sevilla einging, den Zarenhof aus der Allianz mit dem Kaiser zu lösen. Dieses Ziel werde aufgrund der vorgefallenen Veränderungen leicht erreichbar sein.765 Die englischen Gesandten unternähmen täglich Versuche, die Russen für sich zu gewinnen und seien ihnen daher weit entgegengekommen. Der dänische Gesandte arbeite ebenso wie der schwedische Gesandte « par ses creatures »766. De Liria wiederum bearbeite seit einiger Zeit Vasilij Vladimirovič Dolgorukij. Es sei ausgeschlossen, dass die Russen in dieser Situation nicht versuchten, von der Lage zu profitieren.767 Le Fort beschrieb zudem eine innerrussische Debatte über die Vor- und Nachteile der geschlossenen Allianz mit dem Kaiser: « Les Russes disent à cela : que nous sert l’alliance de l’Empereur ? A sortir nos troupes de notre pays pour garder les frontières d’Hongrie, comme on l’avoit projetté. L’on n’aura passet de confiance en nous pour nous poster autrement nous ne tirons aucune avantage de cette alliance que de ruiner nos troupes et les explore à ne jamais revoir leur patrie. Cette alliance est bonne en cas de rupture avec le Turcs quand à la Pologne, elle ne sauroit qu’etre unie avec nous il saudra bien que elle nous faire et allors la Cour de Prusse aura beau jeu. Le refrain de ee prétendu avantage que les Russes pourront tirer de cette alliance est le commerce, dont ils n’ont jamais su profiter. Il me paroit Sire, que ces idées meritent quelque attention. »768
Hieraus wird deutlich, dass Le Fort mit russischen Adligen ins Gespräch kam und diese die geschlossene Allianz mitunter kritisch betrachteten. Dass de Liria seine Abreise plane, hielt der sächsisch-polnische Gesandte für eine schlechte Idee. Wratislaw sei bezüglich der Allianz mit Russland ganz anderer Meinung, da er diese für unauflöslich halte. Die Nominierung der Zarin sei ohne große Debatten verlaufen, da Ostermann mit den Golicyns und dem Feldmarschall Dolgorukij zusammengearbeitet und den Vollzug der Ehe mit Katharina Dolgorukaja verhinderte habe.769 In der dritten Relation wiederum betonte Le Fort, dass der russische Oberzeremonienmeister bei der Verkündung des Todes Peters II. und der einmütigen Wahl Annas gegenüber den ausländischen Gesandten ihm mitgeteilt habe, dass Anna die bisherige gute Freundschaft fortzusetzen wünsche. Le Fort schrieb erneut von einer würdigen Wahl.770 Gleichzeitig schrieb Magnan an seinen französischen Kollegen in Wien, François de Bussy771, eine Relation, die die bereits nach Versailles gemeldeten Vorgänge in Russland seit dem 765 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 02.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 38r/v (chiffriert). 766 Ebd., fol. 38v (chiffriert). 767 Vgl. ebd., fol. 38v–39r (chiffriert). 768 Ebd., fol. 39v–40r (chiffriert). 769 Vgl. ebd., fol. 40r/41r (chiffriert). 770 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ), Moskau, 02.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 46r/v. 771 François de Bussy war französicher Chargé d’Affaires am Wiener Hof vom 5. Mai 1728 bis 28. November 1733 (letzte Relation). Vom 17. Februar 1737 (Ankunft) bis zum 23. Oktober 1737 (Abreise)
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Beginn der Erkrankung Zar Peters II. umfasste, ohne auf den mittlerweile gegenstandslosen Krankheitsverlauf einzugehen.772 Dieser zehnseitige Brief weist auf ein gesteigertes Informationsbedürfnis des französischen Vertreters in Wien hin. Die diplomatischen Vertreter seien sehr überrascht über die Wahl Annas gewesen, da sich ihre Vermutungen nicht auf die Töchter des Zaren Ivan erstreckt hätten, sondern vielmehr auf die Prinzessin Elisabeth, Evdokija und Katharina Dolgorukaja. Magnan begründete als Einziger, dass Anna erwählt worden sei, da sie die ihr unterbreiteten Machtbeschränkungen akzeptieren werde. Demnach solle sie die Nachfolge antreten; aber die Krone werde ihr nur als Leihgabe überreicht, bis die russischen Adligen eine neue Regierungsform ausgearbeitet hätten. Magnan hoffte, dass die Ausarbeitung der Staatsform Russland die Möglichkeit gebe, sich aus europäischen Bündnissen zurückzuziehen. Demnach könne der Kaiser nicht mehr auf die russische Unterstützung – wie noch zu Lebzeiten Zarin Katharinas I. und Zar Peters II. – hoffen.773 Damit antizipierte Magnan einen für Frankreich zweckdienlichen Rückzug Russlands aus den europäischen Angelegenheiten. Der Feldmarschall Dolgorukij habe sich im Obersten Geheimen Rat kurz vor dem Tod Peters II. dafür ausgesprochen, die militärische Hilfe für den Kaiser zu verweigern. Russland solle sich zudem aus dem kaiserlich-russischen Bündnis lösen, um vorteilhaftere Bündnisse eingehen zu können. Auch bei einer Versammlung im Haus Aleksej Grigor’evič Dolgorukijs habe darüber Einigkeit geherrscht. Mit dem Tod des Neffen der Kaiserin werde der Kaiser seine Machtstellung am russischen Hof verlieren, weswegen Magnan sogar an eine baldige Abberufung Wratislaws glaubte. Durch die mit dem Thronwechsel verbundene Veränderung des Hofstaates erlange die dem Kaiser nicht wohl gesinnte Familie Golicyn großen Einfluss, was Magnan aus der Rückkehr des Feldmarschalls Golicyn kurz vor dem Tod des Zaren zu ersehen glaubte. Obwohl die Situation in Russland ruhig wirke, gebe es seit geraumer Zeit durch Intrigen verursachte innere Spannungen am Hof. Selbst wenn Ostermann als einziger Fürsprecher des Kaisers sein Ansehen bewahre, sei sein Handeln von der Zustimmung anderer Mitglieder des russischen Hofstaats abhängig. Da Ostermann die Gewinnung der Dolgorukij für die kaiserlichen Interessen durch die Verleihung eines kaiserlichen Lehens misslungen war, sei das Vertrauen des russischen Hofs in ausländische Bündnisse völlig zerstört. Der Kaiser könne sich nicht mehr auf die Bündnistreue Russlands verlassen, sondern nur auf den König von Preußen.774 Die ausführliche Behandlung der russisch-kaiserlichen Allianz und das antizipierte Scheitern der Bündnisverpflichtungen Russlands zeigen, dass die Beurteilung des Thronwechsels 1730 sowohl durch den französischen Vertreter in Moskau als auch durch andere diplomatische Vertreter vor allem nach bündnispolitischen und militärischen Auswirkungen betrachwar er außerordentlicher Gesandter in London. Vom 31. Mai 1761 (Ankunft) bis zu seiner Abreise nach dem 19. September 1761 war er für Friedensverhandlungen als bevollmächtigter Minister abermals in London, siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 104 und S. 110 f. 772 Vgl. Magnan an de Bussy, Moskau, 03.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 42r-46v. 773 Vgl. ebd., fol. 43r/45r. 774 Vgl. ebd., fol. 45r–46v.
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tet wurde. Diese Darstellung entsprach dem Wunsch Magnans, dass der Kaiser durch den Thronwechsel seinen Bündnispartner Russland verlieren sollte, sodass er außenpolitisch und militärisch geschwächt worden wäre. Dass diese Schwächung sogar so weit führen sollte, dass Wratislaw aus Moskau abberufen würde, zeigt auf, dass dies mehr Wunschdenken des französischen Vertreters war denn fundierte Berichterstattung. Eine Abberufung Wratislaws ist in seinen Berichten nicht zu finden. Angesichts der veränderten und unklaren innerrussischen Situation schätzte Rondeau die gesamteuropäische Lage bereits am 30. Januar 1730 für das Interesse der britischen Krone und der Alliierten von Sevilla positiv ein: “I humbly believe My Lord that His Majesty’s allies, may be assured in case the Emperor doth not accede to the Treaty of Seville, that now he must never expect the 30000 men promis’d by the Treaty of 1726.”775
Mardefeld hingegen berief sich darauf, dass das Bündnis zwischen Russland, Preußen und dem Kaiser gefestigt werde. Dies habe ihm Ostermann schon früher mündlich mitgeteilt.776 Er lobte zudem die Eigenschaften Annas: Sie sei eine Dame mit großem Verstand und Standhaftigkeit sowie Ausländern mehr gewogen als Russen, weswegen sie in ihrem kurländischen Hofstaat fast keinen Russen, sondern nur Deutsche angestellt habe.777 Die Einschätzung, dass Russland seine Verträge mit dem preußischen König und dem Kaiser auch erfüllen könne, zog Mardefeld jedoch am 6. Februar in Zweifel. Fraglos wären die russischen Truppen für den Kaiser entsandt worden, wenn der Zar nicht gestorben wäre. Aufgrund des „jetzigen verwirreten Zustande“ des Russischen Reiches sei darauf kein Verlass, auch wenn die russischen Minister dies im Namen der neu erwählten Zarin versprochen hätten. Diese Bündnisverlängerungen seien „solange für leere worthe zu halten“778, bis die Zarin nach ihrer Ankunft darüber entschieden habe. Aufgrund der derzeitigen Veränderungen könne er sich mit den viel beschäftigten russischen Akteuren darüber nicht beratschlagen. Dass Mardefeld an der Absendung der Truppen zweifelte, war Wratislaw nicht entgangen, da Mardefeld um eine Bestätigung der Unterstützung des Kaisers im Kriegsfall am russischen Hof bat. Den Ausführungen Wratislaws darüber folgend habe Ostermann Mardefeld explizit bestätigt, dass die militärische Unterstützung Russlands gemäß den geltenden Verbindlichkeiten ausgeführt werde und dies Wratislaw bereits durch den Rat im Namen der Zarin versichert worden war.779 775 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 16r. 776 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 24r. 777 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (zweiter Brief ), Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 31v (chiffriert). 778 Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 06.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 44r/v (chiffriert). 779 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 63r/v.
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Ob die russische Seite die Bündnisse mit dem Kaiser und Preußen einhalten werde, beschäftigte die kaiserlichen Gesandten in hohem Maße. Aufgrund dieses Bündnisses waren die Berichte der kaiserlichen Vertreter in Bezug auf die Thronfolge recht ausführlich. Nicht nur Wratislaw schrieb drei mitunter sehr ausführliche Briefe nach Wien, sondern auch der kaiserliche Legationssekretär Hochholzer, der bereits seit Juni 1721 am russischen Hof weilte.780 Das Verfassen von insgesamt sechs Berichten an verschiedene Vertreter am Kaiserhof und das Verfassen zweier Briefe innerhalb eines Tags an den Kaiser und jeweils ein offizielles und geheimes Schreiben an Prinz Eugen unterstreichen die bisher vielfach – auch von anderen Gesandten – geäußerte unklare Lage in Moskau.781 Die zweite Relation Wratislaws an den Kaiser vom 3. Februar umfasste 33 Blätter und konkretisierte nicht nur die Ausführungen des fünfseitigen Briefes gleichen Datums, sondern gab eine äußerst detaillierte Einschätzung der bisherigen Geschehnisse, der Thronfolge und der antizipierten Folgen wieder.782 Die Anzahl und die Ausführlichkeit der Relationen zeigen zudem, wie wichtig die kaiserlichen diplomatischen Akteure die Vorgänge in Russland für den Kaiserhof erachteten. Ein weiteres Indiz dafür ist, dass Wratislaw diese Berichte gesichert mit einem Kurier versandte.783 Nichtsdestotrotz betonte Wratislaw erneut die Unsicherheit, ob die Post überhaupt abging.784 Die sich schnell verändernden innerrussischen Machtverhältnisse waren vielfach Gegenstand der Berichte aller Diplomaten.785 Die ausführliche Auseinandersetzung Wratislaws mit den Thronprätendentinnen und dem Thronprätendenten, bevor er auf den Ablauf der einmütigen Wahl Annas zu sprechen kam,786 lässt erkennen, dass es einer ausführlichen Darstellung der Ereignisse bedurfte, um dem Wiener Hof die Möglichkeit zu geben, die Lage richtig einzuschätzen. Nach Wratislaws Ansicht sei es Heinrich Johann Friedrich Ostermann, der für russische Interessen einstehe und daher nicht von der Seite des kranken Zaren gewichen sei. Ihm sei durch ungemeine Klugheit gelungen, den Dolgorukij die Krone aus der Hand zu reißen und Anna auf den Thorn zu heben, die ihr Vertrauen in Ostermann gesetzt habe.787 Eine andere Thronfolge wäre sicherlich möglich gewesen, aber in Anbetracht der Ereignisse unwahrscheinlich. Die Versammlung der sich bereits in der Todesnacht versammelten Mit780 Vgl. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 78. 781 Die Geheimkorrespondenz war inhaltlich identisch mit der offiziellen Korrespondenz. 782 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 61/1r–61/3r (teilweise chiffriert). Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 64r–77r (teilweise chiffriert). 783 Vgl. ebd., fol. 64r/65r. 784 Vgl. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 55r. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 61/1r. 785 Vgl. ebd., fol. 61/1r/61/2r. 786 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 65r–68r. 787 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 72r/73r.
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glieder des Obersten Geheimen Rates sei von Dmitrij Golicyn geleitet worden. Nachdem die Ansprüche der Thronfolge und eine Verständigung auf die ältere Zarenlinie sich abzeichneten und Annas ältere Schwester Katharina aufgrund ihres Ehemanns als problematisch angesehen worden sei, habe Dmitrij Golicyn Anna als Thronfolgerin vorgeschlagen. Diesem Vorschlag stimmten die Anwesenden des Rates zu und überbrachten diese Entscheidung den Zivil- und Militärkollegien im Kreml, die ihrerseits einhellig zustimmten.788 Es habe bereits zu diesem Zeitpunkt Gerüchte gegeben, dass die absolute Regierung der Zarin eingeschränkt werde solle; jedoch sei nicht daran zu zweifeln, dass die Zarin die Krone annehmen werde. Der Eid der Treue auf die Zarin sei aber noch nicht geleistet worden.789 Der Oberzeremonienmeister habe bei der Notifikation der Thronfolge gegenüber dem kaiserlichen Gesandten und den anderen anwesenden ausländischen Gesandten die Hoffnung geäußert, dem Kaiser sei die Thronfolge genehm. Obwohl die Souveränin noch nicht in Moskau weile, könne der Oberste Geheime Rat bereits das Fortbestehen aller bestehenden Bündnisse garantieren. Dies bestätigten ebenso die neu in den Rat aufgenommenen Feldmarschälle Golicyn und Dolgorukij.790 Wratislaw wiederum charakterisierte den Feldmarschall Golicyn überaus positiv: „dieser Mann ist real in seinen Handlungen, ein guter Kopf, beherzt und geschickt, erfahren, wacht- und arbeitsam, für wohl verdiente Leüte es seien aus- oder einheimischen ein eyfrigen befördern, von der Nation sehr geliebt und bey der Armee in gleichen ansehen und Vertrauen.“791
Während die Dolgorukij, deren Zenit überschritten sei, ausgesprochen negativ geschildert werden, wird Ostermann in sehr positivem Licht dargestellt. Er habe sich gegen die Dolgorukij durchgesetzt und Anna die Krone angetragen.792 Anna sei Ostermann alle Zeit gut gesonnen gewesen, und aufgrund seines Engagements bei ihrer Wahl könne Anna sich auch künftig auf ihn verlassen.793 Bei dieser Charakterisierung Ostermanns ist zu bedenken, dass er ebenso wie der Feldmarschall Golicyn als Garant des Bündnisses mit dem Kaiser galt. Die negative Beurteilung des Brautvaters und des Bruders der Braut, Ivan Dolgorukij, ist darauf zurückzuführen, dass sie Peter II. dem Einfluss Kaiser Karls entzogen hatten. Wratislaw vermutete, dass Ostermann möglicherweise eine Limitierung der bisherigen uneingeschränkten Macht der Zarin unterstützt habe, da er die Thronfolge Annas nicht erschweren wollte. Jedoch bedürfe diese Vermutung einer Bestätigung. Eine mögliche Thronfolge der jungen Herzogin von Mecklenburg oder des jungen Herzogs von Holstein hielt er noch nicht als endgültig ausgeschlossen, da der Grund der Verwehrung des Thrones deren 788 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 66v–68v. 789 Vgl. ebd., fol. 69r/v. 790 Vgl. ebd., fol. 70v. 791 Ebd., fol. 70r/v. 792 Vgl. ebd., fol. 71r. 793 Vgl. ebd., fol. 73r.
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Minderjährigkeit gewesen sei. Die Zarin könne während ihrer Regierung diesbezüglich Maßnahmen ergreifen. All diese Äußerungen seien – wie Wratislaw explizit erklärt – lediglich Mutmaßungen, bei denen er sich auch sicherlich irren könne.794 „An dem nechst hingeschiedenen jungen Monarchen haben E[rwürdige]. Kay[serliche] May[estät] einen nahen anverwandten verlohren, bey welchem also daher von wegen deren vorhin schon gestiffeten Allianz Tractat, ein doppeltes band mit deroselben warn.“795
Wratislaw versinnbildlichte mit dieser Metapher des doppelten Bandes, dass der Kaiser nicht nur durch seine Frau Elisabeth Christine mit dem Hause Romanov dynastisch verbunden war, sondern auch durch die 1726 geschlossene Allianz.796 Die Betonung der dynastischen Verbindung ging jedoch mit der Relativierung ihrer Wirksamkeit einher. Diese Vorteile hätten sich unter Peter II. aufgrund des negativen Einflusses der Dolgorukij nicht entfalten können. Die Dolgorukij hätten nun ihre dominante Stellung am Hof verloren.797 Deren Einfluss beurteilte Kaiser Karl VI. als seinen Interessen abträglich, da sie den Einfluss Wiens gemindert hatten.798 Ohne die Zarin persönlich zu kennen, habe Wratislaw erkunden können, dass diese aufgrund ihres Charakters eine große Regentin werde. Trotz des frühen Todes ihres Mannes habe sie den Respekt und die Ergebenheit einer fremden Nation erhalten sowie, einen ordentlichen, wenngleich mittelmäßigen Hofstaat geführt. Sie habe sparsam gelebt und sei vernünftig.799 Dies lasse auf eine glückliche Regierung hoffen und folgern, „daß wie diese Frau das ihr neü anvertrauende Reich in glorieusen Stand zu erhalten trachten – also einer ihrer fürnemhmsten Sorgen auch sein wird, sie demselben so nützlich Bündnise als iene zwischen Ew. Kayl. May. [Ehrwürdiger Kaiserlicher Majestät] und Rußland bestens zu cultiviren“.800
Ostermann, der das größte Ansehen bei Anna genieße und ihre rechte Hand sein werde, werde sich weiterhin für die Zusammenarbeit mit dem Kaiser aussprechen, so die Hoffnungen Wratislaws. Golicyn werde sich in einer gewöhnlichen Stellung wiederfinden, ebenso wie die Dolgorukij. Als Bedrohung sah er hingegen an, dass die Interessen des Herzogs von Meck794 Vgl. ebd., fol. 73v–72/2r. 795 Ebd., fol. 77/2r. 796 Siehe dazu ausführlicher: Steppan, Kaiser Karl VI. und sein Neffe, der Großfürst. Repräsentation, Interaktion und Kommunikation kaiserlicher Gesandter im Konflikt um die Thronfolge von Zar Peter II., S. 127–144. 797 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 77/2–74/2. 798 Vgl. Donnert, Peter II., S. 188. 799 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 74/2r–75r. 800 Vgl. ebd., fol. 75r.
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lenburg mehr Unterstützung bei der Zarin finden könnten, da die Ehefrau des Herzogs von Mecklenburg-Schwerin ihre Schwester sei. Da der Bruder Ostermanns mecklenburgischer Gesandter war, befürchtete Wratislaw auch hier eine Möglichkeit der Beeinflussung der Zarin.801 Sowohl die Äußerungen über Anna, die Wratislaw persönlich unbekannt war, als auch über die russischen Adligen erfolgten unter dem Gesichtspunkt, ob diese einem Bündnis mit dem Kaiser positiv gegenüberstanden oder nicht. Die Erhaltung des Bündnisses hatte Priorität. In seinem Brief an Prinz Eugen betonte Wratislaw die bisherige Ruhe, nachdem Anna einstimmig zur Zarin erwählt worden sei. Als Gefahr benannte er aber, dass es zwei Wochen dauere, bis Anna in Moskau ankomme. In dieser Zeit könne sich eine Opposition gegen sie formieren.802 Diese Äußerungen zeigen, dass es für Wratislaw noch nicht abschließend geklärt war, wer in Zeiten des Interregnums in Russland die Herrschaft ausübe. Annas Ankunft in Moskau, ihre ersten Handlungen und der Zustand Ostermanns wurden hierbei als sehr wichtig angesehen. Gegenüber Prinz Eugen äußerte sich Wratislaw in seiner offiziellen Korrespondenz, dass es unter den gegebenen Umständen am meisten auf die Stellungnahmen und auf die Ankunft der verwitweten Herzogin von Kurland in Moskau ankomme. Bis von dort in den nächsten zehn bis zwölf Tagen eine Nachricht erfolge, halte der Oberste Geheime Rat alle Macht in den Händen. Auf Annas Namen sei bisher noch niemand zur Treue durch einen Eid gebunden. Ostermann sei erkrankt, weswegen ein Aderlass bei ihm vorgenommen worden sei. Der kaiserliche Gesandte habe ihn deswegen nicht angetroffen, hoffe aber, dass Ostermann bald genese.803 Auch der mecklenburgische Gesandte Ostermann schreibt, dass er über den Tod Zar Peters II. ungemein bestürzt sei. In dieser Situation begab er sich zu seiner Herzogin Katharina von Mecklenburg. Dort sei dann die erfreuliche Nachricht eingetroffen, dass sich der Rat sofort auf die Wahl der verwitweten Herzogin von Kurland zur Zarin geeinigt habe, was den Großen des Reichs morgens mitgeteilt worden sei und breiten Konsens gefunden habe. Den Garden hätten die Feldmarschälle Golicyn und Dolgorukij diese Nachricht selbst überbracht und Deputierte seien an die designierte Zarin abgeschickt worden, um ihr die Nachricht zu überbringen.804 „Nuhnmehro ist, Gott lob, alles ruhig“,805 so der mecklenburgische Gesandte. Der Oberzeremonienmeister versicherte ihm auf Befehl des Rats, dass Allianz mit dem Herzog fortbestehe. J. C. D Ostermann nahm daher an, dass Karl Leopold aufgrund
801 Vgl. ebd., fol. 75v/76r. 802 Vgl. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 7r/8r. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 26.01.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 151-11, fol. 260r–262r. 803 Vgl. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 55r/56r. 804 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 264v. 805 Ebd., fol. 265r.
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der nahen Verwandtschaft und der gemeinsamen Allianz größten Anteil am Tod Peters II. nehme.806 J.C.D. Ostermanns Brief an den mecklenburgischen Herzog lässt abermals einige Fragen offen: Zuerst ist bemerkenswert, dass der mecklenburgische Gesandte erst am 2. Februar über die sofortige Wahl Annas am 30. Januar berichtete. Zudem erstaunt, dass er in seinem Bericht als einziger Diplomat keine andere Thronprätendentinnen oder keinen anderen Thronprätendenten erwähnte. Karl Leopold erfuhr nicht, dass in Moskau vielfach andere Nachfolgeregelungen in Betracht gezogen wurden. Dies ist besonders relevant, da Katharina von Mecklenburg selbst als Thronfolgerin diskutiert wurde, jedoch wegen der Ehe mit Karl Leopold in der Thronfolge übergangen wurde. Die Möglichkeiten der Einflussnahme Karl Leopolds durch seine Frau oder seine Schwägerin als neue designierte Zarin werden ausgelassen. Sie finden sich lediglich als Negativszenario in den kaiserlichen Berichten Wratislaws und in Weisungen aus Wien. Diese Nichterwähnung von Thronfolgediskussionen ist ein erstes Indiz dafür, dass J.C.D. Ostermann Karl Leopold Informationen bewusst vorenthielt. Diese Vermutung kann erst im Verlauf der Arbeit erhärtet werden, da sie logischerweise keinen Niederschlag in seinen Berichten findet. Bis zu diesem Zeitpunkt wird J.C.D. Ostermann im Vergleich zu anderen diplomatischen Kollegen in anderen Korrespondenzen selten erwähnt. Der nachweisbare Zugang J.C.D. Ostermanns zu Katharina von Mecklenburg, der immer wieder von ihm genannt wird, lässt bereits vermuten, dass er gegenüber der in Moskau anwesenden Herzogin von Mecklenburg und Schwester Annas loyaler war als gegenüber seinem Herzog. Zudem hatte auch sein Bruder, der Leiter der äußeren Angelegenheiten in Russland und Garant des russisch-kaiserlich-preußischen Bündnisses,807 kein Interesse daran, Russland für die Interessen des mittellosen Herzogs von Mecklenburg-Schwerin in Konfrontation mit Kaiser Karl VI. oder mit anderen Mächten treten zu lassen. Direkte Kontakte zwischen den beiden Brüdern Ostermann lassen sich in den Relationen noch nicht nachweisen. J.C.D. Ostermann handelte seinem mächtigeren Bruder aber auch nicht zuwider. Auch aufgrund der eingangs der Arbeit dargelegten engen Verflochtenheit der Karrieren beider Brüder scheint ein Austausch naheliegend. Zudem belegen die Berichte J.C.D. Ostermanns, die er während und nach dem Sturz seines Bruders schrieb, dass J. C. D Ostermann nach der Verhaftung seines Bruders umgehend aus Russland fliehen musste.808 Erst die synchrone Betrachtung verschiedener Berichte diplomatischer Vertreter anderer europäischer Höfe über die Ereignisse des Thronwechsels in Moskau belegen, wie deutungsoffen und ausgesprochen vage die Berichte des mecklenburgischen Gesandten sind. Diese stehen somit im Gegensatz zu dem verstärkten Informationsbedürfnis des Herzogs. Karl Leopold versuchte beständig, seine Wiedereinsetzung als rechtmäßigen Herzog von Mecklenburg-Schwerin zu erreichen. Dass er 1730 versuchte, seine aus dem Hause Romanov und 806 Vgl. ebd., fol. 265r/v. 807 Vgl. Wagner, Ein Deutscher am Zarenhof, S. 37. Anisimov, Anna Ivanovna, S. 30. 808 Vgl. ebd. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Berlin, 17.03.1742, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1157, fol. 388r/v.
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mittlerweile von ihm getrennt am Moskauer Hof lebende Frau als Fürsprecherin bei deren zur Zarin designierten Schwester Anna zu gewinnen, fand bisher allerdings keine Berücksichtigung in der Forschung.809 Die fortlaufende Betrachtung der mecklenburgisch-russischen Korrespondenz legt zum einen offen, welche Hoffnungen Karl Leopold auf die Veränderungen in Russland setzte. Zum anderen zeigt die Korrespondenz, dass Katharina von Mecklenburg selbst keinerlei Interesse daran hatte, gegen ihre Schwester zu opponieren. Im direkten Austausch mit J.C.D. Ostermann hätte sie dies vorbringen können. Die Herzogin von Mecklenburg war augenscheinlich daran interessiert, die Machtstellung ihrer noch in Mitau weilenden Schwester nicht zu gefährden, sondern zu stützen. Dies belegen unter anderem Äußerungen Tessins, dass viele Personen der Herzogin von Mecklenburg anlässlich des Geburtstages der zukünftigen Zarin am 8. Februar 1730 stellvertretend Glückwünsche für ihre Schwester überbrachten. Andere Personen am Hof, bei denen zuvor solche Aufwartungen gemacht worden seien, blieben dabei unberücksichtigt.810 Die Rolle der Herzogin von Mecklenburg war durch die Erhebung ihrer Schwester zur Zarin gestärkt worden. Zudem veränderte sich damit das Personengefüge am russischen Hof, so Tessin: „So ist der wechsel dieser welt, daß was heute hoch an brede und Empor ist, morgen niederlieget und verachtet wird.“811
Um in diesen wichtigen Kreis des Hofstaats zu gelangen, würden die holsteinischen Gesandten Geld benötigen, was sie nicht hätten.812 Auch Wratislaw war sehr darum bemüht, der neuen Zarin seine Referenz zu erweisen. Auch er richtete – ebenso wie andere auswärtige Gesandte – sowohl zum Namenstag als auch zum Geburtstag der Zarin Glückwünsche an beide in Moskau anwesenden Schwestern Annas.813 An Katharina von Mecklenburg wird exemplarisch deutlich, welche Rolle Frauen als Akteurinnen am Hof und in der Diplomatie spielen konnten. Sie nahm nicht nur die Glückwünsche der Gesandten zum Namenstag ihrer zur Zarin designierten Schwester entgegen, während diese aus Mitau nach Moskau reiste, sondern vermittelte oder verwehrte wichtige Informationen. Die Gesandten kontaktierten demnach auch Verwandte und andere Mitglieder der Hofgesellschaft,814 um die Gnade der Zarin zu erhalten. Der exklusive Zugang zu Informationen und Entscheidungsfindungen des innersten Machtzirkels machte sie als
809 Vgl. Wick, Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 193–214. 810 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 29.01./09.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 811 Ebd. 812 Vgl. ebd. 813 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 16.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 102r/v. 814 Vgl. Nolde, Was ist Diplomatie und wenn ja, wie viele?, S. 185.
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Informantin besonders bedeutend.815 Die Gratulation zum Namenstag war eine bewusste symbolische Geste zum Ausdruck des Näheverhältnisses zur zukünftigen Zarin,816 die in dieser unklaren Situation eine besondere Bedeutung hatte. Beispielsweise am Kaiserhof gehörte die Feier von Namens- und Geburtstagen der Herrscherfamilie zum festen Bestandteil des höfischen Festkalenders.817 Das Zelebrieren solcher säkularer Feste ebenso wie anlässlich von bedeutenden Siegen war eine unter Zar Peter I. einsetzende Neuerung.818 Nachdem die Berichterstattung der diplomatischen vertreter am Moskauer Hof erörtert wurde, gilt es zu untersuchen, wie die Wahl Annas an den europäischen Höfen aufgenommen und bewertet wurde.
3.2 Die Blicke der europäischen Höfe auf die Wahl Annas Die europäischen Höfe erreichte die Nachricht über den Tod des Zaren und die Erhebung Annas zur Zarin zeitgleich. Die Wahl Annas und die Debatte um ihre Legitimation spiegelt sich vielfach in den europäischen Relationen wider. Dies lässt auf eine hohe Relevanz Russlands für das europäische Bündnissystem schließen. Die Reaktionen waren je nach bündnis politischer Ausrichtung sehr unterschiedlich. Vorweggenommen werden kann, dass Katharina Dolgorukaja, die ehemalige Braut Zar Peters II., Evdokija, die erste Frau Zar Peters I., und Praskov’ja, die jüngste Tochter Zar Ivans V., keinerlei Beachtung in den Reaktionen der europäischen Höfe zur russischen Thronfolge fanden.
Der Wiener Hof – Heiratspolitik als Machtpolitik Der Wiener Hof nahm vielfältig Anteil an der Debatte um die Thronfolge des Russländischen Reiches. Prinz Eugen betonte, Russland sei durch die erfolgreiche Thronfolge der Zarin Anna vor Unruhen bewahrt worden. Die Beurteilung Annas, dass sie einer so bedeutenden Regierung vorzustehen wisse, erscheint der Annahme geschuldet, dass Eugen auf bündnispolitischer Kontinuität hoffte. Da der Zarin beständig Freundschaftsbekundungen zu unterbreiten seien, wolle er so schnell wie möglich einen Kurier absenden und warte umgehend auf Antwort aus Russland.819 Auch der Kaiser ging als Erstes auf die Versicherungen der geschlossenen Bündnisse des Obersten Geheimen Rates im Namen der Zarin ein, weswegen der Wiener Hof ihre Wahl befürwortete. Die parallele Verwendung der Termini Regentin und
815 Vgl. Bastian, Dade, Ott, Weibliche Diplomatie?, S. 104 f. Bastian, Paper Negotiations: Women and Diplomacy in the Early Eighteenth Century, S. 109 f. 816 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 42 f. 817 Vgl. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 170 f. 818 Vgl. Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 204–206. 819 Vgl. Prinz Eugen an Wratislaw, Wien, 22.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 16r/17r.
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Zarin innerhalb einer Weisung820 zeigt die Unsicherheit auf, ob Anna ihre Herrschaft aus eigenem Recht antreten werde oder lediglich die Regierungsgeschäfte übergangsweise ausübe. Höchste Priorität für den Kaiser und seinen Hof genoss die Sicherung der Allianz mit dem Zarenreich und Preußen. Wratislaw solle die Verlängerung der Bündnisse umgehend erreichen, sodass die vereinbarte militärische Unterstützung mit 30.000 russischen Soldaten für den Kaiser erfolgen könne. Dabei solle er auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass die geschlossenen Bündnisse mit dem Tod Zar Peters II. ihre Gültigkeit verloren hätten. Zudem sei es dem Kaiser sehr wichtig, dass Spanien von der Allianz ausgeschlossen bleibe, da sich die Beziehungen zu Spanien seit dem Vertragsschluss 1726 bedeutend verändert hätten. Da die spanische Krone zwar 1726 Subsidien wegen der Restitution Schleswigs an den holsteinischen Herzog gewährt hatte, diese jedoch zwischenzeitlich eingestellt hatte, galt es nun, die anteiligen Zusicherungen Wiens zu bestätigen. Auch der Zusatzartikel zur Verpflegung der militärischen Truppen vom 30. Juli 1727 solle Berücksichtigung finden. Wratislaw erhielt zudem einen Vertragsentwurf bezüglich des Bündnisses, sodass er bei Neuausarbeitung des Vertrages die Bündnisverlängerung nicht aufhalten müsse, so lange nichts den genannten Punkten und den Interessen Preußens widerspreche. Wratislaw sollte auf Geheiß des Kaisers mit dem kaiserlichen Gesandten Seckendorff in Berlin korrespondieren. Er erhielt die Weisungen des Wiener Hofs an Seckendorff und dieser die an Wratislaw in Abschrift,821 sodass beide umfassend informiert waren. Dass es dem Wiener Hof mehr um außenpolitische Kontinuität als um die Person Annas ging, wird dadurch ersichtlich, dass der Kaiser zuerst auf die Regierungskontinuität und dann auf die Person der Zarin selbst einging. Am Wiener Hof hoffte man, dass Dmitrij Golicyn und Ostermann, die den kaiserlichen Interessen bisher dienlich gewesen seien, dies auch in Zukunft sein würden. Dies treffe ebenso auf den Feldmarschall Golicyn zu. Deswegen sollte Wratislaw ebendiese russischen Adligen mit Kaiserporträts, die ursprünglich für die Dolgorukij bestimmt waren, gewinnen. Die Geschenke versandte der Kaiser mit dem Kurier Michael Torresani822 nach Moskau. Wratislaw solle diejenigen Personen mit dem höchsten Ansehen unter der neuen Regierung gewinnen und dabei insbesondere den Feldmarschall Dolgorukij nicht außer Acht lassen. Der Kaiser wies Wratislaw an, den Dolgorukij nicht das Gefühl zu geben, künftig unwichtig zu sein.823 Zudem sollte er Versicherungen an diejenigen abgeben, die erst später ein kaiserliches Porträt erhalten könnten, da drei Porträts wegen Zeitknappheit noch nicht fertig waren.824
820 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 77r–93r. 821 Vgl. ebd., fol. 79r/80r. 822 Michael Torresani war von 1725 bis 1740 für Kaiser Karl VI. als Hof- und Kabinettskurier tätig, siehe Kubiska-Scharl, Pölzl, Die Karrieren des Wiener Hofpersonals 1711–1765, S. 718. 823 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 80r/v. 824 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 06.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 116r.
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Wie bereits bei der Thronfolge Zar Peters II. 1727 war es dem kaiserlichen Gesandten verboten, direkt in die Nachfolgedebatte einzugreifen. Stattdessen sollten Geschenke als Kommunikationsmittel und zur Gunstgewinnung eingesetzt werden. Durch einen geschickten Einsatz konnte sich so der Interaktionsspielraum der Diplomaten vergrößern. Um keinen potenziell einflussreichen zukünftigen Akteur am russischen Hof gegen sich aufzubringen, gingen die Überlegungen wie bereits beim Thronwechsel 1727 dahin, dass die Geschenke nicht nur einer Partei zugutekommen sollten, sondern möglichst alle relevanten Akteure gleichwertig zu bedenken seien. Ein mit Diamanten besetztes Kaiserporträt hatte zudem eine besondere Symbolik der Verbundenheit und eignete sich besonders zur Gewinnung von Unterstützung an fremden Höfen.825 Obwohl der Wiener Hof Anna klar präferierte, erachtete er auch Prinzessin Elisabeth Petrovna als legitime Thronprätendentin. So war Wratislaw noch kurz vor dem Tod Peters II. angewiesen worden, sich um die Verheiratung Elisabeths mit dem Erbprinzen von Bayreuth, Friedrich (1711–1763), zu bemühen. Dies war zum einen in der Annahme geschehen, dass die Dolgorukij auf eine Entfernung Elisabeths vom Moskauer Hof drängen würden, zum anderen, dass Elisabeth Zar Peter II. hätte gefährlich werden können.826 Auch gegenüber dem kaiserlichen Gesandten in Berlin betonte der Kaiser, dass der „innerliche ruhestandt des Rußischen Reiches, für welchen ofterwehnte Prinzeßin allezeitgefährlich zu seyn scheinet“, für das kaiserlich-russische Bündnis unerlässlich sei.827 Da beide Gesandte des Kaisers für die Verlängerung des Bündnisses mit Russland und Preußen von zentraler Bedeutung waren, waren diese Weisungen Karls VI. notwendig. Der Kaiser hatte bereits seit dem sich abzeichnenden Tod der Zarin Katharina I. im Dezember 1726 versucht, Elisabeth zu verheiraten, damit sie der möglichen Herrschaft seines Neffen Peter II. nicht gefährlich werden konnte.828 Die kaiserlichen Ambitionen, Elisabeth mit einem auswärtigen Prinzen zu verheiraten, waren unter der Herrschaft Zar Peters II. kontinuierlich Gegenstand des kaiserlichen Interesses.829 Diese Befürchtungen waren durch den Tod Peters II. und die rasche Erhebung Annas bis zu ihrer Ankunft gegenstandslos geworden, da Elisabeth eine Thronfolge am Moskauer Hof nicht in Erwägung zog. Der Wiener Hof war der Meinung, dass Anna ihrer Schwester Katharina nicht nur wegen der Heirat mit Karl Leopold vorgezogen worden sei, sondern auch, da von ihr noch eine baldige Nachkommenschaft zu erhoffen sei. Aufgrund des Alters Annas werde es somit zu einer baldigen Vermählung kommen. Bei dieser würden es die Gegner der kaiserlichen Interessen nicht unterlassen, nachteilige Verlobungsvorschläge zu machen, so die Mutmaßungen des
825 Vgl. Steppan, Kaiser Karl VI. und sein Neffe, der Großfürst. Repräsentation, Interaktion und Kommunikation kaiserlicher Gesandter im Konflikt um die Thronfolge von Zar Peter II., S. 133–139. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 375–380. 826 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 18.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 61r/62v. 827 Ebd., fol. 61r/v. Kaiser Karl VI. an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 20, Konvolut 1, fol. 1r/v. 828 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 362. 829 Vgl. ebd., S. 427 f.
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Kaisers.830 Diese Mutmaßungen teilten die Vertreter des Versailler Hofs unter umgekehrten Vorzeichen. Wegen diesen Veränderungen sah sich der Kaiserhof nicht in der Lage, spezifische Weisungen bezüglich eines potenziellen Heiratskandidaten zu erteilen. Wratislaws solle daher in Erfahrung bringen, ob von den bedeutendsten russischen Adligen oder der Zarin ein ausländischer oder ein einheimischer Heiratskandidat vorgeschlagen werde. Ebenso sollte er erkunden, ob der Herzog von Holstein dabei bedacht werden könne und seine derzeitige missliche Lage berücksichtigt würde. Seine Erkenntnisse hatte der kaiserliche Vertreter in Moskau mit einem eigenen Kurier zu versenden. Zugleich hatte er dabei zu beachten, weder bei der „Regentin“ noch bei der russischen Nation negativ aufzufallen, gleichzeitig aber alle dem kaiserlichen Interesse nachteiligen Entschlüsse zu verhindern.831 Die Vermählung Annas wurde in der folgenden Weisung an den kaiserlichen Gesandten abermals aufgegriffen und konkretisiert. Wratislaw solle vor allem die Heiratskandidaten Georg von Hessen-Kassel832 und Moritz von Sachsen833 verhindern, da diese dem kaiserlichen Interesse als besonders abträglich empfunden wurden. Falls er einen Kandidaten vorschlagen müsse, solle Wratislaw auf den Infanten von Portugal hinweisen.834 Hierbei handelte es sich um den mit dem habsburgischen Hof dynastisch eng verbundenen Infanten Emanuel von Portugal (1697–1766).835 Moritz von Sachsen war 1726 als möglicher Heiratskandidat Annas aus Machtinteresse des Russischen Reiches abgelehnt worden, da dieser die Herzogswürde in Kurland anstrebte.836 Alle bisherigen Heiratsprojekte der verwitweten Herzogin Anna von Kurland scheiterten, da sie das Mächtegleichgewicht um Kurland zwischen Russland, Preußen und Polen gefährdeten.837 Besonders sollte Wratislaw beachten, dass der spanische Gesandte nicht zu viel Eingang
830 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 81r. 831 Vgl. ebd., fol. 81r/v. 832 Georg von Hessen-Kassel (1691–1755), älterer Bruder des schwedischen Königs und Enkel des Herzogs Jakob Kettler von Kurland, siehe Hans Philippi: Die Landgrafschaft Hessen-Kassel 1648–1806, Marburg 2007, S. 44. 833 Graf Moritz von Sachsen (1696–1750) war der illegitime Sohn des polnischen Königs August II. Er wurde 1726 von den Ständen Kurlands zum Nachfolger des kinderlosen Herzogs Ferdinand Kettler von Kurland bestimmt, um die Vereinigung Polens mit Kurland möglich zu machen. 1727 musste er aus Kurland fliehen, siehe N.N.: Moritz, Graf von Sachsen, in: Deutsche biographische Enzyklopädie. Bd. 7, hg. von Walther Killy und Rudolf Vierhaus, München 2007, S. 199, hier S. 199. 834 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 03.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 110r/v. 835 Vgl. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 40 f. und S. 171. 836 Vgl. Anisimov, The Imperial Heritage of Peter the Great in the Foreign Policy of his Early Successors, S. 27 f. Anisimov, Anna Ivanovna, S. 21. 837 Vgl. Strohm, Die kurländische Frage (1700–1763), S. 68–117. Mariusz Markiewicz: Politische Institutionen und Prozeduren der sächsisch-polnischen Personalunion. Das Geheime Kabinett in Sachsen und die zentralen Ämter der Rzeczpospolita in den Jahren 1717 bis 1733, in: Die Personalunionen von Sachsen-Polen 1697–1763 und Hannover-England 1714–1837. Ein Vergleich, hg. von Rex Rexheuser, Wiesbaden 2005, S. 51–65, hier S. 57–59.
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am russischen Hof fände.838 Aus den Weisungen lässt sich ableiten, dass Kaiser Karl VI. die zukünftig regierenden russischen Adligen und einen künftigen Ehemann Annas als prägend für die russische Außen- und die europäische Bündnispolitik ansah. Eine selbstständig regierende Zarin Anna schien dabei aber nicht erwartet worden zu sein. Heiratspolitik verstand der Wiener Hof in diesem Zusammenhang als Mittel der Interessenwahrung. Gleichzeitig impliziert dies, dass eine Heirat Annas ihre Regierungsgestaltung als Frau eingeschränkt hätte. Der Einfluss eines Ehemanns auf eine regierende Zarin wurde hier deutlich höher eingeschätzt als der Einfluss einer Ehefrau auf einen Zaren. Hieran lässt sich ein geschlechtsspezifischer Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Herrschaft erkennen.839 Die Ehelosigkeit Annas ist demnach vergleichbar mit derjenigen der englischen Königin Elisabeth I. (1558–1603) – dadurch konnte Handlungsspielraum in der Außenpolitik gewahrt werden.840 Zarin Anna ging daher konsequenterweise im August 1730 nicht auf die Bemühungen des Prinzen Emanuel von Portugal ein, sie zu ehelichen.841 Der Kaiser vernahm wohlwollend, dass Wratislaw Anna als gute Regentin in Kurland beschrieb, ebenso dass der Feldmarschall Golicyn ihr gewogen war. Dass es Karl VI. vor allem um die außenpolitische Dimension des Thronwechsels ging, zeigen dabei die folgenden Ausführungen: „Wir wollen also verhoffen, das man die Militarverfassung zu wasser und zu Land in aufrechtem stand zu erhallten, und das das Russische Reich nicht in ehemahlige unvermögenheit anwiederumb verfalle, zu verhüten bedacht seyn werde.“ 842
Einen damit antizipierten Rückzug Russlands aus den europäischen Beziehungen galt es 1730 aus kaiserlicher Sicht unbedingt zu vermeiden. Kaiser Karl VI. hatte durch seinen Gesandten Wratislaw mehrfach versucht, Einfluss auf seinen jungen Neffen Zar Peter II. zu nehmen und ihn dem Machtbereich der Dolgorukij zu entziehen.843 Unter Zar Peter II. wird gemeinhin ein Niedergang der Flotte und der Armee konstatiert, was den Interessen des verbündeten Kaisers selbstverständlich widersprechen musste. 844 Obwohl der Kaiser aus außenpolitischem Interesse seinen Gesandten in Moskau im Detail instruierte, in innere russische Angelegenheiten verdeckt einzugreifen, galt es, möglichen Argwohn russischer Adli838 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 03.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 110r. 839 Vgl. Stellner, Die dynastische Politik des russischen Imperiums im 18. Jahrhundert, S. 36–39. Evgenij Viktorovič Anisimov, Ženščuny u vlasti v XVIII v. kak problema, http://www.perspectivia.net/publikationen/vortraege-moskau/anisimov_herrschaft, 17.09.2020. 840 Vgl. Erbe, Frühe Neuzeit, S. 98. 841 Vgl. Aleksandr Vladimirovič Lavrent‘ev: Prinz Anton Ulrich in Rußland bis zum Sturz des Hauses Braunschweig, in: Braunschweigische Fürsten in Rußland in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, hg. von Manfred von Boetticher, Göttingen 1998, hier S. 93. 842 Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 81v. 843 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 424–457. 844 Ebd., S. 424–426.
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ger deswegen zu vermeiden.845 Bereits die ehemaligen kaiserlichen Gesandten in Russland, Stephan Kinsky und Rabutin, sollten bezüglich einer möglichen Thronfolge des späteren Zaren Peter II. den Verdacht der kaiserlichen Einmischung in innere russische Angelegenheiten zerstreuen, obgleich dazu angewiesen wurden.846 Grundsätzlich wurde den kaiserlichen Diplomaten die allgemeine Warnung vor zu starker offensichtlicher Einflussnahme immer wieder vermittelt.847 Bezüglich der Alliierten von Sevilla sah der Kaiser aber keine Notwendigkeit, Wratislaw neue Weisungen zu erteilen, da ihm seine Aufgaben bekannt seien. Er solle Ostermann verdeutlichen, dass die Absichten der spanischen Königin auf der italienischen Halbinsel den kaiserlichen Interessen entgegenstünden. Weder der Kaiser noch Ostermann kannten die Geheimartikel des Vertrags von Sevilla, der Kaiser erachtete dieses Bündnis aber als bedenklicher als Ostermann.848 Wratislaw sollte gegenüber Ostermann verdeutlichen, dass von den Zielen der spanischen Königin eine Gefahr für die italienischen Erbländer ausgehe, während eine Annäherung an die Seemächte England und Holland vorstellbar sei.849 Der russische Gesandte in Wien, Ludwig Kazimierz Lancziński de Lanczyn850, teile zum Bedauern des Kaisers die Meinungen Ostermanns. Der Kaiser hoffte aber auf eine mögliche Abberufung des spanischen Gesandten de Liria aus Moskau. Diese Hoffnungen gründeten sich auf einen in den Quellen nicht näher ausgeführten Zwischenfall des russischen Gesandten am spanischen Hof, der sich auf das Ansehen des spanischen Gesandten in Moskau nachteilig auswirken
845 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 82r. 846 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 225 f. und S. 368 f. 847 Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 299. 848 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 82v–89r. 849 Vgl. ebd., fol. 89r/90r. 850 Ludwig Kazimierz Lancziński de Lanczyn war polnischer Abstammung. Er wurde 1705 vom russischen Gesandten in Den Haag, Andrej Matveev, als Übersetzer in russische Dienste genommen. Er folgte Matveev als dessen Sekretär an den Wiener Hof. Er blieb dort 1715 allein zurück. 1717 wurde er zum Gesandtschaftssekretär ernannt, vom 20. Oktober 1717 bis zum 13. April 1718 als Agent nach Danzig beordert. Vom 7. März 1719 (erste Audienz) bis zum 26. März 1719 weilte er als Legationssekretär in Hessen-Kassel, bedingt durch die Thronfolge der Königin Ulrike Eleonore von Schweden. Anlässlich der Bemühungen über die Wiederaufnahme der russisch-kaiserlichen Beziehungen war er ab dem 15. Mai 1720 als Agent am Wiener Hof. Er wurde am 25. November 1721 zum russischen Gesandten erhoben und zum Kammerjunker berufen. 1724 erfolgte die erneute Rangerhöhung zum Wirklichen Kammerherrn. Im Zuge des erfolgreichen Bündnisschlusses zwischen Russland und dem Kaiser wurde er zum außerordentlichen Gesandten erhoben und starb in dieser Funktion in Wien am 28. Dezember 1751, siehe Altbauer, The Diplomats of Peter the Great, S. 5. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 315–317 und S. 321. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 92 (FN 163) und S. 348. Die Datumsangaben der verschiedenen Stationen weichen zwischen Altbauer, Hausmann und Steppan zum Teil geringfügig ab.
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hätte können.851 Lancziński war aufgrund des erfolgreichen Bündnisschlusses zwischen Zarin Katharina I. und Kaiser Karl VI. zum außerordentlichen Gesandten erhoben worden, was nicht nur eine Rangerhöhung, sondern einen beachtenswerten sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg bedeutete.852 Der Kaiser ging des Weiteren auf die Frage Wratislaws ein, wie sich dieser bei der Krönung Annas zu verhalten habe.853 Hierbei zeigt sich trotz der engen militärischen Verbundenheit mit Russland ein Interessensgegensatz und ein Dilemma. Falls der Moskauer Hof mit der Anwesenheit eines Wiener Gesandten bei dem Krönungsakt die Anerkennung der formalen Gleichstellung von Kaiser und Zar assoziiere, sei es den Gesandten nicht erlaubt, an dieser Zeremonie teilzunehmen. Wratislaw habe zu verdeutlichen, dass aus seiner bloßen Anwesenheit nicht zu schließen sei, dass der Zarin kaiserliche Vorrechte zukämen. Ebenso gehe mit der Anwesenheit des spanischen, französischen, dänischen und polnische Gesandten bei der Krönung keine Anerkennung des Kaisertitels des Zaren einher. Falls sowohl Wratislaw als auch Hochholzer ausbleiben würden, würde dies von den Gegnern des Kaisers abträglich interpretiert werden;854 aus diesem Grund sei es unmöglich, dass Wratislaw und Hochholzer nicht am Krönungsakt teilnähmen. Jedoch sei gegenüber den Moskauer Vertretern deutlich zu machen, „das ihr sothane Actum nicht als eine Kayßerliche, sondern als eine von andren Crönungen nicht unterschiedene Crönungs Solennität ansehet“.855 Die Bedeutung der kaiserlichen Prärogative musste bei gleichzeitiger öffentlich demonstrierter Nähe zum russischen Bündnispartner gewahrt bleiben. Die häufig angewandte diplomatische Praxis, bei Differenzen etwaige Konflikte durch Abwesenheit zu vermeiden,856 ließ sich in diesem Fall nicht umsetzen. Die Weisung des Kaisers zeigt erhebliche Differenzen um den russischen Kaisertitel zwischen Wien und Moskau auf, die 1721 sogar zum vorübergehenden Abbruch der russisch-kaiserlichen Beziehungen geführt hatten. Damals blieb lediglich der Legationssekretär Hochholzer in Russland als Berichterstatter zurück. Die kaiserlichen Weisungen an die damalige Gesandtschaft Stephan Kinskys waren dem langjährig in Russland weilenden Hochholzer bekannt.857 Die hierbei angesprochenen Probleme zeigen auf, dass das Zeremo851 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 90r/v. 852 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 347 f. 853 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 91r/92r. 854 Vgl. ebd., fol. 92r. 855 Ebd. 856 Vgl. Jeroen Frans Jozef Duindam: Vienna and Versailles. The Courts of Europe’s Dynastic Rivals, 1550–1780, Cambridge 2003, S. 187. 857 Diese Thematik der diplomatischen Beziehungen im Spannungsfeld des russischen Kaisertitels ist aus diplomatiegeschichtlicher Sicht ausführlich aufgearbeitet, siehe Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 199–313. Leitsch, Der Wandel der österreichischen Rußlandpolitik in den Jahren 1724–1726, S. 73–76. Hochholzers Verhalten bei der Krönung Katharinas, siehe Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 254–266. Der Krönung Zar Peters II. musste Hochholzer trotz Verstimmungen am Russischen Hof fernbleiben, Wratislaw hingegen verzögerte seine Ankunft am Russischen Hof, siehe ebd., S. 404–407.
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niell für die diplomatische Praxis ein unentbehrlicher Ordnungsfaktor war, der die Stellung des Souveräns innerhalb der europäischen Fürstengemeinschaft darstellte, Machtstrukturen zwischen den Höfen versinnbildlichte und dadurch die bestehende politische Ordnung abbildete. Der jeweilige diplomatische Vertreter repräsentierte dabei die Würde des Herrschers, weswegen das ihm gewährte Zeremoniell ausgesprochen wichtig war.858 Dieses Verständnis trifft ebenso auf den russischen Hof zu.859 Des Weiteren beschäftigte den Kaiser die Problematik des mecklenburgischen Herzogs. Die Starrsinnigkeit Karl Leopolds und die Geduld des Kaisers ihm gegenüber seien Wratislaw hinlänglich bekannt. Der Kaiser hoffte, dass die Entscheidungsträger des russischen Hofs den Herzog dazu bringen würden, sich den Reichsgesetzen zu beugen, sodass der Kaiser das Reichsfürstentum Mecklenburg-Schwerin vor seinem voranschreitenden Niedergang bewahren könne. Möglichen Bitten des russischen Hofs zugunsten des mecklenburgischen Herzogs sollten daher abgelehnt werden. Ebenso dürfe der Herzog in seinen Forderungen von niemandem unterstützt werden.860 Die Absetzung des mecklenburgischen Herzogs als Reichsfürst galt bei den anderen Reichsfürsten des Heiligen Römischen Reiches mitunter als umstritten und führte – statt zu der gehofften Stabilisierung des Landes – zu einer weitgehenden Anarchie. Karl Leopold wiederum versuchte immer wieder vergeblich, die Reichsfürsten als Unterstützer gegen den Kaiser zu gewinnen.861 Auch in der Beilage, die die Weisung des Kaisers an den kaiserlichen Gesandten Seckendorff umfasste, wurden die Allianzverlängerung und das Zusammenwirken des kaiserlichen Gesandten Wratislaw mit Mardefeld in Moskau gegen die Absichten des Herzogs von Mecklenburg gefordert.862 Somit versuchten sowohl der Kaiser als auch Karl Leopold, den russischen Hof für ihre Ziele zu gewinnen. Während Karl Leopold die Unterstützung Russlands für den Kaiser zu verhindern suchte, war der Kaiser bestrebt, eine mögliche Unterstützung Karl Leopolds von Seiten Russlands zu unterbinden. Dies zeigt, wie wichtig für beide Russland war, um die eigenen Zielsetzungen zu erreichen.
Der Kieler Hof – zwischen Auflehnung und Anerkennung der Thronfolge Bei der Betrachtung der holsteinischen diplomatischen Korrespondenzen muss in Erinnerung gerufen werden, dass der kleine holsteinische Hof sowohl von Subsidien aus Wien als 858 Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 284. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 124 f. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne, S. 490. 859 Vgl. Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 1–3 und S. 12–23. 860 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 92v/93r. 861 Vgl. Wick, Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 172–191. 862 Vgl. Kaiser Karl VI. an Friedrich Heinrich von Seckendorff (Kopie als Beilage), Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 85r/86v.
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auch aus Moskau abhängig war. Auch bei der Lösung der Frage der Restitution Schleswigs war es unabdingbar, dass beide Mächte Holstein unterstützten.863 Der Kieler Hof forderte seine Gesandten an den europäischen Höfen auf, untereinander zu korrespondieren, um sich wechselseitig über die Ereignisse in Moskau in Kenntnis zu setzen. Daraus ergab sich ein permanenter Briefwechsel zwischen den diplomatischen Akteuren in Kiel, Wien und Moskau. In der Korrespondenz Hans von der Kettenburgs spiegelt sich die Debatte um die Thronfolge in aller Ausführlichkeit wider. Die Besonderheit dieser Korrespondenzen ist, dass sich vielfach Querverweise in ihnen finden lassen, die holsteinisch-russische Zusammenhänge erläutern, die den Gesandten Bonde und Tessin offenbar nicht erklärungsbedürftig waren. Dies ist für die wissenschaftliche Analyse gewinnbringend, da die Absichten des Kieler Hofs um vielfältige Aspekte ergänzt werden, die aus den bilateralen Korrespondenzen zwischen Kiel und Moskau nicht in dieser Komplexität hervorgehen. Die Briefwechsel zwischen dem holsteinischen Hof und seinem Gesandten in Wien sind zudem besonders aufschlussreich für die Bewertung der Perspektive der Wiener Akteure. Der politisch und wirtschaftlich unbedeutende holsteinische Hof nimmt daher eine bedeutsame Stellung innerhalb des diplomatischen Netzwerkes ein, um die gesamteuropäischen Zusammenhänge zu verstehen. Gerüchte über die Veränderungen in Russland erreichten den Kieler Hof, noch bevor die Relationen der eigenen Gesandten eintrafen. Trotz der Zweifel über den Wahrheitsgehalt, die Bestürzung über den Tod Zar Peters II. und die Realisierung, dass die Chance Karl Peter Ulrichs auf den russischen Thron endgültig verloren sei, machte der holsteinische Hof keine Anstalten, die Thronfolge Annas zu stören. Stattdessen erhoffte sich der holsteinische Herzog, dass sich Anna des kleinen Erbprinzen Karl Peter Ulrich annehme. Diese sei stets in guter Freundschaft mit der bereits verstorbenen holsteinischen Herzogin und Tochter Peters I., Anna Petrovna, verbunden und verfüge zudem über ein gutes Verhältnis zu Karl Friedrich. Anna könne für den in wenigen Tagen drei Jahre alt werdenden Karl Peter Ulrich die Mutterrolle übernehmen, so die Hoffnung des Kieler Hofs.864 Der holsteinische Herzog schien dies als einzig umsetzbare Möglichkeit zu erörtern. Dass eine solche Variante 1730 keine Umsetzung fand, zeigt keinesfalls, dass dies nicht möglich gewesen wäre, denn bekannterweise hielten dies auch die holsteinischen Gesandten und der kaiserliche Gesandte in Moskau für denkbar. Die Meldung des russischen Gesandten Böttiger in Hamburg, dass in Moskau das Argument vorgebracht worden sei, dass von der regierenden Zarenfamilie kein männlicher Nachkomme mehr vorhanden sei, ließ erste Zweifel an der Aussicht auf die zukünftige Thronfolge für Karl Peter Ulrich aufkommen. Der Herzog wollte zudem umgehend wissen, ob die Dolgorukij ihr Ansehen und ihre Macht beibehalten würden, und wer die wichtigsten Ämter in der neuen Regierung bekleiden werde. Besonders wichtig war es, zu erfahren, ob Baron Ostermann seine Stellung halten könne – insbesondere vor dem Hintergrund, dass 863 Vgl. Bagger, The Role of the Baltic in Russian Foreign Policy, 1721–1773, S. 52 f. 864 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung.
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aus Frankreich bereits vor dem Tod des jungen Zaren Gerüchte aufkamen, dass der alte Peter Pavlovič Šafirov seinen vorherigen Posten zurückerhalte.865 Trotz der komplexen Vorgänge in Russland zweifle der Herzog nicht daran, dass die Allianz zwischen Russland und dem Kaiser durch Anna fortgesetzt werde, da sie im Interesse beider Höfe liege.866 Am 23. Februar erreichte den Herzog Karl Friedrich die Zusicherung, dass Anna ihm wohlgesonnen sei. Aus Frankreich habe der Herzog Nachricht erhalten, dass Russland alles für den Kaiser unternehmen werde, wie der englische Gesandte in Schweden, Stephen Poyntz867, im Geheimen habe verlauten lassen. Die kaiserliche Seite lasse nichts unversucht, die Dolgorukij zu gewinnen, um die Allianz mit dem Kaiser zu verlängern und militärischen Beistand zu erhalten. Dafür verspreche der Wiener Hof, Ivan Dolgorukij durch ein Lehen, das ehemals Menšikov versprochen gewesen sei, zum Reichsfürsten zu machen.868 Diese Zielsetzung war seit dem Tod Zar Peters II. aus kaiserlicher Sicht vollkommen obsolet, sodass diese Informationen bei ihrem Eintreffen als überholt gelten konnten. Als die Relationen vom 2. Februar aus Moskau bei Herzog Karl Friedrich ankamen, vermerkte der Hofkanzler Stryk, dass der Herzog „biß dahin so sehnlich gewartet“ habe, jedoch bis auf die Versicherungen der kontinuierenden Freundschaft wenig Trost finde.869 Doch immerhin wisse der Herzog nun, was in Moskau vor sich gegangen sei. Dass der Feldmarschall Golicyn Karl Peter Ulrich nicht vergessen hätte, ließ den holsteinischen Herzog für die Zukunft Gutes hoffen, besonders da die Regierungsform noch nicht abschließend feststehe.870 Der in der Garnison in Stettin weilende Prinz von Anhalt-Zerbst war von der Wahl Karl Peter Ulrichs zum Zaren ausgegangen und hatte diesem bereits eine Gratulation geschrieben.871 An der Übermittlung einer umgehenden Gratulation bezüglich der angenommenen Thronfolge Karl Peter Ulrichs zeigt sich, dass er als legitimer Erbe der Krone angesehen wurde. Nachdem erste Informationen durch die holsteinischen Gesandten aus Moskau über den Wahlvorgang Annas eingetroffen waren, wollte der holsteinische Hof weitere Relationen abwarten, bevor er detaillierte Weisungen erteilte. Bonde bekam den Befehl, nach eigenem Ermessen die bereits auf dem Weg nach Moskau befindlichen Hochzeitsgeschenke für die 865 Vgl. ebd., ohne Foliierung (chiffriert). Da die Chiffrierung an dieser Stelle nicht dechiffriert war, wurde sie durch den Verfasser mithilfe eines überlieferten Chiffrenschlüssels händisch dechiffriert. 866 Vgl. ebd., ohne Foliierung. 867 Vgl. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 150 und S. 165. Stephen Poyntz war mit William Stanhope und Walpole englischer Bevollmächtigter auf dem Kongress von Soissons. Er kam nach dem 24. April 1728 an und verließ den Kongress vor dem 25. Dezember 1728. Zudem überreichte er am 21. Oktober 1724 sein Beglaubigungsschreiben als außerordentlicher Gesandter und verblieb in dieser Stellung bis zum 30. September 1727 in Schweden. 868 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 23.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 869 Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 870 Vgl. ebd., ohne Foliierung (chiffriert). Da die Chiffrierung an dieser Stelle nicht dechiffriert war, wurde sie durch den Verfasser mithilfe eines überlieferten Chiffrenschlüssels händisch dechiffriert. 871 Vgl. ebd., ohne Foliierung.
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Dolgorukij – Hirsche und Stuten – so zu verteilen, dass sie den holsteinischen Interessen am dienlichsten sein würden.872 Zu dem Zeitpunkt, als in Kiel die genauen Gründe der Wahl Annas noch unklar waren und noch keine Relationen aus Moskau, sondern nur die Gerüchte des russischen Gesandten Böttiger aus Hamburg angekommen waren, verfasste der Kieler Hof eine Weisung an Kettenburg. Trotz aller Klagen, dass Karl Peter Ulrich nicht zum Nachfolger erwählt worden sei, beteuerte der holsteinische Herzog Karl Friedrich, dass er mit Anna alle Zeit in gutem Vernehmen gewesen sei. Zudem habe er in ständiger Korrespondenz mit ihr gestanden und hoffe, dass die erfolgte Veränderung in Moskau nicht zum Nachteil des Kieler Hofs und der Beziehungen zum Kaiser gereichen würden. Der holsteinische Herzog war der Meinung, dass englischer- und französischerseits alles versucht werde, um Russland aus der Wiener Allianz herauszulösen, was wiederum nachteilig für den Kieler Hof wäre. Daher war das Informationsbedürfnis in Kiel hoch, wie der Kaiserhof die Erhebung Annas aufnähme. Kettenburg solle unter der Hand herausfinden, wie der Wiener Hof zur Thronerhebung Annas stehe, ohne Karl Peter Ulrich in diesem Kontext zu erwähnen, um Russland nicht zu irritieren.873 Nachdem der holsteinische Gesandte Kettenburg bereits am 22. Februar 1730 aus Briefen aus Mitau erfahren haben wollte, dass der verwitweten Herzogin die Nachfolge der Regierung verkündet worden sei,874 führte er drei Tage später aus, dass die russische Geistlichkeit am meisten zu der Thronfolge Annas beigetragen hätte. Seine Vermutung führte er auf die Annahme zurück, dass in der Orthodoxie ebenso wie im Katholizismus die Ehe ein Sakrament sei. Demnach sei die zweite Ehe Zar Peters I. illegitim. Obwohl dies die Auffassung der Geistlichkeit sei, hätten sich alle übrigen Russen dazu nicht ausgelassen.875 Die Zuschreibung der entscheidenden Rolle des Klerus manifestierte, dass die Mutmaßungen Kettenburgs vielfach auf eigenen Vorstellungen beruhten, da die orthodoxe Kirche tatsächlich nichts zur Thronfolge Annas beitrug. Kettenburg sprach darüber mit dem Hofkanzler Sinzendorf, der die missliche Lage Karl Friedrichs bedauerte. Da der holsteinische Herzog nicht akzeptieren könne, dass in Russland die Rechte Karl Peter Ulrichs übergangen wurden, fragte Kettenburg den Hofkanzler um Rat. Doch dieser sei einer Antwort ausgewichen. Auch bei Prinz Eugen habe Kettenburg keine Audienz erhalten. Der Kaiserhof habe die Trauer bezüglich des Todes des Zaren angelegt. Die Kaiserin Elisabeth Christine sei weiterhin hart vom Tod Zar Peters II. getroffen und seit zwei Tagen nicht aus dem Zimmer gekommen, so die Ausführung Kettenburgs. Sie sei weder zum Matthiasfest in der Kirche gewesen noch öffentlich gesehen worden. Der russische Gesandte Lancziński habe die Notifikation dem Kaiser mündlich vorgetragen, werde dies aber dann erst bei der Kaiserin tun, wenn die Notifikation schriftlich in Wien
872 Vgl. Hofkanzler Stryk an Bonde, Kiel, 27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2225, ohne Foliierung. 873 Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 874 Vgl. Kettenburg an Herzog Karl Friedrich, Wien, 22.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 875 Vgl. Kettenburg an Herzog Karl Friedrich, Wien, 25.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung.
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vorliege.876 Das Verwandtschaftsgeflecht der europäischen Dynastien manifestierte sich somit öffentlich sichtbar, indem das Trauerzeremoniell den Grad der Verwandtschaft der Höfe ausdrückte. Die Trauerregelungen der betrachteten europäischen Höfe waren 1730 bereits einheitlich.877 Somit trugen Trauerzeremonien dazu bei, eine Verbundenheit innerhalb der europäischen Fürstengesellschaft herzustellen.878 In einem Schreiben aus Kiel vom 27. Februar 1730 an Kettenburg wurden der Brief Tessins vom 2. Februar ausführlich paraphrasiert und der Wahlvorgang Annas dargelegt879 sowie die Meldung, dass Bonde sich in Moskau vielfach um die Rechte Karl Peter Ulrichs bemüht habe. Die Äußerung Tessins, dass Karl Peter Ulrich zu einem späteren Zeitpunkt nach Russland reisen könnte, um dort erzogen zu werden, vermeldete der Kieler Hof auch an seinen Gesandten in Wien, um die Hoffnung zu betonen, dass der Thronwechsel doch noch vorteilhaft ausfallen könnte.880 Die Hoffnung, die diese Aussicht am Kieler Hof erzeugte, zeigt sich deutlich in den Weisungen: „so das folglichen anjtzo wie Sie selbsten noch zwischen Furcht und Hoffnung schweben, in sonderheit aber auf die künftige Post mit schmerzen warten.“881 Das dynastische Näheverhältnis betonte auch der Kieler Hof durch die umgehende Anordnung der Trauer.882 In Wien wiederum erkundigte sich der holsteinische Gesandte Kettenburg, wie der Wiener Hof bewertete, dass Karl Peter Ulrich nicht zum Zaren erwählt wurde. Kettenburg sprach mit Prinz Eugen und anderen Vertretern des Wiener Hofs, die sich über das unglückliche Schicksal, das Herzog Karl Friedrich und seinem Sohn Karl Peter Ulrich widerfahren sei, betroffen zeigten. Auch wenn es keinen Zweifel gebe, dass der kaiserliche Hof mehr Vertrauen in Karl Peter Ulrich als in die verwitwete Herzogin von Kurland gesetzt hätte, so könne der Wiener Hof nicht mit Nachdruck opponieren. Es bleibe vorerst abzuwarten, wie sich die Angelegenheiten in Russland entwickeln würden. Die Mitglieder des kaiserlichen Hofstaates versicherten Kettenburg, dass der Kaiser nichts unversucht lasse, um die Interessen Kiels zu befördern.883 Von daher zeigte sich Kettenburg optimistisch, dass der holsteinische Herzog den einen oder anderen Vorteil aus den politischen Veränderungen ziehen könnte. Kettenburg berief sich dabei auch auf die Nachricht Tessins aus Moskau, worin der russische Oberzeremonienmeister bei der Notifikation der Wahl versichert, dass es durch die Thronerhebung Annas keine Nachteile für Holstein geben werde. Zudem hätten mehrere kaiserliche Minister Kettenburg gefragt, ob der Kaiser sich für das holsteinisch-russische Bündnis weiter 876 877 878 879
880 881 882 883
Vgl. ebd. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 93 f. Vgl. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 191–194. Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. Beilage Brief Tessins vom 22.01./02.02.1730 (Hofkanzler Stryk an Kettenburg), Kiel, 27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Kettenburg an Herzog Karl Friedrich, Wien, 01.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung.
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einsetzen werde. Mehr als 20 Personen am Wiener Hof würden dies laut Kettenburg begrüßen.884 Der holsteinische Gesandte zeigte sich gegenüber dem Hofkanzler verwundert, dass die durch eine Stafette von Tessin versandten Nachrichten über den Tod des Zaren und die Erhebung Annas so spät in Kiel angekommen seien, „woran woll die schlimmen Wege bey dieser Jahrszeit Uhrsach seyn werden“885. Kettenburg gab sich betont optimistisch, dass sich die Veränderungen in Russland trotz allem positiv auf die Lage des Kieler Hofs auswirken würden: „Die von Ew. Hochwollg[eboren] machende reflexion, das unser junge Prince in seiner zartesten Kindheit schon solche Fataliteten erfahren mus, gehet billig einem jeden devoten Diener und auch anderen Unpartheylichen zu gemüth, man mus aber hoffen, wie es mehrentheils in der Welt geschiehet, also auch hier was sich anfänglich schlecht anläßt mit der Zeit ein beser ansehen bekommen könne.“886
Kettenburg werde weiterhin erkunden, welchen Standpunkt der Wiener Hof zu den Veränderungen in Moskau einnehme. Jedoch müsse er auf den Kurier aus Moskau warten, der über die Ankunft Annas in Moskau und die Einrichtung der neuen Regierung berichten werde. Dies möge wohl noch zwei Wochen dauern.887 Kettenburg hinterfragte nicht nur die Berichterstattung Tessins, sondern auch die Rechtmäßigkeit und Plausibilität der Thronfolge in Moskau. Er zog in Zweifel, dass Dmitrij Golicyn tatsächlich Anna zur Wahl vorgeschlagen habe, denn in Wien gehe man davon aus, dass der Vorschlag von einem anderen Vertreter der Familie Golicyn gekommen sei. Dass es keine männlichen Nachkommen Zar Peters I. mehr gegeben hätte – wie es in der russischen Notifikation an den Kaiserhof hieß –, sei eine nicht hinnehmbare Vereinfachung. Es kursierten Behauptungen, dass Peter I. auf seinem Totenbett seinen Enkel, Peter II., zum Zaren ernannt habe; aufgrund seiner Minderjährigkeit sei allerdings Zarin Katharina die Regentschaft von den Ständen auf Zeit übertragen worden. Als Zar Peter II. die Regierung antrat – rechtlich durch den Willen Peters I. legitimiert –, habe sich die Begründung seiner Herrschaft verschoben, sodass er sich mehr und mehr auf seine Geburt als Legitimationsgrund berufen habe.888 Diese Erörterungen, die am Moskauer Hof überhaupt keine Rolle spielten, schienen für den holsteinischen Gesandten ein Spannungsfeld zwischen Legitimation und der Nichtdurchsetzbarkeit begründeter Interessen zu erzeugen. Die Interpretation des Briefes Tessins vom 2. Februar aus Moskau erweckte bei Kettenburg den Eindruck, als ob Ostermann nicht zu den Vorgängen hinzugezogen worden wäre. Der Eindruck täuschte aber: Die an den russischen Gesandten Lancziński übermittelte Notifikation des Todes Peters II. und der anschließenden sofortigen Wahl Annas trug die Un884 Vgl. ebd. 885 Kettenburg an Hofkanzler Stryk, Wien, 04.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 886 Ebd. 887 Ebd. 888 Vgl. ebd.
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terschrift Golovkins und Ostermanns. Es gebe das Gerücht, dass sich zudem Elisabeth ins Kloster zurückgezogen habe, was der Bestätigung bedürfe.889 Die Überprüfung derartiger Information gehörte zum Alltagsgeschäft der Diplomaten, um die Höfe umfassend über Vorgänge zu informieren und nicht von bloßen Gerüchten bei politischen Entscheidungen abhängig zu sein. Da die erhoffte Weisung aus Kiel ausblieb, musste Kettenburg selbstständig agieren. Er hoffte, Anweisungen über die Trauer und über die Interessenwahrung Karl Peter Ulrichs zu erhalten. Daher habe er sich in einer allgemein gehaltenen Bitte bemüht, damit sich der kaiserliche Gesandte Wratislaw für die Interessen des holsteinischen Herzogs einsetzte. Die kaiserliche Weisung sollte aber erst per Kurier abgesandt werden, wenn in Wien die Ankunft Annas in Moskau und deren Regierungsantritt bekannt sei.890 Zudem habe sich in Wien das Gerücht verbreitet, dass die Herzogin von Mecklenburg gegen die Wahl ihrer Schwester protestiert und viele Unterstützer gewonnen habe. Zudem wiederholte Kettenburg das Gerücht, dass der holsteinische Gesandte Bonde ebenfalls gegen Anna opponiert habe.891 Dadurch, dass sowohl Bonde vor jedem Protest gegen die Wahl Annas ausdrücklich warnte als auch Katharina von Mecklenburg keinerlei Ambitionen auf den Thron Russlands hegte, zeigt sich, welche Rolle die eigenen Vorstellungen bei der Rezeption von Informationen spielten. Die getroffenen Aussagen waren demnach Spekulationen, die eigenen dynastischen Vorstellungen folgten. Dies lässt sich ebenso anhand der angeblichen Meinung zu den Veränderungen in Russland durch den Wiener Reichshofratspräsidenten Johann Wilhelm von Wurmbrand (1670–1750)892 verdeutlichen, die Kettenburg in Erfahrung brachte und referierte: Karl Peter Ulrich und Prinzessin Elisabeth seien legitime Anwärter auf den Zarenthron. Die Auflösung der ersten Ehe Zar Peters I. durch Evdokijas Verbannung ins Kloster sei nach orthodoxem Religionsverständnis legitim. Da die zweite Ehefrau Zar Peters I., Zarin Katharina I., eine eigenständige souveräne Herrschaft ausgeübt habe, hätten diese beiden nicht nur durch Peter I., sondern auch durch Katharina I. das Recht zur Sukzession. Wenn nun der älteren Linie Zar Ivans V. der Vorzug in der Thronfolge gegenüber den Nachkommen Zar Peters I. gegeben worden sei, dann hätte die ältere Schwester Annas, Katharina von Mecklenburg, den Thron besteigen müssen und nicht ihre jüngere Schwester Anna – so die Argumentation des Wiener Hofratspräsidenten. Da dies nicht geschehen sei, sei die Thronfolge im Russländischen Reich nicht rechtmäßig, sondern auf bloßer Willkür der Nation erfolgt, so das Resümee. Diese Äußerungen verdeutlichen den gegebenen Interpretationsspielraum bei der Thronfolge 1730. Die Wahl Annas war jedoch keineswegs willkürlich, wie die obige Schilderung nahe legt, sondern ein Aushandlungsprozess bei dem verschiedene Legitimationselemente gewichtet wurden. Dieser war ebenso durch macht- und bündnispolitische 889 890 891 892
Vgl. ebd. Vgl. Kettenburg an Hofkanzler Stryk, Wien, 08.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. Vgl. ebd. Zu seiner Biografie ausführlicher siehe Hans Zwiedineck von Südenhorst: Wurmbrand, Johann Wilhelm Graf von, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 44, hg. von Historische Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften, München, Leipzig 1889, S. 335–338.
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Zielsetzungen beeinflusst und wurde von den Akteuren vor dem Hintergrund eigener Denkmuster interpretiert. Kettenburg wartete fortlaufend auf Nachrichten aus Moskau, ob die Zarin dort angekommen sei und wie sich die Angelegenheiten dort weiterentwickeln würden. Er stellte fest, dass trotz aller Unsicherheiten in Russland die kaiserlichen Truppen kontinuierlich in Richtung italienischer Halbinsel geschickt worden seien.893 Hofkanzler Stryk wies Kettenburg an, dem Wiener Hof die Anerkennung von Annas Herrschaft durch Karl Friedrich zu versichern. Zudem zweifle Karl Friedrich nicht daran, dass der kaiserliche Hof, falls in der Zukunft etwas Positives für Karl Peter Ulrich getan werden könne, die Maßnahmen unterstütze und jederzeit Wratislaw darüber informieren werde.894 Zudem pflege Karl Friedrich gute Freundschaft zu Anna und habe ihr sehr gute Dienste erwiesen. Der Herzog führte eine nicht näher übermittelte Situation an, in der sich Anna bei der bereits verstorbenen Herzogin von Holstein, Anna Petrovna, einfand, um vor dem Favoriten Zar Peters I., Menšikov, Schutz zu suchen. Damals habe sich die jetzige designierte Zarin über vier Wochen im Zimmer der holsteinischen Herzogin befunden, die damals noch in Russland weilte. Nachdem Karl Friedrich und Anna Petrovna Russland verlassen hätten, hätten sie immer in reger Korrespondenz mit Anna gestanden, weswegen er auf positive Auswirkungen durch ihre Wahl hoffe. Nach dem Scheitern der Thronfolge seines Sohnes präferierte Karl Friedrich Anna vor allen übrigen Thronprätendentinnen.895 Das Näheverhältnis zwischen dem holsteinischen Herzog und dem russischen Hof bis 1727 schien durch Karl Friedrich im Gegensatz zu seinen Gesandten, die in Moskau mehrheitlich auf Vorbehalte aufgrund des holsteinischen Einflusses unter Zarin Katharina I. stießen, vorteilhaft zu sein. Die beinahe kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und Dänemark wegen der Rückgewinnung Schleswigs, worin die russischen Interessen den holsteinischen nachgeordnet worden waren,896 schienen ihm nicht hinderlich. Auch der Kieler Hof musste sich mit den unterschiedlichen Nachrichten und Gerüchten aus Moskau auseinandersetzen, um den tatsächlichen Wahrheitsgehalt zu ermitteln. Der Kieler Hof wollte demnach wissen, ob ein nicht näher namentlich genannter Minister auch in Wien die Nachricht verbreitet habe, dass der holsteinische Gesandte Bonde sogar schriftlich gegen die Thronerhebung Annas protestiert habe, um darauf eine negative mündliche Antwort zu erhalten. Der Kieler Hof zeigte sich verwundert, dass die Briefe der eigenen Gesandten vom 9. Februar keine Informationen hierüber enthalten haben, sondern im Gegen-
893 Vgl. Kettenburg an Herzog Karl Friedrich, Wien, 11.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 894 Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 13.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 895 Vgl. ebd. 896 Vgl. Stellner, Die dynastische Politik des russischen Imperiums im 18. Jahrhundert, S. 42 f. Klose, Degn, Die Herzogtümer im Gesamtstaat 1721–1830, S. 68. Mediger, Moskaus Weg nach Europa, S. 80. Pries, Das Geheime Regierungs-Conseil in Holstein-Gottorf 1716–1773, S. 25. Hoffmann, Rußland im Zeitalter des Absolutismus, S. 176. Kirby, Northern Europe in the Early Modern Period, S. 326. Leitsch, Der Wandel der österreichischen Rußlandpolitik in den Jahren 1724–1726, S. 66 f.
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teil eben eine solche Beschwerde von den holsteinischen Gesandten selbst als sehr gefährlich erachtet wurde. Daher sei Stryk sehr verwundert, wie solches aus Moskau geschrieben werden konnte. Die Wirkmächtigkeit von Gerüchten aufgrund der langen Übertragungswege gefährdete somit die Stellung Holsteins. Der anhaltende Geldmangel des Kieler Hofs führte zu Ausgabenkürzungen, wovon die Gesandten nicht ausgenommen werden konnten. Die Subsidienzahlungen aus Wien und Moskau zur Verbesserung der finanziellen Lage wurden erhofft, jedoch zweifelte der holsteinische Hofkanzler an der Auszahlung, „den das Geld [sei] allenthalben lieb“.897 Die finanzielle Lage des Herzogtums Holstein war aufgrund der ins Stocken geratenen Subsidienzahlungen aus Wien und Moskau und aufgrund von Problemen bei der Einlösung eines Wechsels bezüglich des Brautschatzes Anna Petrovnas verstärkt worden. Diese ergaben sich zu einem Zeitpunkt, bevor der Tod des Zaren hätte antizipiert werden können. Auch dem holsteinischen Gesandten Bonde wurde zu diesem Zeitpunkt bereits die Reduktion der Gesandtengehälter in Aussicht gestellt.898 Einsparungen im Gesandtschaftsdienst trafen unter anderem auch 1729 das sächsische Gesandtschaftswesen, wobei es zu einer Reduzierung der Gesandtschaftsposten oder zu Verzögerungen bei Stellenbesetzungen kam.899
Karl Leopold von Mecklenburg – ein Störenfried Europas? Die vor allem von den kaiserlichen Akteuren vielfach geäußerte Gefahr, dass der mecklenburgische Herzog Karl Leopold mächtige Fürsprecher in Europa für seine Politik zu gewinnen versuche, war begründet. Nachdem die Relation J.C.D. Ostermanns von der Wahl Annas zur Zarin in Danzig angekommen war, stellte der Herzog weder die Thronfolge der Zarin infrage, noch thematisierte er, dass Katharina von Mecklenburg legitimere Ansprüche auf den russischen Thron hätte. Stattdessen wollte er seinen Einfluss in Russland steigern, indem er die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates für sich und seine Interessen zu gewinnen suchte: Daher habe der mecklenburgische Gesandte dafür zu sorgen, dass die mecklenburgische Allianz mit Russland durch den Obersten Geheimen Rat bestätigt werde. J.C.D. Ostermann habe darauf hinzuweisen, dass die anlässlich der Heirat mit der Zarennichte Katharina 1716 geschlossene mecklenburgisch-russische Allianz dem Herzog nur Nachteile und Verdruss gebracht hätte. Zur Zeit des Großen Nordischen Krieges habe der Herzog den verstorbenen Zar Peter I. unterstützt, jedoch habe er „daher aber so vielen Has und Schaden [sich] zu gezogen, so würden Sie [die Mitglieder des Obersten Geheimen Rats] endlich auch zu Unserer Rettung bedacht seyn“, so die Hoffnung des Herzogs.900 Karl Leopold scheint hierbei auf die Stationierung russischer Truppen 1716 für die Landung in Schonen zur endgültigen Niederwerfung Schwedens zu rekurrieren. Die mecklenburgischen Landstände wandten sich damals an den Kaiser, um sich gegen die Stationierung russischer Truppen und die daraus resultie897 898 899 900
Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. Vgl. Hofkanzler Stryk an Bonde, Kiel, 13.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2225, ohne Foliierung. Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 202–205. Herzog Karl Leopold an J.C.D. Ostermann, Danzig, 21.02.1730, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 267r/v.
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renden Repressalien zu wenden, die sie als Eingriff in Reichsangelegenheiten werteten. Dies brachte den mecklenburgischen Herzog nicht nur beim Kaiser, sondern auch bei anderen Monarchen Europas in Verruf.901 Für die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates sei es ein Leichtes, sowohl beim Kaiser als auch bei dem preußischen König die Wiederherstellung seiner rechtmäßigen Herrschaft über das Herzogtum Mecklenburg-Schwerin zu erwirken, ohne andere Mächte zu verärgern, so die Hoffnung Karl Leopolds.902 Auffällig an dieser Weisung Karl Leopolds ist, dass der Herzog nicht versuchte, über die Infragestellung der Thronfolge Einfluss zu nehmen, wie dies von Gesandten und europäischen Höfen antizipiert wurde. Stattdessen wollte er – vermittelt durch seine Ehegattin – auf die russischen Regierungsgremien einwirken. Da die Zarin bei der Ausübung der Regierung überhaupt nicht erwähnt wird, scheint in der Vorstellungswelt Karl Leopolds die Annahme wahrscheinlich, dass es die Regierungsgremien seien, die die Macht in Russland ausüben würden.
Der preußische Hof – die Beeinflussung des kaisertreuen Königs Der preußische König Friedrich Wilhelm I. vernahm die Wahl Annas ebenso positiv wie der Wiener Hof. Friedrich Wilhelm I. rühmte ihre nicht näher spezifizierte „großen Tugend und qualitäten“, da mit ihr das Beste für Russland und seine Verbündeten zu erwarten sei. Dass diesem Lob Annas etwas Floskelhaftes anhing, da es dem preußischen König ebenso wie dem Kaiser vorrangig um die Wahrung eigener Interessen ging, belegen die weiteren Ausführungen. Friedrich Wilhelm I. ging ausschließlich darauf ein, dass er guter Hoffnung sei, dass die neue Zarin die Bündnisse mit Preußen und dem Kaiser bestätigen werde. Dass die preußische Regierung die Bündnisverlängerung anstrebe, solle Mardefeld der Zarin bei ihrer Ankunft in Moskau versichern. Er solle zudem die dortigen Begebenheiten und das Verhalten der anderen Gesandten genauestens beobachten und darüber berichten.903 Der kaiserliche Sekretär Demrath und der kaiserliche Gesandte Seckendorff in Berlin betonten den großen Konsens bei der Wahl Annas, ohne Alternativen überhaupt zu thematisieren.904 Seckendorff erachtete es nach ihrer Erhebung nicht mehr als notwendig, die Dolgorukij zu gewinnen. Da Fürst Golicyn maßgeblich zur Thronfolge beigetragen habe, werde sein Einfluss in Zukunft wohl am größten sein. Da sein Sohn russischer Gesandter am preußischen Hof sei, bemühe Seckendorff sich, dessen Freundschaft zu gewinnen.905 901 Vgl. Wick, Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 84–108. 902 Vgl. ebd. 903 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 18.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 61r/62r. 904 Vgl. Demrath an Kaiser Karl VI., Berlin, 14.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, fol. 86r/87r. Demrath an Kaiser Karl VI., Berlin, 18.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, fol. 90r/v. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Berlin, 14.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, fol. 84r/85r. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Potsdam, 28.02.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 110b, 393v/394r. 905 Vgl. ebd., fol. 394r.
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Die Weisungen des Kaisers an seinen Gesandten in Berlin, Friedrich Heinrich von Seckendorff, belegen ebenfalls, dass die Legitimität Annas nicht in Zweifel und andere Möglichkeiten der Thronfolge nicht weiter in Erwägung gezogen wurden. Der Gefahr eines Bündniswechsels des preußischen Königs, bewirkt durch Gegner des kaiserlichen Bündnisses am preußischen Hof, galt es entschieden entgegenzutreten. Diese Problematik war ausführliches Thema in der Weisung an Seckendorff, der zudem die direkte Korrespondenz mit dem kaiserlichen Gesandten in Moskau bezüglich der Bündnisverlängerung zu pflegen hatte.906 Er bekam ebenso die ausführliche Relation Wratislaws vom 3. Februar 1730 in Abschrift beigelegt,907 um diese Informationen in Berlin für die Interessen des Kaisers nutzen zu können. Daraus entnahm Seckendorff, dass die dem Bündnis positiv gegenüberstehenden Adligen Ostermann und Golicyn hohes Ansehen bei der Zarin genossen.908 Der Kaiser drang auf eine förmliche Erneuerung der Bündnisse durch das Zusammenwirken mit dem preußischen König als auch der jeweiligen diplomatischen Stellvertreter in Moskau. Daher vernahm er die beständigen Anfragen des preußischen Gesandten Mardefeld in Moskau bei Wratislaw, ob Russland dem Kaiser im Kriegsfalle wirklich beistehen werde, sehr kritisch. Dass die russische Bündnishilfe durch einen Diplomaten eines alliierten Königreiches infrage gestellt wurde, war mithin höchst unerwünscht. Zudem mussten die als möglich erachteten Versuche des mecklenburgischen Herzogs Karl Leopold, Unterstützung in Moskau zu erhalten, durch das Zusammenwirken des preußischen und des kaiserlichen Hofs unbedingt verhindert werden.909 Dass das Ziel des Kaisers auf der Beibehaltung der bisherigen Bündniskonstellationen lag, zeigt eine zweite Weisung an Seckendorff ebenfalls vom 28. Februar, in der der Kaiser ausführlich auf die Lage in Europa einging. Der Beistand des preußischen Königs wurde ausgesprochen gelobt. Durch den Vertragsschluss von Sevilla habe die spanische Königin Elisabeth Farnese gültige Bündnisse gebrochen. Dieser Vertrag richte sich ebenso gegen die Interessen Preußens wie gegen die Interessen des Kaisers. Inwieweit die Politik Elisabeth Farneses von Frankreich sowie von den Niederlanden und England unterstützt werde, sei derzeit noch nicht in Gänze zu ermessen. Der Kaiser strebe eine Politik der Stärke an, indem er weiterhin Truppen für die italienische Halbinsel mobilisiere. Dass sich der preußische König um ein Bündnis mit dem sächsischen Kurfürsten und polnischen König bemühe, vernahm Wien positiv. Es sie nicht die Schuld des Kaisers, dass das Bündnis noch nicht zustande gekommen sei, so die kaiserlichen Beteuerungen.910 Die Kritik des Kaisers an der Unentschlossenheit Augusts II., traf zwar zu, 906 Vgl. Kaiser Karl VI. an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 20, Konvolut 1, fol. 1r/v. 907 Vgl. Beilage Relation Wratislaws an Kaiser Karl VI. vom 03.02.1730 (Weisung Kaiser Karls VI. an Friedrich Heinrich Seckendorff), Wien, 28.02.170, HHStA Wien, Preußen, Karton 20, Konvolut 1, fol. 3v–14r. 908 Vgl. Kaiser Karl VI. an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 20, Konvolut 1, fol. 1v. 909 Vgl. ebd., fol. 2r/v. 910 Vgl. Kaiser Karl VI. an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 18, Konvolut 1, fol. 2r–4v.
Die Blicke der europäischen Höfe auf die Wahl Annas
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allerdings war das Scheitern der Bündnisverhandlungen der letzten Jahre sich wandelnden Interessen beider Monarchen geschuldet.911 Der sächsische Hof war für den Kaiser seit Jahren ein unberechenbarer Faktor in der komplexen europäischen Bündnispolitik.912 Da nicht abzuschätzen war, ob Russland tatsächlich militärische Unterstützung leisten würde, war eine bündnispolitische Festlegung Augusts II. zugunsten der kaiserlichen Interessen unter der Vermittlung des preußischen Königs, die guten Beziehungen zwischen Preußen und Sachsen nutzend, im Interesse Wiens.913 Der als wahrscheinlich angenommene Krieg um italienische Besitztümer zwischen dem Kaiser und der spanischen Königin Elisabeth, die anstelle ihres de jure regierenden Ehemanns Philipps V. handelte, bestimmte die kaiserliche Politik. Der Kaiser und Preußen hatten kein Interesse daran, die Legitimation der Zarin anzufechten, da Russland im Kriegsfall ein wichtiger Verbündeter war. Sie gingen davon aus – wie die Relationen und Weisungen darlegen –, dass Anna und die in ihrer Regierung mächtigen Personen, Golicyn und Ostermann, für außenpolitische Kontinuität Russlands stünden. In den Quellen finden sich keine Belege, dass pro-englisch gesinnte preußische Minister oder gar die preußische Königin Sophie Dorothea die Legitimität Annas anzweifelten, um die kaiserlich-preußisch-russische Allianz zu schwächen. Um eine Schwächung des Bündnisses zwischen dem Kaiser, dem preußischen König und der neuen Zarin durch eine den kaiserlichen Interessen entgegenstehende Heiratspolitik in Moskau zu verhindern, erhielt Seckendorff die an Wratislaw ergangene Weisung vom 3. März. Darin werden Georg von Hessen-Kassel und der uneheliche Sohn König Augusts II., Moritz von Sachsen, als besonders ungeeignete Heiratskandidaten benannt. Diese Informationsweiterleitung belegt abermals, dass Heiratspolitik in dieser Situation als Machtpolitik und als Mittel der Gestaltung außenpolitischer Beziehungen genutzt wurde. Ebenso belegt dies, wie der Kaiser versuchte, seine Interessen durch das Zusammenwirken mit dem preußischen König zu erreichen und er ihn als verlässlichen Bündnispartner betrachtete, während er den polnischen König August II. als wankelmütigen und unzuverlässigen Akteur ansah. Dies belegen die Ausführungen der Weisung an Seckendorff.914
Die Bestätigung des Bündnisses mit Russland aus Paris Aus Paris erreichten den Kaiser Relationen seiner Gesandten Stefan Kinsky und Marcus Fonseca, dass der russische Gesandte in Paris, Golovkin, Befehle des russischen Hofs erhalten habe. Darin hieß es, dass das Bündnis mit dem Kaiser trotz des Todes des Zaren bestätigt 911 Zu den Bündnisverhandlungen und deren Zielsetzungen im Verlauf der Zeitperiode zwischen 1728 und 1730 siehe ausführlicher: Philipp, August der Starke und die Pragmatische Sanktion, S. 69–97. 912 Vgl. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 24–84, besonders S. 71–84. Philipp, August der Starke und die Pragmatische Sanktion, S. 69–97. 913 Vgl. ebd., S. 101–103. 914 Vgl. Kaiser Karl VI. an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 03.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 18, Konvolut 1, fol. 10r/11r.
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wurde und die versprochene russische Militärhilfe erfolgen sollte. Der russische Gesandte habe dies auch dem Kardinal Fleury verdeutlicht, auch wenn der französische Hof versuche, Golovkin zu umschmeicheln. Der französische Hof habe die Hoffnung, dass eine Veränderung der Regierung in Russland zu außenpolitischen Kurskorrekturen im Sinne einer Schwächung des Kaisers führe. Der russische Gesandte in Paris hingegen verdeutliche Stefan Kinsky wiederholend sein Vertrauen und seine Freundschaft. Auch der kaiserliche Gesandte in Moskau, Wratislaw, habe Stefan Kinsky in einem Schreiben vom 2. Februar 1730 versichert, dass es keinen Grund gebe, dass der geschlossene Vertrag nicht bestätigt werde.915 Der holsteinische Gesandte in Paris, Henning Friedrich Graf von Bassewitz (1680–1749),916 sei sehr beunruhigt über die Todesnachricht des Zaren gewesen, beginne sich aber wieder zu beruhigen. Bassewitz habe Stefan Kinsky und Fonseca mitgeteilt, dass der holsteinische Herzog Karl Friedrich durch seine Heirat mit Anna Petrovna zwar auf alle Thronrechte in Russland verzichtet hätte, den russischen Thron aber für seinen Sohn beanspruchen müsse. Da Bassewitz sehr einfallsreich sei, habe er Stefan Kinsky zu verstehen gegeben, dass die verwitwete Anna und zukünftige Zarin den holsteinischen Herzog Karl Friedrich heiraten könnte.917 Dies schien keinen Anklang bei dem ebenfalls mit den russischen Gegebenheiten vertrauten Stefan Kinsky zu finden. Bassewitz war unweigerlich aufgrund seiner langen Anwesenheit von 1721 bis 1727 am russischen Hof mit den dortigen Gegebenheiten ebenfalls sehr vertraut. Er hatte bereits die Hochzeit zwischen der 1728 verstorbenen Anna Petrovna und Karl Friedrich vermittelt.918 Zur öffentlichen Demonstration der guten kaiserlich-holsteinischen 915 Vgl. Stephan Kinsky / Fonseca an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Paris, 05.03.1730, HHStA Wien, Frankreich, Karton 37, Konvolut XII, fol. 134v/135v. 916 Henning Friedrich Graf von Bassewitz (1680–1749) entstammte einem alten mecklenburgischen Adelsgeschlecht. Er studierte Rechtswissenschaften in Rostock und Leyden, trat zuerst in mecklenburgische Dienste, wechselte jedoch 1710 in holsteinische Dienste. Er war maßgeblich an den Bemühungen um die Restituierung des holsteinischen Herzogtums Karl Friedrichs beteiligt und begab sich erstmals 1714 kurzzeitig an den russischen Hof. 1719 kehrte er nach Russland zurück und verhandelte dort das Heiratsprojekt zwischen Herzog Karl Friedrich und Anna Petrovna maßgeblich mit. Für seine Verdienste um das kaiserlich-russische Bündnis wurde er 1726 von Kaiser Karl VI. in den deutschen Reichsgrafenstand erhoben und von Katharina I. mit Gütern in Estland und Livland beschenkt sowie in die estnische Ritterschaft aufgenommen. Er wirkte an der Ausgestaltung des Obersten Geheimen Rates mit und versuchte, Karl Friedrich dadurch größere Machtbefugnisse zu ermöglichen. Nach eigenen Angaben hat er am Testament Katharinas I. mitgewirkt. 1727 musste er mit dem holsteinischen Herzogenpaar den russischen Hof verlassen. Auf dem Kongress von Soissons versuchter er vergeblich, den herzöglichen Anteil von Schleswig für seinen Herzog restituiert zu bekommen. Zudem war er Ritter des St. Andreas- und des Alexander-Nevskij-Ordens. Siehe Hubertus Neuschäffer: Bassewitz, Henning Friedrich Graf von, in: Schleswig-holsteinisches biographisches Lexikon, hg. von Olaf Klose, Eva Rudolph und Ute Hayessen, Neumünster 1979, S. 32–34, hier 32–34. Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 14. Über seine Zeit in Russland, siehe Neuschäffer, Henning Friedrich Graf von Bassewitz, 94–99 und S. 123–142. 917 Vgl. Stephan Kinsky / Fonseca an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Paris, 05.03.1730, HHStA Wien, Frankreich, Karton 37, Konvolut XII, fol. 135r/v. 918 Vgl. Neuschäffer, Anna Petrovna, S. 23 f. Neuschäffer, Henning Friedrich Graf von Bassewitz, S. 131. Neuschäffer, Bassewitz, Henning Friedrich Graf von, S. 33.
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Beziehungen am russischen Hof war er von Kaiser Karl VI. 1726 in den Reichsgrafenstand erhoben worden.919 Als der in Soissons weilende Bassewitz nach dem Tod des kaiserlichen Gesandten Christoph von Penterriedter im Gespräch war, in kaiserliche Dienste zu wechseln und den kaiserlichen Gesandtschaftsposten in Paris zu übernehmen, erreichte Stephan Kinsky bei Prinz Eugen, dass dies verhindert wurde. Als Einwand führte Kinsky die lutherische Konfession Bassewitz’ an.920 Ob dieses Ereignis Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Bassewitz und Stephan Kinsky hatte, geht aus den Quellen nicht hervor. Die beiden kaiserlichen Diplomaten führten ein Gespräch mit dem Kardinal Fleury und dem Garde des Sceaux, bei dem sie die aktuelle außenpolitische Situation diskutierten. Der Kardinal Fleury habe erste Versuche der Annährung zwischen dem kaiserlichen Gesandten Stephan Kinsky und seinem in London als kaiserlicher Gesandter tätigen Bruder Philipp Kinsky sowie Wenzel Sinzendorf und dem englischen Minister Stanhope wahrgenommen. Zudem stehe Stefan Kinsky mit seinem Bruder Philipp Kinsky in engem Kontakt.921 Der Briefkontakt zwischen familiären Akteuren in diplomatischen Netzwerken war keinesfalls eine Ausnahme, sondern die Regel.922 In Bezug auf die Einschätzungen Frankreichs unterschieden sich aber die Ansichten der beiden kaiserlichen diplomatischen Vertreter. Während Kinsky nicht mehr an eine Verständigung mit Frankreich glaubte, hoffte Fonseca eben darauf. Die sich zuspitzenden Spannungen innerhalb der kaiserlichen Gesandtschaft in Paris führten letztendlich auf Druck Kinskys zur Abberufung Fonsecas in Verlauf des Jahres 1730.923 Dieser Sachverhalt zeigt, dass innerhalb einer Gesandtschaft unterschiedliche Meinungen vertreten werden konnten, die zu Spannungen und letztendlich zu einer Abberufung zumindest eines Vertreters führen konnten.
Die spanische Informationsweitergabe an alliierte Gesandte an europäischen Höfen Der englische Diplomat in Wien, Waldegrave, verfügte im Vergleich zu seinen englischen Kollegen in Moskau über ausführlichere Informationen über die Thronfolge Annas und die möglichen Folgen ihrer Wahl. Dieser auf den ersten Blick verwunderliche Befund war für die damaligen Akteure jedoch nachvollziehbar: „The Spanish Secretary having received very ample accounts, from the Duke of Liria, of the present State of affairs in Muscovy, he communicated them to me, and allowed me to take 919 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 332. Neuschäffer, Henning Friedrich Graf von Bassewitz, 133 und S. 136f. Neuschäffer, Bassewitz, Henning Friedrich Graf von, S. 33. 920 Vgl. Neuschäffer, Henning Friedrich Graf von Bassewitz, S. 145 f. 921 Vgl. Stephan Kinsky / Fonseca an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Paris, 05.03.1730, HHStA Wien, Frankreich, Karton 37, Konvolut XII, fol. 131v–134r. 922 Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 277 f. 923 Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 91–94.
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Nachfolgedebatte, Designation und Beurteilung Annas
notes of the most remarkable Passages in his Letters. Perhaps your Lordship has received this advice directly from hence, but least our minister at Moscow should not have been as fully informed as the Duke of Liria, I venture to trouble your Lordship with the following relation.”924
Die Erkenntnis, dass die niederrangigen diplomatischen Akteure deutlich seltener valide Informationen erlangten und somit auf die Informationsweitergabe durch ranghöhere Gesandte angewiesen waren, wird hierdurch anschaulich belegt. Der englische Diplomat Waldegrave war sich daher der eingeschränkten Informationsbeschaffung seiner in Moskau weilenden Kollegen bewusst, weswegen er auf die Berichte des ranghöheren und dadurch einflussreicheren spanischen Gesandte de Liria zurückgriff. Ebenso war es den verbündeten diplomatischen Akteuren in Wien, Eguiluz und Waldegrave, bewusst, dass ein Informationsaustausch im Interesse der antikaiserlichen Politik stand.925 Allein diesen außenpolitischen Umständen war die Informationsweitergabe über die Ereignisse in Moskau geschuldet, wie ein Brief des englischen Gesandten Waldegrave gleichen Tages an seinen Kollegen Stephen Poyntz in Frankreich mit der Aufschrift „very private“ belegt. Dieser vertrauliche Brief belegt die Verärgerung des französischen Sekretärs de Bussy und des englischen Gesandten Waldegrave über die Unfähigkeit und die Langsamkeit ihres spanischen Kollegen, da dessen Arbeitsweise beide bei der spanischen Königin in Verruf brachte. 926 Trotz der deutlich geäußerten Antipathie griff der englische Gesandte Waldegrave auf die ausführlichen Schilderungen de Lirias aus Moskau zurück, die er von Eguiluz erhielt.927 Demnach wiederholte er die bereits an Magnan weitergegebenen Nachrichten, dass die Wahl Annas im Namen des Obersten Geheimen Rates durch den Oberzeremonienmeister mit der Zusicherung verkündet worden sei, dass die Zarin die geschlossenen Verträge mit allen Höfen bestätigen werde.928 Die Wahl Annas habe die auswärtigen Gesandten ausgesprochen verwundert, da sie während der Krankheit des Zaren nicht als mögliche Nachfolgerin gehandelt worden sei. Nur der Sohn des holsteinischen Herzogs, die Großmutter des Zaren, Evdokija, Prinzessin Katharina Dolgorukaja und Elisabeth galten als potenzielle Thronfolgerinnen und als potenzieller Thronfolger für den Zarenthron.929 De Liria hatte zuvor ausführlich über die Möglichkeit der Dolgorukij berichtet, die Zarenkrone für Katharina Dolgorukaja zu sichern. Dies hätte über die Heirat mit Zar Peter II. erfolgen können, indem sie dann als Zarin – nach dem Vorbild der Ehefrau Zar Peters I. – ihrem Mann nachgefolgt wäre. Oder aber Peter II. hätte vor seinem Ableben ein Testament zu ihren Gunsten verfasst. Der Feldmarschall Dolgorukij, der Onkel Katharina Dolgorukajas, hätte 924 925 926 927
Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 24.02.1730, TNA, SP 80/66, fol. 147v/148r. Vgl. ebd., fol. 147r/v. Vgl. Waldegrave an Poyntz, Wien, 24.02.1730, TNA, SP 80/66, fol. 143r–145v. Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 24.02.1730, TNA, SP 80/66, fol. 148r–152v. Die Schilderung der in Moskau vorgefallenen Ereignisse umfasst neun Blätter. 928 Vgl. ebd., fol. 149v. 929 Vgl. ebd., 149v/150r.
Die Blicke der europäischen Höfe auf die Wahl Annas
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gegen den Vorschlag seines Bruders gestimmt, dass Katharina Dolgorukaja die Thronfolge antrete, worin Ostermann ihm zugestimmt habe.930 Die Wahl Annas wurde wie folgt eingeordnet: „If Right of Succession been any ways regarded, the Dutchess of Mecklemburg, who is the Dutchess of Courland’s Elder Sister, would have taken place, but the Conditions the Russ thought they might impose upon this Princess had a great Share in her Election.”931
Die Vorstellung, Katharina Ivanovna, Herzogin von Mecklenburg-Schwerin, habe als Erstgeborene eine Vorrangstellung vor ihrer Schwester, manifestiert sich auch in dieser Äußerung. Zudem wird deutlich, dass Anna möglicherweise ausgewählt worden sei, da sie die Konditionen annehmen würde. Da die russischen Adligen in dieser Frage der Machtbeschränkung gespalten seien, aber zu ihrer früheren Gewohnheit zurückkehren wollten, ausländischen Mächten möglichst wenig Einflussmöglichkeiten auf die russische Politik einzuräumen, habe der Kaiser keine militärische Hilfe von Russland zu erwarten. Zudem habe der Feldmarschall Dolgorukij dem Obersten Geheimen Rat offenbart, dass es tatsächlich nicht möglich sei, 30.000 Soldaten als Militärhilfe bereitzustellen. Russland solle sich vielmehr darauf konzentrieren, dieses Bündnis zu lösen, um vorteilhaftere Allianzen einzugehen.932 Diese Vorgänge seien Wratislaw unbekannt. Es habe jedoch danach auch noch ein Treffen im Haus Aleksej Dolgorukijs stattgefunden, auf dem einstimmig die Entscheidung gefallen sei, die 30.000 Soldaten nicht abzusenden. Zudem sei das Ansehen des Kaisers vor dem Tod Zar Peters II. gering gewesen, nun habe er es gänzlich verloren. Es sei sogar möglich, dass Wratislaw den Befehl erhalten habe, nach der Ablegung eines Kompliments gegenüber Anna nach Wien abberufen zu werden.933 Die Familie Golicyn, die nicht für die Interessen des Kaisers stehe, werde die meiste Macht erlangen. Wie es um die Macht Ostermanns stehe, sei noch nicht abzusehen. Falls er irgendein Ansehen bewahren könne, müsse er dies in Übereinstimmung mit den russischen Adligen gewinnen. Ostermann könnte wenig für die Interessen des Kaisers tun, da er der Einzige in Russland wäre, der noch kaiserliche Interessen vertreten würde.934 Zudem gebe es das Gerücht, dass Prinz Ivan Dolgorukij ein Fürstentum in Schlesien erhalten hätte, um ihn an die Interessen des Kaisers zu binden.935 Diese Meldung de Lirias findet sich mit dem gleichen Inhalt in einem Bericht Magnans. Demnach zeigt sich immer deutlicher, dass Magnan keine Informationen jenseits seiner diplomatischen Kollegen erlangen konnte und de Liria mitunter spekulative und der spanischen Krone machtpolitisch dienliche Darstellungen über die Lage in Moskau geschickt an anderen europäischen Höfen zu verbreiten wusste. 930 931 932 933 934 935
Vgl. ebd., fol. 148r–143v. Ebd., fol. 150r/v. Vgl. ebd., fol. 150v/151r. Vgl. ebd., fol. 151r/v. Vgl. ebd. Vgl. ebd., fol. 151v.
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Nachfolgedebatte, Designation und Beurteilung Annas
Die Beurteilungen Londons und Versaillesʼ Wie beurteilte der Londoner Hof die Nachfolge Annas? Diese Frage kann weder anhand der Weisungen an die englischen Vertreter in Moskau, Ward und Rondeau, noch an den englischen Vertreter in Wien, Waldegrave, beantwortet werden. Ebenso wie auf den Tod Zar Peters II. finden sich zur Thronfolge und zu den diesbezüglich in Moskau stattgefundenen Debatten keinerlei Reaktionen, obwohl die Relationen aus Moskau und Wien nachweislich London erreichten.936 Warum die Moskauer Ereignisse in den spät versandten und sehr knappen Weisungen des Londoner Hofs keine Berücksichtigung finden, lässt sich nicht abschließend klären. Ein möglicher Grund könnte die Annahme sein, dass Russland sich aus den europäischen Angelegenheiten zurückziehen würde.937 Die weitere Hoffnung Englands, dass Russland in Anarchie und Barbarei verfalle, wurde bereits sowohl in diplomatischen Berichten und in der englischen Presse beim Regierungsantritt Zarin Katharinas ausführlich thematisiert.938 Auch im März 1730 ging das British Journal von einem Rückzug des Russischen Reiches aus seinen Bündnissen aus.939 Dass die englische Regierung ihren diplomatischen Vertretern über lange Zeiträume keine Weisungen erteilte, scheint selbst in kritischen Situationen keine Ausnahme gewesen zu sein.940 Bedeutend ist, dass Russland 1730 keinen eigenen diplomatischen Vertreter in London hatte.941 Allerdings thematisierten auch die kaiserlichen Weisungen nach London und die Relationen aus London die Vorkommnisse in Russland nicht.942 Die Weisungen an Philipp Kinsky schilderten hingegen den Konflikt auf der italienischen Halbinsel ausgesprochen ausführlich. Zudem erhoffte der Kaiser den pro-kaiserlichen Teil des Londoner Hofs für seine Politik zu gewinnen. Der Kaiser schicke allein zum Schutz seiner kaiserlichen Erbländer und der Herzogtümer Florenz und Parma Truppen auf die italienische Halbinsel. Es galt, den englischen Hof vor den Gefahren eines europäischen Krieges zu warnen und darzulegen, dass die Interessen der spanischen Königin Elisabeth Farnese und Frankreichs – die Zergliederung
936 Vgl. Secretary of State Townshend an Ward, Whitehall, 03.03.1730, TNA, SP 91/11, fol. 25r/26v. Secretary of State Townshend an Waldegrave, London, 06.03.1730, TNA, SP 80/66, fol. 159r/160v. 937 Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 264–368. Ausführlicher zu den diplomatischen Vertretungen Großbritanniens am Zarenhof im 18. Jahrhundert und deren Vertreter, siehe Ruffmann, Die diplomatische Vertretung Großbritanniens am Zarenhof im 18. Jahrhundert, S. 405–421. 938 Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, S. 2. 939 Hughes, The Romanovs, S. 98. 940 Vgl. Ruffmann, Die diplomatische Vertretung Großbritanniens am Zarenhof im 18. Jahrhundert, S. 405 f. Horn, The British Diplomatic Service, S. 186–188. 941 Vgl. Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 448. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 320. 942 Vgl. Kaiser Karl VI. an Philipp Kinsky, Wien, 31.01.1730, HHStA Wien, England, Karton 68, Konvolut 1, fol. 1r–4v. Philipp Kinsky an Kaiser Karl VI., London, 27.02.1730, HHStA Wien, England, Karton 67, Konvolut 1, fol. 106r/107r.
Die Blicke der europäischen Höfe auf die Wahl Annas
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der kaiserlichen Erbländer im Sinne einer Hegemonie in Europa – den englischen Handelsinteressen in der Levante zuwiderliefen. Somit waren für den Kaiser die spanische Königin und der französische Hof Gegenspieler; England galt es hingegen für die kaiserliche Politik zu gewinnen.943 Die gebürtige Prinzessin von Parma und regierende spanische Königin, Elisabeth Farnese, intensivierte und erneuerte die spanischen Bestrebungen auf der italienischen Halbinsel.944 Ihr Interesse lag in der Gestaltung der Außenpolitik, insbesondere im Hinblick auf Norditalien, wobei ihre Interessen mit denen ihres Ehegatten übereinstimmten.945 Der Kaiser wiederum versuchte, seine Lehenshoheit zu verteidigen und vehement eine dynastisch legitimierte Rückkehr des spanischen Königshauses in Italien zu verhindern.946 Die Berichte Philipp Kinskys wiederum sahen in den Aktivitäten der Königin von Preußen, Sophie Dorothea, ein Problem für die kaiserliche Politik, da diese versuchte, den Berliner Hof mit England zu versöhnen. Kinsky schrieb per Stafette an den Kaiser, dass die preußische Königin an die englische Königin Caroline geschrieben habe. Demnach solle London ohne Zeitverzug einen Vertrauten nach Berlin schicken, da die preußische Königin Hoffnung hege, die vorherigen guten Beziehungen zwischen beiden Höfen wiederherzustellen. Da die englischen Minister diesen streng geheimen Vorgang an ihre Freunde weitergegeben hätten, sei möglicherweise sogar der preußische König darin involviert, so die Befürchtungen Kinskys. Er informierte hierüber nicht nur den Kaiser, sondern ebenso den kaiserlichen Gesandten Seckendorff in Berlin per Stafette.947 Diese schnelle Kommunikationsart legt bereits die Vermutung nahe, dass Kinsky damit die Gefahr verband, dass sich der preußische König aus dem kaiserlichen Bündnis zurückziehen könnte. Abermals wird hier deutlich, dass die preußische Königin eine Doppelrolle einnahm. Neben ihrer Funktion als Ehefrau war sie ebenso eine Interessenvertreterin ihrer Herkunftsfamilie.948 Die Absprachen der beiden Königinnen gefährdeten in der Vorstellung Kinskys die politischen Ziele des Kaisers und des preußischen Königs. Ganz im Gegensatz dazu standen die Reaktionen Frankreichs. Wie aus den Betrachtungen über den Tod Zar Peters II. hervorging, erwartete Versailles folgenschwere Auswirkungen in Bezug auf die inneren und äußeren Angelegenheiten durch die vorgefallenen Veränderungen in Russland. Der Schwerpunkt des Informationsbedürfnisses lag auf dem Vorgang der Erhebung der verwitweten Herzogin von Kurland zur russischen Zarin. Der französische Hof war bestrebt zu erfahren, wer den größten Anteil an der Wahl Annas hatte. Magnan sollte in Moskau daher besonders aufmerksam beobachten, wer der Zarin wel943 Vgl. Kaiser Karl VI. an Philipp Kinsky, Wien, 31.01.1730, HHStA Wien, England, Karton 68, Konvolut 1, fol. 1r–4v. 944 Vgl. Noel, ‘Bárbara succeeded Elizabeth …’, S. 162. Demel, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts, S. 234 f. 945 Vgl. Noel, ‘Bárbara succeeded Elizabeth …’, S. 170 f. Die Dissertation Eva Otts über das außenpolitische Handeln Elisabeth Farneses wäre überaus aufschlussreich, scheint aber bisher noch nicht fertiggestellt worden zu sein, siehe Bastian, Dade, Ott, Weibliche Diplomatie?, S. 103. 946 Vgl. Schnettger, Geschichte einer Dekadenz?, S. 69–73. 947 Vgl. Philipp Kinsky an Kaiser Karl VI., London, 27.02.1730, HHStA Wien, England, Karton 67, Konvolut 1, fol. 106r/107r. 948 Vgl. dazu theoretisch Bastian, Dade, Ott, Weibliche Diplomatie?, S. 105.
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Nachfolgedebatte, Designation und Beurteilung Annas
chen Heiratskandidaten vorschlagen werde, denn der Kaiser werde sicherlich einen Vorschlag im Sinne seiner Interessen machen. Möglicherweise werde sie jemanden aus der Familie Dolgorukij heiraten, da sie dieser Familie ihre Wahl zu verdanken habe, mutmaßte der Versailler Hof. Wie sich dabei die Prinzessin Elisabeth verhalte und ob diese über Unterstützer in Russland verfüge, die die neue Regierung stören könnten, sollte in Erfahrung gebracht werden. Ob Ostermann sein großes Ansehen am Hof aufrechterhalten könne, war ebenso von größtem Interesse. Russland solle zukünftig nicht mehr in europäische Angelegenheiten eingreifen, so der Wunsch Versailles’.949 Die Bezugnahme auf Elisabeth erscheint wenig verwunderlich vor dem Hintergrund, dass bereits 1727 der damalige französische Gesandte Campredon über die angebliche Designation Elisabeths durch ihre Mutter, Zarin Katharina I., berichtet hatte.950 Wenige Tage später wies Versailles Magnan an, zu erklären, warum der russische Hof die Herzogin von Kurland ihrer älteren Schwester, der Herzogin von Mecklenburg, vorgezogen habe.951 Hieraus lässt sich ableiten, dass eine Nach- oder gar Erbfolge, die Annas ältere Schwester Katharina überging, wenigstens einer Erklärung bedurfte. Die Nachfolgedebatte in Russland fand beim französischen Sekretär in Wien allerdings keinen Niederschlag,952 was umso verwunderlicher ist, da ihm Magnan persönlich Briefe aus Moskau schrieb, wie bereits dargestellt.
Knappe Weisungen aus Dresden – ausführliche Betrachtungen in Warschau In einer sehr knappen Weisung aus Dresden an Le Fort hieß es, der Gesandte solle der Zarin die aufrichtigste und beständigste Freundschaft vermitteln und ebenso versuchen, die bedeutendsten russischen Adligen zu gewinnen. Dass Le Fort Komplimente an die Dolgorukij und die Golicyns übermittelte, wurde nachträglich befürwortet. Auf die Thronfolge in Russland wurde in Dresden nicht eingegangen.953 Aus der Geheimkorrespondenz des kaiserlichen Gesandten Seckendorff, der vom 18. bis 25. Februar statt in Berlin in Dresden weilte, wurden keine Bewertungen Annas als Thronfolgerin durch den Dresdner Hof übermittelt, was sich von seiner Berichterstattung über den Hof in Berlin unterscheidet. Im Zentrum der Betrachtungen Seckendorffs über den Dresdner Hof standen hingegen die Machtkämpfe der sich feindlich gegenüberstehenden pro-kaiserlichen und pro-französischen Parteiungen am sächsischen Hof sowie die Bemühungen Friedrich Wilhelms I., den polnischen König August II. für die kaiserlichen Interessen zu gewinnen.954 Friedrich Wilhelm I. nahm die Hochzeit der unehelichen Tochter 949 950 951 952 953
Vgl. Chauvelin an Magnan, Versailles, 26.02.1730, A.A.E. Paris, Russie 23, fol. 22r/v. Vgl. Stökl, Das Problem der Thronfolgeordnung in Russland, S. 281. Vgl. Chauvelin an Magnan, Versailles, 02.03.1730, A.A.E. Paris, Russie 23, fol. 29r. Vgl. De Bussy an Chauvelin, Wien, 25.02.1730, Paris, Autriche 165, fol. 198r–203v. Vgl. König August II. an Le Fort, Dresden, 09.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 51r. 954 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Dresden, 25.02.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 110b, fol. 346r–353v.
Die Blicke der europäischen Höfe auf die Wahl Annas
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Augusts II., Friederike Alexandrine von Cosel, mit dem polnischen Schatzmeister, Jan Kanty Moszyński, zum Anlass, während der Karnevalszeit nach Dresden zu reisen. Dabei berieten die beiden Könige in einem separaten Zimmer die damaligen Geschehnisse.955 Sie kamen zu unterschiedlichen Einschätzungen der Situation Europas und der Handlungsoptionen des Kaisers.956 Der pro-französisch gesinnte kursächsische Minister Hoym hatte sich unter einer Karnevalsmaske bei August II. eingefunden, um ihm die Aussöhnung mit dem englischen König nahezulegen. Gegenüber dem preußischen König beschrieb Hoym die verbündeten Mächte Frankreich und England als ausgesprochen stark, den Kaiser hingegen als verhältnismäßig schwach. Diese Darstellung Hoyms habe den kaisertreuen Friedrich Wilhelm I. nachhaltig verärgert. Seckendorff resümierte, außer Wackerbart und Manteuffel seien alle pro-französisch gesinnt.957 Seckendorff war sich der Spannungen zwischen Hoym und Manteuffel seit 1729 mehr als bewusst und fürchtete, dass ein möglicher Beitritt Sachsens zur Allianz von Sevilla große außenpolitische Auswirkungen hätte. In diesem Bedrohungsszenario war die Bündnistreue Preußens und Russlands umso wichtiger.958 Die Erhebung Annas zur Zarin wurde in der Residenzstadt Warschau ausführlicher als in Dresden kommentiert. Die Korrespondenzen zwischen Wien und dem kaiserlichen Gesandten Wilczek ergänzen nicht nur die Sicht Wiens, sondern beschäftigen sich ebenfalls mit Äußerungen des polnischen Primas und anwesender polnischer Senatoren. Der kaiserliche Gesandte in Warschau erhielt die Weisung Wiens, dass er allem ausweichen solle, was zu Klagen am russischen Hof führen könnte. Im Namen der neuen Zarin seien Versicherungen der Bündnistreue Russlands abgegeben worden, was für den Kaiser am bedeutendsten sei.959 Den kaiserlichen Gesandten in Warschau hatten bereits vor den offiziellen Briefen aus Moskau Gerüchte erreicht, dass der Zar Peter II. verstorben und eine Deputation bei der Herzogin von Kurland angekommen sei, um sie über die einmütige Proklamation zur Thronfolgerin zu informieren. Während der polnische Primas die gleichen Nachrichten erhielt, wusste der russische Gesandte noch nichts von alledem.960 Wenig später bestätigte aber auch
955 956 957 958
Vgl. ebd., fol. 364r–348v. Vgl. ebd., fol. 348r/349v. Vgl. ebd., fol. 349v. Vgl. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 72–74. Zur Beurteilung des Treffens zwischen Friedrich Wilhelm I. und August II. siehe Philipp, August der Starke und die Pragmatische Sanktion, S. 101–103. 959 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wilczek, Wien, 25.02.1730, HHStA Wien, Polen II, Karton 66, Konvolut 1, fol. 169r/v. 960 Vgl. Wilczek an Kaiser Karl VI., Warschau, ohne Datum, HHStA Wien, Polen II, Karton 5, Konvolut 1, fol. 56r/v.
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Nachfolgedebatte, Designation und Beurteilung Annas
der russische Gesandte Michail Petrovič Bestužev-Rjumin961 die Nachfolge Annas.962 Da Wilczek an einer Grippe erkrankte, habe er vier Tage im Bett bleiben müssen und daher an Gesellschaften und Tafeln nicht teilnehmen können. Er vermittelte dem polnischen Primas und den Senatoren die Auffassung, dass der Kaiser gegen die Alliierten von Sevilla weder zaghaft vorgehe, als ob er den Krieg scheue, noch als ob er ohne Not zu den Waffen greife. Durch vielfältige Festivitäten traf der kaiserliche Gesandte mit dem polnischen Primas zusammen.963 Die Wiedergabe dieser Gespräche offenbart die Meinung des polnischen Primas: Er bat um Frieden. Falls es zum Krieg komme, unterstütze der polnische König den Kaiser und überlasse ihm 12.000 Soldaten. Im Kriegsfall befürchtete der Primas, dass der polnische König mit dem preußischen König gegen die Freiheit der Republik Polen agieren könnte.964 Diese Sorge schien durch die im Vergleich zu seinen Nachbarn schwache polnische Armee hervorgerufen worden zu sein.965 Die Gefahr der außenpolitischen Dominanz ebenso wie der Stärkung der Regierungsmacht zugunsten Augusts II.966 bedingte die Bewertung Annas in Warschau aus außenpolitischer Perspektive. In der Geheimkorrespondenz mit Prinz Eugen äußerte sich der kaiserliche Gesandte in Warschau ausführlicher zur Thronfolge Annas. Nachdem die Fürsten Dolgorukij und Golicyn der Zarin die einstimmige Wahl zur Nachfolgerin nach Mitau überbracht hätten, sei diese von ihnen gebeten worden, direkt mit nach Moskau zu reisen. Darüber informierte der russische Gesandte den polnischen Primas, der wiederum den russischen Gesandten beglückwünschte, da er mit der Zarin verwandt sei und das Haus Saltykov Anna zur Würde einer Zarin verholfen habe. Wilczek traf aufgrund von Einladungen an ihn und seine Ehefrau abermals mit dem Primas zusammen.967 Gegenüber dem kaiserlichen Residenten in Warschau ließ der Primas am 22. Februar vermelden, dass er Nachrichten aus Moskau habe, wonach die Herrschaft der neuen Zarin umgestaltet werde.968 Nach Meinung aller in Warschau anwesenden Senatoren sei die Wahl auf Anna gefallen, um die Regierung nach dem Vorbild Schwedens verändern und der Zarin Bedingungen vorschreiben zu können. Ihre Regierung
961 Michail Petrovič Bestužev-Rjumin (1688–1760) ist für das Jahr 1720 als russischer Resident in Großbritannien belegt. Ab 1726 bis 1730 gilt er als russischer Gesandter im Kurfürstentum Sachsen und im Königreich Polen. Ab 1730 bis 1732 war er als Gesandter am preußischen Hof tätig, ebenso in gleicher Funktion im Jahre 1744. Von 1731 bis 1741 war er Gesandter in Schweden, siehe Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 442 f. und S. 448 f. 962 Vgl. Wilczek an Kaiser Karl VI., Warschau, 22.02.1730, Polen II, Karton 5, Konvolut 1, fol. 63v. 963 Vgl. ebd., fol. 60r/v. 964 Vgl. ebd., fol. 60r und 63r. 965 Vgl. Roman Matuszewski: Die polnische Armee in den Jahren 1697–1763, in: Unter einer Krone. Kunst und Kultur der sächsisch-polnischen Union, hg. von Werner Schmidt, Leipzig 1997, S. 167 f., hier S. 167. 966 Vgl. Zernack, Polen und Rußland, S. 240–244. 967 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Warschau, 18.02.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 87r/88v. 968 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Warschau, 22.02.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 89v/90r.
Fazit
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sei dann nicht mehr absolut, sondern der Senat habe die Macht in der Regierung inne. Die polnischen Senatoren würden diese Veränderungen begrüßen, da dann von Russland weniger Gefahr ausgehe, als wenn die Zarin souverän herrsche.969 Relevanz besitzt diese Äußerung, weil der polnische Adel die eigenen Freiheiten nicht als Vorbild für die Veränderungen in Russland anführte, sondern auf das Vorbild Schwedens verwies. Nach den großen Verwüstungen und hohen Bevölkerungsverlusten durch den Großen Nordischen Krieg sowie durch die Pest war der polnische Adel eher pazifistisch eingestellt.970 Zudem habe der kaiserliche Gesandte Seckendorff Wilczek aus Berlin geschrieben, da der preußische König eine Veränderung der Regierung Zarin Annas vermute und wissen wolle, was die Senatoren über diese Veränderung dachten.971 Der sporadisch tagende polnische Senat hatte im Vergleich zum regelmäßig zusammentretenden sächsischen Geheimen Rat deutlich geringere Einflussmöglichkeiten auf den König. Die außenpolitischen Entscheidungen Polens wurden ebenfalls im sächsischen Geheimen Rat getroffen und von den sächsischen Diplomaten vertreten, obwohl dies beides formal nicht zulässig war. De jure hatte der polnische Senat über die Außenpolitik Polens zu bestimmen; de facto waren Handlungsspielräume erheblich eingeschränkt und bezogen sich in diplomatischen Angelegenheiten lediglich auf die in der polnischen Republik anwesenden diplomatischen Akteure.972
3.3 Fazit Die Wahl Annas stieß auf große Zustimmung im Obersten Geheimen Rat und bei den wichtigsten russischen Adligen. Der Rat setzte sich bereits mit der Nachfolge auseinander, als der unerwartete Tod Zar Peters II. unausweichlich schien, bevor die Gesandten dies registrieren konnten. Daher konnte dieses Gremium ausgesprochen schnell agieren und Anna bereits am Morgen des 30. Januar 1730 zur Zarin wählen. Die schnelle Einigung aller wichtigen Entscheidungsträger in Moskau und die rasche Veröffentlichung der Designation Annas beschränkte die Einflussmöglichkeiten anderer Akteure erheblich. Nachdem die Diplomaten gewaltsame Auseinandersetzungen in Moskau zwischen den mächtigsten Familien – den Dolgorukij und den Golicyn – befürchtet und vor dem Tod Peters II. noch vielfältige Optionen für die Thronfolge debattiert hatten, stellte keiner ernsthaft die Wahl Annas infrage, 969 Vgl. ebd., fol. 89r/90r. 970 Vgl. Mariusz Markiewicz: The Functioning of the Monarchy during the Reigns of the Electors of Saxony, 1697–1763, in: The Polish-Lithuanian Monarchy in European Context. C. 1500–1795, hg. von Richard Butterwick, Basingstoke 2001, S. 172–192, hier S. 181 f. 971 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Warschau, 22.02.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 90r. 972 Vgl. Gierowski, Ein Herrscher – Zwei Staaten, S. 139 f. Markiewicz, Politische Institutionen und Prozeduren der sächsisch-polnischen Personalunion, S. 52 f. Adam Perłakowski: Staats- und verwaltungsrechtliche Aspekte der Union aus polnischer Sicht, in: Zwei Staaten, eine Krone. Die polnisch-sächsische Union 1697–1763, hg. von Frank-Lothar Kroll und Hendrik Thoß, Berlin 2016, S. 93–104, hier S. 100 f.
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Nachfolgedebatte, Designation und Beurteilung Annas
sondern sie vermeldeten ihre Thronfolge umgehend an die europäischen Höfe. Die im Vorfeld des Todes Peters II. vielfach an die anderen europäischen Höfe gesandten Möglichkeiten einer Thronfolge entfalteten mitunter dort dennoch ihre Wirkmächtigkeit, auch wenn sie zumeist auf Spekulationen und eigenen Wertvorstellungen beruhten. Die europäische Anerkennung Annas war durch die gesamteuropäischen Bündniskonstellationen begünstigt, sodass ihre Nachfolge nicht angefochten wurde. Ihr Geschlecht wurde in Moskau – soweit dies diplomatische Relationen offenlegen – nur in sehr geringem Maße von den Gesandten und von den russischen Entscheidungsträgern thematisiert. Das Geschlecht Zarin Katharinas I. war von Feofan Prokopovič ebenfalls nicht als hinderlich für ihre Herrschaftsausübung angesehen worden.973 Auch andere russische Adlige kritisierten die Herrschaftsausübung von Herrscherinnen aufgrund ihres Geschlechts nicht. Dies mag möglicherweise daran gelegen haben, dass die Zarinnen des 18. Jahrhunderts die grundsätzlich männlich dominierten Machtstrukturen nicht antasteten.974 Die Zuschreibung von männlichen Attributen und die Unterstützung von männlichen Ratgebern widersprach dieser Sichtweise keinesfalls. Andere Autoren wiederum sahen eben gerade in der weiblichen Thronfolge den Grund für die Einschränkung der Herrschaft.975 An den übrigen europäischen Höfen wurde Annas Geschlecht intensiver thematisiert – insbesondere im Hinblick auf Alter und Gebärfähigkeit. Die damit verbundene Heiratsfähigkeit als mögliche Option der Einflussnahme wurde erkannt. Auch die Diskussionen der russischen Entscheidungsgremien zeigen, dass die Vorstellungen, inwieweit Anna ihre Herrschaft selbst ausüben oder dies durch die von Männern besetzten Gremien erfolgen werde, unterschiedlich waren. Wer möglicher Ehemann der Zarin werden könne oder solle, war daher von großem Interesse. Heiratspolitik galt als Element der Machtpolitik am Moskauer Hof. Die synonym verwendeten Termini Zarin und Regentin in allen diplomatischen Relationen sind ein Beleg dafür, dass unklar war, ob Anna selbstständig regieren werde. Das Hauptinteresse Wiens war Stabilität und die Beibehaltung der Machtposition Ostermanns, der als Garant des Bündnisses galt. Der Kaiserhof befürwortete die Wahl Annas, da sie eine Weiterführung der russischen Bündnisse mit dem Kaiser und Preußen zu garantieren schien. Annas Gebärfähigkeit war ein wichtiger Aspekt für den Kaiserhof. Obwohl eine Thronfolge Elisabeths oder Karl Peter Ulrichs als legitim angesehen worden war, bevorzugte Wien Anna als Zarin. Das Übergehen Katharinas von Mecklenburg nahm Wien nur allzu gern hin. Preußen als Verbündeter des Kaisers unterstützte die Wiener Position. Russland hatte dem Kaiser kurz vor dem Tod Peters II. die Absendung von 30.000 Soldaten als Militärhilfe zugesagt. Ein Versprechen, das erneut unsicher war. Ein möglicher Kriegsausbruch mit Spanien, das mit Frankreich und England-Hannover verbündet war, war ein bedeutender Faktor für den Kaiser und Preußen, die Wahl Annas nicht infrage zu stellen. Während die Alliierten Russlands das Zarenreich so stabil wie möglich halten wollten, versuchten Frankreich und vor allem der 973 Vgl. Hughes, Catherine I of Russia, Consort to Peter the Great, S. 151. Evgenij Viktorovič Anisimov, Ženščuny u vlasti v XVIII v. kak problema, http://www.perspectivia.net/publikationen/vortraege-moskau/anisimov_herrschaft, 17.09.2020. 974 Vgl. Hughes, The Romanovs, S. 83 f. 975 Vgl. Ransel, The Government of Crisis of 1730, S. 60. Whittaker, Russian Monarchy, S. 64.
Fazit
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spanische Gesandte in Moskau, de Liria, in ganz Europa Nachrichten über die Schwäche der gegnerischen Allianz zu verbreiten. 1730 schien ein Rückzug Russlands aus europäischen Angelegenheiten nicht nur in Frankreich möglich, was im französischen Interesse gewesen wäre, sondern auch der Kaiser hielt dies für eine reale Gefahr. Russland war ein zentraler Akteur – nicht nur für den Kaiser und Preußen, sondern in noch größerem Umfang für die kleineren, abhängigeren Herzogtümer Holstein und Mecklenburg. Die englischen Gesandten und der Londoner Hof hingegen maßen den Ereignissen nicht viel Bedeutung zu. Dies bestätigt die bereits geäußerte Ansicht, dass England glaubte, Russland sei nicht fähig, seine europäische Position zu behaupten.976 Die Frage, ob Annas Thronfolge eine rein russische Angelegenheit war, kann klar beantwortet werden. Eine unklare Situation in Russland oder eine lange Nachfolgekrise wollten wichtige europäische Akteure vermeiden, da das russische Militärpotenzial die Balance in Europa nachhaltig beeinflussen konnte. Die Legitimation einer weiblichen Nachfolge kann als Aushandlungsprozess beschrieben werden, keinesfalls aber als reine Willkür der Mächtigen. Die einzelnen Legitimationselemente der Thronprätendentinnen und des -prätendenten wurden durch die handelnden Akteure gegeneinander abgewogen und bewertet. Annas dynastische Legitimation, die Machtstrukturen am Moskauer Hof und in Europa sowie ihre Möglichkeit, noch zu heiraten und einen Thronfolger zu gebären, wirkten sich positiv auf ihre Designation aus. Aus der Thronfolgedebatte an den anderen europäischen Höfen ergibt sich, dass die spekulativen Äußerungen oftmals nicht die Gegebenheiten in Russland widerspiegelten, sondern vielmehr eigene Vorstellungen über Russland darstellten. Dies zeigt sich vor allem an den Stellen in den Relationen der Gesandten, an denen die Gesandten über wenig Wissen verfügten und Gerüchte vermeldeten. Ebendiese Antizipationen von Ereignissen – beispielsweise am Wiener Hof – zeigen die Vorstellungswelten der diplomatischen und höfischen Akteure auf. Oftmals hatten diese Vorstellungen wenig mit der aktuellen Lage zu tun. Dies kann beispielsweise durch angebliche Proteste gegen die erwählte Zarin verdeutlicht werden. Die Reaktionen europäischer Gesandter, die keine direkten Verbindungen an den Moskauer Hof hatten, zeigen diese Vorstellungswelten zum Teil noch deutlicher. Je weniger Informationen sie hatten, desto mehr griffen sie auf eigene Wertvorstellungen oder Gerüchte zurück.
976 Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 264–368.
4. Die Beschränkung Macht der Zarin – Gerüchte, Vorstellungen, Vorbilder Die Ausarbeitung der machtbeschränkenden Konditionen erfolgte während des Interregnums unzweifelhaft aus dem Machtzentrum des Russischen Reiches, dem Obersten Geheimen Rat, heraus.977 Eine aus drei Personen bestehende Delegation des Rates überbrachte der designierten Zarin die Mitteilung dieser Machteinschränkung nach Mitau, die Anna umgehend unterschrieb. Michail Ivanovič Leont’ev brachte die unterschriebenen Konditionen nach Moskau zurück, sodass sie der Oberste Geheime Rat am nächsten Tag, am 13. Februar, den Mitgliedern der höchsten Staatsorgane bekannt geben konnte.978 Wie war es aber den Diplomaten möglich, noch vor Veröffentlichung der Konditionen deren Inhalt in Erfahrung zu bringen? Veränderte sich die Berichterstattung nach deren Veröffentlichung, und ab wann waren die Konditionen tatsächlich öffentlich bekannt? In der Historiografie wurde gerade aus den Gesandtschaftsberichten als Quellen eine weitreichende Partizipation des Adels abgeleitet, oftmals wurde sogar von einem Plan zur Umgestaltung des Russländischen Reiches hin zu einer konstitutionellen Monarchie ausgegangen. Diese Deutungen finden bis heute Eingang in wissenschaftliche Darstellungen,979 obwohl sie inzwischen wissenschaftlich widerlegt sind und seit Langem überdies Zweifel an der Tauglichkeit der Relationen für die Rekonstruktion der Machtbeschränkung gehegt wurden.980 Warum die diplomatischen Berichte nicht zur Klärung dieser Fragen geeignet sind, gilt es auf Grundlage ungekürzter Gesandtschaftsberichte und unter Hinzunahme der bisher unberücksichtigten holsteinischen und mecklenburgischen Berichte zu erklären und ergänzen. Es ist zudem zu erörtern, ob es eine Befürwortung der Machtbeschränkung speziell in England und im Königreich Polen gab, da dort der Adel über institutionalisierte Mitgestaltungsrechte verfügte. Außerdem ist zu prüfen, ob die europäischen Bündniskonstellationen die Bewertung der Regierungsform durch die Gesandten beeinflussten. Fraglich ist außerdem, wie die Diplomaten zu der nachweislich widerlegbaren Auffassung gelangten,981 dass die Umgestaltung der russischen Regierungsform dazu führe, dass diese der polnischen, englischen oder schwedischen Regierungsform entspräche. 977 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 31. 978 Vgl. ebd., S. 39. Aus dem edierten Protokoll der offiziellen Verkündung der Konditionen durch den Obersten Geheimen Rat an die Mitglieder der höchsten Staatsorgane gehen diese durch ihre geleisteten Unterschriften namentlich hervor. Siehe dazu ediert: Protokol ob oficial’nom oglašenii „kondicij“ Verchovnym tajnym covetom pred vysšimi činami (04.01.1730Jul), in: ebd., S. 123–136. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 141. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 29. 979 Donnert, Das russische Zarenreich, S. 150. Whittaker, Russian Monarchy, S. 72. 980 Vgl. Protasov, Suščestvobal li političeskij plan D.M. Golicyna?, S. 97–107. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 162–183. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 219. 981 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 35 f.
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Die Beschränkung Macht der Zarin – Gerüchte, Vorstellungen, Vorbilder
4.1 Die Konditionen des Obersten Geheimen Rates Die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates verkündeten zwar die Wahl Annas, die auf Zustimmung stieß, erwähnten aber die an sie abgesandten Konditionen zunächst nicht.982 Auf Grundlage der neuedierten Schriftstücke des Rates kamen die Historiker Kurukin und Plotnikov zu der Schlussfolgerung, dass dessen Mitglieder Anna über die Initiatoren der Konditionen täuschen wollten, indem sie ihr eine größere Anzahl an Unterstützern suggerierten.983 Aus dem Protokoll der betreffenden Sitzung des Rates geht hervor, dass die Entscheidung zur Thronfolge durch dessen Mitglieder, die Generalfeldmarschälle, den Synod und die Generalität erfolgte.984 Die Konditionen selbst hingegen verfassten in einer weiteren Sitzung allein die Mitglieder des Obersten Geheimen Rats. Dieser eingeschränkte Kreis als alleiniger Initiator geht aus dem Entwurf eines Briefes an Anna hervor.985 An der Ausarbeitung der Konditionen waren vor allem Dmitrij Michajlovič Golicyn und Vasilij Lukič Dolgorukij maßgeblich beteiligt.986 Letzterer artikulierte zwar Zweifel an der Durchsetzbarkeit der Konditionen, stimmte diesen aber letztendlich zu.987 Um die Legitimationsgrundlage der Konditionen gegenüber der designierten Zarin größer erscheinen zu lassen, wurde die Reinschrift des Briefes im Vergleich zum Entwurf verändert. In der an Anna nach Mitau übermittelten Reinschrift hieß es letztendlich, ihr hätten geistliche und weltliche Personen den Thron und die Konditionen angetragen. Der Teilnehmerkreis dieser Versammlung war daher bewusst deutungsoffen formuliert und nicht spezifiziert.988 Diese Vortäuschung der Zustimmung des Adels zur Souveränitätsbeschränkung war für den Obersten Geheimen Rat wichtig: Aus den Schriften Feofan Prokopovičs geht die ideengeschichtliche Konstruktion hervor, das Volk (narod) habe bei der Zustimmung zur Monarchie auf seine Souveränität verzichtet. Dennoch fiel die auf den Herrscher übertragene Souveränität des Volkes im Moment des Todes des Monarchen ohne Testament an dieses zurück. Daher wurde dessen Zustimmung zur Veränderung der Regierungsform als notwendig erachtet – und die Verchovniki täuschten diese gegenüber Anna vor. Es gilt als belegt, dass das ursprünglich undatierte Protokoll des Obersten Geheimen Rates vom 19. Januar 1730, 982 Vgl. ebd., S. 32. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 24. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 33. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 94. Ključevskij, Kurs russkoj istorii, S. 355. Daniels führt fälschlicherweise aus, dass Golicyn auf dieser Veranstaltung bereits die Konditionen verkündet hätte, siehe Daniels, V.N. Tatishchev and the Succession Crisis of 1730, S. 551. 983 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 34. 984 Siehe dazu ediert: Protokol zasedanij Verchovnogo tajnogo soveta, soderžaščij rešenie ob izobranii na rossijskij prestol carevny Anny Ivanovny i utverždennyj verchovnikami tekst pred‘javljaemych ej „kondicij“ (19.01.1730Jul), in: ebd., S. 118–120. 985 Dieses Schriftstück wurde von Kurukin und Plotnikov nicht ediert, zitiert nach: ebd., S. 33. 986 Vgl. ebd., S. 32. 987 Vgl. ebd., S. 32. Vgl. Anisimov, Frauen, S. 76. 988 Siehe dazu ediert: Pis’mo Verchovnogo tajnogo soveta Anne Ioannovne s izveščeniem ob izbranii ee na prestol (19.01.1730 Jul), in: ebd., S. 121.
Die Konditionen des Obersten Geheimen Rates
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in dem die Konditionen vermerkt sind, nur Gavrijl Ivanovič Golovkin, Dmitrij Michajlovič Golicyn, Michail Michajlovič Golicyn, Vasilij Vladimirovič Dolgorukij und Michail Vladimirovič Dolgorukij unterschrieben. Vasilij Lukič Dolgorukij unterzeichnete das Schriftstück nicht, da er es der Zarin persönlich überbrachte. Aleksej Grigor’evič Dolgorukij und Heinrich Johann Friedrich Ostermann waren bei der Niederschrift der Konditionen im Journal des Obersten Geheimen Rates nicht anwesend, unterzeichneten die Konditionen daher erst später.989 Der Inhalt der Konditionen, an die die Thronfolge Annas geknüpft war, geht aus dem Sitzungsprotokoll des Rates hervor: Danach habe Anna den orthodoxen Glauben zu stärken. Zudem dürfe sie weder selbstbestimmt heiraten noch selbstständig einen Erben für den russischen Thron bestimmen. Die Zarin habe den Bestand des achtköpfigen Obersten Geheimen Rates zu gewährleisten. Diesen Einschränkungen waren acht Konditionen angefügt, die für die Herrschaft Annas konstitutiv sein sollten. Sie umfassten, dass die künftige Zarin ohne Zustimmung des Rates weder Krieg erklären (1) noch Frieden schließen dürfe (2). Nur im Einvernehmen mit den Verchovniki könne sie neue Steuern von ihren Untertanen erheben (3) oder zivile oder militärische Ränge oberhalb des Obersts ernennen. Die Garde und andere Regimenter sollten zukünftig dem Obersten Geheimen Rat unmittelbar unterstehen (4). Ohne Gerichtsurteil dürfe die Zarin den Mitgliedern des Adels weder ihr Leben noch ihren Besitz oder ihre Ehre nehmen (5). Sie dürfe ohne den Obersten Geheimen Rat weder Güter noch Dörfer vergeben (6) oder Hofämter an Russen oder an Ausländer verleihen (7). Ebenso müsse die Aufstellung des Staatshaushaltes in Übereinstimmung mit dem Obersten Geheimen Rat erfolgen (8). Falls sie diese Bestimmungen nicht erfülle, solle sie die russische Krone verlieren.990
Erste Meldungen über die Einschränkung der Zarenmacht Welche Informationen konnten die Gesandten bis zur Bekanntmachung der Machtbeschränkung über diese erhalten? Die Berichte J.C.D. Ostermanns über die Konditionen sind nicht ausführlich. Der mecklenburgische Gesandte berichtete bis nach der Veröffentlichung nichts über die Konditionen und verfasste nach dem 2. Februar vierzehn Tagen lang keine Relation. Obwohl er seine Informationen durch die Herzogin von Mecklenburg, die Schwester Annas, erhielt,991 berichtete er erstmalig am 16. Februar 1730 über mögliche Machteinschränkun-
989 Siehe dazu ediert: Žurnal zasedanij [ja SIC!] Verchovnogo tajnogo soveta (19.01.1730 Jul), in: ebd., S. 118–120. 990 Siehe dazu ediert: Protokol zasedanij Verchovnogo tajnogo soveta, soderžaščij rešenie ob izobranii na rossijskij prestol carevny Anny Ivanovny i utverždennyj verchovnikami tekst pred‘javljaemych ej „kondicij“ (19.01.1730Jul), in: ebd., S. 118–120. Der Inhalt der Konditionen bei Daniels ist falsch angegeben, siehe Daniels, V.N. Tatishchev and the Succession Crisis of 1730, S. 551. 991 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 264v/265v.
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Die Beschränkung Macht der Zarin – Gerüchte, Vorstellungen, Vorbilder
gen, ohne aber auf deren Inhalt einzugehen.992 Er bestätigte lediglich, dass eine Deputation auf dem Weg nach Mitau sei, um Anna die Zarenkrone anzutragen. Diese bestehe aus Vasilij Lukič Dolgorukij für den Senat, Michail Michajlovič Golicyn für den Obersten Geheimen Rat und Generalmajor Michail Ivanovič Leont’ev für die Generalität. Es bestehe Hoffnung, dass Anna in drei Wochen in Moskau ankomme. Der Treueeid gegenüber der Zarin werde erst nach deren Ankunft in Moskau abgelegt.993 J.C.D. Ostermann war der einzige diplomatische Vertreter in Moskau, der keine Berichte über die Konditionen übersandte. Ein derart geringer Informationsstand J.C.D. Ostermanns erscheint im Vergleich mit seinen Kollegen als wenig glaubhaft, da alle – ungeachtet ihres diplomatischen Ranges – ausführlich über die Machtbeschränkungen spekulierten und berichteten. Zumindest Gerüchte über die Konditionen waren den Diplomaten und dem russischen Adel bekannt, obwohl die Verchovniki deren Veröffentlichung zurückhielten.994 Geheim vermeldete J.C.D. Ostermann an Wratislaw am 13. Februar im Namen seines kranken Bruders, dass die Bereitstellung der Truppen für den Kaiser im Obersten Geheimen Rat unterschrieben sei.995 Damit ergriff er Partei für seinen Bruder, mithin für den Kaiser und wandte sich gegen die Interessen des mecklenburgischen Herzogs. Demnach muss es folgerichtig gewesen sein, dass J.C.D. Ostermann sein Wissen – möglicherweise auch über die Konditionen – gegenüber dem Herzog von Mecklenburg bewusst zurückhielt, da seine Loyalität – wie bereits ausgeführt – augenscheinlich gespalten war. Nur durch eine synchrone Analyse gesandtschaftlichen Schriftguts konnte diese Erkenntnis gewonnen werden. Die Zusammensetzung der nach Mitau gesandten Delegation war anfänglich ungewiss. Der sächsisch-polnische und der preußische Gesandte vermeldeten in ersten Berichten lediglich, dass ein Kurier zu Anna abgesandt worden wäre.996 Der kaiserliche Gesandte berichtete, dass diese nur aus Vasilij Lukič Dolgorukij und einem Sohn des Großkanzlers Gavrijl Ivanovič Golovkin bestünde.997 Magnan glaubte sogar, dass der Deputation ein kirchlicher Vertreter angehören würde.998 Die diplomatischen Vertreter mussten ihre Meldungen in den
992 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 05.02.1730 a.St. [16.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 269r/270r. 993 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 264r/265v. 994 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 32. 995 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 13.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 107r. 996 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 31.01.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 33v. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 30.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 18r. 997 Vgl. Wratislaw an Hofkanzler Sinzendorf, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 53r. 998 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 02.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 37r (chiffriert).
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folgenden Tagen korrigieren.999 Die Deputation bestand unzweifelhaft aus Vasilij Lukič Dolgorukij, Michail Michajlovič Golicyn und Michail Ivanovič Leont’ev.1000 Ob diese Delegation der zukünftigen Zarin als Voraussetzung für die Thronannahme souveränitätsbeschränkende Konditionen vorlegen sollte, darüber mutmaßten einzelne Gesandte bereits am Todestag Peters II. Die Übermittlung des Inhalts dieser machtbeschränkenden Bestimmungen stellte für alle Gesandten – außer dem mecklenburgischen – einen wichtigen Teil ihrer diplomatischen Tätigkeit dar. Dies war aber wegen der Geheimhaltung durch die Verchovniki behindert, wie die Diplomaten immer wieder expressis verbis beklagten. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Beobachtungen des preußischen Gesandten Mardefeld vom 30. Januar und 2. Februar 1730. Während seine Mutmaßung, dass die Wahl Annas zwischen Ostermann und Golicyn unter der Bedingung der Souveränitätsbeschränkung geheim abgesprochen sei,1001 keine Bestätigung fand, konkretisierte er zwei Tage später, dass ein Schriftstück zur Machtbegrenzung Annas verfasst worden sei. Dabei handele es sich um das Versprechen der Zarin, ohne Zustimmung des Obersten Geheimen Rates weder zu heiraten noch einen Nachfolger zu benennen. Ferner dürfe sie keinen Offizier weiter als bis zum Oberst befördern. Ämter ab dem Generalmajor bis zum Feldmarschall solle allein der Rat vergeben dürfen.1002 Diese Bestimmungen seien bereits vom Großkanzler Golovkin, Dmitrij Golicyn und den beiden Feldmarschällen Dmitrij Michajlovič Golicyn und Vasilij Vladimirovič Dolgorukij unterzeichnet worden. Ostermann, Vasilij Lukič Dolgorukij sowie der ehemalige Brautvater, Aleksej Grigor’evič Dolgorukij, und der Feldmarschall Nikita Jur’evič hingegen hätten das Schriftstück nicht unterschrieben. Ostermann habe seine Unterschrift unter dem Vorwand einer Erkrankung verweigert. Obwohl bei ihm bereits ein Aderlass notwendig gewesen sei, hoffte Mardefeld, dass er sich nur aus politischen Gründen 999 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 264v/265r. Wratislaw an Prinz Eugen, Moskau, 30.01.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 55r. ebd., fol. 61/1r. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 68v. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 31r (chiffriert). Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. Tessin an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01./02.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1000 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 32. Siehe dazu ediert: Žurnal zasedanij [ja SIC!] Verchovnogo tajnogo soveta (19.01.1730Jul), in: Ebd., S. 150–152. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 174. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 32 f. Die Angabe Hildermeiers, dass es sich nur um eine Person aus der Familie Dolgorukij und eine aus der Familie Golicyn handeln würde, ist zu korrigieren, siehe Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 466. Fleischhacker nennt explizit nur Vasilij Lukič Dolgorukij als Deputierten, siehe Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 211 und S. 223. 1001 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 30.01.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 22v (chiffriert). 1002 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 25r (chiffriert).
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krank stelle und mit Ankunft der Zarin wieder genesen würde.1003 Im Vergleich zu den Konditionen und zu den Berichten der übrigen Diplomaten stimmten die Aussagen Mardefelds zwar nicht in allen Details, aber die Genauigkeit der Beschreibung der Machteinschränkung stellt eine Ausnahme dar.1004 Dabei ist aber zu beachten, dass er sich selbst nicht darüber im Klaren war, dass diese Informationen fast den Konditionen entsprachen; stattdessen stellte er weitere Spekulationen an. Ebenfalls am 30. Januar berichtete der englische Sekretär Rondeau trotz seines niedrigen diplomatischen Rangs bereits über Gerüchte, dass Anna die Krone nur unter Bedingungen angetragen werde: „I hear that the most considerable of the Russ Nobility are at work to alter the form of its Government, & its assur’d articles are drawn up to limit the power of the Empress, to which she must sign, or they will chuse an other.”1005
Die wiederholt erfolgte Informationsweitergabe de Lirias erscheint hierbei ursächlich für den Kenntnisstand Rondeaus. Der englische Generalkonsul Ward berichtete über mögliche Machtbeschränkungen im Gegensatz zu Rondeau nichts.1006 Tessin äußerte gegenüber Hofkanzler Stryk am gleichen Tage chiffriert, dass es Ostermann gesundheitlich schlecht gehe; „man glaubt aber, daß solches nur eine Staatskrankheit, umb an der neuen Regierungsform, woran anitzo gearbeitet wird, keinen theil zu nehmen.“1007 Le Fort, der drei Briefe unterschiedlichen Inhalts an diesem Tag versandte, ging ebenso auf die Krankheit Ostermanns, dessen Aderlass und schlechtes Befinden ein.1008 Dass Ostermann sich unter einer vorgetäuschten Krankheit den politischen Vorgängen entzog, war den Diplomaten zu diesem Zeitpunkt keinesfalls entgangen. Trotz kursierender Gerüchte über geplante Souveränitätsbeschränkungen zweifelte Mardefeld nicht daran, dass Anna die Krone annehmen werde. Diese Machtbeschränkungen könnten zu einem späteren Zeitpunkt verändert oder aufgehoben werden, insbesondere wenn sie Ostermann ihr Vertrauen schenke.1009 Mardefeld betonte damit, dass Ostermann ein Gegner der Machtbeschränkung sei und sich der neuen Zarin als loyal erweisen werde. Am 3. Februar 1730 konkretisierte der kaiserliche Gesandte Wratislaw, dass die Macht der zukünftigen Zarin durch Grundgesetze und die Etablierung eines Senats beschränkt werden 1003 Vgl. ebd., fol. 24v/25r (chiffriert). 1004 Vgl. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 178. 1005 Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 15v. 1006 Vgl. Ward an Secretary of State Townshend, Moskau, 19.01.1730 a.St. [30.01.1730], TNA, SP 91/11, fol. 19r/v. 1007 Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 22.01./02.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1008 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ), Moskau, 02.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 47r/v. 1009 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 31r (chiffriert).
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sollte. Er berief sich dabei auf eine nicht näher erläuterte geheime Nachricht. Nichtsdestotrotz zweifelte er ebenso wenig an einer Thronfolge Annas wie Mardefeld, obwohl der Eid der Treue bisher nicht auf ihren Namen abgelegt worden sei.1010 Wratislaw ergänzte die in Erfahrung gebrachten Gerüchte um die Interpretation Mardefelds, ohne diesen namentlich zu nennen: Ostermann habe sich der Machtbeschränkung Annas nicht entgegengestellt, um deren Thronfolge nicht zu erschweren. Er halte es aber für möglich, diese rückgängig zu machen. Wratislaw betonte sein Bemühen um Informationen über die neue Regierungsform und dass die bisherigen unklaren Meldungen einer Bestätigung bedürften.1011 Die Gesandten ließen die Empfänger ihrer Briefe wissen, dass die unklare und sich schnell verändernde Lage eine Berichterstattung mit gesicherten Informationen aktuell unmöglich machte. Auch der Legationssekretär der kaiserlichen Gesandtschaft, Hochholzer, vermutete eine Beschränkung der Macht der Zarin durch eine aristokratische Regierungsform, auf die schon seit Jahren viele nicht näher bestimmte einflussreiche Personen in Russland hingearbeitet hätten. Diese Veränderungen seien für die Stellung Ostermanns bei Hof nicht nachteilig. Damit erachtete Hochholzer eine personelle Kontinuität des Hofstaates für das Machtgefüge als wichtiger als etwaige Machtbeschränkungen der Zarin.1012 Die Bezeichnung der künftigen russischen Regierung als „aristokratisch“ ist dabei deutungsoffen. Dass diese Veränderungen für Ostermann nicht nachteilig seien, erscheint aber eher als Wunschvorstellung, da sich Hochholzer bewusst war, wie bedeutend Ostermann für das Erreichen der politischen Ziele Kaiser Karls VI. war. Der Hinweis Hochholzers, dass auf eine aristokratische Regierungsform bereits seit Langem hingearbeitet worden sei, ist wesentlich aufschlussreicher. Er war bereits seit 1721 in Petersburg und Moskau tätig und kann daher als Kenner der russischen Verhältnisse gelten. Der holsteinische Gesandte Bonde war über die möglichen politischen Veränderungen von einer Erb- zu einer Wahlmonarchie bestürzt.1013 Bonde habe nach dem Tod des Zaren verschiedene russische Adlige aufgesucht und dabei vernommen, dass die Generäle Michail Afanas’evič Matjuškin, Pavel Ivanovič Jagužinskij und Lev V. Izmajlov1014 darüber unzufrieden seien, dass die Souveränität der Zarin beschränkt und ihr eine konstitutionelle Regierungsform angetragen werden solle. Sie würden lieber ihr Leben riskieren, als sich dem vorherigen Joch der Familien Golicyn und Dolgorukij zu unterwerfen, zitiert er diese Gene-
1010 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 69r/70r. 1011 Vgl. ebd., fol. 73r–77/2v. 1012 Vgl. Hochholzer an Prinz Eugen, Moskau, 03.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, 59v–57r. 1013 Vgl. Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 08.01.1730 a.St. [19.01.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung. 1014 Da Bonde keinen Vornamen nennt, ist die Identität nicht zweifelsohne festzustellen, da es mehrere Personen dieses Nachnamens gibt. Siehe dazu: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 265. Es erscheint jedoch als sehr wahrscheinlich, dass es sich hierbei um Lev V. Izmajlov handelt. Siehe dazu ediert: Iz pokazanij S.G. Dolgorukogo (06.11.1739 Jul), in: ebd., S. 186 f.
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räle.1015 Somit nahm Bonde an, dass diese Generäle die vom Rat geplante Machtbeschränkung ablehnten, da diese die Macht der bisher regierenden Familien Golicyn und Dolgorukij stärkte. Die genannten Generäle verfügten aufgrund ihres Ranges über die Kenntnis, dass Anna unter Bedingungen zur Zarin gewählt wurde.1016 Vasilij Lukič Dolgorukij und Sergej Grigor’evič Dolgorukij berichteten 1739 gemäß ihren Verhörprotokollen, nachdem sie durch Anna wegen der Vorgänge 1730 angeklagt worden waren, dass Jagužinskij sich am 30. Januar 1730 aktiv an einer Machtbeschränkung beteiligen wollte. Da er vom Obersten Geheimen Rat, dem er nicht angehörte, nicht in dessen Vorhaben eingebunden wurde, habe er sich gegen dessen Plan gewandt. Der Rat habe seine Macht nicht mit ihm teilen wollen; daher habe Jagužinskij sich für eine unbeschränkte Herrschaft der Monarchin eingesetzt.1017 Unter anderem habe sich auch Lev V. Izmajlov verärgert gezeigt, dass der Rat ihm die Mitarbeit verweigert habe.1018 Somit erscheinen diese Ausführungen Bondes glaubhaft. Der holsteinische Gesandte nannte zu diesem Zeitpunkt als Einziger seine Informanten namentlich, erhielt aber von diesen keine genauen Informationen über die vorgesehene Machtbeschränkung, da diese geheim ausgearbeitete wurde. Die neue Regierungsform verminderte Bondes Hoffnung, dass der junge holsteinische Prinz Karl Peter Ulrich Chancen auf den Thron habe.1019 Der noch nicht so lange in Moskau weilende holsteinische Gesandte Tessin, der mit den russischen Adligen nicht so vertraut war, vermeldete hingegen, dass bis zur Ankunft der Zarin an einer neuen Regierungsform nach schwedischem Vorbild zur Beschränkung der bisher umfassenden Macht der Zaren gearbeitet worden sei.1020 Ob eine derartige Regierungsform „bey der hiesigen Nation mit gleichem Succés wie anderswo werde eingeführet und maintenieret werden können muß die Zeit lehren“,1021 so seine kritische Bemerkung. Bonde und er standen Veränderungen ablehnend gegenüber, da über die Finanzen Russlands bis zur Etablierung der neuen Regierungsform nicht zu verfügen sei. Tessin verwies abermals auf die Unvorhersehbarkeit der Entwicklungen.1022 Die Machteinschränkung bewertete er negativ, da sie die 1015 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. 1016 Siehe dazu ediert: Protokol zasedanij Verchovnogo tajnogo soveta, soderžaščij rešenie ob izobranii na rossijskij prestol carevny Anny Ivanovny i utverždennyj verchovnikami tekst pred‘javljaemych ej „kondicij“ (19.01.1730Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 118–120. 1017 Vgl. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 174. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 33. Siehe dazu ediert: Iz pokazanij V. L. Dolgorukogo (06.11.1739 Jul), in: ebd. S. 184 f. Iz pokazanij S.G. Dolgorukogo (06.11.1739 Jul), in: Ebd. S. 186 f. 1018 Vgl. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 174. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 33. Siehe dazu ediert: Iz pokazanij V. L. Dolgorukogo (06.11.1739 Jul), in: ebd. S.184–185. Iz pokazanij S.G. Dolgorukogo (06.11.1739 Jul), in: Ebd. S. 186 f. 1019 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. 1020 Vgl. Tessin an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01./02.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1021 Ebd. 1022 Vgl. ebd.
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Auszahlung der russischen Subsidien an Holstein erschwere. Tessin beklagte sich zunehmend über als problematisch wahrgenommene Veränderungen: „Das gantze hiesige Systeme ist geendert, hingegen ist die neu zu introducirende regirungsformen noch nicht zu ihrer Substances gekomen, also daß man zur Zeit nicht weiß, wer Koch oder Kellner ist.“1023
Tessin beklagte – die Wertungen Bondes aufgreifend –, dass in Russland eine Wahlmonarchie eingeführt werde. Der Sichtweise Tessins, die auch Bonde teilte, lag die Einschätzung zugrunde, dass eine Thronfolge Karl Peter Ulrichs in einer Wahlmonarchie schwieriger durchzusetzen sei als in einer Erbmonarchie. Daher lag der Schwerpunkt der holsteinischen Berichterstattung auf der Abschaffung der Erbmonarchie und weniger auf der Einschränkung der Souveränität der Monarchin. Dass bereits Peter I. durch sein Thronfolgegesetz von 1722 das erbmonarchische Prinzip beschnitten hatte, fand dabei keinerlei Erwähnung. Falls die derzeitigen Vorstellungen über die Nachfolgeordnung sich änderten, so Tessin, und die Zarin Anna ohne Erben bliebe, gelte es, die entscheidenden Mitglieder des Moskauer Hofs für eine Thronfolge Karl Peter Ulrichs zu gewinnen, wofür Zeit und Geduld vonnöten seien.1024 Tessins und Bondes Berichte waren demnach unmissverständlich interessengeleitet. Rondeau, der aus England weiter reichende Rechte des Adels kannte, kam zu folgender Einschätzung: „If the Russ mind to make use of the present juncture, they may perhaps be so happy as to get themselves freed from their ancient Slavery.”1025 Ihm zufolge war der russische Adel zwar unter sich über die Ausgestaltung der Machtbeschränkung uneinig, er sah die Entwicklung aber unumkehrbar weit fortgeschritten.1026 Dass die Regierungsform verändert werden sollte, thematisierte auch Le Fort ab dem 2. Februar 1730. Die Wahl Annas sei unter restriktiven Konditionen erfolgt, die den russischen Despotismus beschneiden würden. Der Zarin sei es ohne Zustimmung des Obersten Geheimen Rates weder erlaubt zu heiraten, noch ihre Nachfolge selbstständig zu regeln. Diese Veränderung fuße auf drei möglichen Vorbildern: Sie erfolge nach englischem oder polnischem Vorbild oder Russland solle gänzlich zur Republik werden. Der russische Hochadel sei in jedem Fall gewillt, die Souveränität der Zarin zu beschränken.1027 Diese Einschätzung hatte Le Fort von de Liria übernommen, wobei diese in den Gesandtschaftsberichten genannten europäischen Vorbilder in der Historiografie die Vorstellung weckte, Golicyn habe einen Plan zu einer weitreichenden Veränderung des Staatsaufbaus verfolgt.1028 Auch Magnan 1023 Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.01./06.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1024 Vgl. ebd. 1025 Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 02.02.1730 a.St. [13.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 22v. 1026 Vgl. ebd., fol. 23r. 1027 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 02.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 41v/42r (chiffriert). 1028 Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung
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übernahm die verschiedenen Vorbilder von de Liria kritiklos in seine Berichte.1029 Der französische Chargé d’Affaires vermeldete am 30. Januar1030 und 2. Februar,1031 dass es Gerüchte gebe, die Zarin müsse machtbeschränkende Konditionen der russischen Stände akzeptieren. Ob dies nach dem Vorbild Englands oder Schwedens erfolge und welche genaue Form diese annehme, sei Magnan noch unbekannt. Er vermutete, dass die alten russischen Familien von der derzeitigen Lage profitieren wollten, um ihrem bisherigen Zustand, den er wörtlich als schreckliche Sklaverei beschrieb, zu entgehen. Es gehe darum, der Macht der Herrscherin Grenzen zu setzen. Der französische Vertreter kam zu dem harschen Urteil, dass der Hoch adel nicht mehr Privilegien habe als einfache Menschen, da er vor körperlicher Bestrafung und dem Verlust von Ämtern nicht geschützt sei. Falls der russische Adel die Veränderung nicht anstrebe, so fehle es ihm lediglich an Mut. Eine neue Regierungsform zu etablieren und die bisherige souveräne Herrschaft zu beschränken, wäre für das Ansehen der russischen Monarchie insbesondere dann nicht vorteilhaft, wenn ihr eine Frau vorstehe.1032 Wie bereits bei der Wahl Annas dargelegt, brachte Magnan gegenüber seinem Kollegen de Bussy in Wien bereits am 3. Februar die Einschränkung der Macht Annas mit ihrem Geschlecht in Zusammenhang. Hierbei nannte auch er nicht nur England und Schweden als Vorbilder, sondern fügte auch die Möglichkeit des Vorbildes Polen-Litauens oder gar eine Umgestaltung zur Republik hinzu. Dies sah er als zweckdienlich für die französischen Interessen an, da dadurch die russische Militärhilfe für den Kaiser unwahrscheinlicher würde.1033 Derartige Wertungen über den angeblichen sklavischen Adel waren vor allem von den Vertretern Englands und Frankreichs nicht wörtlich zu nehmen, sondern den außenpolitischen Interessen – einer außenpolitischen Schwächung Russlands – geschuldet.1034 Unzweifelhaft verfügte der russländische Adel nicht über verbriefte Rechte wie der Adel in anderen Teilen Europas. Magnan verwendete zudem den Terminus Stände in seinen Berichten.1035 Bisher wurde ein solcher Terminus nur als Unsicherheit über die handelnden Personen gewertet.1036 Dies könnte aber auch einen Hinweis auf die Übertragung eigener Rechtsvorstellungen aufgrund der Unkenntnis der russischen Lage sein. Bisher in der Historiografie unbemerkt blieb bei der Bewertung der Gesandtschaftsberichte, dass die wörtliche Charakterisierung des russischen Adels als Sklaven der zeitgenössischen europäischen Reiseliteratur und Publizistik, die diesen Topos verbreiteten, entlehnt ist.1037 Auch in diplomatischen
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der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 172 f. Protasov, Suščestvobal li političeskij plan D.M. Golicyna?, S. 105. Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 175. Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 30.01.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 30v (chiffriert). Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 02.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 36v (chiffriert). Vgl. ebd., fol. 37r/38v (chiffriert). Vgl. Magnan an de Bussy, Moskau, 03.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, 44r/45v. Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 76 f. Vgl. Gundula Helmert: Der Staatsbegriff im petrinischen Rußland, Berlin 1996, S. 57. Vgl. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 219. Vgl. Fissahn, Faszination und Erschrecken, S. 138.
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Berichten aus der Petrinischen Zeit lassen sich derartige Äußerungen finden.1038 Die Vorbereitung einer diplomatischen Mission bedurfte zumeist einer intensiven Vorbereitung auf die landestypischen Gegebenheiten, die beispielsweise der preußische Gesandte Mardefeld von seinem Vorgänger und Onkel, Gustav von Mardefeld, erhalten hatte.1039 Es muss hierbei beachtet werden, dass der Literatur, insbesondere den Lexika, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zumeist noch die sehr einflussreichen Autoren Olearius und Herberstein zugrunde lagen.1040 Auch die Fürstenerziehung beispielsweise des preußischen Königs Friedrich Wilhelms I. erfolgte anhand solcher Literatur.1041 Viele Werke über Russland wurden in verschiedene europäische Sprachen übersetzt und fanden so eine gesamteuropäische Verbreitung.1042 Daneben prägten auch die im 17. Jahrhundert verfassten englischsprachigen Werke Brief History of Muscovia (1682) John Miltons und Samuel Collins’ Present State of Russia die mitunter stereotypen Sichtweise der englischen Beurteilung Russlands.1043 Obwohl sich das Russlandbild seit Peter I. europaweit maßgeblich verändert hatte, blieben gewisse Negativstereotypen konstant.1044 Somit sind die getroffenen Wertungen Magnans als Topoi zu bezeichnen, die keinesfalls als adäquate Beschreibung des rechtlichen oder tatsächlichen Zustands des russländischen Adels verstanden werden dürfen, aber eben von diesen geprägt sind. Eine neutrale Wiedergabe, wie sie für Gesandtschaftsberichte mitunter beansprucht wird,1045 kann an diesen Beispielen nicht belegt werden. Die undifferenzierten Wertungen der diplomatischen Vertreter über den russischen Adel wurden mitunter unkritisch in die Forschungsliteratur übernommen.1046 Wratislaw vermeldete chiffriert, dass die Ausarbeitung der Regierungsform mit Sicherheit
1038 Vgl. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 131 f. 1039 Vgl. Krusche, Die Entstehung und Entwicklung der ständigen Vertretung Brandenburg-Preußens am Zarenhofe bis zum Eintritt Rußlands in die Reihe der europäischen Großmächte, S. 44. Sommerfeld, Axel von Mardefeld als Gesandter Friedrich Wilhelms I. am russischen Hofe (1728–1740), S. 4–10. Vergleiche dazu die Vorbereitungen des kaiserlichen Gesandten Grafen Stephan Kinskys als Vorbereitung seiner Gesandtschaft in Russland 1721: Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 151–154. 1040 Vgl. Hecker, Rußland und die deutsche Historiographie des 18. Jahrhunderts, S. 217. Zur Revision des Topos des sklavischen russischen Adels ausführlich Hartmut Rüß: Herren und Diener. Die soziale und politische Mentalität des russischen Adels 9.–17. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 1994, S. 472–474. 1041 Vgl. Korzun, Heinrich von Huyssen (1666–1739), S. 97. 1042 Vgl. Hecker, Rußland und die deutsche Historiographie des 18. Jahrhunderts, 227–228. 1043 Vgl. Anthony G. Cross: Anglo-Russica. Aspects of Cultural Relations between Great Britain and Russia in the Eighteenth and Early Nineteenth Centuries: Selected Essays, Oxford 1993, S. 1 f. 1044 Vgl. Matthes, Das veränderte Rußland und die unveränderten Züge des Russenbilds, S. 110–116. Cross, Anglo-Russica, S. 4–11. Für eine prägnante und überaus gelungene Darstellung des Wandels des Russlandbildes und die Besprechung einzelner Werke siehe Korzun, Heinrich von Huyssen (1666– 1739), S. 81–102. 1045 Vgl. Lorenz Erren, Tagungsbericht: Russland und der russische Hof aus der Sicht europäischer und osmanischer Diplomaten (1697–1762), https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3552, 17.09.2020. 1046 Vgl. Schneider, La cour de la Russie il y a cent ans 1725–1783, S. 15 f.
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durch einige „Magnaten“ limitiert werden sollte. Für eine konstitutionelle Einschränkung der Zarenmacht gebe es Unterstützer und Gegner; andere verhielten sich abwartend.1047 Mardefeld bemerkte dazu, es sei zwar typisch für ein Interregnum, dass alle politischen Angelegenheiten vorübergehend unbearbeitet blieben und die Mitglieder des Obersten Geheimen Rats, ausgenommen Heinrich Johann Friedrich Ostermann, „welcher vielleicht par politique betlägrig ist, täglich zusammen [kommen,] umb eine aristocratische regierungssform auszubrüten.“1048 Mardefeld war der Überzeugung, dass die Geistlichkeit und der niedere russische Adel gegen die Veränderung der Regierungsform wären, da sie „lieber von einem als von achten regiert werden“ wollen.1049 Wratislaw teilte die allgemeine Einschätzung, Ostermanns Krankheit sei nur vorgetäuscht.1050 Auch die holsteinischen Gesandten waren überzeugt, Ostermann stelle sich krank. Sie bemühten sich dennoch vergeblich um eine Audienz bei Ostermann. Jedes Mal, wenn Tessin und Bonde Ostermann aufsuchten, hätte er angeblich gerade Medizin genommen, die ihn am Sprechen hinderte.1051 Auch Mardefeld beschrieb, dass die holsteinischen Gesandten sich sehr ruhig verhielten, um den Befehl ihres Herzogs abzuwarten und um die neu gewählte Zarin nicht zu verärgern, da sie stets große Zuneigung für den Herzog und seine bereits verstorbene Ehefrau Anna Petrovna empfunden habe.1052 Mardefeld machte hingegen deutlich, dass er mit Ostermann gesprochen habe.1053 Aus einem Vergleich der Berichte zeigt sich, dass Ostermann zwar mit Mardefeld und geheim mit Wratislaw durch seinen Bruder J.C.D. Ostermann kommunizierte, für die Belange der holsteinischen Gesandten aber nicht zu sprechen war. Die Verwehrung einer Audienz konnte als politisches Instrument eingesetzt werden. Ebenso war es ein Zeichen an andere Gesandte, dass Ostermann den holsteinischen Anliegen keine Priorität zumaß – im Gegensatz zum Erhalt des Bündnisses mit Preußen und dem Kaiser. Le Fort vermeldete ebenfalls am 6. Februar, dass die Ausarbeitung einer Regierungsform durch den hohen Adel den niederen Adel in Aufregung versetzt hätte. Die Gefahr bestehe aber, dass sich der hohe Adel sukzessive mehr Macht aneigne, sodass in Zukunft nicht wie bisher eine Zarin, sondern jedes Mitglied des Rates über den kleinen Adel wie ein Tyrann herrschen würde. Laut Le Fort würde der niedere Adel durch diese Demütigungen noch mehr zu deren Sklaven gemacht werden als bisher. Die vorgebrachten Einwände seien, dass die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates selbst die Gesetze erließen, diese jedoch jederzeit brechen 1047 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 06.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 89r (chiffriert). 1048 Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 06.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 44v (chiffriert). 1049 Vgl. ebd., fol. 44v (chiffriert). 1050 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 06.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 89r/v (chiffriert). 1051 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 29.01./09.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1052 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 06.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 45r (chiffriert). 1053 Vgl. ebd., fol. 48r.
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und Russland schweren Schaden zufügen könnten. Dies zeige das derzeitige Verhalten Aleksej Grigor’evič Dolgorukijs und dessen Sohns Ivan, die Le Fort sogar zur Nemesis stilisierte.1054 In seiner nächsten Relation beurteilte Le Fort die Umgestaltung der Regierungsform erneut kritisch, da diese für den niederen Adel keine Recht festschreibe, die Macht des Obersten Geheimen Rates beschränken zu können. Daher wünsche der niedere Adel keine Veränderungen; die Zarin könne sich daher auf ihn verlassen und werde nach der Thronbesteigung die Macht des Rates wieder beschränken. Le Fort betonte, dass die Souveränität der Zarin Machtmissbräuche des Favoriten gegenüber der russischen Nation unterbinden könne. Der Vorschlag der Machtbeschränkung sei so weitreichend, dass nicht näher genannte Personen dessen Mehrheitsfähigkeit innerhalb des Adels bezweifelten. Le Fort war der Auffassung, dass die neue Zarin zwar den Konditionen zustimmen, sich aber nicht an sie gebunden fühlen werde. Die Spekulationen des niederen und hohen Adels darüber gingen ins Unendliche. Der hohe Adel versuche, sich die Souveränität unter dem Vorzeichen der Aristokratie zu sichern. Wie unverlässlich diese Meldungen an den sächsischen Hof waren, wird in diesem Bericht Le Forts sehr deutlich.1055 Die ungebührliche Aneignung der Macht durch den hohen Adel unterstrich Le Fort mit der Behauptung, dass der als eitel beschriebene Aleksej Dolgorukij dem Obersten Geheimen Rat angehören wolle. Jedoch hätten andere Mitglieder des Rates diesen verlassen, als Aleksej eingetreten wäre.1056 Eine Anwesenheit Aleksej Dolgorukijs im Obersten Geheimen Rat ist nicht zu belegen,1057 weswegen Le Forts Behauptung als Gerücht einzustufen ist. Am nächsten Posttag, dem 13. Februar, finden sich ähnliche Ausführungen bei Magnan, die offenbar auf Le Fort zurückgehen, ohne dass dieser als Informant namentlich genannt wurde. Magnan wiederholte demnach, dass einige niedere Adlige den Neuerungen kritisch gegenüberstünden, da sie von einer Reform der Regierung nicht profitieren würden. Er folgerte daraus, dass es zu Auseinandersetzungen zwischen dem niederen und dem hohen Adel kommen werde, da die Umgestaltung der Regierung nach den Plänen Golicyns durch verschiedene sich bildende Adelsfraktionen infrage gestellt würde.1058 Zudem behauptete Magnan, dass unter diesen Gruppierungen auch Geistliche wären, die Golicyn von der Wahl der neuen Zarin ausgeschlossen habe, da sie seinerzeit Katharina I. trotz ihrer ausländischen Herkunft unter dem Vorwand der legitimen Nachfolge auf den Thron verholfen hätten. Die Etablierung einer neuen Regierungsform werde entweder aufgegeben oder Unruhen hervorrufen, so seine Prognose.1059
1054 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 06.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 54v/55r (chiffriert). 1055 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 09.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 59r (chiffriert). 1056 Vgl. ebd., fol. 59v/60v (chiffriert). 1057 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 152–154. 1058 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 13.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 63r/64r (chiffriert). 1059 Vgl. ebd., fol. 64r (chiffriert).
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Zuvor hatte Magnan Gerüchte wiederholt, dass Annas Macht sich stark von ihren Vorgängern durch die ihr vorgetragenen Konditionen unterscheiden würde. Verlässliche Vorstellungen über die geplante Regierungsform zu erhalten sei unmöglich, da der russische Hochadel zwar beständig daran arbeitete, sich über die Ausgestaltung aber nicht einig werde. Magnan resignierte, weil jede Person, mit der er sich unterhalte, derzeit eine andere Meinung äußere. Nach der Einschätzung einiger werde die ganze Souveränität beim Obersten Geheimen Rat liegen, der über die alleinige Kompetenz verfügen werde, über Staat und Militär zu bestimmen, während die Zarin nur den formalen Titel tragen werde. Andere wiederum gingen davon aus, dass eine derartige Regierungsform dem zahlreichen niederen Adel nicht nützlich sein könne, da sich daraus keine Schutzrechte für ihn ergeben würden. Aufgrund dieser unklaren Lage sei es notwendig, auf verlässliche Informationen zu warten.1060 Magnan behauptete, dass die Diplomaten benachbarter Staaten auf Russlands Schwächung abzielten.1061 Die genannten Ausführungen leitete Magnan unmittelbar an seinen diplomatischen Kollegen de Bussy nach Wien weiter. Zudem ließ er de Bussy wissen, dass der holsteinische Minister Bonde Protest eingelegt habe, um die von der Zarentochter Anna Petrovna abgeleiteten Thronrechte zu wahren, und dass die auf Elisabeth ruhenden Hoffnungen keine Aussicht auf Erfolg haben würden.1062 Diese Gerüchte wurden vor allem durch spanische Diplomaten gestreut und verbreiten sich in Europa. Auch Tessin wusste am 9. Februar 1730 zu berichten, dass an einer die Souveränität limitierenden Regierungsform gearbeitet werde. Einzelheiten seien aber noch unbekannt, da der Oberste Geheime Rat die Regierungsform unter strengster Geheimhaltung ausarbeite.1063 Mardefeld gab die Uneinigkeit des Rates bezüglich der Machtbeschränkungen wieder.1064 Nach und nach erkannten somit Wratislaw, Mardefeld und Tessin den Obersten Geheimen Rat als Initiator der Machtbeschränkung. Dass der Rat, wie bereits dargelegt, einheitlich für die Beschränkung der Macht gestimmt hatte, wurde hingegen nicht wahrgenommen. Daher ist die in den Gesandtschaftsberichten immer wieder betonte Trennlinie zwischen niederem und hohem Adel ebenso wie zwischen neuem und altem Adel unzutreffend und bedarf der Differenzierung.1065 Diese Konfliktlinien werden dennoch aus den Gesandtschaftsberichten unentwegt in die Literatur übernommen.1066 Der Topos der russischen Adligen als Sklaven 1060 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 06.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 49r/50r (chiffriert). 1061 Vgl. ebd., fol. 50r (chiffriert). 1062 Vgl. Magnan an de Bussy, Moskau, 06.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 52r-53r. 1063 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 29.01./09.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1064 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 06.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 44v (chiffriert). 1065 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 61–77, insbesondere S. 66. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 133–148. 1066 Vgl. Gudrun Ziegler: Das Geheimnis der Romanows. Geschichte und Vermächtnis der russischen Zaren, München 1995, S. 138. Barthold, Anna Ioannovna: Kabinett, Hof, Sitte und gesellschaftliche Bildung in Moskau und St. Petersburg, S. 231. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 34–48. Hildermeier,
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und der eines als tyrannisch charakterisierten Monarchen mischt sich mit der positiven zeitgenössischen Sichtweise auf die Despotie als Regierungsform, die Stabilität gewährleiste.1067 Dass die Gesandten vor allem Vorhersagen über den möglichen weiteren Verlauf zu treffen hatten, die sich nicht immer als zuverlässig erwiesen, kann insbesondere in Bezug auf die Umgestaltung der Regierungsform bestätigt werden.1068 Es handelt sich hierbei aufgrund der Geheimhaltung ausschließlich um Gerüchte, die mitunter durch Kollegen weitergegeben wurden. Die damit verbundene Unsicherheit der Aussagen betonten die Diplomaten ausdrücklich, um ihre jeweiligen Herrscher möglichst umfänglich zu informieren, sich aber dennoch gegen den allfälligen Vorwurf der Unzuverlässigkeit abzusichern.
Die Debatte um Europäische Vorbilder für die Machtbeschränkung Wie sind die bereits erörterten, von de Liria angestellten Vergleiche mit den Regierungsformen Englands, Polens oder einer republikanischen Staatsform in den Berichten Magnans und Le Forts zu bewerten, die auch in der neueren Forschung zur Betonung europäischer Vorbilder für allfällige Veränderungen der russischen Regierungsform führen?1069 Bei der Betrachtung der Machtbeschränkung der Monarchen in Schweden1070, Polen1071
1067
1068 1069 1070
1071
Geschichte Russlands, S. 468 f. Kusber, Die Autokratie, Wahl und Wahlkapitulationen im Russländischen Reich der frühen Neuzeit, S. 89. Madariaga, Portrait of an Eighteenth-Century Russian Statesman, S. 57–60. Daniels, V.N. Tatishchev and the Succession Crisis of 1730, S. 552–558. Donald Ostrowski: The Façade of Legitimacy. Exchange of Power and Authority in Early Modern Russia, in: CSSH 44, 2002, S. 534–563, hier S. 548f. Whittaker, Russian Monarchy, S. 72–77. Ransel, The Government of Crisis of 1730, S. 62–65. Raeff, Plans for Political Reform in Imperial Russia 1730–1905, S. 43. Kivelson, Kinship Politics/Autocratic Politics, S. 14–19. Pol’skoj, Tissier, L’élite dirigeante russe dans la crise politique de 1730, S. 402–405. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Fissahn, Faszination und Erschrecken, S. 142–150. Die positive Konnotation des Despotismus mag auch darin begründet liegen, dass damit „sehr häufig nur die absolute Monarchie verstanden“ wurde, so zumindest Heinrich Marquardsen: Despotie, Despotismus, in: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände. Bd. 4, hg. von Karl von Rotteck und Karl Welcker, Leipzig 1860, S. 363 f. Siehe zur Begriffsgeschichte ausführlich Hella Mandt: Tyranis, Despotie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1990, S. 651–706, hier insbesondere S. 672–675. Vgl. Protasov, Suščestvobal li političeskij plan D.M. Golicyna?, S. 97 f. Vgl. Kivelson, Kinship Politics/Autocratic Politics, S. 15–21. Hierbei sei zu Beschränkungen des frühen 18. Jahrhunderts und auf die weiter zurückliegendem Beschränkungen der Krone u.a. verwiesen auf Michael Roberts: Sweden as a Great Power 1611–1697. Government, Society, Foreign Policy, London 1968, S. 7–10. Madariaga, Portrait of an EighteenthCentury Russian Statesman, S. 52–55 und S. 59. Jörg-Peter Findeisen: Die schwedische Monarchie. Von den Vikingerherrschern zu den modernen Monarchen, Kiel 2010, S. 178 f. Es sei hierbei auf die Articuli Henriciani verwiesen, siehe Jörg K. Hoensch: Sozialverfassung und politische Reform. Polen im vorrevolutionären Zeitalter, Köln 1973, S. 56–65. Kazimierz Baran: The Constitutional Uniqueness of the Polish-Lithuanian Commonwealth, from the Sixteenth to the Eighteenth Century, in: Die Reiche Mitteleuropas in der Neuzeit. Integration und Herrschaft. Liber memorialis Jan Pirożyński, hg.
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und in England1072 drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die Konditionen auf Grundlage europäischer Vorbilder erarbeitet wurden oder diese zumindest bekannt waren. Dies wird in der Forschung kontrovers diskutiert, wobei Kurukin und Plotnikov betonen, dass es tatsächlich keine europäischen Vorbilder gegeben habe.1073 Diese Erkenntnisse werden in der Wissenschaft bestätigt.1074 Dies ist dem methodischen Vorgehen Kurukins und Plotnikovs geschuldet – beide unterzogen die Entwürfe der Machtbeschränkung einer intensiven textimmanenten Analyse. Der erste Teil begrenzte die absolute Monarchie und schrieb die Macht des achtköpfigen Obersten Geheimen Rates fest, ohne den die Zarin nicht regieren dürfe. Beispielsweise war vorgesehen, die Gesetzgebungskompetenz beim Rat zu konzentrieren. Der zweite Teil der Konditionen limitierte die Einflussmöglichkeiten der Zarin auf die Zusammensetzung des Rats. Der Oberste Geheime Rat sollte sich gewissermaßen selbst rekrutieren. Diese politischen Forderungen waren keinesfalls ohne Grundlage entstanden. Unter der Regierung Zarin Katharinas I. war der Oberste Geheime Rat bereits als wichtiger Teil des Staatsapparats etabliert worden, wobei die Verchovniki vergeblich versucht hatten, ihre Macht auch institutionell festzuschreiben. Bis zum Tod Peters II. gelang ihnen de facto nur eine Ausweitung ihrer Befugnisse. Der Tod Peters II. bot somit einen geeigneten Anlass für institutionelle Veränderungen.1075 Die diplomatischen Vertreter vermuteten europäische Vorbilder und gingen von einer breiten Adelspartizipation aus, die der Rat so aber nie anstrebte. Die Vergleiche mit anderen Staatsformen trafen die Diplomaten wegen der unsicheren Informationslage mehr aus Unwissenheit denn auf Basis von validen Erkenntnissen. Die Nennung von Vorbildern finden sich zudem fast ausschließlich bei den von de Liria informierten Diplomaten, während beispielsweise die mit Russland sehr vertrauten Gesandten Bonde und J.C.D. Ostermann keine Vergleiche mit anderen europäischen Staaten vornahmen. Auch bei Wratislaw sind solche Vergleiche nicht zu finden. Demnach scheint es wahrscheinlich, dass die einzelnen diplomatischen Vertreter diese Vergleiche der neuen russischen Regierungsform mit euro-
1072
1073 1074 1075
von Adam Perłakowski, Robert Bartczak und Anton Schindling, Kraków 2009, S. 97–108, hier S. 98–102. Adam Perłakowski: Die Staatsfinanzen der Adelsrepublik im europäischen Vergleich (17.–18. Jahrhundert), in: Die Reiche Mitteleuropas in der Neuzeit. Integration und Herrschaft. Liber memorialis Jan Pirożyński, hg. von Adam Perłakowski, Robert Bartczak und Anton Schindling, Kraków 2009, S. 199–210, hier S. 199–201. Perłakowski, Staats- und verwaltungsrechtliche Aspekte der Union aus polnischer Sicht, S. 94. Vgl. Jordan, Anna, S. 178 f. Demel, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts, S. 217. Lothar Kettenacker: Georg I. 1714–1727, in: Englische Könige und Königinnen. Von Heinrich VII. bis Elisabeth II., hg. von Peter Wende, München 1998, S. 188–203, hier S. 189. Hermann Wellenreuther: Georg II. 1727–1760, in: Englische Könige und Königinnen. Von Heinrich VII. bis Elisabeth II., hg. von Peter Wende, München 1998, S. 204–219, hier 207–210. Graham C. Gibbs: Union Hannover/ England. Accession on the Throne and Change of Rulers: Determining Factors in the Establishment and Continuation of the Personal Union, in: Die Personalunionen von Sachsen-Polen 1697–1763 und Hannover-England 1714–1837. Ein Vergleich, hg. von Rex Rexheuser, Wiesbaden 2005, S. 241–274, hier S. 247–250. Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 35 f. Redin, Rezension zu: I.V. Kurukin, A.B. Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda. Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 35–39.
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päischen Staaten anstellten, um diese Verfassungsreform verstehen und auf Grundlage bekannter politischer Systeme einordnen zu können. Die Vorbilder Englands, Polens oder einer Adelsrepublik übernahm Le Fort ebenso wie Magnan unkritisch von de Liria. Dass Magnan kontinuierlich die problematische Informationslage betonte, aber das Vorbild Schweden hinzufügte, macht deutlich, dass er sich über die Regierungsform in Russland und mögliche Vorbilder selbst im Unklaren befand. Der neu in Russland angekommene Tessin wiederholte seine Äußerung der schwedischen Vorbilder später nicht mehr, ebenso wenig wie andere diplomatische Vertreter. Kurukin und Plotnikov argumentierten zudem, dass der Großteil des russländischen Adels einen starken Zaren als Schutz vor Machtmissbrauch präferierte.1076 Diese Vorstellungen zeigten sich auch in den verschiedenen Gesandtschaftsberichten. Weder der Oberste Geheime Rat selbst noch die vom Adel als Reaktion darauf verfassten Projekte nahmen Bezug auf den Zemskij Sobor oder die Beschränkung der Macht während der Smuta.1077 Die Vorbildwirkung der Bojarenduma für die Machtbeschränkung 1730 gilt ebenso als widerlegt wie die des Zemskij Sobor.1078 Wie ist demnach zu bewerten, dass der Begriff Sejm, der auf das benachbarte Polen-Litauen als Vorbild hinweist, im Projekt „obščestvo“ zu finden ist?1079 Dieser Befund wurde bisher so gedeutet, dass sich zwar erste Ansätze eines Gemeinschaftsgefühls des russischen Adels erkennen ließen, die sich jedoch noch nicht durchsetzten.1080 Zudem findet sich der aus dem Polnischen entlehnte Begriff šlachetstvo seit 1712 als Sammelbezeichnung des russländischen Adels.1081 Die zeitgenössische Äußerung des russischen Verwaltungsreformers und Freundes Dmitry Golicyns, Heinrich Fick, „Jetzt ist Russland die Schwester Schwedens und Polens geworden“ belegt, dass dieser überzeugt war, in
1076 Vgl. ebd., S. 85. 1077 Vgl. ebd., S. 85. 1078 Die Machtstellung der Bojarenduma im Werk „Bojarskaja Duma“ Ključevskijs wurde widerlegt. Aufbauend auf den Schlussfolgerungen Ključevskijs, folgt Recke diesen Ausführungen, obwohl er auch auf die Möglichkeit polnischer Vorbilder verweist, siehe Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 11–15 und S. 35–40. Zur Widerlegung siehe: Richard Hellie: Thoughts of the Absence of Elite Resistance in Muscovy, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian history, 2000, S. 5–20, hier S. 15. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 212–218. Ostrowski, The Façade of Legitimacy, S. 548. Helmert, Der Staatsbegriff im petrinischen Rußland, S. 97. Kusber, Die Autokratie, Wahl und Wahlkapitulationen im Russländischen Reich der frühen Neuzeit, S. 81. Joukovskaïa-Lecerf, Le conseil du tsar dans la culture politique de l’époque pétrovienne, S. 578. Zum Zemskij Sobor: Helmert, Der Staatsbegriff im petrinischen Rußland, S. 103 f. Jurij M. Lotman: Russlands Adel. Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I., Köln, Weimar, Wien 1997, S. 21. Kusber, Die Autokratie, Wahl und Wahlkapitulationen im Russländischen Reich der frühen Neuzeit, S. 76–85. 1079 Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 85 f. Madariaga, Portrait of an EighteenthCentury Russian Statesman, S. 59. Ransel, The Government of Crisis of 1730, S. 49. Kusber, Die Autokratie, Wahl und Wahlkapitulationen im Russländischen Reich der frühen Neuzeit, S. 88. 1080 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 86. Zernack, Polen und Rußland, S. 244. 1081 Vgl. ebd., S. 103 f.
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Russland erwache ein politisches Bewusstsein.1082 Kurukin und Plotnikov bewerteten solche Aussagen so, dass die aufgeklärten Adligen und die Beamtenschaft der Hauptstadt die verschiedenen Vergleiche zu anderen Regierungsformen eher kommentierend vornahmen, da sie durch Reisen ins Ausland und durch Kriegszüge über die nötigen Kenntnisse verfügten.1083 Eine direkte Vorbildwirkung dieser Regierungsformen1084 sahen sie nicht. Die Funktionsweise des polnisch-litauischen politischen Systems war den russischen Herrschern ab dem späten 16. Jahrhundert bereits bekannt.1085 Es ist auch unwidersprochen, dass insbesondere Dmitrij Michajlovič Golicyn mit den Regierungssystemen anderer europäischer Staaten und mit der politischen Ideengeschichte Europas vertraut war. Dies legt nicht nur die ungefähr 2.600 Bücher umfassende Bibliothek Golicyns nahe,1086 sondern auch seine praktische politische Erfahrung aus seiner Tätigkeit als Gouverneur in Kiew.1087 Über dieses Wissen verfügte auch Vasilij Lukič Dolgorukij, der als russischer Diplomat in Frankreich, Polen und Dänemark mit den dortigen politischen Systemen in Berührung gekommen war.1088 Obwohl Übersetzungen der Werke europäischer Staatsdenker unter Peter I. vorangetrieben wurden, waren nur einige wenige mit diesen politischen Ideen vertraut. In breiteren adligen Kreisen erlangten sie hingegen kaum Bekanntheit.1089 Daher ist auch durch die systematische Analyse der Gesandtschaftsberichte die These Kurukins und Plotnikovs zu stützen, dass es tatsächlich keine europäischen Vorbilder für die Konditionen gab.
Golicyn als Vater des russischen Konstitutionalismus – Wie sind die Gesandtschaftsberichte zu deuten? Wie konnten Korsakov und Miljukov anhand der Gesandtschaftsberichte de Lirias, Le Forts, Rondeaus und Magnans zu der Deutung gelangen, dass Golicyn einen Plan zur Umgestal1082 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 77 f. 1083 Vgl. ebd., S. 81 f. 1084 Vgl. Miljukov“, verchovniki i šljachetstvo, S. 20 f. Kusber, Die Autokratie, Wahl und Wahlkapitulationen im Russländischen Reich der frühen Neuzeit, S. 89. Jan Kusber: Den Herrscher an das Recht binden. Verfassungsgedanke und Verfassung im Zarenreich, in: Von Duma zu Duma. Hundert Jahre russischer Parlamentarismus, hg. von Dittmar Dahlmann und Pascal Trees, Göttingen 2009, hier S. 41. 1085 Vgl. Kusber, Die Autokratie, Wahl und Wahlkapitulationen im Russländischen Reich der frühen Neuzeit, S. 76 f. 1086 Vgl. Madariaga, Portrait of an Eighteenth-Century Russian Statesman, S. 40–49. Whittaker, Russian Monarchy, S. 70. Helmert, Der Staatsbegriff im petrinischen Rußland, S. 45–78. Madariaga, Portrait of an Eighteenth-Century Russian Statesman, S. 44–47. Sergej Viktorovič Pol’skoj, Dvorjanskij kon stitucionalizm v Rossii XVIII – načala XIX vv. i ego zapadnoevropejskie istočniki, http://www.perspectivia.net/publikationen/vortraege-moskau/polskoi_konstitutionalismus, 17.09.2020. 1087 Vgl. Madariaga, Portrait of an Eighteenth-Century Russian Statesman, S. 38–42. Anisimov, Anna Ioannovna, 16 und S. 21 f. Tret’jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 28. Whittaker, Russian Monarchy, S. 70. Ransel, The Government of Crisis of 1730, S. 58. 1088 Vgl. Madariaga, Portrait of an Eighteenth-Century Russian Statesman, S. 52. 1089 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 82–84.
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tung der Regierungsform mit weitreichender adliger Partizipation verfolgte?1090 Ausgangspunkt dieser Deutung sind Berichte de Lirias vom 6. Februar, die sich zeitlich verzögert auch in den Briefen Rondeaus und Magnans wiederfinden und in der russischen Geschichtsschreibung weiter ausgeschmückt wurden. Demnach dürfte die Zarin nur noch über 500.000 Rubel frei entscheiden und nur noch über die Garde verfügen. Im Obersten Geheimen Rat sollte die Zarin selbst nur über zwei oder drei Stimmen verfügen. Des Weiteren sollte es vier Kammern geben: den Obersten Geheimen Rat, einen Senat und eine Adelskammer aus 200 niederen Adligen und eine Adelskammer aus je zwei Abgeordneten pro Stadt.1091 Diese Vorstellung de Lirias über die Ausgestaltung der neuen Regierungsorgane findet sich am 9. Februar auch bei Le Fort und am 13. Februar bei Magnan und Rondeau. Demnach sollte der Oberste Geheime Rat bei Magnan aus zehn Personen bestehen, nach den Berichten de Lirias, Le Forts und Rondeaus aus zwölf Personen. Die Anzahl der Mitglieder des Senats schwankte zwischen 30 Personen bei de Liria, 36 bei Magnan und Rondeau und 60 Personen bei Le Fort. Nach den Mutmaßungen Le Forts sollte es eine weitere Kammer mit 100 niederen Adligen geben, nach de Liria, Magnan und Rondeau mit 200 Personen. Allein Mangan und Rondeau berichteten außerdem von einer weiteren Kammer für die Kaufmannschaft.1092 Vor allem diese ist den englischen Rechtsvorstellungen Rondeaus entlehnt, da die Kaufmannschaft in England eine bedeutendere gesellschaftliche Stellung als in Russland einnahm.1093 Diese auf de Liria zurückgehenden Vorstellungen sind als Spekulationen anzusehen, da solche Institutionen in den Konditionen nicht enthalten waren. De Liria waren Konditionen erst am 20. Februar bekannt.1094 Er gab aufgrund des Bündnisses von Sevilla Rondeau und Magnan seine Informationen weiter, da er über einen besseren Zugang zum russischen Hof verfügte, wofür auch die zeitliche Reihenfolge der Berichterstattung spricht. Zudem betonten die diplomatischen Vertreter vielfach die Unzuverlässigkeit ihrer Nachrichten, da diese auf Gerüchten beruhten. Dies wird ebenso in der Historiografie mehrfach betont.1095 Golicyn wurde nur von Magnan als Urheber genannt, während die anderen Gesandten in dieser Frage
1090 Vgl. ebd., S. 11–15. Korsakov, Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny, S. 179–182. 1091 Vgl. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 219. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 178 f. Zur Entstehung des Plans Golicyns aufbauend auf den Gesandtenberichten und die Ausdeutungen dessen in der russischen Historiographie, siehe: Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 161– 166. 1092 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 09.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 59r/v (chiffriert). Magnan an Chauvelin, Moskau, 13.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 63r (chiffriert). Ebd., fol. 22r/23v. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 178 f. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 166 f. 1093 Vgl. Protasov, Suščestvobal li političeskij plan D.M. Golicyna?, S. 107. 1094 Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 164–178. 1095 Vgl. ebd., S. 103–105. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 225. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 179 f.
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unspezifisch blieben.1096 Die uneindeutigen Benennung der Initiatoren der Machtbeschränkung zeigt, dass die Diplomaten sich selbst unklar über die handelnden Akteure waren.1097 In dieser für die Diplomaten unklaren Situation war es notwendig, dass sie von ihren Souveränen Weisungen erhielten, wie sie sich gegenüber den Veränderungen der russischen Regierungsform zu verhalten hatten. Die vermeldeten Gerüchte gaben den Monarchen zumindest einen Anhaltspunkt für dringend notwendige Handlungsanweisungen. Bereits Recke widerlegte die Vorstellung, dass Golicyn der Urheber dieser konstitutionellen Ideen gewesen sei.1098 Fleischhacker betonte darauf aufbauend, dass die Idee von einem Plan Golicyns dem Wunsch geschuldet gewesen sei, „den Vater des russischen Konstitutionalismus zu finden“.1099 Den Ursprung der von de Liria verbreiteten Gerüchte konnte sie nicht ausfindig machen.1100 Recke führte aus, dass eine weitreichende Ausgestaltung der Regierungsform für die Verhinderung einer russischen Militärhilfe für den Kaiser und somit für de Liria zweckdienlich gewesen sei und er mitunter viele Nachrichten ohne kritische Hinterfragung übernommen habe.1101 Bezeichnend ist auch, dass de Liria nur in seinen Gesandtenberichten von einer weitreichenden Umgestaltung berichtete, ohne diese in seine darauf aufbauende memoirenartige Darstellung zu übernehmen.1102 Protasov widersprach unabhängig davon ebenso einem konstitutionellen Plan Golicyns und verwies auf die in der Literatur vorhandenen Zitierzirkel.1103 Trotz der mehrfachen Betonung durch die Diplomaten, dass es sich bei ihren Berichterstattungen um spekulative Meldungen und Gerüchte handele, finden sich diese falschen Sichtweisen noch heute in der wissenschaftlichen Literatur,1104 dagegen werden die Erkenntnisse Fleischhackers, Reckes und Protasovs kaum rezipiert. In den Gesandtschaftsberichten mischen sich eigene Rechtsvorstellungen mit den in Moskau kursierenden Gerüchten über die Umgestaltung der Regierungsform. Dass Trennlinien zwischen den verschiedenen Akteuren und Plänen in den Gesandtschaftsberichten 1096 Vgl. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 219. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 167. 1097 Vgl. ebd., S. 173. 1098 Ebd., S. 161–183. 1099 Vgl. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 219. 1100 Für eine ausführliche Diskussion der Gesandtschaftsberichte zum angeblichen Plan Golicyns siehe S. 219–255. 1101 Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 170 und 196–198. 1102 Vgl. ebd., S. 182. 1103 Vgl. Protasov, Suščestvobal li političeskij plan D.M. Golicyna?, S. 97–102. 1104 Diese Vorstellungen gelangen über die Darstellung Scheiders „La Cour de la Russie il y a cent ans 1725–1783“ in die Publikation Liechtenhans, siehe ebd., S. 66. Dass es sich hierbei um Spekulationen Rondeaus handelte, konnte aufgrund der Darstellung Schneiders nicht erkannt werden. Auch Anisimov übernimmt diese Sichtweise, siehe Anisimov, Anna Ioannovna, S. 38. Anisimov, Anna Ioannov na, S. 17 f. Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 41 f. Stadelmann, Die Romanovs, S. 96. De Madariaga geht bereits davon aus, dass es sich um aufgegriffene Gerüchte handelt, siehe Madariaga, Portrait of an Eighteenth-Century Russian Statesman, S. 53.
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verschwammen, begünstigte die Vorstellung eines weitreichenden politischen Veränderungsprozesses, der durch die Verchovniki angestoßen wurde – oder, dass sogar Dmitrij Mich ajlovič Golicyn der „Vater der russischen Demokratie“1105 sei. Diese Vorstellungen gelten aber als widerlegt1106 und können bei synchroner Analyse auch nicht aus den Gesandtschaftsberichten abgeleitet werden. Dass sich eine solch weitreichende Änderung der Regierungsform in den Berichten Mardefelds, Wratislaws und des schwedischen Gesandten Ditmer nicht widerspiegelte, konnte bereits die ältere Forschung nachweisen.1107 Dieser Befund kann ergänzt werden, da auch die mit den russischen Gegebenheiten überaus vertrauten Gesandten Holsteins und Mecklenburg-Schwerins nichts darüber berichteten. Dies kann an dieser Stelle die Erkenntnis bestärken, dass es sich bei den Äußerungen de Lirias um Gerüchte handelte, die Rondeau und Magnan unkritisch aufgriffen. Dass sich diese Informationsweitergaben vornehmlich auf diese beiden diplomatischen Akteure beschränken, hängt mit den gemeinsamen außenpolitischen Zielsetzungen ihrer Monarchen zusammen. Die Erkenntnis, dass die Informationsweitergabe entlang außenpolitischer Bündnisse verlief, ist überaus zentral für die Berichterstattung der diplomatischen Vertreter und für die Interpretation ihrer Nachrichten.1108 Während die niederrangigen diplomatischen Akteure Magnan und Rondeau de Liria als Informanten nutzen mussten, griff auch Le Fort trotz seines Zuganges zum Hof auf dessen Informationen zurück. Dies war möglich, da es durch die Politik Augusts II. zu keiner klaren außenpolitischen Positionierung kam und somit Le Fort sowohl mit Wratislaw als auch mit de Liria Kontakt pflegte und von diesen Informationen erhielt. Die Auswirkungen des Informationszugangs und die Betrachtung der außenpolitischen Konstellationen sind demnach für die Interpretation der Gesandtschaftsberichte unverzichtbar.
Die Ankunft des kaiserlichen Kuriers und die Deutungen der europäischen Bündnislage Der kaiserliche Gesandte Wratislaw erhielt, wie er in seiner Relation vom 6. Februar 1730 vermerkte, durch den Hof- und Kabinettkurier Michael Torresani die Weisungen des Kaisers vom 28. Dezember 1729 sowie vom 6. und 7. Januar 1730 gleichzeitig. Ebenso überbrachte Torresani die mit Diamanten besetzten Kaiserporträts, die bei ihrer Absendung für die wichtigsten Unterstützer des mittlerweile verstorbenen Peter II. anlässlich seiner Hochzeit
1105 Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 86. 1106 Vgl. Zernack, Polen und Rußland, S. 244–247. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 86 f. 1107 Vgl. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 179. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 253–255. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 166. 1108 Vgl. Protasov, Suščestvobal li političeskij plan D.M. Golicyna?, S. 99. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 167– 169.
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bestimmt waren.1109 Hieraus wird deutlich, welchen Einfluss die langen Übertragungswege insbesondere nach Moskau auf die diplomatische Kommunikation hatten. Die Gesandten mussten anhand ihrer bisherigen Instruktionen und der ihnen zukommenden Weisungen selbst über ihr Handeln entscheiden und die politischen Interessen ihrer Höfe oftmals antizipieren. Die Weisungen bezüglich des Thronwechsels erhielten die Gesandten alle erst, nachdem sich Anna bereits zur souveränen Zarin ausgerufen hatte. Dass Gesandte „meist nicht mehr als der verlängerte Arm ihres Souveräns“1110 seien und nur bei weiten Entfernungen gelegentlich selbstständig handelten, gilt es daher zu präzisieren. Diese Aussage trifft auf die Gegebenheiten des russischen Thronwechsels 1730 mit schnell wechselnden Ereignissen nicht zu. Der Spielraum der Entscheidungen war aufgrund der überaus langen Übertragungswege sehr groß, und die Gesandten vor Ort mussten Wege finden, die Ziele ihres Souveräns umzusetzen.1111 In den chiffrierten Berichten Wratislaws vom 13. Februar bezüglich des sich verändernden Machtgefüges am Moskauer Hof wird dies exemplarisch deutlich. Wratislaw hielt es demnach für die kaiserlichen Interessen förderlich, denjenigen im Obersten Geheimen Rat vertreten Familien und dem Feldmarschall Golicyn die kostbaren Kaiserporträts zukommen zu lassen. Trotz des Ansehensverlustes der Dolgorukij gehörten immer noch drei sehr vermögende Angehörige dieser Familie dem Rat an.1112 Dass Wratislaw die Porträts umwidmete, ist ein Zeichen, dass beispielsweise der Favorit Peters II., Ivan Dolgorukij, durch den Thronwechsel massiv an Ansehen einbüßte. Die Verteilung der kaiserlichen Geschenke sollte nicht den Anschein erwecken, dass die Mitglieder des Rates unterschiedlich hohes Ansehen genossen. Daher bat Wratislaw, ihm entweder noch drei weitere Porträts zukommen zu lassen oder – um Zeit und Kosten zu sparen – vier weitere Porträts beim einem in Russland weilenden Wiener Handwerker herstellen zu lassen.1113 Sowohl die Absendung von Präsenten als auch deren Anfertigung im Zielland waren gängige Praktiken der Geschenkebeschaffung.1114 Nach der Ankunft des kaiserlichen Kuriers war Wratislaw damit beschäftigt, die Weisungen des Kaisers umzusetzen. Dadurch richteten seine diplomatischen Kollegen ihr Interesse nicht nur auf die unklare Regierungsform in Moskau, sondern auch auf die dadurch verursachten Folgen für die gesamteuropäische Bündnislage. Wratislaw war durch die Weisungen 1109 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 06.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 81r/v. 1110 Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 29. Horn stützt die Einschätzung Duchhardts in Bezug auf die englischen Diplomaten, siehe Horn, The British Diplomatic Service, S. 182 f. Eine kritische Bewertung erfolgt bei Steppan: Steppan, Kaiser Karl VI. und sein Neffe, der Großfürst. Repräsentation, Interaktion und Kommunikation kaiserlicher Gesandter im Konflikt um die Thronfolge von Zar Peter II., S. 125–144. 1111 Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 338 f. 1112 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 13.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 100r/v (chiffriert). 1113 Vgl. ebd., fol. 94r/v (chiffriert). 1114 Vgl. Falcke, Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgisch-preußischen Hof im 17. und 18. Jahrhundert, S. 71–74.
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ausführlich über die Interessen des kaiserlichen Hofs bezüglich des Ende 1729 geschlossenen Vertrages von Sevilla informiert, worüber er den russischen Hof umfänglich unterrichten sollte. Aufgrund der langen Übertragungswege erhielt Wratislaw erst zu diesem Zeitpunkt die Ansichten des Kaisers, die seine diplomatischen Kollegen an anderen Höfen Europas wegen kürzerer Übertragungswege bereits früher erhalten hatten. Entsprechend seinen Weisungen sei es das Hauptanliegen des Kaisers, dass die militärische Unterstützung durch das Russländische Reich gewährt werden solle, so Wratislaw.1115 Auch der preußische Gesandte Mardefeld wurde durch eine Weisung seines ebenfalls mit Russland verbündeten Hofs vom 14. Januar darüber in Kenntnis gesetzt, dass der kaiserliche Hof entschlossen sei, sich den Bestimmungen des Vertrages von Sevilla bezüglich der Etablierung des Infanten Don Carlos im Großherzogtum Florenz und im Herzogtum Parma notfalls mit Waffengewalt entgegenzustellen.1116 Wratislaw zeigte sich zuversichtlich, dass die Beziehungen zwischen dem Kaiser und Russland stabil blieben, obwohl sich die Lage durch den unerwarteten Thronwechsel in Russland seit der Abfassung der kaiserlichen Weisung dramatisch veränderte hatte. In einem persönlichen Gespräch hätten Ostermann und der Großkanzler Golovkin ihm bereits die Verlängerung des Bündnisses zugesichert. Golovkin habe Wratislaw aber gebeten, seine Forderungen nicht allzu eifrig vorzutragen.1117 Ganz anders bewertete der verbündete preußische Gesandte zeitlich die Folgen des Thronwechsels. Chiffriert teilte er dem Berliner Hof mit, dass die Truppen für den Kaiser vor dem Tod Peters II. zweifelsohne abgesandt worden wären. Bei der derzeitigen unklaren Lage bezüglich der Thronfolge und der Ausarbeitung einer neuen Regierungsform sei mit dieser Hilfe aber nicht mehr zu rechnen. Die Versprechen der russischen Minister, dass die neuerwählte Zarin die unter ihren Vorfahren geschlossenen Bündnisse fortführe, müssten bis zur Ankunft der Zarin für „leere worthe“1118 gehalten werden. Tessin ging diesbezüglich auf eine Nachricht vom 16. Januar aus Wien ein. Diese besagte, dass der Kaiser nur Krieg führen werde, wenn die Veränderungen in Russland nicht zum Ausbleiben der erhofften russischen Hilfe führen würden. Der holsteinische Gesandte stand einem möglichen Krieg des Kaisers in Italien ablehnend gegenüber, da der Kaiser in dieser Situation nicht gleichzeitig vom dänischen König die Wiedergutmachung für Holstein einfordern könne.1119 Der französische Chargé d’Affaires Magnan, der englische Sekretär Rondeau und der säch1115 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 06.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 81v/82r. 1116 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 06.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 44r. 1117 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 06.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 80r–82v. 1118 Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 06.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, 44v (chiffriert). 1119 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 29.01./09.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert).
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sisch-polnische Gesandte Le Fort wollten vor allem in Erfahrung bringen, was der kaiserliche Kurier zu vermelden hatte. Würden trotz der Veränderung der Regierungsform die russischen Truppen abgesandt werden? Während der französische und der sächsisch-polnische diplomatische Akteur ihren Hof an jedem Posttag über den weiteren Verlauf der Ereignisse in Moskau informierten, berichteten die englischen Vertreter Ward und Rondeau nach dem 2. Februar weder am 6. noch am 9. Februar 1730. Dass es sich hierbei nicht um ein Überlieferungsproblem handelt, geht aus deren Berichten selbst hervor. Dass Rondeau erst am 13. Februar wieder eine Relation versandte, zeigt die geringe Relevanz seiner Berichterstattung für den englischen Hof. Rondeau bezog seine Informationen vom dänischen Gesandten Westphalen und vom spanischen Gesandten de Liria, wie er vermerkte.1120 Diese Benennung der Informationsweitergabe durch die höherrangigen Gesandten, die sich bereits bei den Gerüchten über die Regierungsform manifestiert hatte, wird von Rondeau positiv bewertet, da er gegenüber seinem Hof zeigen konnte, dass ihm die Zusammenarbeit mit diesen beiden höherrangigen Gesandten gelang. Magnan und Le Fort hingegen berichten in ihrer nächstmöglichen Relation über die Ankunft eines kaiserlichen Kuriers,1121 wobei sich ihre Interpretationen deutlich unterschieden: Magnan bezweifelte das allgemein kursierende Gerücht, dass der Kaiser entschlossen sei, Krieg zu führen, und die russischen Truppen anfordern werde. Laut Magnan habe sich Wratislaw seit der Ankunft des kaiserlichen Kuriers sehr viel Mühe gegeben, sich mit den russischen Vertretern zu beratschlagen. Er habe sich zudem mehr als zwei Stunden in der Nähe Ostermanns aufgehalten. Ostermann leide unter so starkem Fieber, dass er bereits zwei Aderlässe erhalten habe.1122 Magnan zeigte sich – ganz im Gegensatz zu allen anderen Gesandten – offenbar von der vorgetäuschten Krankheit Ostermanns überzeugt. Le Fort berichtete hingegen, dass seit der Ankunft des kaiserlichen Kuriers das Gerücht kursiere, Wien fordere die im Bündnis zugesagten 30.000 Soldaten ein. Obwohl Ostermann krank sei, habe sich Wratislaw bereits mit ihm über dieses Thema beratschlagt. Sowohl Wratislaw als auch de Liria hätten Kuriere nach Wien und Madrid abgesandt.1123 Die Absendung und Ankunft von Kurieren erregte bei anderen diplomatischen Akteuren immer wieder große Aufmerksamkeit, besonders dann, wenn mehrere Kuriere innerhalb kurzer Zeit eintrafen.1124 Wie genau die Absendung und der Empfang von Kurieren beobachtet wurden, zeigt der Umstand, dass Le Fort in seiner zweiten Relation desselben Tages 1120 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 02.02.1730 a.St. [13.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 21r/v. 1121 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 06.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 49r–51r (chiffriert). Le Fort an König August II., Moskau, 06.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 48r/49r (chiffriert). Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 06.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 52r–57r (chiffriert). 1122 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 06.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 50r/51r (chiffriert). 1123 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 06.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 48v/49r (chiffriert). 1124 Vgl. Horn, The British Diplomatic Service, S. 225.
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ausführlicher auf die Ankunft des kaiserlichen Kuriers Torresani und dessen Folgen einging. Le Fort zeigte sich überzeugt, dass die Zeichen nun verstärkt in Richtung Krieg deuteten. Wratislaw bemühe sich daher um eine verlässliche Zusicherung der russischen Soldaten. Die diplomatischen Vertreter der Allianz von Sevilla verstärkten daher ihre Anstrengungen gegen den Kaiser. Le Fort könne nur wiederholen, dass er Wratislaw für zu schwach halte, um den Gesandten der Allianz von Sevilla etwas entgegenzusetzen. Das Problem Wratislaws sei, dass er in dieser heiklen Situation den Russen Glauben schenke, obwohl diese nicht zögerten, ihn zu täuschen, um sich währenddessen mit den Osmanen zu verbünden. Andere Personen wiederum dächten positiver über Wratislaws Geschick, da er die Wehrhaftigkeit der kaiserlichen Truppen betone und die Bereitstellung der 30.000 Mann starken militärischen Unterstützung vorantreibe. Die Russen hingegen hätten kein Vertrauen in die Allianz mit dem Kaiser, die tatsächlich nur von einem Minister – nämlich Ostermann – unterstützt werde. Diese Einschätzung teile sogar der preußische Gesandte. Zudem habe Le Fort Informationen von de Liria erhalten, der am Tag zuvor ein Gespräch mit Wratislaw über die Absendung der russischen Truppen geführt habe. De Liria zweifele stark an der Bewilligung der russischen Truppen ohne vorherige Verlängerung des Bündnisvertrags zwischen Moskau und Wien durch die Zarin. Le Fort glaubte ebenfalls, dass die Truppenbewilligung auf Probleme stoße, da Vasilij Lukič Dolgorukij und der Feldmarschall Dolgorukij dagegen seien. Demnach stelle sich Wratislaw die Realisierung der gewährten Hilfe zu einfach vor, resümierte Le Fort.1125 Drei Tage später bekräftigte er seine Einschätzung, dass die Absendung der russischen Truppen und die Parteinahme in einem möglichen Krieg derzeit – wie die Russen offen sagen würden – unmöglich sei. Mardefeld habe sich zum Vademecum Wratislaws entwickelt und Le Fort aufgefordert, den kaiserlichen Gesandten und ihn handeln zu lassen. De Liria und die englischen diplomatischen Vertreter würden parallel weiterhin alles versuchen, um ihr Ansehen am russischen Hof zu verbessern.1126 Die Verhinderung der russischen Kontingente für den Kaiser durch de Liria beschäftigte den sächsisch-polnischen Gesandten auch weiterhin. Demnach würden die Feldmarschälle Golicyn und Dolgorukij Beschwerden gegen die Absendung der Truppen vorbringen, da diese in der derzeitigen Situation gegen die russischen Interessen verstoße. Le Fort sah es als notwendig an, Wratislaw verdeckt zu warnen. Da Le Fort ohne expliziten Befehl des polnischen Königs handelte, hoffte er auf die Billigung seines Verhaltens.1127 Hieran zeigt sich einmal mehr die Schwierigkeit der Gesandten, in Umbruchssituationen ohne konkrete Instruktionen zu handeln, da aufgrund der langen Übertragungswege die Weisungen die Gesandten erst spät, mitunter zu spät erreichten. Le Fort betonte erneut, für die Truppenabsendung gebe es trotz aller russischen Beteuerungen gegenüber Wratislaw keine Anzeichen. Der kaiserliche Gesandte sei sich der Hilfe Le Forts 1125 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 06.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 52r–57r (chiffriert). 1126 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 09.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 60v/61r. 1127 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 13.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 62r/v (chiffriert).
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bewusst und nutze dessen Ratschläge. Le Fort versicherte, dass er selbst mit de Liria in Verbindung stehe; dies werde von Wratislaw keinesfalls negativ gesehen.1128 Le Fort war sich sicher, dass die englischen diplomatischen Akteure mit de Liria am Londoner Hof die Summe von 300.000 Rubel angefragt hätten, um sie am russischen Hof zu ihren Gunsten zu verteilen.1129 Die Bitte um diesen Geldbetrag ist in englischen Relationen nicht zu finden. Hierbei handelt es sich somit wohl um eine Mutmaßung Le Forts. Dass er sich dessen sicher zu sein glaubte, zeigt abermals, wie spekulativ die in den Gesandtschaftsberichten getroffenen Aussagen gelegentlich sind. Am 9. Februar 1730 hatte Wratislaw nach eigenen Angaben den Feldmarschällen Golicyn, Dolgorukij und Trubeckoj die Notwendigkeit der militärischen Hilfe Russlands für den Kaiser gegen die Allianz von Sevilla verdeutlicht, was er in aller Ausführlichkeit dem Wiener Hof darlegte. Entgegen den Vermutungen Le Forts versicherte der Feldmarschall Golicyn Wratislaw, dass Russland sich niemals der Allianz mit dem Kaiser entziehe und er sich für die Beibehaltung des Bündnisses einsetze. Der Feldmarschall bat aber gleichzeitig um Geduld, bis sich die Lage in Moskau beruhigt habe und die Regentin – wie Wratislaw sie nannte – in Moskau eintreffe. Die Absendung russischer Truppen werde bei anderen diplomatischen Vertretern am russischen Hof mitunter Bedenken verursachen. Golicyn hätte auch gegenüber de Liria die militärische Unterstützung für den Kaisers im Kriegsfall gegen Spanien zugesagt und somit alle Zweifel Wratislaws in Gegenwart des Legationssekretärs Caramé zerstreut.1130 Wratislaw gab zu bedenken, dass de Liria durch seine freundschaftlichen Beziehungen zu einem Schwager des Feldmarschalls noch versuchen könnte, die Absendung der Truppen zu verhindern.1131 Obwohl Wratislaw bislang vergeblich versucht hatte, Dmitrij Michajlovič Golicyn anzutreffen, habe dieser gegenüber Mardefeld die Allianzen zwischen dem Kaiser, Preußen und Russland bestätigt und anderslautende Meldungen dementiert. Ein namentlich nicht näher genannter Dolgorukij habe sich in Anwesenheit Wratislaws gegenüber de Liria abwertend geäußert. Demnach habe de Liria auf ungebührende Art und Weise versucht, die Dolgorukij gegen den Kaiser aufzubringen. Ostermann, der Wratislaw an die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates verwiesen habe, sei weiterhin krank und vermeide es, irgendwelche Verbindlichkeiten einzugehen. Wratislaw erbat sich zur Beförderung der kaiserlichen Ziele zudem ein Schreiben für die künftige Zarin, in dem der Kaiser die Thronfolge Annas billigen sollte.1132 Noch am 9. Februar teilte Wratislaw dem Kaiser mit, dass keine Informationen vorlägen, ob es tatsächlich zu einer Veränderung der Regierungsform kommen werde. Nicht näher genannte Personen hätten Wratislaw versichert, dass Anna in Mitau darüber nichts vorgetragen worden wäre.1133 1128 Vgl. ebd., fol. 63r/63v (chiffriert). 1129 Vgl. ebd., fol. 63v/64r (chiffriert). 1130 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 85r–89v. 1131 Vgl. ebd., fol. 89v/90r. 1132 Vgl. ebd., fol. 90v–92v. 1133 Vgl. ebd., fol. 92v.
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Wratislaw erkannte, dass der Oberste Geheime Rat bis zur Ankunft der Zarin das entscheidende Machtzentrum Russlands war. Daher bemühte er sich, alle seine Mitglieder zwecks Gewährung der militärischen Unterstützung für den Kaisers zu sprechen. Dies war ihm bis zum 13. Februar – mit Ausnahme des nach Mitau gereisten Vasilij Lukič Dolgorukij – auch gelungen. Allerdings erhielt er von ihnen keine näheren Informationen über die Ausgestaltung der Regierungsform. Dmitrij Michajlovič Golicyn habe Wratislaw wissen lassen, dass die russischen Gesandten bereits Weisungen erhalten hätten, die Bereitstellung der Truppen für den Kaiser an den europäischen Höfen zu verkünden.1134 Auch Aleksej Grigor’evič Dolgorukij habe sich, so Wratislaw weiter, dem Kaiser gegenüber loyal gezeigt und ihm unter strikter Geheimhaltung anvertraut, dass die Absendung der Truppen bereits am 10. Februar in Abwesenheit Ostermanns befürwortet worden sei. Golicyn habe bereits entsprechende Order an die Regimenter erteilt, wie Wratislaw chiffriert übermittelte. Es bestehe dabei die Gefahr, dass die Nachbarn Russlands daraus schließen könnten, Russland wolle selbst Krieg führen.1135 Im Gegensatz zu seinem vorherigen Urteil vermerkte Mardefeld am 13. Februar, dass die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates immer wieder betonten, alle Bündnisse, die mit anderen Mächten geschlossen worden seien, fortführen zu wollen. Als dieser Sachverhalt im Rat diskutiert worden sei, betonten dessen Mitglieder, insbesondere das Bündnis mit dem preußischen König und dem Kaiser sei im Interesse Russlands.1136 Magnan berichtete auch nach Wien an seinen Kollegen de Bussy, dass Wratislaw sich bei allen russischen Ministern um die Absendung der 30.000 Soldaten bemühe. Dies werde ihm nach Einschätzung Magnans trotz der Hilfe Ostermanns und des preußischen und blankenburgischen Gesandten aufgrund der derzeitigen Lage nicht gelingen, obwohl Magnan bereits eine Truppenauflistung der abzusendenden Regimenter übermittelt hatte.1137 Magnan solle laut einer Weisung des französischen Hofs mit de Liria aufgrund des Vertrages von Sevilla kooperieren. Da der Tod des Zaren und dessen Folgen alle anderen politischen Fragen überlagerte, antwortete Magnan verspätet auf diesen Befehl des Versailler Hofs vom 15. Dezember 1729, obwohl er diesen bereits 15 Tagen zuvor erhalten hatte. Nach einem Treffen mit de Liria habe sich dieser erfreut über die Anweisung des Versailler Hofs gezeigt und entgegnet, vom spanischen Hof ebenfalls zur Zusammenarbeit mit Magnan angewiesen worden zu sein. De Liria bat Magnan daraufhin, bei ihm zu speisen, um die erfreuliche Neuigkeit gebührend würdigen zu können. Sie tranken auf die beiden königlichen Hoheiten von Frankreich und Spanien. Dennoch vermeldete Magnan, dass er trotz seiner Bemühungen das Informationsbedürfnis Versailles’ bisher nicht in Gänze befriedigen konnte.1138 1134 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 13.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 96r–98v. 1135 Vgl. ebd., fol. 97v/98r (chiffriert). 1136 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 13.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 51v. 1137 Vgl. Magnan an de Bussy (zweiter Brief), Moskau, 06.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 54r/55v. 1138 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 58r/59v (chiffriert).
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Nach diesem Treffen mit de Liria änderte Magnan seine bisherige Meinung bezüglich des vor Kurzem angekommenen kaiserlichen Kuriers. Magnan wisse nun mit großer Sicherheit um die Entschlossenheit des Kaisers, lieber Krieg zu führen als sich den in Sevilla getroffenen Resolutionen zu unterwerfen. Obwohl sich Wratislaw sehr um die russische Militärhilfe bemühe, seien die derzeitigen Umstände dafür sehr ungünstig.1139 Magnan ging zudem davon aus, dass die Auswirkungen des Todes Peters II. und die offene Frage der Regierungsform den bisherigen machtpolitischen Einfluss Russlands auf Polen minderten. Aufgrund der innenpolitischen Schwierigkeiten könne Russland die Absichten König Augusts II., seinem Sohn unter Verletzung der Freiheiten der polnisch-litauischen Republik die polnische Krone zu sichern, keinesfalls unterstützen.1140 Auch Rondeau äußerte in seiner Relation vom 13. Februar eindeutig, dass er auf die Informationen anderer Diplomaten angewiesen war. Er hatte wiederum seine Informationen über die Ankunft des kaiserlichen Kuriers durch den dänischen Gesandten Westphalen erhalten, der mit dem kaiserlichen Residenten Hochholzer zusammengetroffen war. Rondeau berichtete daher mit deutlicher Verzögerung, dass Wratislaw eine kaiserliche Weisung erhalten habe.1141 Zudem habe Westphalen eine Unterredung mit Hochholzer gehabt, deren Inhalt Rondeau dem englischen König weiterleiten sollte: Der Kaiser habe beschlossen, Krieg gegen die Alliierten von Sevilla zu führen. Karl VI. werde aber den Krieg in Italien erst eröffnen, nachdem er die Territorien des englischen Königs im Reich angegriffen hätte, da Karl VI. sehr verärgert über den englischen König sei. Westphalen sei auch versichert worden, dass Wratislaws Weisungen Forderungen nach russischer Bündnishilfe beinhalteten.1142 Die Weiterleitung dieser unsicheren Meldungen zeigen, dass die britische Krone um ihre hannoverischen Besitzungen besorgt war.1143 Die Art der Informationsgewinnung Rondeaus macht hingegen deutlich, dass er sich auf Kenntnisse eines anderen diplomatischen Kollegen verlassen musste, dessen Informationen allerdings spekulativ waren. Westphalen versuchte durch die weitergegebenen Informationen an Rondeau diesen für die politischen Ziele Dänemarks zu instrumentalisieren. Dass der Kaiser plane, England anzugreifen, war eine bloße Mutmaßung Westphalens. Die genaue Beobachtung des kaiserlichen Gesandten seit der Ankunft des Kuriers habe laut Rondeau ergeben, dass Wratislaw seitdem mehrere Zusammenkünfte mit dem braunschweig-blankenburgischen Gesandten Cramm und mit dem preußischen Gesandten Mardefeld gehabt habe, wonach er auf Ostermann gewartet habe. Obwohl Rondeau Ostermanns Antwort nicht in Erfahrung hatte bringen können, glaubte er, dass Ostermann Wratislaw bis zur Ankunft der Zarin vertrösten wollte, bevor eine positive Antwort erfolgen könnte.1144 Diese Einschätzung Rondeaus war allein dessen Interpretation. De 1139 Vgl. ebd., fol. 59v (chiffriert). 1140 Vgl. ebd., fol. 59v–61r (chiffriert). 1141 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 02.02.1730 a.St. [13.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 21r. 1142 Vgl. ebd., fol. 21r/v. 1143 Vgl. Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, S. 163. 1144 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 02.02.1730 a.St. [13.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 21v.
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Liria versuche unermüdlich, das Bündnis zwischen dem Kaiser und Russland zu lösen und die Absendung der Truppen zu verhindern, weshalb er auf die wichtigsten russischen Adligen einwirke. Die Betonung einer weitreichenden Veränderung der russischen Regierungsorgane oder Gerüchte darüber waren demnach der schnellen Absendung der russischen Militärhilfe abträglich und damit im Interesse der Vertreter der Allianz von Sevilla. Chiffriert vermeldete Rondeau seine Vermutung nach London, es komme hauptsächlich darauf an, dass das Ansehen Ostermanns bei der Zarin hoch bleibe. Demnach glaube Rondeau, dass Ostermann den russischen Hof überzeuge, einige, jedoch keinesfalls alle 30.000 Soldaten zu entsenden, da der Kaiser diese nicht bezahlen könne.1145 Dann würden die Kosten auf Russland lasten, dessen Finanzen in desolatem Zustand seien.1146 Der Stand des kaiserlichen Gesandten Wratislaw am Moskauer Hof sei sehr schlecht, da die Gesandten Cramm, Bonde und Wratislaw darin übereingestimmt hätten, den jungen holsteinischen Herzog Karl Peter Ulrich als Thronfolger nach Russland bringen zu lassen. Nachdem Cramm diese Überlegungen Ostermann vorgebracht habe, habe er ihm geraten, diese dem Großkanzler Golovkin vorzutragen. Als Bonde, der sehr gut russisch spreche, dem Großkanzler eine baldige Ankunft Karl Peter Ulrichs in Aussicht gestellt habe, sei dieser in Rage geraten und habe Bonde zu verstehen gegeben, Holstein habe nichts von Russland zu erwarten. Alles, was Russland für den holsteinischen Herzog getan habe, sei nicht auf Grundlage der Heirat des holsteinischen Herzogs Karl Friedrich mit einer Tochter Zar Peters I. erfolgt, sondern allein aus Wohltätigkeit.1147 Dass es sich hierbei nicht um reale Vorgänge handelte, sondern um Spekulationen und Wünsche der jeweiligen diplomatischen Vertreter, legen Vergleiche mit den holsteinischen und kaiserlichen Relationen offen. Diese Ausführungen Rondeaus waren stark durch den anti-kaiserlichen bzw. anti-holsteinischen Blick der Gesandten Westphalen und de Liria geprägt. Der holsteinische Gesandte Tessin betonte stattdessen in besonderem Maße die Gefahren eines solchen Vorgehens. Unter diesen Umständen sei es weder für ihn noch für Bonde ohne Geld und die Hilfe eines Informanten möglich gewesen, sich gegen die Entscheidung des Obersten Geheimen Rates zu stellen. Ein erfolgloser und zur falschen Zeit erfolgter Einspruch gegen die Wahl Annas könnte das Ansehen des holsteinischen Herzogs in Russland ruinieren, woran dann seine Gesandten Schuld tragen würden. Von einem solchen Vorgehen würden Tessin und Bonde Abstand nehmen müssen und auf die Befehle ihres Herzogs warten.1148 Drei Tage später wiederholte Tessin chiffriert die Bitte, ihm und Bonde Befehle zukommen zu lassen, falls sie Einspruch gegen die Wahl Annas einlegen sollten. Dies sei auf keinen Fall ohne herzogliche Weisung möglich, da ein solcher Einspruch große Auswirkungen haben könne.1149 1145 1146 1147 1148
Vgl. ebd., fol. 21v/22r (chiffriert). Vgl. ebd., fol. 22r. Vgl. ebd., fol. 22r (chiffriert). Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.01./06.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1149 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 29.01./09.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert).
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Die auf den Ausführungen Westphalens und de Lirias gründenden englischen Berichte entfalteten eine gewisse Wirkung, da sie nicht nur von Rondeau verbreitet, sondern zeitgleich durch Magnan übermittelt wurden. Dort hieß es, es kursiere das Gerücht, dass die holsteinischen Minister im Namen des Herzogs Protest gegen die Wahl Annas eingelegt hätten. Ob dem jungen holsteinischen Herzogs für damit geholfen sei, stellte Magnan infrage.1150 Genau hierin schien aber die Absicht der Äußerungen zu liegen, nämlich die holsteinischen Gesandten am Moskauer Hof durch die an andere europäische Höfe versandte Nachrichten in Misskredit zu bringen. Rondeau setzte große Hoffnungen darauf, dass es Westphalen und de Liria gelänge, den russischen Hof aus seinem Bündnis mit dem Kaiser zu lösen. Nach Meinung der beiden Gesandten hätte eine Annäherung zwischen dem englischen und dem russischen Hof beste Auswirkungen auf die Allianz von Sevilla.1151 Auch Magnan vermeldete zwar, dass der Kaiser wegen des bevorstehenden Krieges mit den Mächten von Sevilla die militärische Unterstützung Russlands einfordere, sah die Ausführung aber erneut als unrealistisch an.1152 Magnan fügte hinzu, dass die Russen dächten, das Bündnis mit dem Kaiser komme nicht zum Tragen, und es sei seit dem Abschluss des Vertrages von Sevilla für Russland interessant, neue Bündnisse abzuschließen. Außer bei Ostermann sei diese Meinung bereits vor dem Tod des Zaren verbreitet gewesen, weswegen laut Magnan der russische Hof sich seiner Bündnispflichten entziehen wolle. Außerdem gefährde Russland seine Sicherheit, wenn es sich durch die Hilfe für den Kaiser militärisch engagiere. Der alte russische Adel hätte sich wenig Gedanken über die Versicherungen Ostermanns gemacht. Sie hätten nur gelacht und gesagt, dass es ein Deutscher sei, den man reden lassen müsse. Magnan erachtete es als unmöglich, dass Wratislaw den russischen Zusicherungen Glauben schenkte. Noch nicht mal seine Gegner könnten den kaiserlichen Gesandten für so leichtgläubig halten. Zudem betonte Magnan Differenzen zwischen Wratislaw und Hochholzer. Diese seien entstanden, weil Wratislaw nach Meinung Hochholzers zu sehr auf Ostermanns Einschätzung vertraut habe, dass es nicht zu der Verlobung zwischen Zar Peter II. und Katharina Dolgorukaja kommen würde.1153 Seit 1728 gab es Bemühungen Wratislaws zusammen mit dem braunschweig-blankenburgischen Gesandten Cramm, eine Heirat Zar Peters II. oder seiner Schwester Natal’ja mit dem Haus Braunschweig herbeizuführen. Diese Pläne scheiterten an dem frühen Tod sowohl Natal’jas 1728 als auch Zar Peters II. 1730. Die angestrebte Verbindung zwischen Russland und Braunschweig war dem Kaiserhof wichtig, da die Kaiserin Elisabeth Christine selbst eine gebürtige Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel war. Damit strebte der Kaiserhof an, die dynastischen Beziehungen zu Russland zu stärken.1154 Die Differenzen zwischen Wratislaw und Hochholzer beziehungsweise zwischen Gesandten und Residenten 1150 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 13.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 64r/v (chiffriert). 1151 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 02.02.1730 a.St. [13.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 22r/v. 1152 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 13.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 64v/65r (chiffriert). 1153 Ebd. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 446–450. 1154 Vgl. Lavrent‘ev, Prinz Anton Ulrich in Rußland bis zum Sturz des Hauses Braunschweig, S. 94.
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traten immer wieder auf, wie auch die Konflikte zwischen den diplomatischen Vertretern des Kaisers in Paris bereits zeigten.1155 An den Konflikten zwischen Hochholzer, einem Parteigänger Schönborns, und Wratislaw, der das Vertrauen Prinz Eugens genoss, zeigen sich, dass sich die Konfliktlinien des Wiener Hofs auf die Zusammensetzung der kaiserlichen Gesandtschaft auswirkten, wie Magnan und Westphalen wahrnahmen. Da Wratislaw anfänglich Hochholzer misstraute, setzte er vor allem auf seinen Sekretär Caramé.1156 Mit der Wahl Schönborns zum Bischof von Bamberg und Würzburg 1729 verlor dieser Konflikt an Aktualität, da Schönborn am Kaiserhof zunehmend an Macht verlor und die Berichte aus Russland und Preußen bereits seit Mitte der 1720er Jahre fast ausschließlich an Sinzendorf gerichtet wurden.1157 Magnan führte bezüglich der russischen Truppenhilfe aus, dass der kaiserliche Gesandte nach Ankunft des kaiserlichen Kuriers umgehend Mardefeld zu sich gebeten habe, um sich zu beratschlagen. In dieser Angelegenheit handle der preußische Hof in gänzlicher Übereinstimmung mit dem Kaiser. Zudem gebe es das Gerücht, dass der kaiserliche Gesandte Seckendorff Wratislaw zugesichert habe, der preußische König stelle dem Kaiser sogar 50.000 Soldaten bereit. De Liria bemühe sich nachdrücklich, die kritischen Äußerungen Wratislaws über den spanischen Hof bei den russischen Ministern zu zerstreuen. Von Rondeau wiederum habe Magnan erfahren, dass der Kaiser den Vertrag von Sevilla vor allem dem englischen König anlaste und daher die deutschen Besitzungen Georgs II. aus Vergeltung angreife.1158 Diese Ausführungen zeigen deutlich, dass die diplomatischen Vertreter vielfach miteinander interagierten, und Informationen und Gerüchte bewusst oder unbewusst austauschten und diese sich so weiterverbreiteten. Die machtpolitischen Interessen der Höfe waren entscheidend für die Interpretation der in Erfahrung gebrachten Meldungen. Nicht selten wurde diese so gedeutet, dass sie die eigene Ansicht bestärkten. Gerüchte wurden besonders dann aufgegriffen und verbreitet, wenn sie eigene Position zu stärken schienen oder das Potenzial hatten, die des Gegners zu schwächen.
Die Ankunft des Kuriers aus Mitau und die Veröffentlichung der Konditionen Nachdem die diplomatischen Vertreter bis zum 13. Februar nur Gerüchte übermitteln konnten, gilt es zu fragen, ob beziehungsweise wie sie die Veröffentlichung der Konditionen wahrnahmen, und ab wann sie über gesicherte Kenntnisse verfügten. Am 10. Februar erreichte ein Brief Vasilij Lukič Dolgorukijs die Verchovniki,1159 in dem er mitteilte, dass Anna den Thron besteigen werde und die ihr vorgelegten Konditionen unter1155 Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 91–102. 1156 Vgl. ebd., S. 101 f. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 399. 1157 Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 28–31. 1158 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 13.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 66v (chiffriert). 1159 Siehe dazu ediert: Žurnal zasedanija Verchovnogo tajnogo soveta (30.01.1730 Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 153 f.
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schrieben habe. Die Konditionen habe er aus Sicherheitsgründen nicht mit einem Kurier versandt; die Deputierten würden diese persönlich überbringen.1160 Die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates baten Vasilij Lukič Dolgorukij in einem umgehend verfassten Antwortbrief, ihnen die unterschriebenen Konditionen durch den Generalmajor Leont’ev ohne jegliche Verzögerung zuzusenden.1161 Die zwischenzeitliche Festnahme des Boten Jagužinskijs in Mitau bewirkte, dass Leont’ev am 8. Februar von dort mit diesem, den Konditionen und dem Antwortbrief Annas nach Moskau aufbrach.1162 Wratislaw, Mardefeld und Rondeau berichteten, dass am Abend des 11. Februar ein Kurier aus Mitau angekommen sei. Dass es sich um Leont’ev handelte, schien ihnen unbekannt.1163 Die Zustellung des Antwortbriefs Annas und der unterschriebenen Konditionen können für diesen Zeitpunkt belegt werden.1164 Aus der überbrachten Antwort Annas und aus den unterschriebenen Konditionen geht hervor, dass sie die Wahl auf den Thron ihrer Vorfahren angenommen hatte und umgehend aus Mitau aufgebrochen war.1165 Diese Informationen hatten auch Wratislaw und Mardefeld vernommen, ohne den Inhalt der unterschriebenen Konditionen in Erfahrung bringen zu können.1166 Eine umgehende Abreise der designierten Zarin bestätigten auch Rondeau und Magnan.1167 Es ist unbekannt, ob die Verchovniki bei Abfassung der Konditionen deren Publikation in gedruckter Form diskutierten. Diese Debatte fand am 18. Februar vor dem Hintergrund statt, mögliche Gerüchte über die Konditionen zu vermeiden. Eine Mehrheit des Gremiums wandte sich gegen eine Veröffentlichung von so großer Tragweite. Am 13. Februar waren die Verchovniki allerdings gezwungen, die Konditionen zumindest der Staatselite bekannt zu
1160 Vgl. ebd., S. 153 f. (FN 9). Das Original dieses Briefes ist nicht erhalten, jedoch ein handschriftlicher Entwurf. 1161 Siehe dazu ediert: Otvetnoe pis’mo Verchovnogo tajnogo soveta knjazju V. L. Dolgorukomu (30.01.1730 Jul), in: ebd., S. 154 f. 1162 Siehe dazu ediert: Sobstvennoručnyj černovik donošenija knjazja V. L. Dolgorukogo Verchovnomu tajnomu sovetu (28.01.1730 Jul), in: ebd., S. 155. Das Original dieses Briefes ist laut Kurukin und Plotnikov nicht erhalten. 1163 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 13.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 99v/100r. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 13.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 51r. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 02.02.1730 a.St. [13.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 23v. 1164 Siehe dazu ediert: Žurnal zasedanija Verchovnogo tajnogo soveta (02.02.1730 Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 163 f. 1165 Siehe dazu ediert: Otvetnoe pis’mo Anny Ioannovny Verchovnomu tajnomu sovetu s iz”javleniem soglasija na ego predloženie (28.01.1730 Jul), in: ebd., S. 122 f. 1166 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 13.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 99v/100r. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 13.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 51r. 1167 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 02.02.1730 a.St. [13.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 23v. Magnan an Chauvelin, Moskau, 13.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 62r/v (chiffriert).
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machen.1168 Diese Veröffentlichung entging Rondeau allerdings.1169 Auch Magnan gab am gleichen Tag vor, dass immer noch niemand wüsste, ob die Zarin die Krone annehme oder wie die Regierungsform konkret aussehe. Obwohl sich seit der Ankunft des Kuriers Gerüchte über die Thronannahme verbreiteten, war sich Magnan unsicher, ob es den Befürwortern der Machtbeschränkung aufgrund vorhandener Gegensätze bereits gelungen sei, eine neue Regierungsform zu etablieren.1170 Der französische Chargé d’Affaires vermeldete noch am 16. Februar chiffriert, dass eine für den 15. oder 16. Februar geplante Veröffentlichung der Regierungsform noch nicht erfolgt und bis zur Ankunft der Zarin verschoben wäre.1171 Er berichtete nur, dass Anna die ihr durch die Stände vorgelegten Konditionen wahrscheinlich unterschrieben habe.1172 Dass die Konditionen veröffentlicht waren und keinesfalls eine breite Zustimmung erfuhren, war Magnan unbekannt geblieben.1173 Mardefeld konnte hingegen in Erfahrung bringen, dass der Oberste Geheime Rat nach Ankunft des Kuriers eine Versammlung einberief, um dem Senat, der Generalität und allen Kollegien die neue Regierungsform vorzulegen.1174 Die neue Regierungsform sei von diesen daraufhin mit einem Eid belegt worden, in dem sie der Zarin und dem Vaterland die Treue schworen.1175 Am gleichen Tag berichtete auch Le Fort, dass sich der Oberste Geheime Rat, der Senat und die Generalität zehn Stunden nach der Ankunft des Deputierten Leont’evs in Moskau versammelt hätten. Er fasste – ebenso wie Magnan – diese Institutionen und Personen unter „les états“ zusammen,1176 ohne die Handelnden genau benennen zu können. Auch Tessin vermeldete, dass der Rat und die gesamte Generalität sich zur Ausarbeitung der Regierungsform getroffen hätten, ohne diese verabschieden zu können. Tessin sprach somit die Versammlung an, auf der Oberste Geheime Rat die machteinschränkenden Konditionen verkündete, ohne diese Vorgänge im Detail in Erfahrung bringen zu können. Tessin begründete dies damit, dass ihm die Zeit für einen ausführlichen Bericht fehlte, da er bei Wratislaw gewesen sei.1177 Erst am 16. Februar 1730 berichtete der mecklenburgische Gesandte J.C.D. Ostermann erstmalig darüber, dass der Zarin ihm noch unbekannte Konditionen des Rates vorgelegt 1168 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 40 f. 1169 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 02.02.1730 a.St. [13.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 22v–23r. 1170 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 13.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 62v (chiffriert). 1171 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 16.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 68r (chiffriert). 1172 Vgl. ebd., fol. 68r/v (chiffriert). 1173 Vgl. ebd., fol. 70r/v (chiffriert). 1174 Siehe dazu ediert: Žurnal zasedanija Verchovnogo tajnogo soveta (02.02.1730 Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 163 f. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 13.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 51r/v. 1175 Vgl. ebd. 1176 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 16.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 71r (chiffriert). 1177 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 02.02./13.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung.
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worden seien. Gerüchten nach habe der Deputierte Leont’ev ein eigenhändiges Schreiben Annas aus Mitau mitgebracht, in dem sie diesen bereits zugestimmt habe.1178 Der Senat und die Generalität hätten diese nach der Zustimmung der Zarin ebenfalls bestätigt.1179 Somit verwies J.C.D. Ostermann indirekt auf die besagte Versammlung, ohne auf sie einzugehen. Wratislaw hingegen bemerkte die Versammlung vom 13. Februar nicht, da seine Bemühungen hauptsächlich auf die Verlängerung des kaiserlichen Bündnisses gerichtet waren.1180 Während Magnan bereits früher über die Erkrankung Ostermanns berichtete, vermeldete Rondeau mit zeitlicher Verzögerung, Ostermann sei seit dem Tod Peters II. erkrankt. Die Mutmaßung am russischen Hof, dass Ostermann sich dadurch der Ausarbeitung einer neuen Regierungsform entziehe, berichteten beide übereinstimmend.1181 Mardefeld und Wratislaw waren immer mehr davon überzeugt, dass Ostermann seine Krankheit vortäuschte, um sich der Beteiligung an der Einschränkung der absoluten Gewalt zu entziehen.1182 Diese brisante Information, die Ostermann deutlicher als Gegner der Machtbeschränkung einordnete, versandte Wratislaw in chiffrierter Form. Die nicht namentlich genannten Befürworter der Limitierung der Macht hätten Ostermann am Krankenbett diesbezüglich stark, aber vergeblich unter Druck gesetzt. Ostermann wolle lieber aus seinen Ämtern ausscheiden, als die Machtbeschränkung zu unterstützen, wie Wratislaw nach eigenen Angaben verlässlicher als vorher berichten konnte. Daher erachtete Wratislaw die Ankunft der Zarin als wichtig.1183 Ostermann wird auch in der Literatur immer wieder als Gegner der Machteinschränkung genannt.1184 Aus den undatierten Aufzeichnungen des Sekretärs des Obersten Geheimen Rats, Vasilij Vasil’evič Stepanovs (1675–1739)1185, geht hervor, dass die Mitglieder dieses Gremiums Ostermann baten, Konditionen zu diktieren, was er aber verweigerte. Vasilij Lukič Dol1178 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 05.02.1730 a.St. [16.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 269r/270r. 1179 Vgl. ebd. 1180 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 16.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 103v. 1181 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 02.02.1730 a.St. [13.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 22v (chiffriert). Magnan an Chauvelin, Moskau, 13.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 62v/63r (chiffriert). 1182 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 13.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 51v. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 13.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 98v (chiffriert). 1183 Vgl. ebd., fol. 98v–99v (chiffriert). 1184 Vgl. Wagner, Ein Deutscher am Zarenhof, S. 36. Fenster, Das Erbe Peters I. in der russischen Innenpolitik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und ein Beitrag deutscher Staatsmänner, S. 176. 1185 Vasilij Vasil’evič Stepanov (1675–1739) gehörte dem Posol’skij Prikaz und dem Kollegium für Auswärtiges von 1725 bis zu seinem Tod an. Er war von 1726 bis 1730 Sekretär des Obersten Geheimen Rates und Geheimer Rat (1727), siehe Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 152 (FN 5). Die Autoren konnten diese Quelle mittels der Handschrift dem Autor zuordnen. 1871 war dieses Schriftstück bereits unter der Bezeichnung „Zapiska neizvestnogo“ („Aufzeichnungen eines Unbekannten“) in „Pamjatniki novoj russkoj istorii“ publiziert worden. Siehe dazu: ebd., S. 187 (FN 64) und S. 189.
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gorukij habe daraufhin Stepanov die Konditionen diktiert. Bei einer zweiten Versammlung sei Ostermann nicht mehr anwesend gewesen, da er erkrankt sei. In den folgenden Tagen sei Stepanov bei Ostermann gewesen, der nur den Brief an Anna unterschrieben habe. Ostermann unterschrieb die Konditionen erst nach der Ankunft Leont’evs.1186 Die Konditionen waren den diplomatischen Vertretern lange unbekannt, auch wenn sie sich sehr bemühten, diese in Erfahrung zu bringen. Es darf bezüglich der Konditionen nicht vergessen werden, dass den Diplomaten diese erst zu einem Zeitpunkt bekannt waren, als die Zarin bereits in Moskau angekommen war. Im Haus-, Hof- und Staatsarchiv ist zwischen den Berichten Wratislaws eine Variante der Konditionen überliefert. Diese stimmt fast, aber nicht ganz mit den Konditionen des Obersten Geheimen Rat überein.1187 Wie und wann genau diese nach Wien gelangte, ist aus dem Schriftstück nicht ersichtlich. Es spricht aber sehr viel dafür, dass diese Fassung der Konditionen bereits vor oder am 23. Februar nach Wien übermittelt wurde. An diesem Tag sandte Wratislaw nämlich zwei Vorschläge des Adels für eine veränderte Regierungsform ein, die auf die einzelnen Bestandteile der Konditionen Bezug nahmen.1188 Demnach mussten ihm bis dahin die Konditionen des Rates bekannt gewesen sein. Er erkannte zudem, dass sowohl der Oberste Geheime Rat als auch der Adel und die Generalität die Macht beschränken wollten, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise.1189 Le Fort übermittelte am 2. März zum zweiten Mal eine Version der Konditionen, die denjenigen des Rates inhaltlich sehr nahe kam.1190 Interessanter ist jedoch die Variante der Konditionen, die Le Fort am 23. Februar übermittelte. Er berichtete stolz – allerdings nur in seiner zweiten Relation und mit dem Hinweis, dass alles ungewiss sei –, dass es ihm trotz unübersichtlicher Lage mit Geld und
1186 Siehe dazu ediert: Zapiska V.V. Stepanova, in: ebd., S. 187–189. Grundlage der Darstellung bei Anisimov, siehe Anisimov, Anna Ioannovna, S. 22 f. 1187 Vgl. Konditionen, Moskau, undatiert, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 198r, fol. 198r. Wie Recke dazu kam, diese als Beilage dem Bericht vom 17. März 1730 zuzuordnen, ist offen, siehe: Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 179. 1188 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (Beilage), Moskau, 23.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 129r–131v. 1189 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 23.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 127r (chiffriert). 1190 „Puncte So Ihr Czarl. Mayth. Anna Iwanowna bey Annehmung der Rußischen Regierung unterschrieben. Das Geheime Conseil soll von 8. Personen besezt werden. 1. Nicht zu heyrathen und keinen Nachfolger zu erwehlen. 2. Keinen Krieg anzufangen und keinen Frieden zu schließen. 3. Keine Charge ohne vorhergängige Deliberation biß an Obrisen zu vergeben. 4. Keine Güther zu verschenken und kein Geld aus der Casse nehmen. 5. Die Guarde und die Armée soll unter dem Hohen Conseil stehen. 6. Die Hofbedienungen keinen Rußen oder Ausländer ohne Berathschlagung zu conferiren. 7. Den Adel ohne causae cognitione der Güther und der Ehre nicht zu entsezen. 8. Das Volk mit neuen Auflagen nicht zu belegen. Zum Ende ist noch hinzugefügt: Alles was zum Besten des Volks gereichtet wird versprochen genehm zu halten. N.N. Und wann ich noch obbeschriebenen puncten, nicht thue, so werde ich verlustig der Rußischen Crone.“ Le Fort an König August II., Moskau, 02.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 108r.
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durch Intrigen gelungen sei, die Punkte zu erhalten, die die Zarin unterschrieben hätte.1191 Diese Konditionen stimmen inhaltlich mit denjenigen Wratislaws sowie mit denjenigen von Mardefeld und Tessin – übermittelt je am 27. Februar – überein.1192 Lediglich den letzten der angeblich neun Punkte scheint Le Fort vergessen zu haben.1193 Tessin kommentierte bloß, dass ihm zu diesem Zeitpunkt die Konditionen zugespielt worden seien. Wer der Informant war, geht leider nicht daraus hervor.1194 Es ist dabei auffallend, dass die Varianten Wratislaws, Mardefelds und Tessins sogar wortgleich sind, wenn auch orthografisch mit leichten Abweichungen,1195 aber insgesamt von der Fassung der Konditionen abwichen. Daher ist eine Weitergabe untereinander wahrscheinlich, auch wenn keiner der Gesandten dies in seinem Bericht vermerkte. Ob einer der Gesandten diese Information mitgeteilt bekommen hatte und teilte oder alle drei Gesandten von einem Informanten – möglicherweise unabhängig voneinander – diese Konditionen erhalten hatten, muss unbeantwortet bleiben. Auch Rondeau übermittelte an diesem Tag nahezu gleich lautende Konditionen, die die Zarin in Mitau unterschrieben und Rondeau selbst ins Englische übertragen hätte.1196 Die von Magnan am 27. Februar übermittelte Variante wich ebenfalls nur sehr geringfügig ab.1197 Bereits 1858 wurde festgestellt, dass die Konditionen Rondeaus, Magnans und Le Forts fast identisch sind.1198 In seinen Memoiren hielt de Liria fest, dass er die Konditionen durch Geld und Intrigen am 20. Februar erhalten habe. Es ist demnach auffallend, dass die Konditionen – auch in leicht abweichender Form zu denjenigen des Rates – alle nahezu gleichzeitig den Gesandten bekannt waren. Dabei ist es überaus interessant, dass Westphalen scheinbar die Konditionen erst am Tag der Souveränitätserklärung übermitteln konnte, obwohl er nach eigenen Angaben bereits am 2. Februar von Golicyn gefragt worden sei, ob die Regierungsform Englands oder Schwedens für Russland geeigneter sei. Zudem geht aus seinen Aussagen her1191 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 23.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 93v/94r (chiffriert). 1192 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (Beilage), Moskau, 27.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 19r. Tessin an Hofkanzler Stryk (Beilage), Moskau, 16.02/27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Die Datierung der von Mardefeld übermittelten Konditionen auf den 23. Februar (12.02Jul) hat Kurukin auf Grundlage der im Moskauer Archiv liegenden Relationen Mardefelds getroffen. Wie die Abweichung zu den Quellen im Geheimen Staatsarchiv zustande kommt, ist nicht zu ermitteln, siehe Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 177. 1193 Die neunte Bestimmung, in der steht, dass die Zarin weder heiraten noch einen Nachfolger benennen dürfe, findet sich bei Le Fort nicht. 1194 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 16.02./27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (Beilage), Moskau, 27.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 19r. 1195 Konditionen, Moskau, undatiert, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 198r, fol. 198r. 1196 Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 16.02.1730 a.St. [27.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 28r und 29r/v. 1197 Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 178. Magnan an Chauvelin, Moskau, 27.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 81r (chiffriert). 1198 Vgl. Schneider, La cour de la Russie il y a cent ans 1725–1783, S. 12–14.
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vor, dass er eine Einschränkung der Macht in Russland befürwortete. Damit verbunden war die Hoffnung Westphalens, Russland könne Holstein nur noch eingeschränkt bei der Wiedergewinnung Schleswigs gegen Dänemark unterstützen.1199 Falls es nicht vorher bereits eine Übermittlung der Konditionen durch de Liria und Westphalen gab, würde dies bedeuten, dass de Liria die Konditionen nicht umgehend an Rondeau und Magnan weitergeleitet hätte. Außerdem würde es bedeuten, dass Westphalen weder von de Liria, Rondeau und Magnan noch von den Kontakten zum russischen Hof profitieren konnte. Ob die Übermittlungsdaten de Lirias und Westphalens stimmen, muss auf Grundlage der Archivalien überprüft werden. Es lässt sich demnach festhalten, dass die Konditionen den Gesandten nach der Veröffentlichung erst mit deutlichem Zeitverzug bekannt wurden. Demnach war die Geheimhaltung der Konditionen durch den Obersten Geheimen Rat erfolgreich. Dies begünstigte jedoch vielfältige Spekulationen über den Inhalt der Konditionen. Die diplomatischen Vertreter betonten zwar mehrfach, die Konditionen einzusenden. Dies mussten sie jedoch immer wieder widerrufen und eingestehen, dass es sich lediglich um Gerüchte handelte. Demzufolge sind die Darstellungen in den Gesandtschaftsberichten nicht geeignet, um die Ereignisse der Machtbeschränkung darzustellen, sondern sie sind allein für die diplomatische Kommunikation aufschlussreich. Die Wertungen und Informationsweitergaben über die Regierungsform sind zudem nicht ohne Berücksichtigung der europäischen Bündnislagen adäquat zu deuten.
4.2 Russland zwischen europäischer Macht und Ohnmacht? Die Wertungen der Höfe Wien und Berlin Im Mittelpunkt der umfänglichen Weisung des Kaisers an Wratislaw vom 28. Februar 1730 stand der ausdrückliche Wunsch, das Bündnis mit der neuen Zarin in Zusammenarbeit mit dem preußischen Hof fortzusetzen. Wie bei der Thronfolge Annas erörtert, war es das Ziel des Wiener Hofs, wichtige russische Entscheidungsträger zu gewinnen. Der kaiserliche Gesandte Wratislaw sollte sich nicht offiziell gegen eine, durch den russischen Adel angestrebte veränderte Regierungsform aussprechen, obwohl eine aristokratische Ausgestaltung oder auch nur eine Einschränkung der Herrschaftsgewalt der Zarin den Interessen des Kaisers abträglich sei.1200 Dies lag darin begründet, dass der Kaiser mit einer eingeschränkten Machtstellung der Zarin einen Ansehens- und Machtverlust Russlands antizipierte, ebenso wie die Verzögerungen einer Verlängerung der russisch-kaiserlichen Allianz. Der Wiener Hof hoffte auf eine baldige Entscheidung in Moskau; stabile politische Verhältnisse waren wichtig.1201 Somit erörterte der Kaiser die innenpolitischen Vorkommnisse 1199 Vgl. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 177 f. 1200 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 77r–82r. 1201 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 07.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, ohne Foliierung.
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in Russland allein in Hinblick auf deren außenpolitische Auswirkungen – ohne die Veränderung der russischen Regierungsform ausführlich zu bewerten. Dies offenbart, dass die Meldungen über die genauen Bestimmungen der Regierungsform nachrangig waren. Russland solle imstande sein, seinen militärischen Verpflichtungen als Bündnispartner gegen die Alliierten von Sevilla nachzukommen. Diese Forderung genoss Priorität. Da dies der Wiener Hof bereits klar artikuliert hatte, bestand keine Notwendigkeit, zwischen dem 7. und dem 29. März Weisungen an Wratislaw zu verfassen. Der preußische König teilte die Ziele des Kaisers in Russland. Er ließ Mardefeld ebenfalls wissen, dass die Veränderung der Regierungsform ohne Unruhe und Konflikte zustande kommen sollte und außenpolitische Verwerfungen zu vermeiden seien. Die Notwendigkeit der militärischen Hilfe für den Kaiser betonte der preußische König dabei explizit.1202 Um die preußischen Interessen in Moskau durchsetzen zu können, solle Mardefeld diejenigen Familien gewinnen, die über den größten Einfluss auf die neue Regierung verfügen. Über eine mögliche Veränderung der Zusammensetzung des Obersten Geheimen Rates solle Mardefeld berichten.1203 Trotz des Vorrangs der Außenpolitik auch am preußischen Hof schenkte Friedrich Wilhelm I. den innenpolitischen Vorgängen in Russland mehr Beachtung als der Kaiser. Preußen erhoffte sich durch die Berichte Mardefelds, die derzeitigen Vorgänge in Moskau deuten zu können.1204 Es scheine, dass die „vornehmsten Rußen“ bemüht seien, „die Souveraineté ihrer künfftigen Regenten, wo nicht gantz auffhehben, dennoch wenigstens sehr beschneiden, und einschrenken, überhaubt aber, in Rusland, eine gantz andere Regierungs-Arth einführen, als selbige, bisher daselbst etabliet und gebräuchlich gewesen“.1205
Dass dies erfolgreich sein könne, sei nach Einschätzung des preußischen Königs nicht so unwahrscheinlich.1206 Erst am 28. Februar nahm der preußische König Bezug auf den Bericht Mardefelds vom 2. Februar. Die darin geäußerte Annahme Mardefelds, dass Ostermann sowohl zur Wahl Annas beigetragen habe als auch die Einschränkung der Regierungsform rückgängig machen werde, veranlasste den König, Ostermann zu danken. Die guten Beziehungen und das Bündnis mit Russland seien für Friedrich Wilhelm I. von größter Bedeutung. Die vor dem Thronwechsel angestrebte Gewinnung der Dolgorukij durch deren Erhebung in den Reichsfürstenstand sei hingegen mittlerweile hinfällig.1207 Mardefeld habe bereits früher berichtet, 1202 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 04.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 61v. 1203 Vgl. ebd., fol. 82r. 1204 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 25.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 73r. 1205 Ebd. 1206 Vgl. ebd., fol. 73v. 1207 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 04.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 83r/84v.
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dass die Überheblichkeit der Dolgorukij diejenige Menšikovs übersteige.1208 Dmitrij Golicyn wurde durch ein Handschreiben des preußischen Königs beglückwünscht, dass Anna durch Gottes Gnade aufgrund ihrer großen Tugenden und Regierungsqualitäten Russland gebührend regieren und die Allianz mit dem Kaiser halten werde.1209 Auch wenn dieses Lob rein formaler Natur gewesen sein sollte, so stellt dieses Handschreiben doch einen Gunstbeweis des preußischen Königs gegenüber Golicyn dar. Nichtsdestotrotz erbat sich der König auch über die Entwicklung der neuen Regierungsform ausführliche Berichte.1210 Friedrich Wilhelm I. war demnach bemüht, Ostermann und Golicyn zu gewinnen, um stabile Bündnisse zu erreichen. Am 4. März 1730 erhielt der preußische König nicht nur Mardefelds Bericht vom 6. Februar 1730, sondern parallel auch Berichte aus Kurland. Somit war der preußische Hof über wichtige Ereignisse über mehrere Kanäle gut informiert. Friedrich Wilhelm I. war sich zudem der Auswirkungen der langen Übertragungswege nach Russland bewusst, denn er rechnete damit, dass seine Weisung erst nach der Ankunft Annas in Moskau ankommen werde.1211 Das Interesse Berlins war insgesamt ebenso stark außenpolitisch motiviert wie das des Kaisers. Die Ziele des Kaisers – politische Stabilität und Fortführung des Bündnisses – zeigen sich auch in seiner Weisung an Seckendorff an den Berliner Hof. Er äußerte sich trotz der gemeinsamen Interessen mit dem preußischen König in Russland besorgt, dass Mardefeld in Moskau die Gewährung der russischen Truppen in Zweifel gezogen habe und die preußische Königin Sophie Dorothea in Berlin eine Annäherung an den englischen Hof anstrebe. Die Zustellung der Weisungen Wratislaws an Seckendorff in Berlin sollte die enge Zusammenarbeit der Herrscher und Gesandten in dieser Situation gewährleisten.1212 Durch die Übermittlung der Relation Wratislaws war Seckendorff auch über die Einschränkung der souveränen Macht der Zarin unterrichtet.1213 Aus der Weisung des Kaisers an Wratislaw wiederum war ihm die ablehnende Haltung des Kaisers gegenüber der Machteinschränkung bekannt, obwohl sich Wratislaw nicht öffentlich gegen eine Änderung der Regierungsform aussprechen durfte.1214 Da die Bündniswahrung Priorität genoss, waren zusätzliche Weisungen an Seckendorff zwischen dem 3. März 1730 und dem 20. März 1730 entbehrlich.1215 1208 Vgl. ebd., fol. 83r (chiffriert). 1209 Vgl. ebd., fol. 85r/86v. 1210 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 28.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 76r/v. 1211 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 04.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 61r. 1212 Vgl. Kaiser Karl VI. an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 20, Konvolut 1, fol. 1r/2v. Beilage Relation Wratislaws an Kaiser Karl VI. vom 03.02.1730 (Weisung Kaiser Karl VI. an Friedrich Heinrich Seckendorff), Wien, 28.02.170, HHStA Wien, Preußen, Karton 20, Konvolut 1, fol. 3v–14r. 1213 Vgl. ebd. 1214 Vgl. Beilage Weisung des Kaisers Karl VI. an Wratislaw vom 28.02.1730 (Weisung Kaiser Karls VI. an Friedrich Heinrich Seckendorff, Wien, 28.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 20, Konvolut 1, fol. 18r–23v. 1215 Vgl. Kaiser Karl VI. an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 03.03.1730, HHStA Wien, Preu-
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Die offizielle Berichterstattung Seckendorffs und die des kaiserlichen Sekretärs Demrath vom preußischen an den Wiener Hof sind ausgesprochen umfangreich. Auffallend bei der Betrachtung der offiziellen Korrespondenz ist, dass der kaiserliche Sekretär die Regierungsform in Russland nicht erwähnte und auch Seckendorff die Lage in Russland nur einmal thematisierte, indem er eine durch den schwedischen Gesandten in Preußen1216 genährte Furcht erwähnte, dass Anna die Absendung der russischen Truppen verweigern könnte. Dies sei aber sowohl in Berlin als auch in Dresden stark in Zweifel gezogen worden.1217 Die Bündnistreue Friedrich Wilhelms I. gegenüber dem Kaiser war das dominierende Thema der Berichte aus Berlin. Die bedrohlich wahrgenommene pro-englische bzw. pro-französische Fraktionierung der Höfe in Berlin und Dresden, ebenso wie durch Versuche der preußischen Königin Sophie Dorothea, Verhandlungen der englischen Gesandten mit ihrem Mann zu ermöglichen, drohten die kaiserlichen Interessen an diesen beiden Höfen zu unterlaufen.1218 Die Loyalität Friedrich Wilhelm I. gründete aber auf der persönlichen Verbundenheit zum Kaiser. Machtpolitisch erhoffte er sich kaiserliche Garantien für die Herzogtümer Jülisch und Berg.1219 Diese Garantien hatte der Kaiser Friedrich Wilhelm I. im Bündnisvertrag von 1728 in einem Geheimartikel bereits zugesichert, wodurch die Gewinnung Sachsens als Bündnispartner eine besondere Brisanz aufwies, da auch Sachsen Ansprüche auf diese Herzogtümer erhob.1220 Die alleinige Betrachtung der offiziellen Korrespondenzen würde die historische Beurteilung zu einem bedenklichen Fehlschluss verleiten, denn die Geheimkorrespondenz zwischen Prinz Eugen und Seckendorff offenbart die bedeutende Rolle Russlands für den Kaiser und die umfängliche Informationslage Seckendorffs, die dieser über vielfältige Kanäle erhielt. Se-
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ßen, Karton 18, Konvolut 1, fol. 10r/11r. Kaiser Karl VI. an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 20.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 18, Konvolut 1, fol. 14r–23v. Otto Vilhelm Klinckowström war vom 13. Oktober 1726 (Ankunft) bis zu seinem Tod am 16. Juni 1731 außerordentlicher schwedischer Gesandter in Preußen. Davor war er seit ungefähr Ende September 1727 bis zu seiner Abreise im März 1728 außerordentlicher Gesandter in Polen, siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 376 f. Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Potsdam, 28.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, fol. 117r. Vgl. Demrath an Kaiser Karl VI., Berlin, 25.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, fol. 94r–102v. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Dresden, 25.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, fol. 98r/v. ebd. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Potsdam, 28.02.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 1, fol. 115r–117v. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Berlin, 03.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 3r–6v. Demrath an Kaiser Karl VI., Berlin, 07.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 16r–18v. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Berlin, 07.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 22r–24r. Demrath an Kaiser Karl VI., Berlin, 04.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 13r–16v. Vgl. Neugebauer, Handbuch der Preußischen Geschichte, S. 319 f. Vgl. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 58 f.
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ckendorff bekam von dem in Berlin anwesenden russischen Gesandten Golicyn bestätigt, dass Russland die Allianz mit dem Kaiser fortführen und die Truppenhilfe gewähren werde. Dies habe der russische Gesandte durch einen Brief seines Vaters Dmitrij Michajlovič Golicyn erfahren.1221 Die Bestätigung der Allianz auf diesem zusätzlichen Weg offenbart, als wie wichtig die außenpolitische Stabilität der Bündnisse auch von russischer Seite angesehen wurde. Mit der aus Russland unabdingbaren zeitlichen Verzögerung konnte Seckendorff sogar die machteinschränkenden Konditionen, die der preußische Gesandte Mardefeld an den Berliner Hof übermittelt hatte, nach Wien weiterleiten.1222 Dass der Bericht Mardefelds in die Hände Seckendorffs gelangte, scheint durch wiederholte Weitergabe von Briefen durch den preußischen Minister Grumbkow erfolgt zu sein. Seckendorff versuchte mit unterschiedlichem Erfolg immer wieder, Akteure fremder Höfe als Informanten zu gewinnen.1223 Eine weitere Besonderheit der Geheimkorrespondenz Seckendorffs war, dass er einen regen Briefwechsel mit kaiserlichen Gesandten aus Paris, London, Dresden, Moskau, Den Haag, Kopenhagen und Stockholm pflegte und die erhaltenen Nachrichten an Prinz Eugen weiterleitete. Diese Meldungen verfügten zumeist nicht über einen namentlich genannten Absender. Einer an Prinz Eugen kommunizierten Relation lag eine Nachricht aus Paris, datiert vom 24. Februar, bei. Demnach hatte der Tod des Zaren zwar große Hoffnungen bei den Alliierten von Sevilla geweckt; diese seien aber umgehend durch die von einem Kurier überbrachten Meldungen an den dortigen russischen Gesandten über die einmütige Wahl der Herzogin von Kurland und die Zusicherung des Fortbestandes der geschlossenen Bündnisse enttäuscht worden.1224 Ein Abgleich mit den Berichten Stefan Kinskys oder Marcus Fonsecas ergab, dass es sich bei diesem Schriftstück nicht um eine wörtliche Abschrift eines Berichts handelte, auch wenn der Inhalt bezüglich Russlands mit einer Relation Fonsecas an den Kaiser identisch war.1225 Bei einer ebenfalls durch Seckendorff an Prinz Eugen weitergeleiteten Beilage handelt es sich um den gesamten zweiten Brief Le Forts, datiert auf den 9. Februar 1730. Obwohl in der Forschung bekannt ist, dass auch Manteuffel Meldungen sächsischer Gesandter an den Kaiserhof und Seckendorff weiterleitete,1226 ist dieser Befund für Berichte Le Forts aus Moskau 1221 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 04.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 21r. 1222 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 21.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 151v (chiffriert). Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen (Beilage aus Moskau undatiert), Berlin, 21.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 166r/v. 1223 Vgl. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 42 f. 1224 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 07.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 40r. 1225 Vgl. Fonseca an Sinzendorf, Paris, 23.02.1730, HHStA Wien, Frankreich, Karton 37, Konvolut I, fol. 61r/62r. 1226 Vgl. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, unter anderem S. 18 und S. 35. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 102.
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tatsächlich neu. Da Seckendorff kontinuierlich Relationen aus Dresden über die Moskauer Ereignisse erhielt, wird daraus ersichtlich, dass der ebenfalls in das diplomatische Netzwerk der Geheimkorrespondenzen einbezogene kursächsische Minister Manteuffel diese für den kursächsischen Hof bestimmten Berichte weiterleitete.1227 Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass die zweite Ausfertigung eines jeden Briefes Le Forts in Moskau Manteuffel zugeschickt wurde. Diese zweite Relation Le Forts beinhaltete die Zweifel daran, dass Wratislaw trotz beständigen Bemühungen die Absendung der russischen Truppen gelingen könne. Des Weiteren sei Mardefeld Wratislaw ergeben, während de Liria und die englischen Vertreter die derzeitige Stimmung zu nutzen suchten. Zudem kamen die Spannungen zwischen den verschiedenen russischen Parteiungen über die neue Regierungsform detailliert zum Ausdruck.1228 Auch eine Seckendorff aus Den Haag zugehende Relation vom 28. Februar 1730 stellte die militärische Unterstützung Russlands abermals infrage.1229 Die Intention Manteuffels war es, den Kaiser zu unterstützen. Da er aber die Falschinformation Le Forts glaubte und weiterleitete, bewirkte er das Gegenteil. Durch die Weiterleitung der Relation Le Forts wurde somit die schon als sicher geglaubte Bestätigung der Allianz zumindest in Zweifel gezogen.
Der Dresdner Hof schweigt abermals Der polnische König August II. ging überhaupt nicht auf die sich verändernde Regierungsform ein, sondern setzte auf die Gewinnung der bedeutendsten Adligen in Russland. Er befand ausdrücklich für gut, dass Le Fort den Feldmarschällen Dolgorukij und Golicyn Komplimente in seinem Namen überbrachte. Der neuen Zarin solle die aufrichtigste und beständigste Freundschaft König Augusts II. vermittelt werden.1230 Dass die Weisungen an den sächsisch-polnischen Gesandten nicht nur wegen der langen Übertragungswege nach Moskau, sondern auch bis zur Abfertigung viel Zeit beanspruchten, belegt die Weisung Le Forts exemplarisch. Diese Weisung nahm Bezug auf den Bericht Le Forts vom 2. Februar1231 und wurde am 2. März im sächsischen Kabinett beraten und beschlossen, aber erst am 9. März
1227 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 11.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 54v. Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen, S. 28. 1228 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen (Beilage aus Moskau vom 09.02.1730, Berlin, 07.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 41r/v. Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 09.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 59r–61r (chiffriert). 1229 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen (Beilage aus Den Haag vom 28.02.1730), Berlin, 07.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 43r/v. 1230 Vgl. Beschluss des sächsischen Kabinetts, Dresden, 02.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 51r. 1231 Vgl. König August II. an Le Fort, Dresden, 09.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 51r.
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an Le Fort abgesandt.1232 Das Geheime Kabinett bestimmte die Außenpolitik des in Personalunion regierten Kürfürstentums Sachsen und des Königreichs Polen.1233 Durch einen Geheimen Sekretär mussten nach dem Empfang Dechiffrierungen und vor der Absendung Chiffrierungen vorgenommen werden. Die im Geheimen Kabinett anwesenden Minister und der König berieten die Weisungen an die sächsischen Gesandten und zeichneten diese ab.1234
Warschau – der Versuch der Informationsgewinnung Aus den offiziellen Berichten des kaiserlichen Gesandten Wilczek aus Warschau geht allein hervor, dass er sowohl mit dem dortigen russischen Gesandten Bestužev in Verbindung stand als auch mit dem kaiserlichen Gesandten Wratislaw in Moskau brieflich kommunizierte.1235 Obwohl Wilczek den russischen Gesandten in Warschau konsultierte, konnte er Prinz Eugen keine Neuigkeiten berichten.1236 Am 4. März erreichte Wilczek eine Relation Wratislaws, datiert auf den 2. Februar. Daraus vernahm er, dass die Lage in Russland stabil sei und die russische Regierung ihre Bündnisse fortführe. Der von Wilczek aufgesuchte russische Gesandte in Warschau habe nach eigener Versicherung keine anderen Mitteilungen als die der Ankunft der Zarin am 10. Februar in Riga, von wo sie ihre Reise nach Moskau sofort fortgesetzt habe. Wilczek betonte, dass über ihre Ankunft erst in 14 Tagen Nachricht in Warschau einlaufen könne. In Warschau sorge aber das Treffen zwischen dem preußischen und dem polnischen König für viel Gesprächsstoff, da die Freundschaft der beiden Monarchen von der polnischen Nation als Gefahr für die polnisch-litauische Republik angesehen werde. Die republikanische Partei würde die Gemüter in der Stadt noch mehr erhitzen und nütze dieses Ereignis für ihre Anliegen.1237 Der polnische Adel befürchtete durch auswärtige Monarchen eine mögliche Beschränkung seiner eigenen Freiheiten zugunsten des Königs. Die erwähnte republikanische Partei strebte Verfassungsänderungen zur Stärkung Polen-Litauens an, die jedoch die Macht des Adels erhalten sollte.1238 Die eintreffenden Meldungen von anderen europäischen Höfen wurden demnach vor ihrer außenpolitischen Wirkung auf den polnischen Adels selbst bewertet. Die Lage in Warschau verdeutlicht zudem, dass der kaiserliche Gesandte trotz aller 1232 Vgl. Beschluss des sächsischen Kabinetts, Dresden, 02.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 50r/v. 1233 Vgl. Markiewicz, Politische Institutionen und Prozeduren der sächsisch-polnischen Personalunion, S. 52. 1234 Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 98–100. 1235 Vgl. Wilczek an Kaiser Karl VI., Warschau, 08.03.1730, HHStA Wien, Polen, Karton 5, fol. 86r/87r. 1236 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Warschau, 01.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 93r. 1237 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Warschau, 04.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 95v/96v. 1238 Vgl. Wojciech Kriegseisen: Zwischen sächsischem Absolutismus und goldener Freiheit? Politische Praxis, Reformentwürfe und Reformansätze bis 1763, in: Polen in der Europäischen Geschichte, hg. von Hans-Jürgen Bömelburg, Stuttgart 2011, S. 477–494, hier S. 479–489.
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Die Beschränkung Macht der Zarin – Gerüchte, Vorstellungen, Vorbilder
Bemühungen keine Informationen über die Lage in Moskau erhalten konnte. Auch der direkte Kontakt zu Wratislaw in Moskau und zum russischen Gesandten in Warschau brachten ihm keine neuen Erkenntnisse.
Kiel – Gerüchte und Falschmeldungen als Gefahr Der holsteinische Hofkanzler konnte aus dem Bericht Tessins die unklare Informationslage über die neue Regierungsform ersehen, hatte sich aber genauere Informationen über die Veränderung der Regierungsform erhofft. Bonde und Tessin erhielten zudem ein neues Kreditiv für ihre diplomatischen Tätigkeiten, wobei dessen Übergabe an die Zarin Bonde die Gelegenheit bieten sollte, ihr seine Ergebenheit zu bezeugen.1239 Der Weisung des Herzogs lag das auf Deutsch und Russisch verfasste Kreditiv bei, wie dies auch für offizielle Schreiben aus Russland üblich war. Die Qualität der Übersetzung könne er, so der Herzog, nicht beurteilen, da der übliche Übersetzter krank sei. Auch er wies seine Gesandten an, weiterhin über Veränderungen des dortigen Regierungssystems zu berichten und sich um die Möglichkeiten Karl Peter Ulrichs zu bemühen. In Bezug auf die Beurteilungen der Ereignisse am russischen Hof sollten die Gesandten allgemein bleiben, bis der Hofkanzler ihnen nach Klärung der Lage in Moskau genauere Weisungen senden könne.1240 Diese Bewertungen zeigen, dass es auch Kiel um die Gewinnung der russischen Adligen und der Zarin ging. Eine diese Ziele in Gefahr bringende Nachricht aus Hamburg löste am Kieler Hof drei Tage später Konsternation aus. Der spanische Envoye in Hamburg, Marqués de Monteleon1241, hatte von de Liria Nachricht erhalten, dass Bonde und jemand nicht namentlich Genanntes gegen die Wahl Annas schriftlich protestiert habe, was der russische Hof negativ aufgenommen hätte. Der holsteinische Herzog verlangte eine Klarstellung, da er diese Nachricht nicht glauben könne.1242 Der Herzog wies abermals explizit darauf hin, dass er keinesfalls die Nachfolge der Zarin ablehne.1243 Der dänische Resident in Hamburg1244 wiederum zitierte in seinem Schreiben de Liria, wonach Ostermann aus dem Rat ausgeschlossen worden wäre. Der Herzog zeigte sich über diese Meldung verwundert, da Tessin nur über die Erkrankung Ostermanns berichtet habe. Zudem werde debattiert, ob de Liria abberufen werden solle.1245 Aus diesen Nachrichten ergibt sich, dass nicht nur die Lage in Moskau in ihrer Komplexität 1239 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 02.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1240 Vgl. Herzog Karl Friedrich an Tessin, 02.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1241 Vgl. Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 388. Genaue Daten sind zu Monteleon nicht zu ermitteln. 1242 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1243 Vgl. ebd. Da die Chiffrierung an dieser Stelle nicht dechiffriert war, wurde sie durch den Verfasser mithilfe eines überlieferten Chiffrenschlüssels händisch dechiffriert. 1244 Johann Christian Hohenmühle war vom 1. März 1723 (Ankunft) bis zu seinem Tod am 5. Dezember 1730 dänischer Resident in Hamburg und gleichzeitig beim Niedersächsischen Kreis, siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 32 und S. 36. 1245 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung.
Russland zwischen europäischer Macht und Ohnmacht?
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den Gesandten eine verlässliche Berichterstattung erschwerte, sondern dass sich an den europäischen Höfen Gerüchte verbreiteten, die eine Einschätzung der Lage zusätzlich erschwerten. Stryk zeigte sich dennoch hoffnungsvoll, dass sich die Veränderungen in Moskau auch für Holstein in anderen europäischen Angelegenheiten vorteilhaft auswirken würden. Daher dürften bei der derzeitigen Lage weder Bonde aus Moskau noch Bassewitz aus Paris abberufen werden.1246 Bassewitz hielt sich als holsteinischer Gesandter in Paris auf, nachdem sich die Hoffnungen auf die Wiederherstellung des Herzogtums Schleswig auf dem Kongress von Soissons (1728–1730) zerschlagen hatten.1247 Die Informationsmitteilung des Hofs aus Kiel an seinen Gesandten nach Wien erschien bei der dortigen unklaren Lage notwendig. Dies belegt abermals, welche Bedeutung Kiel dem russischen Hof für die Wahrung seiner Interessen beimaß. Der holsteinische Hofkanzler leitete umgehend eine Relation Tessins vom 2. Februar 1730 als Beilage an den holsteinischen Gesandten Kettenburg nach Wien weiter.1248 Somit erfuhr Kettenburg, dass der russische Adlige Pavel Ivanovič Jagužinskij und andere nicht namentlich genannte Personen der Wahl Annas nicht zustimmen wollten, da ihre Macht durch die Einschränkung der Zarensouveränität beschränkt werden sollte. Der Hofkanzler vermeldete, dass der Oberste Geheime Rat sofort nach dem Tod des Zaren begonnen habe, an der neuen Regierungsform zu arbeiten, sodass diese bis zur Ankunft der neuen Zarin fertig sein könnte. Es sehe so aus, als ob die Regierungsform dem schwedischen Beispiel folgen wolle.1249 Diese Annahme Stryks belegt, dass er kein klares Bild über die Abläufe in Russland hatte. Dies ist wenig verwunderlich, da bereits die Informationen Tessins und die ihn erreichenden Gerüchte nicht die eigentlich stattfindenden Ereignisse beschrieben, wie bereits dargelegt werden konnte. Wider besseres Wissen sandte er diese Falschmeldungen nach Wien und trug somit zu deren Verbreitung bei. Kettenburg wiederum erhielt Briefe aus Mitau, worin stand, dass der russische Adel die Macht der Zarin durch Konditionen einzuschränken gedenke.1250 Er war sich zudem bewusst, dass erst in zehn bis 14 Tagen ein Kurier verlässliche Nachricht über Annas Ankunft und die Regierungsform aus Moskau bringen könne.1251 Die Hoffnung auf eine mögliche Thronfolge Karl Peter Ulrichs in Moskau überlagerte weitgehend die Berichterstattung Ket1246 Vgl. Hofkanzler Stryk an Bonde, Kiel, 13.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2225, ohne Foliierung. 1247 Vgl. Bagger, The Role of the Baltic in Russian Foreign Policy, 1721–1773, S. 52. Neuschäffer, Henning Friedrich Graf von Bassewitz, S. 142–146. Arpe, Geschichte des Herzoglich Schleswig-Holstein Gottorfischen Hofes und dessen vornehmsten Staats-Bedienten, unter der Regierung Herzog Friedrichs IV. und dessen Sohnes Herzog Carl Friedrichs, mit geheimen Anecdoten zur Erläuterung der Schleswig-Holsteinischen Historie besonders als der Nordischen Begebenheiten überhaupt, S. 105– 113. Hübner, Kiel, Eutin, St. Petersburg, S. 14. 1248 Beilage Brief Tessins vom 22.01./02.02.1730 (Hofkanzler Stryk an Kettenburg), Kiel, 27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 1249 Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 1250 Vgl. Kettenburg an Herzog Karl Friedrich, Wien, 01.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 1251 Vgl. Kettenburg an Hofkanzler Stryk, Wien, 04.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung.
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tenburgs über mögliche machteinschränkende Bedingungen.1252 Dies verdeutlicht, dass die Machtbeschränkung auch nur insoweit eine Rolle spielte, wie sie die Chancen Karl Peter Ulrichs auf eine noch zu erhoffende Thronfolge oder das europäische Bündnissystem beeinflusste.
Versailles – die Hoffnung auf die Schwächung des Kaisers Aus der französischen Weisung vom 12. März 1730 an Magnan geht hervor, dass die französische Regierung und König Ludwig XV. die russischen Geschehnisse seit dem Tod Peters II. vorteilhaft bewerteten und der König persönlich seine Aufmerksamkeit darauf richtete. Dass nicht die Dolgorukij, wie zuerst vermutet, sondern die Golicyns für die Wahl Annas verantwortlich seien, sei den Berichten Magnans zu entnehmen gewesen. Versailles wollte in Erfahrung bringen, wie die Konditionen konkret aussehen sollten und welche Form die neue Regierung annehmen sollte. Zudem war der französische Hof überzeugt, dass die alten russischen Geschlechter diese Machtbeschränkungen anstrebten.1253 Der Siegelwahrer und Staatssekretär des Äußeren, Germain-Louis de Chauvelin (1685–1762)1254, war davon überzeugt, dass es die innenpolitischen Veränderungen den Moskowitern – wie er die russischen Adligen nannte – wahrscheinlich unmöglich machen würden, sich mit der Außenpolitik mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu beschäftigen. Trotzdem könne nicht genug wiederholt werden, wie wichtig es für Frankreich sei, dass die militärische Hilfe für den Kaiser ausbleibe und das Ansehen Wiens in Russland weiter schwinde. Es sei es zu hoffen, dass die neue Zarin unparteiischer als der verstorbene Zar sei und keine Außenpolitik unterstütze, die dem französischen König zum Nachteil gereiche.1255 Bei dieser Wertung ist zu beachten, dass Chauvelin ein entschiedener Gegner des Kaisers war, während es Kardinal Fleury und dem französischen König eher daran gelegen war, den Frieden in Europa zu bewahren.1256 Die in der Historiografie aufgestellte Behauptung, dass es Aufgabe Magnans sei, Ostermann zu stürzen,1257 findet sich für die Zeit des Thronwechsels weder in den Instruktionen noch in seinen Berichten. Das Interesse gegenüber der russischen Innenpolitik war aber auch am französischen Hof ausschließlich außenpolitisch motiviert. Ziel war es, den Kaiser zu schwächen, um aus dem Thronwechsel in Moskau Vorteil für die Allianz von Sevilla zu ziehen. 1252 Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. Kettenburg an Hofkanzler Stryk, Wien, 08.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. Kettenburg an Herzog Karl Friedrich, Wien, 11.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 13.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 1253 Vgl. Chauvelin an Magnan, Versailles, 12.03.1730, A.A.E. Paris, Russie 23, fol. 56r. 1254 Germain Louis de Chauvelin (1685–1762) war Siegelbewahrer, Staatsminister und von 1727 bis 1737 Staatsminister, siehe Malettke, Die Bourbonen, S. 40. 1255 Vgl. Chauvelin an Magnan, Versailles, 12.03.1730, A.A.E. Paris, Russie 23, fol. 56r/v. 1256 Vgl. Max Braubach: Versailles und Wien von Ludwig XIV. bis Kaunitz. Die Vorstadien der diplomatischen Revolution im 18. Jahrhundert, Bonn 1952, S. 161. Malettke, Die Bourbonen, S. 40 f. Demel, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts, S. 220. 1257 Vgl. Anisimov, Rossija bez Petra, S. 390 f.
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Schweigen in England und Mecklenburg Der englische Hof erachtete es abermals nicht als notwendig, auf die Ereignisse in Moskau einzugehen. James Townshend ließ Rondeau in einer Weisung an Ward lediglich mitteilen, dass er dessen Ausführungen über die neue Regierungsform erhalten habe. Die Weisung an Ward beinhaltete in einer nicht erhaltenen Beilage die Parlamentsbeschlüsse bezüglich der Affäre von Dünkirchen.1258 Dies war die bedeutende innenpolitische Kontroverse, die in England parallel zum Thronwechsel in Russland stattfand. Dabei stand die außenpolitische Ausrichtung Englands als Mitglied der Allianz von Sevilla zur Disposition. Die Gegner erhofften sich zudem eine Wiederannährung an den Kaiser. Britische Diplomaten waren über den Ausgang der heftigen Debatte um die Vor- und Nachteile der Allianz von Sevilla in Kenntnis gesetzt, um die Handlungsfähigkeit der englischen Regierung zu betonen. Die Parlamentsdebatte um Dünkirchen war symptomatisch für den Richtungsstreit in der englischen Politik.1259 Demnach dominierten Spannungen zwischen den Verbündeten Frankreich und England die überaus kurzen Weisungen. Karl Leopold wiederum konnte nur allgemein auf eine Verlängerung der Allianz mit Russland drängen. Da J.C.D. Ostermann dem Herzog Nachrichten über die sich verändernde Regierungsform vorenthielt,1260 war es Karl Leopold unmöglich, darauf eingehen zu können.
Die diplomatischen Vertreter am Wiener Hof und die Bedeutung der Außenpolitik Auch die Diplomaten der europäischen Mächte in Wien kümmerten sich kaum um die Regierungsform in Russland. Der sächsisch-polnische Gesandte Wackerbarth-Salmour befasste sich nicht mit den russischen Ereignissen, sondern legte den dortigen diplomatischen Vertretern Frankreichs1261 und Englands die Absicht des Treffens zwischen Friedrich Wilhelm I. und dem sächsischen König dar. Dem in Wien kursierenden Gerücht, dass die beiden Könige dem Kaiser Truppen zur Verfügung stellen würden, entgegnete Wackerbarth-Salmour, dass der unerwartete Besuch des preußischen Königs nur ein Zeichen der Freundschaft sei. Während der preußische König dem Kaiser Truppen zur Verfügung stellen wolle, wünsche der polnische König friedliche Lösungen. August II. strebe weder einen Beitritt zum Vertrag von Wien noch zum Vertrag von Sevilla an, so die Beteuerungen des sächsischen Repräsentanten. Falls ein Krieg unausweichlich sei, müsse aber der polnische König für die Verteidigung des Reiches aufseiten des Kaisers eintreten. Sowohl de Bussy als auch Waldegrave hätten dem nichts erwidert, und der spanische diplomatische Vertreter Eguiluz habe das weise und kluge 1258 Vgl. Secretary of State Townshend an Ward, Whitehall, 03.03.1730, TNA, SP 91/11, fol. 25r/26v. 1259 Black, Parliament and Foreign Policy in the Eighteenth Century, S. 54–61. Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, S. 162–177. 1260 Vgl. Herzog Karl Leopold an J.C.D. Ostermann, Danzig, 24.03.1730, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 277r. 1261 Vgl. De Bussy an Chauvelin, Wien, 01.03.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 217v.
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Verhalten des polnischen Königs gelobt.1262 König August II. billigte die Ausführungen Wackerbarth-Salmours ausdrücklich.1263 Diese Ausführungen berichtete der englische Gesandte Waldegrave nach London.1264 Wackerbarth-Salmour hatte zwar zur Zufriedenheit seines Königs agiert, wusste allerdings nicht, dass August II. seine diplomatische Korrespondenz seit Januar 1730 überwachen ließ. Grund dafür war eine unbedachte Äußerung Manteuffels gegenüber August II., die das Misstrauen des polnischen Königs gegen den bereits zu früheren Zeiten heimlich für den Kaiserhof agierenden sächsischen Gesandten erneut weckte.1265 Den kaiserlichen Bündnisbemühungen im Reich, den Kriegsvorbereitungen und der Ankunft der Kuriere aus Spanien wurde eine besondere Aufmerksamkeit durch die Diplomaten am Wiener Hof zuteil.1266 Nach Angabe Waldegraves sei damit der Wunsch nach Aufklärung darüber verbunden, ob es Krieg oder Frieden gebe.1267 Der englische und der französische Diplomat bezweifelten wegen großer Rekrutierungsprobleme und Ausfällen aufgrund der schlechten Versorgungslage immer wieder die baldige Absendung kaiserlicher Truppen nach Italien.1268 In einem privaten Brief an Townshend beschwerte sich Waldegrave abermals über den spanischen Sekretär Eguiluz. Durch dessen falsche Berichte seien Waldegrave sowie die Vertreter der Kronen Englands und Frankreichs in Florenz beschuldigt worden, sie hätten gegen ihre Instruktionen gehandelt und die Antworten des Kaisers bezüglich des Vertrages von Sevilla nicht schnell genug an Eguiluz weitergegeben. Dem widersprach Waldegrave in ausführlichen Darstellungen.1269 Der englische Gesandte bezeichnete auch seinen französischen Kol1262 Vgl. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 01.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 57r/58r. 1263 Vgl. Beschluss des sächsischen Kabinetts, Dresden, 09.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 98r/99r. König August II. an Wackerbarth-Salmour, Dresden, 16.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 99r. 1264 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 01.03.1730, TNA, SP 80/66, fol. 165r/v. 1265 Vgl. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 63 und S. 71 f. 1266 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 08.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 1r/v. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 11.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 7v/8r. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 15.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 13r/v. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 01.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 58v/59r. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 04.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 63r–69r. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 08.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 68r/v. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 11.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 93r–95r. 1267 Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 08.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 1v. 1268 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 01.03.1730, TNA, SP 80/66, fol. 162v–165r (teilweise chiffriert). Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 08.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 1r/v. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 15.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 12r/v. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 18.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 17r/18r (chiffriert). De Bussy an Chauvelin, Wien, 18.03.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 257v/258r (chiffriert). 1269 Vgl. Waldegrave an Poyntz, Wien, 01.03.1730, TNA, SP 80/66, fol. 171r–174v (teilweise chiffriert).
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legen de Bussy als träge und hoffte, dass Weisungen Versaillesʼ de Bussys Handeln beschleunigten.1270 Waldegrave konnte am 8. März 1730 auf Berichte aus Russland zurückgreifen, da er abermals Kenntnis der Berichte de Lirias an den spanischen Sekretär in Wien vom 6. Februar erhielt. Aus der synchronen Betrachtung der Relationen geht deutlich hervor, dass sich die Meldungen de Lirias von denen, die Kettenburg erhielt, unterschieden. Waldegrave führte aus, dass de Liria die Ankunft eines kaiserlichen Kuriers in Moskau vermeldet habe. Was de Liria über die Weisung an Wratislaw in Erfahrung gebracht habe, beurteilte Waldegrave als beachtlich. Der Kaiser habe Wratislaw befohlen, die Bereitstellung der zugesicherten 30.000 Soldaten zu erwirken, was Wratislaw sehr tatkräftig ausführe, indem er mit Ostermann bereits zwei Stunden konferiert habe.1271 Chiffriert ergänze Waldegrave, dass de Liria nicht weniger tätig sei und Wratislaw an die meisten Orte folge. Seinen Briefen nach zu urteilen, so Waldegrave, scheine de Liria davon überzeugt zu sein, dass sich die russischen Adligen gegen die Interessen des Kaisers wendeten, da der Kaiser kaum seine eigenen Truppen und noch weniger die russischen Truppen bezahlen könne.1272 Obwohl der französische Sekretär ebenfalls am gleichen Tag Kontakt mit dem spanischen und dem englischen diplomatischen Vertreter hatte, berichtete er aus nicht näher zu ermittelnden Gründen nichts über die Vorkommnisse in Russland.1273 Dass Waldegrave die Möglichkeit der Einschränkung der Macht der Zarin als entscheidend für die Wahl Annas einschätzte, wurde bereits erörtert. Die Informationen Waldegraves diesbezüglich stammten nicht von seinen niederrangigen Kollegen in Moskau, sondern er erhielt diese durch die Weitergabe von Nachrichten de Lirias durch den spanischen Sekretär in Wien. Waldegrave hatte damit eine weitaus bessere Informationslage als seine englischen Kollegen in Moskau, sodass er auf die Machtbeschränkungen der Zarin detailliert eingehen konnte: “The Conditions which the Deputys were to propose are, that she will not marry and that she will be advised by a Council that is to be appointed to the States of the Empire. It is thought by some that the Czarina will refuse the Crown on these terms, but others are of Opinion that she will accept of it on any, in hopes that when once she has got Possession, she may break thrô any Conditions that have been extorted from her.”1274
Aufgrund der Konditionen und der mangelnden Unterstützung der Allianz mit dem Kaiser bei hohen russischen Adligen beurteilte Waldegrave die Absendung der Truppen an den Kai-
1270 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 08.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 2r (chiffriert). 1271 Vgl. ebd., fol. 2v/3r. 1272 Vgl. ebd., fol. 3r/v (chiffriert). 1273 Vgl. De Bussy an Chauvelin, Wien, 08.03.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 229v. 1274 Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 24.02.1730, TNA, SP 80/66, fol. 150r/v.
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Die Beschränkung Macht der Zarin – Gerüchte, Vorstellungen, Vorbilder
ser als vollkommen aussichtslos.1275 Dies erklärt möglicherweise, warum die Weisung Townshends auf die Ereignisse in Russland und deren Rezeption in Wien gegenüber Waldegrave nicht einging. Townshend habe dem König den Bericht vorgelegt, der aber keine besonderen Befehle an Waldegrave gegeben.1276 Aus den Weisungen Versailles an de Bussy geht hervor, dass sich der Kaiser spanischen Truppen in Italien und französischen Forderungen widersetzen werde. Basierend auf den von de Bussy in Wien verfassten Briefe über die derzeitige Lage in Russland, erscheine die Allianz mit Russland für den Kaiser nutzlos. Bezüglich der Meinungsverschiedenheiten mit dem spanischen Sekretär solle de Bussy vorsichtig agieren, so die königliche französische Anordnung.1277 Die Weisung an Magnan nach Moskau beinhaltete den Rat, dass er sich weiterhin um Informationen des dänischen Gesandten Westphalen bemühen solle, ohne dabei den Verdacht auf sich zu ziehen, dass er dessen Verhandlungen mit Russland hintertreibe. Um die dänischen Verhandlungen in Russland dennoch zu stören, sollte Magnan mit seinem französischen Kollegen in Dänemark korrespondieren.1278
4.3 Fazit Dass die diplomatische Berichterstattung in hohem Maße auf Gerüchten basierte, wurde von den Gesandten sehr klar artikuliert. Während die Diplomaten die Problematik der überaus schwierigen Informationsbeschaffung aufgrund der strikten Geheimhaltung vielfach betonten, wurde dies bisher in der Historiografie zu wenig beachtet. Eine kritische Quellenanalyse der Gesandtschaftsberichte kann die Behauptung, dass der Oberste Geheime Rat eine konstitutionelle Ausgestaltung der Macht mit weitreichender Adelspartizipation initiiert habe, widerlegen. Es wird deutlich, dass die Informationsbeschaffung vor allem Rondeaus und Magnans hauptsächlich auf den Gesandtschaftsberichten de Lirias beruhte, was dazu führte, dass mitunter Gerüchte rezipiert und mannigfaltig in weiteren Berichten verbreitet wurden. Der angebliche Plan Golicyns entstand aufgrund der Wunschvorstellung der Historiker des 20. Jahrhunderts, des schlechten Informationszugangs niederrangiger diplomatischer Akteure, der Rezeption von Mutmaßungen und gestreuten Gerüchten sowie von politisch als zweckdienlich empfundenen Vorstellungen der europäischen Diplomaten. Woher die von de Liria verbreiteten weitreichenden Pläne einer umfassenden Umgestaltung der russischen Regierung stammten, muss die weitere Forschung zeigen. Durch die Weitergabe ungesicherter Informationen durch ihresgleichen hatten ranghöhere Gesandte eine Deutungsmacht über die Ereignisse, die vor allem der spanische Gesandte in Moskau ge1275 Vgl. ebd., fol. 150v/151v. 1276 Vgl. Secretary of State Townshend an Waldegrave, London, 06.03.1730, TNA, SP 80/66, fol. 159r/v. 1277 Vgl. Chauvelin an de Bussy, Versailles, 10.03.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 211r–213v (chiffriert). 1278 Vgl. Chauvelin an Magnan, Versailles, 12.03.1730, A.A.E. Paris, Russie 23, fol. 56v-57r.
Fazit
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schickt zu nutzen wusste, indem er seine Informationen am russischen Hof und an andere Diplomaten in ganz Europa streute. Dieser Austausch von Informationen zwischen Gesandten war gängige diplomatische Praxis, wie auch die Auswertung der Beilagen Seckendorffs zeigt. Durch das mehrfache Aufgreifen von Gerüchten über die Ausgestaltung der russischen Regierungsform verschwammen verschiedene Vorstellungen über eine Souveränitätseinschränkung. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das geheime Handeln der russischen Adligen bei der Machtbeschränkung und der vielfach fehlende Zugang zu russischen Entscheidungsträgern eine verlässliche Berichterstattung nahezu unmöglich machte. Da die Diplomaten sowohl über den Inhalt als auch über die Träger dieser machtpolitischen Veränderungen nur spekulieren konnten, sagen die diplomatischen Berichte weniger über die tatsächlichen Ereignisse am russischen Hof aus, sondern sind vielmehr Gradmesser für die sich schnell ändernde Lage in Moskau und deren außenpolitische Bedeutung. Aber auch nach Veröffentlichung der Konditionen gelang es den Diplomaten nicht, eindeutige Kenntnisse über diese zu erlangen, auch wenn sie alle verfügbaren Gerüchte aufgriffen. Die Berichterstattung über europäische Vorbilder und die Ausgestaltung der Machtbeschränkung eröffnet demnach keine Einblicke in das politische Verständnis des russländischen Adels, sondern legt mitunter die Unkenntnis der Diplomaten über die russischen Verhältnisse offen. Dies zeigt sich auch an dem Versuch, die stattgefundenen Ereignisse mit bekannten Staatsformen zu vergleichen, um diese Veränderungen verstehen und bewerten zu können. Dabei lassen sich aus den Gesandtschaftsberichten auch keine europäischen Vorbilder für die konstitutionellen Veränderungen in Russland ableiten, da die Vergleiche mit Polen, Schweden und England auf Unkenntnis der Diplomaten beruhten. Bedeutend bei der Analyse der Berichte ist, dass die Details der Regierungsform in Russland für die Monarchen Europas tatsächlich nachrangig waren. Die diplomatischen Vertreter am Moskauer Hof, aber noch viel mehr ihre Souveräne und ihre diplomatischen Kollegen an anderen europäischen Höfen waren vor allem daran interessiert, ob und wie nachhaltig die Einschränkung der Souveränität der Zarin erfolgen würde und welche außenpolitischen Auswirkungen dies hätte. Beispielsweise befürwortete der polnische Adel eine Beschränkung der Zarenmacht – aber nicht aus dem Wunsch nach Partizipation des russländischen Adels heraus, sondern in der Hoffnung auf eine Schwächung Russlands. Die Beurteilung der innenpolitischen Vorgänge in Russland war außenpolitisch motiviert. Letztendlich ging es um die Frage, ob Russland weiterhin ein verlässlicher Bündnispartner des Kaisers bleiben und die zugesagte militärische Unterstützung in einem drohenden Krieg gegen Spanien einhalten würde. Der Thronwechsel 1730 und die Beschränkung der Macht Annas erhielten erst aufgrund der außenpolitischen fragilen Konstellationen sowie eines heraufziehenden Krieges ihre europäische Relevanz. Damit verbunden war ebenso die Frage, ob Russland seine in vorherigen Dekaden errungene europäische Handlungsoption beibehalten oder ob es sich wieder aus europäischen Angelegenheiten zurückziehen würde. Da die Details der innenpolitischen Lage in Russland für europäische Monarchen zumeist nachrangig waren, sind die auf ebendiese außenpolitischen Veränderungen fokussierten Berichte der Gesandten nicht geeignet, die innenpolitischen Veränderungen adäquat nachzuzeichnen.
5. Das Aufbegehren Jagužinskijs gegen die Einschränkung der Souveränität Der russische Adlige Pavel Ivanovič Jagužinskij (1683–1736)1279 wurde von den Verchovniki bei der offiziellen Verkündung der Konditionen durch den Obersten Geheimen Rat verhaftet.1280 Dieses Ereignis nahmen die diplomatischen Vertreter als Zäsur wahr. In der Historiografie wird dieses Ereignis als Symptom der Opposition des Adels gegen die Pläne des Rates interpretiert.1281 Dass Bonde am 2. Februar berichtete, die Generäle Michail Afanas’evič Matjuškin, Pavel Ivanovič Jagužinskij und Lev V. Izmajlov hätten sich vehement gegen die Einschränkung der Souveränität der künftigen Zarin ausgesprochen, um sich den derzeit regierenden Familien nicht dauerhaft unterwerfen zu müssen,1282 ist bereits dargelegt worden. Ebenso, dass Jagužinskij die Konditionen bekannt waren1283 und er sich zum Befürworter der autokratischen Herrschaft wandelte, da seine Mitarbeit an der neuen Regierungsform abgelehnt worden war.1284 Die Quellen des Obersten Geheimen Rates sind für die Untersuchung der Begleitumstände unabdingbar, obgleich deren Informationsgehalt gering ist.1285 1279 Pavel Ivanovič Jagužinskij (1683–1736) war seit 1722 Generalprokurator des Senats. Er wurde auf Bestreben Menšikovs bis zu dessen Sturz in die Ukraine versetzt. Er war General der Kavallerie und von 1726 bis 1727 bevollmächtigter russischer Gesandter auf dem Reichstag von Grodno. Aufgrund seiner diplomatischen Tätigkeiten in den Jahren 1720 bis 1721 als Gesandter am kaiserlichen Hof hatte er gute Beziehungen zu den dortigen Akteuren, siehe Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 246 (FN 272). Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 442 und S. 446. 1280 Siehe dazu ediert: Žurnal zasedanija Verchovnogo tajnogo soveta (02.02.1730 Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 163 f. 1281 Vgl. ebd., S. 33. 1282 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 22.01.1730 a.St. [02.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. 1283 Siehe dazu ediert: Protokol zasedanij Verchovnogo tajnogo soveta, soderžaščij rešenie ob izobranii na rossijskij prestol carevny Anny Ivanovny i utverždennyj verchovnikami tekst pred‘javljaemych ej „kondicij“ (19.01.1730Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 118–120. 1284 Vgl. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 174. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 33. Siehe dazu ediert: Iz pokazanij V.L. Dolgorukogo (06.11.1739 Jul), in: ebd., S. 184 f. Iz pokazanij S. G. Dolgorukogo (06.11.1739 Jul), in: ebd., S. 186 f. 1285 Vgl. ebd., S. 33. Siehe dazu ediert: Donošenie knjazj V.L. Dolgorukogo i M.M. Golicyna (Men’ šogo) Verchovnomu tajnomu sovetu ob areste v Mitave P.S. Sumarokov i otpravke ego v Moskvu (28.01.1730 Jul), in: Ebd., S. 156. Iz pokazanij kamer-junkera P.S Sumarokova (26.01.1730 Jul), in: ebd., S. 156–158. Otvetnoe pis’mo Verchovnogo tajnogo soveta knjazju V.L. Dolgorukomy (04.02.1730 Jul), in: ebd., S. 158 f. Žurnal zasedanija Verchovnogo tajnogo soveta (02.02.1730 Jul), in: ebd., S. 163 f. Žurnal zasedanija Verchovnogo tajnogo soveta (03.02.1730Jul), in: Ebd., S. 164 f. Die Memoiren James Keiths liefern keinerlei weiterführende Informationen, siehe Ebd. S. 80. Ausführlicher zu deren Entstehungsgeschichte und quellenkritischen Einordnung, siehe Paul Dukes; Brenda Meehan-Waters: A neglected Account of the Succession Crisis of 1730: James Keith’s Memoir, in: Canadian-American Slavic Studies 12, 1978, S. 170–183.
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Das Aufbegehren Jagužinskijs gegen die Einschränkung der Souveränität
Aus ihnen geht hervor, dass Petr Spiridonovič Sumarokov (1705–1780)1286 am 1. Februar abends im Auftrag Jagužinskijs nach Mitau aufbrach. Er sei vor seiner Abreise von Jagužinskij persönlich gebeten worden, bei der zukünftigen Zarin in Mitau vorzusprechen und ihr einen Brief zu übergeben. Sumarokov sei von Anna empfangen worden und habe sie vor Vasilij Lukič Dolgorukij gewarnt. Dieser wolle sie zwingen, die angeblich vom Adel erwünschten Konditionen zu unterschreiben. Anna sollte die Warnung Sumarokovs geheim halten und, falls ihr die Deputierten androhen, eine andere Person für den Zarenthon vorzuschlagen, gelassen bleiben. Ihre Wahl sei von vielen Personen legitimiert, während den Konditionen nur wenige zustimmt hätten. Sumarokov gab zwar Namen weiterer Mitwisser und auch Mitwisserinnen preis, aber unter diesen befanden sich weder der General Michail Afanas’evič Matjuškin noch der General Lev V. Izmajlov.1287 Hingegen geht aus einem Brief Vasilij Lukič Dolgorukijs und Michail Michajlovič Golicyns vom 8. Februar an den Rat hervor, dass Sumarokov am vorangegangenen Abend in Mitau angekommen sei. Sumarokov habe die Deputierten auf dem Weg zwar überholt, aber die Zarin nicht vor ihnen erreicht. Stattdessen sei er von den Deputierten in Mitau aufgegriffen und befragt worden, auch habe man bei ihm Briefe gefunden. Er werde für eine Befragung vor dem Obersten Geheimen Rat durch den Generalmajor Leont’ev gefesselt nach Moskau zurückgebracht.1288 Aus beiden Quellen ergibt sich ein unlösbarer, in der Literatur bereits bekannter Widerspruch: Obwohl Sumarokov laut eigener Aussage die Zarin persönlich gesprochen hatte, konnte er nicht vor der Delegation angekommen sein, wenn er bereits am 8. Februar verhaftet wurde.1289 Aus dem Antwortbrief des Obersten Geheimen Rates an Vasilij Lukič Dolgorukij, datiert auf den 15. Februar 1730, und aus dem Verhörprotokoll Sumarokovs gehen die Vorwürfe gegen Jagužinskij hervor. Alle darin genannten Personen seien verhaftet worden. Nur eine war nicht vor dem Rat erschienen, sondern habe sich stattdessen auf ihre Güter zurückgezogen. Der Rat ordnete an, sie dort zu verhaften.1290 Diese Meldung ist auch im Journal des Rates vermerkt, ebenso dass die Briefe, die Jagužinskij bei sich geführt habe, konfisziert wurden. Diese Briefe seien von den Verchovniki gelesen und versiegelt worden.1291
1286 Petr Spiridonovič Sumarokov (1705–1780), Kammerjunker Anna Petrovnas; 1752 Oberstalleister, ab 1761 Senator, ab 1764 Wirklicher Geheimer Rat, siehe Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 156 (FN 11). 1287 Siehe dazu ediert: Iz pokazanij kamer-junkera P.S. Sumarokova (26.01.1730 Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 156–158. 1288 Siehe dazu ediert: Donošenie knjazj V.L. Dolgorukogo i M.M. Golicyna (Men’šogo) Verchovnomu tajnomu sovetu ob areste v Mitave P.S. Sumarokov i otpravke ego v Moskvu (28.01.1730 Jul), in: ebd., S. 156. 1289 Vgl. ebd., 33. 1290 Siehe dazu ediert: Otvetnoe pis’mo Verchovnogo tajnogo soveta knjazju V.L. Dolgorukomy (04.02.1730 Jul), in: ebd., S. 158 f. 1291 Siehe dazu ediert: Žurnal zasedanija Verchovnogo tajnogo soveta (03.02.1730 Jul), in: ebd., S. 164 f.
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Die Gesandtschaftsberichte können die Erkenntnisse der bisherigen Forschungen1292 erweitern.1293 Was für Folgen sahen vor allem die Vertreter des holsteinischen Hofs darin, dass der von Jagužinskij entsandte Bote Sumarokov ein ehemaliger Kammerjunker der verstorbenen holsteinischen Herzogin Anna Petrovna war? Nutzten andere diplomatische Akteure diesen Umstand aus, um die Stellung Holsteins am russischen Hof weiter zu schwächen? Wenn Sumarokov als holsteinischer Kammerjunker wahrgenommen wurde, hätte diese Episode eine außenpolitische Dimension, die auf Resonanz an den anderen europäischen Höfen stoßen müsste. Gleichzeitig mit der Verhaftung Jagužinskijs und der Verkündung der Konditionen durch den Obersten Geheimen Rat musste dieser zudem dem russischen Adel zusichern, eigene Vorschläge zur Veränderung der Regierungsform dem Rat unterbreiten zu dürfen.1294 Bei der Betrachtung dieser Vorschläge gilt es, zum einen weitere Einblicke in das Selbstverständnis des russischen Adels zu gewinnen, zum anderen vor allem auch die Wertungen der Dipomaten über den russischen Adel zu erörtern. Da die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates ihre Pläne zwar der obersten Staatselite, nicht aber breiten Adelskreisen zugänglich machten, wendeten sich zunehmend Gerüchte und Vermutungen gegen sie. Die Verchovniki wiederum waren Widerspruch gegen ihre Handlungen nicht gewohnt.1295 Für die Beurteilung der diplomatischen Kommunikation gilt es hierbei insbesondere, die Zusammenarbeit der Diplomaten bei der Übermittlung der Vorschläge zu analysieren. Dabei ist zu klären, welche diplomatischen Vertreter Informationen über welche Projekte des Adels erlangen und weiterreichen konnten. Durch einen Vergleich aller übermittelten Projekte und der jeweiligen Urheber können mögliche Überlieferungsszenarien ermittelt werden. Auf europäischer Ebene ist von Interesse, ob die Ausarbeitungen der Reformprojekte auf Resonanz stießen. Außerdem ist fraglich, ob die Diplomaten die Verhaftung Jagužinskijs als eine innenpolitische Schwächung Russlands wahrnahmen, die dem kaiserlichen Bündnissystem abträglich war.
5.1 Die Festnahme Jagužinskijs und ihre Deutung Die Vertreter der englischen Krone scheinen der Festnahme Jagužinskijs keine Bedeutung beigemessen zu haben, da sie bis zum Einzug der Zarin in Moskau keine Relation verfassten. Diese vierzehntägige Berichtspause ist aufgrund der vielfältigen Ereignisse verwunderlich. Die anderen diplomatischen Akteure griffen die Verhaftung Jagužinskijs noch am gleichen
1292 Vgl. ebd., S. 33. Steven Müller: Das russländische Reich zwischen Autokratie und Reform 1730. Der Skandal um Pavel Ivanovič Jagužinskij, in: Ostblicke 7, 2016, S. 13–31, hier S. 15. 1293 Vgl. ebd., S. 17. 1294 Vgl. ebd., S. 41. 1295 Vgl. ebd., S. 87 f.
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Tag auf, ausgenommen der mecklenburgische Gesandte1296 und Magnan, der erst mit drei Tagen Verzug berichtete.1297 Wratislaw hatte zwar am 13. Februar 1730 kurz vor Abgang der Post von einem nicht genannten Informanten erfahren, dass Jagužinskij unter Hausarrest gestellt worden sei, konnte aber den Grund dafür nicht in Erfahrung bringen.1298 Sein Hauptinteresse habe auch auf der Bestätigung der militärischen Hilfe für den Kaiser gelegen, wie er selbst bekannte.1299 Der preußische Gesandte Mardefeld vermeldete am 13. Februar bereits, dass Jagužinskij an diesem Tag bei einer vom Obersten Geheimen Rat einberufenen Versammlung verhaftet wurde. Grund dafür sei, dass er den Boten Sumarokov, einen Kammerjunker der verstorbenen Herzogin von Holstein, Anna Petrovna, mit einem Schreiben nach Mitau zu der designierten Zarin gesandt habe, um diese vor der offiziellen Deputation zu warnen und ihr zu erklären, wie sie ihre entzogene Souveränität zurückgewinne. Sumarokov sei geheim bereits kurz nach dem Tod Peters II. entsandt worden. Die Zarin habe den Ratschlägen Jagužin skijs aber zu wenig Beachtung geschenkt und das Schreiben sowie den Boten persönlich an die sich in Mitau befindlichen Deputierten übergeben. Daraufhin sei Sumarokov durch den Deputierten Michail Ivanovič Leont’ev nach Moskau gebracht worden.1300 Dies ist zu diesem Zeitpunkt nicht nur eine überraschend umfassende, sondern auch eine sehr genaue Darstellung. Der holsteinische Gesandte Tessin bestätigte ebenfalls umgehend die Verhaftung Jagužinskijs, weil dieser einen nicht namentlich genannten Boten nach Mitau geschickt habe, um Anna vor der neuen Regierungsform zu warnen. Dass es sich hierbei um den ehemaligen holsteinischen Kammerjunker Sumarokov handelte, wusste der holsteinische Gesandte zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Tessin führte die Verhaftung Jagužinskijs aufgrund der unübersichtlichen Informationslage fälschlicherweise auf eine persönliche Anordnung der Zarin zurück.1301 In den sächsisch-polnischen Gesandtschaftsberichten wird die Verhaftung Jagužinskijs ebenfalls umgehend thematisiert. Le Fort hatte diese Nachricht wie Wratislaw erst nach Fertigstellung seiner Relation erhalten. Er referierte, dass die Zarin nach Jagužinskijs Auffassung souverän bleiben müsse, wofür sie viele Unterstützer habe. Dass der Kurier Jagužinskijs neun Stunden nach den Deputierten in Mitau angekommen sei und die Zarin dessen Warnung der offiziellen Deputation mitteilte, wertete Le Fort als großes Unglück. Da die Zarin die 1296 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 05.02.1730 a.St. [16.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 269r/270r. 1297 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 16.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 68r–71v (chiffriert). 1298 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 13.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 107r/v. 1299 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 16.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 103r/104r. 1300 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 13.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 52r. 1301 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 02.02./13.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung.
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ihr vorgetragene Warnung missachtete, befinde sich Russland in einer Krise. Die derzeitige Situation führe zu großen Verwerfungen innerhalb des Adels.1302 Aus den Berichten vom 13. Februar lässt sich erkennen, dass die Verhaftung das zentrale Ereignis des Tages war. Am nächsten Posttag, dem 16. Februar 1730, berichtete der mecklenburgische Gesandte J.C.D. Ostermann über die Verhaftung Jagužinskijs, ohne einen Grund oder eine Einschätzung zu nennen. In dieser Mitteilung erwähnte er erstmalig auch die Erkrankung seines Bruders.1303 Der kaiserliche Gesandte zog hingegen bereits erste Konsequenzen aus der derzeitigen Lage: Er erachtete es als zweckdienlich, sich ruhig zu verhalten und nicht bei den wichtigsten russischen Adligen zu erscheinen. Die Verhaftung Jagužinskijs und vermutlich anderer namhafter Personen habe möglicherweise große Auswirkungen. Die Begründung der Verhaftung – die andere Gesandte bereits früher vermeldet hatten – findet sich nun auch bei Wratislaw. Dass Sumarokov, obwohl er nach der Delegation in Mitau angekommen sei, dennoch den Brief Jagužinskijs an Anna übergeben habe, bezeichnete Wratislaw als unplausibel. Neben Le Fort, Tessin und Mardefeld vermutete demnach auch Wratislaw, dass Sumarokov persönlich mit Anna zusammengetroffen sein müsse. Anna habe aber weder Sumarokov noch dem Brief Jagužinskijs Glauben geschenkt, sondern umgehend die offizielle Delegation darüber informiert. Laut Wratislaw habe Anna bereits vorher versichert, die angetragene Regierung zu übernehmen. Wratislaw wisse nicht, ob die „Regentin“ erfahren habe, wie sie ihre uneingeschränkte Souveränität behalten könne. Die offizielle Delegation habe Sumarokov daraufhin verhaften lassen, das Schreiben Jagužinskijs konfisziert und nach Moskau gesandt, um Jagužinskij auf dessen Grundlage vor den Obersten Geheimen Rat anzuklagen. Wratislaw ging im Folgenden bereits auf die Umstände und Folgen der Verhaftung Jagužinskijs ein: Der Feldmarschall Dolgorukij verkündete dessen Verhaftung sowie, dass ihm sein Degen und der verliehene St.-Andreas-Orden abgenommen worden seien.1304 Der Prozess gegen Jagužinskij solle mit Eifer geführt werden. Ein mögliches Urteil lasse sich noch nicht abschätzen. Als Auswirkungen nahm Wratislaw bereits deutlich wahr, dass die Gesandten und die Mitglieder des Hofs sehr genau darauf achteten, mit wem sie sich trafen und mit wem sie redeten, um von keiner Seite in Verdacht zu geraten. Durch die Ankunft der Zarin erhoffte er sich eine Klärung der Situation. Dies erachtete er als so wichtig, dass er es per Kurier nach Wien vermelden werde.1305 Auch Mardefeld befürchtete als Folge innere Unruhen in Moskau. Neben Jagužinskij seien auch seine Sekretäre und einige seiner Unterstützer festgenommen worden. In den folgenden Tagen vermutete Mardefeld weitere Verhaftungen der Anhänger Jagužinskijs. Neben 1302 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 13.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 64r–66r (chiffriert). Sein erster Brief dieses Tages beinhaltete nichts zu Jagužinskijs Verhaftung. 1303 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 05.02.1730 a.St. [16.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 269r/270r. 1304 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 16.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 103r–106r. 1305 Vgl. ebd., fol. 106r–102r.
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der Degradierung durch Aberkennung des St. Andreas-Ordens vernahm Mardefeld zudem aus öffentlichen Verlautbarungen an die durch Jagužinskij geführten Regimenter, dass dieser schwere Verbrechen gegen die Zarin und das Reich begangen haben solle. Diese Mitteilung sandte Mardefeld übersetzt als Beilage nach Berlin. Darin hieß es, Jagužinskij habe Anna per Kurier einen „widerwertigen Briefen“ zukommen lassen, woraufhin der übermittelnde Kurier ebenso verhaftet worden sei.1306 Mardefeld führte aus, was unter diesem „widerwertigen Brief“ zu verstehen sei: Jagužinskij habe die Zarin durch das von Sumarokov überbrachte Schreiben informieren wollen, wie sie sich den Mitgliedern des Obersten Geheimen Rates widersetzen könne. Mardefeld vermeldete zudem, dass am Ende des Schreibens Eide von zwanzig gleichgesinnten Adligen angefügt gewesen seien. Auf Unterschriften hätten diese aber bewusst verzichtet, um sich bei einer Aufdeckung des Vorhabens nicht zu gefährden. Laut am Hof kursierenden Gerüchten sollte das Urteil gegen Jagužinskij binnen weniger Tage gesprochen und der Zarin zur Bestätigung vorgelegt werden. Er sollte wegen Verrat am Vaterland angeklagt und das Urteil noch vor der Ankunft der Zarin vollzogen werden. Chiffriert teilte Mardefeld dem preußischen König mit, dass sich der Großkanzler Golovkin nicht für seinen Schwiegersohn Jagužinskij einsetzten dürfe und daher freiwillig dem Rat fernbleibe. Da Aleksej Grigor’evič Dolgorukij beständig an Macht verliere und Ostermann krank sei, ruhe die ganze Macht des Rates derzeit auf Dmitrij Michajlovič und Michail Michajlovič Golicyn und auf dem Feldmarschall Vasilij Vladimirovič Dolgorukij. General Leont’ev sei für seine Verdienste vom Rat zum Generalleutnant ernannt worden, was die Zarin aber noch bestätigen müsse.1307 Wie auch Mardefeld berichtete Magnan, dass Anna dem Generalmajor Leont’ev, der den Boten und den Brief aus Mitau nach Moskau überbrachte, die Würde eines Generalleutnants verliehen habe.1308 Aus dem Schriftverkehr des Rates geht hervor, dass Leont‘ev in das Leibregiment aufgenommen wurde und als Belohnung für die schnelle Überbringung zudem 100 Rubel erhielt.1309 Magnan betonte zudem, dass die Unruhe am Moskauer Hof spürbar steige und sich verschiedenen Fraktionen formierten. Im Vergleich zu anderen Diplomaten vermeldete Magnan erst am 16. Februar, dass Jagužinskij, wie von russischen Adligen verlautbart, in der Versammlung der Stände verhaftet worden sei. Die Versammlung habe Jagužinskij wegen der Warnung der Zarin Hochverrat vorgeworfen. Jagužinskij habe Anna versichert, dass sie sich auf ihn, sein Schwert und andere Adlige verlassen könne. Für seine Darstellung der Vorgänge in Mitau stützte sich Magnan auf zwei verschiedene Gerüchte. Einige Informanten gaben vor zu wissen, dass die Zarin den Deputierten den Brief Jagužinskijs übergeben habe, um die Ernsthaftigkeit ihre Unterordnung unter den Willen der Stände zu verdeutlichen. Andere wiederum seien in dem Glauben, dass Vasilij Lukič Dolgorukij die Verschwörung Jagužin skijs auf dem Weg nach Mitau aufgedeckt habe. Sicher sei hingegen, dass Leont’ev den besag1306 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 16.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 54v und 56r. 1307 Vgl. ebd., fol. 54v/55r. 1308 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 16.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 68v (chiffriert). 1309 Vgl. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 175.
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ten Brief an die Stände mit der Meldung übergeben habe, Sumarokov sei verhaftet worden und werde nach Moskau gebracht. Sumarokov sei der Kammerjunker der verstorbenen Anna Petrovna in Kiel gewesen. Die russischen Stände hätten sich am gestrigen Tage den ganzen Tag versammelt, um den Prozess gegen Jagužinskij vorzubereiten. Ihm sei das Ordensband abgenommen, und es seien 30 weitere Personen verhaftet worden. Der Großkanzler Golovkin habe bei der Verhaftung seines Schwiegersohns Jagužinskij wortlos den Rat verlassen und sich in sein Haus zurückgezogen. Der Mitwisserschaft werde er nicht bezichtigt. In der Beförderung Leont’evs zum Generalleutnant und im Vorgehen gegen Jagužinskij sah Magnan ein entschlossenes Handeln des Obersten Geheimen Rats, um die neue Regierungsform zu verteidigen.1310 Der angenommene Widerstand des Großkanzlers gegen die übrigen Mitglieder des Rates bei der Verhaftung Jagužinskijs ist von den Gesandtenberichten in die Literatur übernommen,1311 aber nicht zu belegen. Diese Vorstellung, die sich zeitversetzt zuerst bei Le Fort und dann bei Magnan findet,1312 beruht lediglich auf von de Liria aufgegriffenen Gerüchten.1313 Aus dem Journal des Obersten Geheimen Rates geht hervor, dass sowohl der Großkanzler Golovkin als auch Aleksej Grigor’evič Dolgorukij bei der Verhaftung anwesend waren. Allein die Abwesenheit Ostermanns ist belegt.1314 Le Fort berichtete am 16. Februar 1730, dass der Rat Jagužinskijs Teilnahme an der am 13. Februar einberufenen Versammlung eingefordert habe, die zehn Stunden nach der Ankunft des Deputierten Leont’evs in Moskau stattgefunden habe.1315 Er führte zudem aus, dass Jagužinskij die neue Regierungsform, bestehend aus acht Artikeln, vorgelegt und er zu einer Stellungnahme aufgefordert worden sei. Nachdem Jagužinskij zwar zögerlich geantwortet habe, ihm aber aufgrund seiner Aussagen keine Verfehlungen zur Last gelegt werden konnten, sei ihm die von ihm verfasste Warnung an die Zarin vorgelegt worden. Erst daraufhin habe er eingestanden, diesen Brief verfasst zu haben. Er habe hinzugefügt, dass viele Untertanen so dachten wie er.1316 Der Feldmarschall Dolgorukij habe ihm befohlen, sein Schwert abzulegen. Danach wurde er vom Sekretär des Rats, Vasilij Vasil’evič Stepanov, verhört. Die beiden Feldmarschälle Dolgorukij und Golicyn seien hinzugekommen und hätte ihn in das Gefängnis im Kreml gebracht. Der von Jagužinskij gesandte Bote sei der Kammerjunker des holsteinischen Herzogs, der bei der Eskortierung des Leichnams Anna Petrovnas nach Russland zurückgekehrt sei. Obwohl der Bote wahrscheinlich bereits am Morgen der Todesnachricht abgesandt worden sei, sei er erst drei Stunden nach der Ankunft der Deputierten an seinem Ziel angekommen. Es sei nicht bekannt, wie den Deputierten der Brief Jagužinskijs in 1310 Vgl. ebd., fol. 68v–70r (chiffriert). 1311 Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 189. 1312 Vgl. ebd., S. 189. 1313 Siehe dazu ediert: „Iz „Zapisok“ de Liria, in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 189 f. 1314 Siehe dazu ediert: Žurnal zasedanija Verchovnogo tajnogo soveta (04.02.1730 Jul), in: ebd., S. 165 f. 1315 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 16.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 71r (chiffriert). 1316 Vgl. ebd., fol. 71v (chiffriert).
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die Hände gelangt sei. Leont’ev habe Jagužinskijs Brief in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar nach Moskau gebracht, woraufhin sofort einige Personen – darunter sein Sekretär und sein Adjutant sowie drei Reitergarden – verhaftet und verhört worden seien.1317 Am 15. Februar sei Jagužinskij laut Le Fort all seiner Ämter enthoben, ihm sei der St.Andreas- und St.-Alexander-Nevskij-Orden1318 aberkannt sowie seine Verhaftung unter Trommelschlägen öffentlich verkündet worden. Ihm sei zur Last gelegt worden, dass er gegen die Interessen des Reiches gehandelt habe. Jagužinskij werde während der Haft aber nicht wie ein Krimineller behandelt. Seine Frau und seine Kinder hätten sich in das Haus des Großkanzlers Golovkin zurückgezogen.1319 Dieser Informationsstand Le Forts ist beachtlich, geht jedoch ebenso wie derjenige Magnans auf de Liria zurück,1320 ohne dass dieser als Informant genannt wurde. In einem dritten Brief Le Forts vom 16. Februar 1730 ging Le Fort deutlicher auf mögliche Auswirkungen ein: Die neue Herrschaft in Russland beginne mit einer Revolution, die typisch für diese Land sei und militärische Unterstützung in Europa durch Russland unmöglich mache. Die Verhaftung Jagužinskijs habe große Turbulenzen verursacht. Die Festnahme Sumarokovs habe die Anzahl der Unterstützer Jagužinskijs verringert. Es gelte, sich unauffällig zu verhalten, denn der Wunsch des Obersten Geheimen Rats, der Zarin die Souveränität zu entwenden, sei sehr groß und werde von diesem unnachgiebig verfolgt. Nach Ansicht Le Forts öffne dieses voreilige Vorgehen der Verchovniki der Nation die Augen über deren Absichten, weswegen sie ein stärker werdendes Verlangen hätte, an der althergebrachten Regierungsform festzuhalten. Die Großen des Reiches strebten eine Oligarchie an. Insbesondere Dmitrij Golicyn würde die Idee der Souveränitätsbeschränkung seit der Regierungszeit Zar Peters I. verfolgen. Auch wenn Le Fort im Gegensatz zu seinem zweiten Brief eingestand, dass es in der derzeitigen Lage unmöglich sei, den Wortlaut der Konditionen zu kennen, sei die Einschränkung der Macht der Zarin sicher. Anna habe lediglich ein eingeschränktes Budget zu ihrer freien Verfügung, könne weder ihren Hof allein einrichten noch die Dienststellen frei besetzen. Ebenso bedürften Kriegserklärungen und Friedensschlüsse der Zustimmung des Rats. Anna dürfe zudem keinen Ausländer über dem Amt eines Obersts in ihren Dienst stellen.1321 Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass Le Fort – ebenso wie Westphalen – die Machtbeschränkung mittlerweile auf die Initiative Golicyns zurückführte.1322 Le Fort war sich sicher, dass die Anhänger der Zarin sich in der derzeitigen Lage nicht zu erkennen geben konnten. Der Feldmarschall Dolgorukij und Ostermann stünden aufseiten 1317 Vgl. ebd., fol. 72v. 1318 Der Orden wurde 1722 von Zar Peter I. gestiftet. Zu ausführlicheren Informationen siehe August Deubner: Die kaiserlich russischen Orden und Medaillen, Berlin 1890, S. 4. 1319 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 16.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 73r/v. 1320 Siehe dazu ediert: „Iz „Zapisok“ de Liria, in: ebd., S. 189 f. 1321 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ), Moskau, 16.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 75r–77r (chiffriert). 1322 Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 177.
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der Zarin, obwohl der Feldmarschall derzeit offen für die Beschränkung der Macht einstehe. Wenn die Unterstützer der Zarin unterlegen seien, würden ein Teil der Dolgorukij, der Golicyns, der Golovkins, der Saltykovs, der Baratynskijs, der Čerkasskijs sowie der gesamte niedere Adel und der Klerus die Folgen davon zu spüren bekommen. Diese seien zum Teil zur Beratung der Regierungsform nicht zugelassen worden. Daher war Le Fort von großen Veränderungen in Russland überzeugt und sah mitunter den Staat gefährdet. Ostermann sei weise, da er sich zurückziehe und sich krank stelle. Le Fort sprach wörtlich von einem anstehenden Scherbengericht, wovon Ostermann letztendlich profitieren werde. In seinem Postskriptum ergänzte Le Fort, dass Jagužinskij seine Freilassung angeboten worden sei. Er habe dies aber abgelehnt und warte lieber auf die Zarin.1323 Der holsteinische Gesandte Tessin schätzte die Lage am Moskauer Hof ähnlich gefährlich wie sein Kollege Le Fort ein. Die Einschätzung, dass „man“ zwar fast täglich versammelt sei, um eine neue Regierungsform auszuarbeiten, ohne bereits etwas beschlossen zu haben, teilte auch Tessin.1324 Dieser Aussage Tessins ist zu entnehmen, dass er zwar über die Vorgänge berichtete, aber die dafür verantwortlichen Personen nicht erfassen konnte. Die Geistlichkeit und der mittlere Adel seien sehr unzufrieden darüber, „daß man die höchste Gewaldt bloß auf einige wenige der vornehm besten transportiren und alle andere davon außschließen wolle“1325. Selbst die Golicyns und die Dolgorukij seien sich untereinander nicht über die Regierungsform einig und intrigierten gegeneinander.1326 Tessin schloss daraus: „also daß es vielleicht noch blutige Köpfe geben könte bevor alles in vollekomener Ordnung kombt.“1327 Jagužinskij sei „der erste gewesen der sich den Kopf gestoßen“1328 habe und noch immer verhaftet sei. Die Spaltung des Obersten Geheimen Rates war – wie bereits dargelegt – lediglich eine Vermutung der Diplomaten. Die Situation sei für Jagužinskij überaus gefährlich, da die Familie Golicyn vermutlich konsequent gegen ihn vorgehen wolle. Jagužinskijs Ziel sei es gewesen, die althergebrachte Souveränität der Zarin zu erhalten. Die Zarin habe – nach Darstellung Tessins – das Schreiben Jagužinskijs unverzüglich an die Deputierten weitergegeben und ihre Zufriedenheit mit den ihr durch die Deputierten vorgetragenen Punkten betont. General Leont’ev habe die Handlungen Jagužinskijs in Moskau bekannt gemacht und dessen Originalschreiben übergeben, woraufhin Jagužinskij verhaftet worden sei, nachdem Sumarokov gefesselt nach Moskau abgeführt worden sei. In der derzeitigen Lage sei es laut Tessin unmöglich, genaue Aussagen treffen zu können.1329 Die holsteinischen Gesandten hätten zwei Mal versucht, zu Ostermann vorgelassen zu werden, was ihnen einmal gelang. Dieser habe
1323 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ), Moskau, 16.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 77r/78r (chiffriert). 1324 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 05.02./16.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). 1325 Ebd. 1326 Vgl. ebd. 1327 Ebd. 1328 Ebd. 1329 Vgl. ebd.
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sie gebeten, ihn nicht mit politischen Vorgängen zu bedrängen, da dies seiner Gesundheit abträglich sei. Die holsteinischen Gesandten versuchten trotz der komplexen Lage in Moskau, von Ostermann gemäß Weisung vom 23. Januar eine Garantie für Holstein zu erhalten, bevor Russland zugunsten des Kaisers in einen europäischen Krieg einwillige.1330 Tessin und Bonde richteten diesbezüglich ein Schreiben an Ostermann. Eine Beantwortung wäre Ostermann jedoch aufgrund seines Gesundheitszustandes unmöglich, wie Tessin durch den Sekretär Ostermanns erfuhr.1331 Daher entzog sich Ostermann abermals den Forderungen der holsteinischen Gesandten. Der holsteinische Gesandte Bonde bestätigte die Aussagen Tessins und ergänzte diese durch seine auf Gerüchten basierenden Einschätzung: Sumarokov sollte nach Sibirien verbannt werden. Er kenne außerdem die Namen aller Unterstützer Jagužin skijs. Bonde war sich sicher, dass der Oberste Geheime Rat ein Interesse habe, die Verschwörer zu bestrafen, um seine Macht zu festigen.1332 Am 20. Februar 1730 ging Tessin nur kurz auf das Schicksal Jagužinskijs ein. Diesem seien die Rückgabe seines Degens und seine Freiheit angeboten worden, was er aber ablehnte. Eine Wiedergutmachung für sein erlittenes Unrecht wolle er nur von der Zarin empfangen, da er von niemand anderem Gnade begehre.1333 Der kaiserliche Gesandte Wratislaw, der bisher dem Schicksal Jagužinskijs wenig Aufmerksamkeit widmete, erkannte nun die möglichen bedeutenden Auswirkungen dieser Auseinandersetzung. Die Einschätzung Tessins, dass sich die Lage zum Besseren wende, teile Wratislaw nicht, da die Lage Jagužinskijs ganz anders sei als anfänglich angenommen. Auch Wratislaw sprach nun davon, dass Jagužinskij die Rückgabe seines Ordensbandes und seines Degens wegen der entwürdigenden Behandlung verweigert habe. Im Widerspruch dazu standen vermeldete Gerüchte, dass Jagužinskij möglicherweise an einem anderen Ort als bisher in Haft säße. Eine andere kursierende Variante sei, dass Jagužinskij sich im Haus seines Schwiegervaters, des Großkanzlers, befände, denn in seinem eigenen Haus wäre er zweifelsohne nicht.1334 Wratislaw interpretierte diese Information, die er chiffrierte, wie folgt: Entweder könnten die gegen Jagužinskij erhobenen Anschuldigungen nicht bedeutend genug sein, oder seine Bestrafung würde als zu gefährlich erachtet, da er zu viele Unterstützer hinter sich versammelt habe. Seine Verteidiger würden betonen, dass er 1330 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 23.01.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). 1331 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 05.02./16.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). 1332 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, 05.02.1730 a.St. [16.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung (chiffriert). Die Relation ist auf Schwedisch verfasst. Die dechiffrierten Stellen sind jedoch auf Deutsch verfasst. Der Inhalt ist inhaltlich so weit erschlossen, wie es dem Autor möglich war. Eine umfassende Erschließung konnte aufgrund mangelnder Schwedisch-Kenntnisse leider nicht vorgenommen werden. 1333 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 09.02./20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 09.02./20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Die Briefe sind inhaltlich fast deckungsgleich. 1334 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 20.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 173r/v.
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weder etwas Unrechtes getan noch sich an eine fremde Macht gewandt habe, sondern lediglich der neuen Zarin treu ergeben sei und sie über die aktuelle Entwicklung im Reich habe in Kenntnis setzen wollen. Dies könne ihm nicht vorgeworfen werden, da er damit nicht gegen Reichsgesetze verstoßen habe. Dennoch könne es zu einer harten Bestrafung Jagužinskijs durch den Rat kommen. Fast die gesamte Generalität – ausgenommen die beiden Feldmarschälle Dolgorukij und Golicyn – und der Adel würden zwar Jagužinskijs Auffassungen nicht in Gänze teilen, hätten aber Vorbehalte gegen die Machtkonzentration beim Obersten Geheimen Rat. Problematisch sei vor allem, dass der Rat nur aus acht Personen bestehen solle, die zudem fast alle aus den Familien Dolgorukij und Golicyn stammten. Der Prozess gegen Jagužinskij habe alles in heftige Bewegung gebracht, woran sich erkennen lasse, in welcher Krise sich das Russische Reich befinde. Jedoch stimmten fast alle am Hof darin überein, dass eine machteinschränkende Regierungsform eingeführt werden solle, so das Urteil Wratislaws, auch wenn die Einzelheiten noch strittig seien. Diejenigen, die Russland seit langer Zeit kannten, seien aber überzeugt, dass die Zarin die Einschränkung ihrer Herrschaft nicht dulden könne und werde.1335 In diesem Zusammenhang positionierte sich Wratislaw deutlich als Anhänger der absoluten Monarchie. Diese Regierungsform sei für ein so bedeutendes Reich wie Russland das Beste, obwohl Wratislaw eingestand, dass der niedere und hohe Adel in der Vergangenheit mitunter von einem zu strengen oder einem geistig trägen Monarchen, durch die Willkür eines allmächtigen Favoriten oder möglicherweise durch einen minderjährigen Herrscher regiert worden sei. Daher habe er ein gewisses Verständnis für den Willen nach Veränderung. Gleichzeitig warnte er, die veränderte Regierungsform dürfe nicht noch nachteiliger ausfallen als die bisherige. Die Lage in Moskau sei noch zu verworren. Wratislaw war aber überzeugt, dass der erkranke Ostermann mit Ankunft der Zarin wieder auf der politischen Bühne agieren werde.1336 Unter den Papieren der kaiserlichen Gesandtschaft im Haus-, Hof- und Staatsarchiv finden sich noch drei Briefe, datiert auf den 16. und 20. Februar sowie auf den 7. März aus Moskau, die weder einen Empfänger noch Absender aufweisen, aber ausgesprochen aufschlussreich bezüglich der Verhaftung Jagužinskijs sind. Ob alle drei Schreiben den gleichen Autor haben, lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen, da es sich bei den Schreiben lediglich um Abschriften handelt. Aufgrund der Fundlage in den Akten der kaiserlichen Gesandtschaft wäre eine Autorenschaft des Residenten Hochholzer ebenso möglich wie die des Legationssekretärs Caramé. Falls alle drei Briefe den gleichen Autor haben, war es der braunschweigisch-blankenburgische Gesandte Cramm, da er den letztgenannten Brief schrieb. Ob er auch an eine Person am Kaiserhof schrieb oder seine Relationen nur durch Dritte an den Kaiserhof weitergeleitet wurden, bedarf der weiteren Forschung durch Analyse der blankenburgischen Berichte. Der Autor des Briefes vom 16. Februar stand in regelmäßigem Briefkontakt mit dem Empfänger. Er bewertet die Folgen der Verhaftung Jagužinskijs einschneidender als 1335 Vgl. ebd., fol. 173v–176v (chiffriert). 1336 Vgl. ebd., fol. 176v-168v (chiffriert).
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Wratislaw: Es werde eine neue Regierungsform entstehen, die weniger einer Monarchie als einer Aristokratie entspreche. Gegner dieser Veränderungen beziehungsweise Befürworter der alten Ordnung würden nun als Verräter des Vaterlandes gelten und sollten dafür bestraft werden. Für die Warnung der Regentin vor machteinschränkenden Konditionen würden viele ehrliche Personen mit ihrem Degen eintreten. Der Bote sei zwar vor der offiziellen Deputation noch am Todestag des Zaren nach Mitau aufgebrochen, jedoch erst fünf Stunden nach der offiziellen Deputation dort angelangt, da er offiziell Moskau nicht habe verlassen dürfen und daher Umwege habe nehmen müssen. Sumarokov wäre zur Zarin vorgelassen worden, hätte allein mit ihr reden und ihr das Schreiben Jagužinskijs übergeben können. Als sie alles gelesen hätte, wäre sie in ein anderes Zimmer gegangen, in dem sich die Deputierten aufhielten, und hätte ihnen das Schreiben übergeben. Sumarokov hätten sie ohne Antwort zurückgeschickt. Sobald dieser die russische Grenze passiert hätte, wäre er festgenommen worden. Einen Tag nach der Ankunft Leont’evs, der das Schreiben Jagužinskijs dem Obersten Geheimen Rat übergeben hätte, sei er verhaftet worden. Es sei zu vermuten, dass der Großkanzler persönlich, sein Sohn Michail Gavrilovič Golovkin (1699–1755)1337, und sein Schwiegersohn, Generalmajor Ivan Fedorovič Barjatinskij (1689–1738)1338, und andere Vornehme daran beteiligt gewesen seien. Auch aus der Reitergarde Jagužinskijs seien einige Personen verhaftet worden. Die Aussagen seien derzeit aber nicht verlässlich. Der Großkanzler Golovkin sei im Rat bei der Befragung Jagužinskijs nicht anwesend gewesen, sondern der Feldmarschall Dolgorukij habe diese durchgeführt und Jagužinskij verhaften lassen.1339 Diese Informationen suggerieren zwar große Detailkenntnis, können aber zum Teil widerlegt werden. Sumarokov wurde zweifelsfrei in Mitau verhaftet. Die Darstellung der Ereignisse in diesem Schreiben gehen auf de Liria zurück;1340 ebenso wie die darin vermuteten – und an dieser Stelle nicht ausgeführten – Details über die Machtbeschränkung.1341 Der Autor vermerkte aber selbst, dass diese Informationen ebenso wie die Durchsetzung dieser Machtbeschränkungen noch unklar seien. Der Zarin werde anscheinend der Titel der Selbstherrscherin aberkannt. Der Autor müsse bezüglich der Folgen der derzeitigen Ereignisse Wratislaw widersprechen.1342 Der Widerspruch zu Wratislaw besteht darin, dass der unbekannte Autor die Konflikte um die Macht als folgenschwerer beschrieb. Am 20. Februar ergänzte er, dass 1337 Er war ein Unterzeichner des Projekts 364, siehe : Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 236 f. 1338 Er war auch ein Unterzeichner des Projekts 364, siehe ebd., S. 233. 1339 Vgl. N.N. an N.N., Moskau, 05./16.02.1730, HHStA Wien, Russland I, Karton 32, Konvolut 2, fol. 39r/40v. 1340 Siehe dazu ediert: „Iz „Zapisok“ de Liria, in: ebd., S. 189 f. 1341 Dies geht aus einem Vergleich der einzelnen Punkte der angeblichen Konditionen mit der Überlieferung de Lirias hervor. Relevant ist, dass die Informationen des Autors des Gesandtschaftsberichts von de Liria stammten. Der Inhalt der angeblichen Konditionen laut de Liria sind in folgenden Publikationen wiedergegeben, siehe: Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 219. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 178 f. 1342 Vgl. N.N. an N.N., Moskau, 05./16.02.1730, HHStA Wien, Russland I, Karton 32, Konvolut 2, fol. 41r/v.
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die Post aufgehalten und geöffnet werde, möglicherweise auch diejenige der diplomatischen Vertreter. Bei der derzeitigen Krise in Russland könne zudem nicht alles geschrieben werden. Es sei ein Befehl ergangen, dass Wachen auf den Straßen zu postieren seien. Diese bestünden aus fünf Mann und seien an jeder Straßenecke aufgestellt, um Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten. Aufgrund der Umstände gelte es aber abzuwarten, um mit mehr Sicherheit und Zuverlässigkeit berichten zu können.1343 Mardefeld nahm bezüglich der Stimmung im russischen Adel wahr, dass es in der derzeitigen Lage jedem russischen Untertanen erlaubt sei, seine Gedanken bezüglich der besten Regierungsform zu artikulieren. Er sprach abwertend über Ivan Dolgorukij, der sich bei einem nicht namentlich genannten ausländischen Gesandten über die Funktionsweise der Regierungsform der Republik Genua informiert hätte, da er glaubte, darin ein Muster für die künftige russische Regierung sehen zu können. Diese Idee charakterisierte Mardefeld als absurd. Die Regierungsform des kleinen Genua könne niemals erfolgreich auf das größte Reich des Kontinents übertragen werden.1344 Für diese Darstellungen Mardefelds lassen sich keine Belege finden. Dass vor allem Ivan Dolgorukij negativer bewertet wurde, zeigt dessen Machtverlust seit dem Tod des Zaren. Mardefeld ging hingegen davon aus, dass Dmitrij Michajlovič Golicyn unter der neuen Zarin mehr Macht erlangen werde. Daher zeigte sich der preußische Gesandte erfreut über die Nachricht, dass König Friedrich Wilhelm I. in Berlin den russischen Gesandten Sergej Dmitrievič Golicyn zuvorkommend behandelte. Der russische Gesandte in Berlin war der Sohn des in Moskau mächtigen Mitglieds des Rats, Dmitrij Michajlovič Golicyns.1345 Daraus wird einmal mehr deutlich, dass die Gesandten Bestandteil der höfischen Gesellschaft waren, die es für die eigenen Interessen zu gewinnen galt. Le Fort berichtete am 20. Februar 1730 in zwei Briefen unterschiedlich über die Vorgänge. In seinem ersten Brief verwies er darauf, dass Jagužinskij rehabilitiert werden müsse. Es gelte zudem als sicher, dass dieser sich im Haus seines Schwiegervaters, des Großkanzlers, aufhalte.1346 Aus einem Brief seines Kuriers Below sei ihm bekannt, dass dieser nach zweimaliger Verhaftung für je 24 Stunden unweit Moskaus erst am 6. Februar bei der Zarin eingetroffen sei. Le Fort hoffte, dass Below bei diesem Treffen die Gnade Annas gewinnen könne.1347 Die zweite Relation Le Forts beschäftigte sich ausschließlich mit Jagužinskij. Es sei sehr sicher, dass der Oberste Geheime Rat Jagužinskij zweimal die Rehabilitation in seine Ämter und seine Würden angeboten habe, was er allerdings bis zur Ankunft der Zarin abgelehnt habe. Jagužinskij behaupte, dass der Rat kein Recht habe, seine Handlungen zu verurteilen, da er
1343 Vgl. N.N. an N.N., Moskau, 09./20.02.1730, HHStA Wien, Russland I, Karton 32, Konvolut 2, fol. 43r/44v. 1344 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 20.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 63r/v. 1345 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 16.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 54r/v. 1346 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 20.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 79r. 1347 Vgl. ebd., fol. 79r–82r.
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weder seinen Eid gebrochen noch gegen das Vaterland agiert habe. Jagužinskij wird mit den Worten zitiert: „Ihr habet mich besudelt, Ihr könnet mich nimmer nicht wieder rein machen.“1348 Die Berichterstattung zeigt, dass Le Fort keine verlässlichen Angaben über den Verbleib des russischen Adligen machen konnte. Le Fort interpretierte seine Meldungen wie folgt: Das Entgegenkommen des Obersten Geheimen Rats, Jagužinskij die Freiheit anzubieten, sei nach der Unterschrift der Zarin unter die Machtbeschränkung erfolgt, um den Adel zu beschwichtigen, indem er ihn aufforderte, seine Ratschläge bezüglich der Regierungsform abzugeben. Es gebe zu viele Köpfe und zu viele Pläne, aber keine konkrete Vorstellung, was für den Adel Freiheit bedeute. Diese werde mit Zügellosigkeit verwechselt. Russland werde ein Durcheinander erleben, so das Resümee des sächsisch-polnischen Gesandten.1349 Die Ereignisse um Jagužinskij beschäftigte die Gesandten in Moskau bis zur Wiedererlangung der Souveränität der Zarin, ohne dass sie tatsächlich Neues über sein ungewisses Schicksal hätten berichten können.1350 Wratislaw vermeldete noch, dass die Ehefrau Jagužinskijs bei Anna erfolglos um Gnade gebeten habe und die Zarin diese Angelegenheit bald untersuchen lassen werde.1351 Tessin vermeldete wenig später, dass das Schicksal Jagužinskijs noch nicht geklärt und Sumarokov in Novgorod in Haft sei. Es bleibe abzuwarten, ob ihm mit aller Härte des Gesetzes der Prozess gemacht werde. Die Informationen, die Tessin vom russischen Hof erhalte, seien widersprüchlich.1352 Die Diplomaten griffen die Verhaftung Jagužinskijs immer wieder auf, konnten aber nur wiederholen, dass das weitere Vorgehen nicht abzusehen sei.1353 Am 6. März berichtete Le Fort in seinem zweiten Brief, dass über Jagužinskij noch nicht geurteilt sei und dieser weiterhin im Kreml gefangen gehalten werde,1354 während er sich in seinem ersten Brief sicher glaubte, dass die Zarin ein geheimes Treffen mit Jagužinskij gehabt habe.1355 Auch Mardefeld berichtete über mögliche Umbildungen des Hofstaats und über Ge1348 Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 20.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 83r/v (chiffriert). 1349 Vgl. ebd., fol. 83v/84r (chiffriert). 1350 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 16.02./27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Magnan an Chauvelin, Moskau, 27.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 82v (chiffriert). Le Fort an König August II., Moskau, 27.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 101v. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 27.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 139v. 1351 Vgl. ebd. 1352 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 19.02./02.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1353 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 23.02./06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 02.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 140r. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 06.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 144r. Le Fort an König August II., Moskau, 02.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 105v. 1354 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 06.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 112v. 1355 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 06.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 111r (chiffriert).
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rüchte, dass Jagužinskij gefährlich erkrankt sei und Leont’ev an seiner Stelle Oberstallmeister und Michail Michajlovič Golicyn Oberkammerherr werde.1356 Die Diplomaten beschäftigte demnach die Verhaftung Jagužinskijs sehr, und sie erlangten schnell relevante Informationen und Gerüchte, aus denen sie eine weitere Verschärfung der Gegensätze innerhalb des russländischen Adels um die Machtbeschränkung ableiteten. Die in der Literatur geäußerte Annahme, dass es Sumarokov gelungen sei, Anna zu warnen,1357 ist anhand der mitunter spekulativen Gesandtschaftsberichte nicht zu widerlegen; sie kann aber gleichsam nicht bestätigt werden. Ob Sumarokov die Zarin überhaupt erreichte oder ob er vorher durch die offizielle Deputation verhaftet wurde, ist auch in den Gesandtschaftsberichten umstritten. Die Berichte sind daher nicht hilfreich für die Lösung dieser Frage. Sie zeigen abermals auf, dass die diplomatischen Vertreter mit Unsicherheiten umgehen mussten und um verlässliche Informationen bemüht waren. Die seit Korsakov in der wissenschaftlichen Literatur weitverbreitete Behauptung, dass Karl Gustav Löwenwolde1358 und Feofan Prokopovič ebenfalls je einen Boten nach Mitau geschickt hätten, um Anna über die Vorgänge in Moskau zu informieren,1359 gilt als widerlegt. Die Aussage Korsakovs gründete sich auf die Memoirenliteratur des unter Zarin Anna in russischen Diensten stehenden Militärs Christoph Herrmann von Manstein, der weder Teilnehmer noch Augenzeugen war, sondern dessen Darstellung erst lange nach den Ereignissen entstand.1360 In den Gesandtenberichten und den Dokumenten des Obersten Geheimen Rates findet sich als Bote ausschließlich Sumarokov. Es bedarf weiterer Forschung zu der Frage, wie Anna konkret darauf reagierte, dass ihr der Thron angetragen wurde. Zeremonialprotokolle oder Berichte von in Mitau anwesenden Gesandten wären hierfür ein möglicher Quellenzugang. Die in der Forschung geäußerten Mutmaßungen darüber bedürfen in jedem Falle einer quellengestützten Überprüfung.1361
1356 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol 78r. 1357 Vgl. Ziegler, Das Geheimnis der Romanows, S. 138. 1358 Es handelt sich um Karl Gustav Löwenwolde und nicht wie fälschlicherweise angegeben, um K.P. Löwenwolde. 1359 Korsakov verbreitet die Annahme, dass es drei Boten gab, siehe Korsakov, Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny, S. 82. Die Absendung der beiden Boten, vor allem derjenige Löwenwoldes, der erfolgreich zu Anna vordrang, wurde häufig unkritisch in die Forschungsliteratur übernommen, siehe beispielsweise: Anisimov, Anna Ioannovna, S. 26. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 77. Petruchincev, Carstvovanie Anny Ioannovny, S. 43 f. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 174. Pavlenko, Anna Ioannovna, S. 48 f. Liechtenhan, Elisabeth Ire de Russie, S. 65. Daniels, V.N. Tatishchev and the Succession Crisis of 1730, S. 551. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 257. Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 43. In diesem Zusammenhang zur Neubewertung der Rolle Feofan Prokopovičs: Cracraft, The Succession Crisis of 1730, S. 70–84. 1360 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 94. 1361 Vgl. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 76–78.
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Das Aufbegehren Jagužinskijs gegen die Einschränkung der Souveränität
Ein Nordlicht als Vorbote des Unheils? Der preußische Gesandte Mardefeld ging am 16. Februar nach der Darlegung des Schicksals Jagužinskijs darauf ein, dass der Oberste Geheime Rat die Bereithaltung zum Abmarsch der 30.000 Soldaten angeordnet habe, die dem Kaiser zu dessen militärischer Unterstützung in Italien zugesagt worden waren. Der Bericht über diesen Vorgang erfolgte durch Mardefeld chiffriert in zwei unterschiedlichen Interpretationen. Viele seien der Meinung, dass diese Order beweisen solle, dass Russland mit einer konstitutionellen Monarchie über den gleichen außenpolitischen Handlungsspielraum und die Machtoptionen verfügte, als wenn die Zarin die absolute Souveränität innehabe. Wiederum andere würden sagen, dass die derzeitigen Machthaber diese Truppen in Bereitschaft hielten, um sie im Inneren des eigenen Landes einsetzen zu können.1362 Beide Befürchtungen wurden durch ein Naturphänomen, ein blutrotes Nordlicht, bestärkt: „Gestern Abend hat man allhier ein Nord-Licht wahrgenommen, welches den Himmel etliche Stunden lang gantz blutsroth vorstellete und viele Strahlen von gleicher Farbe von sich schoß. Ob nun wohl die klugen Leüte solches vor nichts anderes, als ein natürliches Phanomenom ansehen, so machet selbiges doch, wegen der ungewönlichen und hier noch nie gesehenen rothen Farbe, bey dem gemeinen Mann große Impression, und wird generalement vor einer Vorbedeutung eines schweren Krieges gehalten.“1363
Auch der kaiserliche Gesandte ging auf dieses außergewöhnliche Naturschauspiel ein. Es habe am vorherigen Abend ein außergewöhnliches Zeichen am Firmament gegeben, welches aus auf ein Zentrum zulaufenden hellen Strahlen bestanden habe. Als sich diese geteilt hätten, habe es eine starke Rötung gegeben. Es habe sich innerhalb einer Stunde wieder verzogen. Wratislaw wolle dies nicht bewerten, müsse aber davon berichten, so seine Darlegung.1364 Der sächsisch-polnische Gesandte berichtete ebenfalls über das außergewöhnliche Nordlicht, das von unwissenden und abergläubischen Menschen als Vorbote des Unheils interpretiert werde. Sicher sei, dass dieses Phänomen in dieser Form schon lange nicht mehr aufgetreten sei. Das Nordlicht habe ausgesehen, als hätte es rot gebrannt. Le Fort glaubte, dass die große Kälte dazu beigetragen habe.1365 So nüchtern und wenig abergläubisch auch diese Äußerungen Le Forts über das Nordlicht klingen, so deutlich belegt sein erster Brief desselben Tages, dass auch er sich diesen Vorahnungen nicht entziehen konnte, indem er auf angebliche 1362 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 16.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 55r (chiffriert). 1363 Ebd., fol. 55r/v. 1364 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 16.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 102v–107r. 1365 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 16.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 73v/74r.
Die Festnahme Jagužinskijs und ihre Deutung
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Todesahnungen Peters II. einging. Diese ergänzten die bisher dargelegten Interpretationen und Deutungen des Naturphänomens: Seit der Verlobung des Zaren wäre dieser niedergeschlagen gewesen und hätte keinen Gefallen mehr an Unterhaltungen gefunden, sondern wäre nur trüben Gedanken nachgehangen. Zudem hätte der junge Zar einige Zeit vor seiner Krankheit gegenüber dem Großkanzler Golovkin gesagt, Gott würde seit einigen Jahren die russischen Untertanen und das Russische Reich strafen. Zar Peter II. solle geäußert haben, dass es noch gefährliche Revolutionen in Russland geben und dieses Land von Katastrophen heimgesucht würde. Er sei durch schlechte Beispiele und den Stolz der Dolgorukij zu Fehlverhalten verleitet worden. Zudem hätte seine Verlobte Katharina Dolgorukaja wenige Tage vor dem Beginn der Krankheit des Zaren geträumt, dass ihr ein Zahn ausgefallen sei und ihr Zahnfleisch blute. Sie sei erschrocken gewesen und habe alles dem Zaren erzählt. Dieser solle gesagt haben, dass sie bald Witwe sei. Der jungen Zar Peter hätte zudem in seinen Delirien wörtlich nach Andrej Ivanovitz Ostermann gerufen, der sich nicht von seinem Bett wegbewegt habe. Peter II. hätte ihm befohlen, den Schlitten für ihn bereit zu machen, damit er zu seiner bereits ebenfalls jung verstorbenen Schwester fahren könne.1366 Anisimov greift diese Episode unkritisch auf.1367 Sie zeigt, dass die Dolgorukij negativ betrachtet wurden, wohingegen Ostermann, der mit seinem russischen Namen gerufen wurde, sehr positiv bewertet wird. Die Interpretation des Nordlichts und der angeblichen Todesahnungen zeigen zeitgenössische Denkweisen auf, die die Angst vor einer unklaren Zukunft belegen. Bereits am Vorabend der Hochzeit Katharina Ivanovnas mit dem mecklenburgischen Herzog wurde ein blutrotes Nordlicht als Warnzeichen für künftig eintretendes Unheil gedeutet.1368 Himmelskörper wurden nach der Offenbarung des Johannes als Unheilsbringer interpretiert. In der Nestorchronik wurde der Fall Kiews 1203 beispielsweise durch ein blutrotes Himmelszeichen angekündigt.1369 Die Zuschreibung des Aberglaubens galt in der Publizistik des 18. Jahrhunderts als Zeichen, dass Russen nicht nach vernünftigen Maßstäben handelten, was zu Unordnung und Gewalttätigkeiten führen würde.1370 Beginnend im 17. Jahrhundert kam es durch Feuerwerke zu einer Umdeutung dieser Symbolik. Das Abbrennen von Feuerwerk wurde demnach nicht mehr mit Krieg, sondern mit Friedensschlüssen verbunden.1371 Die Verlegung des Naturphänomens auf den Tag der Wiedergewinnung der autokratischen Herrschaft Annas in den Memoiren Mansteins wird als falsch und tendenziös bezeichnet.1372 Anisimov leitet daraus bis in neueste Publikationen eine düstere Herrschaft Annas
1366 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 16.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 69r/70r. 1367 Vgl. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 71. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 8 f. 1368 Vgl. Graff, Die zweite Ehe des Herzogs Karl Leopold, S. 216 f. 1369 Vgl. Schmidt, Russische Geschichte 1547–1917, S. 43 f. 1370 Vgl. Matthes, Das veränderte Rußland und die unveränderten Züge des Russenbilds, S. 116 f. 1371 Vgl. Schmidt, Russische Geschichte 1547–1917, S. 43 f. 1372 Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, 53.
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ab. Dies ist Ausdruck einer Wertung, die mit dem autokratischen Herrschaftsbeginn Annas fälschlicherweise noch das Scheitern einer konstitutionellen Umgestaltung Russlands verbindet.1373 Die Deutungen der Gesandten versinnbildlichen vielmehr, dass die Lage in Moskau als gefährlich wahrgenommen wurde. Zudem deuten diese Vermutungen einen Machtverlust der Dolgorukij an und betonen die positiven Leistungen Ostermanns.
5.2 Zwischen Macht und Machtbeschränkung – das Aufbegehren des russischen Adels gegen den Obersten Geheimen Rat Bei der offiziellen Verkündung der Konditionen durch den Obersten Geheimen Rat am 13. Februar musste der Rat dem Adel einräumen, eigene Vorschläge zur Machtbegrenzung unterbreiten zu dürfen. Da bei der Beurteilung der Konditionen durch die diplomatischen Vertreter offensichtlich wurde, dass es sich bei deren bisheriger Berichterstattung um eine Mischung aus Spekulationen und Informationen handelte, gilt es auch bei den Vorschlägen zur Machtbeschränkung von Seiten des Adels zu fragen, wann die Diplomaten diese in Erfahrung bringen und neue Informationen erlangen konnten. Die kontroverse historiografische Einordnung, Entstehung und die Anzahl der in der Forschung als Projekte bezeichneten Vorschläge des Adels, die dieser über die zukünftige Ausarbeitung der Regierungsform beim Obersten Geheimen Rat einreichte,1374 gelten auf erweiterter Quellengrundlage als geklärt. Die Projekte des Adels sind in der Forschung nach der Anzahl der Unterschriften benannt. Sie artikulierten Vorschläge zur Umgestaltung der Regierungsform. Das Projekt obščestva entstand noch in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar anlässlich der angekündigten Veröffentlichung der Konditionen und entwickelte sich zum Projekt 364, das am 16. Februar dem Obersten Geheimen Rat vorgelegt wurde. Des Weiteren erhielten die Verchovniki am 17. Februar das Projekt 25 und das Projekt 15 und einen Tag später das Projekt 13.1375 Es stellt sich die Frage, wie viele Personen an der Diskussion und Gestaltung der Regierungsform teilnahmen und wer diese Personen waren. Diese Fragen sind relevant, um Rückschlüsse auf die Motivationen der Adligen bei der Veränderung der Regierungsform zu gewinnen. In Moskau befanden sich viele Adlige aufgrund der ursprünglich geplanten Vermählung Peters II. und um nach dessen Tod noch seiner Beisetzung beizuwohnen.1376 1373 Vgl. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 101. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 49. 1374 Vgl. Ransel, The Government of Crisis of 1730, S. 52–56. Raeff, Plans for Political Reform in Imperial Russia 1730–1905, S. 42–50. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 180–183. Whittaker, Russian Monarchy, S. 72. 1375 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 41–60. 1376 Vgl. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 141 f. Stadelmann, Die Romanovs, S. 96.; Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 42. Ključevskij, Kurs russkoj istorii, S. 357. Ransel, The Government of Crisis of 1730, S. 48.
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Die Ermittlung der Zahlen ist ausgesprochen schwierig, da sich die Zusammensetzung dieser Kreise beständig änderte und nicht alle Personen in den Quellen Spuren hinterließen. Es sind nur diejenigen Personen zu ermitteln, die unter die Veröffentlichung der Konditionen, unter Projekte zur Ausgestaltung der Regierungsform oder unter die beiden an Anna am 8. März überreichten Bittschriften ihre Unterschrift setzten. Alles in allem sind insgesamt 748 verschiedene Adlige nachweisbar; die tatsächliche Zahl muss höher gewesen sein. Die in der Literatur zumeist genannten 416 bis 1.117 Teilnehmer basieren auf den Berechnungen Korsakovs1377 und sind von Kurukin und Plotnikov schlüssig widerlegt.1378 Zu den aktivsten Teilnehmern an den Ereignissen der Machtbeschränkung zählte die Generalität, also die Vertreter der vier höchsten militärischen Ränge, die die wichtigsten Ämter bei Hof, in der Armee und der Regierung innehatten. Diese Gruppe bestand aus 143 Personen, von denen 84 Vertreter in Moskau anwesend waren. Aus dieser Gruppe nahmen nachweislich 69 Personen an den Diskussionen über die Regierungsform teil. Dabei ist zu beachten, dass nicht alle teilnehmenden Personen letztendlich eine Unterschrift leisteten und somit in den Quellen fassbar sind, wodurch die Zahl höher anzusetzen ist.1379 Alle Projekte des Adels beinhalteten die Forderung nach der Ausweitung der Mitgliederzahlen des Obersten Geheimen Rates und des Senats. Zudem schlugen die Projekte die Verbreiterung des Kandidatenkreises für den Obersten Geheimen Rat, den Senat und die Präsidenten der Kollegien und der Gouverneure vor. Auch die Festlegung der Wahlmodalitäten spielte eine bedeutende Rolle in den Adelsprojekten.1380 Die Verkürzung des Militärdienstes, soziale Absicherung bei Invalidität, Verbote, Adlige als Matrosen und Handwerker einzusetzen und Steuererleichterungen wurden darin ebenfalls festgehalten. Diese Forderungen ergeben sich aus der langen Kriegsführung Russlands zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Hierbei handelte es sich mitunter um Reaktionen auf die petrinischen Reformen. Die Projekte geben einen Einblick in die Lebensrealität verschiedener sozialer Schichten – vor allem innerhalb des Adels beim Amtsantritt Zarin Annas.1381 Was lässt sich aber aus den Gesandtschaftsberichten über die Vorschläge des Adels ermitteln? Vorweggenommen werden kann, dass kein Diplomat seine Quellen oder Informanten namentlich nannte oder ausführte, wie er zu diesen Informationen gelangte. Das Projekt 3641382 sandten Mardefeld, Tessin und Wratislaw an ihre Höfe. Ein Vergleich 1377 Vgl. Korsakov, Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny, S. 117. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 142. Ključevskij, Kurs russkoj istorii, S. 363. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 261. Whittaker, Russian Monarchy, S. 72. 1378 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 61. Erste Analysen bezüglich der sozialen Herkunft, ihrer Bildung und ihres Reichtums sowie verwandtschaftliche Beziehungen, Heiratsverhalten und Karrierewege analysierte bereits Meehan-Waters, siehe Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 23. 1379 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 63. 1380 Vgl. ebd., S. 53 f. 1381 Vgl. Kamenskij, Ot Petra I do Pavla I, S. 214–218. 1382 Siehe dazu ediert: „Proekt 364-ch“ (05.02.1730Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 209–217.
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der Meldungen über den Inhalt der Vorschläge ergibt, dass sie nur leichte Abweichungen im Text aufweisen,1383 was auf eine gemeinsame Informationsquelle schließen lässt. Die Unterschriften unter diesem Projekt weisen allerdings größere Unterschiede auf und lassen weitere Rückschlüsse auf die Übermittlung zu, wie im Folgenden ausgeführt wird. Falls Unterschriften notiert wurden, stimmen diese mit den ersten Unterschriften des edierten Projekts, das den Verchovniki übergeben wurde, überein.1384 Während bei Tessin die darunter gesetzten Unterschriften völlig fehlen, enthalten die übermittelten Projekte des kaiserlichen und preußischen Gesandten die Unterschriften der Urheber. Diese sind mit Vor- und Nachnamen ohne Vatersnamen, aber mit den zivilen und militärischen Rängen der Unterzeichner versehen. Die Ränge fehlen in der edierten Version. Dass die Unterschriften bei beiden Gesandten in der gleichen Reihenfolge aufgelistet sind, aber von der edierten Variante abweichen, lässt eine gemeinsame Urschrift mehr als wahrscheinlich erscheinen. Da bei Mardefeld im Vergleich zu Wratislaw aufgrund möglicher Übertragungsfehler einige Namen ausgelassen sind, ist es wahrscheinlich, dass Wratislaw dieses Projekt an Mardefeld weitergab. Dass Mardefeld wiederum die Urschriften lieferte, erscheint unwahrscheinlich, da bei ihm die Namen fehlen, die sowohl bei Wratislaw als auch auf der ersten edierten Seite der Unterschriften unter dem Projekt zu finden sind. Falls Wratislaw die Urschrift lieferte, müsste ihm dieses Projekt spätestens seit dem 23. Februar bekannt gewesen sein. Da bei Tessin keinerlei Unterschriften zu finden sind, kann eine Weitergabe von Tessin an Mardefeld und Wratislaw nahezu ausgeschlossen werden. Da das Projekt auf den 16. Februar datiert ist, ist festzuhalten, dass das Projekt nahezu umgehend bekannt war. Während Tessin das Projekt bereits am 20. Februar übermittelte,1385 sandte es Mardefeld am 23. Februar, dem folgenden Posttag, nach Berlin.1386 Die Variante Wratislaws ist undatiert.1387 Mardefeld griff bei der Kommentierung des Projekts explizit die offenbar zu diesem Zeitpunkt gestattete Freizügigkeit der Artikulationen innerhalb des in Moskau weilenden Adels über eine Regierungsform auf. Die Gesandten gelangten vermutlich deswegen schneller an die Projekte des Adels als an die lang geheim gehaltenen Konditionen des Rats. Mardefeld hoffte, zukünftig weitere Vorschläge nach Berlin senden zu können.1388 Zudem berichtete er wiederholt davon, dass die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates wenige Tage zuvor 1383 In der Variante Tessins soll der Senat aus 12 statt 11 Personen bestehen (Punkt 2). Zudem sollen in der Variante von Tessin bei der Ballotierung nicht mehr als drei statt zwei Personen aus einer Familie teilnehmen (Punkt 3). 1384 Während auf dem ersten Blatt des edierten Projekts 29 Personen vermerkt waren, notierte Wratislaw davon nur 25 Personen. Die Reihenfolge ist nicht identisch. Interessant ist, dass Wratislaw die Rangbezeichnungen größtenteils ausgewiesen hat, die in der Edition nicht zu finden sind. 1385 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk (Beilage), Moskau, 09./20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1386 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (Beilage A), Moskau, 23.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 65r/66v. 1387 Vgl. Lit. E, Moskau, undatiert, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 204r/205r. 1388 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 23.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 64r.
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den erkrankten Ostermann aufgesucht hätten, um ihn zu zwingen, die Konditionen zu unterschreiben. Mardefeld beurteilte diesen Vorgang wie folgt: Diese gewalttätige Handlung habe der kluge Mann bewusst abgewartet, um sich jeglicher Verantwortung bezüglich der Modifikation der Regierungsform entziehen zu können. Da sich Ostermann der Mitwirkung verweigere, kämen die anderen Mitglieder des Rates nicht voran.1389 Dies zeigt die zentrale Machtstellung Ostermanns in diesem Gremium. Bereits am 16. Februar hatte Mardefeld bezüglich der Regierungsform vermeldet, dass der Rat und die Generalität täglich versammelt seien, um die bisher erfolglose Ausarbeitung einer Regierungsform noch vor Ankunft der Zarin zu erreichen.1390 Aufgrund der Brisanz seiner Interpretation der derzeitigen Lage in Russland vermeldete Mardefeld chiffriert, dass sich nicht nur Teile der Generalität und auch des niederen Adels gegen die Machtbeschränkung auflehnen würden, sondern auch der Oberste Geheime Rat uneinig wäre. Er verwies hierbei im Besonderen auf die Feldmarschälle Dolgorukij und Golicyn. Mardefeld hielt es für möglich, dass es im Verlauf der Ereignisse noch zu bedeutenden Veränderungen mit großen Auswirkungen kommen könnte. Ostermann würde täglich von beiden Seiten aufgesucht, um ihn für die jeweilige Vorgehensweise zu gewinnen. Ostermann wiederum betone, dass er noch keinen klaren Gedanken fassen könne, da er sich am Bett des erkrankten Zaren seinen Gemütszustand ruiniert habe. Zudem benütze er den Vorwand, dass es ihm als Ausländer nicht gebühre, sich in derartige Sachen zu mischen.1391 Drei Tage später führte Mardefeld aus, dass die Russen zwar derzeit viel von Freiheit redeten, wie diese aber umzusetzen sei und wie stark die absolute Gewalt eingeschränkt werden solle, darüber seien sie uneinig. Während die Familien Golicyn und Dolgorukij sich für weitergehende Einschränkungen aussprächen, sei der Großkanzler Golovkin moderat eingestellt. Vordergründig würden die Golicyns und Dolgorukij mächtiger sein, da sie über das Kommando der Armee verfügten.1392 Wenn die Zarin sich von fähigen Leuten beraten lasse und ihre Rolle zu spielen wisse, werde sie innerhalb kurzer Zeit ihre Souveränität zurückgewinnen.1393 Auch wenn diese Uneinigkeit der Verchovniki, ausgenommen Ostermann, von verschiedenen Gesandten vermeldet wurde, finden sich dafür keine Belege in anderen zeitgenössischen Dokumenten. Dass Ostermann sich der Mitgestaltung jedweder Machtbeschränkung entzog, kann hingegen bestätigt werden. Da er innerhalb des Obersten Geheimen Rates eine isolierte Position einnahm, konnte er den Verlauf der Ereignisse durch seine Abwesenheit beeinflussen, indem er damit indirekt seine Ablehnung deutlich machte.1394 Dies wiederum wurde durch die Gesandten aufgrund seines hohen Ansehens genau beobachtet.
1389 Vgl. ebd., fol. 69v (chiffriert). 1390 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 16.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 54r/v. 1391 Vgl. ebd., fol. 54v (chiffriert). 1392 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 23.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 69v (chiffriert). Ključevskij, Kurs russkoj istorii, S. 358 f. 1393 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 23.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 69v/70r (chiffriert). 1394 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 98 und S. 98 (FN11).
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Mardefelds Einschätzung über den weiteren Verlauf der Machtbeschränkung erscheint bis hierher zutreffend.1395 Seine in diesem Zusammenhang getroffene Erklärung ist hingegen zu relativieren. Vergleicht man diese Aussagen Mardefelds über den Freiheitswillen des russischen Adels mit zeitgenössischen publizistischen Wertungen in der Zeitung Europäische Fama nach der Wiedergewinnung der Souveränität, so zeigt sich ein ähnliches Urteil über den russischen Adligen, die anders als ein Pole, ein Schwede oder ein Engländer nicht den nötigen Freiheitswillen hätten. In der Publizistik sollte dieser mangelnde Freiheitswille des russischen Adels als Stilmittel dienen, um eine Abgrenzung zwischen Russland und dem übrigen Europa zu erzeugen.1396 Der seit 1725 als Zeitungsreferent am preußischen Hof tätige David Fasmann (1683–1744) betonte das angeblich sklavische Verhalten des russischen Adels.1397 Es scheint sich bei der Wertung Mardefelds um ein „facettenreiches und zugleich von Stereotypen geprägtes Mosaik“1398 der Beobachtungen des Fremden zu manifestieren, ohne das Eigene vom Fremden klar abgrenzen zu können.1399 Dass Mardefeld von diesen zeitgenössischen Wertungen als preußischer Untertan vollkommen frei war, erscheint unwahrscheinlich. Dass es sich bei den meisten Bewertungen der Gesandten um die Reproduktion von Stereotypen über den russischen Adel handelte, legt zudem der Umstand nahe, dass solche Wertungen bei Bonde und J.C.D. Ostermann fehlen. Beide sprachen russisch und waren mit den landesspezifischen Gegebenheiten deutlich besser vertraut. Hier zeigt sich, dass die Landeskenntnis von Diplomaten für deren Berichterstattung wichtig war. Möglicherweise wurde hier auch eine Fremdartigkeit Russlands konstruiert, um einer möglichen Fehldeutung zukünftiger und schwer vorhersagbarer Ereignisse vorzubeugen.1400 Somit versuchten sich die Diplomaten vor Vorwürfen bei Fehlinterpretationen ihrer Beobachtungen und den daraus folgenden Schlussfolgerungen zu schützen. Die Projekte bieten einen Einblick in das sich verändernde nachpetrinische Verständnis des russländischen Adels, der durchaus versuchte, seine Rechte auszuweiten und die Macht der Zarin zu beschränken. Zutreffend am Urteil Mardefelds ist, dass der russländische Adel nicht in ausreichendem Maße gewohnt war, gemeinsam politisch zu handeln. Das politische Verständnis reichte von starker Partizipation bis zu Desinteresse und Unkenntnis. Selbst bei den Unterzeichnern einzelner Projekte divergierten die politischen Ansichten, und die Unterschiede in der politischen Kultur waren groß. Das politische Verständnis war demnach unbeständig und mitunter widersprüchlich. Die Uneinigkeit des Adels begünstigte demnach maßgeblich die Wiedergewinnung der autokratischen Herrschaft Annas.1401 1395 1396 1397 1398 1399
Vgl. ebd., S. 98 (FN 10). Vgl. Fissahn, Faszination und Erschrecken, S. 144 f. Vgl. Matthes, Das veränderte Rußland und die unveränderten Züge des Russenbilds, S. 121. Nolde, Aufbruch und Festschreibung, S. 556. Vgl. ebd., S. 556. Hennings weist darauf hin, dass die Wahrnehmung des Fremden in diplomatischen Berichten allgemein stärker differenziert werden sollte. Begriffe wie barbarisch oder das Beschreiben von Fremdheit findet sich nicht nur in Bezug auf Russland in europäischen Diplomatenberichten, siehe Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 138 f. 1400 Vgl. Windler, Diplomatie als Erfahrung fremder politischer Kulturen. Gesandte von Monarchen in den eidgenössischen Orten, S. 42–44. 1401 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 88–93.
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Obwohl sich in den Gesandtschaftsberichten weiterhin negative Stereotype finden lassen, beginnt sich in der nachpetrinischen Zeit die Vorstellung von Russland als Teil Europas in der Publizistik stärker durchzusetzen.1402 Parallel dazu wird das Russische Reich immer selbstverständlicher Bestandteil der europäischen Beziehungen.1403 In dieser Übergangsperiode zeigt sich, dass Russland auf mehr Interesse stieß, jedoch die Stereotype aus den Russlanddarstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts 1730 noch außerordentlich stark wirkten.1404 Wratislaw war am 23. Februar davon überzeugt, dass die abschließende Entscheidung über die Ausgestaltung der Regierung innerhalb der nächsten zwei Tage fallen werde. Hierbei gebe es Differenzen zwischen dem Obersten Geheimen Rat und der Generalität. Die im Rat sitzenden beiden Feldmarschälle und die Mitglieder der Generalität oberhalb des Rangs eines Obersts seien hingegen aufseiten der Verchovniki. Bisher hätten die Trauerfeierlichkeiten für den Zaren die Beschäftigung mit der neuen Regierungsform verzögert.1405 Wratislaw vermeldete am 23. Februar lediglich, dass ihm beide Vorschläge der Regierungsform geheim zugetragen wurden.1406 Dabei handelte es sich um die Konditionen des Obersten Geheimen Rates und um das Projekt 364.1407 Er vermochte allerdings nicht, zwischen den Konditionen und den verschiedenen Reformprojekten zu unterscheiden. Dass es jeweils unterschiedliche Zielsetzungen und Initiatoren gab, wurde ihm erst allmählich klar. Er berichtete, dass unter den Unterzeichnern dieses Projekts zwei Garderegimenter, ausgenommen „etliche wenige Kreaturen“,1408 zwei Feldmarschälle und 300 bis 400 Häupter adliger Familien seien. In seiner Ausdrucksweise gegenüber den Befürwortern der Machtbeschränkung wird Wratislaws ablehnende Haltung gegen diese deutlich. Er führte weiter aus, dass die Machtbeschränkung mit einem Eid belegt sei. Demnach sollten die Seelen der Befürworter der Machtbeschränkung laut Wratislaw verflucht sein und verbannt werden. Diese Urheber des Projekts dürften derzeit nach Meinung Wratislaws in der Mehrheit sein.1409 Für das Projekt 364 liegen detaillierte Daten über die namentliche Zusammensetzung und die Dienstgrade und das Alter der Unterzeichner vor. Demnach waren die Schlussfolgerungen Wratislaws über die Zusammensetzung der Unterzeichner nicht zutreffend, jedoch schätzte er die ungefähre Anzahl der Unterzeichner richtig ein.1410 Wratislaw war zudem der Überzeugung, dass die neue Zarin vor Klärung der Ausgestaltung der Regierungsform nicht in Moskau einziehen werde, wobei deren Einzug bereits in1402 1403 1404 1405 1406 1407 1408 1409 1410
Vgl. Fissahn, Faszination und Erschrecken, S. 146 f. Vgl. ebd., S. 151 f. Vgl. Matthes, Das veränderte Rußland und die unveränderten Züge des Russenbilds, S. 130–135. Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 23.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 126v. Vgl. ebd., fol. 127r (chiffriert). Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (Beilage), Moskau, 23.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 129r–131v (chiffriert). Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 23.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 127r. Vgl. ebd., fol. 127r/v (chiffriert). Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 63–68 und S. 233–258.
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nerhalb von zwei Tagen stattfinden solle. Auch Wratislaw sah Ostermann als Unterstützer Annas um die Wiedergewinnung ihrer absoluten Macht an. Anna habe am vergangenen Tag den bei der Garde tätigen Schwager Ostermanns zu diesem geschickt, um sich nach dessen Gesundheitszustand zu erkundigen. Wratislaw war überzeugt, dass Ostermann sich zwar nicht aus dem Haus bewege, jedoch viele Dinge in aller Stille bewirke, da er sich seine Prinzipien nicht verbieten lasse.1411 Auch der holsteinische Gesandte Tessin vermeldete am 23. Februar, dass sich das ganze Regierungssystem in Veränderung befinde. Er wiederholte, dass Ostermanns Krankheit auf seine ablehnende Haltung der derzeitigen Vorkommnisse zurückzuführen sei. Tessin bekannte aber, dass er die neue Regierungsform noch nicht abschließend beurteilen könne. Der Oberste Geheime Rat treffe sich zwar täglich, berate und diskutiere, könne aber keine tragfähige Einigung erzielen.1412 Tessin war offenbar nicht bewusst, dass es mehrere rivalisierende Gruppierungen am Moskauer Hof und innerhalb des Adels gab, die sich für eine Machtbeschränkung einsetzten. Auch seine Annahme, dass er die angeblichen authentischen Konditionen von einem guten Freund erhalten habe, belegt diese Unkenntnis Tessins.1413 Im Gegensatz zu seiner Vermutung handelte es sich hierbei nicht um die Konditionen, sondern um das Projekt 364. Dass die Trennlinie zwischen den Reformprojekten und den Konditionen für Tessin nicht zu erkennen war, erscheint umso verwunderlicher, da in der Präambel der Reformprojekte Bezug auf die Versammlung des Rates und die Veröffentlichung der von der Zarin unterschriebenen Konditionen genommen wurde. Des Weiteren war es jedem erlaubt, im Sinne des Gemeinwohls Vorschläge für die Regierungsform zu machen.1414 Tessin beschrieb die Lage Russlands als immer noch konfus. Durch Ostermanns vorgetäuschte Krankheit seien alle Verhandlungen über holsteinische Interessen behindert. Tessin habe mit Bonde besprochen, dass sie die Regierungsbildung abwarten würden, da ihre Ansprechpartner erst dann benannt seien. Die Interessen des holsteinischen Herzogs jemand anderem als Ostermann vorzutragen, empfanden die holsteinischen Gesandten als zu risikoreich.1415 Das Projekt 151416 übermittelten Le Fort, Mardefeld und Wratislaw. Die Unterschriften und Rangbezeichnungen unterscheiden sich dabei aber. Während Mardefeld keine Vatersnamen, aber Vor- und Nachnamen und die Rangbezeichnung übermittelt, führt der kaiserliche 1411 Vgl. ebd. 1412 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 12.02./23.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1413 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 09.02./20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 09.02./20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1414 Tessin an Hofkanzler Stryk (Beilage), Moskau, 09./20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1415 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 09.02./20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 09.02./20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). 1416 Siehe dazu ediert: „Proekt pjatnadcati“ (06.02.1730Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 221–223.
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Gesandte nur die Vor- und Nachnamen der Unterzeichnenden ohne Rang und Vatersname auf. Die Aufzählung der Namen weicht in der Reihenfolge von derjenigen des edierten Projekts ab, worin auch ein Teil der Ränge verzeichnet ist. Die Reihenfolge der Namen ist bei Wratislaw und Mardefeld identisch. Daher ist abermals eine gleiche Urschrift anzunehmen. Ob dies auch auf die Relation Le Forts zutrifft, ist schwer zu ermitteln, da dieser zwar die Inhalte des Projekts am gleichen Tag wie Mardefeld übersandte, jedoch abermals gänzlich auf die Nennung von Unterzeichnern verzichtete. Le Fort und Mardefeld berichten über das Projekt am 6. März,1417 während die Variante Wratislaws wiederum undatiert ist.1418 Wenn von einer gemeinsamen Urschrift ausgegangen werden kann, liegt es nahe, dass Mardefeld, dessen Bericht über das Reformprojekt auch die Ränge enthält, die Urschrift vorgelegen haben müsste. Dass die Informationen von Le Fort und Wratislaw stammten, erscheint dabei unwahrscheinlich. Da das Projekt 15 seit dem 17. Februar bekannt war, erfolgte eine umgehende Weitergabe. Während Le Fort das Projekt unkommentiert übermittelte, führte Mardefeld aus, dass es ein dem Obersten Geheimen Rat vorgelegter Reformvorschlag1419 sei und daher besonders beachtet werden müsse, da er von vornehmen und einflussreichen Personen verfasst sei.1420 Informationen zum Projekt 131421 übermittelten Le Fort, Mardefeld und Wratislaw inhaltlich identisch, aber erneut mit unterschiedlichen Unterschriften. Während Le Fort keine Unterzeichner auflistete, vermerkten Mardefeld und Wratislaw die Vor- und Nachnamen. Die Reihenfolge der aufgelisteten Namen ist identisch.1422 Daher ist von einer Informationsweitergabe zumindest zwischen Wratislaw und Mardefeld auszugehen, wie sie bereits auch in anderen Fällen nachweisbar war. Möglich ist aber ebenso, dass sie über einem gemeinsamen Informanten verfügten. Das von Mardefeld ebenfalls am 23. Februar übermittelte Projekt 131423 fand geringere Beachtung, da die Autoren zwar aus den vornehmsten und besten Fa1417 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ) 2. Beilage, Moskau, 06.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 116r/117v. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (Beilage B), Moskau, 06.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 93r/v. 1418 Vgl. Lit. D, Moskau, unbekannt, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 202r-203v. 1419 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (Beilage B), Moskau, 06.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 93r/v. 1420 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 06.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 92r. 1421 Siehe dazu ediert: „Proekt trinadcati“ (07.02.1730Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 219 f. 1422 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ) 3. Beilage, Moskau, 06.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 118r/119v. Lit. C, Moskau, unbekannt, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, S. 200r/201r. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (Beilage C), Moskau, 06.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 94r/v. Eine Besonderheit der Variante Mardefelds und Wratislaws ist, dass sich alle Unterzeichner, wenn auch in anderer Reihenfolge als in der edierten Fassung, wiederfinden. Beide Gesandten listeten noch einen vierzehnten Unterzeichner auf. Dabei handelt es sich um Fürst Vasilej Urusov. Wie Mardefeld und Wratislaw diesen zu den Unterzeichnern des Projekts hinzuzählen konnten, muss ungeklärt bleiben. 1423 Vgl. ebd.
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milien des Russischen Reiches stammten, aber keine wichtigen Ämter innehatten, die ihnen besonderes Gewicht verliehen.1424 In seinem ersten Brief betonte Le Fort, dass der Oberste Geheime Rat über die ausgearbeiteten Reformvorschläge wache. Es sei bisher noch zu keiner Einigung gekommen, da die Vorschläge im Hinblick auf die Machtbeschränkung unterschiedlich beurteilt würden.1425 Der sächsisch-polnische Gesandte Le Fort berichtete unpräzise in seiner zweiten, von der ersten abweichenden Relation, dass er die machteinschränkenden neun Punkte des Prinzen Čerkasskij erhalten hätte. Diese würden von denjenigen der Matjuškins und Dolgorukij kaum abweichen. Was er damit genau meinte, muss offenbleiben. Allein aus der Formulierung ist ersichtlich, dass sich Le Fort über die Ausarbeitung der Reformprojekte des Adels und der Generalität, die sich gegen die Konditionen des Rates richteten, im Unklaren war. Le Fort verwechselte offenbar die Reformprojekte Čerkasskijs und Matjuškins mit den von der Zarin unterschriebenen Konditionen des Obersten Geheimen Rats. Er betonte explizit die komplexe Gemengelage in Moskau und seine Unkenntnis über die Vorgänge.1426 J.C.D. Ostermann, Rondeau und Magnan übermittelten hingegen keine Vorschläge des Adels zur Machtbeschränkung. Magnan schrieb aber sehr wohl, dass es viele Widersprüche unter den verschiedenartigen Projekten zur Errichtung einer neuen Regierung gebe. Alles sei ein Chaos, aus dem es keinen unproblematischen Ausweg gebe, außer die Regierungsform müsse bleiben, wie sie unter den Vorgängern der neuen Zarin gewesen sei. Wie sich die russischen Adligen letztendlich entscheiden würden, sei nicht vorherzusehen. Solange die Regierungsform und die Besetzung der Ämter durch die Zarin unklar seien, könne er nicht seiner Arbeit nachgehen.1427 Magnan erreichte eine Weisung vom 15. Januar 1730 aus Versailles, die die Gewinnung der Dolgorukij als mächtigste Familie in Russland beinhaltete. Da deren Vormachtstellung aber durch die Veränderungen in Moskau erodierte, versicherte Magnan, dass er durch sein bisheriges Verhalten gegenüber den Dolgorukij keine Unannehmlichkeiten für die französische Krone verursacht habe. Der an der Regierung beteiligte Feldmarschall Vasilij Lukič Dolgorukij werde sein hohes Ansehen nicht nur behaupten, sondern durch seine Beteiligung an Annas Wahl in Zukunft auch sein Ansehen bei der Zarin stärken. Daher werde Magnan Dolgorukij nach seiner Rückkehr aus Mitau die Interessen Frankreichs vortragen.1428 Auch J.C.D. Ostermann berichtete, dass Gerüchten zufolge viel von einer veränderten Regierungsform gesprochen werde und die Meinungen darüber auseinandergingen. Einige
1424 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 06.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 92r. 1425 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 06.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 110r (chiffriert). 1426 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 23.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 93r/94r (chiffriert). 1427 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 23.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 75r/76r (chiffriert). 1428 Vgl. ebd., fol. 74r/75r (chiffriert).
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glaubten, dass der Oberste Geheime Rat sich durchsetzen werde, andere hingegen würden verlautbaren, dass der Adel unzufrieden sei, da die Macht nur von wenigen Personen, die zudem fast ausschließlich aus zwei Familien stammten, ausgeübt werden solle. Es sei unzweifelhaft, dass einige tausend Adlige und vornehme Personen Projekte vorschlügen, um eine Aristokratie einzuführen. Obwohl er dies als erfolgreich erachtete, würden diese Personen bis zur Ankunft der Zarin vertröstet, weswegen sich erst allmählich werde zeigen können, wer sich letztendlich durchsetzen werde.1429 In der Literatur findet sich die Vermutung, dass auch de Liria Informationen über diese Vorschläge dem spanischen Hof mitteilte.1430 Im Vergleich zu den Erörterungen Protasovs lässt sich auf einer breiteren Quellengrundlage feststellen, dass die Diplomaten über weitaus mehr Informationen über die Reformvorschläge verfügten und ihre Höfe darüber in Kenntnis setzen konnten, als Korsakov auf Grundlage der Editionen der Gesandtschaftsberichte ermitteln konnte.1431 Zudem lassen sich durch die Erkenntnis, dass die diplomatischen Vertreter über die Reformideen besser informiert waren als bisher angenommen, Vermutungen über deren Kommunikationsverhalten anstellen. Neben den verschiedenen Vorschlägen zur Machtbeschränkung richteten die Diplomaten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die militärische Unterstützung des Kaisers durch Russland. Magnan beobachtete die Bemühungen Wratislaws. Die hoffnungslose Lage Wratislaws halte diesen laut Magnan nicht davon ab, vermeintlich verlässliche Zusicherungen von russischer Seite zu erhalten. Falls Russland diese Versicherungen tatsächlich gegeben habe, könnten diese derzeit nach Meinung aller unmöglich eingehalten werden, sondern bestenfalls zu einem späteren Zeitpunkt erneuert werden, so die Beurteilung Magnans. Die russischen Adligen würden vielmehr so entschlossen handeln, da sie überzeugt seien, dass der Kaiser letztendlich mit den angeforderten Truppen eine Drohkulisse aufbaue, jedoch keinen Krieg beginnen werde. Auch die russische Unterstützung für Holstein werde nicht erfolgen, da die alten russischen Geschlechter den holsteinischen Belangen gleichgültig gegenüberstünden. Aus den Handlungen Bondes und Tessins leitete Magnan ab, dass beide versuchten, die Thronrechte Karl Peter Ulrichs zu wahren und die russische Unterstützung für Holstein aufrechtzuerhalten.1432 Tessin führte aus, dass der spanische Gesandte de Liria sich sehr bemühe, die einflussreichen russischen Adligen – insbesondere die Familie Golicyn – zu gewinnen. Obwohl de Liria versuche, die russische Hilfe für den Kaiser zu verhindern, habe sich der Feldmarschall Golicyn bereits gegen de Liria ausgesprochen und zugesichert, dass er bei Absendung der russischen Soldaten persönlich das Kommando übernehmen würde. Auch der Oberste Geheime Rat habe Wratislaw die militärische Hilfe abermals zugesichert und sich gegen eine 1429 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 12.02.1730 a.St. [23.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 272r. 1430 Vgl. Protasov, Dvopjankie proekty 1730g., S. 93. 1431 Vgl. ebd., S. 93. 1432 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 23.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 76v/77r (chiffriert).
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Allianz mit Spanien ausgesprochen, die de Liria in Kooperation mit dem englischen Konsul und dem dänischen Gesandten Westphalen mit reichlich Geld und Versprechen zu erreichen versuche.1433 Drei Tage später betonte Tessin, dass die Befürworter der Allianz mit dem Kaiser in Russland derzeit in der Mehrheit seien und sie Wratislaw das Versprechen gegeben hätten, dass die in Livland weilenden Soldaten jederzeit zur Verfügung stünden. Nach Tessins Einschätzung sei aber derzeit nichts verlässlich, solange die Regierung noch keine Form angenommen habe.1434 Bezüglich des Bündnisses zwischen Russland und dem Kaiser betonte Wratislaw, dass der Großkanzler beständig versicherte, dass die Regimenter zum Marsch fertig seien. Der kaiserliche Resident in Konstantinopel habe Wratislaw zudem mitgeteilt, dass zwischen Russland und dem Osmanischen Reich Differenzen wegen Persien bestünden, weswegen Russland auf das Bündnis mit dem Kaiser angewiesen sei. Frankreich wiederum wolle Russland mit der Verlegung schwedischer Divisionen in Bedrängnis bringen.1435 Wratislaw vermeldete die durch den Feldmarschall Dolgorukij im Namen der Zarin ausgesprochene ausdrückliche Bestätigung der Bündnisse mit dem Kaiser.1436 Daher sei es derzeit nicht ratsam, wiederholt auf die Erneuerung des Defensivbündnisses zu drängen.1437 Auch Mardefeld betonte im Gegensatz zu vorherigen Meldungen den Beschluss der militärischen Unterstützung durch den Obersten Geheimen Rat trotz der Auseinandersetzungen um die Regierungsform.1438 Beide Gesandten betonten, dass de Liria dies trotz seiner Bemühungen nicht habe verhindern können.1439 Da die Diplomaten die Konditionen und die Reformprojekte lediglich aus außenpolitischen Gesichtspunkten interpretierten, waren die Bestimmungen nur insoweit bedeutend, wie sie außenpolitische oder dynastische Veränderungen mit sich brachten. Die genauen Trennlinien der einzelnen Vorstellungen über die Regierungsform waren für sie nicht primär bedeutend, sondern nur, ob es überhaupt zu einer Machtbeschränkung kommen würde. Somit ist es auch nicht möglich, auf Grundlage der gesandtschaftlichen Berichte verlässliche Aussagen über das politische Verständnis des russischen Adels zu treffen. Wie die Betrachtungen der Übermittlung der Projekte des Adels und der Generalität zeigten, gelang es den diplomatischen Vertretern nicht, diese Personenkreise zweifelsfrei ausein1433 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 09.02./20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 09.02./20.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). 1434 Vgl. ebd. 1435 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 20.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 168v–123v. 1436 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 23.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 128r (chiffriert). 1437 Vgl. ebd., fol. 167r (chiffriert). 1438 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 23.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 70r. 1439 Ebd.
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anderzuhalten. Die Meldungen variierten zwischen präziser Information, die mitunter nicht als solche erkannt wurde, und spekulativen Einschätzungen. Obwohl es schwierig ist, die Motivation der Urheber der Reformprojekte zu erkennen, kann anhand der Unterschriften ermittelt werden, dass sich vor allem Personen der petrinischen Generation den Reformprojekten anschlossen. Selbst den Verchovniki nahe stehende Personen widersetzten sich deren Pläne der Machtbeschränkung. Oberste Militärs, wie beispielsweise Generäle, sechs Senatoren, verschiedene Vertreter der einzelnen Kollegien und bedeutende Angehörige des Hofstaats, unterschrieben die Reformprojekte gegen den Obersten Geheimen Rat. Selbst Hofangestellte oder Vertraute der einzelnen Thronprätendentinnen und des Thronprätendenten schlossen sich dem Widerstand gegen die Verchovniki an.1440 Wie verhielt sich dabei die Garde? Auf Grundlage neuer Quellenfunde ist die Zusammensetzung der Offiziere der Preobraženskij- und der Semёnovskij-Garde für das Jahr 1730 bekannt. Daher ist belegt, dass 98 Offiziere der Preobraženskij- und 57 Offiziere der Sem ёnovskij-Garde der Veröffentlichung der Konditionen beiwohnten und diese per Unterschrift zur Kenntnis nahmen. Während sich Namen der obersten Ränge der Garde unter den Dokumenten finden, nahmen gewöhnliche Offiziere und Soldaten wenig Anteil an den in Moskau stattfindenden politischen Diskussionen.1441 Dass mit der Verhaftung Jagužinskijs und der Veröffentlichung der Konditionen die Mehrheit der Militärs sich gegen die Pläne des Obersten Geheimen Rates wendete,1442 ist daher zu widerlegen. Dass der Widerstand gegen die Dolgorukij nur auf traditioneller Familienpolitik beruhte,1443 ist kein ausreichendes Erklärungsmuster für die Ereignisse von 1730, da es innerhalb einer Familie verschiedene Positionierungen bezüglich der Regierungsform gab. Obwohl familiäre Beziehungen bedeutend für politische Entscheidungen waren, ist festzuhalten, dass die Generalität so enge verwandtschaftliche Beziehungen durchzogen, dass sich beispielsweise auch Kinder, Neffen oder Brüder der Verchovniki unter den Unterstützern der Adelsprojekte und der Anna am 8. März überreichten Bittschriften befanden beziehungsweise, dass sich diese Personen gar nicht politisch engagierten.1444 Aus der Tatsache, dass die Verchovniki nicht versuchten, ihre verwandtschaftlichen Bande zu nutzen, um ihre politischen Ziele durchzusetzen, lässt sich ableiten, dass sie sich in ihrer Machtstellung gegenüber dem Adel und den Unterstützern der Reformprojekte sicher fühlten.1445 Der Oberste Geheime Rat setzte sich mit den verschiedenen Reformideen auseinander, ohne jedoch ernsthaftes Interesse zu verfolgen, darauf wirklich einzugehen.1446 Die Verchovniki waren nicht bereit, ihre Macht mit dem Adel zu teilen; ihre Versprechen diesbezüglich waren auch vage. Sie wünschten keinesfalls eine breite gesellschaft1440 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 68–70. 1441 Vgl. ebd., S. 70–73. 1442 Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 53–64 und S. 183. 1443 Vgl. Kivelson, Kinship Politics/Autocratic Politics, S. 18. 1444 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 71–75. 1445 Vgl. ebd., S. 75 f. 1446 Vgl. ebd., S. 54–57.
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liche Auseinandersetzung mit ihren Opponenten. Andererseits war auch die Mehrheit des Adels letztendlich nicht entschlossen genug, die Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung nach ihren Vorstellungen durchzusetzen.1447
5.3 Europäische Beurteilungen des Falls Jagužinskij Ruhe oder das Signal größerer Veränderungen? Laut Eingangsvermerk auf den Archivalien erreichten die Berichte Wratislaws über die Verhaftung Jagužinskijs den Kaiserhof am 20. März 1730.1448 Am Wiener Hof nahm man mit Wohlwollen auf, dass Wratislaw direkt nach der Ankunft des kaiserlichen Kuriers die überbrachten Nachrichten dem Obersten Geheimen Rat mitteilte.1449 Demnach begrüße der Kaiser, dass die Bereitstellung der militärischen Hilfe im Rat bereits unterschrieben sei. Wratislaw solle sicherstellen, dass den guten Worten nun auch Taten folgten.1450 Daher forderte der Kaiser, alle Vorbereitungen für die Truppenabsendung zu treffen, sodass diese ohne jeglichen Zeitverzug erfolgen könne. Das aktuelle Verhältnis zwischen Persien und dem Osmanischen Reich begünstige die russische Militärunterstützung.1451 Bezüglich des Vertrages von Sevilla wiederholte der Kaiser, dass er rechtmäßig handle. Karl VI. habe seine Gesandten in Frankreich, Großbritannien und Holland informiert, dass die Bestimmungen der ehemals mit diesen Staaten geschlossenen Verträge bestehen blieben. Er ging sogar von einer möglichen Einigung mit den Alliierten von Sevilla aus, sollten die kaiserlichen Rechte gewahrt bleiben. Über die Konflikte zwischen Frankreich und dem Kaiser informierte dieser Wratislaw durch eine Beilage des kaiserlichen Gesandten in Paris, Stefan Kinskys. Wratislaw solle dem Moskauer Hof die Absicht Spaniens, das Erzhaus Österreich aus seinen italienischen Erbkönigreichen zu verdrängen, nachdrücklich vermitteln. Bereits erfolgte Truppenverlegungen nach Italien und Luxemburg würden fortgesetzt, denn auch Frankreich sowie Holland und England würden mobilisieren.1452 Ausführliche Bezugnahmen auf die Spannungen mit den Alliierten von Sevilla belegen, dass die außenpolitische Lage Europas die Beziehungen des Kaisers zu seinem Bündnispartner Russland prägte. Während Prinz Eugen weder in seiner offiziellen noch in seiner geheimen Korrespondenz Weisungen an Wratislaw bezüglich der sich verändernden russischen Regierungsform verfasste, richtete auch der Kaiser sein Augenmerk nahezu ausschließlich auf die Außenpolitik. Wratislaw wurde angewiesen, das Misstrauen 1447 Vgl. ebd., S. 85 f. 1448 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 23.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 125r. 1449 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 29.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 126r. 1450 Vgl. ebd., fol. 128v und fol. 159r. 1451 Vgl. ebd., fol. 160r (chiffriert). 1452 Vgl. ebd., fol. 127v/128v.
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des dort befindlichen preußischen Gesandten Mardefeld bezüglich der Absendung der russischen Truppen zu zerstreuen. Solche Argumente würden nur von den Gegnern des Kaisers vorgebracht, und selbst der preußische Hof spreche sich gegen solche Zweifel aus.1453 Karl VI. war sich bewusst, dass allein Gerüchte über eine möglicherweise nicht erfolgende Militärunterstützung seine Macht schmälern könnten – insbesondere dann, wenn solche Zweifel von einem Gesandten eines alliierten Hofs geäußert wurden. Zudem zeigte sich der kaiserliche Hof davon überzeugt, dass de Liria nichts unversucht lassen werde, um die Zarin für die spanischen Interessen zu gewinnen. Abschließend fasste der Kaiser die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Absendung der russischen Truppen zusammen: Die innere Sicherheit und Ordnung Russlands dürften auf keinen Fall gestört werden. Die Vorkommnisse um Jagužinskij wurden nur mit einem Satz thematisiert: Sie hätten das Potenzial, die Ordnung nachhaltig zu gefährden.1454 In einer ausführlichen Weisung an seine in Frankreich befindlichen Vertreter betonte der Kaiser, dass seine Interessen in Moskau gewahrt seien, da der Oberste Geheime Rat das Bündnis zwischen beiden Höfen bestätigt habe. Seines Wissens hätten die russischen Truppen bereits einen Marschbefehl erhalten.1455 Dies war seit dem Tod Zar Peters II. die erste und letzte Erwähnung der Moskauer Ereignisse in den Weisungen an Stephan Kinsky und Fonseca in Paris. Die Gründe hierfür liegen wahrscheinlich darin, dass sowohl der russische als auch der preußische Gesandte in Paris das kaiserliche Bündnis mit Russland bestätigt hatten.1456 Auch der preußische König bewertete die Lage in Russland lediglich nach außenpolitischen Gesichtspunkten. Berlin betonte das entschlossene Festhalten Preußens an der Allianz mit dem Kaiser und Russland, was durch die ruhig ablaufenden Ereignisse in Moskau begünstigt werde. Friedrich Wilhelm I. erhoffte sich von Mardefeld erneut Informationen über die neue Regierungsform Russlands, sobald diese gedruckt vorlägen. Auch über die Vorgänge um Jagužinskij erwartete der preußische König weitere Berichte, ohne darauf näher einzugehen.1457 Diese Beurteilung und Einschätzung über die angeblich ruhige Lage in Russland mag vor dem Hintergrund der Ereignisse verwundern. Anscheinend bezog Friedrich Wilhelm I. dies allein auf die Wahl der Monarchin und die umgehende Bündnisverlängerung. Den Ereignissen um Jagužinskij scheint er kein großes Störpotenzial zugemessen zu haben, da sie keine weitere Erwähnung fanden, obwohl der preußische König Bezug auf den Bericht Mardefelds vom 16. Februar nahm. Demnach sei die Zarin bei Ankunft der königlichen Weisung vermutlich bereits in Moskau angekommen und werde die Auseinandersetzungen um die Re1453 Vgl. ebd., fol. 160r (chiffriert). 1454 Vgl. ebd., fol. 160v (chiffriert). 1455 Vgl. Kaiser Karl VI. an Stephan Kinsky / Fonseca, Wien, 29.03.1730, HHStA Wien, Frankreich, Karton 38, Konvolut 3, ohne Foliierung. 1456 Vgl. Kaiser Karl VI. an Stephan Kinsky / Fonseca, Wien, 18.04.1730, HHStA Wien, Frankreich, Karton 38, Konvolut 4, ohne Foliierung. 1457 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 07.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 95r/v.
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gierungsform beigelegt haben, sodass Russland auch weiterhin ein starker und zuverlässiger Bündnispartner bleiben werde. Dass der Oberste Geheime Rat den Befehl zur Bereitstellung der 30.000 Soldaten bereits erlassen habe, nahm der König mit Wohlwollen auf.1458 Eine angestrebte Einigung des dänischen Königs mit dem russischen Hof, die auch den Kaiser, Preußen und den Herzog von Holstein zufriedenstellen würde, obwohl Dänemark Schleswig zugesichert bekäme, bezweifelte der König hingegen. Dennoch solle Mardefeld aufmerksam mögliche Verhandlungen am russischen Hof beobachten.1459 Aus der Relation Mardefelds sei ersichtlich, dass die Errichtung der neuen Regierungsform in Ruhe und mit allgemeiner Zufriedenheit vor sich gehe. Wegen der Bedeutung Russlands in den nordeuropäischen Angelegenheiten und als preußischer Bündnispartner sei Friedrich Wilhelm I. an einem starken Russland interessiert. Er wolle außerdem mehr über die von Ostermann und anderen Personen ausgearbeiteten Konditionen sowie über die neue Regierungsform erfahren. Mardefeld solle diejenigen Personen gewinnen, die die Gnade der Zarin erhielten und die außenpolitischen Angelegenheiten leiteten. Zudem interessierte den preußischen König, wie sich Russland gegenüber dem Kaiser, Polen, Spanien, Dänemark und Holstein und in mecklenburgischen und livländischen Angelegenheiten verhalten werde.1460 Dieses Informationsbedürfnis Friedrich Wilhelms I. zeigt die bündnispolitische Relevanz der innenpolitischen Vorgänge in Russland für die Außenpolitik Preußens. Der französische Hof beurteilte die Lage in Moskau anhand der Berichte seines Vertreters als instabiler. Der Prozess gegen Jagužinskij könnte ein Signal größerer Veränderungen sein. Versailles sah in den politischen Bewegungen den Wunsch der alten russischen Geschlechter, ein Regierungszentrum zu etablieren, das unabhängig von der Zarin sei. Daraus könnten nur vorteilhafte Entwicklungen für Frankreich entstehen, die Versailles mit großer Freude erwarte.1461 Demnach sah Frankreich gerade in der veränderten Regierungsform eine Chance, dass Russland sich mehr mit sich selbst als mit europäischen Konflikten beschäftigte. Dies würde den Kaiser bündnispolitisch schwächen. Das sich in Versailles verbreitende Gerücht, Wratislaw habe neben der Bestätigung der Bündnisse auch bereits die Absendung der Soldaten formell zugesichert bekommen, sah Chauvelin entkräftet. Aufgrund der Berichte Magnans und seiner eigenen Vermutung könne er in der derzeitigen Lage nicht von einer militärischen Unterstützung des Kaisers durch Russland ausgehen. Chauvelin lasse Magnan freie Hand, wie er gemäß seiner Weisung mit de Liria verstärkt in Kontakt trete. Magnan dürfe de Liria nicht widersprechen, denn dieser habe besseren Zugang zum russischen Hofstaat und könne diesem die Anliegen der Alliierten von Sevilla besser vermitteln.1462 Hieraus wird die beschränkte Handlungsfähigkeit des französischen diplomatischen Akteurs deutlich. Damit offenbarte der Versailler Hof selbst, 1458 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 14.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 103r/v. 1459 Vgl. ebd., fol. 104r/v. 1460 Vgl. ebd., fol. 112r/113r. 1461 Vgl. Chauvelin an Magnan, Versailles, 26.03.1730, A.A.E. Paris, Russie 23, fol. 73r. 1462 Vgl. ebd.
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dass der französische Repräsentant von der bündnispolitisch motivierten Weitergabe von Informationen abhängig und de Liria der entscheidende Vertreter der Alliierten von Sevilla am Moskauer Hof war. Obwohl der englische Hof die geringe Stellung seiner Repräsentanten in Moskau nicht explizit betonte, ist dies wahrscheinlich abermals der Grund, warum dieser Hof keine Weisung an seine diplomatischen Vertreter versandte. Aber auch die Weisung aus Dresden ist überaus knapp. Obwohl der sächsische Hof die Unterstützung des kaiserlichen Gesandten Wratislaw in Moskau durch Le Fort ausdrücklich befürwortete, solle dies heimlich geschehen, um das gute Verhältnis zu de Liria nicht zu gefährden.1463 Somit war selbst für den hochrangigen Gesandten Le Fort die Beziehung zu de Liria bedeutend. Auch Dresden ging nicht auf die Regierungsform in Russland ein, sondern erachtete es als notwendig, einflussreiche Personen für die sächsischen Interessen zu gewinnen. Im Gegensatz zu den nicht vorhandenen oder kurzen Weisungen Londons und Dresdens stehen die Beurteilungen des holsteinischen Hofs, der aufgrund der Ereignisse und der möglichen Auswirkungen ausgesprochen beunruhigt war. Die Ausgestaltung der neuen Regierungsform in Russland sei noch überaus unklar, ebenso ihre Auswirkungen auf die europäischen Bündniskonstellationen.1464 Überaus besorgt zeigte sich Herzog Karl Friedrich in seiner Weisung an Tessin und Bonde, dass ausgerechnet Sumarokov als Bote Jagužinskijs gedient habe. Die Gesandten müssten unbedingt widerlegen, dass Sumarokov noch in holsteinischen Diensten stünde. Als Begründung diente, dass er sich nach seiner Rückkehr nach Russland weder bei den holsteinischen Gesandten gemeldet habe, noch jemals wieder nach Holstein zurückgekehrt sei. Sumarokov habe auch weder seine Schulden bezahlt noch auf Zahlungsaufforderungen Holsteins reagiert. Nichtsdestotrotz hoffe der Herzog darauf, dass der Titel eines holsteinischen Kammerjunkers in einer öffentlichen Urteilsverkündung nicht erscheine. Dies sollten die holsteinischen Gesandten heimlich verhindern; falls es unvermeidbar sei, sollten sie schriftlichen Protest einlegen.1465 Der Kieler Hof durfte demnach nicht in Verbindung mit der Verschwörung Jagužinskijs gebracht werden, um außenpolitischen Schaden für Holstein zu vermeiden. Auch der Hofkanzler Stryk verlangte weitere detaillierte Informationen über Jagužinskij. Er problematisierte, dass aus Moskau derzeit so viele unterschiedliche Nachrichten in Kiel einliefen, dass deren Wahrheitsgehalt schwer zu beurteilen sei. Da die Veränderungen am russischen Hof die Angelegenheiten in Kiel und an anderen Höfen aber beeinflussten, seien direkte Informationen aus Moskau besonders wichtig, um die außenpolitische Lage valide einschätzen zu können.1466 Wären die Gründe für Jagužinskijs Verhaftung noch nicht bekannt 1463 Vgl. König August II. an Le Fort, Dresden, 16.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 68r. 1464 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1465 Vgl. Herzog Karl Friedrich an Bonde/Tessin, Kiel, 13.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. 1466 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 13.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung.
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gewesen, so hätte man geglaubt, dass er sich für eine Thronfolge der Prinzessin Elisabeth eingesetzt hätte.1467 Der Herzog wies seine Gesandten an, Elisabeth für die holsteinischen Interessen zu gewinnen. Zudem solle Tessin die Nachrichten aus Wien beurteilen, ob die Generalität Anna tatsächlich gewählt habe, da die zweite Ehe Peters I., die noch zu Lebzeiten seiner ersten Ehefrau geschlossen worden sei, als unrechtmäßig gelte. Als Grund dafür wurde das Sakrament der Ehe angeführt, weswegen die erste Ehe des Zaren nicht hätte aufgelöst werden dürfen. Tessin werde diesen Sachverhalt zweifellos aufklären können. Zudem gab sich der Kieler Hof hoffnungsvoll, Ostermann sei bei Ankunft dieser Weisung wieder genesen.1468 Die Krankheit Ostermanns und den Stillstand der Verhandlungen bewertete der Kieler Hof als seinen Interessen abträglich.1469 Ob und wann in Russland die neue Regierung gebildet werden könne, sei offen. Die wohlwollende Äußerung des Feldmarschalls Golicyn gegenüber Karl Peter Ulrich erachtete der Hofkanzler als positiv. Ob die in der Zeitung Altonaischer Mercurius gedruckte Nachricht, dass der Zarin auferlegt werde, wieder zu heiraten, glaubwürdig sei, könne Tessin besser beurteilen. Dort sei sogar zu lesen gewesen, dass die Zarin den ehemaligen Favoriten Ivan Dolgorukij heiraten und ihn nach dem Willen des verstorbenen Zaren zum Großadmiral Moskaus ernennen solle.1470 Diese Nachrichten waren rein spekulativ, zeigen aber, dass das Informationsbedürfnis des Kieler Hofs über die Lage in Moskau sehr groß war. Der Kieler Hof war um möglichen Einfluss auf den Moskauer Hof bemüht und versuchte, wenigstens einen drohenden Machtverlust dort zu verhindern. In Kiel seien zudem Nachrichten aus Hamburg eingetroffen, die in Schweden im Umlauf seien. Demnach wäre die Regierungsform auch unter Anteilnahme Geistlicher im Obersten Geheimen Rat ausgehandelt worden. Den Mitteilungen zufolge dürfe die Zarin weder heiraten noch Krieg erklären, weder Bündnisse eingehen noch Truppen kommandieren. Die Ehre des Adels und dessen Güter, Leben und Ämter dürfe die Zarin nur in einem ordentlichen Gerichtsverfahren aberkennen. Aus jeder Provinz kämen drei Deputierte des Adels, die für drei Jahre gewählt wären. Dieses Parlament solle nahezu so mächtig sein wie das englische. Auch über öffentliche Mittel solle nur dieses Parlament verfügen können. Dies habe Tessin bisher in keiner Relation berichtet, weswegen der Hofkanzler sich über den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht erkundigte.1471 Diese Nachrichten scheinen auf die Berichterstattung de Lirias zurückzugehen, wobei die Weiterleitung der Nachrichten offenbar deren Inhalt veränderte. Diese Berichterstattung legt zudem die Interaktion zwischen Gesandtenberichten und abgedruckten Nachrichten in Zeitungen abermals offen. Nachdem Tessins Bericht über die machteinschränkenden Konditionen in Kiel eingetroffen war, sah der Kieler Hof die aus Schweden als Gerüchte vermeldeten Nachrichten der Machteinschränkung der Zarin als 1467 Vgl. ebd., ohne Foliierung (händisch dechiffriert). Da die Chiffrierung an dieser Stelle nicht dechiffriert war, wurde sie durch den Verfasser mithilfe eines überlieferten Chiffrenschlüssels händisch dechiffriert. 1468 Vgl. ebd., ohne Foliierung. 1469 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1470 Vgl. ebd. Da die Chiffrierung an dieser Stelle nicht dechiffriert war, wurde sie durch den Verfasser mithilfe eines überlieferten Chiffrenschlüssels händisch dechiffriert. 1471 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 20.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung.
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glaubhaft an.1472 Tessin vermeldete chiffriert, dass der schwedische Hof sich erfreut über die Machtbeschränkung geäußert habe und sich daraus Vorteile erhoffe.1473 Die Hauptsorge Kiels war, dass die Auszahlung der Subsidien in Höhe von 50.000 Rubel und zusätzlicher Legatengelder am herannahenden Johannistag nicht erfolgen werde. Daher erhielt Tessin die Anweisung zu ermitteln, über welchen Reichtum die Zarin persönlich verfüge und welches Vermögen der Krone gehöre, um mögliche Zahlungen aus dem Privatvermögen der Zarin nach Kiel absichern zu können.1474 In Unruhe versetzte den Kieler Hof, dass der ehemalige holsteinische Kammerjunker Sumarokov in Novgorod mit Schlägen bestraft worden sei. Ebenso kursierte das Gerücht in Kiel, dass Jagužinskij sehr viele Unterstützer hätte, die die Souveränität der Zarin erhalten wollten.1475 Die Brisanz dieser Nachricht machte es notwendig, sie chiffriert zu übermitteln. Der Kieler Hof erhoffte sich die Klärung des einen oder anderen Sachverhalts, da über die Situation in Moskau täglich unterschiedlich lautende Meldungen einträfen.1476 Das Anliegen des Kieler Hofs war es, die eingegangenen, sich teilweise widersprechenden Nachrichten aus Russland auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu prüfen. Gerüchte und Spekulationen gehörten demnach zum Alltag der Nachrichtenbeschaffung aus Russland, ebenso wie die Weitergabe von Informationen innerhalb der diplomatischen Netzwerke.
Die Kürzung der Bezüge des holsteinischen Gesandten Kettenburg in Wien als Auswirkung des russischen Thronwechsels Auch die Korrespondenzen zwischen dem holsteinischen Gesandten Kettenburg und dem Kieler Hof thematisierten die Lage in Russland – und im Besonderen die Auswirkungen der Tatsache, dass ein ehemaliger Kammerjunker der verstorbenen Herzogin Anna Petrovna der Bote Jagužinskijs war. Der holsteinische Hof nahm an, dass sich die Nachricht über die Verhaftung Jagužinskijs in Wien bereits verbreitet habe. Dass der Bote Jagužinskijs Sumarokov sei, sei ein großes Unglück. Der Kieler Hof betonte darum ausdrücklich, dass der ehemalige Kammerjunker mit dem Leichnam der Herzogin nach Russland zurückgekehrt sei.1477 Anna Petrovna war mit zwanzig Jahren am 4. Mai 1728 gestorben und wurde per Schiff nach Russland befördert, um sie nach einer Trauerprozession in der Peter- und Pauls-Festung in St. Petersburg am 12. November 1728 beizusetzen.1478 Die Sorge des holsteinischen Hofs bestand 1472 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 23.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1473 Vgl. ebd. 1474 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 27.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). Da die Chiffrierung an dieser Stelle nicht dechiffriert war, wurde sie durch den Verfasser mithilfe eines überlieferten Chiffrenschlüssels händisch dechiffriert. 1475 Vgl. ebd. Da die Chiffrierung an dieser Stelle nicht dechiffriert war, wurde sie durch den Verfasser mithilfe eines überlieferten Chiffrenschlüssels händisch dechiffriert. 1476 Vgl. ebd., ohne Foliierung. 1477 Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 13.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 1478 Vgl. Dolgova, Osekina, Die Ehe der Zarentochter Anna Petrovna und des Herzogs Karl Friedrich von Holstein-Gottorf, S. 31. Hughes, The Romanovs, S. 85.
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darin, dass in Russland vermutet werden könnte, das Herzogtum Holstein sei in den Skandal um Jagužinskij involviert. Der Kieler Hof wiederholte die bereits an Tessin vermeldeten Gründe, warum Karl Friedrich Sumarokov bereits im Dezember 1729 aus holsteinischen Diensten entlassen worden sei.1479 Kettenburg erfuhr zudem, dass sein in Paris weilender Halbbruder Bassewitz nicht abberufen werde, da der Kieler Hof durch den innenpolitischen Umbruch in Russland auf Veränderungen der gesamteuropäischen Lage zu seinen Gunsten hoffte.1480 Kettenburg wiederum bestätigte am 16. März 1730 dem holsteinischen Hof, aus Briefen direkt aus Moskau erfahren zu haben, dass der Oberste Geheime Rat in Abwesenheit der Zarin den Befehl erteilt habe, die 30.000 Soldaten zur Unterstützung des Kaisers marschbereit zu machen. Zudem solle die Zarin laut Vermutungen Kettenburgs bereits am 25. Februar in Moskau angekommen sein. Durch den Hofkanzler Sinzendorf habe Kettenburg erfahren, dass die Zarin die ihr vorgelegte Regierungsform unterschrieben habe, auch wenn deren Details immer noch unklar seien.1481 Während die Sparmaßnahmen des holsteinischen Hofs die Gesandten in Moskau verschonten, trafen sie Kettenburg. Eine Verminderung seiner Bezüge auf 4.000 Taler, wie zu Beginn seiner Tätigkeit in Wien, sei wegen der angespannten finanziellen Lage unumgänglich. Da auch langjährige Bedienstete von Kürzungen betroffen seien, sei eine Besoldung des Sohns Kettenburgs, der holsteinischer Legationsrat und Kammerjunker war, unmöglich.1482 Dass Söhne beziehungsweise Neffen diplomatische Fähigkeiten von ihren Vätern oder Onkeln erlernten, war keineswegs die Ausnahme. Dies traf sowohl auf den preußischen Gesandten Mardefeld am Moskauer Hof zu als auch auf diverse russische Diplomaten dieser Zeit.1483 Auch Rondeaus Neffe war 1739 Mitglied der englischen Gesandtschaft am russischen Hof.1484 Dieser Befund trifft ebenso auf Diplomaten in kursächsischen Diensten zu.1485 Auch Vasilij Lukič Dolgorukij begann seine diplomatischen Tätigkeiten als Neffe zweier Onkel am französischen und am polnischen Hof.1486 Ausgesprochen aufschlussreich hinsichtlich der Rolle von Frauen ist, dass sein Sohn Philipp Kai explizit erwähnt wird, jedoch seine Tochter Friederica Elisabeth, die als Sekretärin bei ihm arbeitete,1487 keine Erwähnung fand. Hofkanzler Stryk rechtfertigte in einem weiteren Schreiben die Notwendigkeit der Mittelkürzungen, die durch das Ausbleiben der Subsidiengelder aus Moskau begründet seien. Diese seien testamentarisch durch die verstorbene Zarin Katharina I. verfügt worden. Daraus habe der holsteinische Hof erst 50.000 Rubel erhalten, wohingegen noch jährlich weitere 100.000 1479 Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 13.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 1480 Vgl. ebd. 1481 Vgl. Kettenburg an Herzog Karl Friedrich, Wien, 15.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 1482 Vgl. Herzog Karl Friedrich an Kettenburg, Kiel, 16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 1483 Vgl. Altbauer, The Diplomats of Peter the Great, S. 11. 1484 Vgl. Romaniello, Humoral Bodies in Cold Climates, S. 31. 1485 Vgl. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 152. 1486 Vgl. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 47. 1487 Vgl. Möller, Historische und urkundliche Nachrichten von dem Leben und Staatsverrichtungen des ehemaligen Holsteinischen geheimen Raths Hans Friedrich von der Kettenburg, zur Erläuterung der Holsteinischen Geschichte seiner Zeit, S. 31. Krohne, Allgemeines Teutsches Adels-Lexicon, S. 176 f.
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Rubel zu zahlen gewesen wären, obwohl Bonde die ins Stocken geratenen Zahlungen bereits eingefordert habe. Bei der Abholung der Leiche Anna Petrovnas habe Peter II. noch große Hoffnungen auf diese Gelder gemacht.1488 Der Zar hatte dem holsteinischen Herzog die jährliche Zahlung bis zur Lösung der Gottorfer Frage formal zugesichert.1489
Truppengewährung oder Proteste? – Zeitungsmeldungen und Gerüchte in Wien Der sächsisch-polnische Gesandte in Wien, Wackerbarth-Salmour, vermeldete am 11. März, dass am Abend drei Tage zuvor ein Kurier aus Moskau in Wien angekommen sei, der erklärt habe, die Zarin setze im Einvernehmen mit dem Senat die mit dem Kaiser geschlossenen Bündnisse fort. Katharina von Mecklenburg hätte aber dagegen protestiert, dass der Senat ihrer Schwester und nicht ihr die Zarenkrone verliehen habe. Die Proteste der Herzogin von Mecklenburg würden aber mangels Unterstützung keine Aussicht auf Erfolg haben.1490 Diese Ausführungen zeigen – wie im Fall des Kieler Hofs –, dass Gerüchte in Europa eine nicht zu unterschätzende Wirkung entfalten konnten. Tatsächlich gab es keinen Protest der Herzogin von Mecklenburg in Russland, obwohl Wackerbarth-Salmour dies zu wissen glaubte. Für den Wiener Hof wäre aber diese Nachfolge aufgrund des Konflikts mit Herzog Karl Leopold äußerst nachteilig gewesen. Zum anderen manifestiert sich die Unkenntnis der russischen Gegebenheiten darin, dass die Zarin die Bündnisse nicht in Übereinstimmung mit dem Senat hätte fortsetzen können, sondern mit dem Obersten Geheimen Rat, in dessen Kompetenz eine solche Zustimmung gelegen hätte. Zudem verbreitete sich nach Ankunft eines Kuriers des preußischen Gesandten Seckendorff in Wien das Gerücht, dass Friedrich Wilhelm I. dem Kaiser 10.000 Soldaten zur Verfügung stelle und bei Bedarf einen Kredit gewähre, um einen langwierigen und umfangreiche Krieg zu ermöglichen.1491 Vergleichsdarstellungen Waldegraves zeigen, dass es ihm trotz genauer Beobachtungen nicht gelang, detaillierte Informationen über die Ankunft dieses Kuriers zu erhalten.1492 Nur wenige Tage später schien aus Sicht des sächsischen Gesandten das Pendel zugunsten einer Einigung mit Spanien ohne kriegerische Auseinandersetzungen auszuschlagen. Anlass dafür war die Ankunft eines lang erwarteten Kuriers aus Spanien mit Berichten der kaiserlichen Gesandten Königsegg in Spanien und mit denjenigen Stephan Kinskys aus Frankreich: Es seien jedoch keine Einzelheiten bekannt. Obwohl der Kriegsrat und das Kriegskommissariat Befehle an Truppen zum Marsch nach Italien versandten, verhinderten schlechte Straßenverhältnisse deren Aufbruch.1493 1488 Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 20.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 1489 Vgl. Klose, Degn, Die Herzogtümer im Gesamtstaat 1721–1830, S. 69. 1490 Vgl. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 11.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 92r/v. 1491 Vgl. ebd., fol. 92v–93r. 1492 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 11.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 7r/8v. 1493 Vgl. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 15.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 81v/82r.
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Prinz Eugen informierte Wackerbarth-Salmour über die Konflikte mit Frankeich und darüber, dass der Kaiser seine Truppenverlegung in Richtung Italien fortsetze. Zudem habe Wackerbarth-Salmour erfahren, dass der französische Sekretär am Wiener Hof Gerüchte nach Versailles vermeldete, wonach Kardinal Fleury trotz der im Vertrag von Sevilla eingegangenen Verpflichtungen auf eine friedliche Lösung setze sowie einen Krieg zwischen Spanien und dem Kaiser verhindern wolle. Chauvelin habe de Bussy daraufhin persönlich angewiesen, dem Wiener Hof zu vermitteln, dass diese Gerüchte jedweder Grundlage entbehrten. Nach Meldungen des kaiserlichen Gesandten in Spanien Königsegg sei ein Krieg wahrscheinlich. Nach dessen Abreise aus Spanien aufgrund von Differenzen wolle der kaiserliche Hof die Verhandlungen mit Spanien aber nicht abbrechen.1494 Die Spannungen zwischen dem französischen Vertreter de Bussy und dem Kaiser beziehungsweise Prinz Eugen gehen auch ausführlich aus der Darstellung des englischen Gesandten und des französischen Sekretärs hervor.1495 Das gemeinsame Vorgehen der diplomatischen Akteure der Allianz von Sevilla in Wien führte nach Darstellung Waldegraves immer wieder zu Konflikten.1496 Während der französische Sekretär in Wien keine Weisungen aus Paris erhielt,1497 informierte dieser seinen Hof ausführlich. De Bussy bezog sich am 11. März 1730 Russland betreffend auf folgende Meldung der kaiserlichen Hofzeitung Wienerischs Diarium desselben Tages und gab die folgende Zeitungsmeldung fast wörtlich in seiner Relation wieder: „Mit denen letzteren aus Moscau vom 13den Febr. eingeloffenen Briefen hat man nebst der Nachricht / daß die neue Czaarin die Ihro Majestät aufgetragene Regierungs-Form angenommen / zugleich die kräftigste Versicherung erhalten / wie Selbiger Hof mit Ihrer Kaiserl. Majestät in allem fest zu halten / und mit Deroselben durchaus de concerto zu gehen / ernstlich entschlossen wäre / zu solchem Ende auch von dem darinnigen hohen Rath die Befehle an die vermög vorseyender Bündniß Ihro Kaiserl. Majestät zu schicken kommende 30000. Mann Hülfs-Völker würklich ergangen / um sich allen Falls parat und Marsch-fertig zu halten.“1498
De Bussy zeigte sich verwundert, dass die Briefe de Lirias aus Moskau, die er von Eguiluz erhalten hatte, etwas Gegenteiliges bezüglich der Absendung der russischen Truppen nahelegten.1499 Am 15. März 1730 berichtete Waldegrave, dass überall in Wien bereits über Versicherungen gesprochen werde, die die neue Zarin dem Kaiser gegeben habe. Die Bestätigung 1494 Vgl. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 18.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 83r–85v. 1495 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 11.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 5r/6v (teilweise chiffriert). De Bussy an Chauvelin, Wien, 08.03.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 229r. 1496 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 15.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 9r–12v (teilweise chiffriert). 1497 Vgl. Chauvelin an de Bussy, Versailles, 21.03.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 227r. 1498 Wienerisches Diarium, 11. März 1730, S. 1–10, hier S. 7. 1499 Vgl. De Bussy an Chauvelin, Wien, 11.03.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 244r/v und 238r. Magnan an de Bussy, Moskau, 06.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 52r-53r.
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der Verpflichtungen Russlands seien auch in der kaisernahen Zeitung Wienerisches Diarium veröffentlicht worden. Auch Waldegrave hielt es für unmöglich, die Absendung der Soldaten im gegenwärtigen Zustand des russischen Hofs und vor Ankunft der Zarin in Moskau zu verkünden.1500 Er sah es nicht als berichtenswert an, dass die neue Zarin die ihr vorgetragene Regierungsform angenommen hatte. Dies kommentierte der englische Vertreter im Gegensatz zu seinem französischen Kollegen mit keiner Silbe. Wratislaws Bericht vom 13. Februar aus Moskau diente als Grundlage dieser Zeitungsmeldung. Daraus geht die Bestätigung der Absendung der Truppen hervor, aber auch, dass er bezüglich der zukünftigen Regierungsform noch nichts Genaues berichten konnte. Aus dieser Vergleichsdarstellung wird ersichtlich, dass die kaisertreue Zeitung alle Zweifel an einem möglichen Scheitern der Bündnishilfe zu zerstreuen suchte. Ebenso wie die Gegner des Kaisers mit allen Mitteln versuchten, diese als unmöglich zu charakterisieren. Dass Informationen aus diplomatischen Gesandtschaftsberichten in Zeitungen abgedruckt wurden, stellt keine Ausnahme dar.1501 Vor allem diplomatische Akteure mit geringem Rang und daher eingeschränktem Zugang zu höfischen Kreisen bedienten sich oftmals solcher Quellen.1502 Waldegrave mutmaßte nach Ankunft eines Kuriers aus Frankreich am 13. März, dass es einen Hoffnungsschimmer für eine friedliche Lösung gebe.1503 Die kaiserlichen Truppen würden trotz aller Schwierigkeiten rekrutiert. Obwohl Sinzendorf gegen den Krieg sei, könne davon nicht zurückgewichen werden. Prinz Eugen habe sich für den Krieg ausgesprochen.1504 Nachdem der Kurier aus Spanien in Wien angekommen war, erhielt Waldegrave durch Prinz Eugen die Mitteilung, dass die kaiserlichen Gesandten aus Spanien abberufen würden.1505
Warschau – Informationen auf Umwegen Auch die Beurteilungen und Beobachtungen durch den kaiserlichen Gesandten in Warschau waren außenpolitisch geprägt. Wilczek nahm wahr, dass die Anhänger König Augusts II., die sogenannten Royalisten, und die Vertreter einer starken Adelsrepublik, die sogenannten Republikaner, unterschiedliche Ziele verfolgten. Alle anwesenden Senatoren in Warschau befürworteten die ablehnende Haltung des Kaisers gegenüber dem Vertrag von Sevilla. Zu1500 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 15.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 12v/13r. 1501 Vgl. Fissahn, Faszination und Erschrecken, S. 137. Matzke, Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694–1763, S. 279 f. Recke weist auf die Wechselwirkung von Gesandtschaftsberichten in der Europäischen Fama hin, vor allem bei der Wiedergewinnung der Souveränität Annas, siehe Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 179. 1502 Vgl. Fissahn, Faszination und Erschrecken, S. 137. Zur Bedeutung des Wienerischen Diariums und zur Interaktion von Diplomatie und Zeitungswesen siehe Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 123– 125. 1503 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend (zweiter Brief ), Wien, 18.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 17r. 1504 Vgl. ebd., fol. 18r/v (chiffriert). 1505 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 15.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 13r/v.
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dem wollten die polnischen Senatoren von Wilczek wissen, ob der Kaiser aus Preußen oder Sachsen militärische Unterstützung erhalte. Da ihnen diese Frage zunehmend Sorgen bereite, seien die polnischen Senatoren über eine eingeschränkte Regierungsform in Russland erfreut. Die Allianz zwischen dem Kaiser und Russland könnten sie nicht befürworten.1506 Aufgrund der zunehmenden politischen und ökonomischen Schwächung Polen-Litauens entwickelten sich im frühen 18. Jahrhundert Reformideen, um das Gemeinwesen zu stärken. Dabei gab es unterschiedliche Reformansätze. Die sogenannten Royalisten strebten tendenziell eine Stärkung der königlichen Macht an, während die sogenannten Republikaner die Stärkung des Adels anstrebten. Beide Strömungen innerhalb des polnisch-litauischen Adels zielten auf die Stärkung des Staates durch Reformen ab.1507 Die oben dargelegten Äußerungen Wilczeks belegen, dass die bedeutendsten polnischen Adligen eine Gefahr darin sahen, dass ihre Nachbarstaaten sich gegen die polnischen Freiheiten wenden könnten. Die außenpolitische und militärische Schwächung des benachbarten Russlands war ihnen daher willkommen. Von Danziger Kaufleuten wollten die polnischen Senatoren erfahren haben, dass sich viele unzufriedene Adlige in Moskau zu Wort gemeldet hätten. Davon wisse der russische Gesandte in Warschau aber nichts zu berichten. Wilczek schloss daraus, dass die polnische Nation um ihre eigene Freiheit durch ein mögliches Bündnis zwischen den Nachbarstaaten fürchtete. Die Senatoren betonten zudem bei allen Begebenheiten ihre positive Haltung zu dem ehemaligen polnischen Gegenkönig Stanislaus Leszczyński. Diese habe seit der Ankunft des französischen Botschafters in Warschau spürbar zugenommen. Der französische Gesandte habe bei seiner Abreise noch nicht einmal seinen Sekretär in Polen zurückgelassen, aber verlauten lassen, dass ein Resident folgen werde, der dauerhaft die französischen Interessen in Warschau vertrete.1508 Die französische Politik hatte sich seit der Heirat König Ludwigs XV. mit Maria Leszczyńska mit einer antihabsburgischen Stoßrichtung für die Thronfolge ihres Vaters in Polen eingesetzt.1509 Vor allem die französische Diplomatie hatte seit 1725 innerhalb Polens und im übrigen Europa mitunter mit großem Erfolg versucht, Unterstützer für eine erneute Kandidatur Stanislaus Leszczyńskis um den polnischen Thron zu gewinnen.1510 Zwei Tage später berichtete Wilczek an den Kaiser, dass abermals keine Briefe aus Moskau bei ihm angekommen seien. Auch der russische Gesandte in Warschau hatte keinen Kurier erhalten, woraufhin er sich zunehmend besorgt über das anhaltende Stillschweigen zeigte. 1506 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Warschau, 15.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 97r–99r. 1507 Vgl. Kriegseisen, Zwischen sächsischem Absolutismus und goldener Freiheit?, S. 477–489. 1508 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Warschau, 15.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 99r/v. 1509 Vgl. Markiewicz, The Functioning of the Monarchy during the Reigns of the Electors of Saxony, 1697–1763, S. 184. 1510 Vgl. Malettke, Die Bourbonen, S. 42. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 61. Heidi Hein-Kircher; Michael G. Müller: Polen-Litauen in der europäischen Mächtepolitik, von der Endphase des Großen Nordischen Krieges bis zur letzten Königswahl (1717–1763), in: Polen in der Europäischen Geschichte, hg. von Hans-Jürgen Bömelburg, Stuttgart 2011, S. 443–463, hier S. 447 f.
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Gerüchte unbekannten Ursprungs verbreiteten sich in Warschau, wonach Moskau voller Adliger sei und möglicherweise ein Eingreifen der Preobraženskij- oder der Semёnovskij-Garde oder von anderen Adligen bevorstünde. Dies sei laut Gerüchten auch der Grund, weswegen von dort keine Briefe abgesandt werden könnten. Auch wenn diese Nachrichten gegenstandlos seien, fänden sie Verbreitung. Zur besseren Einschätzung der unklaren Lage habe der kaiserliche Gesandte versucht, vom preußischen Generalpostmeister Informationen zu erhalten. Dieser habe schließlich als Erster über den Tod Peters II. und die Absendung der Deputation nach Mitau Bescheid gewusst. Er habe aufgrund einer Krankheit nicht zu Wilczek kommen können, ihm aber eine auf Französisch verfasste Nachricht gesandt.1511 Demnach komme die Herzogin von Kurland bald in Moskau an, und es werde derzeit alles für ihren öffentlichen Einzug vorbereitet. Da Jagužinskij gegen eine Beschränkung der Macht der Zarin sei, habe er einen Kurier abgesandt. Der Senat hätte die Macht der Zarin eingeschränkt. All dies bedürfe der Bestätigung und sei den letzten beiden Briefsendungen aus Moskau entnommen.1512 Demnach war auch die Informationslage in Warschau unklar. Er ordnete jedoch richtigerweise mögliche Ausschreitungen in Moskau als Gerüchte ein. Da eine unklare Lage in Moskau Russland als Bündnispartner geschwächt hätte und somit auch indirekt die kaiserliche Machtstellung in Europa, bemühte sich Wilczek um verlässliche Informationen. Während Wilczek bisher keine weiteren Nachrichten von Wratislaw aus Moskau erhalten hatte, schrieb dessen Sekretär Caramé an den kaiserlichen Residenten in Warschau.1513 Diese Mitteilung legte Wilczek als Abschrift bei.1514 Caramé schrieb nach Warschau, dass die „Regentin“ Anna kurz vor Moskau angekommen sei und bald ihren Einzug halten werde. Dass bis dahin eine Einigung bezüglich der Regierungsform erfolgen würde, zweifelte Caramé stark an, da die Generalität mit den Vorschlägen des Obersten Geheimen Rates nicht übereinstimme. Er leitete daraus ab, dass es um den immer noch verhafteten Jagužinskij besser stehen könnte als anfänglich befürchtet. Der Grund seiner Verhaftung sei, dass er der Zarin seine Dienste angeboten hätte, die sich gegen die Pläne des Rates wenden würde. Die Generalität bestünde darauf, dass im Rat statt acht zukünftig 21 Personen sitzen sollten. Wratislaw seien die versprochenen Truppen und die Fortführung der Allianz bestätigt worden, sodass es zu keinen Veränderungen komme, so das Urteil Caramés. Die russischen Regimenter hätten bereits den Befehl erhalten, sich an der Grenze zu Livland zu formieren.1515 Aus diesem Schreiben Caramés ersehe Wilczek, dass die Informationen, die er durch den preußischen 1511 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Warschau, 17.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 102r/v. 1512 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen (Beilage), Warschau, 17.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, 103r. 1513 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Warschau, 22.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 105r. 1514 Vgl. Caramé an Kinner, Moskau, 23.02.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 106r–108r. Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Warschau, 22.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 105r/v. 1515 Vgl. Caramé an Kinner, Moskau, 23.02.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 106r/107v.
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Generalpostmeister bezüglich Jagužinskij erhalten habe, der Wahrheit entsprächen. Zudem glaubte Wilczek, dass der Einzug der Zarin erst erfolge, nachdem die Regierungsform festgelegt worden sei.1516 Der kaiserliche Gesandte hatte kurz vor dem Versand seines Berichte vom russischen Gesandten in Warschau erfahren, dass die Zarin am 26. Februar in Moskau eingezogen sei. In Moskau sei alles still. Diese Informationen waren dem russischen Gesandten von seinem Hof mitgeteilt worden1517
Die Stabilisierung der Stellung des Kaisers in London und Berlin Der Kaiser ließ seinem Gesandten in London, Philipp Kinsky, als Beilage seiner Weisung einen Bericht Wratislaws zukommen. Da diese Relation Wratislaws nicht archiviert wurde, kann deren Inhalt nur aus der dazugehörigen kaiserlichen Weisung ermittelt werden. Das Wichtigste für den Kaiser war demnach, dass Wratislaw bereits die Versicherung der russischen Militärunterstützung erhalten habe und an die Truppen bereits entsprechende Befehle ergangen seien. Darüber zeigte sich der Kaiser sehr erfreut.1518 Diese Information über die russischen Vorgänge waren von enormer politischer Bedeutung – und daher chiffriert. Sie zeigen, dass der Kaiser der russischen Militärunterstützung absolute Priorität beimaß. Innenpolitische Veränderungen oder das Schicksal Jagužinskijs fanden gegenüber Kinsky keine Erwähnung. Demnach spielten die Vorgänge in Russland nur insoweit eine Rolle, wie sie die militärische Lage Europas beeinflussen konnten. Ausführliche Beachtung sowohl in den Weisungen des Kaisers als auch in den Berichten Kinskys fanden jedoch die Spannungen um die außenpolitische Positionierung des englischen Hofs. Die kaiserlichen Gesandten beklagten zwar beständig, dass es an den Höfen in Dresden und Berlin pro-französische und pro-englische Fraktionen gebe, der in London weilende kaiserliche Gesandte Philipp Kinsky setzte aber dort ebenso auf die pro-kaiserliche Fraktion. Philipp Kinsky könne sich nichts Vorteilhafteres wünschen, als dass die Affäre um Dünkirchen die Verwerfungen zwischen den Whigs und den Tories so verschärfe, dass es zu einer Umbildung des englischen Ministeriums komme. Damit verbunden war die Hoffnung, dass sich England aus dem Bündnis mit Frankreich zurückziehe und wieder ein Bündnis mit dem Kaiser eingehe. Kinsky bezog sich dabei auf nicht namentlich genannte pro-kaiserliche Personen am Londoner Hof, die sich mit ihm über ein Bündnis mit dem Kaiser beratschlagten. Kinsky warnte, dass der pro-französische englische Gesandte Waldegrave in Wien nichts über diese Unterhaltungen erfahren dürfe.1519 Dass der Konflikt zwischen Whigs und Tories um Instandsetzungsarbeiten im französischen Hafen von Dünkirchen, die gegen englisch-französische Absprachen verstießen, sich zuspitzte, wird aus 1516 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Warschau, 22.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 105r. 1517 Vgl. ebd., fol. 108r. 1518 Vgl. Kaiser Karl VI. an Philipp Kinsky, Wien, 16.03.1730, HHStA Wien, England, Karton 68, Konvolut 1, fol. 5r. 1519 Vgl. Philipp Kinsky an Kaiser Karl VI., London, 02.03.1730, HHStA Wien, England, Karton 67, Konvolut 2, fol. 1r–5v.
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der Überlieferung der hochemotionalen Parlamentsdiskussion deutlich.1520 Da das englische Parlament außenpolitische Kontroversen debattierte, war es den Gesandten möglich, darüber zu schreiben und diese Vorgänge zu bewerten.1521 Die durch den Vertrag von Sevilla mit Frankreich geschlossene Allianz war im englischen Parlament ohnehin sehr umstritten, da ein traditionelles englisch-kaiserliches Bündnis viele Anhänger hatte und zudem ein Krieg gegen den Kaiser als den Wirtschaftsinteressen Englands abträglich empfunden wurde.1522 Kinsky versuchte, durch die pro-kaiserliche Partei am Londoner Hof eine Änderung der englischen Außenpolitik zu erreichen.1523 Er wisse durch Gerüchte, dass Walpole gegen einen Krieg sei und daher versuche, den Kaiser zu einem Beitritt zum Bündnis von Sevilla zu bewegen. Aus verlässlicher Quelle habe er erfahren, sogar Kardinal Fleury in Paris bemühe sich, Spanien zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts auf der italienischen Halbinsel zu bewegen.1524 Dieses bereits in Wien verbreitete Gerücht kursierte demnach auch in London. Der Kaiser nahm in seiner Weisung an Kinsky die von ihm dargestellte Lage in London wohlwollend zur Kenntnis. Da das derzeitige englische Ministerium von Frankreich beeinflusst sei und gegen die kaiserlichen Interessen agiere, solle Kinsky die vorhandene Unzufriedenheit weiter schüren, so der chiffrierte Wunsch des Kaisers. Aus seinen Instruktionen sei Kinsky bereits bekannt, dass er mithilfe der pro-kaiserlich eingestellten Personen das ehemalige kaiserlich-englische Bündnis wiederherstellen solle. Das gegenüber dem österreichischen Erzhaus immer stärker werdende Haus Bourbon gefährde das für den englischen Handel unerlässliche Gleichgewicht Europas.1525 Der Kaiser müsse sich gegen die spanische Königin Elisabeth Farnese zur Wehr setzten, die für ihre Nachkommen entgegen der geschlossenen Verträge versuche, sich die kaiserlichen Erbländer auf der italienischen Halbinsel anzueignen.1526 Gegenüber England und Holland zeigte sich der Kaiser hingegen kompromissbereiter. In einem möglichen Bündnis müssten jedoch die holsteinischen Interessen Berücksichtigung finden.1527 Der Kaiser hatte die Restitution Schleswigs in den Bündnisverträgen mit Russland 1726 festgeschrieben, während Frankreich und England Dänemark die Herrschaft über Schleswig garantierten.1528 1520 Vgl. Philipp Kinsky an Kaiser Karl VI., London, 16.03.1730, HHStA Wien, England, Karton 67, Konvolut 2, fol. 13r–21r. 1521 Vgl. Black, Parliament and Foreign Policy in the Eighteenth Century, S. 5 f. 1522 Vgl. Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, S. 170. Steuer, Englands Österreichpolitik in den Jahren 1730–1735 nach den Berichten des englischen Gesandten am Wiener Hof, Thomas Robinson, S. 15. 1523 Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 301 f. 1524 Vgl. Philipp Kinsky an Kaiser Karl VI., London, 16.03.1730, HHStA Wien, England, Karton 67, Konvolut 2, fol. 9r–11v (teilweise chiffriert). 1525 Vgl. Kaiser Karl VI. an Philipp Kinsky, Wien, 16.03.1730, HHStA Wien, England, Karton 68, Konvolut 1, fol. 6r–11r (chiffriert). 1526 Vgl. ebd., fol. 13r/v. 1527 Vgl. ebd., fol. 11r–17v (teilweise chiffriert). 1528 Vgl. Lodge, The Treaty of Seville (1729), S. 7.
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Nach den Nachrichten über eine mögliche Hinwendung Englands zum Kaiser wuchsen in Wien die Hoffnungen, die Allianz von Sevilla werde keinen Bestand haben. Diese Hoffnungen sollten sich vorerst nicht erfüllen, obwohl die Debatten im englischen Parlament in einer ungewöhnlich scharfen Form ausgetragen worden waren.1529 Zu dieser Zeit gestaltete das Parlament die Außen- und Bündnispolitik der englischen Krone schon maßgeblich.1530 Diese gegenüber dem Kaiser ausgedrückten Hoffnungen vermeldete Kinsky per Kurier auch umgehend an Seckendorff nach Berlin, der sie dem preußischen König weitergab.1531 Kinsky ergänzte gegenüber Seckendorff, dass die Absendung Hothams zu Auseinandersetzungen zwischen Walpole und Townshend geführt habe, die aufgrund der Unschlüssigkeit des preußischen Königs erfolgt sei, um durch eine preußisch-englische Heirat die englische Fraktion am preußischen Hof zu stärken. Es sei das Ziel des Londoner Hofs, die Allianz zwischen Preußen und dem Kaiser zu stören, da Preußen dann ein Bündnis mit England eingehen müsste.1532 Kinsky warnte davor, dass der Kaiser sich auf die Bündnistreue Friedrich Wilhelms I. verlasse, da dessen Ehefrau Sophie Dorothea, der Kronprinz und die gesamte königliche Familie sowie die Minister Borck und Knyphausen gegen den König arbeiteten.1533 Die Gesandten um den englischen Vertreter de Bourgay am preußischen Hof seien bestürzt über das anhaltend gute Vertrauensverhältnis zwischen Seckendorff und Friedrich Wilhelm I.1534 Seckendorff konfrontierte den preußischen König offen mit der Vermutung, seine Ehefrau sei für die Absendung des englischen Gesandten Hotham verantwortlich, und bat den König, dessen Instruktion durch den preußischen Gesandten in London in Erfahrung zu bringen. Friedrich Wilhelm I. sagte dies ebenso wie eine Bündnistreue gegenüber dem Kaiser in einem eigenhändigen Brief zu.1535 Solch ein eigenhändiges Schreiben galt als besonderer Vertrauensbeweis.1536 Der König habe Seckendorff persönlich versichert, wie auch Demrath bestätigt habe, dass dessen Ehefrau Sophie Dorothea für die Absendung Hothams verantwortlich sei. Seckendorff betonte ebenfalls, dass die englisch gesinnte Fraktion in Berlin durch die nahende Ankunft Hothams guter Hoffnung sei, es komme zu einer Erosion des preußisch-kaiserlichen Bündnis1529 Vgl. Black, Parliament and Foreign Policy in the Eighteenth Century, S. 54–61. 1530 Vgl. Kettenacker, Georg I., S. 196. 1531 Vgl. Philipp Kinsky an Kaiser Karl VI., London, 21.03.1730, HHStA Wien, England, Karton 67, Konvolut 2, fol. 31r/v. 1532 Vgl. Philipp Kinsky an Friedrich Heinrich von Seckendorff, London, 21.03.1730, HHStA Wien, England, Karton 67, Konvolut 2, fol. 32v–35r. 1533 Vgl. ebd., fol. 35r/v. Schönpflug, Die Heiraten der Hohenzollern, S. 173 f. 1534 Vgl. Demrath an Kaiser Karl VI., Berlin, 18.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 56r/57r. 1535 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Berlin, 11.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 48r/49v. 1536 Vgl. Steppan, Kaiser Karl VI. und sein Neffe, der Großfürst. Repräsentation, Interaktion und Kommunikation kaiserlicher Gesandter im Konflikt um die Thronfolge von Zar Peter II., S. 135. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 302.
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ses.1537 Gleichzeitig vermeldete Seckendorff beständig, dass der König dem kaiserlichen Bündnis treu bleibe und sich der englische Gesandte vergeblich um eine Annäherung an Friedrich Wilhelm I. bemühte.1538 Auch Demrath bestätige die kaisertreue Haltung des preußischen Königs. Unter anderem der preußische Minister Knyphausen sei der Ansicht, Friedrich Wilhelm I. solle eine vermittelnde Position einnehmen, um einen Krieg in Europa zu verhindern.1539 Die Angst vor einer preußischen Aussöhnung mit England blieb gegenstandslos. In dieser fragilen außenpolitischen Lage wurde aber bereits die Absendung des englischen Gesandten Hothams nach Berlin als Warnzeichen interpretiert.1540 Der preußische Minister Grumbkow gab Seckendorff vertraulich einen Bericht vom 4. März 1730 weiter und ließ fragen, ob er dem preußischen König einen Vorschlag weitergeben solle,1541 in dem es um eine mögliche Lösung der Schleswig’schen Frage mit der neuen Zarin ging.1542 Grumbkow war von der Bedeutung der kaiserlich-preußischen Allianz überzeugt und unterstützte Seckendorff durch Nachrichtenvermittlung, der ihm im Gegenzug Geld zukommen ließ.1543 In einer zweiten kurzen Relation Seckendorffs an Prinz Eugen bestätigte er unkommentiert den Empfang zweier Schreiben vom 28. Februar 1730 und vom 3. März 1730 per Kurier aus Moskau.1544 Daraus müsste sich – obwohl die Schreiben nicht überliefert sind – aus Vergleichsdarstellungen Wratislaws gleichen Datums ergeben, dass die russische Bündnishilfe erfolgen werde. Der nach Moskau abgesandte Kurier mit den Weisungen des Kaisers vom 28. Februar und 3. März passierte am 11. März 1730 Berlin. Seckendorff versicherte dem Kaiser, den Kurier noch am gleichen Tag nach Moskau weiterreisen zu lassen. Eine ausführliche Antwort könne aber erst erfolgen, nachdem er den Inhalt dem preußischen König und seinen Ministern zur Kenntnis gegeben habe.1545 Daran wird abermals deutlich, dass die kaiserlichen Gesandten 1537 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Berlin, 14.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 39r (chiffriert). 1538 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Berlin, 11.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 49r/v. 1539 Vgl. Demrath an Kaiser Karl VI., Berlin, 13.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 37r und 34v/35r. 1540 Vgl. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 76 f. 1541 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 11.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 56r. 1542 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen (Beilage aus Kopenhagen vom 04.03.1730), Berlin, 11.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 70r/v. 1543 Vgl. Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen, S. 26 f. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 18 und S. 35. Zu den finanziellen Ausgaben Seckendorffs, um den preußischen Hof aufseiten des Kaisers zu halten, siehe Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648– 1740), S. 319. 1544 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen; zweiter Brief, Berlin, 11.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 77r. 1545 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Berlin, 14.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 40r.
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in Berlin und Moskau möglichst wechselseitig über ihr jeweiliges Vorgehen informiert sein sollten. Dies war notwendig, da es das Ziel der kaiserlichen Politik war, das Bündnis Russlands mit dem Kaiser selbst und mit Preußen in enger Abstimmung der Gesandten und der beteiligten Höfe schnellstmöglich zu verlängern. Der russische Gesandte in Berlin, Golicyn, habe Demrath aufgesucht und ihm versichert, dass die Allianzen Russlands mit dem Kaiser und Preußen nicht im Geringsten beeinträchtigt seien. Da es der preußischen Königin gesundheitlich besser gehe, habe sich der preußische König wieder nach Potsdam begeben, um sich den Diplomaten des feindlichen Bündnisses zu entziehen.1546 Friedrich Wilhelm I. versuchte, sich durch die „Strategie monarchischer Distanzierung“1547 den Einflüssen seiner Minister zu entziehen und unabhängige Entscheidungen zu treffen, indem er den persönlichen Kontakt mit ihnen und ausländischen Gesandten von Fall zu Fall mied. Seine wiederkehrenden Aufenthalte in Potsdam sind hierauf zurückzuführen.1548 Chiffriert vermeldete auch Seckendorff, dass sich Friedrich Wilhelm I., in Potsdam aufhalte, um nicht auf die englischen Vorschläge eingehen zu müssen.1549 In einem zweiten Brief desselben Tages berichtete Demrath nach einem Gespräch mit dem russischen Gesandten Golicyn, dass der englische König plane, einen Gesandten unter dem plausiblen Vorwand nach Russland zu entsenden, damit dieser der Zarin Glückwünsche zur Regierungsübernahme überbringe. Als tatsächliche Absicht vermutete Demrath aber die Gefährdung des russischen Bündnisses mit dem Kaiser.1550 Die Geheimkorrespondenz Seckendorffs ist abermals relevant. Der für Moskau bestimmte kaiserliche Kurier habe am Tag zuvor seine Reise zu Wratislaw fortsetzen können. Seckendorff habe Wratislaw so ausführlich wie nötig über die Entwicklungen am preußischen Hof informiert. Insbesondere habe er Wratislaw wissen lassen, dass Le Fort vom sächsischen Hof den Befehl erhalten werde, Wratislaw bezüglich der kaiserlichen Interessen in Moskau zu unterstützen. Daher habe Seckendorff Wratislaw gebeten, Le Fort die Versicherungen des russischen Ministeriums bezüglich der Bündnisverlängerungen mitzuteilen. Der Grund dafür war, wie Seckendorff berichtete, dass der kursächsische beziehungsweise möglicherweise auch der preußische Hof durch Unkenntnis der Relationen Le Forts in die Irre geführt werde. Seckendorff teile Wratislaw mit, dass die angedachte Hochzeit Elisabeths geheim sei. Falls er darüber mit Mardefeld sprechen müsse, solle er vorgeben, keine diesbezüglichen Befehle erhalten zu haben. Seckendorff fürchte, es ergingen in diesem Sachverhalt Befehle an Mardefeld. Da der preußische König sehr schnell seine Anweisungen ausfertige, sei die Unwissenheit 1546 Vgl. Demrath an Kaiser Karl VI., Berlin, 13.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 38r/v. 1547 Neugebauer, Geschichte Preußens, S. 61. 1548 Vgl. ebd., S. 60 f. Vgl. Neugebauer, Handbuch der Preußischen Geschichte, S. 259–261. 1549 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 18.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 63v/64r (chiffriert). 1550 Vgl. Demrath an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Berlin, 13.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 53r–55v.
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Wratislaws gefährlich. Der in Berlin anwesende Golicyn hatte sich gegenüber Seckendorff am Tag zuvor geäußert, dass er einen Befehl des russischen Hofs per Express erhoffe, um den preußischen König die Bündnistreue der neuen Regentin – wie Seckendorff Anna bezeichnete – und die Bereithaltung der russischen Truppen verkünden zu können.1551 Ferner habe Seckendorff Briefe durch Manteuffel aus Dresden erhalten.1552 Dabei müsse es sich um einen auf Französisch verfassten Bericht des sächsischen Gesandten aus London handeln. Dieser habe die vollkommen unerwartete Nachricht vom Tod des Zaren durch den englischen Gesandten in Preußen per Kurier erhalten. Daraufhin sei der Londoner Hof in Freude ausgebrochen: Der englische Hof habe einen großen Feind verloren, und dem Kaiser sowie dem preußischen König sei damit eine große Unterstützung abhanden gekommen, um Schweden und Dänemark einzuschüchtern. Als Folge würden Karl VI. und seine Alliierten kompromissbereiter werden müssen. Der Autor wertete diese Äußerungen auf die bedauerliche Todesnachricht als unglaubliche Arroganz, da man in London davon ausgehe, dass sich Russland aus den europäischen Beziehungen wieder zurückziehen werde und dabei Schweden Livland und alle anderen Eroberungen zurückgeben werde.1553 Die von den Zeitgenossen antizipierte Gefährdung der europäischen Machtstellung Russlands sollte sich nicht erfüllen. Anna gelang es, den Einfluss Russlands innerhalb Europas zu wahren.1554 Seckendorff war in Berlin sehr gut über die Stimmungslage in Europa und über alle wichtigen Themen – einschließlich des Thronwechsels in Russland – aus verschiedensten Perspektiven informiert. Friedrich Wilhelm I. hoffte auf den Schutz der preußischen Gebiete durch 12.000 kaiserliche Soldaten und die Unterstützung Sachsens bei einem möglichen Krieg zwischen Hannover und Preußen.1555 Dieser Konflikt steigerte sich nahezu zu einem Krieg. Die preußische Königin, die aus hannoverischem Hause stammte, konnte diesen Konflikt trotz ihrer Bemühungen nicht entschärfen.1556 Der Kaiser wies Seckendorff an, dem preußischen König eine militärische Unterstützung im Kriegsfall zu versichern, obwohl es einen möglichen Krieg zu vermeiden gelte.1557 Obwohl die Position des Kaisers in Berlin als gesichert angesehen wurde, sah er eine Gefahr für seine Interessen durch das Engagement der Königin von Preußen. In Dresden waren es die anti-kaiserlich gesinnten Minister und der bekannte Wankelmut Augusts II., welche die kaiserliche Position gefährdeten. Auch die Hoffnungen des englischen Hofs durch die Absendung eines neuen Gesandten nach Berlin eine Annäherung zu erreichen, verbunden mit der Hoffnung eine Hoch1551 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 14.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 97r/v. 1552 Vgl. ebd., fol. 99v (chiffriert). 1553 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen (Beilage aus London vom 28.02.1730), Berlin, 14.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 102r. 1554 Vgl. Black, Hannover/England, Saxony/Poland, S. 438. 1555 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Berlin, 14.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 40v/41r. 1556 Vgl. Neugebauer, Handbuch der Preußischen Geschichte, S. 321. 1557 Vgl. Kaiser Karl VI. an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 20.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 18, Konvolut 1, fol. 14v–17r.
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zeit zwischen England und Preußen, wurden als Gefahren für die kaiserliche Machtstellung in Europa angesehen. Daher solle Seckendorff auf die Vorschläge Englands eingehen, obwohl der Kaiser seinen Gesandten in Frankreich, England und Holland befohlen habe, sich den Forderungen des Bündnisses von Sevilla zu widersetzen. Die Gefahren für die Machtstellung des Kaisers in Europa hatte Seckendorff König Friedrich Wilhelm I. zu vermitteln.1558
Die Gefährdung der kaiserlichen Machtposition in Dresden Während die kaiserlichen Interessen in Berlin gewahrt werden konnten, waren diese am kursächsischen Hof stark gefährdet. Der preußische König wollte sich um den polnischen König bemühen, obwohl er einen Bündnisschluss Sachsen-Polens mit Preußen oder dem Kaiser als schwierig ansah. Grund war hauptsächlich die ablehnende Haltung gegenüber diesen Allianzen durch das sächsische Ministerium.1559 Seckendorff berichtete, dass Frankreich und England alles tun würden, um den polnischen König zumindest zur Neutralität zu bewegen. Die pro-französischen sächsischen Minister hätten gegenüber dem preußischen König die militärische Macht der Alliierten überbetont und das militärische Potenzial des Kaisers kleingeredet, um ihn zur Aussöhnung mit England zu bewegen.1560 Prinz Eugen kam zu dem Entschluss, König August sei derzeit nicht als verlässlicher Bündnispartner zu gewinnen. Als Gründe führte er die Spannungen zwischen Hoym und Manteuffel an sowie die darauf basierenden Irritationen Seckendorffs über die Handlungen des ebenfalls am sächsischen Hof akkreditierten kaiserlichen Gesandten Leopold Wilhelm von Waldstein.1561 Dies offenbare, dass der polnische König zu sehr auf pro-französische Minister vertraue.1562 Daher solle Seckendorff dem preußischen König verdeutlichen, dass Hoym und andere kursächsische Minister von Frankreich und vermutlich auch England gekauft und „nur dem Nahmen nach sächsich in der That aber französich“1563 seien. Daneben waren Prinz Eugen auch die französischen Bemühungen bezüglich einer zukünftigen polnischen Thronfolge bekannt. Er hoffte darauf, dass der pro-kaiserliche Manteuffel zumindest 1558 Vgl. ebd., fol. 17r–23r. 1559 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Berlin, 14.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 42r-43r. Vgl. hierzu die in der Literatur getroffene Einschätzung und der Fortgang der sächsisch-preußischen Beziehungen: Philipp, August der Starke und die Pragmatische Sanktion, S. 101–109. 1560 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Berlin, 14.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 43r/v. 1561 Graf Leopold Wilhelm von Waldstein war Geheimer Rat Kaiser Karls VI. Er war vom 21. Mai 1728 (erster Bericht) bis zum 4. April 1732 (letzter Bericht) bevollmächtigter Minister im Kurfürstentum Sachsen und dem Königreich Polen. Er übernahm seine Mission von Wratislaw und übergab sie diesem auch wieder. Siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 75, S. 80 und S. 692. 1562 Vgl. Prinz Eugen an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 11.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 92r-95r (chiffriert). 1563 Ebd., fol. 93v (chiffriert).
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das Vertrauen des sächsischen Kurprinzen wiedergewinnen könne, wenn auch dasjenige des Königs verloren sei. Seckendorff müsse Manteuffel trotz seiner geschwächten Stellung von einem Rückzug aus seinen Ämtern abhalten, indem er ihm die unbedingte kaiserliche Unterstützung zusichere.1564 Demnach war Prinz Eugen die überaus geschwächte Position des geheim für seine Interessen arbeitenden sächsischen Ministers bewusst. Seckendorff beklagte, dass der sächsische Kurprinz distanzierter zu ihm gewesen sei, aber Hoym großes Vertrauen schenke. Seckendorff habe seinen Kollegen Waldstein vor Hoym gewarnt und bat Waldstein, Manteuffels Ansehen beim Kurprinzen und der Kurprinzessin zu verbessern. Diese Warnung Seckendorffs müsse Waldstein vertraulich behandeln, da Hoym keine Gelegenheit auslasse, Seckendorffs Ansehen beim König und beim sächsischen Kurprinzen zu untergraben.1565 Auf Drängen Seckendorffs warnte auch der Kaiser Waldstein vor Hoyms pro-französischer und pro-englischer Haltung, weswegen Waldstein nicht mehr auf Hoyms Ratschläge vertrauen dürfe. Stattdessen solle er sich an Manteuffel wenden und dessen Verhalten nicht beständig beklagen, so der kaiserliche Rat.1566 Chiffriert ließ Seckendorff Prinz Eugen wissen, dass das Vertrauen des sächsischen Kurprinzen in Hoym statt in Manteuffel alleinig auf die Empfehlung der verwitweten Kaiserin Amalia Wilhelmina (1673–1742)1567, der Mutter der sächsischen Kronprinzessin und geborenen Erzherzogin Maria Josepha, zurückgehe. Manteuffel argwöhne, dass diese wegen Ausführungen Waldsteins eine so positive Meinung über Hoym gegenüber dem Kurprinzen vertrete.1568 In dieser Situation bat Manteuffel Seckendorff nachdrücklich, Waldstein zumindest vorübergehend vom kursächsischen Hof fernzuhalten.1569 In einer Geheimkorrespondenz mit Eugen beklagte sich Seckendorff ausführlich darüber, dass er durch eine Informationsweitergabe zwischen Waldstein und Hoym am Dresdner Hof in Verruf geraten sei.1570 Die daraus resultierenden Bitten Manteuffels und Seckendorffs um Abberufung Waldsteins sollten sich mehrfach wiederholen, verhallten aber erfolglos. Letztendlich lag Seckendorff richtig mit seiner Einschätzung, dass die Protektion Waldsteins auf die Kaiserinwitwe Amalia Wilhelminas zurückzuführen war.1571 Waldstein hatte sich bereits 1729 auf die Seite der Gegner Manteuf1564 Vgl. ebd., fol. 94r/95r (chiffriert). 1565 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Berlin, 14.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 43v–45r. 1566 Vgl. Kaiser Karl VI. an Waldstein, Wien, 20.03.1730, HHStA Wien, Polen II, Karton 66, Konvolut 1, fol. 175r. 1567 Amalia Wilhelmina (1673–1742) war die Ehefrau Kaiser Josephs I. Zu ihrer Person und ihrem politischen Handeln gibt es derzeit nur Forschungsdesiderate, siehe Pölzl, Die Kaiserinnen Amalia Wilhelmina (1673–1743) und Elisabeth Christine (1691–1750), S. 183–192. 1568 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 14.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 97v/98r (chiffriert). 1569 Vgl. ebd., fol. 98r/v. 1570 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 18.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 121r–124r. 1571 Vgl. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 82 f.
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fels geschlagen und wurde bis zu dessen Sturz im August 1730 deutlich unterschätzt.1572 Die Erkenntnis, dass der kaiserliche Gesandte die Interessen seines Monarchen untergrub, wollte Seckendorff erst nach und nach wahrhaben.1573 Zudem hatte der sächsische Hof am 11. Februar 1730 eine Änderung der Kabinettsordnung beschlossen, die auf die Spannungen zwischen Hoym und Manteuffel zurückzuführen war. Demnach musste Manteuffel alle diplomatischen Korrespondenzen innerhalb des Reiches an seinen Rivalen Hoym abgeben. Trotz dieses Erfolgs scheiterte Hoym mit seinem Anliegen, bei König August II. die Entlassung Manteuffels zu erreichen.1574 Seckendorff bedauerte sehr, dass die Reichsangelegenheiten nicht mehr in den Händen Manteuffels lagen und stattdessen von Hoym bearbeitet wurden. Um Nachteilen vorzubeugen, führte Seckendorff aus, dass alle von Wackerbarth-Salmour in Wien abgesandten Relationen bei Manteuffel ankämen, diejenigen des anderen kursächsischen Gesandten in Wien, Friedrich Georg von Lautensack1575, erhalte Hoym. Daher solle der kaiserliche Hof in Wien dem dortigen sächsischen Gesandten Wackerbarth-Salmour alles Relevante vortragen.1576 In der Geheimkorrespondenz mit Prinz Eugen geht Seckendorff chiffriert darauf ein, dass der polnische König auf Manteuffels Erfahrung und seine politischen Fähigkeiten vor allem in den polnischen Angelegenheiten nicht verzichten könne.1577 Entgegen der pessimistischen Einschätzung bezüglich der Durchsetzung der kaiserlichen Interessen am Dresdner Hof vermeldete Seckendorff, der polnische König habe Manteuffel die Weiterleitung eines Schreibens Le Forts aus Moskau an Seckendorff befohlen. August II. wolle sich durch diese Gefälligkeit als Freund und bündniswillig zeigen.1578 Die Mitteilung Le Forts beinhaltete die beiden wörtlich wiedergegebenen Berichte vom 13. Februars 1730. Der zweite Brief Le Forts ist in der Weitergabe an Seckendorff als Postskriptum und nicht als eigenständiger Brief beigefügt.1579 Manteuffel hatte offenbar auf beide Briefe Zugriff. Somit war Seckendorff über die Einschätzung Le Forts im Bilde, de Liria versuche weiterhin, die russische Militärunterstützung für den Kaiser zu verhindern. Wratislaw würde weiterhin auf die Absendung der Truppen drängen. Da Le Fort keine Anzeichen sah, dass die Soldaten tatsächlich entsandt würden, erachtete er es – auch ohne expliziten Befehl des polnischen Königs – als notwendig, Wratislaw unter der Hand zu unterstützen. Zudem fand die als bloßes Gerücht widerlegte 1572 1573 1574 1575
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Vgl. ebd., S. 49–57 und S. 82–84. Vgl. ebd., S. 74 f. Vgl. ebd., S. 74. Philipp, August der Starke und die Pragmatische Sanktion, S. 103. Friedrich Georg Lautensack war vom 30. Januar 1721 (erste Audienz) bis zum 17. April 1751 (Abberufung) als kursächsischer Gesandter in Wien, siehe: Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 332. Vgl. ebd. Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 11.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 54r (chiffriert). Vgl. ebd., fol. 54r/v. Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 13.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 62r-64r (chiffriert). Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 13.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 65r/66r (chiffriert).
Fazit
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Einschätzung Le Forts, dass die englischen Diplomaten und de Liria um große Geldsummen in London erfolgreich angefragt hätten, weitere Verbreitung und konnte eine große Wirkung entfalten.1580 Durch die Verbreitung dieser Meldungen wurde die bereits zugesicherte Bündnisverlängerung Russlands – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – infrage gestellt. Dies zeigt, wie unterschiedlich Informationen weitergegeben und kontextgebunden interpretiert oder missverstanden werden konnten. Ein Brief aus Den Haag vom 28. Februar 1730, den Seckendorff als Beilage weiterleitete, versicherte, dass auch in Den Haag Briefe Wratislaws angekommen waren, die die russische Bündnistreue gegenüber dem Kaiser versicherten.1581 Dass sich August II. um die Unterstützung des Kaisers bemühte, belegt eine Stafette Manteuffels an Seckendorff, in der August II. dem Kaiser 13.860 Soldaten zusicherte, sobald die Streitigkeiten zwischen Hannover und Preußen beigelegt seien. Seckendorff bat den kaiserlichen Hof eindringlich, die Gewährung der Truppen des polnischen Königs geheim zu halten. Die französische und englische Partei am Dresdner Hof hätten verlauten lassen, dass sich der polnische König neutral verhalte und mithin dem Kaiser keine Truppen zur Verfügung stelle.1582
5.4 Fazit Die Gesandtschaftsberichte zeigen, dass sich die diplomatischen Vertreter in Moskau – ausgenommen Rondeau und J.C.D. Ostermann – intensiv mit der Verhaftung Jagužinskijs beschäftigten. Dabei vermischten sich abermals gesicherte Informationen mit Gerüchten. Es gab zunehmende Befürchtungen, in Moskau könnte es aufgrund der Verhaftung Jagužinskijs und der Vorschläge für eine Machtbeschränkung durch den russländischen Adel zu Unruhen kommen. Sinnbildlich hierfür waren die Berichte über ein blutrotes Nordlicht. Die Diplomaten in Moskau gelangten bedeutend schneller an Informationen über die Reformprojekte des Adels als über die lange geheim gehaltenen Konditionen des Obersten Geheimen Rats. Eine Informationsweitergabe und Zusammenarbeit zwischen diplomatischen Vertretern alliierter Staaten kann abermals mehrfach nachgewiesen werden. Es wurde dabei jeweils versucht, die Verhaftung Jagužinskijs und die Ausarbeitungen der Machtbeschränkungen interessengeleitet zu deuten – dies hieß konkret, dass die jeweiligen Ereignisse vor- oder nachteilig für eine russische Militärunterstützung des Kaisers interpretiert wurden. Ob es Sumarokov in Mitau gelang, persönlich zu Anna durchzudringen, um sie vor der Machtbeschränkung des Rates zu warnen, kann auch anhand der Gesandtschaftsberichte nicht geklärt werden. Hierzu liegen verschiedene, widersprüchliche Einschätzungen vor. 1580 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen (Beilage aus Moskau vom 13.02.1730), Berlin, 11.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 59r/v. 1581 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen (Beilage aus Den Haag vom 28.02.1730), Berlin, 11.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 68r/69v. 1582 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 18.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 60r–63v.
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Dass Sumarokov der ehemalige Kammerjunker der verstorbenen Herzogin von Holstein war, führte bei Tessin und Bonde und am holsteinischen Hof zu großen Bedenken. Die anderen diplomatischen Vertreter und die europäischen Höfe nahmen dies zwar wahr, legten diesen Umstand Holstein aber nicht zur Last. Die Befürchtungen in Kiel waren damit unbegründet. Nichtsdestotrotz fanden Gerüchte über mögliche Aufstände des Adels beziehungsweise über eine Opposition der Herzogin von Mecklenburg in Europa Verbreitung und entfalteten Wirkung, ohne aber der Realität zu entsprechen. Die Verhaftung Jagužinskijs wurde in Europa vor allem durch die holsteinischen Akteure genau beobachtet. An den allermeisten Höfen spielte sie keine zentrale Rolle. Beispielsweise Wien und Berlin erhofften bloß einen ruhigen und geordneten Thronwechsel in Moskau, um die Bündnisse schnell bestätigen zu können. Der französische Hof hingegen erhoffte langwierige Verhandlungen über die Ausgestaltung der Regierungsform und sah eine sich anbahnende Beschränkung der Macht der Zarin positiv, da sie die militärische Unterstützung des Kaisers durch Russland unmöglich mache. Eine Fragmentierung innerhalb der europäischen Höfe in verschiedene außenpolitische Lager war an fast allen Höfen festzustellen. Die ohnehin heikle Informationslage in den europäischen Hauptstädten wurde durch die Verbreitung von Gerüchten noch schwieriger. Sowohl in Kiel als auch in Warschau wurde die Lage daher zu Recht als überaus unübersichtlich wahrgenommen. Verunsicherungen durch Weiterleitungen oder Missinterpretationen von Informationen ergaben sich beispielsweise bei der Beurteilung des Erfolgs Wratislaws in Moskau bezüglich der Bestätigung der russischen Truppen – nicht zuletzt aufgrund der offiziellen und geheimen Korrespondenzen zwischen dem kaiserlichen Gesandten Seckendorff und dem Dresdner Hof. In Wien und Kiel zeigte sich hierbei zusätzlich eine Wechselwirkung zwischen Zeitungsmeldungen und diplomatischer Berichterstattung. Mitunter waren die verschiedenen Fraktionen an den europäischen Höfen mit jeweils verschiedenen Loyalitäten eine Gefahr für die Bündnislage. Dies belegt der kaiserliche Gesandte Waldstein, der das Geheimnetzwerk Prinz Eugens in Dresden in Gefahr brachte. Die russischen Adligen in Moskau und die russischen Diplomaten an den anderen europäischen Höfen waren in unterschiedlicher Intensität Bestandteil dieser Interaktionen. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die Verhaftung Jagužinskijs und die Ausgestaltung der Regierungsform in Moskau nur insoweit Resonanz an den europäischen Höfen fanden, wie sie das europäische Bündnissystem – tatsächlich oder vermeintlich – beeinflussten.
6. Annas Ankunft in Moskau – Kommunikation ohne Worte? Anna erreichte am 21. Februar das unweit von Moskau gelegene Dorf Vsesvjatskoe. Die Stationen seit ihrer Abreise aus Mitau vom 9. Februar sind überliefert.1583 Die Lage in Moskau schien durch die Verhaftung Jagužinskijs und die dadurch ausgelösten Kontroversen sowie die Vorschläge des Adels über eine neue Regierungsform unübersichtlich. Durch ihre Anwesenheit war es der Zarin nun möglich, mit ihrer Umgebung in symbolische Interaktion zu treten. Dies schließt den russischen Adel ebenso ein wie die Diplomaten der europäischen Höfe. Persönliche Präsenz begünstigte symbolische Interaktionen.1584 Die Betrachtung symbolischer Kommunikation in der Frühen Neuzeit ist besonders relevant, da sie einen hohen Stellenwert innerhalb der Gesellschaft einnahm. Sie war integraler Bestandteil der Kommunikation, die politisch-soziale Ordnungen nicht nur prägte, sondern auch festigen oder infrage stellen konnte und somit ein Gradmesser für Veränderung war.1585 Konnte die Zarin nonverbale Kommunikation in dieser auch für sie durchaus kritischen Lage einsetzen, um politische Botschaften zu übermitteln? Es gilt, dies für ihre erste Kontaktaufnahme mit den diplomatischen Akteuren und mit den russischen Adligen zu erörtern. Symbolische Gesten beziehungsweise nonverbale Kommunikationsakte haben in diesem Zusammenhang allerdings den Nachteil, dass sie anfällig für Missverständnisse sind. Für den Erfolg dieser Kommunikation ist es notwendig, dass die Empfänger symbolischer Gesten diesen die gleiche Bedeutung zuschreiben, die die Absender intendieren.1586 Gleichzeitig ermöglicht sich hierdurch ein großer Interpretationsspielraum, der interessengeleitet genutzt werden kann.1587 Dies mag der Zarin bewusst gewesen sein – besonders in einer Situation, in der es galt, einen Konflikt zwischen verschiedenen, sich widerstrebende Interessen zu vermeiden. Was lässt sich somit über die Vergabe von Erstaudienzen und über den direkten Zugang für die Gesandten zur Zarin aussagen? Eine Audienz zu erhalten oder zu vergeben bedeutete, den eigenen Rang sichtbar zu machen oder die Würde des zu vertretenden Monarchen zu repräsentieren. Diese Sichtbarkeit von Status und Würde erfolgte für die höfische Öffentlichkeit, die über eine gemeinsame Formensprache verfügte. Diese Handlungen wurden von 1583 Siehe dazu ediert: Žurnal „pochoda“ Anny Ioannovny iz Mitavy v Moskvu (29 janvarja–10 fevralja 1730g. Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 170–172. Bei Anisimov findet sich fälschlicherweise als Ankunftsdatum in Vsesvjatskoe der 13. Februar 1730Jul (24. Februar 1730). 1584 Vgl. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne, S. 514. 1585 Vgl. ebd., S. 489–505. Steppan, Kaiserliche Gesandte und ihre Annäherungspolitik durch die Kraft der Gesten. Der symbolische Startschuss zum österreichisch-russischen Bündnis von 1726, S. 29–31. Pečar, Symbolische Politik. Handlungsspielräume im politischen Umgang mit zeremoniellen Normen, S. 281 f. 1586 Vgl. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne, S. 492–496. 1587 Vgl. ebd., S. 499.
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anwesenden Diplomaten genau beobachtet und ihren Herrschern ausführlich vermeldet. Teilweise fanden sich darüber auch Meldungen in Zeitungen, die die höfischen Öffentlichkeiten europaweit informierten.1588 Inszenierte Anna ihren öffentlichen Einzug, um mit den Befürwortern ihrer autokratischen Herrschaft und mit Bündnispartnern auf europäischer Ebene durch Symbolik zu kommunizieren? Mit der Anwesenheit der Zarin rückte die immer wieder thematisierte Frage nach personellen Kontinuitäten und Veränderungen am russischen Hof ins Blickfeld. Zudem beobachteten die diplomatischen Vertreter präzise, wie der Treueeid Annas verfasst war. Welche Schlüsse sie daraus über den Erfolg der Veränderung der Regierungsform zogen, muss untersucht werden.
6.1 Erste Amtshandlungen als Zarin Erste Kontaktaufnahmen vor dem offiziellen Einzug der Zarin Die diplomatischen Vertreter berichteten ab dem 23. Februar 1730 vermehrt über die Ankunft Annas in Vsesvjatskoe.1589 Tessin und Le Fort vermeldeten zeitgleich, dass vor dem öffentlichen Einzug der Zarin Abgesandte des Adels, der Generalität und der verschiedenen Kollegien zu ihr gelangt seien, um sie zu ihrer Wahl zu beglückwünschen. Darunter seien auch die Herzogin von Mecklenburg und Prinzessin Elisabeth gewesen.1590 Auch J.C.D. Ostermann bestätigte diese Informationen und führte aus, dass ihr öffentlicher Einzug nach Moskau unverzüglich stattfinden werde. Die mecklenburgische Herzogin habe sich mit ihrer Schwester Praskov’ja und Prinzessin Elisabeth zur künftigen Zarin begeben. Er habe Anna als Gefolge der Herzogin von Mecklenburg eine Aufwartung machen dürfen und ihre Hand geküsst. Anderen auswärtigen Gesandten wäre es bisher verwehrt geblieben, Anna vor ihrem öffentlichen Einzug aufzusuchen.1591 Obwohl J.C.D. Ostermann seinen exklusiven Zugang zur Zarin betonte, zeigt sich in der Betrachtung verschiedener Gesandtschaftsberichte, dass auch andere Gesandten mit ihr zusammentrafen.
1588 Vgl. Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 22–24. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 207–229. 1589 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 23.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 88r. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 23.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 69r. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 23.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 126r. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 12.02./23.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 12.02.1730 a.St. [23.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 271r/v. 1590 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 12.02./23.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Le Fort an König August II., Moskau, 23.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 88r. 1591 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 12.02.1730 a.St. [23.02.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 271v.
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Auch Wratislaw betonte, dass er am 25. Februar 1730 und somit noch vor ihrem öffentlichen Einzug die Möglichkeit bekommen hatte, Anna eine private Aufwartung zu machen. Dies habe ihm Vasilij Lukič Dolgorukij ermöglicht, den er als guten Freund bezeichnete. Wratislaw nahm nach eigenen Angaben den kaiserlichen Residenten Hochholzer und den kaiserlichen Sekretär Caramé sowie den blankenburgischen und den holsteinischen Gesandten Bonde mit dorthin. Wratislaw zeigte sich erfreut, dass der Zarin seine Aufmerksamkeit gefallen habe.1592 Im Nachgang führte Wratislaw aus, dass de Liria daraufhin am nächsten Tag umgehend die Zarin aufgesucht habe. Aufgrund ihres bevorstehenden öffentlichen Einzugs sei de Liria nur im Vorübergehen angehört worden.1593 Dies berichtete der kaiserliche Gesandte, da diese Abstufung des Zugangs zur Herrscherin als Gradmesser der zwischenstaatlichen Beziehungen angesehen wurde.1594 Somit verdeutlichte die Zarin bereits ihre bündnispolitischen Präferenzen zugunsten des Kaisers. Zugang zur Herrscherin durch die ihr vertrauten Personen zu gewinnen war somit integraler Bestandteil des Vorgehens eines Diplomaten.1595 Ebenso hatten die Mitglieder des Hofstaats – wie auch an anderen europäischen Höfen – mitunter die Kompetenz, über den Zugang zur Zarin zu entscheiden.1596 Tessin berichtete, ohne Bezug auf Wratislaw zu nehmen, dass er am 25. Februar Anna seine Aufwartung in Vsesvjatskoe gemacht habe. Dabei habe sich Anna nach Karl Peter Ulrich erkundigt und befohlen, dem Herzog Karl Friedrich von Holstein, von dem sie vor Kurzem Briefe erhalten habe, Komplimente auszurichten.1597 Tessins Berichterstattung legt nahe, dass eine gewisse Exklusivität suggeriert werden sollte, in dem der Zugang anderer Gesandter bewusst unerwähnt blieb. Das Verschweigen von Erfolgen anderer diplomatischer Vertreter und die Überhöhung der eigenen Leistung sind keine Seltenheit in diplomatischen Relationen, die in diesen Fällen als „Medien der Selbstdarstellung“1598 dienten. Le Fort wiederum berichtete, dass viele Personen der Zarin Zeichen der Ehrerbietung entgegenbrachten. Darunter sei auch ein Fabrikant namens Milloutin gewesen, der ihr verschiedene Bänder aus seiner Manufaktur überbrachte. Anna hätte darin das Band des Katharinenordens gesehen, das sie umgehend ihrer Schwester Katharina von Mecklenburg präsentiert hätte. Sie sollte dieses Band ihrer Tochter geben, bis Anna diese zur Dame des
1592 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 27.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 138r/v. 1593 Vgl. ebd., fol. 138v und 194r. 1594 Dazu theoretisch u.a.: Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 114. 1595 Nolde, Was ist Diplomatie und wenn ja, wie viele?, S. 184. 1596 Vgl. Jeroen Frans Jozef Duindam: Versailles, Vienna and Beyond: Changing Views of Household and Government in Early Modern Europe, in: Royal Courts in Dynastic States and Empires. A Global Perspective, hg. von Jeroen Frans Jozef Duindam, Leiden u.a. 2011, S. 401–431, hier S. 426. 1597 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 16.02./27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1598 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 183 und S. 221 f.
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Katharinenordens erklärt habe.1599 Diese Aussage wurde in der Literatur aufgegriffen,1600 erscheint aber wenig glaubwürdig und findet sich in keinem anderen Bericht wieder. Als Elisabeth Anna zur Wahl gratuliert habe, soll Anna gesagt haben: « Ma Sœur il Nous reste peu de Princesses de notre famille, par les pertes que nous avons faittes, cela doit nous engager á vivre dans une etroite union et harmonie, en quoy je contribueray de tout mon pouvoir. »1601
Elisabeth habe daraufhin ihr Leid während der Regierungszeit Peters II. geklagt und Anna gebeten, keinen Vertreter der Dolgorukij heiraten zu müssen.1602 Ob diese wörtlichen Aussagen der russischen Prinzessinnen und die Passage um den Fabrikaten Milloutin und der symbolischen Verleihung des Ordensbandes den Tatsachen entsprechen, ist fraglich, da sich die Äußerungen allein in der Relation des sächsisch-polnischen Gesandten finden. Die angeblichen Handlungen Annas gegenüber ihrer Nichte und gegenüber Elisabeth belegen aber, dass ihr ein Gespür nachgesagt wurde, in einer dynastisch schwierigen Situation zu agieren. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Aussagen offenbaren diese, dass eine solche Situation für Le Fort vorstellbar war. Ein Treffen zwischen Anna und ihren beiden Schwestern Katharina und Praskov’ja, bei dem diese sie zudem über die Lage in Moskau informiert haben sollen, wird in der Literatur immer wieder genannt.1603 Über die Anwesenheit der Herzogin von Mecklenburg, Prinzessin Elisabeth, oder auch einzelner Gesandter findet sich dagegen kein Hinweis in den offiziellen Dokumenten des Obersten Geheimen Rats. Bereits Kurukin und Plotnikov stellten fest, dass dies von verschiedenen Gesandten übereinstimmend berichtet wurde, und schlossen daraus, dass die Verchovniki diese Vorgänge entweder nicht wahrnahmen oder nicht notierten.1604 Aus den Schriftstücken des Rates geht lediglich hervor, dass dieser am 25. Februar zusammen mit den Mitgliedern des Senats und einigen Vertretern der Generalität und des Adels bei Anna in Vsesvjatskoe eine Audienz hatten. Die Verchovniki dankten Anna für die Annahme der Konditionen. Zudem habe der älteste Ritter des St.-Andreas-Ordens, Gav‑ rijl Ivanovič Golovkin, unterstützt durch Dmitrij Michajlovič Golicyn, Anna diesen Orden überreicht.1605 Le Fort berichtete diesen Verlauf der Ereignisse in Vsesvjatskoe an den Dresdner Hof überaus genau.1606 Diese symbolische Geste einer Ordensverleihung ermöglichte es, 1599 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 27.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 95v/96r. 1600 Vgl. Kurukin, Anna Leopol‘dovna, S. 25. 1601 Le Fort an König August II., Moskau, 27.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 96r/v. 1602 Vgl. ebd., fol. 96v. 1603 Vgl. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 42. 1604 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 95. 1605 Siehe dazu ediert: Žurnal oficial’noj audiencii Verchovnogo tajnogo soveta, Senata, a takže lic „iz gen eraliteta i šljachetstva“, u Anny Ioannovny v podmoskovnom sele Vsechsvjatskom (14.02.1730 Jul), in: ebd., S. 172 f. 1606 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 27.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 96v-97r.
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die bedachten Personen hervorzuheben und ihnen eine Ehrerbietung zu erweisen. Der an Anna verliehene Andreasorden war der höchste und älteste Männerorden Russlands.1607 Da der Katharinenorden zwar die höchste Auszeichnung für Frauen, jedoch dem Andreasorden nachrangig war,1608 erscheint es möglich, dass die russischen Adligen der Zarin den höchsten Orden verliehen. Damit bestätigt sich hier die These Barbara Stollberg-Rilingers bezüglich Maria Theresia, dass die Herrscherin mit der Thronbesteigung rechtlich als Mann gegolten habe und demnach eine Trennung von physischem und juristischem Geschlecht erfolgt sei. Auch Maria Theresia hatte mit der Übernahme der Großmeisterrolle des Stephansordens eine männliche Position übernommen.1609 Zarin Katharina I. wurden mitunter ebenfalls männliche Qualitäten zugesprochen.1610 Die Zuschreibung von männlichen Attributen erfolgte im 18. Jahrhundert bei russischen Herrscherinnen häufig.1611 Insoweit erscheint die Ordensverleihung plausibel. In Russland kam es erst im 18. und 19. Jahrhundert vermehrt zu Stiftungen von Orden.1612 Bis zur Herrschaft Zar Peters I. war diese Tradition in Russland unbekannt; er lernte sie erst auf seinen europäischen Reisen kennen.1613 Mit seinen eigenen Ordensstiftungen betonte er seine Zugehörigkeit zur europäischen Fürstengemeinschaft. Neben den Ordensverleihungen berichteten die Gesandten davon, dass Anna die Befehlsgewalt über verschiedene Garden übernommen habe. Le Fort führte aus, dass Anna sich selbst zum Oberst des ersten Regiments der Leibgarde und zum Kapitän der Reitergarde ernannt habe.1614 Wratislaw berichtete ferner, dass sie sich auch zum Hauptmann der Bombardierkompanie erklärt habe.1615 Übereinstimmend hieß es, dass dies unter Jubel dieser drei
1607 Vgl. Heinrich Ferdiand Schöppl: Der kaiserlich russische St.-Andreas-Orden. Seine Geschichte und Beschreibung nebst kurzer Geschichte und Beschreibung der kaiserlichen Russischen Orden, Ehrenzeichen, Verdienst- und Kriegsmedaillen seit Peter dem Grossen, Wien 1899, S. 9–13. Deubner, Die kaiserlich russischen Orden und Medaillen, S. 3. 1608 Zum St.-Andreas-Orden und zum Katharinenorden ausführlicher siehe ebd., S. 3 f. Schöppl, Der kaiserlich russische St.-Andreas-Orden, S. 22. 1609 Charlotte Backerra, Tagungsbericht: Weibliche Herrschaft im 18. Jahrhundert – Maria Theresia und Katharina die Große, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7210, 17.09.2020. 1610 Hughes betont, dass Katharina I. durch die Begleitung Zar Peters I. bei militärischen Manövern männliche Qualitäten bewiesen habe. Diese werden jedoch durch die gleichzeitige Betonung ihrer Mütterlichkeit gemildert, siehe Hughes, The Romanovs, S. 84. Auch Elisabeth wurden männliche Attribute zugeordnet, siehe ebd., S. 91. 1611 Evgenij Viktorovič Anisimov, Ženščuny u vlasti v XVIII v. kak problema, http://www.perspectivia.net/ publikationen/vortraege-moskau/anisimov_herrschaft, 17.09.2020. 1612 Vgl. Eckart Henning; Dietrich Herfurth: Orden und Ehrenzeichen. Handbuch der Phaleristik, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 14. 1613 Vgl. Schöppl, Der kaiserlich russische St.-Andreas-Orden, S. 10 f. Deubner, Die kaiserlich russischen Orden und Medaillen, S. 3. 1614 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 27.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 95r/v. 1615 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 27.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 136r/v.
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Korps stattgefunden habe, ohne dass ihr das angetragen worden sei.1616 Chiffriert berichtete Wratislaw, dass diese Handlungen Annas von den Gegnern der Machtbeschränkung als eine „manliche Resolution“1617 gesehen wurde, die ihr dem Recht nach zustehe.1618 Die „Soldatesca“ und „Meisterin“, wie er Anna betitelte, werde bald sprechen, sodass sich „das zum blinden gehorsam gewöhnten Rußische Adelsgeblüht“ bald wieder in seiner „natürlichen qualitet“1619 befinde. Er habe zudem noch nicht erfahren, ob die oppositionelle Generalität von ihrer bisherigen Meinung abgewichen sei. Wratislaw interpretierte die derzeitige Lage zuungunsten der Befürworter einer Machteinschränkung, da sie ihre Pläne bis zur Ankunft der Zarin nicht hätten durchsetzen können. Möglicherweise, so Wratislaw, sei Anna Moskau so lang ferngeblieben, da sie hoffte, dass die Entwicklungen zu keinem Ergebnis kämen.1620 Magnan gab die Meinung de Lirias zur derzeitigen Situation wieder, dass Vasilij Lukič Dolgorukij die Zarin für sich eingenommen habe. Niemand dürfe sich ihr vor ihrem Einzug ohne seine Erlaubnis nähern. Damit wollte er sich an die Spitze der derzeitigen Angelegenheiten stellen und die Zarin dazu zu bewegen, sich für absolut zu erklären, wie ihre Vorgänger es waren. Die Zarin profitiere von der derzeitigen Verwirrung, so Magnan.1621 Magnan gab als gesicherte Information an seinen Hof weiter, dass sich die Zarin vor ihrem Einzug zum Oberst der Garde ernannt und zwei Kapitäne diese Regimenter zu Majoren erklärt habe. Zudem hätte sie sich zum Hauptmann der Reitergarde erklärt. Magnan fügte hinzu, dass die persönlichen Qualitäten der Zarin in Moskau sehr geschätzt würden. Es sei bekannt, dass Zar Peter I. sich mehrfach über die großen Verdienste Annas geäußertund er es als sehr bedauerlich empfunden habe, dass sie kein Mann sei, um ihre Talente besser nutzen zu können. Außerdem werde in Moskau verbreitet, dass Anna die Fähigkeiten besitze, die Souveränität zurückzugewinnen. Magnan schränkte die Aussagen seiner Relationen aber insoweit ein, dass alles, was er in der derzeitigen Situation vernehmen könne, eine einfache Vermutung sei.1622 Die positive Wertung Magnans wurde in der Literatur auf mögliche positive Äußerungen der Garden zurückgeführt.1623 Auch Le Fort betonte, dass der Beginn von Annas Herrschaft zu bewundern sei, da sie trotz der Einschränkung ihrer Macht umgehend gegen diese Einschränkung verstoßen habe, 1616 Vgl. ebd. Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 27.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 95r/v. Auch de Liria und der schwedische Gesandte (1. März 1730) berichteten davon, siehe Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 185. 1617 Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 27.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 136v (chiffriert). 1618 Vgl. ebd., fol. 136v/137r (chiffriert). 1619 Ebd., fol. 137r (chiffriert). 1620 Vgl. ebd., fol. 137v/138r (chiffriert). 1621 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 27.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 81v/82r (chiffriert). 1622 Vgl. ebd., fol. 82r/v (chiffriert). Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 184. 1623 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 96.
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indem sie sich direkt nach ihrer Ankunft in Moskau zum Chef der Garde erklärte. Sie selbst mache sich zudem überall beliebt.1624 Die Ereignisse in Vsesvjatskoe bezüglich der anwesenden Preobraženskij- und Reitergarde finden ebenfalls keinen schriftlichen Niederschlag in den offiziellen Dokumenten des Obersten Geheimen Rats, wie Kurukin und Plotnikov herausstellten. Obwohl sie ebenfalls ausschließlich in den Gesandtschaftsberichten vermerkt sind, vermuteten Kurukin und Plotnikov, dass die Verchovniki diese autokratischen Handlungen Annas, die einen klaren Bruch der Konditionen darstellten, ignorierten. Demnach waren sich die Verchovniki ihrer Macht wohl zu sicher und schienen die Veränderungen des politischen Klimas zu ihren Ungunsten nicht zu bemerken.1625 Der Interpretationsspielraum dieser nonverbalen Geste erscheint hier besonders gut versinnbildlicht. Anna hatte durch ihre Handlungen de facto die von ihr unterzeichneten Konditionen gebrochen. Die Gesandten schienen dieses Vorgehen Annas in diesem Sinne zu deuten und sahen darin eine Schwächung der Befürworter der Machtbeschränkung. Die Verchovniki wiederum schienen diese symbolischen Handlungen entweder nicht wahrzunehmen oder bewusst zu ignorieren. In jedem Falle schwächte dies ihre Stellung. Der Vorteil der symbolischen Handlungen liegt darin, dass sie auf appellative und implizite Weise Reaktionen hervorrufen, ohne dass diese explizit und argumentativ benannt werden müssen.1626 Dies war für Anna besonders relevant, da sie durch die Konditionen in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt war. Es ist belegt, dass Anna verschiedene Beförderungen von Personen innerhalb der Preobraženskij-Garde durchführte und deren Vertreter nach ihrem Einzug am 27. Februar abermals empfing. Ebendiese Gruppe der Preobraženskij-Garde hatte am Tag der Wiedererlangung ihrer Souveränität Wache zu halten.1627 Zudem bekamen die Gardisten anlässlich des Einzuges der Zarin zusätzlich zu ihrem Sold einen Ehrensold ausgezahlt. Auch die Reihen der Regimenter wurden umgehend verstärkt, was sicherlich die Einstellung der Gardisten gegenüber Anna positiv prägte.1628 Aufbauend auf den Gesandtschaftsberichten verknüpfte Anisimov die Gewinnung der Garde durch Anna mit der angeblichen späteren Rückgewinnung ihrer autokratischen Macht.1629 Wie noch zu zeigen sein wird, bedurfte es aber keines gewaltsamen Einschreitens der Garde zur Wiederherstellung der Autokratie. Auch Rondeau beschrieb die selbstvollzogene Ernennung der Zarin zum Oberst der Preobraženskij-Garde und zum Kapitän der Reitergarde ausführlich. Sie habe deren Herzen ge-
1624 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 27.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 102r/v (chiffriert). 1625 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 94 f. 1626 Vgl. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne, S. 505 f. 1627 Vgl. ebd., S. 94 f. 1628 Vgl. ebd., S. 96. 1629 Vgl. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 99. Anisimov, Anna Ioannovna, S. 46. Ključevskij, Kurs russkoj istorii, S. 368. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 261.
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wonnen, indem sie jeden Offizier und Soldaten aus ihrer eigenen Hand ein Glas Wein oder Weinbrand gereicht habe. Der Oberste Geheime Rat und der Senat wiederum seien nach Vsesvjatskoe gereist, wobei der Großkanzler Golovkin ihr den St.-Andreas-Orden überreicht habe und Dmitrij Michajlovič Golicyn Anna im Namen des Rates und des Senats für die Annahme der Krone und der Konditionen gedankt habe, woraufhin Anna gelobt habe, sich an die machteinschränkenden Konditionen zu halten. Sie hoffe darauf, dass der Rat ihr bestmögliche Ratschläge gebe. Rondeau gestand, dass er die Widersprüche in seinen Meldungen nicht auflösen könne und Townshend aus dieser möglichst genauen Darstellung selbst die richtigen Schlussfolgerungen ziehen müsse.1630 Nahezu gleichlautend berichtete ebenso der französische Chargé d’Affaires über die Vorgänge in Vsesvjatskoe.1631 Während die Darstellung Magnans auf Informationen von de Liria zurückzuführen ist,1632 ist dies für Rondeau nicht eindeutig nachweisbar, aber durchaus anzunehmen. Rondeau betonte in seiner Relation vom 27. Februar, dass die Lage in Moskau immer noch unübersichtlich sei. Der russische Adel könne sich nach wie vor nicht auf eine Regierungsform einigen, obwohl er den Wunsch nach Veränderung habe. Rondeau habe viele Pläne gesehen, die dem Obersten Geheimen Rat vorgelegt worden seien. Diese seien so umfassend, dass sie keine allgemeine Zustimmung erhalten könnten, obwohl namhafte Familien ihre Unterschriften daruntergesetzt hätten:1633 „As these Gentlemen have been always us’d to obey blindly an absolute Monarch, they have no true notions of a limited Government. The Great Nobility would fain get the power in their own hands, & the little Nobility & Gentry are very jelous the should, & would rather have one Master than seven without some may be found out to make them easy & secure them from being Tyranniz’d by the great families. At this time we hear daily, different report some assuring there will be a considerate alteration, & others with as much certainty affirming there will be none.”1634
Der englische Sekretär umschrieb mit drastischen Worten seine Einschätzung des russischen Adels und des Misserfolgs der Limitierung der Regierungsform. Diese schien an den Gegensätzen innerhalb des russischen Adels zu scheitern, der ohnehin blinden Gehorsam gewöhnt sei. Worauf er dieses Urteil gründete, ließ er offen. Die Unterstellung eines derart geringen politischen Selbstverständnisses des russischen Adels gegenüber der Zarin, das aus den Gesandtschaftsberichten abgeleitete wurde und sich wörtlich in der Literatur findet, widersprachen bereits Kurukin und Plotnikov.1635 Da die Ausdrücke blinder Gehorsam und russische 1630 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 16.02.1730 a.St. [27.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 27v–28r. 1631 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 27.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 79r/v. 1632 Vgl. ebd., fol. 82v (chiffriert). 1633 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 16.02.1730 a.St. [27.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 27r. 1634 Ebd., fol. 27r/v. 1635 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 89.
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Sklavennatur trotz des sich wandelnden Russlandbildes seit der petrinischen Ära immer wieder in der Publizistik anzutreffen sind, ist die These Kurukins und Plotnikovs zu stützen, dass der Adel ein uneinheitliches politisches Verständnis hatte.1636 Die Aussagen sind stereotype Vorstellungen der diplomatischen Vertreter und keine adäquaten Beschreibungen des politischen Verständnisses des russländischen Adels.
Annas öffentlicher Einzug – die Versinnbildlichung außenpolitischer Kontinuität Aus den Berichten des preußischen Gesandten Mardefeld ist zu erfahren, dass den Diplomaten ein Zimmer in der großen Apotheke zugewiesen war, um den öffentlichen Einzug Annas gut verfolgen zu können.1637 Die detailreichste Schilderung des dreistündigen öffentlichen Einzugs am 26. Februar 1730 erfolgte durch den sächsisch-polnischen Gesandten Le Fort. Ihm gelang es, nahezu lückenlos alle Beteiligten des russischen Adels und der aus Mitau mitgebrachten Hofdamen Annas, Treyden1638, Wildemann1639 und Biron1640, zu benennen.1641 Auch der holsteinische Gesandte Bonde ging ausführlich auf den öffentlichen Einzug Annas ein und nannte ebenfalls die aus Kurland mitgebrachten drei Hofdamen namentlich.1642 Le Fort berichtete zudem, dass seine Ehefrau durch die besondere Gnade Vasilij Lukič Dolgorukijs zu denjenigen vornehmsten Herren und Damen zählte, die nach dem Einzug zum Handkuss der Zarin eingeladen wurden.1643 Dies macht deutlich, dass auch die Gesandten gattinnen, soweit sie anwesend waren, in höfische Begebenheiten miteinbezogen waren. 1636 Vgl. Fissahn, Faszination und Erschrecken, S. 142. Matthes, Das veränderte Rußland und die unveränderten Züge des Russenbilds, S. 116 f. 1637 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 27.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 74r. 1638 Über diese Hofdame Zarin Annas konnten keine Informationen ermittelt werden. Das Adelsgeschlecht Treyden stammt ursprünglich aus Livland, siehe Nicolai von Essen: Genealogisches Handbuch der Oeselschen Ritterschaft, Tartu 1935, S. 608–611. 1639 Vgl. N.N.: Wildemann, die Freiherren von, in: Neues Preussisches Adels-Lexicon. Bd. 4, hg. von Leopold von Zedlitz-Neukirch, Leipzig 1837, S. 336 f. Es handelte sich hierbei um Katharina, Freiin von Wildemann. Sie war Staatsfräulein der Zarin Anna und seit 1739 verheiratet mit Karl Ludwig, Baron von Mengden, einem kaiserlich-russischen Geheimrat und Kammerherrn. 1640 Vgl. Heinrich Laakmann: Biron, Ernst Johann, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 2, hg. von Historische Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1955, S. 260, hier S. 260. Es handelt sich hierbei höchstwahrscheinlich um Benigna Gottliebe Biron, geborene von Totta, genannt Treyden (1703–1782). Sie war seit 1723 mit Ernst Johann Biron verheiratet, dem damaligen Hofmeister Annas in Kurland und späteren Favoriten der Zarin. 1641 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 27.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 99r–100r. 1642 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 16.02.1730 a.St. [27.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. Die Relation ist auf Schwedisch verfasst und beinhaltet einzelne auf Russisch verfasste Stellen. Die dechiffrierten Stellen sind jedoch auf Deutsch verfasst. Der Inhalt ist inhaltlich so weit erschlossen, wie es dem Autor möglich war. Eine umfassende Erschließung konnte aufgrund mangelnder Schwedisch-Kenntnisse leider nicht vorgenommen werden. 1643 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 27.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 100r.
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Besonderes Augenmerk richteten die Gesandten auf die Kutsche, in der Anna in Moskau einfuhr. Le Fort berichtete, dass es sich dabei um einen vom Kaiser geschenkten achtspännigen Wagen handle.1644 Beide holsteinische Gesandten betonten diesen prachtvollen Wiener Wagen und die besondere Aufmerksamkeit, die er beim Einzug der Zarin erregte.1645 Tessin führte aus, dass es vor einigen Jahren unvorstellbar gewesen sei, dass dieser Wagen Anna bei dieser Gelegenheit hätte dienen können, da er ursprünglich für die verstorbene Zarin Katharina I. bestimmt gewesen sei.1646 Auch Mardefeld berichtete, dass Anna „in der von des Römischen Kaysers Mt. [Majestät] hierher gesandten prächtigen Staats-Kutsche“1647 fuhr. Der kaiserliche Gesandte Wratislaw ging neben den einzelnen Details des Einzuges besonders darauf ein, dass die Zarin in den an Peter II. geschenkten kaiserlichen Wagen in Moskau einfuhr, „welcher gewis dem ganzen Zug das beste ansehen gegeben“.1648 Die symbolische Geste Annas, in einer Wiener Paradekutsche einzufahren, demonstrierte für die anwesenden Gesandten die Verbundenheit der Zarin mit Kaiser Karl VI. Dies kann als Versinnbildlichung der guten kaiserlich-russischen Beziehungen angesehen werden. Diese symbolische Geste, die in der Vergangenheit wenig Beachtung fand, eröffnet neue Blickwinkel auf die Kommunikationsstrategien.1649 Die anlässlich des Bündnisschlusses zwischen Kaiser Karl VI. und Zarin Katharina I. 1726 begonnene Fertigung der als Geschenk vorgesehenen Kutschen war Ausdruck bündnispolitischer Verbundenheit. Aufgrund mehrmaliger Verzögerungen waren die zwei Wiener Kutschen erst nach der Thronbesteigung des Neffen des Kaisers, Zar Peters II., anlässlich des Geburtstages seiner Schwester Natal’ja am 23. Juli 1728 durch Wratislaw übergeben worden.1650 In einer Situation, in der es Zarin 1644 Vgl. ebd., fol. 99v. 1645 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 16.02.1730 a.St. [27.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. Die Relation ist auf Schwedisch verfasst und beinhaltet einzelne auf Russisch verfasste Stellen. Die dechiffrierten Stellen sind jedoch auf Deutsch verfasst. Der Inhalt ist inhaltlich so weit erschlossen, wie es dem Autor möglich war. Eine umfassende Erschließung konnte aufgrund mangelnder Schwedisch-Kenntnisse leider nicht vorgenommen werden. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 16.02./27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1646 Vgl. ebd. 1647 Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 27.02.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 74r. 1648 Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 27.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 136r. 1649 Zu dieser Problematik siehe Steppan, Simvoličeskaja politika v epoche oživlenija avstro-russkich otnošenij, S. 137 f. 1650 Vgl. ebd., S. 132. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 417 f. und S. 342–344. Zur Entstehungsgeschichte der ursprünglich drei Wagen siehe ausführlich: Mario Döberl: „Ein paar schöne wägen nach der Wiennerischen neuesten façon“. Zur Geschichte eines Geschenks Kaiser Karls VI. an den Zarenhof anlässlich der russisch-habsburgischen Allianzverträge des Jahres 1726, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 4/5, 2002/03, S. 296–331, hier S. 301–308. Die erste Benutzung der Wiener Kutschen durch Zar Peter II. wird durch die Gesandten aufmerksam beobachtet und als Zeichen der Besserung der russisch-kaiserlichen Beziehungen angesehen, siehe Steppan, Akteure am
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Anna nicht möglich war, das kaiserlich-russische Bündnis verbal zu bestätigen, gelang ihr dies innerhalb der höfischen Öffentlichkeit auf symbolische Weise. Die Wiener Kutsche zeigte nicht nur die Verbundenheit mit dem Kaiser, sondern konnte durch den Geschenkanlass in doppelter Hinsicht als Stärkung des Bündnisses interpretiert werden. In der Rezeption durch den Moskauer Hofadel und durch die Gesandten entfaltete das Geschenk zum zweiten Mal eine politische Wirkung.1651 Der englische Sekretär Rondeau, der französische Chargé d’Affaires, der auf die Nachrichten des spanischen Gesandten angewiesen war, und der mecklenburgische Gesandte J.C.D. Ostermann verloren kein Wort darüber, dass Anna bei ihrem Einzug in der kaiserlichen Kutsche fuhr.1652 Stattdessen berichtete J.C.D. Ostermann, dass es weder dem spanischen noch dem kaiserlichen Gesandten gelänge, den russischen Hof für ein Bündnis zu gewinnen, bevor die inneren russischen Angelegenheiten nicht geregelt seien, auch wenn Wratislaw sich rühme, dass Russland bei der geschlossenen Allianz mit dem Kaiser bleibe.1653 Rondeau ging nicht näher auf die Gegebenheiten des öffentlichen Einzugs Annas ein.1654 Stattdessen kam er zu folgender Schlussfolgerung: Wie die innerrussischen Angelegenheiten ausgehen würden, sei zweitrangig; nützlich seien sie der englischen Krone in jedem Falle: “What ever turn this grand affair takes, I believe it will have this good effect, that it will occasion so many factions & Domestick broils, that the Ministry here will have enough to do to keep every thing quiet at home, so that this Court will not be in a condition to concern themselves with what’s doing abroad, as they have done of the late years.”1655
Diese nahezu ausschließlich auf die Außenpolitik fokussierte Betrachtung wird noch betont, indem Rondeau sehr darauf hoffte, dass der spanische König de Liria nicht abberufe, da er für die Vertreter der Allianz von Sevilla aufgrund seines Zugangs zu den russischen Adligen unersetzlich sei.1656 Tessin bekräftigte bezüglich de Liria, dass dieser zwar viel von seiner Ab-
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fremden Hof, S. 441 f. Zur Verwendungsgeschichte siehe ausführlich: Döberl, „Ein paar schöne wägen nach der Wiennerischen neuesten façon“, S. 308–313. Döberl erwähnt, dass die Zarin den größeren der beiden Wägen zum Einzug verwendete, ohne die damit verbundene symbolische Bedeutung zu erkennen. Vgl. Falcke, Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgisch-preußischen Hof im 17. und 18. Jahrhundert, S. 282. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 18–20 und S. 32 f. Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 16.02.1730 a.St. [27.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 28r. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 19.02.1730 a.St. [02.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 273r/274r. Magnan an Chauvelin, Moskau, 27.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 79v–81r. Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 19.02.1730 a.St. [02.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 273v/274r. Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 16.02.1730 a.St. [27.02.1730], TNA, SP 91/11, fol. 28r. Ebd., fol. 28r. Vgl. ebd., 28r/v.
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berufung spreche, bevor aber alle Nachrichten nach Spanien gelangt und die Antworten in Moskau wiederum empfangen würden, könne noch gut ein Jahr vergehen.1657 Rondeau betonte zudem, dass Wratislaw nichts Neues wisse, da Ostermann noch immer krank sei.1658 In Ostermann sah Rondeau den wichtigsten Vertreter des russisch-kaiserlichen Bündnisses, das es zu schwächen galt. Er hoffte demnach, dass sich Russland wieder aus den europäischen Angelegenheiten zurückziehen werde. Diese Hoffnungen wurden ebenso von englischen Gesandten in Berlin und in Dresden geäußert.1659 J.C.D. Ostermann verschwieg nicht nur die Einfahrt Annas in der kaiserlichen Kutsche, sondern hob hingegen das besondere Verhältnis zwischen Anna und ihrer Schwester, der Herzogin von Mecklenburg, hervor. Er betonte, dass er bei der ersten Audienz mit allen anderen Gesandten am 1. März von Anna sehr gnädig empfangen worden sei. Die Lage in Moskau sei weiterhin ruhig, und der Oberste Geheime Rat versammle sich täglich. Er ging aber davon aus, dass Anna die Frage der Regierungsform bald lösen werde.1660 Katharina von Mecklenburg sei ununterbrochen am russischen Hof, und Anna empfinde „eine absonderliche liebe zu der kleinen Princess, welche künftigen Sontag mit dem orden von St. Catharina beehret werden dürffte“.1661 Dies suggerierte dem Herzog von Mecklenburg, über seine Ehefrau Einfluss auf die Regierung Annas gewinnen zu können. Auch den holsteinischen Gesandten entging dieser Gunstbeweis nicht. Tessin vermeldete die Verleihung des Katharinenordens an die junge Herzogin von Mecklenburg und dass sie von Anna mit kostbaren Juwelen beschenkt worden sei. Zudem wusste er von Gerüchten, die junge Herzogin werde bald zur Orthodoxie übertreten.1662 Die Ordensverleihung Annas an ihre Nichte versinnbildlicht bereits deren mögliche Thronfolge und ihre Bevorzugung. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Zarin Karl Peter Ulrich als ihren möglichen Thronfolger betrachten konnte, sank damit. Auch Wratislaw berichtete, dass Anna der jungen Herzogin von Mecklenburg in der Kirche den Katharinenorden verliehen habe.1663 Damit demonstrierte Anna ein Näheverhältnis zu ihrer Nichte.1664 Als Anna Wratislaw gesehen habe, habe sie ihn aufgefordert, nach dem Gottesdienst zur Tafel zu bleiben. Wratislaw habe dort einen Platz direkt neben der mecklenburgischen Prinzessin erhalten. Es seien ebenso die Mitglieder
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Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 19.02./02.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Vgl. ebd. Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 261. Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 19.02.1730 a.St. [02.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 273v. 1661 Ebd. 1662 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 23.02./06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 23.02./06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1663 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 06.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 149v/150r. 1664 Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 206. Kurukin ging fälschlicherweise davon aus, dass Katharina von Mecklenburg und nicht ihre Tochter den Orden erhalten habe.
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des Obersten Geheimen Rates und verschiedene vornehme Frauen zugegen gewesen.1665 Damit vollzog Anna eine weitere europaweit verständliche Geste des Gunstbeweises gegenüber Wratislaw.1666 Dieser betonte das gute Verhältnis zu Anna.1667 Auch Le Fort berichtete von der Vergabe des Katharinenordens an die junge Herzogin, weswegen alle Damen in Galakleidung erschienen seien. Nach dem Festessen sei Anna mit einem großen Gefolge zur ehemaligen Zarin, der bereits sehr kranken Evdokija, aufgebrochen.1668 Es ist zwar bekannt, dass Zarin Anna bereits in ihrem ersten Regierungsjahr bemüht war, für ihre Nichte einen Ehemann zu suchen;1669 dass sie ihre Nichte durch diese Gesten unmittelbar bevorzugte, ist in der Historiografie jedoch bisher nicht oder nur wenig beachtet worden.1670 Angeblich hätten Ostermann und Löwenwolde 1730 vergeblich den Vorschlag gemacht, Karl Peter Ulrich mit der jungen Herzogin von Mecklenburg zu verheiraten, um einen Konflikt um die Thronfolge zu vermeiden.1671 Bereits im Dezember 1731 erließ die Zarin ein Manifest zur Regelung ihrer Nachfolge. Sie erklärte den Sohn ihrer Nichte zu ihrem Nachfolger. Diese Regelung stellte ein Novum in der russischen Geschichte dar, denn damit war ein Thronfolger designiert, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gezeugt beziehungsweise geboren war. Die ursprünglich protestantisch getaufte junge Herzogin von Mecklenburg, Elisabeth Katharina Christine, wurde 1733 nach orthodoxem Ritus auf den Namen Anna Leopol’dovna getauft.1672 Die Erkrankung Ostermanns war nach der Ankunft der Zarin ein weiteres, sich wiederholendes Thema der Gesandtschaftsberichte, jedoch mit einer neuen Dramaturgie. Zuerst zeigte sich Tessin etwas zuversichtlicher bezüglich Ostermanns Genesung. Zudem scheine es, dass Anna – wie ihre Vorgänger – weiterhin auf Ostermann vertraue.1673 Wratislaw be1665 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 06.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 150r. 1666 Vgl. Duindam, Versailles, Vienna and Beyond: Changing Views of Household and Government in Early Modern Europe, S. 409. 1667 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 06.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 150r und 140v. 1668 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 06.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 112v. 1669 Vgl. Lavrent‘ev, Prinz Anton Ulrich in Rußland bis zum Sturz des Hauses Braunschweig, S. 93. 1670 Vgl. Igor‘ Vladimirovič Kurukin: Anna Leopol’dovna, in: Voprosy Istorii, 1997, S. 28–40. Kurukin, Anna Leopol’dovna, S. 27. 1671 Vgl. ebd., S. 35 f. Solche Gerüchte vermeldete Rondeau im Verlauf des Jahres 1730 erneut an seinen Hof. 1672 Vgl. Lavrent‘ev, Prinz Anton Ulrich in Rußland bis zum Sturz des Hauses Braunschweig, S. 93. Helge Bei der Wieden: Anna Leopoldowna, in: Biographisches Lexikon für Mecklenburg, hg. von Sabine Pettke, Rostock 1999, S. 24–31, hier S. 24. Hughes, The Romanovs, S. 89. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 157. Kurukin, Anna Leopol‘dovna, S. 37. Die Annahme Hildermeiers, dass die spätere Anna Leopol’dovna 1731 als zukünftige Thronfolgerin erst an den Russischen Hof hätte geholt werden müssen, ist falsch, siehe Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 474. Sie weilte bereits seit der Rückkehr ihrer Mutter 1722 wieder am russische Hof. 1673 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 12.02./23.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung.
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stätigte zwar, dass Ostermanns Erkrankung bisher als vorgetäuscht oder zumindest nicht als so schwerwiegend eingeschätzt worden sei, nun jedoch sehr gefährlich erscheine. Resigniert stellte Wratislaw fest, dass der Tod Ostermanns ungemein schwer wiegen und sich in die erfolgten katastrophalen Todesfälle in Russland einfügen würde.1674 Magnan bekannte zwar offen, dass er nicht viel über den Gesundheitszustand Ostermanns wisse, de Liria habe ihm an diesem Tag versichert, Ostermann sei in Todesgefahr.1675 Tessin schrieb am selben Tag, dass Gott verhüten möge, „daß auch diese Stütze unß nicht entzogen werde, wie so viele andere, die unß in so wenig Jahren abgegangen; heute läßt man mir antworten, daß es noch mit Ihm wie vorher bald guth bald übel wäre, die Keyserin hat Selbsten zu Ihm geschickt und sich seines zustandes erkundigen, anbey auch Ihrer Gande versichern lassen“.1676
Tessin sprach sogar davon, dass Ostermann in Lebensgefahr schwebte, wenngleich zuletzt eine Besserung eingetreten sei.1677 Zudem berief sich Tessin in einem chiffrierten Absatz in einem Schreiben auf Informationen, die ihm der russische Gesandte Golovkin aus Paris habe zukommen lassen: In Paris gebe es Gerüchte, dass sich der russische Hof gegen ihn und Bonde wenden würde.1678 Dass ein solcher Briefkontakt bestand, ist ausgesprochen aussagekräftig, auch wenn die Hintergründe dafür an dieser Stelle unbeantwortet bleiben müssen. Tessin war sich seiner beschränkten Handlungsfähigkeit am russischen Hof bewusst: Wenn er sich mit seinen Anliegen an andere russische Adlige, außer Ostermann, wende, bestehe die Gefahr, dass die holsteinischen Vertreter in Verruf gerieten. Daher sei es das Sicherste, auf Ostermanns Genesung zu warten.1679 Tessin resümierte, dass die derzeitige Veränderung so groß sei wie niemals zuvor.1680 Auch Le Fort berichtete, dass die Zarin sich zweimal am Tag nach dem Gesundheitszustand Ostermanns erkundige.1681 Le Fort schrieb sogar wenige Tage später davon, dass Anna Ostermann ihren Arzt habe schicken lassen.1682 Sie signalisiere durch ihr
1674 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 27.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 194v und 139r. 1675 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 27.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 82v (chiffriert). 1676 Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 16.02./27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1677 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 16.02/27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1678 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 16.02./27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). 1679 Vgl. ebd. 1680 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 23.02./06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 12.02./23.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1681 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 02.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 105r. 1682 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 06.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 112v.
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Verhalten gegenüber Ostermann, der allgemein als Gegner der Machtbeschränkung wahrgenommen wurde, dass sie an ihm festhalten wolle. Ostermann schien seine Krankheit so gut spielen zu können, dass die in Moskau anwesenden Diplomaten um sein Leben bangten. Die Vorstellung von Ostermanns Tod schien für Tessin und Wratislaw ein Schreckensbild zu sein. Auch Le Fort berichtete über den sich verschlechternden Gesundheitszustand Ostermanns. Hierüber könne allerdings nichts in Erfahrung gebracht werden.1683 Die in der Literatur getroffene Interpretation, Ostermann wollte seinen Unterstützern durch die sich verschlimmernde Erkrankung ein Zeichen geben, dass die Wiedergewinnung der Souveränität beginnen könne,1684 lässt sich nicht bestätigen. Der hierbei hergestellte Zusammenhang zwischen der Erkrankung Ostermanns und der Wiederherstellung der souveränen Macht Annas erschließt sich inhaltlich nicht.
Die erste öffentliche Audienz für die Gesandten Die Zarin gab nach ihrem Einzug eine öffentliche Audienz für die diplomatischen Vertreter. Tessin vermeldete darüber lediglich, dass er diese mit anderen Gesandten erhalten habe.1685 Sobald sein Kreditiv ankomme, werden Bonde und er um eine persönliche Audienz bitten, um zu erfahren, wie die Zarin gegenüber den holsteinischen Interessen eingestellt sei.1686 Mardefeld und Le Fort gingen detaillierter auf die erste Audienz aller Gesandten ein, die bei dieser Gelegenheit die Möglichkeit hatten, zur Thronannahme zu gratulieren. Die Zarin habe unter einem Baldachin gestanden, während die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates auf der rechten, die Damen auf der linken Seite standen. Sie seien durch den Oberzeremonienmeister eingeführt worden, und der Großkanzler habe im Namen der Zarin geantwortet, was der Sekretär Karl von Brevern (1704–1744)1687 dolmetschte, wie beide Schilderungen berichten.1688 Dies macht deutlich, dass die Sprachbarrieren zwischen den 1683 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 27.02.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 101r. 1684 Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 190 f. 1685 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 19.02./02.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 19.02./02.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1686 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 19.02./02.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 19.02./02.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin versandte Briefe an den holsteinischen Geheimratspräsidenten Stambke und an den Hofkanzler Stryk, die inhaltlich nur geringfügig voneinander abwichen. Fraktionen am holsteinischen Hof wie etwa am kursächsischen oder preußischen Hof lassen sich daraus nicht erkennen. 1687 Vgl. N.N.: Brevern, Karl von, in: Deutschbaltisches biographisches Lexikon. 1710–1960, hg. von Wilhelm Lenz, Köln 1970, S. 103, hier S. 103. 1688 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 77r. Le Fort an König August II., Moskau, 02.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 104r/v.
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diplomatischen Akteuren und dem russischen Hof bei Abwesenheit des polyglotten Heinrich Johann Friedrich Ostermann1689 nur durch wenige überwunden werden konnten. Mardefeld war auf seinen russischsprachigen Sekretär Johann Gotthilf Vockerodt (1693–1756)1690 angewiesen. Mehrsprachigkeit an den europäischen Höfen war zwar in vielen Bereichen gegeben,1691 aber bei weitem nicht alle Gesandten beherrschten die Sprache des Gastlandes. Nach der ersten Audienz lobte Le Fort Anna, da diese ausdrücklich erklärt habe, dass jeder die Freiheit habe, zu ihr an den Hof zu kommen. Zudem speise die Zarin öffentlich und spreche Einladungen dafür aus.1692 Auch Wratislaw lobte die Zarin nach ihrer ersten Audienz dafür, dass sie ihre Regierung trotz ihrer langen Reise aus Mitau, die sie für innere Angelegenheiten und zur Errichtung des Hofstaates genutzt habe, mit Fleiß und Ordnung begonnen habe.1693 Wratislaw habe sich vor seiner ersten Audienz zu früh im Vorzimmer eingefunden, in dem bereits alle bedeutenden russischen Adligen versammelt gewesen seien, von den Gesandten bis dahin jedoch allein der mecklenburgische und der blankenburgische.1694 Wratislaw sei zuerst vorgelassen und durch den Oberzeremonienmeister begleitet worden. Der Wirkliche Geheime Rat Stepanov sei ihm im Vorzimmer der Gemächer entgegengekommen, und Wratislaw, Hochholzer sowie Caramé seien der Zarin vorgestellt worden.1695 Diese symbolische Abfolge der einzelnen Schritte des Empfangs bei der Audienz entsprach den damaligen diplomatischen Gepflogenheiten des Empfangs eines kaiserlichen Gesandten.1696 Anna habe auf einer Stufe erhoben unter einem Baldachin gestanden, hinter ihr ein Lehnstuhl. Ihr Gesicht sei wegen der Trauer mit Flor bedeckt gewesen. Zu ihrer Rechten hätten die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates gestanden sowie drei Feldmarschälle, viele Ge1689 Vgl. Wagner, Ein Deutscher am Zarenhof, S. 32. 1690 Johann Gotthilf Vockerodt (1693–1756) studierte in Halle und Leipzig. Er kam als Hofmeister des schottischen Generalleutnants Bruce nach Russland, da dieser in russischen Diensten stand. 1718 kehrte er kurzzeitig nach Preußen zurück, um bereits im Juli 1718 als Sekretär des preußischen Gesandten in Russland, Gustav von Mardefeld, dorthin zurückzukehren. Gustav von Mardefeld hatte um den fließend russisch sprechenden Vockerodt gebeten. Weder Gustav von Mardefeld noch sein ihm nachfolgender Neffe Axel von Mardefeld waren des Russischen mächtig. Vockerodt sprach zudem französisch und italienisch. 1724 ernannte ihn König Friedrich Wilhelm I. zum Hofrat und Legationssekretär. Er verblieb mit wenigen zeitlichen Unterbrechungen bis zum Jahre 1737 in Russland. Seit 1750 war er Geheimer Kabinettsrat. Dazu ausführlicher siehe Krusche, Die Entstehung und Entwicklung der ständigen Vertretung Brandenburg-Preußens am Zarenhofe bis zum Eintritt Rußlands in die Reihe der europäischen Großmächte, S. 48 f. und S. 75–78. Mediger, Moskaus Weg nach Europa, S. 108 f. 1691 Vgl. Duindam, Vienna and Versailles, S. 21. 1692 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 02.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 104v. 1693 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 02.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 141r/v. 1694 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 06.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 149v. 1695 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 02.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 142r. 1696 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 293. Pečar, Symbolische Politik. Handlungsspielräume im politischen Umgang mit zeremoniellen Normen, S. 281 f.
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neräle und Minister, zur Linken hingegen die Hofdamen.1697 Die durch Mardefeld bereits benannten Sprachbarrieren überwand Wratislaw, indem er die Zarin auf Französisch ansprach, da Vasilij Lukič Dolgorukij französisch sprach, während offensichtlich niemand aus dem Rat des Deutschen mächtig gewesen sei.1698 Die kaiserlichen Gesandten sprachen gewöhnlich kein Russisch. Der ehemals am russischen Hof tätige Gesandte Stephan Kinsky, der in der Zwischenzeit kaiserlicher Gesandter in Versailles war, und Wratislaw kamen aus Böhmen. Daher waren sie zumindest mit einer slawischen Sprache vertraut.1699 Stephan Kinsky hatte aber ebenso wie Wratislaw beim Aufeinandertreffen mit russischen Adligen Dolmetscher zur Verfügung.1700 Auch die englischen Vertreter im 18. Jahrhundert in Russland verfügten nur im Ausnahmefall über russische Sprachkenntnisse.1701 Neben den Gratulationskomplimenten zum Regierungsantritt bat Wratislaw um die Verlängerung des Bündnisses mit dem Kaiser, was ihm die Zarin durch Vasilij Lukič Dolgorukij versichern ließ.1702 Wratislaw betonte, dass nach ihm der spanische, dänische, schwedische, polnische, preußische, mecklenburgische und blankenburgische Gesandte und die beiden holsteinischen Gesandten in dieser Reihenfolge zur Audienz vorgelassen wurden.1703 Die Vorrangstellung des Kaisers war somit durch die Reihenfolge der Audienzen zum Ausdruck gekommen.1704 Diese Darstellung zeigt, dass die rangniedrigeren diplomatischen Vertreter Frankreichs und Englands keine Audienz erhielten. Somit verfügten sie nicht über den Zugang zu Informationen aus erster Hand, was ihre Berichterstattung beeinträchtigte. Audienzen diplomatischer Vertreter waren sowohl für den Informationsaustausch als auch für Gunstbeweise wichtig und unterlagen einem Zeremoniell, das den Rang und die Würde des zu vertretenden Herrschers ausdrückte. Symbolische Gesten, Kleiderordnungen, Farben und Sitzordnungen spielten dabei zur Versinnbildlichung der Würde eine bedeutende Rolle.1705 Dies erklärt auch, warum Wratislaw immer wieder die Rivalität mit dem spanischen Gesandten betonte und die Interaktionen de Lirias mit dem russischen Hof genau beobachtete. De Liria habe im Gegensatz zu ihm lediglich ein kurzes Kompliment erhalten. Wratis-
1697 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 02.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 142r/v. 1698 Vgl. ebd., fol. 142v. 1699 Vgl. Steppan, Simvoličeskaja politika v epoche oživlenija avstro-russkich otnošenij, S. 131. 1700 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 175. Wenn ein kaiserlicher Gesandter und auch der Sekretär nicht russisch sprachen, konnten sie mitunter auf einen eigenen Dolmetscher zurückgreifen, was eine Besonderheit für kaiserliche Gesandtschaften darstellte, siehe Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 106. 1701 Vgl. Cross, By the Banks of the Neva, S. 57. 1702 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 02.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 143r/v. 1703 Vgl. ebd., fol. 143v. 1704 Vgl. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 208–210. 1705 Vgl. Duindam, Vienna and Versailles, S. 181–188. Olʹga Genievna Ageeva: Diplomatičeskij ceremonial imperatorskoj Rossii XVIII vek, Moskva 2012, S. 859–869. Pečar, Symbolische Politik. Handlungsspielräume im politischen Umgang mit zeremoniellen Normen, S. 280–282.
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law suchte umgehend alle Mitglieder des Obersten Geheimen Rates auf, um sich die Versicherungen der Zarin auch von diesen bestätigen zu lassen. Sobald diese Bestätigung erfolgt sei, werde er den Kurier Torresani über Berlin nach Wien schicken.1706 Trotz der Bestätigung der Allianz durch Anna schien es Wratislaw angesichts der unklaren Regierungsform notwendig, auch die Versicherungen des Rates einzuholen. Tessin wurde von Wratislaw aufgesucht, da dieser die Bereitstellung der militärischen Truppen zugesagt bekommen habe.1707 Wenige Tage später hieß es, dass sich der russische Hof sehr um Wratislaw bemühe, während de Liria beständig von seiner eigenen Abberufung spreche.1708 Auch Mardefelds erster Eindruck von der Zarin war positiv. Zudem berichtete er chiffriert, dass die Souveränität in ihren Händen liege, falls sie ihre Vorteile nutze, die sie aber bisher nicht ergriffen habe. Auch Mardefeld betonte, dass die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates die geschlossene Allianz mit Friedrich Wilhelm I. und Karl VI. fortführen werden und Anna persönlich den Befehl zur Absendung der 30.000 Soldaten unterschrieben habe.1709 Abermals chiffriert setzte Mardefeld eine Beurteilung über de Liria und Wratislaw hinzu: „Der Herzog von Liria versäumet keine Gelegenheit, die moskovitische Ministros auf die Spanische Seite zu bringen, und thuet ihnen zu dem ende grosse promessen, aber si[e] lachen nur darüber und sagen, dass da Spanien [diesem] Reich noch für eiserne Canonen Geld schuldig sey, dem Teutschen Kayser die Subsidien nicht bezahlet, ja selbst den Duc de Liria so viel restire und ihn in der brühe stecken lasse, man so wenig auf die Spanische pistolen als ihre Freundschafft rechnen könte.“1710
Aufgrund der langen Übertragungswege entnahm Wratislaw einer kaiserlichen Weisung vom 31. Januar erst zu diesem Zeitpunkt, dass sein Drängen auf die Bereitstellung der russischen Truppen auch nach den Veränderungen in Moskau weiterhin den Interessen des Kaisers entsprach. Die Ausstellung der schriftlichen Bestätigung habe sich verzögert, wie Wratislaw durch den Großkanzler erfahren habe, werde aber umgehend ausgestellt. Während Wratislaw auf eine erneute Audienz mit Anna drängte, baten die Mitglieder des Rates diesen um Geduld. Dass Vasilij Lukič Dolgorukij und andere Mitglieder des Obersten Geheimen Rates sich sehr distanziert zeigten, verwunderte ihn.1711 1706 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 02.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 143v–144v. 1707 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 19.02./02.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 19.02./02.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). 1708 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 23.02./06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1709 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 77v. 1710 Ebd., fol. 77v/78r (chiffriert). 1711 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 06.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 147r–149v.
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Zur gleichen Zeit behauptete der französische Chargé d’Affaires, der sich auf keine Audienz bei der Zarin berufen konnte, sondern nur auf die Informationen seiner Kollegen, dass der Wiener Hof seine Unterstützung durch Russland verlieren würde. Zu dieser Einschätzung kam Magnan, indem er die Macht Ostermanns, des unabdingbaren Unterstützers des Bündnisses, als stark geschwächt ansah. Auch nach der Genesung Ostermanns würden die alten russischen Geschlechter durch die erfolgreiche Umgestaltung der Regierungsform ihre Macht zurückgewinnen, und Ostermanns Ansehen würde schwinden. Vasilij Lukič Dolgorukij, der ehemalige Gesandte in Paris, habe bereits einige Aufgaben Ostermanns übernommen. Er werde derzeit zurate gezogen und habe Zimmer am Hof der Zarin erhalten. Die Regierungsform werde in wenigen Tagen feststehen und veröffentlicht werden.1712 Magnan war der Ansicht, dass der Wiener Hof vor dem gänzlichen Verlust seines Ansehens in Russland stünde und keinerlei russische Truppen erhalten würde. Das russisch-kaiserliche Bündnis würde nach der Etablierung der neuen Regierungsform zweifelsohne gelöst, und Frankreich könnte sogar mit einem Bündnis mit Russland rechnen, wenn es nur die russischen Eroberungen ehemals schwedischer Gebiete garantieren würde.1713 Diese offenkundigen Fehleinschätzungen zeigen, wie bedeutend der Zugang zur Zarin und zu anderen höfischen Akteuren war, um belastbare Informationen zu erhalten, die nicht nur den eigenen Vorstellungen entsprachen. Durch Annas symbolträchtigen Einzug in einer Wiener Paradekutsche und Audienzen sowie durch Gunstbezeugungen bei der Garde war es ihr bereits in den ersten Tagen gelungen, die Machverhältnisse durch symbolische Interaktionen und Gesten nach ihren Vorstellungen zu verschieben. Außenpolitisch setzte die neue Zarin ebenso wie der Oberste Geheime Rat auf Kontinuität. Dies manifestierte sich unter anderem in der Behandlung des kaiserlichen Gesandten. Bezüglich der Regierungsform zeigten sich jedoch bald Differenzen zwischen dem Rat und der Zarin.
Der Eid der Zarin und ihre Rolle bei der Machtbeschränkung Nach der Ankunft der Zarin vermerkte Magnan, dass diese die Widersprüche um die Regierungsform, die sich in der Ausarbeitung verschiedener Projekte manifestierten, nicht automatisch beenden würden. Die Gegensätze der Reformvorstellungen seien möglicherweise der Grund, warum deren Umsetzung scheitern und die Souveränität der Zarin fortbestehen könne, obwohl Versuche der Umsetzung unternommen würden und die Zarin Machtbeschränkungen unterschrieben habe.1714 Bonde ging bezüglich des russischen Regierungssystems davon aus, dass dieses scheitern werde. Dies war die mehrheitliche Meinung nicht näher genannter Personen am Hof, da der Hochadel seine Macht nicht teilen und den niederen Adel nicht an der Regierung beteiligen wolle. Daher werde es zu keiner Einigung kommen, und demnach habe die Zarin die Mög1712 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 06.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 87r/88r (chiffriert). 1713 Vgl. ebd., fol. 88v (chiffriert). 1714 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 27.02.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 81r (chiffriert).
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lichkeit, nach ihren Vorstellungen die zukünftige Herrschaft zu gestalten.1715 Auch der in Russland lange anwesende holsteinische Gesandte Bonde erkannte die Trennlinien des Adels nicht adäquat, wohingegen er die Bedeutung der Zarin für den Fortgang der Geschehnisse richtig einschätzte. Sein Kollege Tessin ersah aus den Weisungen Stryks, dass die Nachrichten über die innenpolitischen Veränderungen in Russland Kiel erreicht hatten, jedoch sei „beklagl.[ich], daß der weg so weit und die Nachrichten so alt werden, daß inzwischen tausend Sachen passiren, die höchst important und wohl eher der Instruction meritirten. Was vor eine unglückliche Catastrophe sich abermahlen alhier zugetragen, wird auß meinen vorigen relations genügsahm bekant sein.“ 1716
Tessin beklagte demnach in dieser unklaren Situation den Leidensdruck, der dadurch entstand, dass er auf aktuellen Nachrichten warten musste. Auch Le Fort wiederholte, es gebe bezüglich der Regierungsform konträre Beurteilungen.1717 Der Feldmarschall Dolgorukij habe der Preobraženskij-Garde vorgeschlagen, den Treueeid sowohl auf die Zarin als auch auf den Obersten Geheimen Rat abzulegen. Die Gardisten hätten ihm geantwortet, ihm alle Knochen zu brechen, sollte er ihnen dies abermals vorschlagen. Daraufhin wäre der Eid verändert worden.1718 Le Fort sandte den am 1. März in Moskau gedruckten Eid im russischen Original und in deutscher Übersetzung nach Dresden.1719 Nach dem Einzug Annas hatten die Verchovniki bereits am 1. März einen Eid fertiggestellt, den die Untertanen auf Anna ablegen sollten.1720 Die bisher übliche Bezeichnung Selbstherrscherin fand sich darin nicht; auch sollte nicht, wie in der Vergangenheit, eine alleinige Unterordnung unter die Zarin erfolgen, sondern ebenso unter den Staat („gosudarstvo“). Die Eidablegung wurde ab dem 3. März begonnen und vorangetrieben. Offenbar gab es Einwände gegen den Eid, denen der Rat aber frühzeitig entgegentrat, weswegen er für die verän-
1715 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 16.02.1730 a.St. [27.02.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung (chiffriert). Die Relation ist auf Schwedisch verfasst und beinhaltet einzelne auf Russisch verfasste Stellen. Die dechiffrierten Stellen sind jedoch auf Deutsch verfasst. Der Inhalt ist inhaltlich so weit erschlossen, wie es dem Autor möglich war. Eine umfassende Erschließung konnte aufgrund mangelnder Schwedisch-Kenntnisse leider nicht vorgenommen werden. 1716 Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 19.02./02.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1717 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 02.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 105r. Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 06.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 112r (chiffriert). 1718 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 06.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 110v (chiffriert). 1719 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), 1. Beilage, Moskau, 06.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 114r/115r. 1720 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 58 f. Forma prisjagi „velikoj gosudar yne imperatrice Anna Ioannovne i gosudarstvu“ (18.02.1730Jul), in: ebd., S. 139 f.
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derte Eidesformel eine Zustimmung des Senates einholte.1721 Den Eid ließ der Oberste Geheime Rat ab dem 3. März veröffentlichen. Dieser wurde zwischen dem 3. und 9. März 1730 bereits von 50.775 Personen unterschiedlichen Rangs geleistet. Davon gehörten 2.364 Personen der besitzenden Adelsklasse an oder waren Personen, die zum Hof zählten. Darunter befanden sich auch mehrere tausend Gardisten, unter anderem der Preobraženskij Garde.1722 Noch am 27. Februar betonte Wratislaw, dass die Zarin über die innenpolitische Lage zweideutig spreche.1723 Chiffriert vermeldete er, es sei gleich, welche Seite die Oberhand gewinne, da die Befürworter der Machtbeschränkung nicht einfach nachgeben würden.1724 Wratislaw betonte, dass die innenpolitischen Angelegenheiten noch nicht geklärt seien, er nach derzeitigem Stand aber mit einem friedlichen Ende rechne, da sich das Militär mit dem zu leistenden Treueeid viel abringen lasse. Bei dieser Einschätzung ging Wratislaw davon aus, dass die Zarin in erteilten Befehlen immer als Selbstherrscherin tituliert worden wäre.1725 Dies musste Wratislaw in seiner folgenden Relation widerrufen. Der seit drei Tagen durch den geistlichen, den militärischen und zivilen Stand in dazu ausgewiesenen Kirchen abzulegende Treueeid weise im Vergleich zu dem Eid unter Peter II. Unterschiede auf. Diese ließen sich nicht auf den ersten Blick erkennen, so die Rechtfertigung Wratislaws. Wratislaw sandte den Treueeid nach Wien, damit der Kaiser selbst die Veränderungen bewerten konnte.1726 Mardefeld befasste sich in seiner Relation vom 6. März ausführlich mit der geplanten Souveränitätsbeschränkung der Zarin und der Frage, wie aussichtsreich diese noch umgesetzt werden könne. Die gegenüber der Zarin geleistete Eidesformel, die viele Geistliche und weltliche Personen bereits beschworen hätten, werde von vielen kritisiert, da die darin aufgenommenen Formulierungen zweideutig seien, der Titel der Zarin darin nicht enthalten und es unklar sei, auf wen der Eid geleistet werde. Mardefeld bezog sich auf einen ungenannten Offizier, der ungeachtet der bereits geleisteten Eide „denen Herren des Hohen Conseils die Köpfe auf dem Marckt abschlagen“ würde, falls es die Zarin befehle.1727 Wenn Ostermann nur imstande wäre, die Zarin zu beraten, wäre die Zarin in weniger als acht Tagen bereits wieder souverän, so die Einschätzungen. Laut den Mardefeld vorliegenden Nachrichten werde sich die Zarin bis zur Krönung zurückhalten und danach versuchen, die Macht zurückzugewinnen.
1721 Vgl. ebd., S. 97. 1722 Vgl. ebd., S. 97. 1723 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 27.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, 194r. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 185. 1724 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 27.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 194v (chiffriert). 1725 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 02.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 144v und 140r. 1726 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 06.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 140v. 1727 Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 06.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 87r (chiffriert).
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Es spreche viel dafür, dass die Zarin die derzeitige Uneinigkeit nutzen werde.1728 Diese Einschätzung Mardefelds wird grundsätzlich als Zeichen der Unzufriedenheit des Adels und des Stimmungsumschwungs gewertet.1729 Mardefeld erbat bei Friedrich Wilhelm I. zu erfahren, welche Regierungsform in Russland für die preußischen Interessen am zweckdienlichsten sei. Er erbat sich zudem Anweisungen, wie er sich in dem jeweiligen Fall zu verhalten habe. Er vermutete, dass die Beibehaltung der Souveränität dem preußischen König am liebsten wäre, für zukünftige Zeiten aber eine Republik Russland auch nicht schaden könne, da dieses Land dann nicht mehr so gefährlich sei. Positiv sei derzeit, dass Persien militärisch gegen das Osmanische Reich obsiegt habe.1730 Mardefeld versuchte damit, die Beschränkung der Souveränität mittelfristig positiv zu deuten, da sie den außenpolitischen Handlungsspielraum der Zarin einschränken und sie mithin schwächen würde.1731 Auch Magnan berichtete, dass derzeit alle Untertanen dabei seien, den Eid der Treue zu schwören. Die Unterschiede des Eides gegenüber dem Peters II. könne Chauvelin an der eingeschickten Eidesformel selbst ersehen.1732 Auch der holsteinische Gesandte Tessin berichtete über die Ablegung des Eids auf Anna durch die Generalität und den Adel, der in einer großen Kirche stattgefunden habe. Auch er sah es als notwendig an, die Eidesformel zu übermitteln.1733 J.C.D. Ostermann berichtete erst retroperspektiv über den Eid auf Anna, der keinen Hinweis auf ihre autokratische Macht enthalte. Er sandte diesen Eid zwar an seinen Herzog, jedoch erst, als der ursprüngliche Eid bereits nach der Wiedergewinnung der Souveränität Annas überarbeitet worden war.1734 Den englischen diplomatischen Vertretern entging entweder die Ableistung der verschiedenen Treueeide, oder sie hielten diese Ereignisse nicht für berichtenswert. 1728 Vgl. ebd., 87v (chiffriert). 1729 Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 193. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 205 f. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 97 f. 1730 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 06.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 87v/88r. 1731 Vgl. dazu die Meinungen der auswärtigen Gesandten zur Politik der Schweizer Eidgenossenschaft. Durch die besondere politische Verfasstheit der Schweiz galt es, eine Vielzahl von Personen zu gewinnen und daher als überaus schwierig, Verhandlungen geheim zu halten. Damit charakterisierten auswärtige Gesandten die eidgenössische Politik teilweise als unbeständig und unberechenbar, siehe Windler, Diplomatie als Erfahrung fremder politischer Kulturen. Gesandte von Monarchen in den eidgenössischen Orten, S. 23–31. 1732 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 06.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 88r/v (chiffriert). Magnan überlieferte die ins Französische übersetzte Eidesformel Peters II., siehe Magnan an Chauvelin (Beilage), Moskau, 06.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 93r. 1733 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 23.02./06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 23.02./06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Der Eid befindet sich als Beilage in den Archivalien, siehe. Tessin an Hofkanzler Stryk (Beilage), Moskau, 23.02./06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1734 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold (Beilage), Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 281v.
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Der Mehrheit der Diplomaten war es jedoch gelungen, die Veränderung der Eidesformel zu erkennen und diese zu übermitteln. Dass dies auch auf den kaiserlichen, den mecklenburgischen und die holsteinischen Gesandten zutraf, war bisher in der Forschung nicht bekannt.1735 An der Formulierung der Eidesformel konnten die Diplomaten ablesen, wie es um die Souveränität der Zarin stand. Die vielfach ausgeführten Vermutungen, wer Gegner beziehungsweise Befürworter der Machtbeschränkung war, wurden durch die Gesandten zumeist auf Grundlage von Unkenntnis der wirklichen Lage und den vielen sich verbreitenden Gerüchten getroffen. Die meisten Aussagen der diplomatischen Vertreter sind in diesem Punkt unzutreffend, spekulativ beziehungsweise von eigenen Vorstellungen geprägt. Dass die Konfliktlinien innerhalb des russländischen Adels zwischen hohem und niederem Adel verliefen, wurde beständig wiederholt, ist aber unzutreffend. Der für die Höfe Europas bedeutende Aspekt war, ob sich Anna gegen die divergierenden Forderungen bezüglich der Machtbeschränkung durchsetzen werde. Mit der Ankunft Annas und ihren ersten Amtshandlungen entstand ein Treuegefühl der Untertanen, da die Zarin im Gegensatz zum Obersten Geheimen Rat als ein lebendes Symbol der staatlichen Herrlichkeit angesehen wurde.1736 Dies erkannten und erhofften mitunter auch die Gesandten. Die Mehrheit der Eidleistenden war nicht zur Veränderung des Regierungssystems bereit, sondern sprach sich zweifellos für Anna als Selbstherrscherin aus. Daher blieben den Gegnern der Machtbeschränkung nur noch wenige Tage.1737 Die Gesandten deuteten übereinstimmend richtig, dass die Uneinigkeit über die Regierungsform der Zarin in die Hände spielen werde. Die meisten Gesandten, wie beispielsweise Le Fort und Mardefeld, schätzten demnach auch sehr wohl treffend ein, dass der Eid ein Zeichen war, dass der Oberste Geheime Rat die feste Absicht verfolgte, die Veränderung der Regierungsform gegen wachsende Widersprüche umzusetzen.1738
6.2 Die Wahrnehmung Annas in der europäischen Fürstengemeinschaft Die zugesicherten Bündnisse Die Weisungen der europäischen Höfe an ihre diplomatischen Vertreter als Reaktion auf die Vorgänge in Moskau in dieser Zeitperiode waren überschaubar: Der sächsisch-polnische, der preußische, der kaiserliche, der mecklenburgische Gesandte und der Chargé d’Affaires Magnan erhielten keine neuen Weisungen. Da die ablehnenden Haltungen gegenüber der Einschränkung der Souveränität und die Bedeutung der Bündnisverlängerung durch Friedrich Wilhelm I. und Karl VI. bereits erteilt waren, war die ab1735 1736 1737 1738
Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 97. Vgl. ebd., S. 96. Vgl. ebd., S. 97 f. Vgl. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 205 f. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 97 f.
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6. Annas Ankunft in Moskau – Kommunikation ohne Worte?
wartende Haltung der Herrscher nachvollziehbar. Die englischen diplomatischen Vertreter erhielten abermals keine Weisung aus London. Eine Ausnahme bildete der Kieler Hof, der umgehend auf alle eingesandten Berichte Weisungen erteilte. Dies unterstreicht abermals die Bedeutung Russlands für das kleine Herzogtum. Dabei ging der holsteinische Herzog jedoch auf keine symbolischen Gesten der Zarin ein, sondern zeigte sich erfreut, dass sich die Zarin nach Karl Peter Ulrich erkundigt habe, ohne die Ordensverleihungen an die junge Herzogin von Mecklenburg auch nur zu erwähnen. Seine Gesandten wies er an, die Zarin für sich zu gewinnen. Hingegen beunruhigte ihn der sich verschlimmernde Gesundheitszustand Ostermanns. Der Herzog wünsche sich „von Hertzen“1739 bald bessere Nachrichten, da Ostermann nicht nur über umfassende Erfahrung in der Außenpolitik verfüge, sondern auch aufgrund seines Wohlwollens gegenüber den holsteinischen Interessen schwer zu ersetzen sei.1740 Der Hofkanzler Stryk habe nur mehrdeutige Informationen darüber, ob die Konflikte zwischen den Alliierten von Sevilla und dem Kaiser zum Krieg führen würden. Dies erfahre Tessin jedoch durch direkte Briefe von Bassewitz aus Paris. Frankreich strebe nach Aussage des Kieler Hofs eine friedliche Einigung an, da die Operationen gegen den Kaiser mehr Schwierigkeiten erzeugten, als zu Beginn vermutet worden sei. Die Nachrichten aus Frankreich darüber seien zwiespältig.1741 Drei Tage später ließ der Kieler Hof Tessin wissen, dass es erneut unklar sei, ob es Krieg oder Frieden gebe. Kiel könne in dieser Situation nur abwarten, was die großen Mächte beschließen würden.1742 Diese Ausdrucksweise verdeutlicht, dass sich Holstein seiner untergeordneten Lage im Mächtegefüge Europas durchaus bewusst war.
Die Frage nach Krieg und Frieden in Wien, London und Berlin Die Bedeutung Russlands für Holstein geht auch daraus hervor, dass in Wien nur der holsteinische Gesandte Kettenburg überhaupt ausführlicher auf die Lage in Russland einging und darüber mit seinem Hof korrespondierte. Dies mag auch dadurch begründet sein, dass die Veränderungen in Russland für ihn persönliche Auswirkungen in Form von Gehaltskürzungen hatten. Als Reaktion auf die Weisungen aus Kiel zeigte sich Kettenburg erfreut über die viel versprechenden Aussagen des Feldmarschalls Golicyn gegenüber Bonde bezüglich Karl Peter Ulrich, die erst mit Verzögerung in Wien eintrafen. Kettenburg begrüßte ebenso ausdrücklich, dass der Kieler Hof in Einklang mit dem kaiserlichen Hof Anna als legitime Zarin anerkenne.1743 Die entscheidende Frage der übrigen diplomatischen Vertreter am Wiener Hof war, ob es Krieg oder Frieden in Europa geben werde. Die Berichterstattung über den Einzug der Zarin fand dabei keine Berücksichtigung. Ob es zum Krieg komme, sei Kettenburg derzeit noch un1739 1740 1741 1742 1743
Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 23.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Vgl. ebd. Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 27.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 30.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Vgl. Kettenburg an Hofkanzler Stryk, Wien, 22.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung.
Die Wahrnehmung Annas in der europäischen Fürstengemeinschaft
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klar.1744 Der sächsisch-polnische Gesandte in Wien, Wackerbarth-Salmour, berichtete hauptsächlich über die Spannungen zwischen dem Kaiserhaus und den Alliierten von Sevilla1745 und ging ebenso wenig auf Russland ein wie der englische und französische Vertreter in Wien. Für sie waren die militärischen Kriegsvorbereitungen des Kaisers wichtig.1746 Waldegrave teilte mit, dass die kaiserlichen Truppen in Italien ohne bedeutende Verluste angekommen seien, jedoch hätten die Pferde unter starken Regenfällen und schlechten Straßen zu leiden, wobei der preußische König 700 Pferde an den Kaiser geschickt habe.1747 Stellungnahmen zu Verzögerungen der Truppenverlegungen und Hinweise zu Spannungen aufgrund von Einquartierungen oder Nahrungsversorgungen finden sich vielfach in den untersuchten Gesandtschaftsberichten. Ob sie allein dazu dienten, die militärische Stärke des Kaisers in Zweifel zu ziehen, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Diese Zusammenhänge können für die moderne Militärgeschichte aber überaus aufschlussreich sein.1748 Prinz Eugen trete Gerüchten unbekannten Ursprungs entgegen, die der preußische König vernommen habe, dass Kaiser Karl VI. mit Frankreich und seinen Verbündeten verhandelt habe. Dies würde der Kaiser niemals ohne Absprachen mit Friedrich Wilhelm I. tun.1749 Der Kaiser wolle zudem auf dem Reichstag durchsetzen, dass das Herzogtum Mecklenburg-Schwerin von den Lasten der Kommission befreit werde. Dem würden sich Hannover und Wolfenbüttel aus Eigeninteressen entgegenstellen.1750 Auch aus der Relation des kaiserlichen Gesandten Philipp Kinsky in London gehen keine Informationen über Russland hervor. Er berichtete von Konflikten zwischen Townshend und Walpole.1751 Diese Streitigkeiten waren der außenpolitischen Ausrichtung Englands gegenüber dem Kaiser beziehungsweise Frankreich geschuldet.1752 Laut Kinsky sei den englischen Ministern daran gelegen, den preußischen König durch die Heirat des Kronprinzen mit einer englischen Prinzessin an einem Eintritt in einen möglichen Krieg zu hindern. Die englischen Minister planten zwar keinen Krieg, könnten den Vertrag von Sevilla wegen Frankreich aber nicht lösen.1753 Auf die Forderung des Kaisers, dass Kinsky die pro-kaiserlichen Personen am 1744 Vgl. Kettenburg an Hofkanzler Stryk, Wien, 29.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 1745 Vgl. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 22.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 87v/88r. 1746 Vgl. De Bussy an Chauvelin, Wien, 22.03.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 261r. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 22.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 23r/v. 1747 Vgl. ebd. 1748 Zur Neubetrachtung von Militärgeschichte und deren Neuausrichtung siehe Ralf Pröve: Vom Schmuddelkind zur anerkannten Subdisziplin? Die „neue Militärgeschichte“ der Frühen Neuzeit. Perspektiven, Entwicklungen, Probleme, in: GWU 51, 2000, S. 597–612. 1749 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 22.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 23v/24r. 1750 Vgl. ebd., fol. 24v/25v (chiffriert). 1751 Vgl. Philipp Kinsky an Kaiser Karl VI., London, 31.03.1730, HHStA Wien, England, Karton 67, Konvolut 2, fol. 41v. 1752 Black tritt für eine stärkere Differenzierung der Beurteilung des Verhältnisses zwischen Walpole und Townshend ein: Black, The Collapse of the Anglo-French Alliance 1727–1731, S. 11–13. ebd., S. 147–162. 1753 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk (Beilage), Moskau, 16.02/27.02.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, fol. 41r.
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6. Annas Ankunft in Moskau – Kommunikation ohne Worte?
englischen Hof namentlich benenne, könne er nicht eingehen. Er rechtfertigte sich gegenüber dem Kaiser wie folgt: „Daß ich in meiner vorigen allerunterthänigsten Relation die nahmen derer so mit mir correspondiren nicht einfließen laßen, ist nicht aus einer nachläßigkeit geschehen, sondern vielmehr aus dem ihnen gegebenen Wort, da Sie sich mit mir auf andere weiß nicht auslaßen wollen […]“1754
Demnach habe Kinsky die Namen nicht aufgrund von Nachlässigkeit verschwiegen, sondern weil deren Geheimhaltung die Bedingung für das Gespräch mit ihm war. Somit seien sie vor Verrat geschützt und könnten nicht in Gefahr geraten, ihre Ämter zu verlieren. Zudem seien ihre Namen an ausländischen Höfen unbekannt. Wenn Kinsky dem Kaiser die Namen mitteile, bestehe die Gefahr, dass sie der englische Gesandte in Wien, Waldegrave, herausfinden könne.1755 In den Weisungen an Philipp Kinsky ging der Kaiser nicht auf die Lage in Russland ein.1756 Die Aufmerksamkeit des Wiener Hofs galt den Absichten der Alliierten von Sevilla. Die kaiserlichen Gesandten in Frankreich, England und Holland erhielten die Anweisung, sich den spanischen Forderungen zu widersetzen, auch wenn der Kaiser eine friedliche Lösung bevorzuge. Ein Nachgeben gegenüber den Alliierten von Sevilla, insbesondere gegenüber Spanien und Frankreich, würde das Gleichgewicht Europas stören, so die Argumentation des Kaisers.1757 In Paris thematisierte der kaiserliche Gesandte Stefan Kinsky Russland nur insoweit, als dass Russland seine Bündnisse verlängere und die dem Kaiser zugesagten 30.000 Soldaten bereits marschbereit seien. Dies habe der in Paris anwesende preußische Minister auf Befehl Friedrich Wilhelms I. dort verkündet, wie ihm der russische Gesandte Golovkin mitteilte, der diese Nachricht sofort bestätigte.1758 Aus diesen Darstellungen lässt sich schließen, dass der russische Gesandte Golovkin mit dem kaiserlichen Gesandten in Paris zusammenarbeitete. Diese bündnispolitische Zusicherung von Seiten Russlands war notwendig, da Kinsky nach einer Konferenz mit Kardinal Fleury dem Kaiser chiffriert mitteilte, Spanien erhöhe den Druck auf seine alliierten Partner. Alle Gesandten der Alliierten von Sevilla hätten zudem eine gemeinsame Besprechung über die außenpolitische Lage abgehalten.1759 In Berlin war der kaiserliche Gesandte Seckendorff in seiner offiziellen Korrespondenz 1754 Philipp Kinsky an Kaiser Karl VI., London, 31.03.1730, HHStA Wien, England, Karton 67, Konvolut 2, fol. 40r. 1755 Vgl. Philipp Kinsky an Kaiser Karl VI., London, 31.03.1730, HHStA Wien, England, Karton 67, Konvolut 2, fol. 40r/v. 1756 Vgl. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 29.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 22r-21r. 1757 Vgl. ebd., fol. 22r/23v. 1758 Vgl. Stephan Kinsky / Fonseca an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Paris, 23.03.1730, HHStA Wien, Frankreich, Karton 37, Konvolut XII, fol. 164v/165v (teilweise chiffriert). 1759 Vgl. ebd., fol. 162r-163r (teilweise chiffriert).
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ausschließlich mit der Frage beschäftigt, ob der eigene Kollege Waldstein oder König August II. Seckendorff bei Hoym in Verruf gebracht hatte. Dies quälte Seckendorff, da es die Verlässlichkeit des Königs in Zweifel ziehen konnte. Hoym werde versuchen, die Absendung von 12.000 Soldaten des polnischen Königs an den Kaiser zu verhindern.1760 Wie bereits angedeutet, sollten sich die Befürchtungen Seckendorffs bezüglich des Verhaltens des kaiserlichen Gesandten Waldstein bewahrheiten. Dass es Prinz Eugen nicht gelang, Waldstein trotz der seit 1729 anhaltenden Klagen Seckendorffs als kaiserlichen Gesandten abzuberufen, zeigt, dass er sich in dieser Sache nicht gegen den kaiserlichen Hofkanzler Sinzendorf durchsetzen konnte.1761 Die Protektion Waldsteins erfolgte gegen den Willen Kaiser Karls VI. nicht nur durch seinen Hofkanzler Sinzendorf, sondern – wie Seckendorff vermutete – auch durch die Kaiserinwitwe Amalia Wilhelmina. Durch ihre schützende Hand und die Rücksichtnahme Karls VI. auf die familiäre Beziehung konnte Waldstein ungestört gegen den einflussreichen kaiserlichen Gesandten Seckendorff agieren, was der ohnehin stark bedrohten Stellung Manteuffels letztendlich die Unterstützung entzog.1762 Während in der offiziellen Korrespondenz Seckendorffs Bezüge zu Russland fehlen, griff er die Ereignisse in Moskau in seiner geheimen Korrespondenz mit Prinz Eugen vielfältig auf. Eugen erteilte am 22. März eine ausführliche Weisung an den kaiserlichen Gesandten, wobei er kurz auf die Ereignisse in Moskau einging. Die Lage in Moskau sei unklar, wobei sicher sei, dass der Oberste Geheime Rat sowie im Besonderen der Fürst Golicyn und der Feldmarschall Dolgorukij versicherten, dass die zugesagten 30.000 Soldaten für den Kaiser bereit stünden. Dass auch der in Berlin anwesende russische Gesandte Golicyn dies bestätige, werde einen guten Einfluss auf den preußischen König haben, so die Schlussfolgerung Eugens.1763 Am 23. März 1730 thematisierte Seckendorff die russischen Ereignisse abermals. Der polnische König habe Manteuffel befohlen, Seckendorff über die Ereignisse in Moskau in Kenntnis zu setzen. Darin sah Seckendorff eine bündnispolitische Annährung des polnischen Königs an den Kaiser. Aus dieser Mitteilung gehe hervor, dass der kaiserliche Hof vertrauliche Mitteilung erhalten habe, der Kaiser benötige einen anderen Gesandten als Wratislaw in Moskau, um das kaiserlich-russische Bündnis zu bewahren. Der kaiserliche Gesandte Wratislaw werde als „guter ehrl.[icher] Kerl, aber gar zu leichtgläubig“ kritisiert, ebenso wie der preußische Gesandte Mardefeld. Es sei besonders problematisch, wenn der Kaiser auf der Grundlage der Relation Wratislaws Entscheidungen träfe, so die Einschätzung Manteuffels.1764 Durch die Weitergabe des Berichts Le Forts erreichten dessen Zweifel am Erfolg der
1760 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Berlin, 21.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 68r–70v. 1761 Vgl. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 49 f. 1762 Vgl. ebd., S. 71–84, insbesondere S. 82 f. 1763 Vgl. Prinz Eugen an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 22.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 186r/v. 1764 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 23.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 52v/53r.
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6. Annas Ankunft in Moskau – Kommunikation ohne Worte?
Verhandlungen Wratislaws auch den Kaiser. Dies belegt einmal mehr, dass wichtige Informationen unter den Gesandten weitergeben wurden. Manteuffels Ziel, den Kaiser vor der Nachlässigkeit seiner Gesandten zu warnen, war der Absicht geschuldet, die kaiserlichen Interessen zu stärken. Dadurch aber, dass sich die Einschätzung Le Forts, auf der Manteuffel seine Bewertung traf, als falsch erwies, gefährdete er ungewollt das Bündnis zwischen Russland und dem Kaiser. Seckendorff teilte die Einschätzung Manteuffels nicht, denn er habe Manteuffel im Vertrauen die Relation Wratislaws zukommen lassen, in der er auf die schriftliche Ausfertigung der Absendung der russischen Hilfstruppen hoffe. Diese Nachrichten seien nicht chiffriert, aber durch eine Stafette versandt worden. In der derzeitigen Lage könne er besonders die Korrespondenz mit dem Dresdner Hof keinesfalls mit der regulären Post versenden. Die kaiserliche Hofkammer werde sich über die hohen Kosten der Versendung der Stafetten beschweren, wie Seckendorff vorwegnahm.1765 Trotzdem nutzte er ausschließlich gesicherte Postwege und eigene Kuriere zur Übermittlung dieser brisanten Nachrichten, was hohe Kosten nach sich zog.1766 Für diese Ausgaben kam Kaiser Karl VI. mit seinem privaten Vermögen auf.1767 Die Bedeutung der Prüfung der Information Manteuffels und ihre Korrektur zeigen, welche Relevanz die Meldungen über die militärische Unterstützung für den Kaiser hatten. Seckendorff bestärkte die Einschätzung Wratislaws dadurch, dass er gegenüber Manteuffel hinzufügte, auch der russische Gesandte Golicyn in Berlin habe sich wie Wratislaw geäußert. Indem Seckendorff demnach die ihm zugesandten Informationen prüfte, konnte er nicht nur falsche Informationen Le Forts aufdecken, sondern auch wiederum Manteuffel seine Sichtweise vermitteln. Einem weiteren Bericht legte Seckendorff chiffriert, aber ohne weiteren Kommentar, ein Reformprojekt des russischen Adels und der Generalität bei.1768 Demnach war die Ausgestaltung der Macht in Russland wichtig genug, sie schnell, wenn auch ohne Kommentar, weiterzuleiten.
Die kaiserliche Kutsche erregt Aufmerksamkeit Während der kaiserliche Gesandte in Warschau, Wilczek, in seiner offiziellen Korrespondenz mit dem Kaiser und Prinz Eugen im März 1730 ebenfalls nicht über die Ereignisse in Moskau berichtete,1769 ist seine Geheimkorrespondenz besonders aufschlussreich. Besonders die 1765 Vgl. ebd., fol. 53r. 1766 Vgl. Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen, S. 28. Pretsch, Graf Mant euffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736, S. 38 f. 1767 Vgl. Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen, S. 31 f. 1768 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 24.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 190v (chiffriert). Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen (Beilage aus Moskau undatiert), Berlin, 24.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 110b, fol. 192r/v 1769 Vgl. Wilczek an Kaiser Karl VI., Warschau, 25.03.1730, HHStA Wien, Polen, Karton 5,
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Beilagen der Korrespondenzen zeichnen ein facettenreiches Bild. Bedeutend an dem vertraulichen Briefwechsel Eugens mit Wilczek ist in diesem Fall, dass abermals Berichte des kaiserlichen Sekretärs Caramé überliefert wurden. Auch wenn Caramé mitunter mit Prinz Eugen in direktem brieflichem Kontakt stand,1770 lässt sich nur durch weitere vertiefte Quellenstudien ermitteln, ob Caramé regelmäßig auch mit anderen Sekretären korrespondierte. Die Überlieferung kollegialer Korrespondenzen, insbesondere von niederrangigen Sekretären, erscheint anhand der für diese Arbeit gesichteten Quellengrundlage als gering. Die Erschließung der Korrespondenzen zwischen den diplomatischen Vertretern ist aber weitaus komplexer, da diese nicht systematisch archiviert wurden wie Korrespondenzen zwischen dem Herrscher und dem Gesandten und vice versa. Sie sind lediglich als Beilagen in den Archiven zu finden. Zum anderen zeigt dieser Schriftverkehr, dass die Hierarchie zwischen den einzelnen Rangstufen der diplomatischen Akteure weitgehend gewahrt blieb. Caramé schrieb als Sekretär nicht an den kaiserlichen Gesandten in Warschau, sondern an den dort ebenfalls anwesenden Residenten. Am folgenden Posttag, dem 29. März 1730, versandt Wilczek an Prinz Eugen abermals ein Schreiben des kaiserlichen Sekretärs Caramé als Beilage,1771 worin Caramé detailliert auf den öffentlichen Einzug der neuen Zarin einging.1772 Entgegen allen anderen Gesandten in Moskau vermeldete Caramé, dass acht Hofdamen an dem öffentlichen Einzug teilnahmen. Diese hätten ebenso wie Anna in einem vom Kaiser als Geschenk an Peter II. überreichten Wagen gesessen. Er betonte, dass diese kaiserliche Paradekarosse, in der Anna eingefahren sei, dem Einzug das größte Ansehen gegeben habe.1773 Warum Caramé von zwei Kutschen des Kaisers berichtete, kann nicht abschließend geklärt werden. Wichtig an dieser Darstellung ist, dass der kaiserliche Sekretär diese Symbolik nicht nur verbreitete, sondern offenbar betonte. Das kaiserliche Geschenk war von der Zarin ein bewusst gewähltes Symbol, um einer europäischen höfischen Öffentlichkeit die politische Botschaft der Bündniswahrung mit dem Kaiser bereits bei ihrem Einzug zu vermitteln.1774 Auch die Symbolik, dass sich Anna zum Oberst der Leibgarde, zum Kapitän der Reitergarde und zum Hauptmann der Bombardierskompanie erklärte,1775 verstand Caramé als Machtdemonstration der Zarin gegen den Obersten Geheimen Rat. Er betitelte Anna als „Souveraine“, die mit blauem Ordensband
1770 1771 1772 1773 1774 1775
fol. 91r–98v. Wilczek an Prinz Eugen, Warschau, 29.03.1730, HHStA Wien, Polen, Karton 5, fol. 94r–97v. Vgl. Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 261 f. Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Warschau, 29.03.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 111v. Vgl. Caramé an Kinner, Moskau, ohne Datum, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 112r/v. Vgl. ebd. Vgl. dazu auf theoretischer Ebene Falcke, Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgisch-preußischen Hof im 17. und 18. Jahrhundert, S. 293–306. Vgl. Caramé an Kinner, Moskau, ohne Datum, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 112v/113r.
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6. Annas Ankunft in Moskau – Kommunikation ohne Worte?
erschienen sei, das ihr der Großkanzler verliehen habe.1776 Dies belegt einmal mehr Annas Geschick, symbolisch ihre politischen Überzeugungen ohne sprachliche Mittel zu kommunizieren. Die Adressaten des zeremoniell geregelten Einzugs der Zarin werden hierbei noch einmal ganz deutlich: Die Symbolik des Einzugs in der Wiener Kutsche war in erster Linie an die europäische Fürstengemeinschaft gerichtet.1777 Caramé war überzeugt, dass sich bald klären werde, ob es zu Veränderungen der Regierungsform komme und was aus Jagužinskij werde. Unruhen würden nicht entstehen.1778 Daraus wird deutlich, dass die symbolische Geste Annas weithin verstanden wurde und das kulturelle Bezugssystem sowohl von den diplomatischen Vertretern am russischen Hof als auch an anderen europäischen Höfen rezipiert werden konnte. Die Vermittlung symbolischer Botschaften innerhalb diplomatischer Netzwerke war offenbar eine Selbstverständlichkeit. Auch die erste Audienz bei der Zarin beschrieb der kaiserliche Sekretär so ausführlich wie zuvor Wratislaw gegenüber dem Kaiser: Anna habe erhoben unter einem Baldachin gestanden, die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates und die Feldmarschälle und die Generalität zur Rechten, die Damen zur Linken. Innerhalb des Hofstaats Annas werde es noch zu Veränderungen kommen. Um die Interessen des Kaisers stehe es gut, denn das Bündnis und die militärische Unterstützung seien abermals bestätigt worden. Da diese Nachrichten bereits als verlässlich anzusehen seien, werde er diese in Kürze per Kurier nach Wien vermelden.1779 Die kaiserlichen Vertreter nahmen Anna als Zarin wahr, die der kaiserlich-russischen Allianz von Beginn an viel Bedeutung beimaß.
6.3 Fazit Anna trat noch vor ihrem öffentlichen Einzug in Moskau in Kommunikation mit den russischen Adligen und mit den Gesandten. Die Diplomaten transportierten die symbolischen Handlungen an ihre Höfe, wodurch sie der europäischen Fürstengemeinschaft bekannt wurden. Sinnbildlich hierfür ist der öffentliche Einzug Annas in einer Wiener Paradekutsche, die ursprünglich zum Bündnisschluss 1726 als Geschenk des Kaisers nach Russland gebracht worden war. Diese symbolische Bestätigung der Allianz mit dem Kaiser erfolgte in Übereinstimmung mit den vorherigen Versicherungen des Obersten Geheimen Rates gegenüber Wratislaw. Somit stärkte Anna die politische Ordnung, indem sie die bisherigen Bündnisse umgehend bestätigte. Die diplomatischen Vertreter der Allianz von Sevilla in Moskau berichteten nichts über Annas symbolischen Einzug in Moskau. Durch die Rangfolge der Gesandten bei der Erstaudienz wurde dem kaiserlichen Vertreter die ihm nach frühneuzeitlichem Verständnis gebührende Ehre zuteil. Außerdem wurde das Bündnis bestätigt. Da die diplo1776 Ebd., fol. 112v. 1777 Zu den theoretischen Grundlagen des Adressaten des Zeremoniells siehe Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 207–210. 1778 Vgl. Caramé an Kinner, Moskau, ohne Datum, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 113r. 1779 Vgl. ebd., fol. 113r/v.
Fazit
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matischen Vertreter Rondeau und Magnan aufgrund ihres Ranges keine Audienz erhielten, griffen sie auf Gerüchte zurück, die ihren eigenen Vorstellungen und Interessen – der Schwächung der kaiserlichen Allianz mit Russland – dienten. Die Aufwartungen der Gesandten bei der Zarin vor ihrem Einzug dienten den Gesandten zur Selbstdarstellung. Sie berichteten darüber aber nicht in Gänze und ließen bewusst ihre diplomatischen Kollegen in den Berichten unerwähnt, um einen exklusiven Informationszugang zu suggerieren. Auch die Ordensverleihungen, insbesondere an Annas Nichte, waren erste Hinweise auf ihre spätere Nachfolge, die bisher wenig in der Forschung rezipiert wurden. Die Gewinnung der Garde durch Anna wurde bereits als Bruch der Konditionen und somit als eine Schwächung der Unterstützer der Machtbeschränkung gewertet. Die diesbezüglichen Bewertungen über den russländischen Adel sind zumeist stereotyp und sagen somit wenig über das politische Verständnis des Adels aus. Dennoch nahmen die Diplomaten richtigerweise wahr, dass sich durch die physische Anwesenheit der Zarin und bei der Ablegung des Eids auf Anna und den Obersten Geheimen Rat Widerstand gegen die Machtbeschränkung im Adel regte. Da alle außenpolitisch relevanten Weisungen bereits versandt wurden, erfolgten, mit Ausnahme derjenigen Holsteins, keine neuen Weisungen der Herrscher an die Diplomaten in Moskau. Dies belegt abermals, dass Russland für Holstein eine überaus zentrale Stellung einnahm. Im Allgemeinen war in den verschiedenen Berichten der Diplomaten die Frage relevant, ob es zu einem Krieg zwischen dem Kaiser und den Alliierten von Sevilla kommen werde. Russland wurde berücksichtigt, sofern die Ereignisse eine Gefahr für die europäischen Bündnisse darstellten. Diese Bündnisse schienen aber auch an anderen Höfen immer wieder gefährdet, mitunter durch feindlich gesinnte Lager an den Höfen oder sogar durch die eigenen Gesandten, wie der Fall des zweiten kaiserlichen Gesandten Waldstein am sächsischen Hof verdeutlicht. Auch das Risiko der Weiterleitung und Verbreitung von Fehlinterpretationen, wie die Kommunikation Le Forts mit dem kaiserlichen Gesandten Seckendorff zeigt, belegen, dass Informationen mehrfach überprüft werden mussten. Manteuffel wollte den Kaiser warnen, folgte aber einer Fehlinterpretation, die Seckendorff aufdeckte. Daher gefährdete er durch Falschmeldungen die eigentlich sicher geglaubte Allianz ganz entgegen seiner Intention. Dies konnte Seckendorff jedoch aufgrund seiner guten diplomatischen Vernetzung aufklären. Somit zog diese Falschmeldung keine negativen Konsequenzen für den Kaiser nach sich.
7. „… ist endlich dennoch nichts darauß geworden“ – die Souveränitätserklärung der Zarin und das Scheitern der Machtbeschränkung „Nachdem man so viele Tage und Wochen auf abolirung oder zum wenigsten limitirung der Souverainité gearbeitet, ist endlich dennoch nichts darauß geworden“,1780 berichtete der holsteinische Gesandte Tessin nach Kiel. Die Zarin erklärte sich am 8. März für souverän, womit die diskutierten Machtbeschränkungen gescheitert waren. Wie es zur Souveränitätserklärung der Zarin kommen konnte und wie die diplomatischen Vertreter darüber berichteten, ist nachfolgend zu erörtern. Die Ereignisse des 8. März zur Wiedererlangung der Souveränität sind anhand russischer Quellen ausgesprochen schwer zu ermitteln, da die Quellengrundlage wenig umfangreich ist. Zudem lassen diese Dokumente unterschiedliche Interpretationen der Ereignisse zu, da in ihnen nichts über den Ablauf der Ereignisse berichtet wird.1781 Die relevanten russischen Quellen bestehen aus zwei Bittschriften des Adels, die der Zarin am 8. März übergeben wurden. Der Inhalt der ersten Bittschrift umfasste eine Beschwerde, dass die Verchovniki die eingereichten Reformprojekte des Adels zur Regierungsform missachteten. Daher schlugen die Bittsteller eine Versammlung, bestehend aus der Generalität, den Offizieren und dem Adel, vor, wobei nur eine beziehungsweise maximal zwei Personen einer Familie vertreten sein dürfte(n). Diese Versammlung sollte einen Vorschlag für die künftige Regierungsform ausarbeiten. Die zweite Bittschrift wurde verfasst, nachdem Anna die erste Bittschrift durch ihre Unterschrift bereits gebilligt hatte. Sie umfasste neben anderen Forderungen auch die Abschaffung der machteinschränkenden Konditionen und die Wiederherstellung der autokratischen Herrschaft der Zarin. Zudem waren darin die Forderung nach der Abschaffung des Obersten Geheimen Rates und des Hohen Senats enthalten. Stattdessen sollte ein Regierender Senat nach dem Vorbild Zar Peters I. mit 21 Personen errichtet werden. Dabei konnten frei werdende Stellen und die Gouverneure und Präsidenten der Kollegien in Zukunft durch Ballotage1782 erwählt werden.1783
1780 Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1781 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 94. 1782 Unter Ballotage versteht man ein geheimes Abstimmungsverfahren bei dem das Ziehen von weißen oder schwarzen Kugeln über die Wahl eines Kandidaten bestimmen. 1783 Vgl. ebd., S. 101. Siehe dazu ediert: Dvorjanskoe prošenie imperatrice Anna Ioannovne o vosstanov lenni samoderžavija i uprazdnenii Verchovnogo tajnogo soveta (25.02.1730Jul), in: ebd., S. 142–147. Die erste Bittschrift ist nicht im Original erhalten, sondern wird hier indirekt zitiert. Wie noch zu zeigen sein wird, übermittelten die meisten Gesandten eine Abschrift beider Bittschriften.
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Aus den Berichten des Obersten Geheimen Rates geht hervor, dass die Verchovniki sich in den Tagen vor der Wiedererlangung der autokratischen Macht täglich versammelten. Der Rat forderte jeden Tag Informationen über die Ableistung der Eide ein und versuchte, Verzögerungen bei der Eidablegung zu verhindern. Zudem geht aus diesen Berichten hervor, dass wider Erwarten die konkrete Ausgestaltung der Machtverteilung bei diesen Versammlungen des Obersten Geheimen Rates nicht erörtert wurde. Dies lässt den Schluss zu, dass die Verchovniki von den Ereignissen des 8. März überrascht wurden.1784 Inwieweit die Zarin über genaue Informationen hinsichtlich der divergierenden Ziele der einzelnen Gruppierungen im Adel und bei Hof verfügte, ist nicht überliefert.1785 Vor dem Hintergrund dieser sehr spärlichen russischen Quellenlage ist es evident, dass die Gesandtschaftsberichte als Quellen zur Erhellung der Ereignisse um die Wiedererlangung der Souveränität unverzichtbar sind. Die Schwierigkeit ihrer Interpretation liegt dabei jedoch unter anderem darin begründet, dass sich die Berichte – nicht nur unterschiedlicher Diplomaten, sondern auch der gleichen Diplomaten je nach Zeitverlauf – widersprechen. Bereits Kurukin und Plotnikov wiesen darauf hin, dass verschiedene diplomatische Vertreter ihre Darstellungen zum genauen Ablauf der Wiedergewinnung der Souveränität im Zeitverlauf mehrfach revidierten.1786 Beide Historiker trafen ihre Schlussfolgerungen auf Grundlage der edierten Berichte de Lirias, Rondeaus, Magnans, Mardefelds, Le Forts und Westphalens. Auf dieser Grundlage erschien die Bitte des Adels an Anna, die Selbstherrschaft anzunehmen, zuerst als einheitlicher Akt, während im Laufe der Ereignisse alle Diplomaten – außer Westphalen – erkannten, dass es sich um zwei Bittschriften handelte. Le Fort erkannte dies sofort, ohne aber den Inhalt der Bittschriften zu kennen. Da die beiden Historiker die Berichte Westphalens über die Wiedergewinnung als ungenau charakterisierten, diejenigen de Lirias, Rondeaus, Magnans, Mardefelds und Le Forts dagegen weitgehend übereinstimmen würden, dienten ihnen letztere als Grundlage ihrer Darstellung.1787 Wie im bisherigen Verlauf der Arbeit gezeigt werden konnte, ist bei der Bewertung der Gesandtschaftsberichte der jeweilige Informationszugang besonders zu berücksichtigen, um Tatsachen von Gerüchten zu unterscheiden. Auch die Weitergabe von Informationen durch russische Adlige oder diplomatische Kollegen ist zu beachten. Da die Weitergaben besonders unter den Diplomaten nicht immer hinreichend vermerkt sind, ist es nötig, hierbei auch die Abfolge der Berichterstattung in den Blick zu nehmen. Bei der Analyse des Ablaufes der Souveränitätsgewinnung gilt es außerdem, die Auffassung Kurukins und Plotnikovs aufzugreifen, dass es sich 1730 nicht um eine gewaltsame Palastrevolution der Garde und damit um einen Staatsstreich handelte, obwohl eine gewaltsame Wiedergewinnung der Autokratie durch die Garde in der Forschung weithin angenommen wird.1788 Allein Protasov wies 1975 darauf hin, dass sich die Rückgewinnung der 1784 1785 1786 1787 1788
Vgl. ebd., S. 100 f. Vgl. ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 104. Vgl. ebd., S. 104. Vgl. Donnert, Das russische Zarenreich, S. 152. Zernack, Polen und Rußland, S. 247. Stadelmann, Die
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Macht durch die Zarin mittels der Garde lediglich in den Berichten de Lirias und Magnans wiederfindet, nicht jedoch in denen Westphalens und Le Forts. Nachdem auch Rondeau wenige Tage nach den Ereignissen die Garde erwähnte, musste er in den darauffolgenden Tagen seine Darstellung aufgrund der unübersichtlichen Lage und vieler Gerüchte korrigieren und erwähnte die Garde dann nicht mehr. In diesem Zusammenhang wies bereits Protasov darauf hin, dass die Gesandtschaftsberichte als Quellengattung mitunter ausgesprochen kritisch zu betrachten sind. 1789 Die Zweifel Protasovs am Einsatz der Garde zur Wiedergewinnung der autokratischen Herrschaft Annas wurden in der Forschung nicht rezipiert und erst 2003 durch Kurukin erneut aufgegriffen und problematisiert.1790 Die Darstellung der Wiedergewinnung der Macht kann in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht nur auf ungekürztem diplomatischem Schriftgut Rondeaus, Le Forts und Magnans erfolgen, sondern auch um die Berichte Mardefelds, Wratislaws, Bondes und Tessins und J.C.D. Ostermanns erweitert werden. Auch die Einschätzungen der Gesandten, warum es zur Wiedergewinnung der autokratischen Macht Annas kommen konnte, gilt es, kritisch zu betrachten. Es ist dabei erforderlich, die unmittelbaren Bewertungen von späteren Einschätzungen zu trennen. Die Beachtung der zeitlichen Reihenfolge der Berichterstattung und die dadurch möglich werdende Ermittlung von Informationsweitergaben zwischen den Diplomaten, lassen Schlüsse zu, warum und wie es zur Souveränitätserklärung kommen konnte und wer die Gegner der Machtbeschränkung waren. Gerade Letzteres ist ausgesprochen schwer zu ermitteln, da diese Personen im Vorfeld der Wiedergewinnung der Macht keine schriftlichen Dokumente verfassten.1791 Auch wie es zu bewerten ist, dass in Berichten der englischen Gesandten aus Hamburg und Schweden die Garde als ursächlich für die Wiedergewinnung der Macht der Zarin angesehen wurde,1792 bedarf der Klärung. Diese kann exemplarisch anhand der Informations-
1789 1790 1791 1792
Romanovs, S. 96. Sommerfeld, Axel von Mardefeld als Gesandter Friedrich Wilhelms I. am russischen Hofe (1728–1740), S. 27. Müller, Eine Aristokratie für Russland?, S. 88. Liechtenhan, Elisabeth Ire de Russie, S. 67. Whittaker, Russian Monarchy, S. 64 und S. 74 f. Fedorovski, Die Zarinnen, S. 111. Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich, S. 69. Mediger, Moskaus Weg nach Europa, S. 91. Roll, Dynastie und dynastische Politik im Zarenreich, S. 86. Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 467 f. Hughes, The Romanovs, S. 87. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 99 f. Anisimov, Anna Ivanovna, S. 21 und S. 23. Kamenskiĭ, Griffiths, The Russian Empire in the Eighteenth Century, S. 143. Ključevskij, Kurs russkoj istorii, S. 368–370. Daniels, V.N. Tatishchev and the Succession Crisis of 1730, S. 556–558. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 263. Whittaker, Russian Monarchy, S. 64. Ransel, The Government of Crisis of 1730, S. 58. Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 51 f. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 144. Kivelson, Kinship Politics/Autocratic Politics, S. 7. Pavlenko, Anna Ioannovna, S. 70 f. Kurukin, Anna Leopol‘dovna, S. 26. Pol’skoj, Tissier, L’élite dirigeante russe dans la crise politique de 1730, S. 405. Vgl. Protasov, Dvopjankie prošenija 1730g., S. 96–106. Vgl. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 208–211. Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 99. Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 262. Darin finden sich auch die weithin geäußerten Vorstellungen des Gegensatzes zwischen dem hohen und niederen Adel, die wissenschaftlich widerlegt sind.
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vermittlung an den Kaiserhof erlangt werden. Die kontrovers diskutierte Frage, wie viele Personen der adligen Delegation angehörten, die die Bittschriften des Adels am 8. März an Anna überbrachte,1793 gilt es ebenfalls zu untersuchen. Dabei ist relevant, wer sich für die autokratische Macht Annas einsetzte. Die Folgen der personellen Veränderung der obersten Regierungsorgane und des neu einzurichtenden Hofstaates und die damit zusammenhängende außenpolitische Bündnisverlängerung waren nicht nur für die Diplomaten, sondern auch für die Monarchen Europas erneut das wichtigste Erkenntnisinteresse. Hier stellen sich abermals die Fragen nach der Relevanz Russlands für das europäische Bündnissystem und nach den Informationsweitergaben an die diplomatischen Vertreter und innerhalb diplomatischer Netzwerke.
7.1 Die Souveränitätserklärung der Zarin Die offizielle Verkündung am Abend des 8. März 1730 Dass der sächsisch-polnische Gesandte Le Fort bereits am 8. März eine Relation verfasste, die er per Express nach Riga und dann zur Weiterbeförderung per Stafette nach Dresden absandte, ist ein Beleg dafür, dass die Souveränitätserklärung für die diplomatischen Vertreter eine überaus hohe Relevanz hatte.1794 Der französische Chargé d’Affaires Magnan stattete seinem Hof am Morgen und Abend des 9. März 1730 jeweils einen ausführlichen Bericht ab.1795 Seine Informationen bezog er von de Liria, der ihn in der Nacht vom 8. auf den 9. März 1730 hatte wecken lassen, sodass er umgehend einen Kurier über Paris nach Madrid absenden konnte.1796 Mardefeld berichtete am 9. März, dass die Zarin am vorherigen Tag wider Erwarten die Souveränität von den Ständen des Reiches übertragen bekommen hatte. Dies sei geschehen, nachdem seit 14 Tagen verschiedene Parteien für und wider die Souveränität gestritten und es den Anschein erweckt hatte, als ob die republikanische Partei gewinnen werde, da die Zarin bereits ihre Unterschrift unter die vorgelegten Konditionen geleistet habe.1797 Aus der Formulierung, dass die Stände des Reiches Anna die Souveränität angetragen haben, geht hervor, dass Mardefeld die Akteure nur ungenau benennen konnte. Rondeau hingegen konnte noch nicht abschätzen, ob diese Souveränitätsgewinnung nega-
1793 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 106 f. 1794 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 08.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 120r/121r. 1795 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.03.1730 (morgens), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 96r–98v. Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.03.1730 (abends), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 99r–101v (teilweise chiffriert). 1796 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.03.1730 (morgens), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 96r/97r. 1797 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 96r.
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tive Konsequenzen nach sich ziehe.1798 Auch alle anderen diplomatischen Vertreter berichteten umgehend. Bei der wissenschaftlichen Betrachtung der Gesandtschaftsberichte blieb bisher unberücksichtigt, dass die Nachrichten über die Souveränitätserklärung den hochrangigen Gesandten bereits am Abend des 8. März durch den Großkanzler Golovkin verkündet worden waren, indem er sie dazu aufforderte, am Folgetag der Zarin Glückwünsche zu ihrer nun souveränen Regierung zu überbringen. Da der 9. März ein Posttag war, hatten die diplomatischen Vertreter ihre Berichte umgehend zu verfassen und in die Post zu geben. Dass durch die bisherige Forschung der Informationszugang der Diplomaten nicht ausreichend beachtet wurde, belegt die Tatsache, dass bereits aus den edierten Berichten Le Forts1799 und Westphalens1800 ersichtlich wird, dass der Großkanzler den Gesandten diese Nachrichten offiziell notifizierte, was bei der Interpretation der Informationen nicht beachtet wurde. Demnach ist für die Interpretation der diplomatischen Berichte die Frage, wie die Vertreter ihre Informationen erhielten, erneut von entscheidender Bedeutung. Aus der Erschließung weiterer Gesandtschaftskorrespondenzen ergibt sich, dass alle ranghohen Diplomaten – Wratislaw, Mardefeld, Le Fort, Tessin und Bonde und J.C.D. Ostermann – in ihren Berichten vom 8. und 9. März auf eine offizielle Verkündung verwiesen.1801 Allein Rondeau und Magnan konnten sich nicht auf eine offizielle Notifikation berufen. Dies hängt damit zusammen, dass ein Chargé d’Affaires aufgrund seines Ranges an keiner öffentlichen Audienz teilnehmen konnte.1802 Zudem zeigt ein Vergleich der edierten Version des Briefes Magnans mit dem Original, dass Magnan sich bewusst war, dass die Informationen über die Wiederaneignung der Souveränität den übrigen
1798 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], TNA, SP 91/11, fol. 30r/v. 1799 Vgl. Polovcov, SIRIO, Bd. 5, S. 366. Fenster, Anna, S. 194. 1800 Vgl. Korsakov, Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny, S. 80. 1801 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.03.1730 (morgens), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 97r. Die in der Quellenedition enthaltene Passage, dass die übrigen Gesandten am Folgetag zur Ablegung der Gratulationskomplimente bei der Zarin eingeladen und die Straße beleuchtet gewesen seien, findet sich nicht in der am 9. März 1730 morgens versandten Originalrelation Magnans, sondern erst in der Relation des gleichen Tages abends, obwohl dies die Quellenedition fälschlicherweise suggeriert, siehe Štendman, SIRIO, Bd. 75, S. 503–505. Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.03.1730 (abends), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 100r. Wratislaw, Mardefeld und J.C.D. Ostermann berichteten, dass es nicht vom Großkanzler persönlich, sondern von einem Reichskanzleibediensteten verkündet wurde. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 153r. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 97v. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 280v. Le Fort an König August II., Moskau, 08.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 120r/121r. 1802 Vgl. Krauske, Beiträge zur Geschichte der ständigen Diplomatie vom 15. Jahrhundert bis zu den Beschlüssen von 1815 und 1818, S. 184.
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Gesandten – nicht jedoch ihm – offiziell verkündet worden waren.1803 Dieser Absatz seines Briefes wurde nicht in die Edition übernommen.1804 Dass die Gesandten ihre Information durch eine offizielle Notifikation erhielten, schien den Editoren demnach nicht relevant zu sein. Ob sich die diplomatischen Vertreter auf eine offizielle Notifikation berufen konnten oder nicht, wirkte sich aber auf die Verlässlichkeit ihrer Berichte aus. Um den Inhalt der Verkündung durch Großkanzler Golovkin zu ermitteln, werden nur die unmittelbaren Berichte der Gesandten vom 8. beziehungsweise 9. März herangezogen.1805 Demnach stellten sich die Ereignisse wie folgt dar: Die Feldmarschälle Trubeckoj und Čerkasskij begehrten als Anführer einer adligen Delegation eine Audienz bei Anna am Morgen des 8. März.1806 Während dies Mardefeld und Wratislaw so berichten,1807 weichen die Berichte anderer Diplomaten davon ab1808 oder gehen gar nicht darauf ein. Auch die Anzahl der Delegierten schwankt in den Berichten1809 oder wird nicht genannt. Wratislaw, Mardefeld und Le Fort sprachen explizit davon, dass der Oberste Geheime Rat durch die Zarin in den Kreml gerufen worden sei, um der verlangten Audienz des Adels beizuwohnen. Le Fort führte aus, dass dies durch Vasilij Lukič Dolgorukij geschehen sei.1810 Damit erkannten Wratislaw, Mardefeld und Le Fort, dass die Zarin den Rat einbinden musste. Tessin war dies offenbar nicht bekannt, denn seine Darstellung erweckt den Anschein, als ob die Zarin erst nach der Präsentation der Regierungsform durch Trubeckoj den Obersten 1803 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.03.1730 (abends), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 100r. 1804 Vgl. Štendman, SIRIO, Bd. 75, S. 507. 1805 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 09.03.1730 a.St. [20.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 280r/281r. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 153r–156v. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 96r/97v. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Le Fort an König August II., Moskau, 08.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 120r/121r. Le Fort an König August II., Moskau, 09.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 122r–126r. Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung. 1806 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 108. 1807 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 96r/v. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 154r/v. 1808 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin nannte nur Trubeckoj. 1809 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 96v. Mardefeld nennt 390 Personen der Delegation. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 155v. Wratislaw nennt 390 Personen, die die zweite Bittschrift übergaben. 1810 Vgl. ebd., fol. 154r/v. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 96v. Le Fort an König August II., Moskau, 08.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 120r.
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Geheimen Rat einberufen hätte. Diese Darstellung entspricht allerdings nicht den Tatsachen. Bei Tessin wirkt es so, als sei lediglich eine Bittschrift an die Zarin gerichtet worden. Seine Darstellung ist im Allgemeinen sehr stark von den Vorstellungen seiner bisherigen Berichterstattung über die für ihn unklaren Geschehnisse geprägt. Er behauptete etwa in Unkenntnis der Zusammenhänge, dass der niedere Adel gegen die Machtbeschränkung aufbegehrte.1811 Genauer ist hingegen die Mutmaßung Mardefelds, dass es sich bei der Delegation, die Anna um eine Audienz bat, um Personen mit hohen zivilen und militärischen Rängen handelte.1812 Auch J.C.D. Ostermann ging bloß von einer Bittschrift aus. Er berichtete fälschlicherweise, dass der Zarin die Souveränität im Einvernehmen mit dem Obersten Geheimen Rat, dem Synod und dem Adel und der Generalität angetragen worden wäre, obgleich er als Informationsquelle auf die offizielle Notifikation in seinem Bericht ausdrücklich hinwies. Seine Darstellung ist insgesamt knappgehalten.1813 Dies trifft ebenso auf die Relationen der beiden niederrangigen Diplomaten Magnan und Rondeau zu.1814 Rondeau ging im Vergleich zu Magnans weitaus weniger ausführlichen Bericht davon aus, dass Anna in einer Bittschrift die Souveränität angetragen worden sei. Durch deren Annahme sei die „grand affair“1815 beendet. Magnan hingegen gab erneut recht unkritisch wieder, dass die anwesende Garde in intensive Debatten um die Ausgestaltung der Regierungsform eingegriffen und Anna umgehend die Souveränität angetragen hätte.1816 Es handelte sich allerdings nicht bloß um eine Bittschrift, sondern in der Tat um zwei Bittschriften, die der Adel Anna in zwei Schritten vorlegte.1817 Ziel der ersten Bittschrift war es, den Verchovniki die Initiative über die Machtbeschränkung zu entziehen.1818 Die Behauptung, dass eine Revolution der Garde stattfand, findet sich nur bei de Liria und bei Magnan, wobei Magnan selbst vermerkte, dass er seine Informationen von de Liria erhalten habe. Auf Grundlage der edierten Gesandtschaftsberichte gingen Kurukin und Plotnikov davon aus, dass weder bei Magnan noch bei de Liria in weiteren Berichten das Eingreifen der Garde erneut aufgegriffen worden sei.1819 Dies stimmt für Magnan nicht, da dieser das gewaltsame 1811 Vgl. ebd. ebd. 1812 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 108. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 96v. 1813 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 280v. 1814 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 104. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], TNA, SP 91/11, fol. 30r/v. Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.03.1730 (morgens), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 96r–98v. Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.03.1730 (abends), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 99r–101v (chiffriert). 1815 Vgl. ebd. 1816 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.03.1730 (morgens), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 96r/97r. 1817 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 101. Das geht auch aus der an späterer Stelle erfolgten Übermittlung der beiden Bittschriften durch die diplomatischen Vertreter hervor, wie noch gezeigt wird. 1818 Vgl. ebd., S. 103 f. 1819 Vgl. ebd., S. 101.
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Eingreifen der Garde in seinem mitunter überaus spekulativen Brief vom 16. März wiederholte.1820 In den Berichten Wratislaws, Le Forts, Mardefelds, Tessins, Bondes, und J.C.D. Ostermanns finden sich dagegen auch später keine Belege für diese Behauptung. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in anderen Gesandtschaftsberichten die Anwesenheit der Garde bei der Audienz erwähnt wurde. Aber deren Anwesenheit bedeutet nicht automatisch einen Putsch oder deren aktives Eingreifen. Laut Wratislaw habe die Zarin den Kapitän der Schlosswache rufen lassen, bevor die Anführer des Adels die Bittschrift vortragen konnten. Sie habe dem eintretenden Hauptmann Albrecht, einem gebürtigen Preußen, befohlen, dass die Garde niemand anderem als Saltykov, einem nahen Verwanden der Zarin, gehorchen solle. Diese Funktion des Befehlshabers habe bisher Vasilij Lukič Dolgorukij innegehabt.1821 Dies bestätigte ebenso Mardefeld, fügte aber hinzu, dass die Übertragung des Kommandos an Saltykov erst erfolgt sei, als der Oberste Geheime Rat im Kreml versammelt gewesen sei. Saltykov habe zudem, so die Ergänzungen Mardefelds, die Wachen verdoppeln lassen. Erst daraufhin sei der Feldmarschall Trubeckoj mit seinem Gefolge eingelassen worden, um der Zarin eine Bittschrift zu überreichen.1822 Während bei Tessin die Befehlsübergabe der Wache nur beiläufig Erwähnung fand,1823 hielten weder Le Fort noch J.C.D. Ostermann diesen Vorgang überhaupt für berichtenswert. Aus der Meldung Wratislaws, dass niemand das Schloss habe verlassen dürfen,1824 folgerte Recke – unter Hinzunahme des Berichts de Lirias –, dass die Garde gewaltsam zur Wiedergewinnung der Souveränität eingesetzt worden wäre.1825 Er übersah hierbei allerdings, wie deutungsoffen die Aussage Wratislaws war, der an keiner Stelle seines Berichts ein Eingreifen der Garde nennt. Zudem konnte der Kreml nachweislich verlassen und betreten werden, da sich die Unterschriften unter der ersten und zweiten Bittschrift unterschieden und in der zweiten Bittschrift Personen unterschrieben, die zunächst nachweislich nicht im Kreml anwesend gewesen waren.1826 Nach der Darstellung Wratislaws und Mardefelds richtete sich demnach die Übertragung des Kommandos nicht gegen die Bittsteller, sondern gegen die Ambitionen des Rats, der 1820 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 16.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 110r. 1821 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 154v/155r. 1822 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 96v. 1823 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1824 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 155v. 1825 Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 196–198. Da Recke zudem bei seiner Darstellung die unmittelbaren Berichte mit Deutungen in späteren Gesandtschaftsberichten vermischt, kommt er an dieser Stelle zu falschen Schlüssen. 1826 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 106.
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durch Vasilij Lukič Dolgorukij die Befehlsgewalt über die Garde hatte. Ein Putsch der Garde kann daher widerlegt werden. Es erscheint wahrscheinlich, dass sich die Garde zur Sicherheit der Zarin im Schloss befand. Gegen eine Drohkulisse durch die Garde spricht, dass die Gesandten davon nicht berichteten. Mit der Übertragung der Kommandogewalt über die Garde auf ihren nahen Verwandten Saltykov war es Anna gelungen, dem Obersten Geheimen Rat den Befehl über die Garde zu entziehen. Dies konnte sie nur tun, wenn sie sich der Treue Saltykovs sicher sein konnte.1827 Es steht außer Zweifel, dass der Adel der Zarin an diesem Tag zwei Bittschriften übergab.1828 Dies bemerkten von all denjenigen Gesandten, die die offizielle Notifikation über die Wiedergewinnung der Souveränität Annas erhielten, nur Le Fort, Mardefeld und Wratislaw.1829 Während Le Fort in seinem Brief vom 8. März richtigerweise von zwei Bittschriften ausging,1830 scheint es, als ob er in seiner Relation vom 9. März daran zweifelte, ob es zwei Bittschriften gegeben habe. Dies blieb in der Forschung bisher unberücksichtigt,1831 da die beiden Briefe Le Forts vom 9. März nicht ediert wurden.1832 Es ist an dieser Stelle wichtig, abermals zu betonen, dass die beiden Bittschriften zu diesem Zeitpunkt den Gesandten noch nicht im Wortlaut vorlagen. Dies betonte beispielsweise Le Fort explizit.1833 Möglicherweise griff er durch seinen Kontakt mit de Liria, Magnan und Westphalen deshalb deren Deutungen auf. Belegt ist, wie Mardefeld und Wratislaw richtigerweise betonten, dass die Adelsdelegation Anna in der ersten Bittschrift bat, eine neue Regierungsform auszuarbeiten, da die von ihr unterzeichneten Konditionen weder dem Reich noch dem Adel zum Vorteil gereichen würden.1834 Die Berichterstattung Mardefelds stimmt damit überein. Er ergänzte, dass die Entschlüsse der Delegation noch am selben Mittag vorgebracht werden sollten.1835 Le Fort führte aus, dass, als alle um den Thron versammelt gewesen seien, der Generalleutnant Jusupov gesprochen und die Petition zum Vorlesen Čerkasskij übergeben habe, 1827 Vgl. ebd., S. 103 f. 1828 Vgl. ebd., S. 101. 1829 Vgl. ebd. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 154r/155v. 1830 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 08.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 120r/v. 1831 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 104 (FN 22). 1832 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 09.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 122r–126r. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 09.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 127r/v. 1833 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 08.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 120v. Le Fort an König August II., Moskau, 09.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 22v. In dem Brief Le Forts vom 9. März mutmaßte er, dass der Inhalt der Bittschrift des Adels und der Generalität eine Bitte an Anna sei, ein Organ mit 24 Senatoren zu entwerfen. 1834 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 155r. 1835 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 96v/97r.
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wonach die Zarin diese umgehend unterschrieben habe. Während andere Gesandte den russischen Adligen Jusupov nicht als Anführer erwähnten, wurde Čerkasskij von Le Fort nicht benannt.1836 Auch Rondeau nannte Jusupov,1837 der aber die erste Bittschrift nachweislich nicht unterschrieb.1838 Auffallend ist, dass Le Fort im Gegensatz zu den anderen Gesandten ein von Anna veranlasstes Mittagsmahl mit den Verchovniki nicht erwähnte, sondern lediglich ausführte, die Delegation habe sich in ein Appartement zurückgezogen, um eine Dankesansprache zu verfassen.1839 Diese Mittagstafel fand statt, während der übrige Adel die zweite Bittschrift verfasste. Wratislaw und Mardefeld berichteten über diese Mittagstafel,1840 während die übrigen Diplomaten dies nicht erwähnten. Dies ist insoweit plausibel, da sie ebenso mehrheitlich nicht erkannten, dass es zwei Bittschriften gab. Der Inhalt der Tischgespräche Annas mit den Verchovniki ist allerdings durch die vorliegenden Quellen nicht überliefert. Dies muss daher weiterhin offenbleiben.1841 Wratislaw berichtete weiter, dass nach aufgehobener Tafel am Nachmittag der Adel abermals erschienen sei und der vor dem Thron stehenden Zarin eine von 390 Personen unterzeichnete zweite Bittschrift übergeben habe. Anna wurde darin aufgefordert, die unterschriebenen machteinschränkenden Konditionen zurückzunehmen und die volle Souveränität anzunehmen.1842 Laut Mardefeld habe der Adel der Zarin vorgetragen, dass nur eine absolute Monarchie für das Russische Reich angemessen sei.1843 Diese Wertung entsprach seinen bisherigen Urteilen, war jedoch unzutreffend, wie er in seiner nächsten Relation eingestand.1844 Die Zarin solle, wie ihre Vorfahren auch, die völlige Souveränität des Reiches innehaben. Sie habe der Machteinschränkung durch die Konditionen zugestimmt, weil sie davon habe ausgehen müssen, dass dies der Wunsch des Volkes sei. Daher müsse sie nun das Verlangen der Bittsteller mit dem Obersten Geheimen Rat besprechen. Dieser habe durch Kopfnicken zugestimmt. Daraufhin habe sie sich für souverän erklärt.1845 Le Fort vermerkte ohne detaillierte Ausführungen über die genauen Umstände, dass zwei Korps und der Rat die Zarin für 1836 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 08.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 120r/v. 1837 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], TNA, SP 91/11, fol. 30r. 1838 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 106. 1839 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 08.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 120v. 1840 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 155r/v. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 97r. 1841 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 105. 1842 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 155r/v. 1843 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 97r. 1844 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 16.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 105v. 1845 Vgl. ebd.
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souverän erklärten, nachdem der General Černyšëv Anna die verfasste Ansprache vorgetragen habe.1846 Mardefeld und Le Fort erkannten damit, wie bedeutend es war, dass der Oberste Geheime Rat seiner eigenen Entmachtung zustimmte. Die Zarin habe sich daraufhin die unterschriebenen Konditionen aus der Kanzlei bringen lassen. Sie seien ihr versiegelt überreicht worden, woraufhin sie das Siegel gebrochen, das Schriftstück zerrissen und sich für souverän erklärt habe. Die anwesenden Verchovniki hätten dem nicht nur nicht widersprochen, sondern sogar umgehend gratuliert.1847 Mardefeld ergänzte, dass es der Großkanzler gewesen sei, der ihr die unterschriebenen Konditionen gebracht habe. Mardefeld erhoffte, dass sie als „Mutter des Vaterlandes“1848 ihren Untertanen Gnade widerfahren lasse. Im Journal des Obersten Geheimen Rates ist hingegen nur vermerkt, dass die Zarin die Konditionen und den Begleitbrief vor der ganzen „Nation“ zerrissen habe.1849 Übereinstimmend berichteten die Gesandten, dass Anna als erste Amtshandlung Jagužin skij aus seiner Haft entlassen und ihn in das Audienzzimmer befohlen habe, um ihm vor allen Adligen öffentlich durch die Rückgabe seiner Ämter und Orden zu rehabilitieren.1850 Mardefeld ergänzte, dass dieser Vorgang umgehend der Garde, die Jagužinskij bis zu seiner Degradierung befehligt hatte, verkündet worden sei.1851 Die Analyse und Neubetrachtung dieser Ereignisse zeigen, dass es bedeutende Abweichungen zwischen den Berichten der Diplomaten gab. Dabei treten auch Unterschiede in den diplomatischen Berichten zwischen denjenigen Gesandten zutage, die ihre Informationen durch eine Notifikation von offizieller Stelle erhielten, und denjenigen diplomatischen Vertretern, die ihre Informationen aus zweiter Hand von ihren Kollegen zugetragen bekamen. Während aufgrund des mangelnden Informationszugangs wenig verwunderlich ist, dass die Berichte der niederrangigen diplomatischen Vertreter Rondeau und Magnan davon abwichen, ist der Unterschied zwischen den hochrangigen Gesandten aufgrund ihres gemeinsamen Informationszugangs tatsächlich verwunderlich. Wie gezeigt werden konnte,
1846 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 08.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 120v. 1847 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 155v und 153r. 1848 Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 97r. 1849 Siehe dazu ediert: Žurnal zasedanija Verchovnogo tajnogo soveta (25.02.1730 Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 177. 1850 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.03.1730 (morgens), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 97r. Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.03.1730 (abends), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, 99v. Le Fort an König August II., Moskau, 08.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 120v. Le Fort an König August II., Moskau, 09.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 122v. 1851 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 97r/v.
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sind die Gesandtschaftsberichte nicht nur von unterschiedlicher Ausführlichkeit, sondern auch stark von eigenen Vorstellungen geprägt, die mitunter wenig mit den Ereignissen gemein haben. J.C.D. Ostermann berichtete ausgesprochen knapp, während insbesondere Tessin eigene Erklärungsmuster in das durch den Großkanzler Notifizierte einfließen ließ. In welchem Maße dies auch auf andere diplomatische Vertreter zutrifft, ist dargestellt worden. Es ist plausibel anzunehmen, dass die Informationen, die alle Gesandten vermeldeten, den Tatsachen entsprachen. Die Berichte Wratislaws, Le Forts und Mardefelds weisen dabei die stärksten inhaltlichen Übereinstimmungen auf. Diese Neubewertungen können vor allem durch die Ausweitung der Quellengrundlage, der Betrachtung des Informationszugangs und der damit einhergehenden neuerlichen Interpretation der recht unkritisch rezipierten Berichte Magnans, Rondeaus und de Lirias vorgenommen werden. Wie es demnach zur Selbstherrschaft Annas kam, wenn ein Putsch der Garde widerlegt ist, ist Gegenstand des nächsten Unterkapitels. Dass die Gesandtschaftsberichte Rondeaus, Magnans, de Lirias, Mardefelds und Le Forts im Grundsatz ein vergleichbares Bild der Ereignisse zeichnen, wie bisher in der Forschung angenommen1852, ist so nicht zutreffend. Dass Magnan ebenso wie Rondeau seine Informationen von de Liria hatte, wurde in der Literatur bisher wenig hinterfragt. Während Tessin offensichtlich einige Verständnisprobleme hatte, verwies sein erfahrener und mit dem russischen Hof vertrauter Kollege Bonde allein auf die Darstellung Tessins und verzichtete auf eine eigene Darstellung. Sofern die offizielle Notifikation des Großkanzlers in den Dokumenten des Posol’skij Prikaz überliefert ist, wäre dies ein großer Gewinn für die wissenschaftliche Untersuchung dieser Ereignisse. Aber nicht nur die Darstellung, sondern auch die Bewertungen der Ereignisse durch die diplomatischen Vertreter unterschieden sich stark. Am Morgen des 9. März gratulierten alle Gesandten umgehend der Zarin zu ihrer Souveränität, die ihnen dafür eine Audienz gewährte. Der mecklenburgische Gesandte J.C.D. Ostermann versicherte dem Herzog Karl Leopold, dass er bei dieser Audienz dessen Forderungen nach einer Bestätigung seiner Allianz mit dem russischen Hof nur kurz ansprechen konnte. Zudem sei sein Bruder immer noch krank und habe an den letzten Ereignissen nicht teilnehmen können.1853 Dass J.C.D. Ostermann seinen Herzog über den tatsächlichen Gesundheitszustand seines Bruders täuschte, belegen Vergleichsdarstellungen. Wratislaw nutzte nämlich diese Audienz, um sich beim mecklenburgischen Gesandten öffentlich über den Gesundheitszustand seines Bruders zu erkundigen. Ostermann habe geantwortet, dass sein Bruder bald wieder am Hof erscheinen könne. Dies könne Wratislaw bestätigen, da er Ostermann persönlich aufgesucht habe, um sich von seiner Genesung zu überzeugen. Dass seit der Souveränitätserklärung nicht die geringste Unruhe in Moskau aufgekommen sei, bewertete Wratislaw als vorteilhaft für die kaiserlichen Interessen. Er werde ausführlich per Kurier berichten, sobald er die Zusicherung der Zarin erhalten habe, dass Russland die Bündnisverpflichtung
1852 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 104 f. 1853 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 281r.
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erfülle und Truppen stellen werde, obwohl ihm dies der Großkanzler Golovkin bereits schriftlich mitgeteilt habe.1854 Demnach nutzte Wratislaw diese Audienz umgehend, um abermals eine Bestätigung der außenpolitischen Kontinuität von der nun souveränen Zarin zu erhalten. Die vor anderen Gesandten aufgeworfene Frage nach dem Gesundheitszustand Ostermanns scheint demnach gezielt gestellt worden sein, um öffentlich zu machen, dass es Ostermann besser gehe. Dies kann daraus abgeleitet werden, dass Wratislaw selbst ausführte, dass er über den Gesundheitszustand durch einen persönlichen Besuch bereits Bescheid wüsste. Auch Le Fort war nicht entgangen, dass der mecklenburgische Gesandte seine Gratulation später als andere Gesandte überbrachte und sich die Zarin durch den Großkanzler bei ihm nach dem Gesundheitszustand seines Bruders erkundigte. Le Fort sah es als besonders relevant an, dass J.C.D. Ostermann die Zarin habe wissen lassen, sein Bruder liege zwar noch im Bett, aber es gehe ihm besser. Die Zarin hoffe, Heinrich Johann Friedrich Ostermanns bald wieder am Hof anzutreffen.1855 Zudem betonte Le Fort, dass seine Frau bei dieser Gelegenheit ebenfalls die Möglichkeit hatte, der neuen Zarin Anna zu gratulieren. Anna habe ihr die Ehre erwiesen, sie zum Essen an den Tisch zu geleiten.1856 Dies belegt abermals eine aktive Rolle einer Gesandtengattin am russischen Hof. In einem zweiten Brief vom 9. März gab sich le Fort überaus zuversichtlich, dass Ostermann und Jagužinskij niemals mächtiger gewesen seien als derzeit, was er überaus begrüße.1857 Auch andere hochrangige Gesandte waren zu diesem anschließenden Festessen geladen. Wratislaw berichtete über die Anwesenheit Jagužinskijs.1858 Tessin führte aus, dass bei Hof alle Freunde und Feinde bemüht seien, „ihm tausend schöne Sachen zu sagen“.1859 Seine Gegner würden ihm nun zu Füßen liegen, da er voraussichtlich in der neuen Regierung ein wichtiges Amt übernehmen würde, und auch Sumarokov werde nun für seine treuen Dienste belohnt werden. Tessin berichtete außerdem, dass die militärischen Bediensteten sich sehr erfreut gezeigt und Anna den Handkuss gegeben hätten. Auch dem Großkanzler Golovkin, der nie für „die republiquische Einrichtung“ gewesen sei, habe man seinen Frohsinn angesehen. Im Gegensatz dazu reagierten die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates zwar friedlich, jedoch „allen ihren jetzigen grimacen und freudensbezeigungen ohngeachtet“ sollten sie froh sein, wenn man sich ihrer in Zukunft noch erinnere, so Tessin.1860 1854 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 153r–156v. 1855 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 09.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 124v/125r (chiffriert). 1856 Vgl. ebd., fol. 125r. 1857 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 09.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 127v (chiffriert). 1858 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 09.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 153r. 1859 Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1860 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551,
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J.C.D. Ostermann berichtete bereits am 9. März – früher und gesicherter als andere Gesandte – über Pläne, dass statt eines aus acht Personen bestehenden Obersten Geheimen Rates ein aus 21 Personen bestehender Senat eingerichtet werden solle.1861 Nur Bonde vermeldete ebenfalls, dass noch nicht viele Personen von Plänen wüssten, den Rat abzuschaffen und an dessen Stelle einen nach Ballotage zu wählenden Senat nach dem Vorbild Zar Peters I. einzurichten.1862 Bezüglich der Darstellung der Souveränitätserklärung verwies er auf die Berichte Tessins. Die erfolgten Vorkommnisse bewertete er aber wie folgt: An all diesen Veränderungen sei „das hohe conseille selbsten schulds, dan sie haben wollen allein regieren, und daß hatt der übrige adell nicht zu laßen wollen, darumb haben sie gegen der Conseille so willen, en corps, gestern Mittag die Souveranitet Ihro Mtt. übergetragen, die es auch gern entgegen nahm, dan hatte der Conseille den übrigen von adel, ettwaß von ihre eingegebene puncta zugestanden, so währe zu dieser extremité nimahls gekomen, den sie gaben vor sie wollen lieber von der Keyßerin dehro gnade dependiren, alß von ihres gleichen ettwaß zu betteln.“1863
Le Fort berichtete lediglich von Gerüchten, dass die Zarin 24 Senatoren benennen werde. Dies sei das Einzige, was er in Erfahrung habe bringen könne. Die Souveränitätserklärung der Zarin habe außerdem in Moskau allgemeine Freude hervorgerufen.1864 Magnan hingegen war von diesem Festessen mit der Zarin aufgrund seines diplomatischen Ranges ausgeschlossen und musste sich auf die Informationen anderer Gesandter verlassen. In seinem morgendlichen Brief mutmaßte er über das Zustandekommen des Ereignisses: « Ce que jusqu’à cet instant j’ay encore pu savoir des ressorts par lesquels cette etrange revolution a été fabriquee, est que ce n’a pas eté par le P[rince] Dolgorouky, mais bien par M[onsieur]. Osterman d’un côté et par M[onsieur Jaguzinsky de l’autre, ayant tous deux, l’un de son lit et l’autre de sa prison, trouves moyen d’agir par leurs femmes et d’informer la Czarine de toutes leurs manœuvres malgré la vigilance du P[rince] Dolgorouky qui ne la quittoirt pas. »1865 ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1861 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold (Beilage), Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 281r. 1862 Vgl. Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung. 1863 Ebd. 1864 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 09.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 122r/v. 1865 Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.03.1730 (morgens), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 97r/v (chiffriert).
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Demnach vermutete er, dass Jagužinskij zusammen mit Ostermann durch deren Ehefrauen den Umsturz im Geheimen organisiert habe. In der Edition dieses Briefes ist nicht enthalten, wie unsicher Magnan selbst diese Entscheidung einschätzte. Zudem gilt es, bei dieser Äußerung zu beachten, dass Magnan die Gewinnung von Informationen über die Absendung der russischen Soldaten als wichtiger erachtete als Details über die Wiedergewinnung der Souveränität.1866 Die Entscheidung der Truppenabsendung sei durch das Beharren Wratislaws erfolgt. 19 Infanterieregimenter und 10 Dragonerregimenter1867 hätten den Befehl erhalten, an die polnische Grenze zu marschieren. Magnan wertete es als Erfolg, dass der preußische und auch der polnische König weniger Soldaten bereitstellen würden als ursprünglich angenommen.1868 Darin sah er eine Schwächung des Kaisers. In seiner Relation am Abend desselben Tages rekurrierte Magnan als Erklärungsmuster für die Souveränitätserklärung auf die bereits von Le Fort überlieferten Fieberdelirien Zar Peters II. kurz vor dessen Tod. Demnach hätte der Zar vorgesehen, die Autokratie zu beschränken, um den Adel aus seiner als „Knechtschaft“ bezeichneten Unfreiheit zu erlösen. Die höchsten Adligen hätten sich jedoch gegen dieses Vorhaben des Zaren gewandt, da sie eine solche Regierungsform für Russland als ungeeignet erachteten. Dies sei die Erklärung für die Souveränitätsgewinnung der Zarin. Demnach war auch die Berichterstattung Magnans – wie bereits bei anderen Gesandten gezeigt werden konnte – durch das Stereotyp des unfreien russischen Adligen geprägt. Auch die Vorstellung, dass die Garde mit Waffen einschritt, scheint dem Bild einer gewaltsam gegen den Adel regierenden Zarin geschuldet zu sein. Magnan rekurrierte auf Gerüchte, dass die Zarin dennoch dem Adel garantiert habe, niemanden aus seinen Ämtern zu entfernen oder zu degradieren, noch in Eigentum einzugreifen, außer wenn dies in einem Gerichtsverfahren aufgrund eines Vergehens angeordnet werde. Zudem solle zur Wahl des Obersten Geheimen Rates von jeder Familie lediglich eine Person zugelassen werden.1869 Er sei sich nun sicher, dass Jagužinskij und Ostermann mit der Hilfe Čerkasskijs für dieses Ereignis verantwortlich seien. Die Ehefrauen der russischen Adligen Čerkasskij und Michail Afanas’evič Matjuškin hätten Anna die nötigen Informationen zukommen lassen.1870 Zudem gebe es das Gerücht, dass der Feldmarschall Golicyn zu einer Visite zu Ostermann gekommen sei. Nachdem er Ostermann gesund angetroffen habe, hätte er ihm Vorwürfe gemacht, dass er dem Rat die notwendige Unterstützung verweigert habe. Aufgrund der Heftigkeit der Vorwürfe hätte Ostermann keine andere Wahl gehabt, als gegen die Machtbeschränkung zu agieren. Falls dies zutreffe, wäre es unzweifelhaft, dass die Erlangung der Souveränität der Zarin als gemeinsames Ziel Ostermann mit Jagužinskij versöhne und alte Streitigkeiten zwischen beiden gegenstandslos werden ließ.1871 Nachdem er indirekt die zukünftige 1866 1867 1868 1869 1870 1871
Vgl. ebd., fol. 97r (chiffriert). In der Edition werden 19 Dragonerregimenter genannt. Vgl. ebd., fol. 97v/98v. Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 09.03.1730 (abends), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 99v. Vgl. ebd., fol. 100r (chiffriert). Vgl. ebd., fol. 100r/101r. Dass die Information Magnans von diesem als unsicher galt, wurde nicht in die Edition übernommen.
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Machtstellung Ostermanns eingestehen musste, vermeldete Magnan, dass Wratislaw einen Kurier an den Kaiser entsandt hatte, um die russische Militärhilfe zu bestätigen. Im Gegensatz zu seinen Aussagen in der Relation vom Morgen zog er nun die Verlässlichkeit der Zusagen durch Russland in Zweifel. Zudem sei dies nach allen Veränderungen der letzten Wochen und bei so käuflichen Leuten wie in Russland schwer zu bewerten, so Magnan.1872 Somit relativierte Magnan umgehend die sich ankündigende positive Entwicklung der Ereignisse für den Kaiser. Mardefeld berichtete am selben Tag, dass die Zarin persönlich den Befehl zur Truppenmobilisierung unterschrieben habe.1873 Le Fort berief sich auf ungenannte Personen am russischen Hof, wonach diese Truppen auch für die Durchsetzung eines für Russland genehmen Herzogs in Kurland bestimmt sein könnten.1874 Tessin vermeldete die von Wratislaw erhaltenen Zusicherungen der Truppen auf dessen Wunsch erfreut nach Kiel. Der holsteinische Gesandte interpretierte diese ersten Amtshandlungen Annas im Sinne außenpolitischer Kontinuität, da es auch Ostermann gesundheitlich wieder besser gehe.1875 Ostermann wurde somit offensichtlich allerseits beständig als Garant des Bündnisses wahrgenommen. Rondeau nahm die Bemühungen Wratislaws um die Bereitstellung der russischen Truppen ausführlich wahr. Westphalen hatte ihm zugetragen, dass die Regimenter benannt seien, und Wratislaw zudem dem russischen Hof vermeldet habe, dass der Kaiser 15.000 Soldaten durch den preußischen und 8.000 Soldaten durch den polnischen König zur Unterstützung erhalte. Gleich, welche Hoffnung der russische Hof dem Kaiser mache, Rondeau glaubte nicht an die Absendung einer so großen Zahl russischer Soldaten. Er fügte seiner Relation außerdem ein Schreiben de Lirias bei, welche Gründe gegen die Absendung der russischen Truppen enthielt. De Liria führte darin aus, warum es für Russland nachteilig sei, Soldaten für den Kaiser zu stellen.1876 Obwohl sich Wratislaw bemühte, stimmten mit Rondeau befreundete Diplomaten überein, dass es die Allianz zwischen dem russischen und dem kaiserlichen Hof zu stören gelte.1877 Insgesamt ging es also den Gesandten bereits am Tag der Souveränitätsgewinnung mehr um die außenpolitischen und personellen Auswirkungen am russischen Hof als um eine ex1872 Vgl. ebd., fol. 101r/v (chiffriert). 1873 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 09.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 97v. 1874 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 09.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 127r/v (chiffriert). 1875 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.02/09.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 05.03./16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 05.03/16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1876 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], TNA, SP 91/11, fol. 30v–31r. 1877 Vgl. Rondeau an Under-Secretary of State Tilson, Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], TNA, SP 91/11, fol. 38r/v.
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akte Beschreibung der Vorgänge der Souveränitätserklärung. In den Editionen und Darstellungen wurden Bezüge und die jeweiligen Zugänge zu den Informationen oftmals gekürzt oder nicht berücksichtigt. Bei einer Auswertung der Archivalien Magnans hätte beispielsweise der Vorrang der Außenpolitik ausdrücklich nachgewiesen werden können.
Gründe für die Wiederherstellung der Autokratie Die Einschätzung, dass das Engagement der Garde nicht ursächlich für die Souveränitätserklärung Annas war, bedarf der weiteren Begründung. Hierfür sind die Bittschriften des Adels und insbesondere die Umstände der Entstehung der ersten Bittschrift von zentraler Bedeutung. Beide Bittschriften gelangten nach und nach zur Kenntnis verschiedener diplomatischer Vertreter. Durch deren Übermittlung waren auch die Monarchen Europas gut informiert. Le Fort übermittelte die beiden Bittschriften am 13. März,1878 Mardefeld am 16. März1879 und Wratislaw einen Tag später,1880 Magnan hingegen erst am 20. März.1881 Dass beide Bittschriften den Diplomaten bekannt waren, blieb bisher in der Forschung unberücksichtigt, da sie in den Editionen der Relationen Le Forts und Magnans nicht enthalten sind.1882 Dies verwundert allerdings aufgrund der Relevanz dieser Schriftstücke für die Ereignisse der Wiederherstellung der Autokratie. Dass den Gesandten diese zentralen Schriftstücke bekannt waren, konnte nur durch die Verwendung der Archivalien aufgezeigt werden und hatte Einfluss auf die weitere Berichterstattung der diplomatischen Vertreter: Während Wratislaw seine Darstellung vom 9. März mit der Übersendung der Bittschriften bestätigte,1883 musste Mardefeld ein Detail berichtigen: Er hatte den russischen Adel unterschätzt. Dieser habe Anna zwar die autokratische Regierungsform angetragen; dies sei aber mit der Bitte geschehen, dass sie die Ballotage bei der Wahl des Senats, der Präsidenten der Kollegien und der Gouverneure erlaube. Dies habe die Zarin aber umgehend missachtet.1884 Da Mardefeld und Wratislaw die Ereignisse der Wiederherstellung der Autokratie nach der Übermittlung beider Bittschriften als geklärt ansahen, sahen sie keine Notwendigkeit, erneut darüber zu berichten. Le Fort, Magnan und Rondeau wiederum hatten nach Bekanntwerden der Bittschriften das Bedürfnis, ihre unmittelbar am 8. und 9. März, aber auf unklarer Informationslage verfassten Relationen erneut zu ergänzen. Dies ist aufgrund des nun erst erfolgten Zugangs zu gesicherten 1878 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ) 1. Beilage, Moskau, 13.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 139r/140r. 1879 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (Beilage A), Moskau, 16.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 107r/108v. 1880 Vgl. Lit. F, Moskau, undatiert, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 206r/v. Lit. G, Moskau, undatiert, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 208r/v. 1881 Vgl. Magnan an Chauvelin (Beilage), Moskau, 20.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 94r/95r. 1882 Vgl. Polovcov, SIRIO, Bd. 5, S. 367–372. Štendman, SIRIO, Bd. 75, S. 517 f. 1883 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 17.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 151/2r–5r. 1884 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 16.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 105v/106r.
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Informationen für Magnan und Rondeau nicht verwunderlich, waren doch beide auf Auskünfte ihrer hochrangigen Kollegen angewiesen. Bei Le Fort ist dieser Umstand jedoch durchaus erklärungsbedürftig. Wie bereits dargestellt wurde, wies seine Darstellung am 8. März hohe Übereinstimmungen mit den Berichten Wratislaws und Mardefelds auf. Bereits am Tag danach schien Le Fort aber an seiner ersten Darstellung zu zweifeln, da er nun lediglich von einer Bittschrift ausging. Diese Zweifel mögen durch die in den Berichten immer wieder ausgeführten Kontakte zu de Liria, Rondeau und Magnan entstanden sein. Der Versand der Bittschriften sei für ihn Anlass, über die Abläufe erneut zu berichten, wie er selbst ausführte.1885 Was lässt sich aus der Analyse der Bittschriften für die Gründe der Wiederherstellung der Autokratie ableiten? Kurukin und Plotnikov analysierten dafür die überlieferten Unterschriften beider Petitionen. Die durch die Gesandten überlieferten Bittschriften enthalten diese Unterschriften im Gegensatz zum Originaldokument nicht. Die erste ist zudem nicht im Original, sondern lediglich in einer Abschrift erhalten.1886 Anhand der Analyse der Unterschriften waren die erste und auch die zweite Bittschrift von Personen verfasst, von denen viele zuvor das Projekt 364 entworfen und unterzeichnet hatten. Demnach scheint die veränderte Stimmungslage die Notwendigkeit begründet zu haben, sich für das bisherige Verhalten des Adels zugunsten der Machtbeschränkung gegenüber der Zarin zu rechtfertigen.1887 Dies legt nahe, dass sich die politische Stimmung schnell änderte und sich die Unzufriedenheit des Adels seit der Ankunft der Zarin in Moskau vermehrt gegen den Obersten Geheimen Rat richtete. Dies hatten die meisten Diplomaten bereits am 9. März erkannt. Auch Le Fort1888, Magnan1889 und Rondeau1890 berichteten nun, dass es den Bittstellern vor allem darum gehe, Vasilij Lukič Dolgorukij die Macht über die Garde und dem Rat seine Initiative zur Machtbeschränkung zu entziehen. Dass sich die erste Bittschrift gegen den Rat wendete, belegt auch ihre Entstehung, die aus einer kritischen Analyse der Darstellung Vasilij Nikitič Tatiščevs hervorgeht.1891 Laut Kurukin und Plotnikov sei die Entstehung der Bittschrift wie folgt verlaufen: Die erste Bittschrift sei von zwei Gruppen erstellt worden, die sich am 24. Februar in den Häusern von I.F. Baratynskij und A.M. Čerkasskij trafen. Die Gruppe um Baratynskij habe das Schriftstück in langwierigen Überlegungen zusammengestellt und der anderen Gruppe vorgelegt. Die Autoren dieser ersten Bittschrift hatten in einem ersten Schritt zum Ziel, den Verchovniki die 1885 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ), Moskau, 13.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 134r. 1886 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 100. 1887 Vgl. ebd., S. 108. 1888 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ), Moskau, 13.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 134r/v. 1889 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 16.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 109r/110r (chiffriert). 1890 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 12.03.1730 a.St. [23.03.1730], TNA, SP 91/11, fol. 50r/v. 1891 Siehe dazu ediert: V.N. Tatiščev. „Proizvol’noe i soglasnoe rassuždenie i mnenie sobravšegosja šljachetstva russkogo o ravlenii gosudarstvennom“, in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 191 f.
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Initiative über die Ausgestaltung der Regierungsform zu entziehen. Durch die Annahme der Bittschrift wären demnach die Konditionen des Obersten Geheimen Rates hinfällig und die Zarin zur Schiedsrichterin zwischen beiden Gruppen geworden. Da die Reaktionen der Verchovniki darauf nicht vorhersehbar waren, galt es, möglichst viele Personen unterschiedlicher politischer Richtungen zur Unterschrift zu bewegen, weswegen die Bittschrift so verfasst war, dass sie sich in erster Linie gegen den Rat richtete, aber die Ausgestaltung der Regierungsform bewusst offen ließ. In einem zweiten Schritt sollte eine Versammlung zur Ausarbeitung einer neuen Regierungsform einberufen werden. Aufgrund der ablehnenden Haltung des Obersten Geheimen Rats, auf die Vorschläge des Adels einzugehen, schien das zweite Ziel fraglich. Da der Kontakt zwischen den Initiatoren der Bittschrift und Anna für den Erfolg der Bittschrift notwendig war, wurde dieser durch P.Ju. Saltykova vermittelt. Am Abend des 7. März habe die Zarin dem Vorgehen die Zustimmung erteilt, was die Bittsteller von der Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens überzeugt habe. Die Anwesenheit Annas war demnach für das Vorhaben des 8. März zweifelsfrei notwendig.1892 Diese Deutung würde zudem die Darstellung der Diplomaten vom 9. März stützen, wonach die Garde sich nicht gegen die Bittsteller richtete, sondern zu deren und dem Schutz der Zarin anwesend war. Lediglich Le Fort berichtete über Gerüchte, dass es am Vorabend zu einem Konflikt zwischen dem Feldmarschall Dolgorukij und den Bittstellern gekommen sei. Die Zarin und Čerkasskij hätten aber – wie sich durch die Ereignisse bei der Souveränitätserklärung zeigte – einen gewaltsamen Zusammenstoß verhindern können. Am Vorabend wäre Baratynskij, der Schwiegersohn des Großkanzlers, ein großes Risiko eingegangen, da der Feldmarschall Dolgorukij zu ihm gesagt haben solle, dass er von einer Brücke in die Moskva geworfen werde, wenn er sich gegen ihn wende. Daraufhin habe Baratynskij geantwortet, dass es immer ruhmreich sei, für eine gute Sache zu sterben. Außerdem habe er diese Drohungen verspottet.1893 Obwohl Kurukin und Plotnikov erkannten, dass Le Fort in diesem Brief auch falsche Deutungen über die Wiedererlangung der autokratischen Herrschaft der Zarin vermeldete, halten sie diese Darstellung für möglich.1894 In diesem Brief findet sich zudem auch die Darstellung Le Forts, Anna wäre im Rat anwesend gewesen und die Verchovniki hätten sich ihre aussichtlose Lage eingestanden, um ihr daraufhin die Souveränität anzutragen. Die Zarin hätte dies aufgrund der geringen Anzahl an Unterstützern aber abgelehnt.1895 Dieses Gerücht kann eindeutig widerlegt werden, da der Oberste Geheime Rat zwar an diesem Tag zusammentrat, aber die Anwesenheit der Zarin nicht nachweisbar ist.1896
1892 Vgl. ebd., S. 102 f. Folgende Darstellungen können teilweise als widerlegt gelten, siehe Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, 194. Daniels, V.N. Tatishchev and the Succession Crisis of 1730, S. 556. 1893 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ), Moskau, 13.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 137r/v. 1894 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 105. 1895 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ), Moskau, 13.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 134r/v. 1896 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 105.
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Die Personen, die Anna in einer zweiten Bittschrift die Selbstherrschaft antrugen, waren – außer Saltykov – diejenigen, die das Projekt 364 unterschrieben hatten. Dies lässt Rückschlüsse auf die Standhaftigkeit des politischen Bewusstseins zu, denn das Projekt 364 setzte sich für eine Form der limitierten Herrschaft der Zarin ein, während bis zum 8. März der Wunsch nach der autokratischen Herrschaft Annas und der Rehabilitierung des Adels bei Anna scheinbar gewachsen sein musste.1897 Die zweite Bittschrift unterschrieb ebenfalls eine hohe Anzahl von Gardisten, die allerdings nicht gewaltsam in die Ereignisse eingriffen.1898 Die Notwendigkeit des Putsches der Garde zugunsten der Selbstherrschaft war bisher in der Historiografie damit begründet worden, dass die erste Bittschrift eine Konstitutionalisierung angestrebt hätte, was Kurukin und Plotnikov aber aufgrund der Entstehung der ersten Bittschrift ablehnen. Eine genaue Analyse der Unterschriften unter den Bittschriften ergibt, dass die erste Bittschrift 87 Personen unterschrieben, die zweite hingegen 166 Personen. Davon unterzeichneten lediglich 63 Personen beide Petitionen.1899 Wie es dazu kommen konnte, dass die Anzahl der beteiligten Adligen, die die Audienz bei Anna begehrten, in den Gesandtschaftsberichten zwischen 300 und 800 Personen betrug, konnte bisher in der Forschung nicht geklärt werden.1900 Bereits Protasov wies auf die Widersprüchlichkeit der Aussagen zu den angegebenen Unterstützern hin.1901 Ein Schlüssel zur Klärung dieser Frage ist die Neubetrachtung der Gesandtschaftsberichte vom 8. und 9. März. Dabei fällt auf, dass die meisten Gesandten keine Angaben zu den beteiligten Personen machten. Allein Mardefeld und Wratislaw nannten die Zahl von 390 Personen. Dabei ist wahrscheinlich, dass sich die Anzahl – wie bei Wratislaw ausgeführt – auf die Übergabe der zweiten Petition bezog. Wratislaw wiederholte die Zahl von 390 Personen in seiner erneuten Darstellung bei der Übermittlung der Bittschriften am 17. März und bezog sich dabei ausdrücklich auf die zweite Bittschrift.1902 De Liria sprach am 9. März von 300 Personen.1903 Auch Rondeau gab 300 Personen an, ohne aber seinen Informanten namentlich zu erwähnen. Auffallend ist die Angabe von 800 Personen erstmals am 13. März durch die Gesandten Westphalen und Le Fort. Von 800 Personen, die sich beim Kreml versammelten, hätten aber lediglich 150 eine Audienz begehrt.1904 Diese Zahlen finden sich bei Westphalen nicht am 9. März – wenigstens in dem edierten Briefteil –, sondern erst wenige Tage später – wie auch
1897 1898 1899 1900 1901 1902
Vgl. ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 107. Vgl. ebd., S. 106. Vgl. ebd., S. 106. Vgl. Protasov, Dvopjankie prošenija 1730g., S. 104–106. Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 17.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 151/1r. 1903 Vgl. N.N., Zapiski djuka Lirijskogo, S. 383. 1904 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ), Moskau, 13.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 135v.
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bei Le Fort.1905 Bei Magnan waren es nur drei Tage später bereits mehr als 800 Adlige.1906 Es scheint demnach wahrscheinlich, dass die Akteure voneinander abschrieben. Anhand der in der Forschung bekannten Zahlen der Unterschriften unter beiden Bittschriften erscheint eine Teilnahme von 800 Personen als unrealistisch. Die große Personenanzahl bei der ersten Bittschrift wird in der Forschung in Zweifel gezogen, da dieses Vorgehen nicht sinnvoll gewesen wäre. Ein einzelner Anführer oder eine kleine Gruppe erscheint tatsächlich wahrscheinlicher.1907 Zudem weist die Nennung derselben Anzahl in gleichzeitig verfassten Relationen beziehungsweise bei Magnan in zeitversetzter Form auf einen Austausch zwischen den Gesandten hin. Eine größere Anzahl Adliger bei der Übergabe der zweiten Bittschrift im Vergleich zur ersten ist aber insoweit plausibel, als dass mehr Anwesende den politischen Forderungen des Adels mehr Gewicht verleihen konnten. Die zweite Bittschrift vom 8. März umfasste nicht nur die Etablierung der Souveränität der Zarin, wie Volynskij schrieb,1908 sondern es waren zudem weitere Ansprüche des Adels darin enthalten, wie auch Mardefeld erkannte. Die Petenten baten Anna, die Souveränität anzunehmen, die bereits ihre Vorfahren ausgeübt hatten, und die Konditionen des Obersten Geheimen Rates zurückzunehmen.1909 Die Petenten formulierten in dieser zweiten Bittschrift ihre Interessen, traten für Veränderungen ein und widersetzten sich in erster Linie dem Rat. Anna gewährte die Bitte, im Gegensatz zur ersten Bittschrift jedoch, ohne eine bindende Unterschrift unter dieses Dokument zu setzen, was ihr ermöglichte, die politischen Ziele letztendlich zu ignorieren.1910 Dass die Zarin die in den Adelsprojekten enthaltenen Forderungen des Adels aber nicht gänzlich missachten konnte, zeigt sich daran, dass sie nach und nach Gesetze erließ, die diesen Zielen des Adels entsprachen. Der Oberste Geheime Rat wurde umgehend abgeschafft. Um den Forderungen des Adels entgegenzukommen, erfolgten nach dem Herrschaftsantritt Annas 1730 auch die Aufhebung des Einerbengesetzes und die Gründung einer Kadettenschule zur Ausbildung von Offizieren. 1736 erfolgte die Begrenzung der lebenslangen Dienstpflicht auf fünfundzwanzig Jahre, wobei bei mehreren männlichen Nachkommen ein Sohn gänzlich von der Dienstpflicht befreit wurde.1911 Aus der Analyse der Petenten, der Entstehung der Bittschriften und der Neubetrachtung der Diplomatenberichte auf Grundlage der Archivalien geht im Gegensatz zu den lückenhaft edierten Berichten hervor, dass keine Notwendigkeit für die Garde bestanden hatte, militä1905 Vgl. Korsakov, Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny, S. 82. Es sind nicht nur 150 Personen bei Westphalen genannt, sondern ebenfalls 800 Personen, von denen 150 eine Audienz begehrten. Dies scheint ein Übertragungsfehler zu sein. Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 106. 1906 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 16.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 109v (chiffriert). 1907 Vgl. ebd., S. 106. 1908 Siehe dazu ediert: Sobstvennoručnaja zapiska I.M. Volynskogo, priložnnaja k ego pis’mu ot 1 marta 1730 g. iz Moskvy v Kazan‘ A. P. Volynskomu, in: Vgl. ebd., S. 192 f. 1909 Siehe dazu ediert: Dvorjanskoe prošenie imperatrice Anna Ioannovne o vosstanovlenni samoderžavija i uprazdnenii Verchovnogo tajnogo soveta (25.02.1730Jul), in: ebd., S. 142–147. 1910 Vgl. ebd., S. 109. 1911 Vgl. Zernack, Polen und Rußland, S. 248 f.
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risch einzugreifen oder gar zu putschen. Die Gesandten erwähnten die Garde nicht, hielten aber gewaltsame Auseinandersetzungen im gesamten Verlauf der Ereignisse des Frühjahrs 1730 immer wieder für möglich, auch wenn diese tatsächlich nie eintraten. Aus dem in der Forschung oft zitierten Brief des russischen Adligen Volynskij an seinen Bruder1912 geht hervor, dass der Adel Anna angeblich aus Angst die zweite Bittschrift überbracht habe. Dabei ist zu beachten, dass Volynskij sich nicht als Teilnehmer im Schloss befand und seine Darstellung mithin kein Augenzeugenbericht ist.1913 Die Vermutung Kurukins und Plotnikovs, dass die Bittsteller Anna nicht aus Angst vor der Garde die autokratische Herrschaft antrugen und dass die Garde nicht gewaltsam eingriff,1914 kann durch die Betrachtung der in den Archiven vorhandenen Gesandtschaftsberichten unzweifelhaft belegt werden. Es waren demnach verschiedene politische Meinungen und damit verbundene gegensätzliche Ziele, die die Wiedererlangung der Selbstherrschaft der Zarin begünstigten.1915 Dies ist ein umso bedeutenderer Befund, da das gewaltsame Eingreifen der Garde alleinig auf ebendiesen lückenhaft edierten Gesandtschaftsberichten basierte. Dies unterstreicht in aller Deutlichkeit die Notwendigkeit, die vorhandenen Archivalien auszuwerten. Zudem kann durch die kleinteilige Analyse der diplomatischen Berichte nochmals explizit an bedeutender Stelle herausgearbeitet werden, dass der Informationszugang elementar für den Quellenwert der Berichte ist. Das Vorhandensein einer offiziellen Notifikation über die Souveränitätserklärung wurde bisher in der Forschung nicht wahrgenommen. Durch das Aufzeigen von Informationsweitergaben zwischen den diplomatischen Akteuren konnte sich der in der Forschung bisher kontrovers diskutierten Anzahl der Bittsteller angenähert und die bis heute zumeist falsch dargestellte Rolle der Garde neu bewertet werden.
Die Gegner der Machtbeschränkung Die Unterstützung der Wiedererlangung der autokratischen Macht Annas durch Jagužin skij konnte bereits ausführlich dargelegt werden. Die Befürworter der autokratischen Herrschaft Annas zu ermitteln, ist aufgrund der Quellenlage schwierig, da sie ihre gegenüber dem Obersten Geheimen Rat konspirativen Absichten und Absprachen nicht schriftlich fixierten. Eine Publikation oder Niederschrift solcher Dokumente nach der Wiedererlangung der Souveränität hätte die Zarin und die Verfasser diskreditieren können und ist daher aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erfolgt.1916 Die Vorstellungen, dass die Ehefrauen Ostermanns, Golovkins, Čerkasskijs, Saltykovs und Jagužinskijs und möglicherweise die Ehefrau Matuškins sich geheim mit der Zarin über das 1912 Siehe dazu ediert: Sobstvennoručnaja zapiska I.M. Volynskogo, priložnnaja k ego pis’mu ot 1 marta 1730 g. iz Moskvy v Kazan‘ A.P. Volynskomu, in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 192 f. 1913 Vgl. ebd., S. 107. 1914 Vgl. ebd., S. 107. 1915 Vgl. ebd., S. 60. 1916 Vgl. ebd., S. 99 f.
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Vorgehen zur Wiedergewinnung der unbeschränkten Macht absprachen, finden sich vielfach in der Literatur. Diesbezüglich wird behauptet, dass Katharina von Mecklenburg Anna zur Unterschrift unter die erste Bittschrift gedrängt und ihr Feder und Tintenfass gereicht habe.1917 Diese Vorstellungen finden sich allesamt bei Korsakov und fanden von dort Verbreitung in die Literatur. Er verweist dabei allerdings auf widerlegte Memoirenliteratur und die lückenhaft edierten Berichte Westphalens, de Lirias, Le Forts und Magnans.1918 Westphalen erwähnte den Einfluss der Hofdamen bereits am 9. März. Diese Feststellung kann jedoch nur auf Grundlage der bei Korsakov edierten Berichte getroffen werden.1919 Westphalens Deutungen bezüglich der Wiedergewinnung der Macht sind zudem im Vergleich zu denen anderer diplomatischer Vertreter ausgesprochen spekulativ.1920 Auch die Verlässlichkeit der Darstellung de Lirias über die Souveränitätsgewinnung wurde bereits hinreichend problematisiert. Daher ist dieser Quellenbefund nicht belastbar. Während die Relation Le Forts vom 13. März die Hofdamen nicht erwähnte, wies er der Herzogin von Mecklenburg eine zentrale Rolle bei der Wiederherstellung der autokratischen Macht zu.1921 Diese Aussage findet sich in einer überaus spekulativen Ausdeutung der Wiedererrichtung der Autokratie. Die synchrone Analyse der Gesandtschaftsberichte legte offen, dass die zentrale Rolle der Herzogin von Mecklenburg drei Tage später bei Rondeau und zehn Tage später bei Magnan aufgegriffen wurde. Letzterer behauptete sogar, dass das Einschreiten Katharinas von Mecklenburg einen Aufstand der Garde zugunsten der Zarin verhindert hätte.1922 Seine Deutung über die Anteilnahme adliger Frauen und Katharinas von Mecklenburg bei der Souveränitätserklärung der Zarin sandte Magnan nicht nur nach Versailles, sondern auch an seinen Kollegen de Bussy nach Wien.1923 Am 23. März führte auch Rondeau aus, dass die Ehefrauen der drei Prinzen Čerkasskij, Černyšëv und Saltykov auf Wunsch der Ehegatten mit Anna in Kontakt gestanden hätten, um die Ambitionen des Obersten Geheimen Rates zur Machtbeschränkung zu verhindern. Bei der Interpretation dieser Meldungen muss allerdings beachtet werden, dass Rondeau diesen Bericht damit einleitete, dass der Londoner Hof aus seinen letzten beiden Relationen vom 9. und 17. März 1730 habe ersehen können, dass es unmöglich gewesen sei, verlässliche 1917 Vgl. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 98 f. In seinem späteren Werk beruft er sich auf Gesandtschaftsberichte, siehe Anisimov, Anna Ioannovna, S. 45. Kurukin, Anna Leopol‘dovna, S. 26. Fleischhacker, 1730. Das Nachspiel der petrinischen Reform, S. 261. Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 50 f. Kurukin, Anna Leopol’dovna, S. 26. Whittaker, Russian Monarchy, S. 74. 1918 Korsakov, Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny, S. 265 f. 1919 Ebd., S. 82. 1920 Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 104. 1921 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ), Moskau, 13.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 134r–136r. 1922 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 16.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 109r/110v (chiffriert). 1923 Vgl. Magnan an de Bussy, Moskau, 09.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 103r/104r. Magnan an de Bussy, Moskau, 13.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 105r/106v.
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Informationen über den genauen Verlauf der Souveränitätserklärung zu erhalten, da so viele unterschiedliche Darstellungen darüber kursierten. Rondeau glaubte, dass er nun aber verlässlich über den wahren Ablauf des Ereignisses vermelden könne.1924 Durch die zeitlich versetzte Darstellung kann davon ausgegangen werden, dass es sich abermals um das Ergebnis des Austausches von Informationen unter den Diplomaten handelte. Um den Quellenwert dieser Relationen zu prüfen, gilt es abermals, die Bittschriften heranzuziehen. Kurukin und Plotnikov ermittelten die wichtigsten Akteure durch die Analyse der Unterschriften der beiden Petitionen, indem sie zudem herausfanden, welche dieser Personen von der Zarin besondere Ämter und Würden erhielten. Dies traf unter anderem auf den Generalleutnant G.P. Černyšëv, G.D. Jusupov, A.I. Ušakov, Generalmajor S.I. Sukina, A.I. Tarakanov, A.M. Čerkasskij, M.G. Golovkin, V.Ja. Novosil’cev, S.A. Saltykov und N.Ju. Trubeckoj zu, die sich zumeist im neu gegründeten Regierenden Senat wiederfanden.1925 Die Rolle dieser Adligen wiederum lasse laut Kurukin und Plotnikov Rückschlüsse auf die Rolle ihrer ebenfalls an den Ereignissen beteiligten Ehefrauen zu: Bedeutende Akteurin sei etwa P.Ju. Saltykova, die Schwiegertochter S.A. Saltykovs, gewesen. Dies wird aufgrund der zentralen Rolle ihrer Ehemänner und Brüder an der Wiedergewinnung der Souveränität und enger verwandtschaftlicher Beziehungen auch für M.Ju. Čerkasskaja, der Schwester P.Ju. Saltykovas und Ehefrau des Senators Aleksej Michajlovič Čerkasskijs, angenommen. Zudem für die Ehefrau des Generalleutnants G.P. Černyšëvs, A.I. Černyšëva, und für E.I. Golovkina, die Ehefrau M.G. Golovkins, und deren Schwester A.G. Jagužinskaja.1926 Diese Hofdamen gelten demnach als zentrale Akteurinnen. Auch Ostermann galt, wie vielfach durch die Gesandten dargestellt, als Gegner einer Machtbeschränkung. Es muss davon ausgegangen werden, dass er sich der Entscheidung der Verchovniki, die Macht Annas zu begrenzen, innerhalb des Obersten Geheimen Rates nicht erfolgreich widersetzen konnte. Daher agierte er im Verborgenen.1927 Ob die Rolle Ostermanns bei der Wiedergewinnung der Macht von den Gesandten, deren erster Ansprechpartner er war, überschätzt wurde, kann lediglich als Frage aufgeworfen werden – ebenso ob er tatsächlich erkrankt war. Möglicherweise könnten darüber Aufzeichnungen der Hofapotheke oder ärztliche Protokolle weitere Auskünfte geben. Ein Hinweis auf seine Beteiligung an der Wiedergewinnung der Macht ist allerdings die Tatsache, dass Anna ihm am Tag ihrer Krönung den Grafentitel verlieh und ihm ein Gut in Livland schenkte.1928 Ostermann sollte außerdem während der Regierungszeit Annas den Zenit seiner Macht erreichen.1929 1924 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 12.03.1730 a.St. [23.03.1730], TNA, SP 91/11, fol. 50r/51v. 1925 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 99 f. Liechtenhan, Elisabeth Ire de Russie, S. 67. 1926 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 99. Korsakov, Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny, S. 265 f. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 206 f. 1927 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 99. 1928 Vgl. Wagner, Ein Deutscher am Zarenhof, S. 36. Klueting, Ausländer in Rußland im 17. und 18. Jahrhundert, S. 150. 1929 Vgl. Wagner, Ein Deutscher am Zarenhof, S. 36 f. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 125 f.
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Katharina von Mecklenburg und nahe Verwandte Annas, die von der autokratischen Macht durch ein persönliches Näheverhältnis profitierten, werden gemeinhin als Gegner der Machtbeschränkung genannt. Dies waren Annas Onkel, V.F. Saltykov, und der Major der Preobraženskij-Garde, S.A. Saltykov.1930 Die zentrale Rolle Katharinas von Mecklenburg bei der Etablierung der Autokratie, die ihr durch Le Fort, Magnan und Rondeau – aufbauend auf den Darstellungen de Lirias und Westphalens – zugeschrieben wird, findet sich allerdings nicht bei Tessin, J.C.D. Ostermann, Mardefeld oder Wratislaw. Damit lässt sich die zentrale Rolle Katharinas von Mecklenburg vor allem durch diejenigen diplomatischen Vertreter belegen, deren Berichte stark auf die jeweils eigenen Vorstellungen aufbauten und die auf Gerüchte sowie einen Informationsaustausch mit anderen Diplomaten angewiesen waren. Ein Beleg für die Richtigkeit der bedeutenden Rolle Katharinas scheint aber zu sein, dass auch Bonde der mecklenburgischen Herzogin eine entscheidende Beteiligung bei der Wiedergewinnung der Souveränität zusprach. Bonde konnte keinerlei Interesse daran haben, die Bedeutung der Herzogin von Mecklenburg zu hoch einzuschätzen, da sie und ihre Tochter eine zukünftige Designation Karl Peter Ulrichs durch Anna gefährden konnten. Die holsteinischen Gesandten versuchten explizit, die Chance für Karl Peter Ulrich auf die Thronfolge zu erhalten. In diesem Zusammenhang riet Bonde Herzog Karl Friedrich, dass er der Herzogin von Mecklenburg vorschlagen solle, dass die Zarin sich stellvertretend als Mutter um Karl Peter Ulrich kümmern solle. Katharina von Mecklenburg habe das größte Ansehen bei ihrer Schwester, da sie ihr bei der Erlangung der Souveränität geholfen habe, so Bondes Bericht.1931 Zudem zeigte er sich besorgt, dass die junge Herzogin von Mecklenburg durch ihre Stellung am Hof der Position Karl Peter Ulrichs schaden könne. Die Familien Golicyn und Dolgorukij, die ihr Ziel der Machtbeschränkung nicht durchsetzen konnten, bereuten, Anna gewählt zu haben und nicht die alte Zarin. Bonde machte ihnen in dieser Situation deutlich, dass ihnen die Wahl des erst zwei Jahre alten Karl Peter Ulrichs lange Zeit gegeben hätte, um ihre Macht weiterhin auszuüben.1932 In der Tat bedeuteten die Nichtberücksichtigung Karl Peter Ulrichs 1730 und die Bevorzugung der jungen Herzogin von Mecklenburg das vorläufige Ende der holsteinischen Thronambitionen. Karl Peter Ulrich schien aber trotz der Bevorzugung der Ivan’schen Linie als Enkel Peters I. eine gewisse Gefahr für die Nachfolgepläne Annas darzustellen.1933 Diese Hoffnungen der holsteinischen Gesandten und des holsteinischen Hofs auf eine mögliche Designation Karl Peter Ulrichs, die sich 1730 deutlich zeigten, schienen im Zeitverlauf vor allem nach der frühen Designation der jungen Her-
1930 Vgl. ebd., S. 99. 1931 Vgl. Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 12.03.1730 a.St. [23.03.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung. 1932 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 05.03./16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung (chiffriert). Die Relation ist auf Schwedisch verfasst und beinhaltet einzelne auf Russisch verfasste Stellen. Die dechiffrierten Stellen sind jedoch auf Deutsch verfasst. Der Inhalt ist inhaltlich so weit erschlossen, wie es dem Autor möglich war. Eine umfassende Erschließung konnte aufgrund mangelnder Schwedisch-Kenntnisse leider nicht vorgenommen werden. 1933 Vgl. Myl’nikov, Petr III, S. 53.
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zogin von Mecklenburg zu schwinden. Ein Indiz dafür ist, dass Karl Peter Ulrich in seiner Erziehung zwar Schwedisch lernte, jedoch auf das Erlernen der russischen Sprache in frühen Jahren gänzlich verzichtet wurde.1934 Der junge Herzog von Holstein war nämlich nicht nur möglicher Thronfolger in Russland, sondern auch in Schweden.1935 Auch Tessin sah es als seine Aufgabe an, Anna dazu zu bewegen, dass sie sich Karl Peter Ulrichs annehme; er regte sogar an, dass der holsteinische Herzog die zwar noch sehr junge, aber in großem Ansehen bei der Zarin stehende junge Herzogin von Mecklenburg eheliche, um den holsteinischen Einfluss auf Russland zu steigern. Laut Tessin hatte der kaiserliche Gesandte Wratislaw diesen Vorschlag vorgebracht und Karl Friedrich Unterstützung durch den Kaiserhof zugesichert. Falls Karl Friedrich diesen Vorschlag ablehne, werde dieser „zur Ewigen Vergeßenheit verdamm[t]“.1936 Diese Ausführungen der holsteinischen Vertreter belegen, dass sie kein Interesse daran hatten, Katharina von Mecklenburg mehr Einfluss zuzuschreiben, als sie ohnehin bei der Zarin zu haben schien. Obwohl die Aussagen Le Forts, Magnans und Rondeaus durch die Ausführungen Bondes belegt zu werden scheinen, wurde bisher nicht hinreichend beachtet, dass diese Inhalte zeitversetzt in den Relationen erwähnt wurden und zudem spekulativ waren sowie mitunter nicht oder nicht in Gänze den Tatsachen entsprachen. Bonde bestätigte lediglich einen großen Einfluss der Herzogin von Mecklenburg auf die Etablierung der autokratischen Herrschaft, ohne jedoch auf Details einzugehen. Wie diese Unterstützung tatsächlich aussah, bleibt an dieser Stelle offen. Die Aussagen Le Forts, Magnans und Rondeaus mögen mitunter Erklärungsversuche sein, um die Ereignisse mit den eigenen Mutmaßungen in Einklang zu bringen. Es wäre möglich, dass es sich dabei um Gerüchte handelte, die Bonde aufgriff. Um aber die Gründe sowie die Quelle de Lirias und Westphalens für diese Berichterstattung zu ermitteln, die die Grundlage für die Berichterstattung Le Forts, Magnans und Rondeaus waren, bedarf es auch einer kritischen Betrachtung dieser Berichte auf Grundlage der ungekürzten Archivalien. Hypothetisch wäre es möglich, dass Westphalen den Einfluss Katharinas von Mecklenburg auf die Zarin überbewertete, um dadurch mittelbar Holstein zu schwächen. Für de Liria wäre es ebenso zweckdienlich gewesen, den Anschein zu erwecken, dass die mecklenburgische Herzogin – und somit möglicherweise auch ihr Gatte – zumindest Einfluss auf die Zarin zu nehmen versuchte. Allein Gerüchte darüber könnten die Stellung des Kaisers am russischen Hof als gefährdet erscheinen lassen. Dies hätte auch im Interesse Rondeaus gelegen, der in der Verleihung des St.-Katharinen-Ordens an die Tochter der Herzogin von Mecklenburg eine Geste der Designation als vermutliche Erbin der russischen 1934 Vgl. Eckhard Hübner: Fürstenerziehung im 18. Jahrhundert. Karl Peter Ulrich von Holstein-Gottorf, in: ZSHG, 1990, S. 73–85, hier S. 78 f. 1935 Vgl. Myl’nikov, Petr III, S. 48 f. 1936 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 05.03./16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Durch die Betrachtung gescheiterter und oftmals vergessener Eheprojekte, die in der Ex-post-Perspektive ihre Relevanz verlieren, ist es möglich, zeitgenössische Beweggründe in Erfahrung zu bringen. Auch Vermutungen können die historische Analyse voranbringen. Siehe dazu: Knöfel, Dynastie und Prestige, S. 6.
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Krone sah. In einem veröffentlichten Manifest hieß es, dass die männliche Linie Zar Peters I. ausgestorben sei, woraus Rondeau schloss, dass Karl Peter Ulrich und Prinzessin Elisabeth für die Thronfolge nicht als bedeutsam erachtet wurden. Dies sei nun offensichtlich und eine große Demütigung für die Unterstützer des holsteinischen Herzogs.1937 Eine Kontextualisierung der Gesandtschaftsberichte mit anderen Quellen könnte die an dieser Stelle schwer zu bewertenden Ausführungen der Gesandten bestätigen oder falsifizieren. Es wäre demnach zum Beispiel in Erfahrung zu bringen, ob Katharina von Mecklenburg überhaupt bei den Audienzen, in denen Anna die autokratische Herrschaft angetragen wurde, zugegen war. Auch wenn anzunehmen ist, dass Katharina als Schwester der Zarin bei der Etablierung der Souveränität eine herausragende Rolle einnahm, kann dies nicht zweifelsfrei belegt werden. Gleichwohl lag diese Rolle für die Gesandten im Bereich des Möglichen. Nach den bereits ausführlich dargelegten Neubewertungen des Quellenwerts einzelner Relationen die Rolle Katharinas und russischer Hofdamen betreffend, lassen sich noch einige in der Forschung bekannte Erkenntnisse auf den russischen Hof übertragen: Dass besonders Frauen in heiklen Situationen leichter geheime Missionen ausführen konnten als Männern,1938 schient sich durch die Handlungen der Hofdamen und weiblicher Verwandter der Zarin zu bestätigen. Die Absicht des Obersten Geheimen Rates, Anna bis zum Abschluss der Regierungsform zu isolieren, konnte demnach durch Frauen besser umgangen werden. Dass Frauen im 18. Jahrhundert dynastische Interessen unter anderem als Ehefrauen, Schwestern oder Mätressen vertraten, sei an diesem Beispiel – neben anderen europäischen Höfen1939 – auch für den russischen Hof belegt. Allgemein kann ergänzend geschlussfolgert werden, dass die Rolle von Frauen als Kommunikationspartnerinnen und höfische Akteurinnen auch in der Wahrnehmung der Diplomaten 1730 zentral war.
Die Darstellung Annas in der Eidesformel und in den Notifikationsschreiben Wie stellte sich die Zarin nach der Wiedererlangung ihrer Souveränität gegenüber den russischen Adligen und der europäischen Fürstengemeinschaft dar? Am 9. März begann die Zarin umgehend mit der Legitimierung ihrer Herrschaft. Hierfür wurde unter anderem im Kreml ein Duplikat der zweiten Bittschrift ausgelegt, die von den Untertanen unterschrieben wurde und die Legitimität Annas demonstrieren sollte. Bis einschließlich 18. März waren darunter 2246 Unterschriften zu finden. Die Mehrheit der Unterschriften, nämlich 1182, war bereits am ersten Tag, dem 9. März, erfolgt. Die Reformstimmung des Adels war in den folgenden Tagen keineswegs erloschen.1940 Zudem veranlasste Anna, dass die Ableistung des ursprünglichen Eides, der ihre Macht einschränken sollte, umgehend unterbrochen wurde. Die Eidesformeln wurden im ganzen 1937 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 06.03.1730 a.St. [17.03.1730], TNA, SP 91/11, fol. 48r. 1938 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 261. 1939 Vgl. Duindam, Vienna and Versailles, S. 239. 1940 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 110.
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Land ausgetauscht. In einem veröffentlichten Manifest vom 11. März 1730 betitelte sich die Zarin selbst als Kaiserin und Selbsthalterin aller Russen, die durch Untertanen gebeten worden sei, die bei ihren Vorfahren üblich gewesene Souveränität anzunehmen. Daher befahl sie, einen neuen Eid auszugeben, der von allen Personen des geistlichen und weltlichen Standes zu leisten war. Dieser sollte auf die souveräne Zarin geleistet werden.1941 Auch die Verchovniki, der Senat und der Synod legten umgehend den aktualisierten Eid auf die souveräne Herrscherin ab.1942 Anna legitimierte sich demnach über ihre Vorfahren und auf Grundlage der allgemeinen Zustimmung. Dass sie darin auch eine Fortführung des petrinischen Kurses bekräftigte und mehr auf ihre Wahl als auf ihre Herkunft rekurrierte,1943 kann nicht erkannt werden. Das Manifest vom 11. März und die neue Eidesformel überlieferten Mardefeld1944, J.C.D. Ostermann1945, Le Fort1946 und Wratislaw1947 in deutscher Übersetzung. Auch Magnan übersandte den ins Französische übersetzten Treueeid, den die Untertanen gegenüber der neuen Zarin zu leisten hatten.1948 Wratislaw betonte zudem, dass er am 12. März sonntags von Anna zu einem Festessen eingeladen worden sei, zu dem auch Le Fort und de Liria geladen gewesen seien. Es seien alle in festlicher Kleidung erschienen, und die Stadt sei beleuchtet gewesen.1949 Die Einladung zu einem solchem Festessen einer Herrscherin oder eines Herrschers war ein hohes Privileg eines Gesandten.1950 Am 12. und 13. März sei der Treueeid durch die Generalität, den Adel und die Kollegien abgeleistet worden. Bonde lasse eine Abschrift des Eides übersenden, da Tessin wegen Koliken habe im Haus verbleiben müsse.1951 Ebenfalls am 11. März, dem 28. Februar nach julianischem Kalender, verfasste Anna umgehend Notifikationsschreiben an die Monarchen Europas, die sowohl im russischen 1941 Siehe dazu ediert: Manifest (O vstuplenii na rossijskij prestol ee imperatorskogo veličestva gosudaryni imperatricy Anny Ioannovny, o vosprijatii samoderžavija i ob učinenii vnov‘ prisjagi). (28.02.1730Jul), in: ebd., S. 147 f. Zur Entstehung: Žurnal zasedanijaVerchovnogo tajnogo soveta (28.02.1730 Jul), in: ebd., S. 178 f. 1942 Vgl. ebd., S. 109. 1943 Vgl. Whittaker, Russian Monarchy, S. 77. 1944 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (Beilage), Moskau, 13.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 110r/v. 1945 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 02.03.1730 a.St. [13.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 284r. 1946 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 13.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 128r–130r. 1947 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief; Beilage), Moskau, 17.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 213r/v. 1948 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 16.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 110v (chiffriert). 1949 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 13.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 159v/160r. 1950 Vgl. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 211. 1951 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 02.03./13.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung.
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Original als auch in der jeweiligen Landessprache an die Monarchen gesandt wurden. Die offiziellen Schreiben an Herzog Karl Leopold und an Herzog Karl Friedrich konnten nicht aufgefunden werden. J.C.D. Ostermann versicherte aber in seiner Relation vom 13. März, dass ihm das Notifikationsschreiben Annas zugestellt worden sei und er es weitergeleitet habe.1952 Am 13. März seien die Notifikationsschreiben an Karl Friedrich und an die anderen Höfe versandt worden.1953 Die Bonde übergebene offizielle Benachrichtigung über den Tod des Zaren und über die Nachfolge Annas habe er umgehend an den Herzog gesandt.1954 Das Schreiben Annas an den französischen König Ludwig XV. ist ebenfalls im russischen Original1955 und in französischer Übersetzung1956 erhalten. Dasjenige an den englischen König Georg II. ist nicht erhalten; es geht aber indirekt aus dessen Antwortschreiben darauf hervor, dass Anna dieses am selben Tag versandte.1957 Gleiches trifft auf das Schreiben der Zarin an König August II. zu.1958 Die Schreiben enthalten, dass Anna ihre souveräne Herrschaft angetreten habe und auf Verlangen und im Einvernehmen mit dem gesamten Reich den Thron ihrer Vorfahren bestiegen habe. Zudem bestätigte sie gegenüber dem Kaiser und dem preußischen König die Zusicherung der unter ihren Vorfahren geschlossenen Bündnisse, die die jeweiligen dortigen Gesandten bereits mündlich überbracht hätten.1959 Das Handeln Annas zeigt, dass sie zu Beginn ihrer Herrschaft geschickt wusste, ihre Macht zu demonstrieren und auszuüben. Politische Untätigkeit und Desinteresse Annas, wie sie lange für ihre Regierungstätigkeit angenommen wurde, lässt sich wenigstens für die ersten Wochen ihrer Herrschaft keineswegs belegen.
1952 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 02.03.1730 a.St. [13.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 285r. 1953 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 05.03./16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1954 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 02.03.1730 a.St. [13.03.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. 1955 Vgl. Zarin Annas an König Ludwig XV., Moskau, 28.02.1730 (Jul), A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 86r/v. 1956 Vgl. ebd., fol. 84r/85r. 1957 Vgl. König Georg II. an Zarin Anna, London, 20.04.1740 (Jul), TNA, EXT 6/95, ohne Foliierung. 1958 Vgl. König August II. an Zarin Anna, Dresden, 17.04.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03017/02, fol. 2r/3v. 1959 Vgl. Zarin Anna an Kaiser Karl VI., Moskau, 28.02.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 212, fol. 24r–28r. Zarin Anna an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 28.02.1730 (Jul), GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 7055, fol. 1r–5r. Der Bestand des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz I HA Rep. 96 Geheimes Kabinett 15B enthält keine weiteren relevanten Schriftstücke.
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7.2 Die Auswirkungen der Souveränitätserklärung Annas Abschaffung des Obersten Geheimen Rats Der Oberste Geheime Rat wurde am 15. März abgeschafft und dafür ein regierender Senat nach Vorbild Peters I. eingeführt.1960 Die Mitglieder des bisherigen Rates wurden bis auf Aleksej Grigor’evič Dolgorukij alle in den 21 Mitglieder umfassenden Senat übernommen und durch weitere Adlige ergänzt. Dies waren mitunter auch Adlige, die Anna am 8. März die Selbstherrschaft angetragen hatten.1961 Den Forderungen der Reformprojekte kam dies entgegen, da die Begrenzung der Mitglieder einer Familie darin gefordert worden war. Zwar erfüllte die neue Zarin den Wunsch, einen solchen Senat wieder zu errichten, allerdings setzte sie den geforderten Wahlmodus, die Ballotage, nicht um.1962 J.C.D. Ostermann und Bonde berichteten bereits am 9. März über Pläne, den Obersten Geheimen Rat abzuschaffen.1963 Dies konnten Bonde und Mardefeld am 13. März bestätigen.1964 Dass der Großkanzler die Namen der neuen Senatoren veröffentlichte, fand lediglich bei Mardefeld Erwähnung,1965 der als Einziger das Manifest Annas über die Gründung des Senats übermittelte.1966 Dass J.C.D. Ostermann, Bonde und Mardefeld dies vor der offiziellen Verkündung vermelden konnten, zeigt, dass diese drei Gesandten hierüber besonders gut informiert waren. Zwischen dem 16. und dem 20. März übersandten nahezu alle diplomatischen Vertreter die Namen der 21 Senatoren.1967 Dass der kaiserliche Gesandte von der Auflösung des Rates in einer Audienz 1960 Siehe dazu ediert: Manifest (Ob uničtoženii Verchovnogo tajnogo soveta i Vysokogo Senata i o vosstanovlenii po-prežnemu Pravitel’stvujuščego Senata) (04.03.1730Jul), in: Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 148 f. 1961 Vgl. ebd., S. 111. 1962 Vgl. Petruchincev, Carstvovanie Anny Ioannovny, S. 39 f. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 199 f. 1963 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 281r. Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 26.02.1730 a.St. [09.03.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung. 1964 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 02.03.1730 a.St. [13.03.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 13.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 98r. 1965 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 16.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 105v/106r. 1966 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (Beilage), Moskau, 23.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 120r. Zu den Erlassen siehe Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 62 f. und S. 72. 1967 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 05.03./16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 09.03.1730 a.St. [20.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 290r/v. Le Fort an König August II., Moskau, 16.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 142r. In der Edition fehlt Ostermann, siehe Polovcov, SIRIO, Bd. 5, S. 372. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I. (Beilage B), Moskau, 16.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 109r/v. Tessin an Geheimratspräsident Stambke (Beilage), Moskau,
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mit der Zarin erfuhr,1968 zeigt, dass es ihm in kürzester Zeit gelang, ein gutes Verhältnis zu Anna aufzubauen. Die diplomatischen Vertreter beschränkten sich jedoch nicht bloß auf die Schilderung dieser institutionellen und personellen Veränderungen, sondern bewerteten sie auch umgehend: Mardefeld sah in der Besetzung des Senats und allgemein einen wachsenden Einfluss Ostermanns. Er ging unmittelbar auf Gerüchte ein, dass Ostermann vom Vize- zum Großkanzler aufsteigen könnte, da sich Golovkin von seinen Ämtern zurückziehen würde. Der Rivale Ostermanns, Vasilij Lukič Dolgorukij, habe sein Ansehen bei der Zarin verwirkt. Ebenso würde der russische Hof den als herrschsüchtig geltenden Jagužinskij kritisch betrachten. Dass alte Feindschaften zwischen Jagužinskij und Ostermann erneut entstünden, hielt Mardefeld für wahrscheinlich, aber nicht gefährlich für die Machtstellung Ostermanns. Dieser werde so klug sein, das Amt des Großkanzlers vakant zu lassen, sodass sein Einfluss geringer erscheine.1969 Drei Tage später betonte Mardefeld die herausragende Stellung Ostermanns, dessen Empfehlungen Anna bei der Besetzung des Senats gefolgt sei.1970 Jagužinskij, der unter Zar Peter I. wichtige Ämter innehatte, zeige sich darüber unzufrieden, dass er bloß einfaches Mitglied des Senats sei, wie Mardefeld chiffriert vermeldete. Er könne zudem aus sicherer Quelle berichten, dass Ostermann sich gegen eine Stellung Jagužinskijs im Kabinett wenden würde, da er diesen für „unverträglich, leicht zu bestechen und beym trunck seiner nicht mächtig“ erachtete.1971 Der kaiserliche Resident Hochholzer sah die Machtstellung Ostermanns ebenso als eine positive Veränderung seit der Souveränitätserklärung der Zarin an. Vasilij Lukič Dolgorukij, ein bedeutender Akteur bei den Bemühungen, die Macht der Zarin einzuschränken, habe hingegen fast jegliches Ansehen bei der Zarin eingebüßt. Ostermanns Erkrankung sei die ganze Zeit vorgetäuscht gewesen. Da der regierende Senat für die inneren Angelegenheiten Russlands zuständig sein werde, werde die Außenpolitik weiterhin in Ostermanns Verantwortung verbleiben, so Hochholzers Einschätzung.1972 Daraus sei ersichtlich, dass die wichtigsten Staatsgeschäfte bei den Groß- und Vizekanzlern verbleiben würden. Zudem zeigte er sich zuversichtlich, dass Verhandlungen mit der neuen Zarin einfacher würden als die Verhandlungen unter der Regierung Zar Peters II., da die Zarin vernünftig sei, sich der Re-
1968 1969 1970 1971 1972
5./16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 16.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 163v. Hochholzer an Prinz Eugen, Moskau, 16.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 165r/v. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief; Beilage), Moskau, 17.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 157/7. Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 16.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 163r. Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 13.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 98r/v (chiffriert). Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 16.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 106r (chiffriert). Vgl. ebd., fol. 106v (chiffriert). Vgl. Hochholzer an Prinz Eugen, Moskau, 15.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 161r/162r.
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gierung annehme und der Zutritt zu ihr immer offenstehe.1973 Dies war eine deutliche Kritik an der Regierungspraxis der Dolgorukij, die den Zaren durch Jagden von den Regierungsgeschäften ferngehalten hatten. Dass die Zuständigkeit für die auswärtigen Angelegenheiten in den Händen Ostermanns verblieb, war für die kaiserlichen Vertreter ausgesprochen wichtig, die – wie bereits mehrfach gezeigt werden konnte – die Lage am Moskauer Hof ausschließlich auf deren außenpolitischen Auswirkungen hin bewerteten. Le Fort schlussfolgerte auch einen Machtgewinn Ostermanns. Er war sogar der Ansicht, dass die Ernennung der Mitglieder des Senats bloß zum Schein erfolgt sei, um Zeit zu gewinnen, sie schlussendlich aus ihren Ämtern zu entfernen. Das Vorgehen der Zarin zeige bisher, dass sie selbst herrschen wolle und Ostermann eher im Verborgenen ihr Ratgeber sein werde. Seine Ratschläge könne er der Zarin durch seinen Bruder und die Herzogin von Mecklenburg vermitteln.1974 Dies offenbart expressis verbis, dass der sächsische Gesandte die enge Verbindung zwischen den Brüdern Ostermann und der Herzogin von Mecklenburg kannte oder wenigstens vermutete. Demnach lassen sich immer wieder Äußerungen von Gesandten finden, die das Näheverhältnis zwischen den beiden Brüdern Ostermann betonen. Auch für die holsteinischen Gesandten war die zukünftige Stellung Ostermanns von entscheidender Bedeutung. Tessin vermeldete am 13. März 1730 chiffriert, dass Ostermann nach den Veränderungen so mächtig sein werde wie niemals zuvor.1975 Ostermann schien gegenüber den holsteinischen Gesandten seine Erkrankung gut spielen zu können. Ostermann genese zwar, aber er könne immer noch kaum sprechen und sei nicht wiederzuerkennen, so Tessins Einschätzung nach einem persönlichen Zusammentreffen.1976 Ostermann sei am 22. März zum ersten Mal wieder am Hof erschienen; aber so schwach gewesen, dass er sich wieder in sein Bett begeben musste. Tessin und Bonde seien mehrfach vergeblich bemüht gewesen, mit Ostermann holsteinische Anliegen zu beraten. Die holsteinischen Gesandten befürchteten, ihre Anliegen würden bei anderen Personen keinen Anklang finden, sondern diese gegen sich aufbringen.1977 Daher war Ostermann für die holsteinischen Gesandten Hauptansprechpartner. Bei ungeschicktem Verhalten befürchteten sie, ihr Ansehen am russischen Hof weiter zu verlieren, zumal sie sich unter der Regierung Katharinas I. mit ihren Forderungen teilweise unbeliebt gemacht hatten. Ostermann zeige sich demnach zufrieden mit dem abwartenden Verhalten der holsteinischen Gesandten. Tessin vermerkte zudem, „sich einer gantzen Nation Willkühr zu widersetzen ist leichter gesagt alß getahn“.1978 Auch Le Fort 1973 Vgl. Hochholzer an Prinz Eugen, Moskau, 16.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 165r/v. 1974 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 20.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 144r/v (chiffriert). 1975 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 02.03./13.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung (chiffriert). 1976 Vgl. ebd., ohne Foliierung. 1977 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 12.03/23.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 12.03/23.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1978 Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 05.03./16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung.
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verband mit der ersten Anwesenheit Ostermanns am Hof, dass dieser seine Arbeit wiederaufnehmen könne.1979 Obwohl Rondeau erst spät über die Errichtung des Senats berichtete, nahm er als Folge der Souveränitätserklärung wahr, dass die für die Limitierung der Macht verantwortlichen Familien Golicyn und Dolgorukij nicht mehr so hoch angesehen seien, obwohl die meisten von ihnen sich im Regierenden Senat wiedergefunden hätten. Die Mitglieder dieses Gremiums übermittelte Rondeau namentlich.1980 Die Namen der Senatoren in Erfahrung zu bringen und zu übermitteln, war für die diplomatischen Vertreter und für die Höfe wichtig, da sie daraus die zukünftige Machtstellung einzelner Personen oder Familien am Zarenhof einschätzen konnten. Diese Auflistung Rondeaus ist jedoch nicht ediert worden. Bei der Edition der übermittelten namentlichen Nennung der Senatoren in der Relation Magnans ergeben sich Abweichungen vom Original. Er berichtete am 16. März darüber, dass ein Senat aus 21 Personen geschaffen worden sei. Magnan listete in seiner Relation vom 16. März an den französischen König aber nicht alle 21 Namen der Senatoren auf – wie die Edition suggeriert1981 –, sondern lediglich 15 Personen.1982 An dieser Stelle gibt die Edition vor, dass Magnan über Wissen verfügte, das er zu diesem Zeitpunkt noch nicht hatte. Die Nennung aller Senatoren war dem Chargé d’Affaires noch nicht möglich gewesen, da ihm diese noch unbekannt waren. Magnan am 16. März offen zu, dass es ihm nicht gelungen sei, eine Liste der Mitglieder des Senats mitzusenden, was ihm laut eigenen Angaben erst am 20. März gelang.1983 In der edierten Variante beider Briefe ist im ersten Brief diese Einschränkung seines Kenntnisstandes ausgelassen und im Brief vom 20. März die Aufzählung der 21 Personen.1984 Hierin zeigt sich zum einen abermals Magnans schlechter Informationszugang, zum anderen eine problematische Editionspraxis. Magnan ging zudem darauf ein, dass die Zarin derzeit alles nach ihrem Willen gestalte und wichtige Positionen am Hof neu besetze.1985 Selbst Magnan musste bekennen, dass die personelle Zusammensetzung des neuen Senats keinen Zweifel daran lasse, dass Ostermann sein altes Ansehen beibehalte und die Interessen Wiens am russischen Hof weiterhin stark vertreten werde.1986 Nachdem er in seinen bisherigen Berichten zumindest von einer Schwächung des Einflusses Ostermanns ausgegangen war, musste er dies mehr und mehr korrigie1979 Vgl. Le Fort an König August II., Moskau, 23.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 149r/v. 1980 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend (Beilage), Moskau, 12.03.1730 a.St. [23.03.1730], TNA, SP 91/11, fol. 52v. 1981 Vgl. Štendman, SIRIO, Bd. 75, S. 513. 1982 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 16.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 111r. 1983 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 20.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 116v (chiffriert). Magnan an Chauvelin (Beilage), Moskau, 20.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 108r. 1984 Vgl. Štendman, SIRIO, Bd. 75, S. 517 f. 1985 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 20.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 116v/117r (chiffriert). 1986 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 16.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 110v/111r (chiffriert).
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ren. Neben der Besetzung des Senats und insbesondere der Stellung Ostermanns wurde die Vergabe der Hofämter beobachtet.1987 Mardefeld berichtete, dass Ostermann zwar noch nicht gänzlich genesen sei. Trotzdem wolle dieser zu Beratungen mit der Zarin fahren, da sie sich mit ihm beratschlagen wolle. Selbst der russische Hofadel rühmte nun das Verhalten Ostermanns im Senat öffentlich, da er in heikler Zeit ein so kluges und tadelloses Verhalten an den Tag gelegt habe. Im Senat soll es geheißen haben: „Sie müsten an diesem Teütschen ein Exempel nehmen, wie Sie treu und wohl dienen solten.“1988 Mardefeld führte außerdem aus, dass Anna sich ihrer Regierung mit bewundernswertem Eifer und Sorgfalt widme und sie die Regierungsgeschäfte persönlich führen werde. Bei der Einrichtung ihres Hofstaats habe sie verlauten lassen, dass sich niemand unterstehen solle, als Favorit zu agieren, sie zur Jagd zu verleiten oder betrunken vor ihr zu erscheinen. Ein jeder solle sein Amt mit Sorgfalt wahrnehmen und mit den anderen in Frieden leben.1989 Dies war eine deutliche Kritik am früheren Favoriten Peters II., Ivan Dolgorukij. Auch Le Fort zeigte sich zufrieden mit der Einrichtung des Hofstaates. Er berichtete, dass die neue Zarin gelobe, dass der Zugang zu ihr einfacher sein solle als unter Zar Peter II. Zudem habe sie den Offizieren am Hof verdeutlicht, dass keiner eine Favoritenstellung am Hof einnehmen werde und darunter somit auch niemand zu leiden hätte. Dies hatte Hochholzer bereits vermeldet. Laut Le Fort könne man die Zarin täglich sehen, wenn sie in die Kirche gehe. Mit diesen Verhaltensweisen mache sie sich beliebt und gefürchtet zugleich, so Le Forts Einschätzungen.1990 Auch er lobte die persönliche und mit großem Sachverstand begonnene Regierungstätigkeit der Zarin.1991 Der Einfluss von Favoriten – auch niederer Herkunft – zieht sich als Phänomen seit dem Favoriten Peters I., Alexander Danilovič Menšikov, bis zur Regierungszeit Zarin Katharinas II. durch das gesamte 18. Jahrhundert. Eine russische Besonderheit war hierbei, dass es auch Personen niederer Herkunft gelang, bis an die Staatsspitze aufzusteigen.1992 Es war demnach keineswegs eine Begleiterscheinung weiblicher Herrschaft. Dabei war die starke Stellung eines Favoriten ebenso kein rein russisches Phänomen, 1987 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 05.03./16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 05.03/16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 09.03/20.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 20.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 114r/v. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 09.03.1730 a.St. [20.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 291r. Lit. H., Moskau, undatiert, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 251r. Zur personellen Aufstellung des Hofstaates siehe Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 91–94. 1988 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 20.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 114v. 1989 Vgl. ebd., fol. 115v. 1990 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 20.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 145r/146r. 1991 Vgl. ebd. 1992 Vgl. Kusber, Zur Frage von Schande und Ehre im russischen Hochadel des 18. Jahrhunderts, S. 131– 140. Alexander, Favourites, Favouritism and Female Rule in Russia 1725–1796, S. 106–124.
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sondern auch am französischen Hof anzutreffen. Ein Beispiel dafür ist Kardinal Fleury. Auch am Kaiserhof war es kein unbekanntes Phänomen, aber seltener anzutreffen. Ein Aufstieg aus den untersten gesellschaftlichen Schichten zum Favoriten, wie es in Russland möglich war, war am Kaiserhof allerdings unmöglich. Favoriten hingen stärker als andere Inhaber von Hofämtern von der persönlichen Gunst des Herrschers oder der Herrscherin ab und konnten somit auch schneller in Ungnade fallen, waren von der Verbannung in ein Exil bedroht oder dienten mitunter als Sündenböcke für Verfehlungen oder unpopuläre Entscheidungen1993 – ein Schicksal, das 1730 die Dolgorukij traf.
Der Niedergang der Dolgorukij Wie bereits bei der Durchsetzung einer möglichen Thronfolge Katharina Dolgorukajas deutlich wurde, verlor die unter Peter II. einst so mächtige Familie Dolgorukij seit dem Tod des Zaren kontinuierlich an Macht und Ansehen. Diesen Niedergang nahmen die Gesandten fortwährend wahr. Vasilij Lukič Dolgorukij, der die Zarin aus Mitau begleitete, schien zwar seine Machtstellung bis zur Souveränitätserklärung ausbauen zu können. Sein Niedergang setzte aber unmittelbar mit der Erklärung der absoluten Herrschaft der Zarin ein. Der ehemalige Favorit Ivan Alekseevič Dolgorukij, seine Schwester und ehemalige Braut Peters II., Katharina Dolgorukaja, und deren Vater, Aleksej Grigor’evič Dolgorukij, hingegen gerieten bereits seit dem Tod des Zaren in Verruf, wie bereits gezeigt werden konnte. Wie schnell sich enge Beziehungen zu russischen Adligen negativ auf den Ruf von diplomatischen Vertretern auswirken konnten, zeigt eine Äußerung Tessins, der versuchte, den dänischen Gesandten Westphalen bereits Anfang März zu diskreditieren. Über die Gratulationskomplimente, die Westphalen Katharina Dolgorukaja gemacht habe, würde man in Moskau nicht zürnen, sondern lachen.1994 Für die Gesandten war wichtig, welche Änderungen Anna am Hofstaat vornahm. Noch vor der Ausrufung der Souveränität erregten Gerüchte in Moskau Aufsehen, dass die ehemalige Braut Zar Peters II. und ihr Vater sich auf ihr Landgut zurückziehen würden. Ob dies ein Rat Vasilij Lukič Dolgorukijs gewesen sei – der bis zur Souveränitätserklärung als überaus mächtig angesehen wurde – oder ein Befehl der Zarin, darüber mutmaßten die Gesandten. Dabei war anfänglich unklar, ob dies nur eine zeitweilige oder dauerhafte Abwesenheit vom Hof bedeutete.1995 Die Motivation von Vasilij Lukič Dolgorukij schien da1993 Vgl. Duindam, Vienna and Versailles, S. 242–248. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 65–69. 1994 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 19.02./02.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 1995 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 02.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 140r. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 06.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 144v. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 19.02./02.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 23.02./06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. ebd. Le Fort an König August II., Moskau, 02.03.1730, HStA Dresden, 10026, Nr. 3023/07, fol. 105r/v. Le Fort an König August II., Moskau, 06.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 110v/111r (chiffriert). Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 02.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 107r–109r (chiffriert).
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rin zu liegen, seine Machtposition zu bewahren und sich dem Niedergang seiner Verwandten zu entziehen.1996 Dies belegt, wie flüchtig verwandtschaftliche Beziehungen waren, wenn die politischen Ziele nicht übereinstimmten.1997 Tessin kommentierte die Lage der Dolgorukij bereits zwei Tage vor der Souveränitätserklärung der Zarin wie folgt: „Inzwischen stellet demnach diese Familie den unbestand und wechsel dieser Zeit expemplarisch genug vor und wird von denen Meisten anietzo eben so sehr verfolget und verfluchet, daß sie vor kurtzem geehret und fast angebetet wurden.“1998
Danach berichteten die diplomatischen Vertreter überaus ausführlich und drastisch über die Vergehen der Familie Dolgorukij, um darzulegen, dass diese ihre Machtstellung unter Zarin Anna umgehend einbüßen müssten. Der einhellige Tenor der Berichte war, dass die Dolgorukij sich ungebührend bereichert hätten, worüber die Zarin eine Untersuchung angeordnet habe, um die entwendeten Gegenstände zurückzufordern. Die Anschuldigungen reichten hierbei von immensen Geldsummen, über goldenes und silbernes Tafelgeschirr bis zu Juwelen.1999 Die folgenden Ausführungen Mardefelds stehen exemplarisch für die Ausführungen der Gesandten: „Die Rechnung, so Ihnen gemacht wird, soll sich über eine Million betragen, indem Sie alles dergestalt spolyret, daß er Kayserin Mth. nicht einmahl eine Tapisserie gefunden, umb Dero Zimmer damit zu bekleiden.“2000
Mardefeld vermutete, dass noch weitere unlautere Praktiken und Pläne aufgedeckt werden würden, da die Dolgorukij sogar von ihren intimsten Freunden verlassen und verraten worden seien.2001 Als Geschenk des preußischen Königs nach Russland gesandte Pferde solle Ivan Dolgorukij nicht mehr erhalten, da er den Pferdebestand der zarischen Ställe ruiniert und sein Ansehen am Hof verloren habe. Stattdessen wollte Mardefeld der Zarin diese Pferde als Geschenk
1996 1997 1998 1999
2000 2001
Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 02.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 78r. Cramm an N.N., Moskau, 07.03.1730, HHStA Wien, Russland I, Karton 32, Konvolut 2, fol. 49r/50r. Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, S. 192 f. Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 76. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 23.02./06.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 16.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 106r. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 20.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 147v/148r. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 09.03/20.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 20.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 115r. Vgl. ebd., fol. 115r (chiffriert).
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überreichen.2002 Wratislaw beanstandete nicht nur, dass die Dolgorukij wertvolle Gegenstände, Bargeld und Pferde entwendet hätten, sondern sogar die kleinere der beiden Kutschen, die ein Geschenk des Kaisers waren. Diese müssten sie umgehend der Zarin zurückgeben.2003 Anscheinend war die Kutsche nicht zurückgegeben worden, nachdem Ivan Dolgorukij mit dieser Kutsche seine Schwester zur Verlobungsfeier mit dem Zaren abgeholt hatte.2004 Während J.C.D. Ostermann nichts über den Machtverfall der Dolgorukij berichtete, waren die Meldungen Rondeaus und Magnans knapp und weitaus weniger reißerisch.2005 Nachdem Magnan bereits am 16. Februar Gerüchte über das Fehlverhalten der Dolgorukij vermeldet hatte,2006 beklagte er nun eher den Machtverlust der Dolgorukij in chiffrierter Form und berichtete darüber ohne die sonst den Gesandtschaftsberichten inhärente Drastik. Die ehemaligen Hofbediensteten Zar Peters II. seien mit Ausnahme des Oberkammerherrn Aleksej Dolgorukij wieder angestellt. Gleichzeitig gebe es das Gerücht, welches sich seit dem Tode des Zaren verbreitete, dass die ehemalige Braut des Zaren im vierten Monat schwanger sei.2007 Dieses Gerücht hatte das Potenzial, die Thronfolge Annas infrage zu stellen und die Ordnung in Moskau zu stören. Es war aber vollkommen gegenstandslos. Die Berichterstattung über die vielfach geäußerten Anschuldigungen intensivierte sich. Tessin empörte sich, dass Ivan Dolgorukij noch nicht einmal die Kirchen verschont hätte. Er hätte eine große Bibel, die bei Krönungsakten verwendet werde und 100.000 Rubel wert sei, und Chorwerk, Zepter und Kopfbedeckungen des Patriarchen sowie andere Reliquien aus dem Kronschatz entwendet, um diese einzuschmelzen und daraus die Edelsteine herauszubrechen, um sie zu verkaufen. Diese Gegenstände seien ebenso wie der Verlobungsring Katharina Dolgorukajas und alle übrigen Geschenke mittlerweile wieder zurückgeben worden.2008 Bonde bestätigte die Darstellung Tessins und leitete daraus ab, dass Ivan Dolgorukij sich in großer Lebensgefahr befinde. Auch ein großer Brilliant des Fürsten Menšikov sei entwendet worden.2009 Bonde fügte hinzu, dass das Geld in Moskau sehr knapp sei, da die Dolgorukij schlecht gewirtschaftet hätten.2010 Chiffriert ergänzte er allerdings auch deutliche
2002 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 20.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 96, 3 H 1, fol. 2r/v. 2003 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 20.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 247r/248r. 2004 Vgl. Döberl, „Ein paar schöne wägen nach der Wiennerischen neuesten façon“, S. 309–311. 2005 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 12.03.1730 a.St. [23.03.1730], TNA, SP 91/11, fol. 52r. 2006 Vgl. ebd. 2007 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 20.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 117r (chiffriert). Auch Le Fort berichtete am 17. April 1730 erneut von Gerüchten einer möglichen Schwangerschaft, siehe Liechtenhan, Elisabeth Ire de Russie, S. 62. 2008 Vgl. Tessin an Geheimratspräsident Stambke, Moskau, 12.03/23.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 2009 Vgl. Bonde an Hofkanzler Stryk, Moskau, 12.03.1730 a.St. [23.03.1730], LASH, Abt. 8.1, Nr. 2229, ohne Foliierung. 2010 Vgl. ebd.
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Kritik an der neuen Zarin: Anna habe daran auch ihren Anteil, da sie ordentlich in die Kassen gegriffen habe, um für ihre Krönung alles neu anfertigen zu lassen.2011 Auch Le Fort zeigte sich empört über das angebliche Verhalten der Dolgorukij: Deren Vergehen seien unvergleichlich, und der Name der Familie sei verdorben, da diese nicht nur zu Lebzeiten des Zaren, sondern auch nach dessen Tod Wertgegenstände entwendet hätten. Zudem werde dieses verwerfliche Verhalten von einem Stolz begleitet, der in den Wahnsinn übergehe. Dieses Verhalten basiere darauf, dass Katharina Dolgorukaja angeblich schwanger sei und einen Thronfolger gebären könne. Le Fort zeigte sich überzeugt davon, dass Zarin Anna diese Affäre lösen werde, indem sie die Dolgorukij für deren Verfehlungen hart bestrafen werde. Die ehemalige Verlobte habe sich noch nicht einmal überzeugen lassen, der neuen Zarin einen Besuch abzustatten. Obwohl die Suche nach Gegenständen beendet sei, würden die Folgen davon noch lange zu spüren sein. Le Fort ergänzte, dass Ivan Dolgorukij nicht davor zurückschreckte, Juwelen von einem Messbuch aus der Kirche, von einem Zepter und von einem Priestergewand zu entfernen.2012 Mögen diese Ausführungen an der ein oder anderen Stelle reißerisch klingen oder gar unbewiesene Gerüchte sein, werden sie in der Literatur aufgegriffen, und ihre Folgen sind unstrittig: Der Machtverlust der Dolgorukij trat umgehend ein. Ivan Dolgorukij wurde am 10. März 1730 aus der Majorsgarde ausgeschlossen. Seit dem 16. März stand er unter Hausarrest, und die von ihm unter Zar Peter II. entwendeten Gegenstände der russischen Krone wurden zurückgefordert.2013 Die Dolgorukij waren nur die Ersten, die die Zarin bestrafen konnte. Sie wurden unter anderem angeklagt, die Gesundheit des Zaren gefährdet und die Ehe mit Katharina Dolgorukaja durch eine Intrige herbeigeführt zu haben.2014 Der Favorit Ivan Dolgorukij und sein Vater Aleksej Grigor’evič Dolgorukij wurden mit ihren Ehefrauen und ihren Kindern, darunter Katharina Dolgorukaja, umgehend verbannt, was der gängigen Praxis in Russland zu dieser Zeit entsprach.2015 Es sollten letztendlich bis zum Ende der Herrschaft der Zarin alle wichtigen Protagonisten der Machtbeschränkung – teilweise mit dem Tode – bestraft werden, wenn auch mit deutlicher Zeitverzögerung.2016 Anna konnte die an der Machtbeschränkung beteiligten Personen aufgrund ihrer Machtstellung allerdings nicht kollektiv bestrafen, da zu viele Personen, die zudem wichtige Ämter innehatten, an der Machtbeschränkung beteiligt waren.2017 2011 Vgl. ebd., ohne Foliierung (chiffriert). 2012 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ), Moskau, 23.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 158r/159v (chiffriert). 2013 Vgl. Kurukin, Plotnikov, 19 janvarja–25 fevralja 1730 goda, S. 98 (FN 11). 2014 Vgl. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 147. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 142. 2015 Vgl. Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 53. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 148–156. Anisimov, Frauen auf dem russischen Thron, S. 141–144. 2016 Vgl. ebd., S. 141–144. Tret´jakova V., Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny, S. 54–56 und S. 75–84. 2017 Vgl. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy, S. 147.
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Die Zusicherung des Bündnisses und der Absendung der Truppen Auch nach der Souveränitätserklärung standen die Verlängerung der Bündnisse und die Zusicherung der Absendung der russischen Truppen an den Kaiser durch die Zarin bei allen auswärtigen Vertretern stets im Mittelpunkt des Interesses. Immer wieder kursierten dabei Gerüchte, die die Erfüllung der russischen Bündnisverpflichtung in Zweifel zogen. Nachdem Wratislaw die Souveränitätserklärung bereits als vorteilhaft für die Interessen des Kaisers erachtet hatte, vermeldete er am 13. März, dass er noch immer auf die Zusicherung der Zarin in einer persönlichen Audienz warte, bevor er einen Kurier nach Wien absende.2018 Um jegliche Missverständnisse bei Anna zu vermeiden, wolle er ihre Garantie „auß der regierenden und nunmehr absoluten Frauenmund selbsten vernehmen“,2019 sodass Wratislaw nicht den Anschein erweckte, er würde mehr auf die Bestätigung des Obersten Geheimen Rates als auf die der Zarin geben. Nachdem die gewünschte Audienz am 15. März zur größten Zufriedenheit verlaufen sei, konnte der kaiserliche Gesandte umgehend einen Kurier entsenden.2020 Auch Bonde bestätigte die Audienz des kaiserlichen Gesandten, bei der Wratislaw die Weiterführung der Allianz durch die Zarin versichert bekommen habe.2021 Tessin nutzte die Gelegenheit, seinen Bericht mit dem Kurier Wratislaws zu versenden. Dabei habe es Tessin nicht als notwendig angesehen, seine über Berlin versandte Relation zu chiffrieren.2022 Diese Interaktion und das Vorgehen der beiden Gesandten zeigt ein deutliches Vertrauensverhältnis zwischen dem kaiserlichen und dem holsteinischen Gesandten. Zudem führte Tessin explizit aus, dass die Bemühungen der kaiserlichen Gegenpartei keinen Erfolg gehabt hätten.2023 Bei einer Audienz Mardefelds beim Großkanzler Golovkin habe der russische Adlige abermals die Unterstützung Russlands für den Kaiser gegen die Alliierten von Sevilla beteuert, wie Mardefeld berichtete. Zudem habe Anna Wratislaw in einer persönlichen Audienz die Absendung der Hilfstruppen zugesichert. Mardefeld hatte zuvor seine erste Weisung seit dem Tod des Zaren erhalten. Der preußische König forderte ihn darin auf, eine umgehende Bündnisverlängerung zu erwirken und seine Weisung sofort dem Großkanzler Golovkin sowie dem Vizekanzler Ostermann vorzutragen.2024 2018 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 13.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 157/26r/158v. 2019 Ebd., fol. 159r. 2020 Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 16.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 163r/v. 2021 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 05.03./16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung. Die Relation ist auf Schwedisch verfasst und beinhaltet einzelne auf Russisch verfasste Stellen. Die dechiffrierten Stellen sind jedoch auf Deutsch verfasst. Der Inhalt ist inhaltlich so weit erschlossen, wie es dem Autor möglich war. Eine umfassende Erschließung konnte aufgrund mangelnder Schwedisch-Kenntnisse leider nicht vorgenommen werden. 2022 Vgl. Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 05.03./16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 2023 Vgl. ebd. 2024 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 16.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 105r/v.
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Le Fort gab ebenfalls die Einschätzung ab, dass die derzeitigen Geschehnisse das Bündnis zwischen dem Kaiser und der Zarin stärken würden. Die Anhänger der Allianz von Sevilla hingegen hätten ihr Ansehen am russischen Hof verloren. Er war zudem der Meinung, dass sein Ansehen am Moskauer Hof nie besser gewesen sei als zu diesem Zeitpunkt. Ihm sei es gelungen, in der Zarenfamilie, beim Feldmarschall Golicyn und bei der Zarin selbst große Wertschätzung zu erlangen. Le Fort sei vom Großkanzler Golovkin gebeten worden, sich für die bestehenden guten Beziehungen zu König August II. einzusetzen; darum bat auch der Feldmarschall Golicyn, der am Hof auf die Gesundheit Augusts II. getrunken habe. Der Feldmarschall habe zudem die 30.000 Soldaten für den Kaiser zugesagt, und er avisierte sogar 60.000 Soldaten, sofern dies erforderlich würde.2025 Der Toast auf die Gesundheit des Monarchen war eine europaweit verständliche symbolische Geste für das Wohl des Monarchen.2026 Da die Zarin nun souverän sei, sah sich Le Fort in der Lage, über einen Sachverhalt berichten, der ihm lange Unbehagen bereitet habe. Sein Kurier beziehungsweise dessen Gehilfe seien auf dem Weg nach Mitau auf Sumarokov getroffen und hätten diesen unterstützt, zu Anna zu gelangen. Der Gehilfe des Boten sei sogar mit Sumarokov verhaftet worden, aber letzte Nacht gesund in Moskau angekommen. Bis dahin hätten feindlich gesinnte Personen versucht, ihn nach der Verhaftung Jagužinskijs aufgrund seines Vertrauensverhältnisses zu diesem in Verruf zu bringen. Dieses Ereignis habe sich aber mittlerweile ins Positive verkehrt. Jagužinskij habe Le Fort bei ihrer ersten Begegnung als Komplize bezeichnet und ihm seine freundschaftliche Verbundenheit beteuert.2027 Diese Ausführungen lassen es möglich erscheinen, dass Sumarokov tatsächlich zu Anna gelangte.2028 Dies ist gleichwohl wenig wahrscheinlich, da die angeblichen Unterstützer Sumarokovs weder in den Quellen des Obersten Geheimen Rates noch in den Vergleichsdarstellungen anderer Gesandte erscheinen. Diese Ausführungen Le Forts haben wahrscheinlich eher das Ziel, seine Fähigkeiten als Gesandter zu betonen, um seine Reputation bei König August II. zu vergrößern. Le Fort sei zudem am Tag nach der Souveränitätserklärung in Gegenwart seiner Gattin zur Audienz gelassen worden.2029 Dass die Ehefrauen diplomatischer Repräsentanten zu Feierlichkeiten eingeladen waren, soweit sie ihre Ehemänner auf den diplomatischen Missionen begleiteten, findet sich immer wieder in Gesandtschaftsberichten. Die Ehefrau des kaiserlichen Legationssekretärs Hochholzer begleitete ihn zu früheren Festlichkeiten.2030 In dem betrachteten Zeitraum geht dies nur für die Ehefrau Le Forts explizit aus den Quellen hervor, auch wenn es bei der Gattin Hochholzers aufgrund der Ausgaben für festliche Kleidung angenommen werden kann.2031 2025 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 13.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 131r–133r (chiffriert). 2026 Vgl. Duindam, Versailles, Vienna and Beyond: Changing Views of Household and Government in Early Modern Europe, S. 409. 2027 Vgl. ebd. 2028 Vgl. Kurukin, Ėpocha „dvorskich bur‘“, S. 174. 2029 Vgl. Le Fort an König August II. (dritter Brief ), Moskau, 13.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 136v. 2030 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 248. 2031 Vgl. Hochholzer an Kaiser, Moskau, 23.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 235, 439r.
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Mardefeld berichtete zudem über Gerüchte, der schwedische und der dänische Gesandte seien unter Verdacht geraten, der „Republicanischen partey“2032 – wie Mardefeld die Gegner der Autokratie nannte – in Russland geholfen zu haben. Zwischen Befürwortern der Machtbeschränkung und den beiden Gesandten sei es zu Gesprächen mit dem Ziel gekommen, die europäische Macht Russlands zu vermindern, um Schweden und Dänemark zu alter Stärke zu verhelfen. Obwohl sich die Zarin gegenüber den Befürwortern der Machtbeschränkung derzeit zurückhaltend zeige, werde sie diese wahrscheinlich in Zukunft aus ihren Ämtern entfernen.2033 Auch J.C.D. Ostermann berichtete von Gerüchten, dass der dänische und schwedische Gesandte sich viel Mühe gegeben hätten, die „sogenanten republicaner mit offrirung einer gut Summe geldes unter der Hand zu stärken und die nuhmehr wieder eingeführte Souverainitet, zu verhinderen“.2034 Le Fort sah auch den schwedischen Gesandten durch das Gerücht diskreditiert, dass der schwedische Hof den ehemaligen Mitgliedern des Obersten Geheimen Rates 300.000 Rubel angeboten hätte, wenn sie die Souveränität der Zarin einschränkten. Als der schwedische Gesandte der Herzogin von Mecklenburg zur Erlangung der Souveränität ihrer Schwester gratulierte, habe diese zu ihm gesagt, sie wisse, dass seine Wünsche nicht von Herzen kämen.2035 Die von Le Fort erwähnten Vorkommnisse und die Äußerungen Katharinas von Mecklenburg erscheinen in dieser Form zweifelhaft, da der schwedische Gesandte am 16. März 1730 selbst nur von kursierenden Gerüchten sprach, wonach unter anderem Golicyn Gespräche mit ihm geführt hätte, um Schweden für zwei Millionen Rubel dessen ehemalige Ostseeprovinzen abzutreten.2036 Obwohl der Wahrheitsgehalt dieser Aussagen im Detail schwer zu ermitteln ist, bewirkten diese Gerüchte eine Schwächung dieser Gesandten. Aber auch die gefestigte Stellung des Kaisers am russischen Hof schien durch Gerüchte durchaus gefährdet zu sein. Le Fort berichtete chiffriert, dass die Vertreter der Allianz von Sevilla bereits eine Hochzeit der Zarin mit dem Prinzen von Hessen-Kassel planten, auch wenn das Scheitern dieser Bemühungen unzweifelhaft sei.2037 Ebenso gab es Erwägungen Magnans, ob Moritz von Sachsen, der uneheliche Sohn Augusts II. und ehemalige Liebhaber Annas, an den russischen Hof gesandt werden würde.2038 Auch Mardefeld vermeldete Gerüchte, dass Madame Le Fort darum bemüht sei, den Grafen Moritz von Sachsen als polnischen Gesandten nach Moskau entsenden zu lassen, um Anna zur Annahme der Krone zu
2032 Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 13.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 109v (chiffriert). 2033 Ebd., fol. 98v/99r (chiffriert). 2034 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 02.03.1730 a.St. [13.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 284r. 2035 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 13.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 131r/v (chiffriert). 2036 Vgl. Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, 193. 2037 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 16.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 143r (chiffriert). 2038 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 20.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 116r/v (chiffriert).
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gratulieren und ihr den polnischen Weißen-Adler-Orden zu verleihen.2039 Auch Bonde ging auf das Engagement Le Forts und seiner Frau ein.2040 Diese Gerüchte konnten umso leichter entstehen, da sich Le Fort bereits 1726 vergeblich um die Vermählung Annas mit Moritz von Sachsen bemüht hatte.2041 Dabei ist zu bedenken, dass die beiden Genannten diejenigen Heiratskandidaten waren, die der Kaiser in jedem Fall verhindern wollte. Dies belegt, dass dem frauendominierten russischen Hof eine besondere Aufmerksamkeit bezüglich europäischer Heiratspolitik galt. Auch die Hochzeit Prinzessin Elisabeths thematisierten Wratislaw und Tessin. Wratislaw hoffte, dass die geplante Hochzeit mit dem ältesten Markgrafen von Bayreuth nicht durch Elisabeth abgesagt werde, um „ihr leben in ledigen Stande zu zubringen“.2042 Die Heiratspolitik folgte auch hier den Erfordernissen der europäischen Bündnispolitik und hatte zum Ziel, die Machtkonstellationen am russischen Hof durch die Ehemänner der russischen dynastischen Repräsentantinnen zu beeinflussen und zu bestimmen. An der Berichterstattung J.C.D. Ostermanns gegenüber Herzog Karl Leopold zeigt sich, dass J.C.D. Ostermann zwar entgegen den Interessen seines Herzogs das Bündnis zwischen Russland und dem Kaiser bestätigen musste, jedoch umgehend mögliche Veränderungen im Sinne Karl Leopolds vorbrachte und sich rechtfertigte. J.C.D. Ostermann musste einräumen, dass es ihm entgegen seiner Weisung nicht gelungen war, eine Verlängerung der mecklenburgisch-russischen Allianz als Vorbedingung für die Verlängerung des Bündnisses mit dem Kaiser zu erreichen. Stattdessen habe er von den Mitgliedern des Rates zur Antwort bekommen, dass sie sich kontinuierlich für die Interessen des mecklenburgischen Herzogs beim Kaiser einsetzen würden. Zudem stünde die Bündnisverlängerung mit dem Herzog nach der Wiedereinführung der Souveränität und der erfolgten Abschaffung des Obersten Geheimen Rates nun allein der Zarin zu. Der mecklenburgische Gesandte relativierte die russische Bündnisverlängerung mit dem Kaiser sofort, indem er die Absendung der Truppen bei der derzeitigen innenpolitischen Lage Russlands nicht für ratsam erklärte.2043 Die Annahme Karl Leopolds, dass Russland dem mecklenburgischen Bündnis mehr Priorität als demjenigen mit dem Kaiser einräumen konnte, erscheint aufgrund der Machtverhältnisse durchaus naiv. J.C.D. Ostermann führte gegenüber seinem Herzog aus, dass de Liria ein Memorandum für ein Wirtschaftsbündnis zwischen Russland und Spanien ausgearbeitet und es am russischen Hof präsentiert habe, um die kaiserlich-russische Allianz zu stören. Obwohl de Liria seinen Vorstellungen mit Geld Nachdruck verliehen hätte, würde der russische Hof aber an der Al2039 Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 20.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 115v (chiffriert). 2040 Vgl. Bonde an Herzog Karl Friedrich, Moskau, 05.03./16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2222, ohne Foliierung (chiffriert). Die Relation ist auf Schwedisch verfasst. Die dechiffrierten Stellen sind jedoch auf Deutsch verfasst. Der Inhalt ist inhaltlich so weit erschlossen, wie es dem Autor möglich war. Eine umfassende Erschließung konnte aufgrund mangelnder Schwedisch-Kenntnisse leider nicht vorgenommen werden. 2041 Vgl. Strohm, Die kurländische Frage (1700–1763), S. 93–117. 2042 Tessin an Hofkanzler Stryk, Moskau, 05.03./16.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 2043 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 02.03.1730 a.St. [13.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 283r/284r.
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lianz mit dem Kaiser festhalten, so die Einschätzungen des mecklenburgischen Vertreters.2044 Magnan musste eine Woche nach der Souveränitätserklärung Annas vermelden, dass der Vizekanzler, Heinrich Johann Friedrich Ostermann, weiterhin hohes Ansehen am Hof genieße und die Interessen Wiens vertrete. Auch der französische Vertreter berichtete, dass de Liria als Reaktion darauf sogar eine Denkschrift gegen das russisch-kaiserliche Bündnis vorbereitet habe. Magnan werde sie einschicken, sobald er sie erhalte.2045 De Liria war noch vor dem Erhalt von Weisungen aus Madrid darum bemüht, Maßnahmen gegen die Absendung der russischen Truppen zu ergreifen. Er verfasste ein Memorandum, nach dem die Forderungen des Kaisers gegenüber der Zarin nur auf einer Fehlinterpretation des Vertrags von Wien beruhten. De Liria betonte in Russland die Gefahr eines Krieges mit dem Osmanischen Reich und versuchte zu unterstreichen, dass der Kaiser gegen die vereinten Kräfte der Kronen Spaniens, Englands und Frankeichs nichts erreichen könne.2046 Im Gegensatz zu Tessin vermeldete Magnan, dass Ostermann noch große gesundheitliche Probleme habe. Somit hatte Magnan wohl nicht erkannt, wie es Ostermann wirklich ging, zumal er seine Schwächung als vorteilhaft sah. Er musste aber widerstrebend melden, dass Wratislaw am 22. März mit der Zarin diniert habe, wobei die Zarin Wratislaw die Erfüllung der Bündnisverpflichtungen zugesichert habe.2047 Überaus relevant ist die Darstellung eines Gespräches Rondeaus mit dem preußischen Gesandten Mardefeld. Rondeau thematisierte darin ihre gegenseitigen Einschätzungen eines möglichen Krieges zwischen den Alliierten von Sevilla einerseits und dem Kaiser mit seinen Verbündeten andererseits. Die Brisanz der getroffenen Aussagen bei diesem Treffen wird durch die Chiffrierung des Namens Mardefelds belegt.2048 Laut Rondeau habe Mardefeld ihn zwar wissen lassen, dass der preußische König aufseiten des Kaisers stehe. Der Wiener Hof sei aber nach Meinung Mardefelds nicht in der Lage, Krieg gegen die Alliierten von Sevilla zu führen. Daher würde Wien versuchen, Frankreich zur Neutralität zu bewegen. Rondeau wiederum betonte die Bündnistreue Frankreichs.2049 Er sei sehr erfreut über die Äußerungen Mardefelds, da er darin die Ansicht des Kaisers zu erkennen glaubte. Diese Annahme Rondeaus basierte darauf, dass er davon überzeugt war, dass Mardefeld immer nur die Meinung Wratislaws oder Hochholzers weitergebe. Rondeau gab sich überzeugt, dass weder Wratislaw noch Mardefeld den russischen Hof ohne die Hilfe Ostermanns für ihre Interessen gewinnen könnten. Ostermann sei der Meinung, dass die Zarin und die russische Nation von Europa für ihre Schwäche aufgrund innerer Unruhen verachtet würden, wenn sie ihren Verpflichtungen gegenüber dem Kaiserhof nicht nachkommen würden.2050 Rondeau beklagte 2044 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 09.03.1730 a.St. [20.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 288r/289v. 2045 Vgl. Magnan an Chauvelin, Moskau, 16.03.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 111r/v (chiffriert). 2046 Vgl. Schop Soler, Die spanisch-russischen Beziehungen im 18. Jahrhundert, S. 53. 2047 Vgl. Le Fort an König August II. (zweiter Brief ), Moskau, 20.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03023/07, fol. 147v. 2048 Vgl. Rondeau an Secretary of State Townshend, Moskau, 06.03.1730 a.St. [17.03.1730], TNA, SP 91/11, fol. 48r (chiffriert). 2049 Vgl. ebd., fol. 48r/v. 2050 Vgl. ebd., fol. 48v/49r (chiffriert).
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die großen Veränderungen am russischen Hof, die die Berechenbarkeit der russischen Politik einschränkte.2051 Er betonte die Verlässlichkeit des englischen Bündnispartners Dänemark, da der englische König Dänemark Schleswig garantiere. Zudem versuche de Liria mit aller Hartnäckigkeit, das russische Engagement in Europa zu verhindern. De Liria habe kein Geld zu verteilen, womit am russischen Hof aber alles erreicht werden könne.2052 Mit dieser Annahme widersprach er dem mecklenburgischen Gesandten, der etwas Gegenteiliges berichtete. England zeigte kein Bemühen, auf die von Rondeau betonte Notwendigkeit von Geldzusendungen einzugehen.2053 Die Vermutung, dass der russische Hofadel nur mit Geld zu gewinnen sei, wird zwar immer wieder geäußert, ist aber als Stereotyp zu bezeichnen, da dies ebenso auf andere europäische Höfe zutrifft.2054 Insgesamt scheint die Darstellung Rondeaus zumindest teilweise eine Rechtfertigungsstrategie für den eigenen Misserfolg zu sein, da die militärische Unterstützung des Kaisers durch Russland verhindert werden konnte. Im starken Gegensatz zu den Äußerungen Rondeaus über Mardefeld stehen die offiziellen Äußerungen Mardefelds und Wratislaws. Bei einer Audienz mit der Zarin habe Mardefeld der Zarin mitgeteilt, dass Friedrich Wilhelm I. nicht nur bereit sei, das Bündnis fortzusetzen, sondern sogar es zu vertiefen.2055 Auch in offiziellen Meldungen gegenüber dem preußischen König wiederholte Mardefeld, dass die für den Kaiser bestimmten Truppen in Livland zum Abmarsch bereit seien.2056 Zudem sei Ostermann am 22. März das erste Mal am Hof erschienen, und die Zarin habe ihn sehr gnädig sowie mit besonderer Wertschätzung empfangen. Da Mardefeld versichert worden sei, dass die Zarin gänzlich auf Ostermann setze, sei mit außenpolitischer Kontinuität zu rechnen, und die unter den letzten beiden Regierungen geschlossene Allianz werde fortgesetzt.2057 Auch Wratislaw bestätigte die sich in den letzten drei Relationen abzeichnende schriftliche Zusicherung der Bündnisverlängerung. Daraufhin ging Wratislaw ausführlich auf den Zustand, die nötige Ausstattung, den Proviant und den Sold und auf die Problematik der Beförderung der Truppen durch fremde Länder ein.2058 Ebenso resümierte Wratislaw über den gegenwärtigen innenpolitischen Zustand des Rus-
2051 2052 2053 2054
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Vgl. ebd., fol. 49r. Vgl. ebd., fol. 49r/v (chiffriert). Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 263 f. Vgl. Falcke, Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgisch-preußischen Hof im 17. und 18. Jahrhundert, S. 221 f. Ruffmann spricht zwar, den Quellen unkritisch folgend, von der Notwendigkeit der Bestechung am russischen Hof, sieht dies aber ebenso als europaweites Phänomen an, siehe Ruffmann, Die diplomatische Vertretung Großbritanniens am Zarenhof im 18. Jahrhundert, S. 412 f. Horn folgt den Äußerungen der auswärtigen Gesandten am russischen Hof kritiklos, siehe Horn, The British Diplomatic Service, S. 262 f. Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 17.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 177v/178r. Vgl. Mardefeld an König Friedrich Wilhelm I., Moskau, 23.03.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 118v. Vgl. ebd., fol. 119r. Vgl. Wratislaw an Kaiser Karl VI. (zweiter Brief ), Moskau, 17.03.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 109r–115r.
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sischen Reiches: Der Tod des Zaren und die darauffolgende Veränderung der Regierungsform, die Krankheit Ostermanns, die Veränderungen des russischen Ministeriums und die von feindlichen Mächten in den Weg gelegten Hindernisse seien nun „Gott lob!“ überwunden und das russisch-kaiserliche Bündnis stabil.2059 Er berichtete ausführlich über seine Audienz bei der Zarin. Als Wratislaw in das Audienzzimmer eingetreten sei, sei Anna durch eine andere Tür hereingekommen. Mit ihr seien etliche Hofdamen, der Leutnant Saltykov und der aus Kurland mitgekommene Kammerherr Biron eingetreten. Anna habe sich zudem nicht unter den Baldachin an erhabener Stelle begeben, sondern sei daneben stehen geblieben. Wratislaw ersuchte bei Anna um die Verlängerung des Bündnisses und um die Gewährung der Truppen. Er habe während dieser Audienz mit ihr in deutscher Sprache gesprochen, da die Zarin das Deutsche ziemlich gut verstehe. Sie habe ihre Antworten durch Biron übersetzen lassen. Anna habe Wratislaw entgegnet, dass sie die Allianz niemals aufkündigen werde, und da Wratislaw hierfür bereits durch die Minister eine Bestätigung erhalte habe, sei dies damit hinreichend deutlich. Daraufhin zeigte sich Wratislaw sehr erfreut, dies aus ihrem Mund gehört zu haben. Der kaiserliche Gesandte verwies zudem darauf, dass auch Caramé zugegen gewesen sei. Außerdem habe die Zarin noch mit Wratislaw über seine Gesandtentätigkeit am polnischen Hof gesprochen, als er auch in Mitau gewesen sei. In ihrer freundlichen Art habe sie ihm zu verstehen gegeben, dass er jederzeit zu ihr kommen könne.2060 Nach der Benennung der Mitglieder des Regierenden Senats sei ein Allianzwechsel unmöglich, da alle Mitglieder dem Kaiser wohlgesonnen seien. Neben einigen anderen russischen Adligen setze Wratislaw vor allem auch wieder auf Ostermann.2061 Er fasste zusammen, dass sich innerhalb der letzten sieben Wochen das Blatt dreimal gewendet habe: Zuerst standen die Dolgorukij durch die Bevorzugungen Zar Peters II. an erster Stelle, danach schien es, als würden die Golicyns die Mächtigsten am Hof werden; und nun würden es hingegen der Großkanzler Golovkin und Ostermann sein. Dies mache deutlich, wie unruhig in den letzten Wochen die Lage in Moskau gewesen sei.2062 Aus den Ausführungen der verschiedenen Diplomaten wird deutlich, dass nach der Wiedererlangung der Souveränität und der personellen Stabilisierung am russischen Hof die Absendung der russischen Militärhilfe als unterschiedlich wahrscheinlich angesehen wurde. Gerüchte, unabhängig von ihrem tatsächlichen Wahrheitsgehalt, konnten die als verlässlich geltende Zusicherung der Bündnisse und der damit zusammenhängenden Verpflichtungen gefährden. Demnach ging es nicht bloß um die getroffenen Entscheidungen, sondern ebenso um die verlässliche Vermittlung. Die Ziele Englands, Frankreichs und Spaniens waren darauf gerichtet, Wiens Machtposition zu schwächen, indem sie versuchten, Russland aus der Allianz mit dem Kaiser zu lösen. Die Zielsetzungen der Alliierten von Sevilla unterschieden sich insoweit, als dass Spanien einen Krieg gegen den Kaiser wünschte, während Frankreich
2059 2060 2061 2062
Vgl. ebd., fol. 115v. Vgl. ebd., fol. 117v–120r. Vgl. ebd., fol. 120r–122v. Vgl. ebd., fol. 122v und 177r.
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und England die Passivität des Kaisers erhofften.2063 Keinesfalls waren die Bemühungen de Lirias, anders als dieser selbstbewusst postulierte, ausschlaggebend dafür, dass die russischen Truppen trotz Zusicherung letztendlich nicht abgesendet werden mussten. Der befürchtete Krieg brach nie aus, da Spanien die Pragmatische Sanktion anerkannte und der Kaiser daraufhin auf die Absendung der Truppen verzichtete.2064 De Lirias Abreise vom Moskauer Hof am 30. November 1730 unterbrach die diplomatischen Beziehungen zwischen Russland und Spanien für 30 Jahre.2065
7.3 Europa – die Deutungshoheit über die Militärunterstützung Russlands Zufriedenheit in Wien und Berlin Prinz Eugen teilte Wratislaw am 5. April mit, der Kaiser habe die Souveränitätserklärung der Zarin und die Bereitstellung der Truppen mit großer Freude vernommen.2066 Dass es Karl VI. dabei vor allem um die Bündnistreue Russlands ging, belegt die Tatsache, dass er nicht gesondert auf die Souveränitätserklärung einging. Bezüglich des Hauptinteresses des Kaisers – der militärischen Unterstützung aus Moskau – hatte Wratislaw bereits detaillierte Anweisungen des Kaisers erhalten, weswegen sich der Wiener Hof abwartend verhielt. Die darauffolgende kaiserliche Weisung vom 13. Mai thematisierte die Souveränitätserklärung der Zarin nicht mehr.2067 Der Kaiser war bereits davor von der Bündnisstreue Russlands überzeugt gewesen, da er die aus seiner Sicht positiven Nachrichten umgehend am 11. und 15. März an seine diplomatischen Vertreter in Paris vermeldet hatte. Die Bündnisverlängerung Russlands sei beim Eintreffen der kaiserlichen Weisungen dort bereits bekannt gewesen.2068 Fonseca konnte noch keine Auswirkungen dieser Nachricht auf das Verhalten des französischen Hofs erkennen.2069 Nachdem die militärische Unterstützung Moskaus als bestätigt galt, findet sich auch im weiteren Verlauf der Berichte Stefan Kinskys oder Fonsecas keine weitere Erwähnung der Souveränität der Zarin mehr. Auch in Berlin entnahm der preußische König den Berichten Mardefelds die Souveränitätserklärung mit großer Freude. Obwohl die offizielle Notifikation der Zarin in Berlin noch nicht eingetroffen sei, solle Mardefeld der Zarin im Namen Friedrich Wilhelms I. in einer 2063 2064 2065 2066
Vgl. Ruffmann, Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, S. 265. Vgl. Schop Soler, Die spanisch-russischen Beziehungen im 18. Jahrhundert, S. 53. Vgl. ebd., S. 66. Vgl. Prinz Eugen an Wratislaw, Wien, 05.04.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 151-11, fol. 270r. 2067 Vgl. Kaiser Karl VI. an Wratislaw, Wien, 13.05.1730, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 167r–180v. 2068 Vgl. Fonseca an Sinzendorf, Paris, 27.03.1730, HHStA Wien, Frankreich, Karton 37, Konvolut II, fol. 90r/v. Fonseca an Sinzendorf, Paris, 23.02.1730, HHStA Wien, Frankreich, Karton 37, Konvolut I 2069 Vgl. Fonseca an Sinzendorf, Paris, 27.03.1730, HHStA Wien, Frankreich, Karton 37, Konvolut II, fol. 90v (chiffriert).
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öffentlichen Audienz dessen Zufriedenheit über ihre Thronfolge zum Ausdruck bringen.2070 Diese Demonstration des Wohlgefallens gegenüber der höfischen Öffentlichkeit diente als Bekundung der Verbundenheit zwischen beiden Bündnispartnern, wobei nicht nur Anna, sondern insbesondere auch die anderen europäische Fürsten die Adressaten waren. Durch die gesandtschaftliche Berichterstattung solcher zeremonieller Vorgänge fanden diese wiederum Verbreitung in der Fürstengemeinschaft.2071 Eine öffentliche Audienz diente damit als Gradmesser für die Qualität der wechselseitigen Beziehungen.2072 Am 11. April äußerte sich der preußische König erneut erfreut darüber, dass in Moskau die Ereignisse so vorteilhaft verlaufen seien. Besonders lobte er die Klugheit und Entschlossenheit der Zarin bei der Wiedererlangung der Souveränität. Friedrich Wilhelm I. bewertete den Herrschaftsantritt Annas nicht nur für die Innenpolitik Russlands, sondern vor allem für die Bündnisverlängerung gegenüber ihm selbst und dem Kaiser als überaus günstig.2073 Mit der Genauigkeit der Berichterstattung Mardefelds zeigte sich der preußische König überaus zufrieden. Zudem erhielt Mardefeld die Mitteilung, dass der König dem jüngsten Sohn Ostermanns ein Kanonikat in Magdeburg antragen wolle. Mardefeld solle Ostermann und seiner Familie die Gnade des preußischen Königs zusichern.2074 Dies zeigt deutlich, dass Friedrich Wilhelm I. erkannt hatte, dass es nicht nur die Zarin zu gewinnen galt, sondern auch den für die russische Außenpolitik zuständigen Ostermann. Seckendorff teilte die Meinung, dass die am 27. März 1730 in Berlin aus Moskau eingetroffene Nachricht, wonach die Zarin ihre Souveränität angetragen bekommen hatte, viel Gutes bewirkt habe. Insbesondere die öffentliche Zusicherung der 30.000 Soldaten für den Kaiser sei wichtig.2075 Dass Seckendorff Friedrich Wilhelm I. wiederum 12.000 kaiserliche Soldaten für einen möglichen Krieg zwischen Preußen und Hannover zugesichert habe, habe der preußische König bereits sehnlich erwartet.2076 Diese Versicherung war nur wenige Tage später gegenstandslos, da der preußische König zwischenzeitlich seine Gesandten angewiesen hatte, zu verkünden, dass die Differenzen zwischen Hannover und Preußen beigelegt worden seien.2077 Demrath bestätigte zudem, dass Friedrich Wilhelm I. öffentlich verkündet habe, ihn bringe trotz der englischen Bemühungen nichts und niemand vom Bündnis 2070 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 01.04.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 125r/126r. 2071 Vgl. dazu theoretisch: Duindam, Vienna and Versailles, S. 181–188. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 204 f. Pečar, Die Ökonomie der Ehre, S. 228. 2072 Vgl. Steppan, Akteure am fremden Hof, S. 311 f. 2073 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 11.04.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 132r/v. 2074 Vgl. König Friedrich Wilhelm I. an Mardefeld, Berlin, 15.04.1730, GStA PK, I. HA GR, Rep. 11, Nr. 6709, fol. 137r. 2075 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Berlin, 28.03.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 2, fol. 79r/v. 2076 Vgl. ebd., fol. 80r/v. 2077 Vgl. Demrath an Kaiser Karl VI., Berlin, 01.04.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 3, fol. 2r/3v.
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mit dem Kaiser ab. Auch Demrath bestätigte die Freude Friedrich Wilhelms I. darüber, dass die Zarin die Souveränität wie ihre Vorfahren ausübe, da nun das Bündnis mit dem Kaiser und Russland umgehend ausgeführt werden könne.2078 Daraus wird ersichtlich, dass eine souveräne Zarin als handlungsfähiger und für die kaiserliche Bündnispolitik berechenbarer wahrgenommen wurde. Sobald die schriftliche Zusicherung über die militärische Hilfe des russischen Hofs durch Wratislaw an Seckendorff übermittelt sei, solle Seckendorff auch vom preußischen König eine schriftliche Bestätigung einholen.2079 Die enge Zusammenarbeit zwischen Wien und Berlin wurde auch dadurch deutlich, dass Seckendorff im Auftrag der preußischen Minister Bork und Knyphausen die königlich-preußische Weisung an Mardefeld als Beilage nach Wien senden konnte.2080 Darin wurde der preußische Gesandte in Moskau explizit angewiesen, seinen kaiserlichen Kollegen Wratislaw zu unterstützen und das russische Ministerium zu gewinnen. Zudem solle Russland dazu beitragen, dass der mecklenburgische Herzog die Unterwerfung unter den Kaiser als beste Lösung des Konflikts akzeptieren sollte. Nach Ansicht des preußischen Hofs sei es wahrscheinlich, dass der mecklenburgische Herzog um Unterstützung Russlands in diesem Konflikt ansuchen werde. Falls die neue Zarin sich aus Verbundenheit zu ihrer Schwester, der Herzogin von Mecklenburg, der Interessen Karl Leopolds annehme, so müsse Mardefeld wiederum zurückhaltend handeln, um die bisher guten Beziehungen zu Anna nicht zu beeinträchtigen. Der preußische König ließ Mardefeld wissen, Seckendorff habe ihm mitgeteilt, dass der Kaiser der Zarin durch Wratislaw umgehend die Verlängerung des Bündnisses bestätigten solle. Eine Klarheit über die Fortsetzung der Allianz liege auch sehr im Interesse des preußischen Hofs, weswegen Mardefeld Wratislaw auch in dieser Angelegenheit unterstützen solle. Die Verlängerung des Bündnisses solle an den in Berlin akkreditierten russischen Gesandten Golicyn übermittelt werden. Die noch andauernde Erkrankung Ostermanns werfe die Frage auf, wer die Bündnisverlängerung derzeit am russischen Hof tatsächlich umsetzen könne. Mardefeld habe zudem in Russland lobend auf den russischen Gesandten Golicyn zu verweisen, da dieser sich sehr für die preußischen Interessen einsetze.2081 Karl VI. betonte, dass er aus den Relationen Seckendorffs Friedrich Wilhelm I. als loyalen Bündnispartner erkenne. Es sei aber die Absicht der Alliierten von Sevilla, durch falsche Meldungen Misstrauen zwischen dem Kaiser und dem preußischen König zu säen. Der Kaiser war der Ansicht, dass das englische Ministerium zu eng mit Frankreich verflochten sei, sodass man von dort keinerlei Unterstützung erwarten könne. Seine Bündnistreue solle Friedrich Wilhelm I. auf Wunsch des Kaisers gegenüber seinen Gesandten besonders in Frankreich, 2078 Vgl. ebd., fol. 4r (chiffriert). 2079 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI., Potsdam, 01.04.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 3, fol. 6r/v. 2080 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI. (1. Beilage), Potsdam, 01.04.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 3, fol. 11r/v. Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Kaiser Karl VI. (2. Beilage), Potsdam, 01.04.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 7, Konvolut 3, fol. 12r/13v. 2081 Vgl. ebd.
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England und Holland verkünden lassen. Auf Grundlage der Nachrichten Stefan Kinskys aus Paris sei es die Intention der Alliierten von Sevilla, dass preußisch-kaiserliche Bündnis durch eine Aussöhnung Englands mit Preußen zu stören.2082 Der Kaiser befürchtete, dass de Liria in Moskau aus der Absendung eines neuen englischen Gesandten nach Berlin Kapital schlagen wolle. Daher appellierte Karl VI. an die Bündnistreue Preußens, um gegen die Alliierten von Sevilla ein Übergewicht im Norden Europas zu erhalten. Unter diesen Umständen erhoffte sich der Kaiser einen Beitritt Kursachsens zu diesem Bündnis. Seckendorff solle dem preußischen König danken, da aus den Berichten Wratislaws hervorgehe, dass die Versicherung Preußens, am Bündnis mit Russland festzuhalten, sich vorteilhaft am russischen Hof auswirken werde.2083 Wien berichtete zudem darüber, dass es von der Absendung Moritz’ von Sachsen nach Moskau Kenntnis erlangt habe.2084 In der Geheimkorrespondenz zwischen Prinz Eugen und Seckendorff finden sich dann nach dem 25. März 1730 zunächst keinerlei Hinweise mehr auf die Ereignisse in Russland. Erstmalig wird Russland wieder in einer Relation Seckendorffs vom 15. April thematisiert. Dabei ging es um die Entsendung Moritz’ von Sachsen an den Moskauer Hof, um Elisabeth zu heiraten. Dem solle sich aber August II. widersetzt haben.2085 Insgesamt waren sowohl der Kaiser als auch der preußische König zufrieden mit dem Ausgang der Ereignisse in Russland. Bei der Bündnisverlängerung und der Verhinderung russischer Unterstützung für den mecklenburgischen Herzog aufgrund der dynastischen Verbindung zur Zarin arbeiteten die Diplomaten beider Monarchen eng zusammen.
Das Kurfürstentum Sachsen und das Königreich Polen In einer Weisung Augusts II. an Le Fort wurde der Eingang seiner fünf Relationen zwischen dem 23. Februar und dem 8. März 1730 bestätigt. Diese Berichte würden nichts beinhalten, was eines besonderen Befehls des Königs bedürfe. Mit Le Fort sei man sehr zufrieden, so der Dresdner Hof in seiner überaus kurzen Weisung.2086 Demnach nahm auch der kurfürstliche Hof in Dresden keine ausführliche Stellung zur absoluten Herrschaft der Zarin. Dies belegt, dass es für den kursächsischen Hof nachrangig war, ob einzelne Details der Berichterstattung Le Forts über die Souveränitätserklärung den Tatsachen entsprachen. Das Ereignis in Gänze schien in Dresden keine besondere Relevanz zu genießen. Entscheidender waren gute persönliche Beziehungen zwischen dem polnischen König und der Zarin. In einer offiziellen Notifikation König Augusts II. an die Zarin verkündete dieser, dass er den durch den 2082 Vgl. Kaiser Karl VI. an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Wien, 22.04.1730, HHStA Wien, Preußen, Karton 18, Konvolut 1, fol. 46r/47v. 2083 Vgl. ebd., fol. 48r/v. 2084 Vgl. ebd., fol. 48v (chiffriert). 2085 Vgl. Friedrich Heinrich von Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 15.04.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 111, fol. 315r/v. 2086 Vgl. König August II. an Le Fort, Dresden, 31.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03362/09, fol. 18r.
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Tod Zar Peters II. an ihn zurückgefallenen Weißen-Adler-Orden2087 Anna verleihen wolle. Dies solle durch den kaiserlichen Gesandten Wratislaw in Moskau erfolgen, da dieser ein bekanntes Mitglied dieses Ordens sei. Wratislaw und Le Fort würden der Zarin die Freundschaft König Augusts II. versichern.2088 Hierin zeigt sich, dass die von Mardefeld berichteten Gerüchte zumindest in diesem Punkt zutreffend waren. Daraus geht weiter hervor, dass der polnische König sich um ein gutes Verhältnis zur neuen Zarin bemühte und zumindest eine Ad-hoc-Zusammenarbeit der sächsisch-polnischen Diplomatie mit dem kaiserlichen Gesandten stattfand. August II. begab sich zu diesem Zeitpunkt in das damalige Fraustadt nach Polen. Um hierüber berichten zu können, reiste ihm der kaiserliche Gesandte aus Warschau nach. Sekretär Franz Wilhelm Kinner2089 verblieb dagegen allein in Warschau. Zu den klassischen Pflichten eines Legationssekretärs zählte unter anderem die Vertretung des übergeordneten Gesandten bei dessen Abwesenheit.2090 Kinner war bereits der Sekretär Wratislaws während dessen Gesandtentätigkeit in Warschau gewesen. Er erhielt am 12. April 1730 von Wratislaw aus Moskau die Mitteilung, dass die Zarin uneingeschränkt herrsche und den Obersten Geheimen Rat auf 21 Personen vergrößert habe. Allein Aleksej Grigor’evič Dolgorukij sei darin nicht mehr vertreten. Zudem habe die Zarin dem Kaiser die militärische Unterstützung durch 30.000 Soldaten versichert.2091 Dass diese Nachricht unpräzise war, war nachrangig, da die Absendung der russischen Soldaten bestätigt wurde und zudem eine weitgehende personelle Kontinuität am Hof gewahrt blieb. Anna hatte allerdings nicht den Obersten Geheimen Rat vergrößert, sondern einen Regierenden Senat neu eingerichtet und einen Großteil der Mitglieder des früheren Rates übernommen. Während die Souveränität der Zarin in der offiziellen Korrespondenz zwischen dem Kaiserhof und dem kaiserlichen Gesandten Wilczek keinerlei Erwähnung fand, leitete Wilczek in seiner geheimen Korrespondenz mit Prinz Eugen Informationen von Wratislaw nach Wien weiter. Diesen Bericht Wratislaws hatte ihm sein in Warschau verbliebener Sekretär Kinner nach Fraustadt nachgesandt. Die Mitteilung Wratislaws über die Souveränitätserklärung gelangte wiederum als Beilage eines Schreibens
2087 Vgl. dazu ausführlicher: Schöppl, Der kaiserlich russische St.-Andreas-Orden, S. 23 f. 2088 Vgl. König August II. an Zarin Anna, Dresden, 11.04.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03362/09, ohne Foliierung. 2089 Franz Wilhelm Kinner war als kaiserlicher Legationssekretär im Kurfürstentum Sachsen und dem Königreich Polen. Seine genaue Ankunft ist unbekannt, muss jedoch vor dem 1. Mai 1724 liegen. Wie die Relationen dieser Arbeit belegen, war er 1730 noch Legationssekretär. Seine Abreise ist unbekannt. Siehe Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), S. 75, S. 80 und S. 599. 2090 Zu den Rechten und Pflichten eines Sekretärs siehe Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), S. 94–99. Krauske, Beiträge zur Geschichte der ständigen Diplomatie vom 15. Jahrhundert bis zu den Beschlüssen von 1815 und 1818, S. 202–204. 2091 Vgl. Kinner an Kaiser Karl VI., Warschau, 12.04.1730, HHStA Wien, Polen II, Karton 66, Konvolut 1, fol. 107v und fol. 109r.
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Wilczeks kommentarlos an Prinz Eugen.2092 In der Nachricht Wratislaws, die aber keine wörtliche Abschrift seiner Relation an den Kaiser darstellte, berichtete Wratislaw davon, dass 340 Personen der Zarin eine Bittschrift präsentiert hätten.2093 Der Adel habe sich über die Einschränkungen der Regierungsgewalt Annas beschwert und darüber, dass er diesen Restriktionen niemals zugestimmt habe. Daher hätten die Petenten um die Abschaffung der in Mitau unterschriebenen Konditionen gebeten. Dies habe dazu geführt, dass sich die Zarin in Anwesenheit aller wichtigen Adligen für souverän erklärt habe. Anna habe zugleich Saltykov befohlen, dies der Garde bekannt zu geben. Zudem habe der in Haft befindliche Jagužin skij seine Freiheit wiedererlangt und seine Orden wiedererhalten, bevor er zur Zarin zum Handkuss vorgelassen worden sei. Dies sei durch den Großkanzler den Gesandten mitgeteilt worden, so Wratislaw.2094 Vergleicht man die Wiedergabe des Berichts Wratislaws durch Wilczek mit dem von Wratislaw an den Kaiser gesendeten Bericht, ergeben sich Abweichungen. Die Anzahl der Adligen unterscheidet sich, und die Genauigkeit der Darstellung Wratislaws an den Kaiser ist zudem deutlich höher als die Wiedergabe Wilczeks. Diese Unterschiede der Berichterstattung erklären sich dadurch, dass die anderen kaiserlichen Gesandten in Europa während des Thronwechsels in erster Linie beobachteten, ob das Bündnis zwischen Russland und dem Kaiser gewahrt blieb; der genaue Ablauf der Souveränitätserklärung war für sie hingegen nachrangig. Ein Einsatz der Garde zur Wiedergewinnung der Souveränität findet sich auch in dieser Darstellung nicht. Niemand habe gegen die vollkommene Souveränität der Zarin Einspruch erhoben, sondern diese sei begrüßt und der Zarin dazu gratuliert worden. Demnach schienen sich die inneren Angelegenheiten Russlands nicht zu verändern. In Zukunft werde sich zeigen, ob die Zarin die Anzahl der Mitglieder des Obersten Geheimen Rates erhöhen werde. Der Befehl für die Absendung der 30.000 Soldaten sei bereits ausgefertigt, was darauf hoffen lasse, dass es zu keiner Veränderung mehr komme. Jagužinskij sei heute mit den wichtigen Personen am Hof gewesen und habe an der Tafel neben der Zarin gespeist.2095 Am 22. April berichtete der kaiserliche Gesandte Wilczek, dass er nur aus Moskau zu berichten habe, was Wratislaw bereits geschrieben habe.2096 Demnach sandte Wilczek eine Auflistung der zum Hofstaat zählenden Personen ebenso wie eine Übersicht der neuen Senatoren mit.2097 Zudem habe Wratislaw berichtet, ein russischer Offizier habe verlauten lassen, die Köpfe der Mit2092 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Großglogau, 11.04.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 117r/v und 121r. Wilczek an Prinz Eugen (Beilage), Großglogau, 11.04.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 120r/v. 2093 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Großglogau, 11.04.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 120r. 2094 Vgl. ebd., fol. 120r/v. 2095 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen (Beilage), Großglogau, 11.04.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 120r/v. 2096 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen, Großglogau, 22.04.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 123v. 2097 Vgl. Wilczek an Prinz Eugen (Beilage), Großglogau, 22.04.1730, HHStA Wien, Große Korrespondenz 150b, fol. 123v/124v.
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glieder des Obersten Geheimen Rates abschlagen zu wollen, falls die Zarin ihm dies befehle. Dies könne auch geschehen, wenn die Regierungsform, die der Offizier ablehnte, nicht verwirklicht werde. Es gebe Gerüchte in Moskau, dass sich die Zarin noch bis zu ihrer Krönung zurückhalten wolle, um dann mit voller Härte zu regieren.2098 Dieses Gerücht fand sich zu einem früheren Zeitpunkt bereits beim preußischen Gesandten Mardefeld, ohne dass dies Wilczek wissen konnte. Die Äußerung kann im übertragenen Sinn als allgemeines Zeichen der sich verändernden Stimmungslage in Moskau gedeutet werden. Relevant ist in diesem Zusammenhang, dass weithin mit einer Bestrafung der Befürworter der Machtbeschränkung gerechnet wurde. Zudem offenbart die Informationslage des kaiserlichen Gesandten Wilczek ein weiteres Mal, dass diplomatische Kommunikation nicht nur auf offiziellen Wegen unmittelbar zwischen dem Gesandten und dem Herrscher stattfand, sondern außerdem intensive Korrespondenzen zwischen den Gesandten erfolgten und zudem noch geheime Briefwechsel bestanden. Außerdem wurden Briefe als Beilagen oder Abschriften weitergeleitet. Diese Art der Kommunikation orientierte sich zumeist an den jeweiligen Bündnissen.
Hoffnung in Kiel Der holsteinische Hof vernahm die Souveränitätserklärung der Zarin mit Freude. Die Lösung der Frage der Regierungsform sei schneller erfolgt als gedacht.2099 Herzog Karl Friedrich hoffe vor allem auf die Auszahlungen von Subsidiengeldern bis zum Johannistag.2100 Demnach urteilte der finanziell bedrängte Herzog nach seinem monetären Vorteil. In einer Weisung Karl Friedrichs an Tessin und Bonde beurteilte er die Veränderung in Moskau überaus wohlwollend. In einer Audienz sollten die beiden Gesandten der Zarin die besten Wünsche übermitteln und das Beste für Karl Peter Ulrich erwirken. Da Jagužinskij zur Wiedererlangung der Souveränität viel beigetragen habe, sollten Bonde und Tessin auch ihm gratulieren.2101 Die weiteren Ausführungen Tessins vom 13. und vom 16. März habe der holsteinische Hofkanzler am 5. April gleichzeitig erhalten. Nachdem die Weisungen an die holsteinischen Gesandten im Verlauf des Thronwechsels immer ausgesprochen ausführlich waren, schien dem holsteinischen Hof zu diesem Zeitpunkt eine detaillierte Weisung entbehrlich. Allein die Antwort auf das vor einem Tag angekommene Notifikationsschreiben der Zarin habe der Herzog bereits zügig unterschrieben.2102 Die rasche Abfassung des herzoglichen Notifikationsschreibens bezüglich der Thronbesteigung der neuen Zarin sollte alle Zweifel an der Anerkennung der Thronfolge Annas durch den holsteinischen Hof zerstreuen. 2098 Vgl. ebd., fol. 124r/125v. 2099 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 03.04.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 2100 Vgl. ebd. Da die Chiffrierung an dieser Stelle nicht dechiffriert war, wurde sie durch den Verfasser mithilfe eines überlieferten Chiffrenschlüssels händisch dechiffriert. 2101 Vgl. Herzog Karl Friedrich an Bonde/Tessin, Kiel, 03.04.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 2102 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Kiel, 06.04.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung.
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Die beiden folgenden Schreiben des holsteinischen Hofkanzlers an Tessin wiederum thematisierten die Souveränität der Zarin nicht mehr, sondern waren allein von der Sorge hinsichtlich eines europäischen Krieges und seiner Auswirkungen auf Holstein bestimmt.2103 Der holsteinische Gesandte Kettenburg habe vom Kaiserhof die Zusicherung erhalten, im Kriegsfall die Person des Herzogs und Karl Peter Ulrichs zu schützen. Die kaiserliche Gegenpartei habe zudem verstanden, dass es für Holstein im Kriegsfall einfacher als bisher sei, eine finanzielle Entschädigung für Schleswig zu erhalten oder von der Zarin Gebiete zugesprochen zu bekommen.2104 Daher solle Frankreich die spanische Königin dazu bewegen, von ihren Absichten auf der italienischen Halbinsel abzusehen. Falls es zum Krieg komme, sei die Stadt Hamburg für den Herzog ein sicherer, aber teurer Aufenthaltsort.2105 Dies belegt, dass Holstein aufgrund der Finanzlage und mangelnder militärischer Verteidigungsmöglichkeiten auf den Kaiser und auf Russland als Schutzmacht angewiesen war.2106
Der mecklenburgische Herzog verweigerte die Akkreditierung seines diplomatischen Vertreters Karl Leopold reagierte auf den Bericht seines Gesandten in Moskau vom 13. März ungehalten, denn die Antworten und das Verhalten J.C.D. Ostermanns seien unerträglich.2107 Der mecklenburgische Herzog habe ihm bereits am 6. Mai 1729 ausführlich dargelegt, dass die bisherigen erfolglosen Verhandlungen mit Russland „nicht allein zu unserm höchsten Schaden, sondern auch zu prostitution vor dem gantzen Reich gereichet“2108 seien. J.C.D. Ostermann war in einer Weisung vom 6. Mai 1729 angehalten worden, Unterstützung in Russland gegen den Kaiser zu erhalten. Karl Leopold beklagte jedoch, dass J.C.D. Ostermann „beständig mit still schweigen in Euren antworten“2109 dieses Thema ignoriere. In der Weisung vom 6. Mai 1729 beklagte sich Karl Leopold bitterlich über seine unrechtmäßige Absetzung als Herzog von Mecklenburg-Schwerin durch Kaiser Karl VI. Obwohl der russische Gesandte in Wien, Lancziński, das Anliegen der Wiedereinsetzung des Herzogs gegenüber dem Kaiser bewirken solle, habe dieser nach Einschätzung Karl Leopolds entweder nichts getan oder den Gegnern des Herzogs noch bessere Argumente gegen ihn geliefert.2110 Karl Leopold war ein Auszug aus der Relation Lanczińskis vom 12. Februar 1729 gesandt worden, aus dem hervorging, dass 2103 Vgl. Hofkanzler Stryk an Tessin, Neustadt, 13.04.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. Hofkanzler Stryk an Tessin, Neustadt, 20.04.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2551, ohne Foliierung. 2104 Vgl. ebd. Da die Chiffrierung an dieser Stelle nicht dechiffriert war, wurde sie durch den Verfasser mithilfe eines überlieferten Chiffrenschlüssels händisch dechiffriert. 2105 Vgl. ebd. 2106 Vgl. Hallbauer, Schlürmann, Das schleswig-holstein-gottorfische Militär 1623–1773, S. 78–80. 2107 Vgl. Herzog Karl Leopold an J.C.D. Ostermann, Danzig, 31.03.1730, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 286r. 2108 Ebd. 2109 Ebd., fol. 286v. 2110 Vgl. Herzog Karl Leopold an J.C.D. Ostermann, Danzig, 06.05.1729, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 244r–246v.
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der russische Hof eine Unterwerfung des Herzogs unter den Kaiser forderte.2111 Daraufhin verlangte Karl Leopold von seinem Gesandten am Moskauer Hof, darauf hinzuwirken, dass sich der Zarenhof gemäß seiner Versprechen für Karl Leopold einzusetzen habe.2112 In diesem Zusammenhang erinnerte Karl Leopold seinen Gesandten daran, dass seine Absetzung durch den Kaiser gegen die Reichsgesetze und gegen die Bestimmungen des Westfälischen Friedens erfolgt sei.2113 Karl Leopolds Klage war insoweit richtig, als dass der Kaiser laut dem Westfälischen Friedensvertrag einen Fürsten nur mit Zustimmung aller Stände auf dem Reichstag hätte absetzen können, was 1728 aber de jure nicht erfolgte. Der Kaiser setzte sich aber de facto durch, da die Reichstände diesem Vorgehen nicht geschlossen widersprachen.2114 Falls Ostermann in seinen Gesandtentätigkeiten „mit solcher nachläßigkeit fort fahren, auf unsere Gerechte Vorstellung nicht mahl antwort, daß ihr die Brieffe bekommen, und immer vermeinet weiter Zeit zu gewinnen, alles bey dem altn Schlenterjan zu laßn, und seinen umbstand nach, zu vermögen gedencket, so könen wir vor Gott und Uns nebst anvertrautn Land und Leüten ohnmöglich verantwortn, eine solche Person weiter zu accreditiren“.2115
Hieraus geht hervor, dass der an sich formale, aber notwendige Vorgang der Akkreditierung eines Gesandten bei einem Thronwechsel zu einer Drohung genutzt werden konnte. Die Akkreditierung war notwendig, damit der diplomatische Vertreter in seiner offiziellen Funktion vom empfangenden Hof in seinem Rang anerkannt wurde und die diplomatischen Privilegien genießen konnte.2116 Die Unzufriedenheit Karl Leopolds mit seinem Gesandten in Moskau drohte im Verlauf des Jahres 1730 zu eskalieren. Was der mecklenburgische Gesandte nicht wusste, war, dass Karl Leopold durch F.C. Amster2117 der neuen Zarin ein Schreiben hatte übergeben lassen. Karl Leopold warnte Anna darin davor, J.C.D. Ostermann, dem russischen Gesandten in Berlin Golovkin, Jagužinskij und dem russischen Gesandten Lancziński zu vertrauen. Karl Leopold begründete dieses Misstrauen damit, dass diese Personen vom mecklenburgischen Adel bestochen seien. Gleiches treffe auch auf den russischen Agenten in Danzig, Georg Erdmann,2118 zu, der überaus verächtlich über die Allianz zwischen Mecklen2111 Vgl. Herzog Karl Leopold an J.C.D. Ostermann (Beilage), Danzig, 06.05.1729, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 241r–243v. 2112 Vgl. Herzog Karl Leopold an J.C.D. Ostermann, Danzig, 06.05.1729, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 246r/v. 2113 Vgl. Herzog Karl Leopold an J.C.D. Ostermann, Danzig, 31.03.1730, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 286v–297r. 2114 Vgl. Troßbach, Fürstenabsetzungen im 18. Jahrhundert, S. 442. 2115 Herzog Karl Leopold an J.C.D. Ostermann, Danzig, 31.03.1730, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 287v. 2116 Vgl. Hennings, Russia and Courtly Europe, S. 85 f. 2117 Es konnten keine weiteren Informationen zu dieser Person ermittelt werden. 2118 Georg Erdmann war von 1718 bis 1736 russischer Agent in Danzig, siehe Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, S. 443.
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burg und Russland spreche und den mecklenburgischen Adel lobe. Für diese Vorgänge habe Karl Leopold Zeugen. Aus diesen Gründen zeigte er sich nicht bereit, J.C.D. Ostermann am russischen Hof erneut zu akkreditieren, außer die Allianz werde erneuert; zudem solle Russland für die mecklenburgischen Interessen beim Kaiser eintreten.2119 Ob und wie die Zarin auf diese Schreiben ihres Schwagers antwortete, kann nur weitere Forschung zeigen. Aus den Äußerungen Karl Leopolds geht hervor, dass der mecklenburgische Adel Fürsprecher auf russischer Seite hatte, was dem Herzog sehr missfiel. J.C.D. Ostermann vertröstete den Herzog in seinen Berichten vom 27. März und 13. April abermals, dass den Angelegenheiten des Herzogs in Moskau keinen Erfolg beschieden sei.2120 Als ihn am 1. Mai 1730 die Anschuldigungen des Herzogs erreichten, zeigte er sich tief bestürzt darüber. Er wehrte sich gegen den Vorwurf der Nachlässigkeit und dagegen, dass ihm die erfolglosen Verhandlungen in Moskau angelastet wurden. Seinen Fleiß und seine Rechtschaffenheit verbürge er vor Gott; Freund und Feind am russischen Hof könnten dies bestätigen. J.C.D. Ostermann habe die Weisung Karl Leopolds vom 6. Mai befolgt, all seine Bemühungen seien jedoch erfolglos geblieben. Kein anderer Gesandter an seiner Stelle wäre unter diesen Rahmenbedingungen erfolgreicher gewesen. Als Beweis seiner immer wieder beteuerten Treue führte er an, dass er für seinen Dienst viele Schulden aufgenommen habe und auch unter widrigen Umständen seinem Herrn treu bleibe.2121 Letztendlich hatte sein Bruder als Leiter der russischen Außenpolitik kein Interesse daran, sich für die kleinen Fürstentümer Mecklenburg-Schwerin oder Holstein-Gottorf in Europa in eine schwierige politische Lage zu bringen. Die immer wieder erfolgten Beteuerungen der Unterstützung waren notwendig, um den Anschein zu wahren, dass Russland sich weiterhin als Fürsprecher ausgab – jedoch nur soweit, wie dies die eigenen außenpolitischen Ziele zuließen und den Bündnissen mit dem Kaiser und Preußen nicht zuwiderlief. Wie diese Konfrontation zwischen Karl Leopold und seinem Gesandten weiter verlief, ist den Gesandtschaftsakten nicht genau zu entnehmen, da die offizielle Gesandtschaftskorrespondenz bis zum 14. Oktober 1731 unterbrochen ist.2122 Dass es eine Korrespondenz gab, die nicht überliefert ist, erscheint unwahrscheinlich, da die übrigen Berichte des mecklenburgischen Gesandten archiviert sind; vollkommen ausgeschlossen werden kann es aber nicht. Anhand einer Instruktion ist zu belegen, dass Karl Leopold im Dezember 1730 einen weiteren Gesandten nach Moskau reisen ließ, um die Zarin zur militärischen Hilfe zu bewegen.2123 2119 Vgl. Herzog Karl Leopold an Amster, Danzig, 28.03.1730, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 278r/279r. 2120 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 16.03.1730 a.St. [27.03.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 291r/292r. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 02.04.1730 a.St. [13.04.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 293r/294r. 2121 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 20.04.1730 a.St. [01.05.1730], LASH, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 295r–298r. 2122 Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 03.10.1731 a.St. [14.10.1731], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1155, fol. 314r/315v. 2123 Vgl. Instruktion Tiedemann, Schwerin, 22.12.1730, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1168, fol. 423r/427r. Dieser Bestand umfasst unter anderem Briefe zwischen Tiedemann und Karl Leopold sowie Schreiben
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Der mecklenburgische Gesandte Georg Joachim Tiedemann war ebenso wenig wie J.C.D. Ostermann in der Lage, die Hoffnungen des Herzogs zu erfüllen, und reiste unverrichteter Dinge im Sommer 1731 wieder nach Danzig ab. Dies wird aus einem in diesem Archivbestand liegenden Schreiben J.C.D. Ostermanns an den Herzog bekannt. Daraus wird auch ersichtlich, dass J.C.D. Ostermann Ende Juni 1731 den Herzog immer noch um seine noch nicht erfolgte Akkreditierung bat.2124 Die bisher geäußerten Befürchtungen des Kaisers und des preußischen Königs waren keineswegs unbegründet. Karl Leopold kehrte 1730 heimlich nach Schwerin zurück, um einen Aufstand vorzubereiten.2125 Der mecklenburgische Herzog scheute auch vor einem von langer Hand geplanten militärischen Vorgehen in Mecklenburg nicht zurück, um seine Landesherrschaft wiederzugewinnen. Als die aufseiten Karl Leopolds stehenden mecklenburgischen Untertanen 1733 letztendlich zu den Waffen griffen, erlitten sie eine umfängliche Niederlage.2126 Ob es dem Herzog wirklich gelang, das Doppelspiel J.C.D. Ostermanns aufzudecken, bedarf weiterer Forschungen. Dass J.C.D. Ostermann bis zum Sturz seines Bruders, Heinrich Johann Friedrich Ostermann, mecklenburgischer Gesandter blieb, belegt die erhaltene und umfangreiche Gesandtschaftskorrespondenz, die sich im Landeshauptarchiv in Schwerin befindet. Seine landesspezifischen und Russisch-Kenntnisse und das besondere Verhältnis zu Anna und ihren Schwestern mögen dazu beigetragen haben. Weitere Untersuchungen zu dem in der Forschung nahezu unberücksichtigten J.C.D. Ostermann, der nach dem Sturz seines mächtigen Bruders umgehend aus Russland floh und dessen Briefe an den Herzog daraufhin keine Antworten mehr erhielten,2127 könnten auch für die Beurteilung der Politik seines Bruders als Leiter der auswärtigen russischen Politik der gesamten Regierungszeit Annas neue Erkenntnisse liefern.
Schweigen in London, Handeln in Versailles Magnans Bericht vom 9. März hatte die großen Veränderungen in Moskau erkennen lassen. Der Versailler Hof rechnete nach der Souveränitätserklärung damit, dass die Initiatoren der
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an und von Katharina von Mecklenburg und an und von Zarin Anna, in der sie die militärische Unterstützung des Herzogs ablehnt. Ebenso finden sich darin Briefe J.C.D. Ostermanns an den Herzog und eine Relation des preußischen Residenten Zitwick an den russischen Agenten Erdmann in Danzig vom 13. Februar aus Moskau. Weiter umfasst der Bestand ein Schreiben aus Berlin vom 28. Februar 1730 von einem unbekannten Verfasser und an einen unbekannten Empfänger sowie einen Bericht aus Moskau vom 2. Februar, ebenfalls von einem unbekannten Verfasser an einen unbekannten Empfänger, die den Thronwechsel thematisieren. Wie diese Briefe Dokumente in die mecklenburgischen Papiere gelangten, muss zukünftiger Forschung überlassen bleiben. Vgl. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Moskau, 16.06.1731 a.St. [27.06.1730], LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1168, fol. 476r–470r. Vgl. Borchardt, Borchardt, Mecklenburgs Herzöge, S. 89 f. Dazu ausführlicher siehe Wick, Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 193–247. Vgl. ebd. J.C.D. Ostermann an Herzog Karl Leopold, Berlin, 17.03.1742, LHAS, 2.11–2/1, Nr. 1157, fol. 388r/v.
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Machtbeschränkung die Leidtragenden sein würden. Als Folge werde die Macht Ostermanns steigen, und der Einfluss des Wiener Hofs in Moskau werde nicht wie erhofft geringer. Aus diesem Grund wies Chauvelin Magnan an, am russischen Hof Gründe dafür vorzubringen, warum die russischen Truppen nicht abgesendet werden sollten. Bei diesem Vorgehen solle er sich mit de Liria abstimmen und dem russischen Hof verdeutlichen, dass dessen Bündnisverpflichtungen im aktuellen Fall nicht anwendbar seien. Der vom Kaiser vorgebrachte Kriegsgrund – der Austausch der Schweizer Soldaten gegen spanische in den italienischen Herzogtümern – verletze weder die Rechte des Kaisers noch die des Reiches. Diese Maßnahme müsse Russland gleichgültig sein. Zudem zweifelte Chauvelin daran, dass der russische Hof riskiere, Frankreich und seine Verbündeten durch die Unterstützung des Kaisers zu verärgern. Magnan solle gegenüber dem russischen Hof nicht verbergen, dass eine Unterstützung des Kaisers in Versailles Empörung hervorrufe. Dabei solle Magnan aber darauf achten, dass er am russischen Hof niemanden durch seine Einwände brüskiere.2128 Diese Ausführungen zeigen, dass Frankreich nachhaltig darum bemüht war, die Allianz zwischen Russland und dem Kaiser zu stören, um den Kaiser zu schwächen. Am englischen Hof hingegen fand die Souveränitätserklärung der Zarin keine Resonanz. Rondeau und Ward erhielten keine Weisungen. Auch die Berichte des kaiserlichen Gesandten am Londoner Hof, Philipp Kinsky, und die Weisungen des Kaisers an seinen Gesandten weisen keine Bezüge zu den Ereignissen bezüglich der Souveränitätserklärung der Zarin in Russland auf.2129 Dies belegt, dass Russland zwar in die europäischen Beziehungen verflochten war, jedoch in mitunter vollkommen unterschiedlicher Intensität.
Die Gesandten am Wiener Hof – eine Frage der Deutungshoheit der Relationen de Lirias oder Wratislaws Am Wiener Hof zeigt sich exemplarisch, dass die widersprüchlichen Darstellungen der in Moskau befindlichen diplomatischen Vertreter verschieden gedeutet werden konnten. Die Souveränitätserklärung und ihre Folgen wurden daher unterschiedlich aufgenommen. Der holsteinische Gesandte Kettenburg ging auf Meldungen de Lirias aus Moskau ein: Laut seinen Berichten habe sich die Garde der Machtbeschränkung der Zarin widersetzt. Daraufhin habe Anna die bereits unterschriebenen Konditionen zerrissen. Da Wratislaw darüber noch nichts berichtete, ging Kettenburg davon aus, dass diese Nachricht sehr ungewiss sei.2130 Da es in Wien bereits Gerüchte gebe, Jagužinskij sei wieder frei, erwarte Kettenburg keine Nachteile mehr für Holstein bezüglich des ehemals in holsteinischen Diensten gestandenen Sumarokov. Viele Neuigkeiten aus Russland, die in Wien kursierten, seien teilweise auf spanische Akteure zurückzuführen, weswegen Kettenburg ihre Verlässlichkeit anzweifelte. 2128 Vgl. Chauvelin an Magnan, Versailles, 03.04.1730, A.A.E. Paris, C.P., Russie 23, fol. 102r/v. 2129 Vgl. Philipp Kinsky an Kaiser Karl VI., London, 31.03.1730, HHStA Wien, England, Karton 67, Konvolut 2, fol. 39r–44r (teilweise chiffriert). Kaiser Karl VI. an Philipp Kinsky, Laxenburg, 18.04.1730, HHStA Wien, England, Karton 68, Konvolut 1, fol. 25r–32r. 2130 Vgl. Kettenburg an Hofkanzler Stryk, Wien, 29.03.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung.
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Kettenburg habe zuletzt unmittelbar vom holsteinischen Gesandten Tessin aus Moskau ein Schreiben, datiert auf den 2. Februar, erhalten. Auch der russische Gesandte Lancziński habe derzeit keine neuen Nachrichten aus Moskau. Kettenburg vermutete, dass zu diesem Zeitpunkt keine anderen Privatkorrespondenzen aus Moskau erlaubt waren.2131 Dies zeigt, dass die Informationslage in Wien unklar war. Die Briefe de Lirias an seinen spanischen Kollegen in Wien verbreiteten sich schneller als diejenigen Wratislaws, da diese früher ankamen. Kettenburg bat zudem den Herzog, seine Gehaltskürzung bis zum Jahresende aufzuschieben, da diese einen Wohnungswechsel notwendig machen würden, der so schnell nicht erfolgen könne. Der Wiener Hof wiederum ließ durch Kettenburg anfragen, in welcher Höhe Russland bisher Gelder an Holstein gezahlt habe. Dies wolle Wien wissen, da Russland einen Teil der eingestellten spanischen Subsidien, die bei dem Allianzschluss von 1725 zwischen Wien und Madrid vereinbart worden waren, an Holstein zusätzlich zahlte. Auch Wien überlege, ob es die ursprünglich auch von Spanien gewährten, dann aber aufgrund des Bündniswechsels eingestellten Zahlungen an Holstein kompensiere.2132 Der holsteinische Hof sah es nicht als notwendig an, Details über die Vorkommnisse in Moskau weiterzuleiten, da vieles in Wien bereits bekannt sei und Kettenburg in direktem brieflichem Kontakt zu Tessin stehe. Der holsteinische Herzog versicherte Kettenburg, die Souveränitätserklärung in Russland als positiv anzusehen, da die Zarin nun bei ihren Entscheidungen und Handlungen freie Hand habe.2133 Am 3. April sei endlich die Nachricht Wratislaws angekommen, dass die Zarin sich zur souveränen Herrscherin erklärt habe. Zur gleichen Zeit habe Kettenburg das Schreiben Tessins erhalten, das die Wiedergewinnung der Souveränität der Zarin behandelte.2134 Es handelte sich dabei um eine wörtliche Abschrift des Berichts an den Kieler Hof gleichen Datums. Für Kettenburg wurde hieraus ersichtlich, dass Anna ihre Souveränität ohne Einschreiten der Garde zurückgewonnen und Jagužinskij seine Freiheit wiedererlangt hatte. Zudem habe Wratislaw die Zusicherung zur Absendung der Truppen erhalten.2135 Aus den bisherigen Darstellungen wird deutlich, dass Kettenburg die Informationen de Lirias, Wratislaws und Tessins kannte. Aus den Berichten des englischen und sächsisch-polnischen Gesandten sowie des französischen Sekretärs in Wien geht hingegen klar hervor, dass de Liria den spanischen Sekretär mit Informationen aus Moskau direkt versorgte, wie im Folgenden gezeigt wird. Die Darstellung de Lirias fand in Wien umgehend Verbreitung. Aus Waldegraves Bericht vom 25. März wird deutlich, dass de Lirias aus Moskau umgehend einen Brief über die Souveränitätserklärung an den spanischen Sekretär Eguiluz nach Wien abgefasst haben muss. Diese war vor der Re2131 2132 2133 2134
Vgl. Kettenburg an Hofkanzler Stryk, Wien, 01.04.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. Vgl. ebd. Vgl. Hofkanzler Stryk an Kettenburg, Kiel, 03.04.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. Vgl. Kettenburg an Herzog Karl Friedrich, Wien, 05.04.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung. 2135 Vgl. Kettenburg an Herzog Karl Friedrich (Beilage), Wien, 05.04.1730, LASH, Abt. 8.1, Nr. 2401, ohne Foliierung.
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lation Wratislaws in Wien eingetroffen, da de Liria seine Darstellung per Kurier versandte. Eguiluz seinerseits unterrichtete umgehend Waldegrave darüber. Die wichtigste Information daraus sei – laut Waldegrave – die Absendung der russischen Truppen für den Kaiser. Er nahm mit Bedauern zur Kenntnis, dass die Beteuerungen der Nichtgewährung der Truppen durch de Liria sich als falsch erwiesen haben, da die Befehle an die Regimenter bereits ergangen seien. Dennoch glaube de Liria auch weiterhin nicht daran, dass die Soldaten auch wirklich abgesandt würden.2136 Der englische Gesandte könne nun nur kurz auf diesen bedeutendsten Punkt eingehen und wolle ihn im nächsten Bericht ausführlicher erläutern.2137 Diese Wertung Waldegraves belegen erneut, dass nicht die Einzelheiten der Souveränitätserklärung bedeutend waren, sondern allein die Auswirkungen auf die militärische Unterstützung des Kaisers zur Kenntnis genommen wurden. Zudem nahm Waldegrave mit Freude die Reaktion Frankreichs auf die Affäre von Dünkirchen auf.2138 Da Waldegrave sich erfreut zeigte, dass sich die englische Opposition nicht mit ihrer pro-kaiserlichen und anti-französischen Stoßrichtung durchsetzen konnte, war er persönlich offensichtlich ein Unterstützer der Allianz von Sevilla. Auch der französische Sekretär vermeldete am selben Tag um die Mittagszeit die Ankunft einer Stafette de Lirias beim spanischen Sekretär in Wien. Demnach habe sich die Zarin für souverän erklärt und den Befehl erteilt, die 30.000 Soldaten gemäß dem Vertrag von 1726 abzusenden. De Bussy hielt es aber für unmöglich, dass die russischen Truppen durch Polen marschieren könnten.2139 Wie angespannt die Informationslage aufgrund eines möglichen Krieges zwischen Spanien und dem Kaiser war, verdeutlichen die Ausführungen des kursächsischen Gesandten Wackerbarth-Salmours: Demnach werde ein kaiserlicher Kurier aus Spanien bereits lange erwartet. Da der aus Spanien abgesandte Kurier erkrankt war und über Paris reisen musste, um die Berichte Stephan Kinskys ebenfalls zu überbringen, verzögere sich die Informationsvermittlung. Ab Paris beförderte ein anderer Kurier die Nachrichten weiter nach Wien.2140 In dieser Situation wiederum habe der spanische Sekretär eine Stafette erhalten, was in der Stadt für viele Gerüchte sorgte. Wackerbarth-Salmour habe daraufhin den ebenfalls katholischen Eguiluz in der Kirche getroffen. Bei diesem Zusammentreffen habe Eguiluz ihm gesagt, dass es sich um einen Brief de Lirias handele und er WackerbarthSalmour weitere Details mitteilen werde.2141 In seiner nächsten Relation nach Dresden vermeldete er die Informationen de Lirias, die Eguiluz ihn habe lesen und zusammenfassen lassen. Bevor er auf die Darstellung de Lirias einging, versicherte Wackerbarth-Salmour, dass die 30.000 Soldaten abgesandt werden könnten. Er mutmaßte, dass die Kuriere des kaiser2136 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 25.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 35r/v (chiffriert). 2137 Vgl. ebd., fol. 35v/36r. 2138 Vgl. ebd., fol. 35r. 2139 Vgl. de Bussy an Chauvelin, Wien, 25.03.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 269r/270r. 2140 Vgl. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 25.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 91r. 2141 Vgl. ebd., fol. 92v/93r.
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lichen und spanischen Gesandten zur gleichen Zeit Moskau verlassen hätten. Der kaiserliche Kurier sei allerdings noch nicht in Wien angelangt, weswegen der spanische Sekretär die Mitteilungen de Lirias dem Kaiserhof vermeldete. Der Frage der Absendung der 30.000 Soldaten sei er ausgewichen und habe stattdessen die Schwierigkeiten einer Route für die Beförderung der Truppen betont.2142 Laut den Ausführungen de Lirias habe sich der Oberste Geheime Rat als das bedeutendste Gremium des Landes vor Annas Thron eingefunden. Die Zarin habe die in Mitau unterschriebenen Konditionen bestätigt und andere ihr in Moskau präsentierte Hinzufügungen akzeptiert. Diese Grundgesetze der neuen Regierung habe die Zarin laut verlesen lassen und öffentlich unterschrieben. Die anwesenden Preobraženskijund Semёnovskij-Garden hätten laut gegen dieses Vorgehen protestiert. Da sie einen Eid auf eine absolute Herrscherin geleistet hätten, würden sie deren Machtbeschränkung nicht zulassen, sondern lieber ihr Leben geben. Da es der Zarin nicht gelungen sei, dem Tumult Einhalt zu gebieten, habe sie befohlen, dem Oberstleutnant zu gehorchen. Dieser hätte die Offiziere an ihren Eid erinnert, dass die Zarin nicht eingeschränkt herrsche, sondern mit absoluter Macht wie ihre Vorgänger. Danach habe er sich vor der Zarin niedergeworfen und ihr versprochen, lieber seinen letzten Blutstropfen zu opfern, als der Beschränkung ihrer Macht zuzustimmen. Nach dieser Ansprache hätten der Oberste Geheime Rat und die Vertreter des Adels ihre Protestation zurückgezogen und sich der Zarin unterworfen. Der Oberstleutnant der Wache habe der Zarin die vor Kurzem unterschriebenen Konditionen gebracht, die sie in Stücke gerissen habe, und die Menge hätte daraufhin auf ihnen herumgetrampelt. Daher habe er alle Anwesenden aufgefordert, die Zarin zur absoluten Herrscherin zu erklären, wobei sich niemand zu widersetzen gewagt habe. Dies sei auch nachvollziehbar, da der ganze Palast mit Wachen umstellt gewesen wäre. Dabei solle es sich um 12.000 Männer – unter ihnen Senatoren und Adlige – gehandelt haben. Keiner habe mit so einer schnellen Veränderung gerechnet und mit solch einem Geschick der neuen Zarin. Sie habe den Frauen der Räte und dem Adel sogleich eine Audienz gewährt und habe diese genutzt, um die Wiedergewinnung ihrer Souveränität durch die Garde bekannt zu geben. Jagužinskij sei als erste Maßnahme der Zarin in die Freiheit entlassen worden und habe seine Würden wiedererlangt. Die Gesandten seien durch den Oberzeremonienmeister hierüber informiert worden und hätten die souveräne Zarin sogleich beglückwünscht. Die Befürworter eines republikanischen Systems seien eingeschüchtert, und es sei fraglich, ob die Zarin sich an ihnen rächen werde.2143 Diese Darstellung de Lirias weicht deutlich von denjenigen anderer Gesandter ab und ist nahezu gänzlich unzutreffend. Es sollen hier nicht alle Einzelheiten der Schilderung problematisiert werden, sondern lediglich exemplarisch ausgeführt werden, dass die angegebene Zahl von 12.000 beteiligten Personen jeglicher Grundlage entbehrt. Die Darstellung der Handlungen erscheint stark durch eigene Vorstellungen geprägt zu sein. Dass etwa die Garde der Auslöser der Souveränitätserklärung gewesen sei, ist – wie bereits ausführlich besprochen – widerlegt.
2142 Vgl. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 29.03.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 96r/v und 99r/v. 2143 Vgl. ebd., fol. 97r/98v.
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Auch Wackerbarth-Salmour zeigte sich nach der Ankunft des Kuriers Wratislaws überaus verwundert, dass dessen Darstellung, insbesondere über die Souveränitätserklärung, in den Einzelheiten sehr stark von der Schilderung de Lirias abwich. Wackerbarth-Salmour verzichtete dabei darauf, auf Details einzugehen, da in Dresden die Berichterstattung Le Forts aus Moskau mit Sicherheit schon eingegangen sei. Dies zeigt neben den Ausführungen Kettenburgs, dass auch Wackerbarth-Salmour Widersprüche nicht auflösen konnte. Sicher sei laut seiner Darstellung nur, dass der Wiener Hofkanzler sich sehr zufrieden mit den Vorkommnissen in Moskau zeigte. Er lobte die Klugheit, das Geschick und die Entschlossenheit der neuen Zarin.2144 Auch für ihn waren die Folgen der Ereignisse bedeutender als ihr genauer Ablauf. Wackerbarth-Salmour berichtete zudem von den weiteren Kriegsvorbereitungen des Kaisers und von Problemen der Mobilmachung auf spanischer Seite. Er hoffte aber noch immer auf eine friedliche Beilegung des Konflikts.2145 Auch der englische Gesandte Waldegrave zeigte sich verwundert darüber, dass der Wiener Hof lange Zeit keine Nachricht von seinem Gesandten Wratislaw über die Entscheidung der Absendung der russischen Truppen für den Kaiser erhalten habe.2146 Chiffriert ergänzte Waldegrave, dass diese Wendung in Wien nicht erwartet worden sei und die kaiserlichen Minister es kaum hätten glauben können, als der spanische Sekretär sie darüber in Kenntnis setzte.2147 Dass der spanische Sekretär den Wiener Hof über diese Ereignisse informierte, zeigt, dass ein zeitlicher Vorsprung der Übermittlung von Nachrichten durchaus große Auswirkungen haben konnte. Die am Wiener Hof anwesenden Gesandten wussten offenbar nicht, dass der Kaiser umgehend von der Verlängerung der Bündnisse bei der Verkündung der Nachfolge Annas ausgegangen war, da der Oberste Geheime Rat Wratislaw dies zugesichert hatte. Dass die Zarin die militärische Unterstützung so schnell gewährte, deutete Waldegrave zugunsten seines Hofs. Entgegen der üblichen Meinung, dass dies den Kaiser stärke, versuchte er die Handlung ins Gegenteil zu verkehren, indem er behauptete, dass dies auch ein Indiz dafür sein könnte, dass der Kaiser sie möglicherweise gar nicht in Anspruch nehmen werde. Zudem führte Waldegrave an, dass der Kaiser bei der Absendung der russischen Truppen vor neuen Problemen stehe. Auch er betonte, dass diese Soldaten durch andere Länder marschieren müssten, um in kaiserliche Lande zu gelangen, und auch der Rücktransport nach Russland nach Beendigung der Auseinandersetzung benötige einige Vorkehrungen. Den bereits durch den Kaiser nach Italien entsandten Truppen setze Regen ebenso zu wie Schnee. Zudem seien viele Gebiete überschwemmt, was den Marsch erschwere.2148 De Bussy war ebenso bemüht, die militärische Unterstützung des Kaisers durch Russland 2144 Vgl. Wackerbarth-Salmour an August II., Wien, 05.04.1730, HStA Dresden, 10026, Loc. 03419/02, fol. 109r/v. 2145 Vgl. ebd., fol. 104v–108r. 2146 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 29.03.1730, TNA, SP 80/67, fol. 37r. 2147 Vgl. ebd., fol. 37r (chiffriert). 2148 Vgl. ebd., fol. 37v/38r. Auch am 5. April 1730 betonte er erneut die Probleme der Truppen durch Hochwasser. Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 05.04.1730, TNA, SP 80/67, fol. 49r/v.
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umgehend infrage zu stellen. Auch der französische Sekretär musste die Bewilligung der Truppen durch Russland an den Kaiser vermelden, zog aber deren Absendung in Zweifel. Dies begründete er damit, dass der Kaiser auf Russland zähle und diese Monarchie aufgrund vielzähliger plötzlicher Veränderungen nicht verlässlich wäre. Zudem sei die Wiedererlangung der Souveränität der Zarin durch den Obersten Geheimen Rat erzwungen worden. Es werde keinen Grund geben, die 30.000 Soldaten gegen den Willen der russischen Stände zu entsenden. Zudem sei es naheliegend, dass die Zarin, die ihre Macht den Militärs verdanke, mit einer derartigen Entsendung Widerstand auslösen würde, denn es läge nicht in deren Interesse, in fremde Länder entsandt zu werden. Zudem betonte de Bussy, dass es schwierig sei, die russischen Truppen durch Polen oder über Reichsterritorien zu ihren Einsatzgebieten marschieren zu lassen. August II. werde dem Durchzug von 30.000 russischen Soldaten niemals zustimmen, wie ihm Wackerbarth-Salmour versichert hätte. Ein Durchzug durch das Reich im Norden könne zu Verwerfungen mit Schweden und Dänemark führen, falls die Truppen etwa Schleswig besetzen würden. Auch der kaisertreue preußische König habe kein Interesse, 30.000 Russen in seinen Ländern zu haben.2149 Inhaltlich sind diese Darstellungen fehlerhaft, da die Zarin beispielsweise nicht dem Obersten Geheimen Rat oder dem Militär ihre Macht verdankte, wie de Bussy zu wissen glaubte. Seine Meldung veranschaulicht aber, dass die diplomatischen Vertreter der Allianz von Sevilla umgehend die Deutungshoheit über die Ereignisse der russischen Militärunterstützung erringen wollten. Ziel dessen war es, die Militärunterstützung Russlands für den Kaiser auf diplomatischer Bühne in Zweifel zu ziehen, da sich die Ereignisse seit der Souveränitätserklärung vorteilhaft für den Kaiser entwickelten. Der Versailler Hof wiederum vernahm positiv, wie engagiert der französische Sekretär in Wien versuche, an Informationen zu gelangen. Er sollte dabei aber nicht offensichtlich werden lassen, dass er seine Informationen vom spanischen Sekretär erhalte.2150 Diese Anweisung könnte der Absicht geschuldet gewesen sein, dass diese Meldungen aus mehreren Quellen stammten und nicht nur auf de Liria zurückgingen. Der Versailler Hof lobte die Berichterstattung de Bussys, der kommentierte Informationen über die Ereignisse in Moskau übermittelte.2151 Dass der Hof in London den Ereignissen in Moskau keine allzu große Bedeutung b eimaß, zeigt sich darin, dass Townshend in seiner Weisung lediglich vermeldete, sehr zufrieden mit der Arbeit Waldegraves zu sein und derzeit keine Notwendigkeit für neue Weisungen zu sehen.2152 Waldegrave zeigte sich sicher, dass nach der Ankunft eines Kuriers Stephan Kinskys aus Paris Informationen hinsichtlich der Beratungen des Versailler Hofs über den Konflikt mit dem Kaiser durch Sinzendorf an den russischen Gesandten weitergegeben worden seien. Dies sah Waldegrave als förderlich an, um eine friedliche Einigung zu erzielen.2153 Am 2149 2150 2151 2152
Vgl. de Bussy an Chauvelin, Wien, 29.03.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 284v–286v. Vgl. Chauvelin an de Bussy, Versailles, 11.04.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 294r/v. Vgl. Chauvelin an de Bussy, Versailles, 07.04.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 280r. Vgl. Secretary of State Townshend an Waldegrave, Whitehall, 07.04.1730, TNA, SP 80/67, fol. 43r/44v. 2153 Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 05.04.1730, TNA, SP 80/67, fol. 48v (chiffriert).
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2. April habe der Wiener Hof auch von Wratislaw die Nachricht erhalten, die neue Zarin herrsche nun so absolut wie ihre Vorfahren. Ob Wratislaw ebenfalls die Absendung der 30.000 Soldaten versichere, habe der englische Gesandte von keinem kaiserlichen Minister bisher in Erfahrungen bringen können.2154 Waldegrave musste zudem am 12. April vermelden, dass Sinzendorf ihm mitgeteilt habe, dass alle Meinungsverschiedenheiten zwischen Friedrich Wilhelm I. und Karl VI. beigelegt worden seien. Zudem sei die Heirat des Prinzen von Wales mit einer preußischen Prinzessin erklärt worden.2155 Er erhielt zudem abermals Informationen durch den spanischen Sekretär. Laut de Liria werde die Absendung der 30.000 Soldaten nicht erfolgen, und die russischen Adligen würden sich über solche Meldungen lustig machen.2156 Wie bereits bei der Auswertung der Berichte der in Moskau befindlichen Vertreter gezeigt werden konnte, entsprach dies nicht den Tatsachen. Auf diese Berichterstattung de Lirias beriefen sich sowohl de Bussy als auch Waldegrave, wobei beide nicht an eine Absendung glaubten.2157 Obwohl de Liria die Bündnistreue Ostermanns betonte, sei eine Entsendung des Militärs unwahrscheinlich, da darüber der Senat mit seinen 21 Mitgliedern zu entscheiden hätte, der allerdings mehrheitlich andere Interessen verfolge.2158 Die Darstellung de Lirias ist an dieser Stelle aber dem Ziel der Schwächung des Kaisers geschuldet. Die Truppen waren bereits zum Abmarsch bereit, und auch die Mitteilung, dass der Senat für einen solchen Vorgang zuständig war, stimmte nicht. Diese Behauptungen waren aber den Interessen de Lirias dienlich. Waldegrave hatte dagegen wahrgenommen, dass der kaiserliche Hof viel Aufmerksam auf die Absendung der russischen Soldaten gelegt habe. Laut den meisten Offizieren könne sich der Kaiser aber im Notfall auch andere Truppen beschaffen.2159 Der französische Sekretär in Wien, de Bussy, war der Ansicht, dass der Kaiser bei den deutschen Fürsten keine Unterstützung erhalte, da diese Nachteile aus einem Krieg fürchteten. Bezüglich der 30.000 Soldaten aus Russland würden sich neue Hindernisse aufbauen, da die Zarin sehr stark daran arbeite, den mecklenburgischen Herzog in sein Fürstentum wiedereinzusetzen. Falls Anna kinderlos sterbe, werde sie die junge Herzogin von Mecklenburg zu ihrer Erbin erklären, zeigte sich de Bussy überzeugt.2160 Vor allem der englische und französische Vertreter vertrauten demnach zu stark auf die bereits problematisierten Darstellungen de Lirias und versuchten dadurch, die für ihre Königreiche negativen Auswirkungen der Souveränität der Zarin kleinzureden. Am Wiener Hof zeigt sich exemplarisch, dass die Informationen de Lirias und Wratislaws über die Souveränitätserklärung – aber noch mehr die daraus entstehenden Folgen – einander widersprachen. Es galt in besonderem Maße, die Deutungshoheit über die Ereignisse zu gewinnen, um die eigenen politischen Ziele zu erreichen. Dabei ging es in erster Linie 2154 2155 2156 2157 2158 2159 2160
Vgl. ebd., fol. 48v/49r. Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 12.04.1730, TNA, SP 80/67, fol. 67r. Vgl. ebd., fol. 67v. Vgl. de Bussy an Chauvelin, Versailles, 12.04.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 306r. Vgl. Waldegrave an Secretary of State Townshend, Wien, 12.04.1730, TNA, SP 80/67, fol. 67v. Vgl. ebd. Vgl. de Bussy an Chauvelin, Wien, 15.04.1730, A.A.E. Paris, Autriche 165, fol. 307r.
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darum, ob die russische Militärunterstützung erfolgen würde und somit der Kaiser gestärkt werde. Demnach standen auch hier nicht die Details der Souveränitätserklärung im Vordergrund, sondern allein die Absendung der militärischen Truppen und die damit verbundene Handlungsfähigkeit der Zarin waren von Interesse.
7.4 Fazit Die Souveränitätserklärung der Zarin war von großer Bedeutung – sowohl für die diplomatischen Vertreter in Moskau als auch für die europäische Fürstengemeinschaft. Bei der Analyse der Gesandtschaftsberichte wurde bisher in der Forschung übersehen, dass die Gesandten den Vorgang, wie es zur Rückgewinnung der Souveränität der Zarin kam, durch den russischen Großkanzler Golovkin offiziell verkündet bekamen. Dies kann durch einen Wandel des Erkenntnisinteresses bei der Analyse diplomatischer Berichte erklärt werden. Zum einen wurden diese Hinweise auf die offizielle Notifikation nicht in den Editionen publiziert, zum anderen wurden sie – soweit vorhanden – nicht zur Kenntnis genommen. Durch die vorgenommene Ausweitung der analysierten Diplomaten kann belegt werden, dass Rondeau und Mangan aufgrund ihres niederen diplomatischen Ranges vom Erhalt dieser Notifikation ausgeschlossen waren. Da deren Berichte aber ediert sind, wurden sie vielfach überbetont, obwohl deren Inhalt mitunter mehr als fraglich ist. Aber auch die Analyse der Berichte hochrangiger Diplomaten belegt, dass deren Informationsgehalt trotz notifizierter Information nicht nur voneinander abwich, sondern in sie eigene – mitunter nicht belegbare – Erklärungsmuster einflossen. Ein reger Informationsaustausch zwischen den diplomatischen Vertretern ist auch in diesem Zusammenhang belegbar. Eine überaus relevante Erkenntnis ist zudem, dass außer Magnan und de Liria kein anderer diplomatischer Vertreter von einem gewaltsamen Einschreiten der Garde berichtete. Diese Behauptung, die sich in nahezu jeder Publikation wiederfindet, kann stark in Zweifel gezogen werden. Als Hauptgrund für die Antragung der Souveränität können die großen Gegensätze innerhalb des russischen Adels angesehen werden, die eine Einigung auf eine gemeinsame Haltung zur Regierungsform verhinderten. Aufgrund der Machtkonzentration beim Obersten Geheimen Rat wandte sich der russische Adel zunehmend gegen diesen und sah es letztendlich als die bessere Lösung an, der Zarin die gewohnte autokratische Herrschaft anzutragen, als sich dem Rat zu unterwerfen. Die Gründe der Wiederherstellung der souveränen Herrschaft waren für die Diplomaten ebenfalls von Interesse. Vor allem die Übermittlung der beiden Bittschriften des russischen Adels bewirkten bei Le Fort, Magnan und Rondeau eine erneute Beschäftigung mit den Ereignissen, da ihnen ihre eigenen früheren Deutungen hierdurch als fraglich erschienen. Dass diese Bittschriften durch die Diplomaten mitunter überliefert sind, entging der bisherigen Forschung, da sie in den Editionen unberücksichtigt geblieben waren. Über die Gegner der Machtbeschränkung spekulierten die diplomatischen Vertreter, was in der Wissenschaft bisher zu unkritisch als Tatsachendarstellung angenommen wurde. Neben Jagužinskij, Trubeckoj, Čerkasskij und Ostermann – um nur einige russische
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Adlige zu nennen – erscheint es sehr wahrscheinlich, dass ebenso deren Ehefrauen als überaus bedeutend für die Wiedererlangung der Souveränität angesehen werden können. Dass Katharina von Mecklenburg sich für die Errichtung der souveränen Herrschaft ihrer Schwester einsetzte, ist wahrscheinlich, auch wenn die einzelnen durch die Diplomaten übermittelten Nachrichten im Detail fraglich erscheinen. Das Agieren Annas bei der Rückgewinnung der Souveränität und ihr energisches Handeln nach der Souveränitätserklärung zeigt – entgegen den bisherigen Ansichten in der Forschung über ihre Herrschaft – ihr großes politisches Geschick. Dass sie den zuvor durch den Obersten Geheimen Rat verfassten Eid auf sich als eingeschränkte Herrscherin ändern und austauschen ließ und umgehend Notifikationsschreiben an die Monarchen Europas sandte, zeigt, dass die Zarin ihre souveräne Regierung bei ihren Untertanen und der europäischen Fürstengemeinschaft bestätigen ließ und damit ihren Herrschaftsanspruch ausdrückte sowie ihre Stellung als Zarin festigte. Die Auswirkungen dieser Ereignisse standen im besonderen Interesse der diplomatischen Vertreter. Die Abschaffung des Obersten Geheimen Rates und des Hohen Senats sowie die gleichzeitige Einrichtung eines Regierenden Senats mit 21 Mitgliedern kamen den Forderungen des Adels entgegen, ohne dass dabei die geforderten Wahlmodalitäten zugestanden wurden. Für die Diplomaten war jedoch wesentlich bedeutender, welche Personen die Zarin tatsächlich in die neue Regierung berief und welche sie entließ. Dabei war vor allem die Zukunft Ostermanns relevant, galt er doch als Garant der bisherigen politischen Ordnung und der außenpolitischen Kontinuität Russlands. Seine Machtstellung wurde je nach politischem Interesse erhofft oder bedauert. Der deutlich wahrgenommene Niedergang der Dolgorukij wurde ebenfalls nach außenpolitischen Gesichtspunkten beurteilt. Auch wenn die Darstellung von deren Verfehlungen mitunter in ihrer Drastik zu hinterfragen ist, zeigt sie doch, dass die Dolgorukij die Ersten waren, die ihre bisherige Machtstellung einbüßten. Dass es zu weiteren Bestrafungen der Akteure der Machtbeschränkung kommen würde, antizipierten die Diplomaten frühzeitig. Die unmittelbare außenpolitische Folge der Souveränitätserklärung war die umgehende Versicherung der Zarin gegenüber Wratislaw in einer Audienz, dass die russischen Soldaten zur militärischen Unterstützung des Kaisers bereitstanden. Ob Anna die Bündnisverpflichtungen zu erfüllen gedachte, wurde durch die Gesandten in Moskau beobachtet und gedeutet. Besonders de Liria, Rondeau und Magnan versuchten, dies zu verhindern. Gerüchte über Heiratspläne und eine mögliche Schwangerschaft Katharina Dolgorukajas sollten den Beginn von Annas Herrschaft als gefährdet erscheinen lassen. Anna plante jedoch weder zu heiraten und somit ihre Herrschaft als Frau einzuschränken, noch war Katharina Dolgorukaja schwanger. Auf europäischer Ebene war die Souveränitätserklärung ebenfalls von großer Relevanz. Dabei interessierten nicht die Details, sondern vor allem die Auswirkungen auf das europäische Bündnisgleichgewicht. Daher sind die Interpretationen der Gesandtschaftsberichte ohne diesen Hintergrund nur schwerlich möglich, obwohl dies für die in Moskau verfassten Berichte bisher gängige Praxis war. Der Kaiser und der preußische König zeigten sich sehr er-
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freut über die Zusicherung der Absendung der russischen Truppen. Es erfolgte auf Ebene der Monarchen und der Diplomaten eine enge Zusammenarbeit, um dem Einfluss der Alliierten von Sevilla und des mecklenburgischen Herzogs auf den russischen Hof entgegenzuwirken. Dass die Details der Souveränitätsgewinnung keine Rolle spielten, zeigt auch die Reaktion des Dresdner Hofs, der seinen Gesandten lediglich anwies, die guten Beziehungen zur Zarin aufrechtzuerhalten, aber auf die Souveränität der Zarin nicht einging. Dies spiegelt sich auch in der Tatsache, dass Wratislaw seinen Kollegen in Warschau zwar direkt informierte, seine Darstellung über die Wiedergewinnung der Souveränität jedoch nur vereinfacht war. Der holsteinische Hof zeigte sich erfreut über die Souveränität der Zarin, da er sich eine Beschleunigung und Vereinfachung der Auszahlung der so dringend benötigten Subsidien erhoffte. Das umgehende Verfassen eines Antwortschreibens auf die Notifikation der Zarin zu ihrer Thronfolge zeigt, dass Karl Friedrich auch offiziell keinen Zweifel an der Thronfolge Annas erwecken wollte. Die Reaktionen Mecklenburgs stellen einen Sonderfall dar, da Herzog Karl Leopold die Akkreditierung J.C.D. Ostermanns verweigerte. Dies war zwar ein rein formaler Akt nach einem Herrscherwechsel, Karl Leopold nutzte aber diese Gelegenheit, um seiner Unzufriedenheit über die Tätigkeit Ostermanns Ausdruck zu verleihen, weil es diesem nicht gelang, russische Unterstützung zu erwirken. Die Befürchtungen Wiens und Berlins, dass der mecklenburgische Herzog versuchte, Einfluss auf die Zarin zu gewinnen, waren demnach durchaus berechtigt. Diese bisherigen Ausführungen belegen, dass der russische Hof ein zentraler Akteur in Europa war und auch als solcher im europäischen Bündnissystem wahrgenommen wurde. Dass die Stellung Russlands jedoch für die einzelnen Höfe unterschiedlich war, zeigt die Reaktion des Londoner Hofs. Die englischen diplomatischen Vertreter erhielten keine Weisung auf ihren Bericht über die Souveränitätserklärung. Der französische Hof hingegen erkannte zunehmend, dass die erhoffte Schwächung des Kaisers bei seinem russischen Bündnispartner unwahrscheinlicher wurde, da Ostermann entgegen aller französischen Hoffnungen seine Machtstellung erhalten und sogar ausbauen konnte. Demnach wies Chauvelin Magnan an, gemeinsam mit de Liria Einwände für die Truppenabsendung am Moskauer Hof vorzubringen. Das Bemühen um die Erringung einer Deutungshoheit der Diplomaten über die Auswirkungen der Souveränitätserklärung zeigt sich exemplarisch am Kaiserhof. Die Besonderheit in Wien war, dass die Berichte de Lirias vor denen Wratislaws ankamen und somit rasche Verbreitung fanden. Die Tätigkeit de Lirias, der verschiedenen diplomatischen Vertretern Spaniens in Europa Berichte zukommen ließ, hatte bedeutende Auswirkungen. Sie sollten die Bündnishilfe Russlands infrage stellen. Zudem findet sich deswegen in den verschiedenen Gesandtschaftsberichten in Europa die Nachricht, dass die Garde durch einen Staatsstreich ursächlich für die Souveränität Annas gewesen wäre. Dass die Informationen de Lirias fraglich waren, erkannten die Diplomaten erst nach und nach. Bei der Interpretation seiner Nachrichten ist zu beachten, dass es ihm nicht um Details der Souveränitätsgewinnung ging, sondern nahezu ausschließlich um die außenpolitischen Folgen, die sich daraus ergaben. Die Fehleranfälligkeit des Austauschs innerhalb der diplomatischen Netzwerke stieg
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zudem proportional zur Anzahl der beteiligten Diplomaten. Obwohl die Historiografie immer wieder versuchte, aus den Gesandtschaftsberichten die Ereignisgeschichte der Souveränitätserklärung detailliert zu rekonstruieren, wird deutlich, dass die Einzelheiten für die Gesandten nachrangig waren. Die Schnelligkeit der Absendung von Informationen an die Höfe hinsichtlich der zentralen Anliegen war wichtiger als deren Detailgenauigkeit. Nach dem Eintreffen der Berichte Wratislaws erkannten die in Wien anwesenden Diplomaten selbst Widersprüche und schätzten richtig ein, dass die Darstellung einer außenpolitischen Zweckmäßigkeit folgte. Obwohl die Erfüllung der russischen Bündnisverpflichtung als gesichert galt, beteiligten sich vor allem die spanischen, englischen und französischen Vertreter daran, Gründe und Gerüchte zu verbreiten, warum die Absendung der russischen Truppen scheitern würde, um die Allianzen Russlands mit dem Kaiser und Preußen zu schwächen sowie Misstrauen zwischen den Bündnispartner zu säen. Ohne die außenpolitische Situation in Europa zur Zeit des Thronwechsels in Betracht zu ziehen, können die Gesandtschaftsberichte, die für das Verständnis des Ablaufs der Souveränitätsgewinnung aufgrund mangelnder anderer Quellen unabdingbar sind, nicht adäquat gedeutet werden. Aufgrund der Interdependenzen zwischen den europäischen Höfen beunruhigte der Thronwechsel die Monarchen Europas vor allem dadurch, dass das zu diesem Zeitpunkt fragile Bündnissystem innerhalb Europas als gefährdet angesehen wurde. Ob sich dabei eine pro-kaiserlich eingestellt Person an der Staatsspitze durchsetzen konnte, war ebenso von Relevanz wie die bündnispolitische Ausrichtung ihrer Minister.
8. Diplomatische Kommunikation in Netzwerken: die Darstellung und Bewertung des russischen Thronwechsels 1730 – eine Ergebnissicherung Wer regiert Russland? – Diese Frage stellten sich mit zunehmender Verschlechterung des Gesundheitszustandes Zar Peters II. die in Moskau und an den übrigen Höfen Europas weilenden Diplomaten und Monarchen. Dies war besonders bedeutend, da Russland neben Preußen in einem drohenden Krieg zwischen den Alliierten von Sevilla und dem Kaiser ein wichtiger Bündnispartner Karls VI. war. Die diplomatischen Vertreter in Moskau konnten über die Erkrankung des jungen Zaren je nach ihrem diplomatischen Rang unterschiedlich valide Informationen gewinnen. Der Rang und der damit zusammenhängende Zugang zu offiziellen Informationen fand bisher in der Forschung bei der Auswertung der Gesandtschaftsberichte in Bezug auf den Thronwechsel 1730 in Russland zu wenig Beachtung. Bereits bei der Erkrankung des Zaren offenbarte sich, dass die Berichterstattung mitunter durch Spekulationen und Zukunftsvorstellungen geprägt war, die aber entgegen den bisherigen Annahmen in der Wissenschaft zumeist wenig mit realen Vorkommnissen zu tun hatten. Wie diese Arbeit aufzeigt, war es für die Diplomaten am Moskauer Hof und an den übrigen europäischen Höfen nicht immer möglich, die Ereignisse in Russland richtig zu deuten, woraus sich falsche Meldungen ergaben. Zudem streuten die Diplomaten gezielt Gerüchte, um gegnerische Höfe zu desinformieren und zu schwächen. Da die Postlaufzeiten der Berichte aus Russland sehr lang waren, waren Desinformationen über die dortigen Ereignisse besonders wirkungsvoll, obwohl das bewusste Streuen von Gerüchten und Falschinformationen auch an den übrigen europäischen Höfen ein probates Mittel der Diplomatie war und sich daher alle Beteiligten dieser Problematik bewusst gewesen sein dürften. Die Erkrankung des Zaren und sein Tod wurden in Europa vielfach aufgegriffen und deren potenzielle Auswirkungen bewertet. Der mit Russland verbündete Kaiser und der preußische König waren bestürzt über den Tod ihres Alliierten. Der Kaiser und seine Gattin verloren zudem ihren Neffen, was die dynastischen Bande zwischen Wien und Moskau abreißen ließ. Die Geheimkorrespondenz des kaiserlichen Gesandten in Berlin und Dresden, Seckendorffs, mit Prinz Eugen offenbarte die Gefahr, die die kaiserlichen Akteure sahen: Die preußische Königin, Sophie Dorothea, eine Schwester des englischen Königs, könnte durch eine Vermittlung zwischen Preußen und England eine Gefährdung für das Bündnis zwischen Preußen und dem Kaiser darstellen. Neben der hier erwähnten Sophie Dorothea werden weibliche Akteurinnen in den Gesandtschaftsberichten ausführlich thematisiert und sichtbar. Zu den politisch wichtigen Ehefrauen europäischer Monarchen zählten des Weiteren die englische Königin Caroline und die spanische Königin Elisabeth Farnese. Die politische Aktivität Sophie Dorotheas ermöglichte unter anderem die Bildung einer zum König gegensätzlichen Fraktion am preußischen Hof. Das Vorhandensein von verschiedenen Fraktionen
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an den europäischen Höfen, die zu unterschiedlichen Bündnisoptionen tendierten, ist an fast allen Höfen nachzuweisen. Während der Kaiser und Preußen die Todesnachricht mit Sorge aufnahmen, erweckte der Tod des Zaren in Frankreich die Hoffnung auf bündnispolitische Veränderungen: Der Thronwechsel in Russland sollte eine Schwächung des Kaisers bewirken, indem die Verlängerung der Allianz zwischen Russland und dem Kaiser und dessen militärische Unterstützung durch Russland verhindert werden sollten. Die Geheimkorrespondenzen des kaiserlichen Diplomaten in Paris, Stephan Kinsky, wiederum offenbaren die Sichtweise des dort anwesenden russischen Gesandten, Alexander Gavrilovič Golovkin. Dieser war zwar bestürzt über den Tod des Zaren, zeigte sich aber erleichtert, dass die Hochzeit mit Katharina Dolgorukaja nicht stattfand und die Dolgorukij dadurch geschwächt wurden. Im Gegensatz zur Reaktion am Versailler Hof wurde die Todesmeldung in den Weisungen an die niederrangigen Vertreter Englands in Moskau, Ward und Rondeau, ausgesprochen wenig thematisiert. Dies lag an ihrem niederen Rang und daran, dass Russland für England 1730 kein allzu wichtiger Akteur in Europa war. Auch in Dresden fielen die Reaktionen auf die Meldungen des Todes verhalten aus. In Warschau kam es hingegen zu Übermittlungsverzögerungen, weswegen die dortigen Gesandten nur Gerüchte vermelden konnten. Das Herzogtum Holstein wiederum befürchtete, dass die so dringend benötigten Subsidiengelder aus Russland abermals ins Stocken gerieten. Zudem veranlasste der holsteinische Herzog, dass der mit den russischen Gegebenheiten vertraute Gesandte Bonde in Russland verbleiben musste und der am Moskauer Hof als dessen Nachfolger angekommene Kollege Tessin die Gesandtschaft nicht wie geplant übernehmen konnte. Der Thronwechsel hatte zur Folge, dass dringend benötigte Geldzahlungen an Holstein ausblieben. Das kleine Herzogtum Holstein benötigte aufgrund seiner schwachen machtpolitischen und prekären finanziellen Lage die Unterstützung Russlands ebenso wie die des Kaisers, der ebenfalls Schutz und Subsidien gewährte. Daher sind die holsteinischen Korrespondenzen ausgesprochen aufschlussreich, da in ihnen die Thronfolge in Russland ausführlich aufgegriffen wurde. Das Auftreten der ersten Gerüchte über den Tod Peters II. erweckte für einen sehr kurzen Zeitraum die Hoffnung auf eine Thronfolge des holsteinischen Prinzen Karl Peter Ulrich in Russland, die aber mit der umgehenden Thronfolge Annas zerstob. Der mecklenburgische Gesandte wiederum, der der Bruder des für die Außenpolitik zuständigen russischen Ministers war und zudem über gute Beziehungen zur Schwester Annas, der Herzogin von Mecklenburg, verfügte, versandte die Todesnachricht des Zaren erst mit Verzögerung am nächsten Posttag an seinen Landesherrn. Karl Leopold hoffte auf Unterstützung Russlands gegen den Kaiser. Es zeigt sich im Verlauf der Arbeit, dass J.C.D. Ostermann parteiisch gegen die Interessen seines Herzogs handelte. Er unterstützte die pro-kaiserliche Politik seines Bruders Heinrich Johann Friedrich Ostermanns, indem er Karl Leopold wichtige Informationen über die Ereignisse in Moskau vorenthielt oder erst mit zeitlicher Verzögerung berichtete. Der mecklenburgische Herzog hatte aber bereits durch Gerüchte vom Tod des Zaren erfahren, bevor die Relation seines Gesandten eintraf. Die Todesnachricht erreichte viele europäische Höfe nicht zuerst durch die Depeschen ihrer in Moskau befindli-
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chen Gesandten, sondern mitunter auf anderen Wegen. Dies lag an unterschiedlichen Übermittlungsarten der gesandtschaftlichen Nachrichten, verschiedenen Beförderungsrouten und einer Postsperre um Moskau, die unterschiedlich erfolgreich durchbrochen werden konnte. Die diplomatischen Vertreter nutzten verschiedene Kommunikationswege, um ihre Höfe schnell über den Thronwechsel zu informieren. Der Informationsgehalt der Berichte der verschiedenen in Moskau anwesenden Diplomaten variierte dabei beträchtlich. Bei der Analyse des Thronwechsels anhand von Relationen und Weisungen konnte offengelegt werden, dass die Diplomaten von verschiedenen offiziellen und inoffiziellen Akteuren Informationen erhielten. Da der Wahrheitsgehalt aber oftmals zweifelhaft war, galt es immer, die Informationen zu überprüfen, soweit dies möglich war, indem sie mit Berichten anderer Diplomaten verglichen wurden. Dabei ist zu beachten, dass Informationen aus verschiedenen Gründen nicht valide sein konnten. Es war möglich, dass vor allem die niederrangigen Diplomaten – der französische Chargé d’Affaires Magnan, der englische Sekretär Rondeau und der englische Konsul Ward – im Gegensatz zu hochrangigen Gesandten aufgrund des schlechteren Zugangs zum Hof lediglich Gerüchte vermelden konnten und auf den Austausch mit Diplomaten verbündeter Staaten angewiesen waren. Eine Informationsweitergabe und Interaktionen zwischen Gesandten erfolgten nicht nur an einem Hof, sondern die Kommunikation fand auch Höfe übergreifend innerhalb des diplomatischen Netzwerks statt; diplomatische Kommunikation erstreckte sich demnach nicht nur auf direkte Korrespondenzen mit dem Monarchen, sondern auch auf Korrespondenzen zwischen den diplomatischen Vertretern – durchaus auch verschiedener Höfe. Die Betrachtung eines diplomatischen Netzwerks hat gegenüber einer bilateralen Analyse diplomatischen Schriftguts den Vorteil, dass sie Kommunikationsmuster aufzeigen kann und offenlegt, dass es eine vielfältige Interaktion zwischen den diplomatischen Akteuren gab. Diese reichen von direkter Korrespondenz zwischen Diplomaten und Monarchen über übliche, aber schlecht erforschte kollegiale Berichterstattung bis hin zu geheimen Korrespondenzen. Die oftmals in den bisherigen Editionen diplomatischer Relationen nicht enthaltenen Beilagen sind dabei von wesentlicher Bedeutung, da sie mitunter weitergeleitete Briefe anderer Diplomaten enthalten und somit den Informationsaustausch auch physisch belegen. Die durch den Tod des Zaren ausgelöste Nachfolgedebatte am Moskauer Hof war eines der am stärksten erörterten Ereignisse des Thronwechsels. Aus den offiziellen russischen Quellen geht dies aber kaum hervor. Für die Bündniskonstellationen innerhalb Europas war die Thronfolge aber äußerst relevant. Bereits als sich der Tod des Zaren abzeichnete, evaluierten die diplomatischen Vertreter in Moskau die Chancen verschiedener Kandidatinnen und eines Kandidaten auf den Zarenthron. Hierbei spielten eigene Wertvorstellungen und bündnispolitische Erwägungen eine bedeutende Rolle. Die Debatten um die Thronfolge verstummten in Moskau schnell, da der Oberste Geheime Rat bereits in der Todesnacht Anna, die verwitwete Herzogin von Kurland, als Nachfolgerin bestimmte, was von den wichtigsten russischen Adligen umgehend am nächsten Morgen bestätigt wurde. Dieses schnelle Agieren beschränkte zum einen die Einflussmöglichkeiten des holsteinischen Gesandten Bonde, der eine mögliche Nachfolge Karl Peter Ulrichs vor dem Tod des Zaren ins Spiel brachte, zum
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anderen die Einspruchsmöglichkeiten der europäischen Monarchen in innerrussische Angelegenheiten. Es wird offensichtlich, dass die russische Prinzessin und Tochter Zar Peters I., Elisabeth, 1730 keine Thronambitionen hatte, obwohl der holsteinische Hof dies anfänglich sondierte. Dass die holsteinischen Gesandten angeblich gegen die Wahl Annas agierten, um die Erbansprüche des Enkels Zar Peters I., Karl Peter Ulrich, durchzusetzen, entbehrt indessen jeder Grundlage und war lediglich ein sich verbreitendes Gerücht. Auch die ältere Schwester Annas, Katharina von Mecklenburg, opponierte in Moskau nicht gegen die neue Zarin – wie dies Gerüchte in Europa suggerierten und wie es für die Allianz von Sevilla sehr zweckdienlich gewesen wäre –, sondern sie stützte die Herrschaft Annas, indem sie stellvertretend Gratulationskomplimente für ihre noch in Mitau weilende Schwester annahm. J.C.D. Ostermann stand mit der Herzogin von Mecklenburg in Kontakt, verschwieg seinem Herzog aber, dass auch Katharina als Thronfolgerin diskutiert, jedoch aufgrund ihres Ehemannes ausgeschlossen wurde. Da die notwendige innen- und außenpolitische Anerkennung Annas umgehend erfolgte, galt die neue Zarin als unangefochtene Nachfolgerin auf dem Zarenthron. Dies wurde dadurch begünstigt, dass sie für eine bündnispolitische Kontinuität stand. Eine mögliche Thronfolge Elisabeths und Karl Peter Ulrichs schien zwar legitim, wurde aber von Wien nicht weiterverfolgt, um das Bündnis mit Russland nicht unnötig zu gefährden. Es galt, eine russische Thronfolgekrise zu verhindern, da innenpolitische Auseinandersetzungen in Russland außenpolitisch nicht folgenlos geblieben wären. Der holsteinische Herzog Karl Friedrich erkannte die Nachfolge der Zarin aufgrund mangelnder machtpolitischer Optionen für die Durchsetzung seiner Ansprüche und wegen seiner Abhängigkeiten von Wien und Moskau an, auch wenn er die Thronfolge seines Sohnes als legitim ansah. Die Nachfolge Annas war das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, der keinesfalls willkürlich war, sondern bei dem verschiedene Legitimationselemente – wie dynastische Legitimation, Machtstrukturen, weibliche Aspekte wie Gebär- und Heiratsfähigkeit – gegeneinander abgewogen wurden. Während in Moskau das Geschlecht der neuen Zarin keine bedeutende Rolle spielte, thematisierten die anderen europäischen Höfe umgehend ihre Gebär- und Heiratsfähigkeit und potenzielle Ehemänner. Heiratspolitik diente als Einflussmöglichkeit der europäischen Höfe – auch im Hinblick auf Russland. Die Möglichkeit der Einflussnahme auf eine Herrscherin durch einen Ehemann wurde dabei höher als die Einflussmöglichkeiten einer Ehefrau auf einen Herrscher angesehen. Die gleichzeitige Verwendung der Termini Zarin und Regentin im diplomatischen Schriftgut macht darüber hinaus deutlich, dass für die Diplomaten und die Monarchen nicht feststand, ob und in welcher Funktion Anna selbst regieren würde oder ob sie allein ihre männlichen Minister regieren ließ. Die Gerüchte über die Einsprüche bei der Thronfolge durch den holsteinischen Gesandten Bonde zugunsten Karl Peter Ulrichs sollten Holstein in Verruf bringen; Gerüchte über Einsprüche Katharinas von Mecklenburg sollten indirekt den Kaiser schwächen, indem eine langwierige Thronfolgekrise als möglich erscheinen sollte. Vor allem bei der Betrachtung der
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Korrespondenzen zwischen den europäischen Höfen zeigt sich, dass eigene Ordnungsvorstellungen derjenigen Gesandten, die nicht in Moskau anwesend waren, deren spekulative Berichterstattung stark prägten und wenig mit den Vorkommnissen in Moskau zu tun hatten. Ein Widerspruch gegen die Wahl Annas erfolgte weder durch Bonde noch durch ihre ältere Schwester, Katharina von Mecklenburg. Je weniger die Gesandten über die Ereignisse in Russland wussten, desto stärker interpretierten sie die erhaltenen – oft lücken- und fehlerhaften – Informationen nach ihren eigenen Vorstellungen. Ein Rückzug Russlands aus den europäischen Angelegenheiten schien aus Sicht der europäischen Monarchien – auch des Kaiserhofes – möglich. Die Thronfolge war aufgrund der bündnispolitischen Auswirkungen eine europäische Angelegenheit ersten Ranges. Die Berichterstattung der Diplomaten über die der Zarin vorgelegten Konditionen des Obersten Geheimen Rats, die ihre Herrschaft limitieren sollten, waren noch stärker von Gerüchten geprägt als die zur Krankheit und zum Tod Peters II., da die Beschränkungen durch den Obersten Geheimen Rat bis zur Verkündung der Thronannahme Annas geheim gehalten wurde. Dass die Diplomaten nahezu immer ihre überaus unsichere Informationslage betonten, wurde bisher in der Historiografie zu wenig beachtet. Die Edition der Berichte der niederrangigen diplomatischen Vertreter Englands, Rondeau und Ward, sowie die Berichte des französischen Vertreters Magnans, die vielfach analysiert wurden, führten aufgrund der Nichtbeachtung ihres jeweiligen mangelhaften Informationszugangs zu Fehlinterpretationen. Es wurde etwa weitgehend übersehen, dass ihre Meldungen zum einen auf Gerüchten und zum anderen auf dem Informationsaustausch mit den alliierten Vertretern de Liria und Westphalen beruhten. Eine Zusammenarbeit zwischen alliierten Diplomaten und ein genereller Austausch zwischen diplomatischen Vertretern lassen sich immer wieder belegen. Dabei waren die gesandtschaftlichen Erkenntnisse immer interessengeleitet sowie im Falle des Thronwechsels zudem stark von individuellen Vorstellungen und stereotypen Denkweisen der Diplomaten über Russland geprägt. Eine konstitutionelle Ausgestaltung der Macht, wie sie mitunter in die Berichte hineininterpretiert wird, lässt sich aus den Gesandtschaftsberichten aber nicht ableiten. Bei den entsprechenden Belegstellen handelte es sich lediglich um Gerüchte. Die genauen Details der Anna vorgelegten Konditionen versuchten die diplomatischen Vertreter zu ermitteln, ohne dass ihnen eine verlässliche Berichterstattung darüber gelang. Ebenso wenig waren sie sich im Detail über die Befürworter und Gegner der Machtbeschränkung im Klaren; und über den Inhalt der Konditionen konnten sie selbst nach deren Veröffentlichung nicht hinreichend präzise berichten. Die verschiedenen Akteure wurden den Diplomaten aufgrund der unklaren Lage in Moskau – wenn überhaupt – erst nach und nach klar. Im Hinblick auf ihre spekulativen, vereinfachten oder falschen Berichterstattungen sind die Gesandtschaftsberichte nicht geeignet, die Ereignisse der Ausgestaltung der Macht am russischen Hof valide zu rekonstruieren. Sie sind vielmehr Gradmesser für die sich rasch verändernden Geschehnisse. Da die Berichte über diese Ereignisse von Stereotypen über den russischen Adel, eigenen Vorstellungen der Diplomaten und Gerüchten geprägt waren, können sie keine Einblicke in das politische Verständnis des russländischen Adels geben. Die bisher vielfach erfolgte unkritische
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Übernahme der Wertungen der Gesandten in der Forschung ist daher problematisch und konnte zum Teil explizit widerlegt werden. Die Vergleiche mit anderen Regierungsformen in den Gesandtschaftsberichten wurden durch die Diplomaten aus Unkenntnis der geplanten Beschränkung der Macht in Russland getroffen. Europäische Vorbilder lassen sich daraus dezidiert nicht ableiten, und dies wird in der neueren Forschung auch widerlegt. Die Ermittlung der Ursprünge der Konditionen kann und sollte in der vorliegenden Arbeit nicht erfolgen. Fest steht allerdings, dass die Gesandtschaftsberichte nicht dazu dienen können, europäische Vorbilder zu konstatieren. Die Vergleiche in den Berichten dienten höchstwahrscheinlich dem Bemühen der Diplomaten, die Veränderungen in Russland selbst erfassen und verstehen zu können. Die positive Einstellung des polnischen und litauischen Adels gegenüber einer Machtbeschränkung der Zarin beruhte nicht auf Solidarität mit dem russländischen Adel, sondern auf der Hoffnung der Schwächung des russischen Nachbarn, der als Bedrohung der eigenen Adelsfreiheiten angesehen wurde. Die Details der russischen Machtbeschränkung waren für die übrigen europäischen Monarchen weitgehend nachrangig. Sie finden kaum oder keine Erwähnung in den europäischen Korrespondenzen. Die relevante Frage war vielmehr für die übrigen europäischen Monarchen, ob Russland durch diese Vorgänge als Bündnispartner des Kaisers und Preußens geschwächt oder gar ausfallen werde. Die Betrachtung der Machtbeschränkung erhielt nur dadurch europäische Relevanz, dass sie vor einem heraufziehenden Krieg die europäische Bündnislage hätte verändern können. Daher folgte die Berichterstattung aus Moskau diesem außenpolitischen Primat, was ein weiterer Grund ist, warum die Berichte ungeeignet für die Rekonstruktion der realen Machtbeschränkungen sind. Die Wahrscheinlichkeit liegt nahe, dass in einer ähnlichen außenpolitischen Konstellation die gleichen Schlussfolgerungen gezogen werden können. Die Warnung der Zarin durch einen Boten Pavel Ivanovič Jagužinskijs vor den machtbeschränkenden Konditionen wurde gemeinhin als weitere Eskalation der Lage in Moskau angesehen. Die Verhaftung Jagužinskijs erwirkte eine intensivere Auseinandersetzung mit diesen Vorgängen. Die Widersprüche in der bisherigen Forschung, ob der Bote Sumarokov die Zarin in Mitau tatsächlich erreichte, können anhand der Gesandtschaftsberichte nicht aufgelöst werden, da sich in diesen verlässliche Informationen mit Gerüchten vermischen. Die bei der offiziellen Verkündung der Konditionen erwirkte Möglichkeit für den Adel, Vorschläge zur Ausgestaltung der Macht zu machen, verwirrte die diplomatischen Vertreter. Dadurch war es für sie noch schwieriger, die Initiatoren und Gegner der Veränderung der russischen Regierungsform zu ermitteln. Der in den Berichten genannte Gegensatz zwischen niederem und hohem Adel, der vielfach in der Literatur übernommen wurde, gilt als widerlegt. Die Fraktionen innerhalb des russländischen Adels waren weitaus komplexer und veränderten sich im Verlauf der Ereignisse immer wieder. Die Diplomaten übermittelten die Reformprojekte in Form von Beilagen an die europäischen Höfe. Diese wurden allerdings nicht ediert, was die Notwendigkeit der Analyse der Korrespondenzen anhand der Archivalien einmal mehr illustriert, da die in SIRIO edierten Berichte relevante Relationen ohne Kennzeichnung ausließen. Die Ereignisse um Jagužinskij und die Vorschläge des Adels zur
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Ausgestaltung der Regierungsform erhielten an den europäischen Höfen abermals nur insoweit Relevanz, als Auswirkungen auf die europäische Bündnislage für möglich erschienen. Die englischen Vertreter und der mecklenburgische Gesandte erwähnten die Verhaftung kaum und ausgesprochen spät. In Holstein hingegen hatte die Verhaftung Jagužinskijs und seines Boten Sumarokov eine große Bedeutung, da eine Diskreditierung Holsteins in Moskau befürchtet wurde. Der Grund dafür war, dass Sumarokov ein ehemaliger Kammerjunker der bereits verstorbenen Ehefrau des Herzogs, Anna Petrovna, gewesen war, der mit der Rückführung ihres Leichnams nach Russland zurückgekehrt war. Die Befürchtungen Holsteins, durch Sumarokov in Verruf zu geraten, waren unbegründet, da die übrigen europäischen Höfe diesen Zusammenhang zwar wahrnahmen, sich aber deshalb nicht gegen den holsteinischen Hof richteten. Während der Kaiser und der preußische König auf eine rasche Bündnisverlängerung hofften, die durch die Ausarbeitung weiterer Vorschläge zur Regierungsform und die Verhaftung Jagužinskijs nicht gestört werden sollte, hoffte der französische Hof auf langwierige Verhandlungen über die Regierungsform. Die weitere unklare Informationslage führte zwischen den europäischen Diplomaten vermehrt zu Weiterleitungen von Nachrichten, aber auch zu Fehlinterpretationen von Informationen. Mitunter wurde die durch den Obersten Geheimen Rat bereits bestätigte Bündnisverlängerung mit dem Kaiser und Preußen angezweifelt und somit gefährdet. Die Wechselwirkung zwischen Zeitungsmeldungen und Gesandtschaftsberichten wurde an den Höfen in Wien und Kiel deutlich, wo sich Berichte des kaiserlichen Gesandten Wratislaw und des spanischen Gesandten de Liria in den Zeitungen wiederfanden, wiederum durch andere Gesandte aufgegriffen wurden und so weitere Verbreitung fanden. Der sächsische Minister Manteuffel, der Geheimkorrespondenzen mit dem Kaiser und Prinz Eugen unterhielt, geriet in Verruf. Die aufgrund von Differenzen mit dem pro-französisch eingestellten kursächsischen Minister Hoym ohnehin stark geschwächte Stellung Manteuffels, und somit eines wichtigen geheimen Zuträgers Prinz Eugens am Dresdner Hof, wurde durch den kaiserlichen Gesandten Waldstein und die Kaiserinwitwe zudem infrage gestellt. Verschiedene Loyalitäten waren an fast allen Höfen sichtbar; es gab keineswegs ‚monolithische Interessenslagen‘. Jagužinskijs Verhaftung und die Ausgestaltung der Regierungsform waren abermals nur insoweit relevant, wie sie europäische Bündnisse gefährden konnten. Die Ankunft Annas in Moskau wurde vielfach wahrgenommen, vor allem da sie unmittelbar mit russischen Adligen und den Gesandten in Kontakt trat, obwohl der Oberste Geheime Rat dies zu verhindern suchte. Demnach konnten die Gesandten auf verlässlichere Nachrichten zurückgreifen. Die von der Zarin gewährten ersten Zusammenkünfte vor ihrem Einzug nutzten die Gesandten in den Berichten zur Selbstdarstellung, indem sie versuchten, umgehend zu belegen, dass sie die Gunst der Zarin erworben hatten. Rondeau und Magnan hingegen waren von solchen Zusammenkünften aufgrund ihres niederen Rangs ausgeschlossen und konnten aufgrund ihres nur eingeschränkten Zugangs lediglich Gerüchte vermelden, mit denen sie versuchten, die Stellung des Wiener Hofs zu schwächen. Während der meck-
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Diplomatische Kommunikation in Netzwerken
lenburgische Gesandte eine besondere Nähe zur Zarin durch deren Schwester, Katharina von Mecklenburg, gegenüber dem mecklenburgischen Herzog suggerierte, wurde anhand von diplomatischen Vergleichsdarstellungen immer deutlicher, dass J.C.D. Ostermann im Sinne seines pro-kaiserlichen Bruders agierte und die Interessen seines Herzogs in diesem Fall missachtete. Die Gewinnung der Garde durch Anna wurde als umgehender Bruch der Konditionen gewertet. Die Ordensverleihungen des Obersten Geheimen Rates an Anna entgingen der Aufmerksamkeit der Gesandten ebenfalls nicht. Aus diesen symbolischen Handlungen zogen die diplomatischen Vertreter erste Schlüsse über die noch unbekannten politischen Absichten der neuen Zarin. Ihr Einzug in einer Wiener Paradekutsche, die der Kaiser anlässlich des Bündnisschlusses 1726 in Auftrag gegeben hatte und die während der Herrschaftszeit Zar Peters II. in Russland angekommen war, wurde bisher in der Forschung bezüglich des Thronwechsels nicht beachtet. Dabei symbolisierte sie umgehend und geschickt die von Anna angestrebte außenpolitische Kontinuität. Die europäische Fürstengemeinschaft erhielt über diesen Vorgang je nach bündnispolitischer Ausrichtung Berichte. Die Vertreter der Allianz von Sevilla berichteten über diesen Erfolg des Kaisers nicht, während alle anderen Gesandten darüber ausführlich Meldung erstatteten und den Vorgang bewerteten. In Warschau wurde die Bedeutung der kaiserlichen Kutsche rezipiert. Die Gesandten erhielten zudem Erstaudienzen, wobei gezeigt werden kann, dass Rondeau, Ward und Magnan hierbei aufgrund ihres diplomatischen Ranges abermals ausgeschlossen waren. Auch die Ordensverleihungen an die junge Herzogin von Mecklenburg wurden bereits im Hinblick auf mögliche Einflussnahmen auf eine Thronfolge der Nichte Annas, der späteren Anna Leopol’dovna, und Karl Peter Ulrichs gedeutet. Besonders die bisher wenig beachteten Archivalien der Herzogtümer Holstein und Mecklenburg sollten in der Forschung zukünftig mehr Beachtung finden, da sie aufgrund ihrer dynastischen Verbundenheit wichtige Erkenntnisse über den russischen Hof beziehungsweise Überlegungen zu Nachfolgeregelungen in Russland liefern könnten. Die Veränderung der politischen Stimmungslage innerhalb des russländischen Adels wurde durch die Diplomaten seit der Ankunft Annas wahrgenommen, auch wenn ihre Wertungen des russländischen Adels zumeist stereotyp blieben. Ein sichtbares Zeichen war der adlige Widerstand gegen den Eid, den die Untertanen auf Anna und den Obersten Geheimen Rat abzulegen hatten, statt wie bisher lediglich auf die Herrscherin oder den Herrscher. In diesem Stadium des Thronwechsels erteilten die Monarchen Europas – bis auf den holsteinischen Herzog – keine Weisungen an ihre diplomatischen Vertreter, da es keinen Reaktionsbedarf zu geben schien. Dies belegt zum einen einmal mehr, dass der russische Thronwechsel durch die Monarchen Europas bloß nach außenpolitischen Gesichtspunkten bewertet wurde und die Belange, die nur Russland zu betreffen schienen, unberücksichtigt blieben; zum anderen, dass Russland für Holstein eine bedeutende Stellung einnahm, da es als mächtiger Fürsprecher in Europa galt. Auch die Hoffnung auf eine wie auch immer geartete Berücksichtigung Karl Peter Ulrichs in der russischen Thronfolge und die finanzielle Abhängigkeit von russischen Subsidien bedingten das herausragende holsteinische Interesse. Zudem wird abermals offenbar, dass die Weiterleitung diplomatischer Erkenntnisse nicht nur
Fazit
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zu einem Mehrwert an Information führen, sondern auch die Gefahr der Fehlinterpretation erhöhen konnte. Dies belegt exemplarisch eine von Le Fort verfasste und an Manteuffel gesandte Relation, die die Fähigkeiten Wratislaws bei der Bündnisverlängerung in Zweifel zogen. Manteuffel hatte wiederum das Ziel, den kaiserlichen Gesandten in Berlin darüber zu informieren. Letztendlich konnte Seckendorff die Information Le Forts überprüfen und falsifizieren. Durch die Betrachtung eines diplomatischen Netzwerks kann nachgewiesen werden, dass die gesandtschaftlichen Akteure jenseits der bilateralen Nachrichtenübermittlung zwischen den Diplomaten und ihren Monarchen untereinander auf vielfältige Weise interagierten. Die Souveränitätserklärung der Zarin wiederum stand im Mittelpunkt des Interesses der Gesandten und der Fürstengemeinschaft. In der Forschung wurde bisher übersehen, dass der russische Großkanzler den Ablauf der Wiedererlangung der Souveränitätserklärung offiziell notifizierte. Diese Information war zum Teil nicht in den bisherigen Editionen publiziert, zum anderen wurde dem Informationszugang der Diplomaten keine Beachtung geschenkt. Trotz Notifikation wich der Informationsgehalt in den unterschiedlichen Relationen voneinander ab, was belegt, dass eigene Erklärungsmuster der Gesandten in deren Berichte einflossen. Auch ein reger Informationsaustausch zwischen den Diplomaten manifestiert sich abermals, der besonders für die von der Notifikation ausgeschlossenen niederrangigen diplomatischen Vertreter Rondeau und Magnan notwendig war. Es kann widerlegt werden, dass die Garde der Grund war, warum Anna die Selbstherrschaft angetragen wurde. Grund dafür waren vielmehr hauptsächlich die Gegensätze innerhalb des russischen Adels. Die Gründe der Wiederherstellung waren für die Gesandten in Russland von Bedeutung, während ihre Höfe darauf nicht im Detail eingingen. Dass die beiden Bittschriften des Adels an Anna in den meisten Gesandtschaftsberichten überliefert sind, wurde bisher in der Forschung nicht zur Kenntnis genommen, da diese nicht in den Editionen enthalten sind. Die Überlieferung dieser Dokumente regten Le Fort, Magnan und Rondeau an, ihre bisher als unklar beschriebenen Deutungen erneut aufzugreifen. Dass diese Erklärungsversuche mitunter bloße Spekulationen waren, um die Ereignisse zu verstehen, entging bisher der Forschung. Die Erkenntnis, dass der Herrschaftsbeginn Annas keineswegs auf eine Palastrevolution zurückzuführen ist, belegt exemplarisch, wie wichtig die Neubetrachtung der gesamten Epoche der russischen Geschichte zwischen 1725 und 1762 auf der Grundlage von Archivalien ist. Bei der Betrachtung der Gegner der Machtbeschränkung der Zarin und deren Vorgehen wird deutlich, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen eine bedeutende Rolle bei der geheimen Informationsvermittlung an Anna über die Vorkommnisse in Moskau spielten, bevor die Zarin dort ankam. Die bedeutende Rolle Katharinas von Mecklenburg bei der Souveränitätserklärung wird nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen, aber die in den Gesandtschaftsberichten ausgeführten Details werden teilweise angezweifelt. Hier bedarf es weiterer Forschung. Die bisher in der Forschung zu findende Annahme, dass Anna kein politisches Interesse und Geschick hatte, kann anhand ihres energischen Handelns im Umfeld der Souveränitätserklärung zumindest für diesen Zeitraum ihrer Herrschaft widerlegt werden. Sie ließ nicht
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nur sofort den Eid austauschen, damit sie von nun an als souveräne Zarin bezeichnet wurde, sondern nahm auch umgehend die Regierungsgeschäfte auf. In den zum Herrschaftsantritt üblichen Notifikationsschreiben an die anderen europäischen Monarchen betonte sie umgehend ihre Legitimität und die Ausübung ihrer absoluten Herrschaft. Die Gesandtschaftsberichte sind für die Abläufe der Souveränitätserklärung der Zarin aufgrund der schlechten russischen Quellenlage unverzichtbar, wobei es bei deren Interpretation zu beachten gilt, dass der Schwerpunkt der gesandtschaftlichen Berichterstattung vielmehr auf den außenpolitischen Auswirkungen als auf den innenpolitischen Abläufen der Souveränitätserklärung lag. Dies traf noch stärker auf die Rezeption der Berichte an den europäischen Höfen zu. Es war demnach von größtem Interesse, welche Personen sich als Mitglieder des neu geschaffenen Regierenden Senats wiederfanden und vor allem, welche Stellung Ostermann als Garant der außenpolitischen Kontinuität und des Bündnisses mit dem Kaiser und dem preußischen König einnahm. Der Niedergang der Dolgorukij wurde auch je nach außenpolitischem Nutzen bewertet. Die Details der Souveränitätserklärung waren für die europäischen Monarchen hingegen nachrangig. Dies belegt auch die verkürzte Darstellung des Ablaufes der Souveränitätserklärung Wratislaws an seinen Kollegen in Warschau. Von Interesse war ausschließlich, dass die Zarin fortan souverän herrschte und schnell über die Bündnispolitik entscheiden konnte. Wien und Berlin zeigten sich erfreut über die erhoffte außenpolitische Kontinuität und versuchten, nicht nur den Einfluss der Alliierten von Sevilla auf das Bündnis auszuschließen, sondern auch durch gemeinsames Agieren die Einflussversuche des Herzogs von Mecklenburg auf die Zarin abzuwenden. Der Wunsch des Kaisers, dass Russland seine Bündnisse mit ihm und dem preußischen König verlängere, erfüllte sich. Der holsteinische Hof wiederum zog die Thronfolge Annas nicht in Zweifel, da er sich durch die souveräne Zarin eine schnellere Auszahlung der Subsidien und ein erkenntliches Verhalten gegenüber Karl Peter Ulrich erhoffte. Frankreich bedauerte sehr, dass Ostermann seine Stellung wider Erwarten bewahren und sogar ausbauen konnte. Zudem war auch in Versailles von Interesse, wer durch die innenpolitischen Veränderungen seit dem Tod Zar Peters II. an Macht gewann oder verlor. Das Personengefüge, das durch einen Thronwechsel immer Umgestaltungen unterlag, war durch das Für und Wider der Beschränkung der Macht erneut infrage gestellt. De Liria, Magnan und Rondeau versuchten trotz der als sehr wahrscheinlich geltenden Absendung der Militärunterstützung Russlands für den Kaiser, diese durch Argumente und Gerüchte zu verhindern. Am Wiener Hof zeigt sich exemplarisch, wie die Gesandten versuchten, die Deutungshoheit über die Ereignisse und Folgen des Thronwechsels nach ihren bündnispolitischen Interessen und Notwendigkeiten zu erlangen. Wie bedeutend die Geschwindigkeit der Weiterleitung von Nachrichten war, zeigt sich daran, dass die Berichte Wratislaws später als diejenigen de Lirias in Wien ankamen. Damit verbreiteten sich die interessengeleiteten spanischen Berichte de Lirias schneller, obwohl die Bündnisse mit dem Kaiser und Preußen gewahrt blieben. Ob der Krieg verhindert werden konnte, weil Anna zusagte, den russischen Bündnisverpflichtungen nachzukommen und militärische Unterstützung zu leisten, lässt sich anhand der untersuchten Gesandtschaftsberichte aber nicht abschließend
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einschätzen. Hier bedarf es daher weiterer Forschung. Letztendlich zeigt sich, dass die außenpolitische Kontinuität oder Diskontinuität über die Bewertung des Thronwechsels durch die europäischen Höfe entschied. Dabei spielte die Außenpolitik sowohl beim Verfassen der Relationen in Moskau als auch in den Weisungen der Herrscher an ihre Diplomaten eine bei weitem größere Rolle als die innenpolitischen Details. Demnach sind die Gesandtschaftsberichte nicht zu verstehen und zu interpretieren, wenn die außenpolitische Dimension – die bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurde – nicht in die Analyse einfließt. Die außenpolitische Dimension des Thronwechsels hatte das deutlich größere Potenzial, die europäische Bündnispolitik und die Monarchen Europas zu beeinflussen oder gar zu gefährden.
9. Anhang: Verzeichnis aller in der Arbeit genannten diplomatischen Vertreter Name alphabethisch
Diplomatische Funktion
Einsatzort
Fußnote mit biografischen Informationen
Bassewitz, Henning Friedrich Graf von
holsteinischer Gesandter
Paris
915
Bestužev-Rjumin, Michail Petrovič
russischer Gesandter
Warschau
960
Böttiger, Johann Friedrich
russischer Resident
Hamburg
483
Bonde, Nils
holsteinischer Gesandter
Moskau
179
Brandt, Christian von
preußischer Gesandter
Wien
194
Bussy, François de
französischer Chargé d’Affaires
Wien
770
Caramé, Lorenz von
kaiserlicher Sekretär
Moskau
189
Cramm, August Adolf von
blankenburgischer Gesandter
Moskau
53
Demrath, Franz Christian Joseph von
kaiserlicher Resident
Preußen
507
De Swart (Vorname unbekannt)
niederländischer Sekretär
Moskau
57
Ditmer (Ditmar), Joachim von
schwedischer Gesandter
Moskau
55
Erdmann, Georg
russischer Agent
Danzig
2117
Fonseca, Marcus Baron de
kaiserlicher Chargé d’Affaires
Paris
567
Golovkin, Alexander Gavrilovič
russischer Gesandter
Berlin
577
Hochholzer, Nikolaus Sebastian
kaiserlicher Resident
Moskau
188
Kettenburg, Hans von der
holsteinischer Gesandter
Wien
453
Kinner, Franz Wilhelm
kaiserlicher Legationssekretär
Warschau
2088
Kinsky, Graf Philipp Josef
kaiserlicher Gesandter
London
542
Kinsky, Graf Stephan Wilhelm
kaiserlicher Gesandter
Paris
569
Klinckowström, Otto Vilhelm
schwedischer Gesandter
Berlin
1215
Lancziński de Lanczyn, Ludwig Kazimierz
russischer Gesandter
Wien
849
Lautensack, Friedrich Georg
sächsisch-polnischer Gesandter
Wien
1574
Le Fort, Jean (Johann)
sächsisch-polnischer Gesandter
Moskau
184
Liria, Jacobo Francisco Fitzjames Stuart Duque de
spanischer Gesandter
Moskau
56
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Anhang: Verzeichnis aller in der Arbeit genannten diplomatischen Vertreter
Magnan, Jean
französischer Chargé d’Affaires
Moskau
191
Mardefeld, Axel Freiherr von
preußischer Gesandter
Moskau
186
Ostermann, Johann Christoph Dietrich
mecklenburgischer Gesandter
Moskau
174
Poyntz, Stephen
englischer Gesandter
Stockholm
866
Rondeau, Claudius
englischer Sekretär
Moskau
193
Seckendorff, Friedrich Heinrich Graf von
kaiserlicher Gesandter
Berlin und Dresden
69
Tessin, Cordt Philipp von
holsteinischer Gesandter
Moskau
183
Vockerodt, Johann Gotthilf
preußischer Sekretär
Moskau
1689
Wackerbarth-Salmour, Joseph Anton Graf von
sächsisch-polnischer Gesandter
Wien
311
Waldegrave, James
englischer Gesandter
Wien
465
Waldstein, Leopold Wilhelm von
kaiserlicher Gesandter
Dresden
1560
Ward, Thomas
englischer Konsul
Moskau
192
Wilczek, Heinrich Wilhelm Graf von
kaiserlicher Gesandter
Warschau
555
Westphal(en), Hans Georg
dänischer Gesandter
Moskau
54
Wratislaw von Mitrowitz, Franz Karl
kaiserlicher Gesandter
Moskau
187
Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Archives du ministère des Affaires étrangères, La Courneuve, Paris (A.A.E) Correspondance politique Autriche 165 1730, Janvier–Avril Russie 23 1730 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (GStA PK) I. HA Geheimer Rat, Repertorium. 11., Auswärtige Beziehungen Nr. 6709 Berichte Axels von Mardefeld aus Russland, 1730 Nr. 7055 Fürstliche Korrespondenz, Briefwechsel Friedrich Wilhelms I. mit Kaiserin Anna Iwanowna, 1730–1739 I. HA Geheimer Rat, Repertorium 1, Beziehungen zum Kaiser Nr. 339 Relationen von Brand und Graeve vom Wiener Hof, 1730 I. HA Repertorium. 96 Geheimes Kabinett 3 H 1 Depeschen Mardefelds aus St. Petersburg und Moskau, 1730–1733 Christian von Brand, seine Depeschen aus Wien und Kabinettsbefehle an 2F ihn, 1726–1738 15 B Schriftwechsel König Friedrich Wilhelms I. mit Kaiserin Anna Iwanowna, 1730–1733 Landeshauptarchiv Schwerin (LHAS) 2.11–2/1 Auswärtige Beziehungen Nr. 1152 Korrespondenz Herzog Karl Leopolds von Mecklenburg und seiner Räte mit dem mecklenburgischen Gesandten und Geheimen Rat Johann Ostermann in Amsterdam, St. Petersburg und Moskau und dem russischen Hof, 1717–1721 Korrespondenz Herzog Karl Leopolds von Mecklenburg und seiner Räte Nr. 1155 mit dem mecklenburgischen Gesandten und Geheimen Rat Johann Ostermann in St. Petersburg und Moskau und dem russischen Hof, 1726– 1733 Nr. 1157 Korrespondenz Herzog Karl Leopolds von Mecklenburg und seiner Räte mit dem mecklenburgischen Gesandten und Geheimen Rat Johann Ostermann in St. Petersburg und dem russischen Hof, 1739–1742 Nr. 1168 Gesandtschaft des Geheimen Kanzlisten Tiedemann nach Moskau zu Verhandlungen um eine russische Unterstützung Herzog Karl Leopolds von Mecklenburg, 1730–1731
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Landesarchiv Schleswig-Holstein, Schleswig (LASH) Abt. 8.1 Nr. 215 Großfürstl. Gesandte bei auswärtigen Staaten, 1715–1771 Nr. 2222 Korrespondenz mit dem Oberkammerherrn Grafen Nils Bonde in St. Petersburg und Moskau, 1728 Sept.–1732 März Briefe des Hoflanzlers Stryke aus Kiel an Bonde in Rußland, Nr. 2225 1728 Dez.–1732 März Briefe von Bonde aus St. Petersburg und Moskau an den Hofkanzler Nr. 2229 Stryke in Kiel 1728 Okt.–1732 März Nr. 2401 Korrespondenz mit dem Geh. Rat und Envoyé extraordinaire am Kaiserlichen Hof in Wien, Hans Friedrich von der Kettenburg, 1730 Korrespondenz mit Tessin bei seiner Verschickung nach Rußland, 1729– Nr. 2551 1731 Nr. 2552 Wiedergefundene Papiere des mit dem Schiff bei Hochland verunglückten Tessin, 1730–1732 Abt. 8.2 Nr. 1798 Desgl. Actorum passus Nr. 280–298 280–283 Bonde Nils, Graf, dessen Witwe in Stockholm Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (HHStA) Staatenabteilungen/Diplomatische Korrespondenz England, Karton 67 Berichte (Kinsky) (1730–1732) Weisungen an Kinsky (1730–1732) England, Karton 68 Frankreich, Karton 37 Berichte (1730) Frankreich, Karton 38 Weisungen (1730) Hofkanzlei, Staatskanzlei (1730/1731) Polen II, Karton 5 Weisungen (1710–1732) Polen II, Karton 66 Russland I, Karton 32 Russica (1728–1739) Berichte (1729.01–1730.03) Russland II, Karton 5 Russland II, Karton 116 Weisungen (1730.01–1730.09) Russland II, Karton 212 Hofkorrespondenz: Nach Österreich (1707–1806) Russland II, Karton 218 Korrespondenzen Wratislaw mit Prinz Eugen (1728–1730) Russland II, Karton 235 Varia (1705–1740) Staatenabteilungen/Große Korrespondenz Große Korrespondenz 95a Prinz Eugen: Korr. Kinsky – Knüll (1722–1735) 95a-1: Stefan Graf Kinsky an Prinz Eugen (1722–1732) Große Korrespondenz 110b Prinz Eugen – Friedrich H. Gf. Seckendorff (1730.01–1730.02) Große Korrespondenz 111 Prinz Eugen – Friedrich H. Gf. Seckendorff (1730.03–1730.04) Große Korrespondenz 150b Prinz Eugen: Korr. mit Gf. Wilczek (1728–1735)
Gedruckte Quellen
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Große Korrespondenz 151
Prinz Eugen: Korr. Winand – Würzburg (1711–1735) 151–11 Graf Wratislaw (Warschau, Moskau) von und an Prinz Eugen (1711–1735) Staatskanzlei/Diplomatische Korrespondenzen Preußen, Karton 7 Korrespondenz (1730.01–1730.09) Preußen, Karton 18 Korrespondenz (Band II, III) (1730–1734) Preußen, Karton 20 Korrespondenz (Band IX, X) (1730–1734) Österreichisches Staatsarchiv, Wien (ÖStA) Allgemeines Verwaltungsarchiv, Familienarchive Familienarchiv Kinsky 37.3 Aus der Zeit der Gräfin Elisabeth Wratislaw, geborene Kinsky (1748) Hauptstaatsarchiv Dresden (HStA) 10026 Geheimes Kabinett Loc. 03017/02 Sachen mit dem russisch-kaiserlichen Hofe, in verschiedenen von der russischen Kaiserin Anna Majestät eingelaufenen, und auch an dieselbe von Ihrer Königlichen Majestät in Polen etc. in allerhand Materien hinwiederum abgelassenen Schreiben bestehend, 1730–1766 Sachen mit dem Moskowitischen Hof, des Legationsrats und Envoyé Loc. 03023/07 Le Fort Negotiation an denselben, 1730 Loc. 03362/09 Ordres du Roi à Monsieur Le Fort à la cour de Russie [Russland] au nombre de 49, 1726–1732 Akten des Grafen von Wackerbarth bei seiner Gesandtschaft zu Wien, Loc. 03419/02 1730 The National Archives, Kew, London SP 80/66 Lord Waldegrave, 1730 Jan–1730 Mar Lord Waldegrave, 1730 Mar–1730 May SP 80/67 SP 91/11 Thomas Ward and Claudius Rondeau, 1730 Royal letters: Russia, 1703–1740 EXT 6/95
Gedruckte Quellen [Berichte der preußischen Gesandten Gustav und Axel von Mardefeld 1721–1730], in: Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskogo Obščestva. Bd. 15, hg. von A.A. Polovcov, Sankt-Peterburg 1875, S. 175–414. [Berichte des englischen Konsuls Ward und des Sekretärs und späteren Residenten Rondeau 1728–1733], in: Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskogo Obščestva. Bd. 66, hg. von A.A. Polovcov, Sankt-Peterburg 1889.
412
Quellen- und Literaturverzeichnis
[Berichte des französischen Chargé d’Affaires Magnan 1727–1730], in: Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskogo Obščestva. Bd. 75, hg. von G.F. Štendman, Sankt-Peterburg 1891. [Berichte des kurfürstlich-sächsischen und königlich-polnischen Gesandten Le Fort 1728–1734], in: Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskogo Obščestva. Bd. 5, hg. von A.A. Polovcov, Sankt-Peterburg 1870, S. 295–479. N.N.: Zapiski djuka Lirijskogo, in: Russkij Archiv 47, 1909, 3, S. 337–442. Rondeau, Jane: Letters from a Lady Who Resided Some Years in Russia to Her Friend in England, London 1777. Suvorova, A.S. (Hg.): Zapiski imperatricy Ekateriny vtoroj, Sankt-Peterburg 1907. Wienerisches Diarium, 11. März 1730, 20, S. 1–10.
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Abkürzungsverzeichnis A.A.E. CMR C.P. CSSH GG GStA PK GWU HA HHStA HStA HZ JbEurG JGMO JGO JGPÖ LASH LHAS MIÖG MÖStA NASG N.N. TNA ÖStA ÖZG SEER SIRIO SP QR ZHF ZSHG
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