Welt im Fluss: Fallstudien zum Modell der Homöostase 3515089802, 9783515089807

In der Welt, die wir wahrnehmen und in der wir leben und handeln, scheinen sich alle Dinge in beständiger Bewegung und V

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German Pages 204 [206] Year 2008

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INHALT
VORWORT
„FLUIDE MATRIX“ UND „HOMÖOSTATISCHE MECHANISMEN“ (Jakob Tanner)
PROBLEME EINES KONZEPTTRANSFERSZWISCHEN ORGANISMUS UND GESELLSCHAFT
I. Ambivalenzen: die Mechanismen des Lebens
II. Konzepttransfer: Body physiologic und body politic
III. Fluide Matrix: Körper im Fluss und verflüssigte Gesellschaftsbilder
IV. Gemeinsame Wohlfahrt der Zellen: „soziale Homöostase“ und moderne Gesellschaft
V. Transdisziplinarität: Strukturfunktionalismus und Kybernetik
VI. Homöodynamik? Herausforderungen für die „Stasis“
VII. Forschung im Fluss: das Chemoton als „fluider Automat“
VIII. Metaphernanalyse und Wissensgeschichte
HOMÖOSTASE IM AUFBAU DER PERSON (Hermann Schmitz)
ALLES FLIEßT – ZUR METAPHYSIK DES WERDENS (Wolfgang Leidhold)
HERAKLIT VERSUS PARMENIDES
DAS SCHEITERN AM PROBLEM DER ZEIT
VERSUCHE EINER BEGRIFFLICHEN FASSUNG DER ZEIT
SEIN UND GEGENWART
ZEIT UND WERDEN
LITERATUR
DAS WISSEN DER WÖRTER – WISSENSCHAFTSGESCHICHTE ALS SEMIOTISCHES PROJEKT (Stephan Cartier)
I HOMÖOSTASE DER ZEICHEN
II DIE GRENZEN DES ZEITRESERVOIRS
III ZEITGEWINNE
IV DIE LEGITIMATION DER „LANGEN GESCHICHTE“ – ENTSCHÄRFUNG DES ZEIT-KONFLIKTES DURCH NEUE SEMANTIKEN
V AUSNAHMSWEISE: DER MENSCH
VI PRODUKTION VON WISSEN DURCH SPRACHE
VII DYNAMIK DES AUSGLEICHS
FORTWÄHRENDER URSPRUNG DER SPRACHE – HOMÖOSTATISCHE PHÄNOMENE IN HERMANN BROCHS ROMAN „DER TOD DES VERGIL“ (Jörg Martin)
DAS PERSPEKTIVIERENDE UNTERSUCHUNGSOBJEKT
METHODISCHES
DAS RHYTHMISCHE ALS UNSAGBARES
ZUR ETYMOLOGIE
ZUM RHYTHMISCHEN ALS URSPRUNG
DAS RHYTHMISCHE ALS URSPRÜNGLICHES SPRACHPHÄNOMEN
DAS RHYTHMISCHE ALS WEISE DER WELTERZEUGUNG
ABGRENZUNG ZUR METRIK
FOLGERUNGEN FÜR DIE RHYTHMISCHEN PASSAGEN IM ROMAN „DER TOD DES VERGIL“
DAS SELBST IN FLIEßENDEN GRENZEN: ÜBERLEGUNGEN ZUR SELBSTBESTIMMUNG (Jörg Hardy)
Gedankliche Selbstbestimmung
Selbsterkenntnis
Willensschwäche
Manipulation
EXIT HOMÖOSTASE – DAS GLEICHGWICHT VON BILD UND BETRACHTER (Wulf Herzogenrath)
KUNST. KUNSTERFAHRUNG. KUNSTEREIGNIS – KUNST ALS EREIGNIS VON VARIABEL GESTALTETEN BEZÜGLICHKEITEN (Walter Schurian)
VERHÄLTNIS: KUNST – ERFAHRUNG
Kunst-Betrachter
Variable Bezüglichkeiten
Kunst als Ereignis
PSYCHISCH VARIABLE ERFAHRUNGEN VON KUNST
Ästhetische Wahrnehmungen über Selbsterhaltung, Selbstveränderung und Rückbezug
Selbsterhaltung
Selbstveränderung
Rückbezug
Gleichzeitige Vielschichtigkeit
Selbstbezug
Organismische Reaktionen
Wahrnehmungen
Identifikation
Kognition, Deutung
Wunsch, Verlangen
Narrative Bildlichkeit
WIRKUNGEN UND EIGENSCHAFTEN VON KUNST
One way or another – So oder so
Skulpturen von Tony Cragg
Jenseits des Gleichgewichts
KUNST ALS PSYCHO-ÄSTHETISCHES EREIGNIS
LITERATUR
VON AUGENBLICK ZU AUGENBLICK – WIE DAS MANAGEMENT VOM NATÜRLICHEN FLOW PROFITIEREN KANN (Paul J. Kohtes)
DAS BUSINESS IST UNBERECHENBAR
UNTERNEHMEN SIND MIT DEM FLOW-PRINZIP ERFOLGEICH
MIT ANGEZOGENER HANDBREMSE: DIE ANGST VOR DEM SCHEITERN
DIE RECHTE HANDLUNG IM RECHTEN MOMENT
DIE „BEGRADIGUNG“ DES DENKENS ÜBERWINDEN
WIEDER ZUM NATÜRLICHEN FLOW FINDEN
HOMÖOPATHIE UND HOMÖOSTASE (Josef M. Schmidt)
EINLEITUNG
HOMÖOPATHIE UND HOMÖOSTASE
MEDIZINHISTORISCHE UND PHILOSOPHISCHE ASPEKTE
PHILOSOPHIE DER HOMÖOPATHIE: LEHRE UND KONZEPTUALISIERUNG
GESCHICHTE DER HOMÖOPATHIE: PERSPEKTIVEN IHRER KONSTITUTION
DYNAMIK DER HOMÖOPATHIE: PRINZIPIEN IHRER ANPASSUNG
FAZIT UND AUSBLICK
DIE QUANTENPHYSIK – KOMMT SIE OHNE DAS HOMÖOSTASE-PRINZIP AUS? (Helmut Tributsch)
WOHLTEMPERIERTE ARCHITEKTUR IM ZEITALTER DES CYBERSPACE – EIN ESSAY ZU HOMÖOSTATISCHEN ‚LINKS’ IN DER ZEITGENÖSSISCHEN ARCHITEKTURTHEORIE (Frank Rolf Werner)
LANDSCHAFT IM FLUSS (Stefan Körner)
EINLEITUNG: DAS SCHEITERN STARRER LANGFRISTPLANUNG
WAS IST LANDSCHAFT?
URBANISIERTE GEGENDEN
SCHUTZ UND GESTALTUNG, KONSERVIEREN UND ENTWICKELN
MISSVERSTÄNDNISSE UND GRABENKÄMPFE
ALTE INDUSTRIE UND NEUE NATURDYNAMIK
EIN NEUER LANDSCHAFTSBEGRIFF ALS REAKTION AUF EINE DYNAMISCHE WELT?
LITERATUR
ANHANG
HOMÖOSTATISCHE PHÄNOMENE IN DER BILDENDEN KUNST
AUTORENVERZEICHNIS – in alphabetischer Reihenfolge –
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Welt im Fluss: Fallstudien zum Modell der Homöostase
 3515089802, 9783515089807

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Jörg Martin / Jörg Hardy / Stephan Cartier (Hg.)

Welt im Fluss Fallstudien zum Modell der Homöostase Philosophie Franz Steiner Verlag

Jörg Martin / Jörg Hardy / Stephan Cartier (Hg.) Welt im Fluss

Jörg Martin / Jörg Hardy / Stephan Cartier (Hg.)

Welt im Fluss Fallstudien zum Modell der Homöostase

Franz Steiner Verlag 2008

Umschlagabbildung: Tony Cragg, One Way or Another 2001, Marmor, 260 x 70 x 70 cm

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-08980-7 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp und Göbel, Nehren Printed in Germany

INHALT Vorwort der Herausgeber

7

Jakob Tanner „Fluide Matrix“ und „homöostatische Mechanismen“

11

Hermann Schmitz Homöostase im Aufbau der Person

31

Wolfgang Leidhold Alles fließt. Zur Metaphysik des Werdens

43

Stephan Cartier Das Wissen der Wörter. Wissenschaftsgeschichte als semiotisches Projekt

57

Jörg Martin Fortwährender Ursprung der Sprache. Homöostatische Phänomene in Hermann Brochs Roman „Der Tod des Vergil“

71

Jörg Hardy Das Selbst in fließenden Grenzen: Überlegungen zur Selbstbestimmung

89

Wulf Herzogenrath EXIT Homöostase. Das Gleichgewicht von Bild und Betrachter

103

Walter Schurian Kunst. Kunsterfahrung. Kunstereignis. Kunst als Ereignis von variabel gestalteten Bezüglichkeiten

111

Paul J. Kohtes Von Augenblick zu Augenblick. Wie das Management vom natürlichen Flow profitieren kann

135

Josef M. Schmidt Homöopathie und Homöostase

143

Helmut Tributsch Die Quantenphysik. Kommt sie ohne das Homöostase-Prinzip aus?

163

6

Die Herausgeber

Frank Rolf Werner Wohltemperierte Architektur im Zeitalter des Cyberspace. Ein Essay zu homöostatischen ‚Links’ in der zeitgenössischen Architekturtheorie

177

Stefan Körner Landschaft im Fluss

183

Anhang Homöostatische Phänomene in der bildenden Kunst

197

Autorenverzeichnis

203

Vorwort

7

VORWORT Einige Dinge zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich niemals verändern, weil sie sich gar nicht verändern könnten. Dazu gehören abstrakte Entitäten wie Zahlen. Manche Physiker sind der Auffassung, auch Naturgesetze gehörten dazu. In der empirischen Welt, der Welt, die wir wahrnehmen und in der wir leben und handeln, scheinen sich jedoch alle Dinge in beständiger Bewegung und Veränderung zu befinden – freilich in unterschiedlichen Formen und unterschiedlichen Graden. Diesen Sachverhalt bringt man zuweilen in sehr allgemeinen Formeln zum Ausdruck; wir reden davon, dass ‚alles fließt’ oder ‚im Fluss ist’ oder auch ‚in Fluss gerät’. Wenn wir davon sprechen, dass etwas in Fluss gerät, so bringen wir darin die Idee zum Ausdruck, dass durch Veränderungen vormaliger, statischer Verhältnisse etwas Neues entsteht. Auch das Denken kann in dieser Weise in Fluss geraten – wenn es etwas Neues erkennt oder etwas Bekanntes in einem neuen Licht sieht. In den Geistes- und Naturwissenschaften gewinnt nun ein Erkenntnismodell zunehmend an Bedeutung, das sich der Analyse kontinuierlicher, rekreativer Prozesse widmet: das Modell der Homöostase. Seine Perspektiven aufzuzeigen, ist das Ziel der vorliegenden Fallstudien. Ihren Ursprung haben Begriff und Modell der Homöostase in der Biologie; hier bezeichnen sie das Fließgleichgewicht physiologischer Funktionen. Das Modell eines ‚fließenden Gleichgewichts der Kräfte’ begegnet uns jedoch in verschiedenen Disziplinen, so etwa in der Kommunikationswissenschaft, er Pädagogik, der Philosophie, den Sozialwissenschaften, der Neurologie, der Physik und ebenso in der Kunst. Die „unendliche Melodie“ Richard Wagners oder die Minimal-Music operieren mit fließenden Höreffekten und der „Bewusstseinsstrom“ bei James Joyce, Arno Schmidt oder Hermann Broch ist literarischer Ausdruck dieses Weltverständnisses. Das Wort „Homöostase“ wird in den genannten Fällen zumeist nicht gebraucht. Gleichwohl scheint in verschiedenen Formen der Analyse und Beschreibung eines fließenden Gleichgewichts ein gedankliches Modell sichtbar zu werden, das sich in vielen thematischen Zusammenhängen als fruchtbar erweist. „Homöostase“ mag hier als Titel dieses Modells fungieren. Einige Aspekte dieses Modells und seiner Anwendung sollen in diesem Band aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden. Das entscheidende Datum in der Entwicklung des Modells der Homöostase als eines wissenschaftlichen Paradigmas ist das Jahr 1929, in dem der Physiologe Walter Bradford Cannon Homöostase zum epistemologischen Prinzip erklärte, mit dem sich Zellen, Organe und Körper als selbstständige Elemente etablieren.1 Nur drei Jahre später übertrug Cannon die Homöostase auch auf soziale Prozesse.2 1 2

Walter Bradford Cannon: Organization of Physiological Homeostasis, in: Physiological Reviews Vol. 9 (1929), S. 399–431. Walter Bradford Cannon: The Wisdom of the Body, o.O. 1932.

8

Die Herausgeber

Das physiologische Fließgleichgewicht, das die Funktion bestimmter körperlicher Prozesse gewährleistet, ist von ganz anderer Art als kognitive oder soziale Prozesse. Allerdings könnte die Hypothese geprüft werden, ob die homöostatischen Voraussetzungen, nach denen sich der Körper – und mithin auch das Gehirn – organisiert, auch Auswirkungen auf Entscheidungen und Handlungen des Menschen haben. Materialistische Philosophen wollten am Ende des 19. Jahrhunderts gar den in vielen Kulturen und Epochen vorherrschenden Drang zum ästhetischen oder auch politischen Ausgleich zwischen Extrempositionen als Reflex einer körperlichen Disposition deuten. Gute Argumente für diese Annahme sind jedoch nicht in Sicht. Die Bedeutung der Idee der „Homöostase“ liegt vielmehr in der Erklärungskraft eines Modells, das sich vielleicht sogar als ein eigenes wissenschaftliches Paradigma verstehen lässt. Das Buch Welt im Fluss stellt „Homöostase“ als ein interdisziplinäres Paradigma vor, mit dessen Hilfe sich komplexe, dynamische Ordnungen erklären lassen, ohne dabei wiederum eine Prozess-Ontologie vorauszusetzen. Das Modell der Homöostase öffnet den Blick auf viele Facetten der Verschränkung subjektiver und objektiver Faktoren in der Erzeugung dynamischer Strukturen verschiedener Art. Dazu gehört zum Beispiel die Tatsache, dass erst durch die Mitarbeit des Beobachters ein Kunstwerk, ein Laborexperiment oder eine statistische Auswertung Kontur gewinnt. „Fakten“ und Wissen entstehen allererst durch die Interpretation von Beobachtungen, die durch die Wahrnehmungsmuster und die kognitiven Muster des Beobachters gelenkt wird. Das Paradigma der Homöostase folgt zum einen der geistesgeschichtlichen Entwicklung, die Ernst Cassirer als die Wendung vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriffs beschrieben hat, und es nimmt zum anderen Überlegungen auf, die in der jüngeren Vergangenheit in konstruktivistischen und perspektivistischen Theorien des Geistes und der Erkenntnis entwickelt wurden, um den traditionellen Dualismus von Subjekt und Objekt oder dessen moderne Version, den Dualismus von Schema und Inhalt zu überwinden. Der Dualismus von Schema und Inhalt geht von folgenden Annahmen aus: Das Subjekt, d. h. der menschliche Geist erzeugt – als wahrnehmende, sprechende, beobachtende, deutende Person – auf verschiedenen Ebenen – von der einfachen Wahrnehmung bis hin zur Bildung komplexer Theorien – verschiedene Schemata, und zwar sowohl perzeptive als auch begriffliche Schemata, mit denen die kausalen Reize der Welt (des Objekts), also alles das, was von außen auf unseren Geist einfließt, geordnet werden. Erst diese Ordnungsmuster machen Wahrnehmung und Wissen und in einem weiteren Sinne die geistige Repräsentation der Welt möglich. Solche Schemata sind feste Formen und Strukturen, die notwendig, unverzichtbar und unausweichlich sind, um die Welt zu erkennen; sie sind gleichsam – mit einer viel gebrauchten Metapher zu reden – die Brillen, durch die wir die Welt sehen. Es bereitet allerdings erhebliche Schwierigkeiten, sich diesen Gedanken verständlich zu machen. Wenn man versucht, diesen Gedanken genau zu explizieren, stößt man (unter anderem) auf folgendes Problem: Das ‚Material der externen Welt’, das durch die Schemata scheinbar geordnet wird, lässt sich entweder ohne

Vorwort

9

bestimmte Schemata gar nicht wirklich klar und strukturiert erfassen oder aber nur in einer gemeinsamen Sprache erfassen und darstellen. Wenn wir darauf hin weisen, dass wir die ‚Daten der externen Welt’ ohne bestimmte sensorische Muster und sprachliche Formen nicht strukturiert zu erfassen vermögen, so ist dies zunächst einmal eine Beobachtung, aber keine Erklärung für die Existenz von Schemata. Denn eine solche Erklärung wäre zirkulär; sie setzte das, was es zu erklären gilt, bereits voraus. Die genannte Beobachtung ist allerdings höchst plausibel. Wenn wir die Dinge, die wir sehen oder die nicht-sichtbaren (nichtempirischen) Dinge, die wir beschreiben, analysieren und erklären können, als etwas Bestimmtes identifizieren, klassifizieren und beschreiben, dann verwenden wir dabei bestimmte elementare sensorische Muster und vor allem (jedenfalls in den meisten Fällen) eine natürliche Sprache. Und die verschiedenen Schemata sollten ineinander übersetzbar sein. Aber ist die Annahme solcher Schemata wirklich eine gute, sinnvolle, erklärungskräftige Idee? Sehen wir tatsächlich durch verschiedene geistige Brillen auf die Welt? Diese Frage hat der amerikanische Philosoph Donald Davidson mit Nachdruck gestellt – und die Annahme solcher Schemata als ein Dogma verabschiedet.3 Sinnvoller ist wohl der Gedanke, dass wir die Welt aus verschiedenen Perspektiven betrachten, deuten und erkennen, die in verschiedene Kontexte, vor allem in spezifische kulturelle Kontexte eingefügt sind. Diese Perspektiven stellen bestimmte Bedingungen für unseren Zugang zur Welt dar, die wir miteinander vergleichen können. Das Modell der Homöostase nimmt die perspektivistische Idee auf, und es möchte zeigen, aus welchen Perspektiven und unter welchen Bedingungen wir das, was in der Welt fließt, als etwas Veränderliches, Dynamisches, Wechselbares und doch Bestimmbares erfassen. Das Konzept der Homöostase bietet so eine operationsfähige Alternative und Erweiterung zu den Modellen konstruktivistischer Selbstreferenz-Theorien und schließt so eine Lücke im Diskurs der modernen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Welt im Fluss vereint Aufsätze namhafter Experten, die dieses Konzept der Homöostase auf ihren jeweiligen Forschungsfeldern diskutieren. Eine einheitliche Definition dessen, was interdisziplinär unter „Homöostase“ verstanden wird, liegt nicht vor und ist beim derzeitigen Stand der Dinge wohl auch weder notwendig noch sinnvoll. Der vorliegende Band möchte vielmehr zunächst einmal verschiedene Überlegungen bündeln, die sich als Anwendungen des Modells der Homöostase deuten lassen. Wenn man versucht, das Modell genauer zu beschreiben und die Gemeinsamkeiten der hier versammelten Beiträge herauszustellen, so stößt man auf zwei charakteristische Merkmale: Das Modell „Homöostase“ bringt in erster Linie einen produktiven Prozess zur Darstellung: Im Fließgleichgewicht entsteht etwas Neues; das, was fließt, hält, indem es fließt, etwas formal oder inhaltlich Stabiles aufrecht, das genau solange 3

Donald Davidson: On the Very Idea of a Conceptual Scheme, in: Ders.: Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford 1984, S. 183–198. Deutsche Übersetzung: Was ist eigentlich ein Begriffsschema? in: Donald Davidson: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a. M. 1986, S. 261–282.

10

Die Herausgeber

besteht, wie die Fließbewegung anhält. Vielleicht hilft zum Verständnis die Analogie zum elektromagnetischen Feld: Das Feld bildet sich nur solange aus, wie der elektrische Strom durch das Leitermedium hindurchfließt; wird der Strom unterbrochen, bricht das Feld in sich zusammen. Das Modell der Homöostase bringt die Perspektivität unseres kognitiven Zugangs zur Welt zum Ausdruck. Starre Dualismen können so überwunden und trügerische Gewissheiten in Frage gestellt werden. Darin liegt vielleicht die innovative erkenntnistheoretische Dimension des Paradigmas. Im Ausgang vom Modell der Homöostase entwickeln einige Autoren auch Überlegungen, die an die Grenzen des Modells und vielleicht auch über das Modell hinaus führen, indem sie den Blick auf Prozesse richten, die, so etwa in bestimmten Ereignissen ästhetischer Rezeption, kreative Entwicklungen nur durch die Störung eines vorherigen Gleichgewichts ermöglichen (vgl. den Beitrag von Walter Schurian in diesem Band). Der vorliegende Band versteht sich zum einen als eine erste interdisziplinäre Dokumentation der vielen Facetten des Paradigmas „Homöostase“, indem es dessen Anwendungen demonstriert, und zum anderen als Grundlage für die Fortsetzung der Diskussion (und Anwendung) dieses Paradigmas. Stephan Cartier Jörg Hardy Jörg Martin

„FLUIDE MATRIX“ UND „HOMÖOSTATISCHE MECHANISMEN“ PROBLEME EINES KONZEPTTRANSFERS ZWISCHEN ORGANISMUS UND GESELLSCHAFT I. Ambivalenzen: die Mechanismen des Lebens Der Begriff „Homöostase“ wurde vom amerikanischen Physiologen Walter B. Cannon (1871–1945) im Jahre 1926 geprägt. 1929 legte dieser an der Harvard Medical School arbeitende Forscher erstmals eine ausformulierte Theorie der in Organismen wirkenden Selbsterhaltungs- und -regulierungskräfte vor.1 „Homöostase“ bedeutet in wörtlicher Übersetzung „Gleich-Stand“ bzw. „gleich bleibender Zustand“. Cannon ging von der allgemein zugänglichen Beobachtung aus, dass „unser Körper aus außerordentlich unstabilem Material gemacht“ ist und doch während Jahrzehnten, ja bis zu einem Jahrhundert, in wechselnden Umgebungen und unter sich verändernden Bedingungen am Leben zu bleiben vermag. In seiner wichtigsten Studie „Die Weisheit des Körpers“ aus dem Jahre 1932 ist er fasziniert vom „Wunder“ dieser „organischen Fabrik“ und ihrer Fähigkeit, die Stabilität der Lebensprozesse mittels eines komplexen Zusammenspiels von sich selbst regulierenden physiologischen Prozessen, die sich innerhalb der „fluiden Matrix“ des Körpers organisieren, aufrechtzuerhalten.2 Bricht dieses homöostatische System, das dies ermöglicht, zusammen, dann tritt mit dem Tod auch die „extreme Instabilität unserer körperlichen Struktur“ schlagend zutage. Aufgrund der prekären Vergänglichkeit der Körpersubstanz geht der Organismus in diesem Moment rasch in den Zustand der Dekomposition und Verwesung über. Was ist es, was diese Auflösung verhindert, so lange ein Organismus lebt? Wie organisiert das Leben seine eigenen Bestandesvoraussetzungen? Worin unterscheiden sich lebende Wesen von nicht-lebenden Stoffen?

1

2

Walter Bradford Cannon: Physiological Regulation of Normal States: Some Tentative Postulates Concerning Biological Homeostatics, Paris 1926 (Jubilee Volume to Charles Richet); Ders., „Organization of Physiological Homeostasis“, in: Physiological Reviews, 1929, Nr. Vol 9, S. 399–431. Kurz vor seinem Tod verfasste Cannon eine Autobiographie: The Way of an Investigator. A Scientist’s Experience in Medical Research, New York, London: N.N. Norton 1945. Im Folgenden wird aus der 1948 erschienenen deutschen Übersetzung „Der Weg eines Forschers. Erlebnisse und Erfahrungen eines Mediziners“ zitiert. 1932 publizierte Cannon in London (bei Kegan Paul) und New York (bei W.W. Norton) sein (1939 ins Französische, später auch ins Italienische, nie aber ins Deutsche übersetzte) Buch „The Wisdom of the Body“. Zitat: Cannon, Wisdom, S. 20.

12

Jakob Tanner

Die Erforschung des Lebens, die mit solchen Fragen einsetzt, war und ist für die Wissenschaft ein zwiespältiges und opakes Projekt, das immer wieder Überraschungen bereithielt und für Verunsicherung sorgte. „Es ist indessen unbestreitbar“, schrieb der französische Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem (1904–1995) nach dem Zweiten Weltkrieg, „dass das Leben ein Gegenstand des Denkens ist, der wenig beruhigend für die Vernunft ist“.3 In Frankreich sei das Leben „nicht nur ein doppeldeutiger, sondern auch ein skandalöser Gegenstand“.4 Für Canguilhem entzieht sich das Leben aufgrund seiner emergenten Eigenschaften und seiner synthetischen Komplexität den Kategorien vernunftgestützter Analyse und Berechnung weitgehend. Je mehr die Wissenschaft das Leben theoretisch einzukreisen oder experimentell aufzuhellen versucht, desto größer wird der dunkle Rest, der mit dieser szientifischen Klärungsarbeit nicht tangiert wird. Die Geschichte des Disputs zwischen Vitalismus (Insistieren auf der Existenz einer unergründlichen Lebenskraft) und Determinismus (Erklärung mittels chemisch-physikalischer Gesetze) verweist auf die Schwierigkeit, mit diesem Rest angemessen umzugehen. Stellt er die Summe der noch nicht erforschten Gebiete und Phänomene dar? Oder manifestieren sich hier umgekehrt unüberwindliche Grenzen des menschlichen Forschungsgeistes? Oder ist er ein Indiz dafür, dass einige Probleme einfach falsch oder nicht angemessen gestellt wurden? Von letzterem ausgehend kritisiert Canguilhem die Entgegensetzung von Mechanik und Organismus und fordert, die „Geschichte des Mechanismus“ müsse „neu in die Geschichte des Lebens eingeschrieben werden“, denn wenn es gelänge, „dem Mechanismus wieder seinen Platz im Leben und für das Leben einzuräumen“, könnte auch ein Vernunftkonzept entwickelt werden, das sich selber in doppelter Weise dynamisiert. Diese Dynamisierung der Vernunft kommt dann zustande, wenn sie zum einen als „ein Vermögen zur Herstellung von normgebenden Beziehungen in der Erfahrung des Lebens“ verstanden wird.5 Damit ist die Vernunft nicht mehr etwas schon immer Vorhandenes und der wissenschaftlichen Aktivität einfach Vorausgesetztes, sondern das Vernünftigwerden wird als erst noch zu erfüllende Aufgabe, als ein nicht abschließbarer Prozess angesprochen. Zum andern wird deutlich, dass „die Erkenntnis des Lebens“ nicht zu trennen ist von den Artefakten und Methoden der experimentellen Forschung. Ob von der Mathematisierung der Biologie oder von einem empirischen Ansatz, der sich als „data driven“ versteht, ausgegangen wird: die Forschung basiert auch heute auf der Entwicklung neuer Verfahren und Geräte, auf dem Einsatz von Computern und Simulationsmodellen sowie auf der Erfindung „neuer Automaten“.6 Auch in dieser Hinsicht erweist sich der Raum der Erforschung des Lebens als zukunftsoffen.

3 4 5 6

Georges Canguilhem: Wissenschaft, Technik, Leben. Beiträge zur historischen Epistemologie, Berlin 2006 (Nachwort von Henning Schmidgen), S. 30. Ebd. S. 34. Ebd. S. 39. Canguilhem, zitiert nach: Henning Schmidgen, Nachwort, in: ebd. S. 173.

„Fluide Matrix“ und „homöostatische Mechanismen“

13

Das Konzept der Homöostase, wie es von Walter B. Cannon in den 1920er Jahren vorgeschlagen und in den 30er Jahren theoretisch elaboriert wurde, ist ein solcher Versuch, den Zusammenhang von Mechanismus und Organismus zu ergründen und die Weise, wie sich ersterer in letzteren einschreibt, im Tierversuch zu ergründen.7 Was Cannons Vorschlag besonders interessant macht, ist sein Bemühen, die Erklärung physiologischer Mechanismen für das Verständnis des Funktionierens der Gesellschaft zu nutzen und ein breiteres Publikum für solche Homologien zu sensibilisieren. Der amerikanische Physiologe wollte nicht nur seine soziale Autorität als Wissenschaftler in den Dienst gesellschaftlicher Reformen stellen, sondern er strebte danach, einen Sachverstand als Forscher direkt für die Analyse der sozialen Interaktion und der gesellschaftlichen Differenzierung und Integration zu nutzen. Diese Form der Übertragung analytischer Modelle von der Natur auf die Gesellschaft unterschied sich dabei signifikant von der Biologisierung der Gesellschaft und der Naturalisierung des Sozialen, wie sie zur gleichen Zeit in Deutschland und andern europäischen Ländern vorherrschte. Cannon verortete sich eher in einer Vorgeschichte der Kybernetik, und seine Konzepte wurden durch die Theoretiker der Autopoiesis aufgegriffen – und auch kritisiert. II. Konzepttransfer: Body physiologic und body politic Die 1930er Jahre standen unter dem Eindruck eines katastrophalen Versagens von Wirtschaft und Gesellschaft. Während faschistische Führer und das nationalsozialistische Regime sich als die Lösung für das Problem der Regierung einer komplex differenzierten industriellen Klassengesellschaft ausgaben, sahen demokratische Theoretiker und Anhänger des Sozialismus sowie des Liberalismus im Aufstieg dieser Diktaturen das Hauptsymptom für ein fundamentales Versagen. Die Grosse Depression, der Zusammenbruch des Weltwirtschaftssystems in einem kumulativen Zerfallsprozess, der zu Beginn der 1930er Jahre auch die kollektive Stimmungslage einbrechen ließ, war ein weiteres Anzeichen, das von links und rechts als Fanal einer finale Krise des liberalkapitalistischen Gesellschaftsmodells wahrgenommen wurde. In diesem Kontext griff Walter B. Cannon zu Beginn der 30er Jahre eine Anregung seines amerikanischen Verlegers auf und fügte seiner physiologischen Studie „Die Weisheit des Körpers“ einen Epilog über Analogien zwischen biologischer und sozialer Homöostase bei8, welcher der Frage nachging, ob „gewisse Glaubensgrundsätze, die ich über das Wesen körperlicher Organisation hege“, nicht von Nutzen sein könnten für „andere Organisationstypen“ und insbesondere 7

8

Vgl. dazu: Jakob Tanner: „Weisheit des Körpers und soziale Homöostase. Physiologie und das Konzept der Selbstregulation“, in: Philipp Sarasin (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998, S. 129–169. Cannon, Wisdom, S. 305–324.

14

Jakob Tanner

„den Aufbau der menschlichen Gesellschaft“.9 Die Grundeinsicht des Physiologen war, dass (über-)lebensfähige Organismen in ihrem Innern einen „konstanten Zustand“ aufrechterhalten müssen. Je ausgeklügelter die Mechanismen, über die Lebewesen verfügen, um ihre permanente Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen zu gewährleisten und ihre Desintegration zu verhindern10, desto größer ihre Autonomie gegenüber der Außenwelt. Diese im Zuge der Evolution zunehmende Fähigkeit zur „organisierten Selbstregierung“11 begriff Cannon als das Resultat eines vielfältigen Repertoires von interdependenten Kräften. Das Staunen über die in diesen homöostatischen Mechanismen inkarnierte „Weisheit“ veranlasste den Naturwissenschaftler zur Frage, wie eine Gesellschaft beschaffen sein müsse, um ebenso stabil, konstant und anpassungsfähig zu sein wie ein lebendiger Organismus. Wieso war sie konjunkturellen Kontraktionen, politischen Konvulsionen und sozialen Erschütterungen ausgesetzt, die ihre innere Ordnung gefährdeten? Cannon war fasziniert von seiner Einsicht in das Zustandekommen und die Aufrechterhaltung von steady states in lebendigen Organismen und erachtete diese Regulationsmuster als „suggestiv für andere Typen von Organisation – selbst für soziale und industrielle – die unter erschütternden Störungen leiden.“12 Unter Verweis auf die Reziprozität der individuellen und der gemeinsamen „Wohlfahrt“ der Myriaden von Zellen, die in einem Körper auf Gedeih und Verderb zusammenwirken, versuchte Cannon die Notwendigkeit einer flexiblen Kooperation und Integration in einer arbeitsteilig spezialisierten Gesellschaft aufzuzeigen. Es galt, auch in diesem „sozialen Körper“ Anpassungsprobleme mit selbstregulativen Mechanismen zu lösen. Cannon war überzeugt davon, dass selbstadaptive, demokratisch oder marktförmig organisierte „homöostatische“ Systeme große Vorteile aufweisen gegenüber starren, „heterostatischen“ Diktaturen, die von einem Zentrum aus regiert werden und deshalb krisenanfällig sind. Während letztere die Menschen für Machtziele instrumentalisieren, unterstützen Demokratien mit ihrer politischen Homöostase die individuell-physiologische Entwicklung optimal. In verschiedenen weiteren Aufsätzen, z.B. über „Biocracy“ (1933) und „The Body as a Guide to Politics“ (1942) akzentuierte Cannon diese Überlegungen.13 Cannons theoretische Ausführungen zur Gesellschaftspolitik fanden eine Entsprechung in seinem politischen Engagement. Er stimmte mit der „Social 9

10 11 12 13

Cannon, Der Weg, S. 113 und 121; die Umrisse der wissenschaftlich grundierten Utopie, die aus dieser physiologisch-politischen Parallelisierung resultierte, erläuterte er 1939 auch vor der American Association for the Advancement of Science und vertiefte sie 1941 in einem Aufsatz in der Zeitschrift Science. Vgl. Ders.: „Body physiologic and body politic“, Science 93 (1941) S. 1–10. Cannon schrieb dazu: „Die Aufrechterhaltung eines konstanten Zustandes (...) ist als solche ein Beleg dafür, dass Kräfte am Werke sind oder bereitstehen, um eben diese Stabilität zu sichern.“; Cannon, Der Weg, S. 120. Cannon, Der Weg, S. 121. Cannon, Wisdom, S. 24 f.; vgl. auch Cannon, Der Weg, S. 113. Walter Bradford Cannon: „Biocracy“, in: The Technological Review, 1934, Nr. Vol 35, S. Nr. 6; Ders.: The Body as a Guide to Politics, London 1942.

„Fluide Matrix“ und „homöostatische Mechanismen“

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Relations of Science“-Bewegung überein, die in den frühen 1930er Jahren in England entstand und in der sich sozialistische und bürgerliche Reformkräfte unter maßgeblicher Initiative führender Biologen für den Kampf der Demokratien gegen die faschistische Herausforderung engagierten.14 Cannon lehnte „Führerstaaten“ ab und forderte ein korporatistisches Organisationsmodell der Gesellschaft, wie es nach 1933 durch den New Deal Roosevelts realisiert wurde.15 Während des Spanischen Bürgerkrieges (1936–1939) ergriff er Partei für die Republik.16 Politisches Engagement und wissenschaftliche Forschung stützten sich auf diese Weise gegenseitig. Cannon versuchte nicht primär, sein Prestige als Naturwissenschaftler in der Öffentlichkeit auszuspielen, sondern es ging ihm in einem viel strengeren Sinne darum, die Ergebnisse seiner Laborexperimente gesellschaftspolitisch zu valorisieren. Auf diese Weise profilierte er sich nicht nur als Pionier im Labor, sondern auch als „Dolmetscher, (...) der seine Gedanken und Taten an anderer Stelle nochmals gemeinverständlich wiederzugeben sucht“17 und sie damit in politische und sozialwissenschaftliche Problematisierungen zu übersetzen verstand. III. Fluide Matrix: Körper im Fluss und verflüssigte Gesellschaftsbilder Für Cannon waren Flüssigkeiten das wichtigste materielle Substrat lebendiger Organismen. Dabei knüpfte er an eine lange Tradition „verflüssigter“ Vorstellungen des Menschen und des Lebens überhaupt an. Die hippokratisch-galenische Humoralpathologie ist eine diätetische Saftlehre. Aus dieser Sicht verursachen Störungen in der Harmonie der Körpersäfte (so genannte Dyskrasien) Krankheiten, welche durch die vis medicatrix naturae wiederum „automatisch“ korrigiert werden.18 Die aufstrebende naturwissenschaftliche Medizin konfrontierte solche Säftetheorien zunächst mit substantialistischen Kompaktkonzepten des menschlichen Körpers. Ausgehend von bereits im 18. Jahrhundert formulierten 14 Andreas Zangger: „We should understand the interactive nature of Science and Society“. Systemtheoretisches Denken und Politisierung britischer Wissenschaftler zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, Zürich (unveröffentliches Manuskript) 1996; Zangger befasst sich insbesondere mit J.B.S. Haldane, Julian Huxley, G.E.G. Catlin, Hyman Levy, H.G. Wells und Joseph Needham. Vgl. auch: Susanne E. Lederer: „Cannon, Walter Bradford“, in: American Council of Learned Societies (Hg.), American National Biography. Hg. John A. Garraty, Mark C. Carnes, New York, Oxford, S. 338-340. 15 Dies aufgrund einer Wahrnehmung und Interpretation, die sich gegen Parallelisierungen des „Dritten Reiches“ und des „New Deals“ richten, wie sie einige Historiker in Übereinstimmung mit neoliberalen Interpretationen sehen: Vgl. u.a. Wolfgang Schivelbusch Entfernte Verwandtschaft: Faschismus, Nationalismus, New Deal 1933–1939, München 2005. 16 Chandler McC. Brooks/Kiyomi Koizumi/James O. Pinkston (Hg.): The Life and Contributions of Walter Bradford Cannon, 1871–1945, New York 1975, S. 160 f. 17 Cannon, Der Weg, S. 182. 18 Michel Foucault: Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973.

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Anregungen wurde die Humoraltheorie durch eine „trockene“ mechanische Auffassung vom Körper als Feststoffaggregat verdrängt. Die pathologische Anatomie von Giovanni B. Morgagni (1682–1771) bereitete den Durchbruch des morphologischen Paradigmas im 19. Jahrhundert vor, auf dem die Zelluarpathologie Rudolf Virchows (1821–1902) beruhte. Als theoretisch besonders wirkungsmächtig erwies sich der Begriff des milieu intérieur, mit dem der französische Arzt und Physiologen Claude Bernard (1813– 1878) eine Wende zurück zu einem verflüssigten Körperkonzept vollzog. In seiner 1865 publizierten Abhandlung über die experimentelle Medizin19 ging er davon aus, dass die innere Stetigkeit des Körpers, d.h. dessen Fähigkeit, ein gegenüber schwankenden Umweltbedingungen konstantes, optimal „wässriges“ Habitat für die unterschiedlichen Organe bereitzustellen, durch das Zusammenspiel von Flüssigkeiten gewährleistet wurde. Die angelsächsischen Physiologen Michael Foster (1836–1907) und J. B. S. Haldane (1860–1936) entwickelten Bernards Idee des milieu intérieur weiter.20 Schon vor der Jahrhundertwende sollte sich das Interesse von der stofflichen Kooperation von Zellen weg auf das Modell einer gewissermaßen schwimmenden Koordination des arbeitsteiligen organisierten, integral funktionierenden Organismus hin verlagern. Die Vermutung, dass das milieu intérieur das flüssige Medium darstelle, welches die Funktion des Transports chemischer Botschaften ermögliche und damit die Koordination der komplexen Körperfunktionen gewährleiste, mobilisierte beträchtliche Forschungsressourcen.21 1905 erhielten diese Stoffe den Namen „Hormone“ und Ernest Starling (1866–1927) prägte den Begriff der „chemischen Botschafter“22, bevor er 1923 von der „Weisheit des Körpers“ sprach und damit den Titel für Cannons fast ein Jahrzehnt später erscheinende Studie lieferte. Während der folgenden vier Jahrzehnte sollte die Untersuchung homöostatischer Integrationsmechanismen (zusammen mit dem Immunsystem) zu den innovativsten Forschungsfeldern der Physiologie gehören.23 19 Claude Bernard: Introduction à l'étude de la médecine expérimentale, Paris 1984 (erstmals: 1865); zu Bernard vgl. auch: Francisco Grade/Maurice B. Visscher (Hg.): Claude Bernard and Experimental Medicine, Cambridge/Ma. 1967; Alain Prochiantz, Claude Bernard. La révolution physiolgique, Paris 1990. 20 Zu Foster vgl. Gerald L. Geison: Michael Foster and the Cambridge School of Physiology, Princeton 1978; zu Haldane vgl. Zangger „We should understand...“. 21 Georges Canguilhem vermutet, dass es Brown-Sequard war, der 1891 erstmals diesen Vorgang beschrieb; vgl. Ders.: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, Frankfurt a. M. 1979, (hrsg. v. Wolf Lepenies) S. 104. 22 Christiane Sinding: „Literary Genres and the Construction of Knowledge in Biology: Semantic Shifts and Scientific Change“, Social Studies of Science, Vol. 26 (1996), S. 46ff. 23 Die chemischen Botenstoffe, welche aus der „inneren Sekretion“, aus den Drüsenaktivitäten lebendiger Körper resultierten, sicherten die Kommunikation zwischen Teilen und stellten damit die strukturelle Integration komplementärer Funktionen sicher. Diese Forschungsrichtung befasste sich mit der Konstanz des „Eigenen“, während die Analysen des Immunsystems das Augenmerk auf die Erkennung des „Fremden“ und damit auf die Aufrechterhaltung der Grenze zwischen dem „Eigenen“ und dem „Anderen“ richteten. Vgl. Donna Haraway: „Die Biopolitik postmoderner Körper. Konstitutionen des Selbst im Diskurs

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Die Konstanz wichtiger körperlicher Parameter und die Uniformität der „fluiden Matrix“ werden aus Cannons Sicht durch zwei Typen homöostatischer Mechanismen gewährleistet: Der eine arbeitet mit Material (Speicherung, Sekretion, Ausschüttung von Stoffen), der andere bedient sich einer Reihe von Prozessen (Beschleunigung oder Verlangsamung von Funktionen, Ausschöpfen von Leistungsreserven).24 Diese beiden Regulationstypen sind in der Lage, den fluktuierenden Zentralzustand des inneren Milieus aufrecht zu erhalten.25 Cannon thematisiert dann die drei zentralen Versorgungsleistungen von außen, auf die der homöostatisch regulierte Funktionszusammenhang von Lebewesen angewiesen ist: Nahrung, Wasser und Sauerstoff.26 Während z.B. bei Säugetieren Nahrungsverzicht bzw. Hungern über Wochen hinweg ohne irreversible Schädigung des Organismus möglich ist, wird der Körperzustand bei fehlender Flüssigkeitszufuhr nach wenigen Tagen kritisch; beim Sauerstoff genügt ein Unterbruch von wenigen Minuten, um Hirnfunktionen zu zerstören und damit dem Weiterleben ein Ende zu setzen.27 Offenbar sind diese Inputs über die drei wichtigsten Regler (Metabolismus, Transpiration, Atmung) mit physiologischen Organen, Mechanismen und Rhythmusgeber verbunden, die über ihre je eigene „Zeit“ verfügen, die jedoch in einer komplexen Interdependenz zueinander stehen, sodass ihr partikulares Funktionieren und die Integrität des ganzen Organismus sich wechselseitig bedingen. Für Cannon beruhte die Stärke integrierter Systeme nicht auf ihrer Kompetitivität (und dem daraus hervorgehenden Selektionsdruck) nach außen, sondern auf der Fähigkeit zur funktionalen Differenzierung und zur gleichzeitigen Integration. Damit betonte er gegenüber der darwinistischen Bevorzugung einer Kampfmetaphorik das Prinzip der gegenseitigen Hilfe.28 Er fragte nach den Rückkoppelungsmechanismen, welche eine sinnvolle Koordination von Partikularelementen zu gewährleisten imstande waren.29 Ein lebendiger Organismus kann aus dieser Sicht auf Dauer überhaupt nur existieren, wenn die „Reaktionen im Organismus“ „zweckvoll“ und die Organe „so beschaffen (sind), dass

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des Immunsystems“, in: Dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M. 1995, S. 160–199; vgl. auch: Anne Marie Moulin: Le dernier langage de la médecine. Histoire de l'immunologie de Pasteur au Sida, Paris 1991. Cannon, Wisdom, S. 295 ff. Der Begriff „fluktuierender Zentralzustand“ stammt von Vincent, Biologie des Begehrens, S. 18 und 179 ff. 1990 veränderten Carl Woese und Otto Kandler die Vorstellungen über die Evolution des Lebens auf der Erde. Mit ihrem Drei-Domänen-Modells (Bakteria, Archaea und Eukarya) haben sich auch die Konzepte metabolischer Basisoperationen verändert. Vgl. Carl R. Woese/ Otto Kandler/Mark L. Wheelis: Towards a natural system of organisms: Proposal for the domains Archaea, Bacteria, and Eucarya. Proceedings of the National Academy of Sciences 87 (12), 1990, S. 4576–4579. Walter B. Cannon, Wut, Hunger, Angst und Schmerz. Eine Physiologie der Emotionen, München/Berlin/Wien 1975 (erstmals 1915), S. 178. Stephen J. Gould: „Kropotkin was No Crackpot“, Natural History 1988, S. 12–21; Daniel P. Todes, „Darwins malthusianische Metapher und russische Evolutionsvorstellungen“, in: Engels (Hg.): Die Rezeption, S. 294 ff. Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte, S. 95.

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sie zum Wohle des Gesamtorganismus reagieren“.30 Das Kriterium für Zweckmäßigkeit ist reziproke Nutzenstiftung. Organisation resultiert aus egoistischem Altruismus. Jedes einzelne Organ „braucht“ die andern, um selber funktionieren zu können – und indem es das tut, sichert es sich die eigenen Funktionsvoraussetzungen. Homöostatische Mechanismen stellen damit auch ein Beispiel für erfolgreiches Bootstrapping dar. IV: Gemeinsame Wohlfahrt der Zellen: „soziale Homöostase“ und moderne Gesellschaft Cannon schreibt: „Im Lichte der biologischen Erkenntnis sollte die soziale Stabilität nicht in einem fixen und rigiden Sozialsystem gesucht werden, sondern in adaptiven industriellen und kommerziellen Funktionen, die die stetige Versorgung der elementaren menschlichen Bedürfnisse gewährleisten.“31

Dieses interaktive System, in dem die „Wohlfahrt der Zellen in anderen für den Körper essentiellen Organen“ zur notwendigen Bedingung für deren „eigene Wohlfahrt“ wird, beschreibt auch die Beziehungen zwischen Individuen und Sozialstruktur. „Einmal mehr zeigt sich sowohl beim physiologischen als auch beim politischen Körper, dass das Ganze und die Teile gegenseitig abhängig sind.“32 Diese „Arrangements gegenseitiger Abhängigkeit“ ermöglichen die kollektiv-kooperative Organisationsleistung eines komplex ausdifferenzierten Gesellschaftssystems.33 „In funktionaler Hinsicht stellt das Distributionssystem in allen seinen Aspekten das nächste Äquivalent der fluiden Matrix des Körpers dar“, stellt Cannon fest und zählt dann auf: Kanäle, Flüsse, Straßen, Eisenbahnschienen mit Fahrzeugen (Booten, Motorfahrzeugen und Zügen), die dem Transport und der Feinverteilung dienen. Dieses Versorgungssystem, welches das Angebot möglichst flexibel auf die spezifische Nachfrage einzelner Organe bzw. spezialisierter Funktionskomplexe abstimmt, wird wiederum vermittelt über Geld und Kredit, die als integrale Bestandteile der fluiden Matrix einer Gesellschaft eine Botschafter- und Informationsvermittlungsrolle übernehmen.34 Die hybriden Netzwerke der wissenschaftlich-technischen Gesellschaft, welche die komplexen Material- und Informationsströme sicherstellen, werden somit als funktionale Äquivalente zum Säftehaushalt des Körpers interpretiert und stellen eine Art humorales Über-Ich dar. Cannon betont dabei den Primat der Stabilität vor dem ökonomischen Kalkül und dem Postulat der Effizienz. Um die Konstanz und Uniformität des innern Milieus zu gewährleisten, muss der Körper unter Um-

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Cannon, Der Weg, S. 114. Cannon, Wisdom, S. 315. Ebd. S. 310. Ebd. S. 309. Ebd. S. 314.

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ständen auf sehr unökonomische, Energie verschwendende Mechanismen zurückgreifen.35 Aufgrund dieser Beobachtung kommt er zu einer für Sozialsysteme relevanten Folgerung: „Angesichts der Komplexität moderner Sozialbeziehungen liegt die strategische Kontrolle eher in den Vorrichtungen zur Verteilung von Gütern, im Handel und Finanzsystem als in der Herstellung und Produktionssphäre.“

Auch wenn Störungen letztlich aus dem Produktionssystem herrühren würden, seien es die sensitiven Fluktuationen im kommerziellen System, die der Problemfrüherkennung dienen und korrigierende Prozesse auslösen könnten.36 Nur wenn die soziale und die individuelle Homöostase optimal aufeinander abgestimmt sind, könnten Menschen – dies war das Credo Cannons – genügend kulturelle Autonomie von der Sphäre des Notwendigen erlangen, ihre kulturellen Fähigkeiten in vollem Umfang entfalten und sich als Speerspitze der Evolution behaupten. Diese Vorstellung lag in der Fluchtperspektive zivilisatorischen Fortschritts und beruhte auf einem amerikanischen Leitbild unbeschwerten Lebens in Gesundheit und Wohlstand.37 Cannon sprach von der Freiheit, „in angenehme Beziehung zu unseren Mitmenschen zu treten, uns schöner Dinge zu erfreuen, die Wunder der Welt um uns zu erforschen und zu verstehen, neue Ideen und Interessen zu entwickeln, zu arbeiten, zu spielen, unbekümmert von der Sorge um unsere körperlichen Angelegenheiten“.38 Oder, an anderer Stelle: „So, wie die Stabilisierung der Gesellschaft die physische und mentale Stabilität ihrer Mitglieder festigt, so erhöht sie ihre höhere Freiheit, gibt ihnen Serenität und Vergnügen und damit die wichtigste Voraussetzung für heilsame Erholung, für die Entdeckung eines zufriedenstellenden und belebenden sozialen Milieus und für die Disziplin und die Freude individueller Neigungen.“39

Die Grenzen der Analogiebildung zwischen body physiologic und body politic konnten dem Physiologen allerdings nicht verborgen bleiben. Er betonte diesbezüglich drei Punkte, die deutlich machen, in welchem Ausmaß seine demokratische Option einem stationär-hermetischen Gesellschaftsbild verhaftet blieb und wie anfällig sein Denken für einen heterophoben Ökologismus im Zeichen von Degenerationsängsten war. Denn erstens sah das homöostatische Gesellschaftssystem keine Immigration vor; im Gegenteil stellt die unkoordinierte Vermehrung von Einzelelemente eine – unter Umständen letale – Bedrohung dar: „Gegen eine solche Pathologie hat der Körper keinen Schutz“.40 Hier wirkt der Abgrenzungsreflex des „Immunsystems“ auf den Diskurs über die Gesellschaft ein und schafft semantische Verbindungsstellen zwischen Integrität und Xenophobie, die zwar den persönlichen Über35 36 37 38 39 40

Ebd. S. 317. Ebd. S. 318. Ebd. S. 313. Ebd. S. 323. Ebd. S. 324. Ebd. S. 319.

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zeugungen Cannons widersprachen, die jedoch aus der Logik seines Denkens folgten. Zweitens war sich Cannon bewusst, dass selbstregulierte Systeme nicht auf unbegrenztes Wachstum getrimmt, sondern in ihrer Neigung, Konstanz, Uniformität und Stabilität aufrechtzuerhalten, grundsätzlich konservativ waren.41 Die Wachstumsgesellschaft der Nachkriegszeit sollte sich trotz ihres Anpassungspotentials als fundamental anti-homöostatisch erweisen. Drittens war dem Physiologen bewusst, dass Lebewesen altern und ihre Fähigkeit zur Selbstregulierung einbüssen. Der Tod von Individuen war nach Cannon gewissermaßen die Methode, mit der eine Gesellschaft ihre alten Mitglieder los wird und Platz für neue schafft. Damit verfügen menschliche Kollektive aber gerade über einen permanenten Erneuerungsmechanismus, der ihr eigenes Altwerden verhindern und sie damit vom Fatalismus des Sterbens befreien kann.42 Insgesamt zeigt sich in der Regulationsmetaphorik Cannons die Widersprüchlichkeit einer Sprache, deren polysemische Qualität durch das Laboratorium gereinigt werden sollte, die sich aber diesen Vereindeutigungsbestrebungen mit Erfolg entzog und die ihre schillernde semantische Fracht auf der Reise durch den Körper nicht verlor. V. Transdisziplinarität: Strukturfunktionalismus und Kybernetik Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive lassen sich viele Beziehungen zwischen Cannons Konzept der Homöostase, dem soziologischen Strukturfunktionalismus und dem Projekt der Kybernetik nachweisen. Die Kybernetik wurde in den ausgehenden 1940er Jahren zu einem starken intellektuellen Attraktor, der die Formen des Nachdenkens über die Gesellschaft, die Maschinen und das Leben verändert hat. Angesichts der Diskreditierung, die biologistische Konzepte in Europa aufgrund ihrer katastrophalen Auswirkungen auf die Politik des „Dritten Reiches“ erlitten, wird heute oft übersehen, dass die strukturellfunktionale Theorie Talcott Parsons und die Feedback-Konzepte von Norbert Wiener in entscheidendem Maße aus dem physiologischen Konzept Walter B. Cannons hervorgingen.43 Parsons, der 1944 in Harvard eine Professur antrat, betonte, die Menschen seien „integraler Bestandteil der organischen Welt“, und er ging davon aus, „die menschliche Gesellschaft und Kultur“ ließen sich „zweckmäßigerweise mit Hilfe eines dem Lebensprozess angemessenen Begriffsrahmen analysieren“.44 Er wies wiederholt darauf hin, dass er sein theoretisch-begriff-

41 Ebd. S. 319. 42 Ebd. S. 320. 43 Vgl. Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie, Bd. 2, Von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, Reinbek b. Hamburg 1976, S. 304. 44 Talcott Parsons: Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven, Frankfurt a. M. 1975, S. 10.

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liches Rüstzeug aus Cannons „Weisheit des Körpers“ holte.45 Wenn ein System von Handlungen als ein boundary-maintaining system begriffen wird, das seine Bestandesvoraussetzungen über einen hierarchisch geordneten Interdependenzzusammenhang von Funktionen reproduzierte, dann erweist sich die Vorstellung einer homöostatischen Selbstregulation als äußerst produktiv. Die Konzeptualisierung der modernen Gesellschaft als „dynamische Interdependenz variabler Faktoren“ in einem „empirischen System (das) als ‚in einem Prozess befindlich’ aufgefasst wird“46 setzte einen neuen Begriff der Funktion voraus, wie er zur Erklärung homöostatischer Regulationsmechanismen entwickelt wurde. Parsons erklärte explizit: „Das Konzept der Funktion, das hier verwendet wird, ist im Wesentlichen dasselbe, wie es in der Biologie verwendet wird und wie es insbesondere von W.B. Cannon formuliert wurde“.47

Das Konzept der Homöostase war auch für Norbert Wiener wichtig, der in der Einführung zu seinem 1948 erschienenen Standardwerk über Kybernetik die Zusammenarbeit mit Cannon in einer „monatlich stattfindenden Diskussionsreihe über wissenschaftliche Methodik“ erwähnt.48 Im Kapitel über „Rückkoppelung und Schwingung“ geht er – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Cannons Publikation „Die Weisheit des Körpers“ ausführlicher auf die große Bedeutung „physiologischer Phänomene“ und einer „Theorie homöostatischer Prozesse“ für das Verständnis kybernetischer Regulierung ein.49 Wiener weist zunächst darauf hin, dass die Menschen mit der Entwicklung der Sprache über ein äußerst kompliziertes kulturelles Verständigungsmedium verfügen. Zwar sei die Kommunikation zwischen Ameisen, die „wahrscheinlich aus nicht viel mehr als aus ein paar Gerüchen“ bestehe und deren chemische Grundlagen „so allgemein und so weitläufig wie das hormonale Nachrichtensystem innerhalb des Körpers“ seien, „den hormonalen Einflüssen innerhalb des Körpers nicht unähnlich“.50 Eine Analogisierung von physiologischer Homöostase und soziokultureller Regulierung hält Wiener – im Gegensatz zu Cannon – allerdings vor allem deshalb für schwierig, weil er in der modernen kapitalistischen Gesellschaft einen „extremen Mangel an effektiven homöostatischen Prozessen“ konstatiert.51 Diametral anders als die Ordo- oder Neoliberalen (wie Ludwig von Mises, Friedrich A. von Hayek, Wilhelm Röpke u.a.), welche auf die Selbstregulierungs-

45 Neben Cannon spielten vor allem Ernest Starling und Lawrence Joseph Henderson (zum Beispiel: The fitness of the environment; an inquiry into the biological significance of the properties of matter, New York 1927 (erstmals 1913)) eine Rolle. 46 Talcott Parsons: „Systematische Theorie in der Soziologie“, abgedruckt in: Jonas, Geschichte der Soziologie, S. 484 f. 47 Talcott Parsons, „The Point of the Author“, in: Max Black (Hg.): The social theories of Talcott Parsons: a critical examination, Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall 1961, S. 327. 48 Norbert Wiener: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Reinbek b. Hamburg 1968 (erstmals 1948), S. 25. 49 Ebd. S. 169f. 50 Ebd. S. 224f. 51 Ebd. S. 227.

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kraft des Marktes setzten und Staatsinterventionen ablehnten, sah Wiener das kapitalistische Wirtschaftssystem: „Es gibt einen in vielen Ländern üblichen Glauben, der in den Vereinigten Staaten in den Rang eines offiziellen Glaubensartikels erhoben wurde, dass nämlich der freie Wettbewerb selbst ein homöostatischer Prozess ist, dass in einem freien Markt die individuelle Selbstsucht der Händler – aus der jeder versucht, so teuer wie möglich zu verkaufen und so billig wie möglich einzukaufen – am Ende zu einer stabilen Preisdynamik führen und zum größten allgemeinen Nutzen beitragen wird.“

Dieses Dogma werde mit der „bequemen Ansicht verbunden, dass der einzelne Unternehmer durch das Streben, sein eigenes Interesse wahrzunehmen, auf irgendeine Art ein öffentlicher Wohltäter ist und so die großen Belohnungen verdient, mit denen ihn die Gesellschaft überschüttet.“ Unglücklicherweise stehe jedoch die Wirklichkeit dieser „einfältigen Theorie“ entgegen. Aus Wieners Sicht ist der Markt „ein Spiel, das tatsächlich in dem bekannten Gesellschaftsspiel ‚Monopoly’ ein Beispiel hat“. Er könne deshalb nicht nach dem Paradigma einer dynamischen Homöostase, sondern nur nach der „allgemeinen Theorie der Spiele (…), die von Neumann und Morgenstern entwickelt wurde“ verstanden werden: „Es ist das Marktspiel, wie es zwischen vollkommen intelligenten, vollkommen erbarmungslosen Teilnehmern gespielt wird. (…) In vielen Fällen jedoch, in denen es drei Spieler gibt, und in der überwältigenden Mehrzahl von Fällen, bei denen die Spieleranzahl groß ist, ist das Resultat von extremer Unbestimmtheit und Instabilität."52

Die einzelnen Spieler würden aufgrund von Habgier Bündnisse schließen, und so entstünde ein „Gewirr von Verrat, Abtrünnigkeit und Betrug“53, in dem „Lügenhändler“ und „Ausbeuter der Leichtgläubigkeit“54 den Gewinn davon tragen würden. Mit der kybernetischen Reformulierung des Prinzips der homöostatischen Selbstregulierung verallgemeinerte Norbert Wiener dieses aus der physiologischen Laborforschung stammende Konzept in theoretisch stringenterer Weise als dies Cannon vermochte. Er übertrug es auf Lebewesen und Maschinen gleichermaßen, sah aber – anders als Cannon – in der Marktwirtschaft und im kapitalistischen Gewinnstreben das schroffe Gegenteil einer wirtschaftlichen Homöostase. Die „unsichtbare Hand“ des Marktes, welche auf wunderbare und gleichsam homöostatische Weise den individuellen Eigennutz in einen allgemeinen Wohlstand transformierte, war aus Wieners Optik ein schlechter Witz. VI: Homöodynamik? Herausforderungen für die „Stasis“ Dass die Resonanz und der allgemeine Erklärungsanspruch der Theorie der homöostatischen Selbstregulation beschränkt blieben, ist allerdings vor allem auf 52 S. 227f. Wiener nimmt Bezug auf: John von Neumann, Oskar Morgenstern: Theory of Games and Economic Behavior, Princeton N.J.1944. 53 Wiener, Nachrichtenübertragung, S. 228. 54 Ebd. S. 230.

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theoretische Innovationen zurückzuführen. So hat eine ganze Reihe von Neurowissenschaftlern und Physiologen, unter ihnen Francisco Varela und Humberto R. Maturana, dafür plädiert, statt von Homöostase neu von „Homöodynamik“ zu sprechen. Dabei wurde vor allem die Cannon’sche Vorstellung einer „Konstanz der Lebensbedingungen“ bzw. der „maintanance of constant state“ kritisiert. Wenn mit Stasis der Stillstand eines sich selbstregulierenden Systems bezeichnen würde, müsste sich ein solcher Begriffswechsel tatsächlich aufdrängen. Es ließe sich dann – etwa mit dem Sportphysiologen Hans-V. Ulmer – von einer „Beinahe-Tautologie“ von „homöo“ und „stasis“ sprechen und konstatieren, dass beide mit einer dynamischen Vorstellung von Leben nicht kompatibel sind: „Wenn ein biologisches System homöostatisch im Sinn von konstant oder gar ultrastabil ist, dann ist es tot. Streuung, Variabilität und Dynamik sind nämlich Kennzeichen lebender Systeme.“55

Dass sich die Anregung nicht voll durchgesetzt hat und dass heute eine Koexistenz beider Begriffe in der Forschungsliteratur anzutreffen ist, hängt damit zusammen, dass die Vertreter eines Homöostase-Konzepts keineswegs eine solche reduzierte Sicht vortrugen, sondern gerade diese dynamischen Anpassungsprozesse im Auge hatten. So spricht Walter B. Cannon davon, dass „eine leichte Instabilität […] die notwendige Bedingung für die tatsächliche Stabilität des Organismus“56 sei und dass die Bezeichnung Homöostase gerade nichts „Festgelegtes und Immobiles“ impliziere.57 „Konstanz“ wird hier direkt auf „Streuung, Variabilität und Dynamik“ bezogen, jedoch insofern in einem restringierenden Sinne, als davon ausgegangen wird, dass diese Mechanismen einer „Selbstregulierung“ die systembedrohende Exkursion bestimmter Werte erfolgreich zu verhindern vermag. Cannons These einer Hierarchie der Stabilitätsbedingungen, wonach einige Funktionen (wie z.B. die Frequenz des Herzschlages) sehr flexibel sein müssen, um andere Werte (z.B. der Sauerstoffgehalt des Blutes) zu stabilisieren, geht von einer dynamischen Interaktion von Prozessen im Gesamtphänomen der körperlichen Homöostase aus; sein Konzept der „emergency states“ sieht weiter vor, dass der Körper seine interne Funktionsweise unter bestimmten Stressbedingungen autonom adaptiert und z.B. Sauerstoff aus ansonsten regelmäßig versorgten Körperteilen abzieht, um die absolut vitale Versorgung des Hirns zu gewährleisten. Es gibt im Modell von Cannon also Kippzustände, in dem der eine, auf Dauer gestellte, dynamische Integrationsmodus in einen andern wechselt, der „Notfallfunktionen“58 mobilisiert und unter extremen Bedingungen für eine beschränkte Zeit die physiologische Regulation übernimmt. Selbstverständlich behaupten auch Vertreter einer homöo55 Hans-V. Ulmer: Überlegungen zu physiologischen Normalwerten auf dem Hintergrund von Homöostase und Teleologie. http://www.uni-mainz.de/FB/Sport/physio/pdffiles/304manus. pdf 56 Cannon, Wisdom, S. 21. 57 Ebd. S. 24. 58 Diesen Begriff verwendet Cannon schon in Wut, Hunger, S. 151ff.

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dynamischen These nicht, dass ein lebender Organismus seine Innentemperatur oder andere physiologische Parameter beliebig „dynamisieren“ könne; auch hier wird von einer relativen Konstanz verschiedener Werte – insbesondere der Körpertemperatur – ausgegangen. Was die Protagonisten einer Homöodynamik jedoch vorschlagen, ist eine Verschiebung der Aufmerksamkeit. Während Cannon die „Perfektion der Aufrechterhaltung eines stabilen Zustandes“59 bewunderte und sein Augenmerk auf Durchschnittsphänomene konzentrierte, richtet sich der „homöodynamische Blick“ auf das Nicht-Durchschnittliche. Es geht um die Interpretation der Amplituden und der rhythmischen Muster der Abweichung, die, wenn sie denn einmal zum Hauptgegenstand der Analyse gemacht worden sind, überall in Erscheinung treten. In der Begriffsveränderung drückt sich damit eine Verlagerung des Erkenntnisinteresses aus. Dies geht mitunter in eine regressive Richtung. Etwa dann, wenn die Plädoyers für die Homöodynamik mit lebensphilosophischen Untertönen und einem Hohelied auf „Alles fließt, alles schwingt“ vorgetragen werden. Wegleitend ist hier das Diktum des Lebensphilosophen Ludwig Klages: „Der Takt wiederholt, der Rhythmus erneuert“. Die wissenschaftliche Beschreibung der Mechanismen des Lebens wird auf dem Altar des „Lebensrhythmus“ geopfert, der so in einen (zivilisationskritischen) Gegensatz zum Maschinentakt gerät: „Der Takt ist starr und tot, der Rhythmus, die Melodie des Lebens, ist elastisch und entwicklungsfähig.“60 In solchen romantischholistischen Formeln verschwindet der kognitive Impetus, den Cannon mit seinem Konzept der Homöostase freisetzte und später Canguilhem einforderte, wiederum im Sumpf teutonischen Einheitsdenkens. Weiterführend ist hingegen eine These, die Stabilität und Dynamik, mithin Homöostase und –dynamik in einen direkten Zusammenhang bringt. So stellt Carl Woese, der als Biologe maßgeblich zum heutigen Verständnis des Lebens und der Evolution beigetragen hat, fest: „Es wird zunehmend klar, dass wir, um lebende Systeme im tiefen Sinne zu verstehen, diese nicht materialistisch als Maschinen, sondern als stabile, komplexe und dynamische Organisationen verstehen müssen.“61

VII: Forschung im Fluss: das Chemoton als „fluider Automat“ Ernst zu nehmen sind zudem Einwände, die sich aus konzeptionellen Erweiterungen der Vorstellungen, was Leben ist, ergeben. Wiener schrieb in seiner Einführung in die Kybernetik:

59 Ebd. S. 23. 60 Frank Meyer: Im Rhythmus liegt die Kraft. Die Bedeutung von Rhythmen für Leben und Gesundheit – Teil 1, in: magazin info3 (Rudolf Steiner), Juli 2005: http://www.info3.de /ycms/printartikel_1522.shtml 61 Zitiert nach: Freeman J. Dyson: „Our Biotech Future“, in: The New York Review of Books LIV (2007) Nr. 12, S. 4–8, hier S. 6.

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„Zwei der Phänomene, die wir als charakteristisch für lebende Systeme ansehen, sind die Fähigkeit zu lernen und die Fähigkeit, sich selbst zu reproduzieren, d.h. sich fortzupflanzen.“62 (241)

Was letzteres betrifft, so publizierte 1944 der Physiker Erwin Schrödinger seine wegleitende Schrift „Was ist Leben?“, in der er nach der physikalischen Struktur der genetischen Information, nach dem „stofflichen Träger des Lebens“63 fragte und das Konzept der „negativen Entropie“ entwickelte. Wenn er von der „erstaunlichen Gabe eines Organismus“ spricht, „einen ‚Strom von Ordnung’ auf sich zu ziehen und damit dem Zerfall in atomares Chaos auszuweichen [und] aus einer geeigneten Umwelt ‚Ordnung zu trinken’„64, dann ist dies die Anwendung einer „flüssigen“ Metaphorik auf einen neuen Problemtypus, der die Gesetze der Thermodynamik auf informationstheoretische Fragestellungen bezog. Das Nachdenken drehte sich um die Frage, wie Organismen es bewerkstelligen, aus Ordnung wiederum Ordnung zu schaffen, wobei es weniger um das milieu interieur und die metabolische Homöostase als um den genetischen „Bauplan“ des Lebens geht. Am Ende des Zweiten Weltkrieges war klar, dass der genetische Code, der Genotyp, in der DNS zu lokalisieren sei, und es setzte jenes Wettrennen um plausible Erklärungsmodelle ein, das die beiden Forscher Watson und Crick mit ihrem phänomenalen Modell der Doppelhelix 1953 für sich entschieden.65 Solche Fragen stellte Cannon nicht, wie er sich überhaupt mit der Reproduktionsfähigkeit lebender Organismen kaum befasst hat. Die Konzeption einer „fluiden Matrix“ bot keinen Zugang dazu. Dennoch fehlt eine evolutionstheoretische Perspektive nicht. Offenbar – so stellt er in „Die Weisheit des Körpers“ fest – hat das unstabile Material, aus dem wir gemacht sind, irgendwann den Trick gelernt, Stabilität aufrechtzuerhalten; er fügt dann bei, das Wort „gelernt“ sei nicht unberechtigt, denn die Fähigkeit zur homöostatischen Selbstregulierung unter stark sich verändernden Bedingungen sei „die Konsequenz einer graduellen Evolution“.66 Es gab allerdings immer wieder Versuche, diese verschiedenen Aspekte zusammenzudenken und in ein heuristisches Modell des Lebens zu integrieren, das Resultate aus verschiedenen Forschungsfeldern zu verknüpfen imstande ist. Aus der Verbindung von evolutionstheoretischen und physiologischen Fragestellungen entwickelte sich so eine doppelte Charakterisierung des Lebens, das als Kombination von zwei Prozessen verstanden wurde. Während der eine für die Homöostase, d.h. für die dynamische Selbstregulierung durch ein Fließgleichgewicht verantwortlich ist, steuert der andere die sequenzielle Abfolge der verschiedenen Lebensphasen eines Individuums. Der erste, der homöostatische Prozess ist inkarniert im Metabolismus, durch den sich ein lebendiger Organismus stabilisiert. Dies auch durch die Produktion „negativer Entropie“ in einem 62 63 64 65 66

Wiener, Nachrichtenübertragung, S. 241. Erwin Schrödinger: Was ist Leben? München / Zürich 1993 (erstmals 1944), S. 34. Ebd. S. 134. Siehe dazu: Evelyn Fox Keller: Das Jahrhundert des Gens, Frankfurt a. M. 2001. Cannon, Wisdom, S. 23.

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andauernden Stoffwechselprozess, mit denen der Organismus imstande ist, die Zeit (im Sinne einer Irreversibilität von Vorgängen) aufzuheben. Es zeigt sich, dass die homöostatische Selbstregulation auf repetitiven, reiterativen und somit reversiblen Routinen basiert. Diese dienen dem andauernden und dynamischen Ausgleich von Ungleichgewichten und können als fortgesetztes Oszillieren um ein virtuelles Optimum beschrieben werden. Der zweite Prozess ist durch die Gene bzw. einen „genetischen Code“ gesteuert.67 In diesem Bereich hat sich die Forschung inzwischen stark diversifiziert; es werden nicht nur die Basismechanismen der dreidimensionalen Exprimierung von Genen, die über „Eiweißfabriken“ läuft, untersucht, sondern auch die „Mastergene“, welche das An- und Ausklicken ganzer „Genbatterien“ kontrollieren sowie die epigenetischen Feedbackloops, durch welche sich Umweltbedingungen und ökologische Dynamiken in den Vererbungsprozess „einschreiben“ können. Auch wenn in diesem experimentellen Feld gerade vieles im Fluss ist, so lässt sich doch feststellen, dass die Morphologie und Lebensdauer eines Organismus, d.h. seine singuläre Zeit, sein Auftreten und Verschwinden im Reich des Lebenden, durch einen Vererbungsprozess fixiert ist. Diese doppelte Natur des Lebens auf phänotypischer Ebene – einerseits unendliches (da zeitenthobenes) Fliessen, andererseits endliche (da zeitgebundene) Verlaufsform von Geburt zu Sterben – wurde in der Nachkriegszeit durch eine ganze Reihe von Biologen (etwa von Tibor Gánti, John Mainard Smith und Freeman Dyson) bestätigt. Es lassen sich auch Versuche ausmachen, die beiden Aspekte aufeinander zu beziehen und den Aufbau der körperlichen „Hardware“ für die physiologischen Regulationsvorgänge ontogenetisch zu klären. So bemerkt der Physiologe Edward F. Adolph in seiner 1968 erschienenen Studie zu diesem Thema, es brauche „Hunderte von Funktionen oder Tätigkeiten“, um ein neues Individuum entstehen zu lassen. Wenn und wie jede von diesen zustande komme, hänge von eingebauten „regulatorischen Arrangements“ ab, deren Inkrafttreten von einem spezifischen Zeitmuster abhänge. Cannon habe zwar festgestellt, dass die Homöostase „beim Start“ eines Individuum noch unstabil sei, die Frage, wie sich allgemeine Muster in der Entwicklung von Regulationsmechanismen ausbildeten und einspielten, nicht weiter verfolgte.68 Der ungarische Biochemiker und theoretische Biologe Tibor Gánti entwickelt Ende der 60er, anfangs der 70er Jahre diese Doppeltheorie des Lebens in einer triadischen Konzeption weiter, die er „Chemoton“ nennt.69 Dieses ist kein 67 Auf das Problem der Sprachmetaphorik der Genetik geht ein: Lily E. Kay: „Wer schrieb das Buch des Lebens? Information und Transformation der Molekularbiologie“, in: Michael Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2001, S. 489–523. Siehe auch: Ders.: Who Wrote the Book of Life? A History of the Genetic Code, Standford 2000. 68 Edward Frederick Adolph: Origins of physiological regulations, New York 1968, S. 10. Bei Cannon, Wisdom, S. 202ff. gibt es allerdings ein Kapitel über das Altern homöostatischer Mechanismen. 69 Vgl. zusammenfassend: Tibor Gánti: The principles of life, Oxford: Oxford University Press 2003 (with a commentary by James Griesemer and Eörs Szathmáry).

„Fluide Matrix“ und „homöostatische Mechanismen“

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Realtyp, sondern hat eine heuristische Funktion; es stellt ein abstraktes Modell der einfachsten chemischen Maschine dar, welche alle zentralen Charakteristiken des Lebens aufweist. Gánti schlug zunächst eine (neue) Theorie chemischer Zyklen auf der Grundlage einer zyklischen Stöchiometrie vor und adaptierte kybernetische Konzepte, die davon ausgehen, dass alle lebenden/lebendigen Systeme einen autokatalytischen Prozess aufweisen und auf einer metabolischen Netzwerkstruktur basieren, die durch eine „metabolic flux analysis“ sicht- und nachvollziehbar gemacht werden kann.70 Der Metabolismus als Energieumwandler ist zwar ein Einwegsystem, das nur in eine Richtung – von der chemisch in der Nahrung gespeicherten Energie zur Wärme bzw. kinetischen Energie (Arbeit) – läuft. Doch die Repetitivität dieses Vorgangs im Prozess der Aufnahme von Nahrung, Wasser und Sauerstoff (um die Inputs für die bekanntesten Formen des Lebens zu erwähnen) löst nicht abbrechende Anpassungsprozesse aus, die auf homöostatischen Mechanismen beruhen. Dadurch entsteht ein funktionales Ensemble, das als Maschine, welche durch enzymatische Prozesse Energieströme zu manipulieren in der Lage ist, beschrieben werden kann. Damit ein Chemoton als sich selbst regulierender „fluider Automat“71 funktionieren kann, ist es zwar an Materie gebunden, muss aber nicht notwendigerweise feste Bestandteile enthalten. Vielmehr laufen alle Kontroll- und Regulationsprozesse in Flüssigphasen und werden durch chemische Mechanismen gesteuert. Damit dies möglich ist, muss nun neben dem metabolischen und dem genetischen Subsystem ein drittes hinzukommen ein grenzziehendes und -erhaltendes. Gántis Minimaldefinition des Lebens basiert also auf drei Komponenten: Erstens auf dem Metabolismus (der die homöstatische Selbstregulation gewährleistet), zweitens auf den Genen (welche die Ablaufsequenz programmieren und den Informationstransfer kontrollieren) und drittens auf Membranen (welche den Raum kompartementalisieren und die Existenz des Organismus stabilisieren).72 Mit diesen drei Elementen kann das Problem der „biologischen Autonomie“73 des Lebens gelöst werden: Organismen sind Interaktoren, die – wie man seit den 1960er Jahren sagt – auf einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis von Struktur und Funktion beruhen und die – wie dann seit den 1970er Jahren erklärt wird – zur autopoietischen Selbstorganisation fähig sind. Leben ist damit die materiegebundene und zyklische Realisation chemischer Automaten, die über „absolute Lebenskriterien“ (inhärente Einheit, metabolische Funktionalität und strukturelle Stabilität) hinaus auch eine Potentialität aufweisen, die sich an ihrer Reproduktionsfähigkeit festmacht. Evolutionsgeschichtlich ist die Erkenntnis wichtig, dass die funktionale Trinität des Chemotons, das aufgrund seiner potentiellen Kapazität als Reproduzent seiner selbst fungieren kann, sich

70 71 72 73

Gantì, The Principles, S. 164f. Kommentar von James Griesemer and Eörs Szathmáry, in: Ebd. S. xiii. Gánti, The Principles, S. 162 und 179. Ebd. S. 163.

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nicht kompakt entwickelt hat, sondern dass hier drei verschiedene Replikanten ins Spiel kommen, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben können.74 Es wäre somit falsch, den Evolutionsprozess von heute her zu interpretieren. Eine solche Teleologie verstellt die Einsicht, dass bei der Reproduktion von Leben nicht immer DNA im Spiel gewesen sein muss. Die DNA-codierte Vererbung ist als eine emergente Eigenschaft in einem Milliarden Jahre alten Evolutionsprozess zu betrachten.75 Naturwissenschaftler wie Carl Woese und Freeman J. Dyson gehen inzwischen davon aus, dass es eine lange „vordarwinsche“ Phase mit horizontalem Gentransfer gegeben habe, in der das Leben eine „gemeinsame Angelegenheit“ gewesen sei, bevor die Arten ihre „chemischen Tricks“ und ihre Erfindung katalytischer Prozesse nicht mehr an andere weitergaben, womit dann – vor etwa drei Milliarden Jahren – die Darwinsche „Entstehung der Arten“ einsetzte, die Dyson deshalb als „Darwinsches Zwischenspiel“ charakterisiert, weil er davon ausgeht, dass der homo sapiens sapiens an der Schwelle zum dritten Jahrtausend die technologischen Grundlagen für eine neue Ära eines horizontalen Gentransfers mit ungeahnten Möglichkeiten eingeleitet habe.76 VIII: Metaphernanalyse und Wissensgeschichte Was diese Reflexion über die Erklärbarkeit des Lebens klar macht, ist vor allem dies: Der Diskurs über das Leben schöpft aus denselben metaphorischen Arsenalen, derer sich auch viele alltägliche Ausdrucksformen und Sprechweisen bedienen. Auch wenn es konstitutiv zur Wissenschaft gehört, dass sie sich von der nichtwissenschaftlichen Sphäre abhebt und auf die Nichtverständlichkeit vieler Naturgesetze in der Erfahrungswelt des Common sense verweist, so sind diese beiden Bereiche doch vielfältig verschränkt über Bildersprachen, Sprachbilder, Metaphern und Metonymien. Vielen wissenschaftlichen (und damit esoterischen) Theorien ist das Schicksal widerfahren, dass sie im Alltag (und damit exoterisch) eingeholt wurden und in dieser Bedeutungsverschiebung die semantischen Ausläufer ihrer eigenen Genealogie erkennen konnten. Das demonstrierte die Bakteriologie im ausgehenden 19. Jahrhundert mit ihrer beklemmenden FreundFeind-Rhetorik ebenso wie das optimistisch grundierte Sprechen über Selbstregulation seit den 1930er Jahren. Aufgrund der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen „Präideen“ (Ludwik Fleck) und szientifischen Konzepten hat das Nachdenken über das Leben immer wieder zur Verflüssigung starrer Vorstellungswelten beigetragen.77 In allen Bereichen der Gesellschaft, in allen sozialen Subsystemen 74 75 76 77

Ebd. S. 165. Ebd. S. 180. Dyson, Our Biotech Future. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 1980 (erstmals 1935).

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wurde der Mainstream hegemonialer Vorstellungen immer wieder mit kognitiven Variationen angereichert, die in anderen gesellschaftlichen Problemfeldern auf fruchtbare Rezeptionsbedingungen stießen und damit über einen Selektionsvorteil verfügten, der ihnen rasche Ausbreitung und enorme Resonanz sicherten. So ist das Verlaufsmodell des Lebens, das von einer Geburt zu einem Tod reicht, noch immer dabei, politische Aufstiegs- und Niedergangszenarien zu beleben. Ebenso wie das Bild des menschlichen Körpers als eines „Motors“, das einen Zugang zur Evaluation psycho-physiologischer Performanz eröffnet. Der kategoriale Zusammenhang von Funktion und Struktur wiederum zieht sich durch verschiedenste soziale Problemstellungen hindurch und präformiert Lösungsvorschläge.78 Die Sprache der Selbstorganisation hat ebenfalls nicht aufgehört, Argumentationsmuster im Rechtssystem, in der Wirtschaft sowie in der Politik zu prägen. Es ist nach wie vor verführerisch, sich in einer „fluiden Matrix“ des Lebens zu wähnen und auf homöostatische Anpassungsmechanismen zu vertrauen, die verhindern, dass die Gesellschaft, die „aus außerordentlich unstabilem Material gemacht ist“, zusammenbricht oder katastrophal aus dem Ruder läuft. Ob dieses „flüssige Weltbild“, das in der Entstehungsgeschichte des Lebens im Wasser angelegt ist und das ein wie auch immer geartetes Fluidum als konstitutiv für Leben betrachtet, nun durch die mögliche Wiederkehr eines horizontalen Gentransfers ausgetrocknet werden wird, mag ebenso dahin gestellt sein wie die Triftigkeit dieser technoiden Hypothese. Wichtig ist hingegen die Einsicht, dass dieser horizontale Ideentransfer und der kulturelle Austausch, welche die Geschichte der Menschen seit ihren Anfängen begleitet haben, dieselben Ambivalenzen aufweisen wie das Nachdenken über das Leben: es hat immer gleichzeitig produktive Analogien und schiefe Homologien hervorgebracht.

78 Vgl. dazu: Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998.

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HOMÖOSTASE IM AUFBAU DER PERSON Der Philosoph Edmund Husserl hatte als junger Mathematikstudent in Berlin ein merkwürdiges Erlebnis, das ihn bis ins Alter als Leitbild für philosophische Überlegungen begleitete. Im Panoptikum schlendernd, begegnete er einer liebenswürdig lächelnden, freundlich winkenden Dame, an der irgend etwas nicht stimmte, bis er bei genauerem Hinblicken bemerkte, dass es sich um eine Puppe handelte. In der Zwischenzeit zweifelte er keineswegs, ob da eine Puppe oder eine Dame sei; vielmehr durchdrangen sich ihm beide unvereinbaren Anmutungen einen Augenblick lang anschaulich zu einer von den „zwitterhaften Überschiebungen und wechselhaften Veränderungen von Erscheinungen im Streite verschiedener Auffassungen“1, die ich als Beispielsfälle eines Mannigfaltigkeitstypus auffasse, den ich als instabile oder ambivalente Mannigfaltigkeit bezeichne: Mehrere Einzelwesen konkurrieren um Identität mit denselben Einzelwesen. (Als einzeln oder numerisch eines bezeichne ich, was eine Anzahl um 1 vermehrt.) Die Konkurrenz braucht kein so aufdringlicher Konflikt, aber auch kein leicht entlarvbarer Schein zu sein; dafür zeugt der Fluss der Zeit, der darin besteht, dass die Gesamtvergangenheit (die Masse alles Vergangenen) beständig wächst, die Gesamtzukunft beständig schrumpft und die Gesamtgegenwart beständig wechselt, indem sie sich in die Zukunft gleichsam hineinfrisst und dadurch die Verschiebung bewirkt, dass immer mehr vergangen und immer weniger zukünftig ist (auch wenn die Zukunft unendlich sein sollte). Durch diesen Fluss der Zeit, den jeder unwidersprechlich erfährt, wenn er bemerkt, dass etwas vorbei ist und Neues kommt, wird die Zeit, da jeder Prozess in ihr stattfindet, zu einem Prozess in sich mit der Gegenwart an der Spitze. Wie bei jedem unabgeschlossenen Prozess kann man nach seinem Stand fragen und mit einem Datum nebst Uhrzeit antworten. Da aber zu jeder Zeit der Fluss der Zeit genau zu dieser Zeit ankommt, ist die Antwort tautologisch und nichtssagend, wenn nicht hinzugefügt wird: Der Fluss der Zeit mit der Gegenwart an die Spitze kommt gerade jetzt an, zu dieser so und so datierbaren, gerade gegenwärtigen Zeit. Die Gegenwart kommt also bei oder in der Gegenwart an. Ist beides dieselbe Gegenwart? Wohl nicht, denn bei sich selbst anzukommen, wäre kein Prozess. Ist es eine andere Gegenwart? Auch 1

Edmund Husserl: Phänomenologische Psychologie (Husserliana Band 9), Haag 1962, S. 195. Sein persönliches Erlebnis erwähnt Husserl in Husserliana Band 11, S. 350f. und Band 23 S. 423; gedankliche Verarbeitungen (auch mit Übertragung der Szene in ein Schaufenster) stehen in Band 11 S. 33–36 und 430 sowie in: Logische Untersuchungen, 2. Band 1. Teil, 4. Auflage 1928 S. 443, und in: Erfahrung und Urteil (von Edmund Husserl und Ludwig Landgrebe), Hamburg 19542, S. 99–101.

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nicht, denn Gegenwart ist jetzt, und die Spitze des Flusses der Zeit wäre nicht Gegenwart (mit der Vergangenheit im Gefolge), wenn sie nicht gerade jetzt wäre. Die ankommende Gegenwart und die Gegenwart, bei der sie ankommt, konkurrieren also um Identität mit derselben Gegenwart und fallen doch nicht zusammen. Dies ist ein weiterer Fall von instabiler Mannigfaltigkeit. Man kann ihn nebst vielen anderen Rätseln der Zeit wegwischen, indem man nach dem Rat vieler Philosophen, Theologen und Physiker den Fluss der Zeit trotz der unausweichlichen Erfahrung für Schein erklärt und sich auf die reine Lagezeit der Physik zurückzieht, in der es nur Verhältnisse zwischen dem Früheren und dem Späteren (oder Gleichzeitigen) gibt, aber keinen Übergang vom Nichtseienden (Nochnichtseienden) ins Seiende und von da ins Nichtseiende (Nichtmehrseiende). Dieser bequeme Ausweg hätte eine fatale Folge: Der Mensch könnte nicht mehr denken. Verhältnisse sind nämlich zweiseitig oder mehrseitig und daher als solche dem menschlichen Geist unzugänglich, der nur diskursiv oder linear zu denken vermag, indem er die vielseitigen Verhältnisse in gerichtete Beziehungen von etwas zu etwas aufspaltet. Wie soll er die Richtung finden, um in die Verhältnisse spaltend einzudringen? Er hat dafür kein Mittel als den (kurzen) Fluss der Zeit, der nötig ist, um gleichsam im Sprung von einem Glied zum anderen überzugehen. Dass die Verhältnisse sich nicht bloß mit einem Schlage darbieten, sondern der Fluss der Zeit den in ihnen verweilenden Gedanken in eine Richtung führt, das erst erlaubt es dem Menschen, zu denken. Er benötigt dafür sowohl den Fluss der Zeit als auch das Panorama der lagezeitlichen Verhältnisse, die dem Fließenden den festen Hintergrund des Früheren und Späteren verleihen. Beides zusammen ist die Zeit, indem die reine Lagezeit und der Fluss der Zeit um Identität mit der Zeit konkurrieren. Nicht nur die Gegenwart im Fluss der Zeit ist instabil mannigfaltig, sondern auch die Zeit selbst als Konkurrenz der Lagezeit und des Flusses der Zeit um Identität mit ihr. Beide Konkurrenten um Identität mit der Zeit bringt erst der Mensch zusammen, wenn er (bei normaler Entwicklung seit der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres) zur Person wird, denn vorher ist ihm zwar schon der Fluss der Zeit in der Weise vertraut, dass etwas vorbei ist und Neues kommt, aber die lagezeitliche Gliederung der Zeit durch frühere und spätere Daten bietet sich erst der Person dar. Eine Person ist – gemäß der Definition, die sich mir erst nach der Veröffentlichung meines Buches „Die Person“2 ergeben hat – ein Bewussthaber (= Subjekt) mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, etwas für sich selbst zu halten; daraus ergeben sich die speziellen Fähigkeiten, die nach allgemeinem Urteil für Personen notwendig und zureichend sind: sich zu verantworten, sich Rechenschaft von sich zu geben, sich einen Platz in der Umgebung zu bestimmen oder ihn als vorbestimmten anzunehmen, für eine übernommene Rolle einzustehen und damit auch Person im juristischen Sinn zu sein, die für Rechtsgeschäfte kompetent ist. Diese für die Person fundamentale Selbstzuschreibung ist abermals eine Weise 2

Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band IV, zuerst Bonn 1980, als Studienausgabe 2005.

Homöostase im Aufbau der Person

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instabiler Mannigfaltigkeit. Sie verlangt nämlich eine Identifizierung eines durch gewisse Sachverhalte, Programme und Probleme charakterisierten Individuums als des Referens oder ersten Beziehungsgliedes mit einem Relat (dem zweiten Beziehungsglied), von dem, wenn die Zuschreibung eine Selbstzuschreibung sein soll, bereits bekannt sein muss, dass (in meinem Fall, und entsprechend in jedem anderen) ich es bin. Somit setzt die Selbstzuschreibung ein anderes Selbstbewusstsein voraus, das nicht wieder Selbstzuschreibung sein darf, weil es dann nur Zuschreibung an jemand wäre, von dem mir nicht bekannt wäre, dass ich er bin, und ich also in einem end- und sinnlosen Regressus nach mir suchen müsste. Ein Selbstbewusstsein, das nicht auf Selbstzuschreibung und überhaupt auf keiner Identifizierung beruht, ist allerdings im affektiven Betroffensein leicht zur Hand; wenn z. B. etwas mir weh tut, spüre ich sofort, dass ich selber leide, und brauche nicht erst einen Schmerz oder gar einen Schmerzbehafteten aufzulesen und mit mir zu identifizieren. Aber der bloße Hinweis auf affektives Betroffensein macht noch nicht verständlich, wie das Selbstbewusstsein um die in der Identifizierung enthaltene Doppelung herumkommt, weil es selbst noch doppelseitig ist, als Betroffensein von etwas. Das Selbstbewusstsein ohne Selbstzuschreibung muss seine Wurzel in einem Sichspüren haben, das keiner Identifizierung bedarf, weil Identität – verstanden als die Eigenschaft von etwas, es selbst zu sein, nicht schon als Beziehung auf sich – und Subjektivität (dass es sich um mich handelt) zusammenfallen. Das ist der Fall beim plötzlichen Betroffensein, z. B. von heftigem Schreck. Man ist schockiert, leiblich spürbar extrem beengt, ohne Aussicht auf Subsumtionen aller Art einschließlich alles dessen, was man für sich selbst halten könnte, zugleich aber durch eine Enge ohne Spielraum auf etwas als es selbst festgelegt und als man selbst in Anspruch genommen, so dass beides – Identität und Subjektivität – in der Enge zusammenfallen. Solche Ereignisse sind selten, aber als Aussicht angelegt in der Engungskomponente des vitalen Antriebs. Der vitale Antrieb – ich nenne ihn „vital“, weil ihn seine Reizempfänglichkeit und seine Zuwendbarkeit zu Reizen zur vollen Vitalität ergänzen – ist in reiner Form z. B. am Einatmen beobachtbar und besteht in kompakter oder rhythmischer Konkurrenz von Engung und Weitung; wenn nämlich die Engung aus dem Verband ausschlägt, wie im Schreck, ist der Antrieb gelähmt oder erstarrt, und wenn die Weitung ausläuft, wie beim Einschlafen, beim Dösen oder nach der Ejakulation, ist er erschlafft. Der vitale Antrieb vermittelt also die Spur der Wurzel alles Selbstbewusstseins, wo Identität und Subjektivität im plötzlichen Betroffensein zusammenfallen, an das gewöhnliche Leben, in dem Reize empfangen werden, denen der Antrieb sich zuwendet. Die Person bringt demnach für ihre Selbstzuschreibung als unentbehrliche Voraussetzung ein Selbstbewusstsein ohne Selbstzuschreibung mit, das sie durch Vermittlung des vitalen Antriebs und des affektiven Betroffenseins aus dem plötzlich engenden Betroffensein schöpft, auch wenn sie dieses nur kennt und nicht gerade aktualisiert. Das identifizierende Selbstbewusstsein ist von diesem Selbstbewusstsein ohne Selbstzuschreibung nicht trennbar, weil sonst kein Relat der Selbstzuschreibung zur Verfügung stünde. Also ist das personale Selbstbewusstsein auf einen Schlag ein Selbstbewusstsein mit und ohne Selbstzuschrei-

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bung und damit ein weiterer Fall von instabiler Mannigfaltigkeit, in der identifizierendes und keiner Identifizierung bedürftiges und fähiges Selbstbewusstsein um Identität mit dem durch Selbstzuschreibung personalen Selbstbewusstsein konkurrieren. Von der Oberfläche des bloßen Tatsachenwissens, dass ein alter ausgedienter Professor namens „Hermann Schmitz“, den ich für mich halte, in der Welt herumläuft, erstreckt sich meine Selbstzuschreibung in die Tiefe eines Betroffenseins, aus dem sie ihre Möglichkeit gewinnt, auch wenn es nur latent vorschwebt und mir nicht eigens in den Sinn kommt. Diese Erstreckung zwischen den Polen objektivierender Identifizierung und erlittenen Betroffenseins verlangt einen Ausgleich der Schwankungsamplitude, und damit ist die erste Anwendung des Prinzips der Homöostase, der Einpendelung eines summarischen Gleichgewichts unter Schwankungen, im Aufbau der Person erreicht. Es handelt sich um das Pendeln zwischen den Polen der Subjektivierung und Objektivierung. Ich will zunächst erklären, in welchem Sinn ich diese Worte verstehe. Im plötzlich engenden Betroffensein fallen die fünf Momente hier, jetzt, ich, dieses (d. h. etwas mit der Identität, es selbst zu sein) und Sein (oder Wirklichkeit) zusammen; ich spreche dann von primitiver Gegenwart, die sich für die Person nach den fünf Seiten entfaltet: das absolute Hier zum Netzwerk relativer Orte mit Lagen und Abständen, das absolute Jetzt zur Lagezeit mit Fluss der Zeit, das bloß identische Ich des Betroffenseins zur einzelnen Person, die bloße Identität zur Einzelheit, die im Betroffensein widerfahrende Wirklichkeit zum Sein im Gegensatz zum Nichtsein. Alles dieses wird möglich durch die Ergänzung der bloßen Identität zur Einzelheit.3 Das Ergebnis dieser Entfaltung ist die Welt als entfaltete Gegenwart, worin der Mensch lebt, sofern er Person ist. Unterhalb dieses Lebens in entfalteter Gegenwart gibt es für ihn aber auch ein Leben in primitiver Gegenwart; es kommt aus mit vitalem Antrieb und leiblicher Kommunikation im Sinne einer Kontakte ermöglichenden Spreizung des Dialogs von Engung und Weitung, der den vitalen Antrieb ausmacht, über den Leib des jeweiligen Bewussthabers hinaus.4 Die Tiere und Säuglinge führen nur dieses Leben in primitiver Gegenwart. Mit dem Übergang vom Leben in primitiver Gegenwart zum Leben in entfalteter Gegenwart verbindet sich bei menschlichen Personen die Objektivierung der Neutralisierung der Bedeutungen. Das Wort „Bedeutung“ verwende ich in diesem Zusammenhang nur, um einen zusammenfassenden Kurznamen für Sachverhalte, Programme und Probleme zu haben; es ist also nicht an Wortbedeutungen zu denken. Alle Bedeutungen, die im affektiven Betroffensein vorkommen, sind subjektiv in dem Sinn, dass sie nicht für alle, sondern nur für den Betroffenen diese Bedeutungen sind; exakt präzisieren lässt sich diese Eigentümlichkeit dadurch, dass höchstens er – sehr oft niemand – sie sagen kann, während die Anderen bei Erfüllung gewisser Bedingungen so gut wie 3 4

Vgl. Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. / München 2005, S. 33–50, 56–61. Zur leiblichen Kommunikation vgl. z. B. Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003, S. 34–43.

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er darüber reden können. Das liegt an der Nuance des Nahegehens, die keiner den Anderen nachsprechen kann; wenn ich z. B. „Ich bin traurig“ sage, muss der Andere so etwas wie „Hermann Schmitz ist traurig“ sagen, und das ist weniger, weil das Wort „ich“ in „Ich bin traurig“ nicht als Pronomen fungiert, sondern als Anzeige der Subjektivität für mich, dass die Tatsächlichkeit der behaupteten Tatsache ausschließlich die meinige ist, während ich jenseits des affektiven Betroffenseins zwar nicht alle Tatsachen, wohl aber deren Tatsächlichkeit mit allen Anderen teile. Die Erhebung aus dem Leben in primitiver Gegenwart in das Leben in entfalteter Gegenwart ist für den Menschen zusammen mit der Vereinzelung die Personwerdung in der Weise, dass von einem Teil der Bedeutungen die vollblütige Subjektivität des affektiven Betroffenseins abfällt und sie zu bloß noch objektiven oder neutralen Bedeutungen verarmen, d. h. zu solchen, die jeder sagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Populär gesprochen: Solche Bedeutungen werden fremd oder versachlicht. Eine gute Gelegenheit dafür ist z. B. die Enttäuschung, durch die große Massen von Bedeutungen für jemand auf einen Schlag sowohl einzeln als auch fremd oder neutral werden können. Der Rückzug von den fremd (neutral) gewordenen Bedeutungen gibt der Person Gelegenheit, den Rest der nicht so neutral gewordenen Bedeutungen für sich zu behalten als eine Sphäre des Eigenen, zu der nicht nur Bedeutungen gehören, sondern auch Sachen anderer Art. Der Mensch, der beim Leben in primitiver Gegenwart nur Mitspieler leiblicher Kommunikation war und ist, wird so zum einzelnen Subjekt mit eigener Persönlichkeit und persönlicher Eigenwelt im Gegensatz zum Fremden. Das ist erst eine vage Andeutung, die ich nachher präzisieren werde. Zunächst will ich aber auf die Selbstzuschreibung zurückkommen, deren Fähigkeit für mich den Menschen zur Person macht. Sie setzt normalerweise bei neutralen, objektiven Bedeutungen an, bei Sachverhalten, die in einem beliebig verlängerbaren Steckbrief aufgereiht werden könnten; ich bin mir z. B. bewusst, ein alter ausgedienter Professor zu sein, oder ein Mann mit wenigen Haaren auf dem Kopf. Das ist allerdings nicht unerlässlich; es gibt auch Selbstzuschreibung ohne Neutralität dessen, was man sich zuschreibt, z. B. in schweren, bedrängenden Träumen, wenn das Bewussthaben in Angst, Verlegenheit und Sorge befangen ist. Dann ist aber nur kümmerliche, eingeengte Rechenschaft von sich möglich; da gerade die Rechenschaftsfähigkeit ein wesentliches Merkmal der Person ist, für das die Fähigkeit zur Selbstzuschreibung die Voraussetzung bildet, ist die Person im Vollsinn auf eine Selbstzuschreibung angewiesen, bei der objektive Bedeutungen zugeschrieben und dadurch subjektiviert werden. Diese Subjektivierung durch Selbstzuschreibung ist aber, wie gezeigt wurde, nur möglich, weil der Rückfall in primitive Gegenwart immer offen steht und als Möglichkeit vorgezeichnet ist. Die Neutralisierung von Bedeutungen als Ermöglichung des Eigenen im Gegensatz zum Fremden ist Abstandnahme von primitiver Gegenwart; ich spreche von personaler Emanzipation aus ihr. Die Resubjektivierung des Neutralen ist Rückgang ins affektive Betroffensein bis hin zum Rückfall in primitive Gegenwart oder wenigstens in Richtung auf sie hin; ich spreche von personaler Regression. Die Ambivalenz instabiler Mannigfaltigkeit,

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die nach dem Gesagten zur Selbstzuschreibung gehört, ist nicht statisch, sondern angewiesen auf ein dynamisches Fluktuieren von personaler Emanzipation und personaler Regression. Ohne dieses sukzessive Fluktuieren würde die Person auseinanderfallen in ein affektloses Leben in entfalteter Gegenwart (die „Welt als Vorstellung“ nach Schopenhauer) und ein affektiv betroffenes Leben in primitiver Gegenwart (die „Welt als Wille“ nach Schopenhauer), aber dann gäbe es gar keine Selbstzuschreibung, und niemand könnte mit guten Gründen sagen, dass er dieses oder jenes (z. B. Hermann Schmitz) ist. Eine Person wäre nicht vorhanden. Die Gegenläufigkeit von personaler Emanzipation und personaler Regression im Spielraum zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart ist ein Feld der Homöostase, der Einpendelung eines labilen Gleichgewichts, ohne das die Person sich zersetzen würde. Zwei Techniken des homöostatischen Ausgleichs in diesem Spielraum hat die Natur dem Menschen mitgegeben: das Lachen und das Weinen. Der Lachende lässt sich, bis hin zum Verlust der personalen Emanzipation und Selbstbeherrschung im hemmungslosen Lachen5, in ein Leben in bloß noch primitiver Gegenwart nahe bei dieser fallen und bewahrt in dieser Hinfälligkeit seine Souveränität in Gestalt der Zuversicht, dass der Schwung, womit er sich fallen lässt, ihn auf sein voriges Niveau personaler Emanzipation zurückbringen wird; deswegen vergleiche ich das Lachen mit der Bauchwelle am Reck. Eine zusätzliche Versicherung seiner Zuversicht baut der Lacher in Gestalt der Komik ein, wenn diese ihn zum Lachen veranlasst. Der „Trick“ des Komik-Lachens besteht in der Verdoppelung des Niveaus der personalen Emanzipation, indem statt des überlegenen Niveaus, auf dem sich der Lacher hält, das Niveau des Belachten der personalen Regression geopfert wird und der Lacher den eigenen Abfall von seinem Niveau auf dieses stellvertretende Opfer abschiebt; wenn beide Niveaus derselben Person zugehören, wird die Komik zum Humor. Das Weinen tritt ein, wenn die Person sich unter der Wucht eines bedrängenden Betroffenseins, z. B. von Unglück oder auch von Glück, auf ihrem Niveau personaler Emanzipation nicht halten kann und auf primitive Gegenwart hin fallen lässt, aber so, dass sie an dieser vorbei oder – im Extremfall – durch sie hindurch den Anschluss an die Weite findet, in die das engende plötzliche Betroffensein durch den vitalen Antrieb eingebettet ist, und in der Weitung des Sich-ausweinens ein diffuses Feld offener Möglichkeiten für den Wiederaufbau eines Niveaus personaler Emanzipation gewinnt. Auf diese Weise integrieren Lachen und Weinen die zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart gespreizte Person durch ein Zusammenwirken personaler Emanzipation und personaler Regression, wobei das Weinen dem Lachen dadurch überlegen ist, dass es nicht auf den in Reserve gehaltenen personalen Standpunkt zurückbiegt, sondern weiterführt zur Chance des Aufbaus eines neuen Niveaus personaler Emanzipation. In der Biographie der Person macht das Weinen Geschichte, das Lachen nicht. In beiden Fällen ist die Integration eine Homöostase des labilen Gleichgewichts der zwischen entfalteter und primitiver Gegenwart schwankenden Person. 5

Siehe als ein Beispiel: Odyssee 20, 345–349.

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Zur Stabilisierung dieses labilen Gleichgewichts dient der Person die Fassung. Fassung ist, was man verliert, wenn man die Fassung verliert. Jeder Mensch hat seine eigentümliche Fassung, oft mit vielen Schichten und Facetten. Sie besteht zum Teil aus Prägungen der Berufs- und Familienrolle, zum größeren Teil aber aus dem, was der Psychiater Jürg Zutt die innere Haltung nannte,6 mit Grundhaltungen wie Stolz, Liebenswürdigkeit, Bedächtigkeit, Jovialität, misstrauische Vorsicht, sanfte Bestimmtheit usw., die sich je nach Anlass in viele Einzelhaltungen auffalten. Unwillkürlich oder willkürlich stilisiert sich die Person durch ihre Fassung und schafft sich damit eine ihr gemäße Homöostase von personaler Emanzipation und personaler Regression. Weil diese Homöostase ein labiles Zusammenspiel nur festigt, bedarf sie selbst der Auspendelung. Wer seine Fassung starr festhält, verschließt sich und verhärtet; er verliert die Offenheit für vielsagende Eindrücke, an denen die Person in personaler Regression des Betroffenseins und personaler Emanzipation der Abstandnahme sich bilden kann. Das gilt besonders für die Begegnung mit anderen Bewussthabern als eine Spezialform leiblicher Kommunikation (wechselseitige antagonistische Einleibung), für deren Sensibilität, den Anderen am eigenen Leib zu spüren, das Schwingenlassen der Fassung der unentbehrliche Einsatz ist.7 Die Einstellung des Schwingenlassens der Fassung zwischen Starrheit und Preisgabe ist abermals eine Homöostase. Ein anderer Typ von Homöostase im Aufbau der Person tritt hervor, wenn ich auf die Andeutung zurückkomme, dass die Person durch Neutralisierung eines Teiles der ihr zugänglichen Bedeutungen am für sie subjektiv verbleibenden Rest eine Sphäre des Eigenen gewinnt. Bedeutungen liegen nicht von vorn herein einzeln vor; ich habe logisch zwingend bewiesen, dass es niemals zur Bestimmtheit von etwas als etwas käme, wenn alle Bedeutungen einzeln wären.8 Im Leben in primitiver Gegenwart sind sie sämtlich in Situationen eingebunden. Situationen, wie ich das Wort verstehe, sind Mannigfaltigkeiten, die ganzheitlich (d. h. zusammenhängend und abgehoben) geprägt werden durch eine binnendiffuse, d. h. nicht in lauter Einzelnes durchgegliederte, Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen. Beim Leben in primitiver Gegenwart scheint nichts davon einzeln zu werden. Situationen können aktuell oder zuständlich sein; aktuell sind sie, wenn sich ihr Verlauf in beliebig dichten Querschnitten wie von Augenblick zu Augenblick verfolgen lässt, und zuständlich, wenn dies nur nach längeren Fristen sinnvoll ist. Tiere und Säuglinge sprechen nur ganze Situationen an, indem sie diese mit Rufen und Schreien heraufbeschwören, modifizieren und beantworten; der Mensch verfügt als Person über die 6 7

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Jürg Zutt: Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze, Berlin / Göttingen / Heidelberg 1963, S. 1–88: Die innere Haltung. Hermann Schmitz: Leib und Gefühl, Paderborn 19922, S. 194–197; ders: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 19952, S. 148–151; Ders.: Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 137f.; Ders.: Was ist Neue Phänomenologie?, S. 39f., 170–173; Ders.: Hermeneutik leiblicher Expressivität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53, 2005, S. 339–347. Schmitz, Situationen und Konstellationen, S. 262f.

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explikative oder satzförmige Rede, die aus der Bedeutsamkeit von Situationen einzelne Bedeutungen heraushebt. Indem der Mensch sich als Person aus dem Leben in primitiver Gegenwart erhebt, nimmt er von dort Situationen mit, aber nun als Sphäre des Eigenen, die das Residuum der Neutralisierung ist, das sich ihm als einzeln gewordenem Subjekt anheftet. Das ist seine persönliche Situation, die sich durch Prozesse der personalen Regression und personalen Emanzipation, der Explikation und Implikation in Auseinandersetzung mit begegnenden vielsagenden Eindrücken das ganze Leben lang erweitert und umbildet; vielsagende Eindrücke sind impressive Situationen, d. h. solche, deren binnendiffuse Bedeutsamkeit im Augenblick ganz erfasst werden kann, wie z. B. Gefahren, auf die man sofort reagieren muss. Explikation ist Vereinzelung aus der persönlichen Situation, Implikation Einschmelzung in deren Binnendiffusion. Personale Regression expliziert, indem sie durch eindringliches affektives Betroffensein prägende vielsagende Eindrücke wie erratische Blöcke auszeichnet, und impliziert durch Eintauchen in das Leben in primitiver Gegenwart. Personale Emanzipation expliziert, indem sie neutralisierend Einzelnes heraushebt und verknüpft, und impliziert, indem sie durch Abstraktion Unterschiede verwischt. Das Vergessen als Verwandlung numerischer Mannigfaltigkeit von Einzelnem in pränumerische tut ein Übriges für die Implikation, die unerlässlich ist, damit die persönliche Situation ganz bleibt und nicht in ein Nebeneinander gehäufter Einzelpunkte zerfällt. Die persönliche Situation enthält eine unübersehbare Fülle partieller Situationen, die in Wechselwirkung in einander eingreifen, sich aber auch an einander reiben; sie lassen sich ganz grob in einen retrospektiven, prospektiven und präsentischen Anteil gliedern. Retrospektiv sind Situationen, die in der persönlichen Situation als Niederschlag von Erfahrungen nachwirken, prospektiv Situationen, die das vorzeichnen, worauf die Person hinaus und wovon sie weg will, und präsentisch die übrigen partiellen Situationen, z. B. Standpunkte, die Fassung, die Gesinnung, die Lebenstechnik, habituelle Interessen, die persönliche Sprache als Idiolekt auf dem Boden der Gemeinsprache. Dieses Geflecht partieller Situationen wird mit Energie versorgt durch die persönliche leibliche Disposition, namentlich den vitalen Antrieb, der verschiedene Formen der Bindung von Engung und Weitung zulässt und dadurch die persönliche Situation stark mitbestimmt; die Bindung kann kompakt sein oder rhythmisch schwingend mit Wechsel des Übergewichts oder zur Abspaltung von Anteilen der Engung und der Weitung aus dem Antrieb geneigt, und für alle drei Bindungsformen kommt es darauf an, ob die Engung oder die Weitung stärker ins Gewicht fällt. Die Person wird ihre zuständliche persönliche Situation, die man volkstümlich auch als die Persönlichkeit der Person bezeichnen kann, nicht los, obwohl sie unter sie abtauchen kann, wie es geschieht, wenn sie unter das Leben in entfalteter Gegenwart in bloßes Leben in primitiver Gegenwart versinkt wie bei allen gedankenlos routinierten Verrichtungen, oder wenn sie die Fassung verliert. Das Verhältnis der Person zu ihrer persönlichen Situation ist aber zweideutig. Einerseits ist ihr diese eine Hülle, in der sei lebt und wechselnde Niveaus personaler Emanzipation und personaler Regression durchmacht; andererseits ist sie

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ein schwer durchschaubarer Partner, nach dem sich die Person richten muss. Das wird besonders deutlich bei schwierigen Entscheidungen von großer Bedeutung für die Lebensführung, vor denen meist ein oft quälendes Hin- und Herwälzen des Für und Wider stattfindet, das nur eine Fassade ist für eine Art von Kneten der persönlichen Situation, damit sich herausstellt, was bezüglich der zur Entscheidung anstehenden Alternative zu ihr passt; wenn das – oft ganz plötzlich, bei unscheinbarem Anlass – gelingt, ist die Entscheidung gefallen, und das Argumentieren wird ruckartig eingestellt. Im Grunde ist das, nur weniger aufdringlich, die Struktur aller Willensbildung. Wollen ist zunächst einmal wissen, was man will, und dazu ist angesichts von Herausforderungen eine Befragung der eigenen persönlichen Situation erforderlich, die manchmal, wenn die Stimmen partieller Situationen sich reiben, so etwas wie eine diplomatische Intelligenz der Kompromiss- und Kompensationsbildung benötigt. Wenn die Explikation eines stimmigen Programms aus der persönlichen Situation gelungen ist, steht erst die Absicht fest; ob sie zum Wollen wird, hängt davon ab, ob die Zuwendung des vitalen Antriebs zu der Absicht gelingt. Die Homöostase, von der hier die Rede ist, betrifft also das Verhältnis der Person zu ihrer Persönlichkeit oder persönlichen Situation; sie ist erreicht, wenn sich die Person ihrer persönlichen Situation und deren Wandlungen glatt anpasst, so dass das Wollen leicht wird; im entgegengesetzten Fall aber ist sie verfehlt, besonders dann, wenn partielle Situationen in der persönlichen Situation undurchsichtig wühlen und so sich reiben, dass kein Ausgleich gelingt. Dann kommt die Stunde des Psychotherapeuten oder gar des Psychoanalytikers. Die persönliche Situation erschöpft nicht schon die Sphäre des Eigenen, die sich die Person durch personale Emanzipation zulegt. Das liegt daran, dass die persönliche Situation ganz oder fast nur aus Bedeutungen und deren binnendiffusen Ganzheiten besteht, abgesehen von der sie tragenden persönlichen leiblichen Disposition, die man der persönlichen Situation allerdings zurechnen sollte. Zur Sphäre des Eigenen gehören aber auch die vielen Sachen, an denen die Person gleichsam hängt, sei es in Liebe oder Hass, in Hoffnung oder Furcht oder Neid usw., jedenfalls mit affektivem Betroffensein. Um das Eigene auch in diesem Sinn zur Sprache zu bringen, ist ein passender Name und eine geschickte Begriffsbildung erforderlich. Ich spreche von persönlicher Eigenwelt und bestimme den Begriff folgendermaßen: Zur persönlichen Eigenwelt einer Person gehören alle für sie subjektiven Bedeutungen und alle Sachen, für die der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, dass sie existieren, für die Person subjektiv ist. Zur persönlichen Eigenwelt einer Person können hiernach viele Sachen gehören, die es gar nicht gibt, so dass die Sachverhalte, dass sie existieren, keine Tatsachen sind, z. B. zukünftige Ereignisse, die die Person erhofft oder befürchtet, oder Hirngespinste, die sie sich erträumt. Mit der Definition ist dafür gesorgt, dass alles und nur das zur persönlichen Eigenwelt einer Person gehört, woran sie in affektivem Betroffensein hängt, z. B. aus Liebe, Sorge, Kummer, Hass, Neid oder Sehnsucht. Der persönlichen Eigenwelt steht eine persönliche Fremdwelt gegenüber. Zu ihr gehören alle Bedeutungen, die für die Person neutral geworden sind, und alle Sachen, für die aus diesem Grund die Sachverhalte, dass sie existieren, zu

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ihrer persönlichen Fremdwelt gehören. Persönliche Eigenwelt und persönliche Fremdwelt bilden zusammen die persönliche Welt einer Person, die immer nur einen ziemlich kleinen Ausschnitt der ganzen Welt ausmacht. Die Abgrenzung zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt stellt weitere Aufgaben an die Homöostase im Aufbau der Person. Im präpersonalen Leben des Säuglings und des Tieres sind alle Bedeutungen für den noch nicht einzelnen, aber auf Grund der primitiven Gegenwart schon identischen Bewussthaber subjektiv, so dass gar keine Möglichkeit solcher Abgrenzung besteht. Die Neutralisierung setzt mit der personalen Emanzipation bei Entfaltung der Gegenwart ein. Von da ab unterscheiden sich Personen hinsichtlich der Grenze zwischen beiden Teilwelten in ihrer persönlichen Welt nach dem drei Typen der Extravertierten, Introvertierten und Ultrovertierten. Für den Extravertierten ist die Grenze nur schwach gezogen; er bleibt also relativ kindlich und kann in zunächst befremdlicher Weise heroische und egoistische Züge in seinem Verhalten vereinigen, weil er alles zu seiner höchstpersönlichen Sache macht und sich daher ebenso opferbereit dafür einsetzen wie Anspruch darauf erheben kann. Er ist erfreulich aufgeschlossen, aber seine Gefahr ist die Zerstreuung und Zersplitterung; wenn er ihr erliegt, ist er an der Aufgabe einer homöostatischen Auswiegung von persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt gescheitert. Beim Introvertierten ist hingegen die Grenze zwischen beiden Teilwelten scharf gezogen, eben deshalb aber verletzlich. Deswegen kommt für ihn viel auf die Homöostase an, damit er den beiden Gefahren entgeht, entweder sich durch Verhärtung der Grenze zum Panzer in die persönliche Eigenwelt zurückzuziehen oder in der Aussetzung an die persönliche Fremdwelt durch Verteidigung der Grenze ständig Verletzungen davonzutragen oder zu befürchten. Beim Ultrovertierten ist die Grenze ebenso scharf wie beim Introvertierten gezogen, aber er verlegt das Hauptgewicht und Hauptinteresse seiner Lebensführung nicht wie dieser in die persönliche Eigenwelt, sondern nach jenseits (daher „ultro“) in die persönliche Fremdwelt. Er übergeht das höchst Persönliche, das ihm eigentlich nahe geht, in einem Kult der reinen Sachlichkeit. Die Möglichkeit solcher Ultroversion entsteht durch die vielen Grauzonen allmählichen Überganges von Subjektivität in Objektivität von Bedeutungen, so dass bei vielen Selbstzuschreibungen des normalen Erwachsenen unklar bleibt, ob und in welchem Maß die von ihm sich zugeschriebenen Sachverhalte für ihn subjektiv oder schon objektiv sind. Das Abrutschen in Objektivität kann so weit gehen, dass die Person auf die Subjektivität, aus der sie lebt, nur noch wenig aufmerksam wird und sich wie auch die Mitmenschen zu bloßen Funktionären eines Sachzusammenhangs herabsetzt. Dann ist das Finden der Homöostase, der beweglichen Abwägung von persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt, aus umgekehrtem Grund wie beim Extravertierten missglückt, indem nicht die persönliche Eigenwelt die persönliche Fremdwelt überschwemmt, sondern die persönliche Fremdwelt die persönliche Eigenwelt erdrückt. Die Gefahr dieses Misslingens besteht einerseits in der Versuchung, über Leichen (auch im eigenen Keller) zu gehen, und andererseits in der Überstrapazierung des zu straff geführten affektiven Betroffenseins, das sich durch Krisen und physische oder moralische Zusammenbrüche rächen kann.

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Alle bisher betrachteten Formen der Homöostase im Aufbau der Person beruhen auf der instabilen Mannigfaltigkeit, die zur Selbstzuschreibung und damit zur Person als dem Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung wesentlich gehört. Grundlegend für die Möglichkeit, Person zu sein, ist nach dem Gesagten schon im präpersonalen Bereich der vitale Antrieb durch Konkurrenz von Engung und Weitung, und diese Konkurrenz ist ein weiterer Bereich geglückter oder missglückender Homöostase, nun aber ohne Beteiligung instabiler Mannigfaltigkeit. Engung und Weitung hemmen einander und treiben sich gerade durch ihre gegenseitige Hemmung. Dabei kommen verschiedene Gewichtsverhältnisse vor. Ungefähres Gleichgewicht herrscht bei Kraftanstrengung, wohl aber auch beim Einatmen, das allerdings eine allmähliche Verschiebung vom Übergewicht der Weitung zum Übergewicht der Engung durchläuft. Übergewicht der Engung in dynamischer Konkurrenz mit Weitung ist bezeichnend für Angst und Schmerz als Konflikte, in denen ein expansiver Impuls an übermächtiger Hemmung gleichsam abprallt; ich spreche vom gehinderten „Weg!“. Überwiegende Weitung gegen den Widerstand konkurrierender Engung ist Wollust von nicht nur geschlechtlicher Art, auch z. B. beim Kratzen einer juckenden Hautstelle, beim wohligen Recken der erwachenden Glieder am Morgen, beim gierigen Saugen usw. Eine Chance der Homöostase im Wechsel dieser Gewichtsverhältnisse ergibt sich aus der Möglichkeit ihrer Verschiebung bis zum Umschlagen in einander oder zur gegenseitigen Ergänzung; so können Angst und Schmerz in Kraftanstrengung überführt werden durch die Technik der natürlichen Geburt nach Dr. Reid, Angst kann Lust werden im Thriller, auf abenteuerlichen Karrusselfahrten und vor Gruselszenen und -geschichten, Schmerz geht in Wollust über im Masochismus, Wollust zehrt auf dem Weg über leibliche Kommunikation von fremdem Schmerz im sadistischen Genuss. Auch die verschiedenen Atemtechniken liefern homöostatische Gewichtsverlagerungen im vitalen Antrieb. Neben den Unterschieden des Gewichts von Engung und Weitung kommen die Variationen ihrer Bindungsform für die Homöostase in Betracht. Die Bindung kann kompakt sein, so dass Engung und Weitung nur wenig aus einander kommen, oder rhythmisch mit fluktuierendem Wechsel des Übergewichts, wobei aber eine Homöostase dafür sorgt, dass im Ganzen des Verlaufes eine von beiden Tendenzen das Übergewicht behält und die Gesamtgestalt prägt. Rhythmisch in diesem Sinn sind Angst und Wollust, wie die keuchende Atemkurve bezeugt, in der ein expansiver Impuls ansetzt, wie an einer Mauer abbricht und von Neuen ansetzt. Dagegen ist die Bindungsform von Engung und Weitung im Schmerz kompakt; niemand keucht vor Schmerz. Neben der rhythmischen Schwingung haben Engung und Weitung im vitalen Antrieb auch die Chance der partiellen Abspaltung von einander. So spaltet sich Engung ab im heftigen Schreck, gleichsam ausklinkend aus dem vitalen Antrieb, der kurzfristig aussetzt, so dass der Mensch erstarrt und die Knie weich werden, weil kein Antrieb mehr für straffe Haltung sorgt. Weitung spaltet sich ab bei der Erleichterung von einer schweren Sorge, bei Entspannung in wohltätiger Müdigkeit und nach der sexuellen Ejakulation, wenn der Widerstand spannender Engung durchbrochen ist und die schwellende Weitung in ungehemmtes, weiches Verströmen übergeht. Trotz aller

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dieser Variationen der Gewichtsverteilung und der Bindungsform sorgt im normalen Wachzustand die automatische Homöostase des vitalen Antriebs für ein ungefähres Gleichmaß, in dem die Ausschläge sich ausgleichen, wie einen relativ festen Boden, auf dem die personale Emanzipation sich verlässlich aus dem Leben in primitiver Gegenwart erheben kann. In psychoseträchtigen Vergiftungen wie dem Meskalin- oder LSD-Rausch sowie im Schlaftraum schwindet diese verlässliche homöostatische Grundlage, und nun können alle Spielarten des vitalen Antriebs ins Extrem ausschlagen, zugleich aber durch diese Lockerung die von der normalen Festigkeit des Niveaus des vitalen Antriebs abgedeckten Hintergründe der persönlichen Situation zum Vorschein bringen.9 Das dynamische Modell der Homöostase erweist sich als sehr fruchtbar zum Verständnis des Aufbaus der Person, vorausgesetzt, es gelingt, diese als ambivalent zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart fluktuierendes Einzelwesen mit einer persönlichen Situation an Stelle einer Seele und auf der Grundlage leiblicher Dynamik mit dem vitalen Antrieb als deren Achse zu verstehen, statt dem groben Modell der Tradition verhaftet zu bleiben, das der Person ihre Seele als ein Haus mit den Stockwerken Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft und Möbeln in diesen Stockwerken wie Empfindungen, Trieben, intentionalen Akten anweist und oft noch Schwierigkeiten hat, den Bewohner und Herren des Hauses, die Person, von dem Haus selbst oder von dessen oberstem Stockwerk, in dem die Vernunft und der freie Wille wohnen soll, zu unterscheiden.

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Zur Leiblichkeit des Traumzustandes vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band II Teil 1, Bonn 1965, als Studienausgabe 2005, S. 194–211, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 127–130.

ALLES FLIEßT ZUR METAPHYSIK DES WERDENS HERAKLIT VERSUS PARMENIDES Alles fließt – in diesem Satz nennt Heraklit das Leitprinzip seines Denkens. Das panta rhei besteht aus dem logischen Allquantor und einem Prädikat, das eine spezielle Art der Bewegung bezeichnet, nämlich die kontinuierliche Bewegung von Flüssigem. Einerseits ist alles in kontinuierlicher Bewegung, in beständigem Wandel, andererseits ist das Fließen jenes beständig Gleiche, in dem wir die Dinge allemal antreffen, denn das Fließen besitzt immer gleiches Gewicht für alles, nichts kann da heraustreten. Der Satz jedoch steht fest, er fließt nicht, und somit scheint doch nicht alles zu fließen. Der Satz steht, da er etwas festhält, was ansonsten in Bewegung bleibt. Er bringt in der Repräsentation der Sprache, des menschlichen logos, eine Bewegung zum Halten, die ansonsten, als eben dieses alles, keineswegs steht. Was aber ist dieses alles? Es sind die Dinge und ihr logos, ihre regelmäßige Ordnung. Die einzige Form, in der etwas zugleich fließend und regelmäßig geordnet sein kann, ist die Wiederholung. In der Wiederholung sind Fluss und Ordnung als Einheit aufgehoben. In dieser Einheit erst gewinnen die Dinge eine Form; sie entsteht aus der Wiederholung des Fließens. Sich wiederholend kommt der Fluss ins Gleichgewicht. Die stehende Welle etwa wiederholt immerfort die gleiche Bewegung, ohne doch das Fließen zu verlassen. Wir steigen, nach Heraklit, immer wieder in denselben Fluss, der sich immerzu beweglich wandelt. Heraklit denkt hier dialektisch; der dialaktes ist im antiken Recht der Vermittler unter den streitenden Parteien. Die Parteien, welche hier einander widerstreiten, sind die Partei des Werdens und die des Seins. Diese Vermittlung gilt auch für den Satz selbst: Der logos der Sprache erscheint nur in der Wiederholung des Sprechens; um den Satz zu wiederholen, muss man ihn erneut von Anfang zu Ende sprechen, den Satz mithin fließen lassen. Der Satz kann nur im Werden sein. Die Ordnung der Sprache und die Ordnung der Dinge folgen demnach in der Wiederholung demselben logos des Werdens. Der Satz des Heraklit besitzt eine außergewöhnliche Prominenz: Wenn einer sonst nichts von Heraklit weiß, diesen Satz immerhin kennt er. Wir fragen uns, woher das kommt. Die Antwort könnte lauten: Dieser Satz widerspricht dem Hauptstrom der Metaphysik, der seit der Antike von Parmenides ausgeht. Für Parmenides ist die Welt des Werdens nur ein Schein, den die Sinneswahrnehmung auffasst. Diese scheinbare Welt ist jedoch eine Dimension des Nichtseienden. Sein kann für ihn nur ohne Werden gedacht sein. Das Sein entsteht nicht und vergeht nicht, es ist ewig, unzerstörbar, unveränderlich, stetig, sich selbst gleich, un-

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bewegt, akineton. Dieses ewige und unveränderliche Sein zu erkennen, gilt als Hauptziel der Vernunft. Diese Vernunft aber lässt keine Vermittlung, sondern nur den Widerspruch zu. Sie ist wie ein Anwalt, der gegen das Werden beständig Berufung einlegt. Da es keine letzte Instanz gibt, streitet diese Vernunft seither ohne Ende gegen den Augenschein des Werdens. Nach Heraklit freilich sind das Werden und seine Dialektik nicht Augenschein, sondern das höchste Prinzip, principium ultimum, des Seienden wie des Nichtseienden. Ich möchte die These Heraklits aufnehmen und zeigen, dass sie der These des Parmenides überlegen ist. Der gewichtigste Grund für seine These sind nun aber die Schwierigkeiten, welche von alters her der Hauptstrom unserer Metaphysik mit der Zeit hat. Die Zeit ist die Dimension des Werdens par excellence. Nur wenn die Zeit eine Realität ist, dann können wir auch dem Werden seinen metaphysisch herausragenden Ort ausweisen. Die Zeit aber will sich, wie wir gleich sehen, in die Seinsordnung der klassischen Metaphysik nicht einfügen lassen. Daher läuft meine These darauf hinaus, eine neue Metaphysik des Werdens zu begründen. Zunächst gilt es, den Befund aufzunehmen. DAS SCHEITERN AM PROBLEM DER ZEIT Wir beginnen mit einigen Zeugnissen, in denen Autoren von ihrem Scheitern am Problem der Zeit sprechen, denn das wird vielerorts beschrieben. Thomas Mann etwa lässt damit den zweiten Band des „Zauberberg“ beginnen. Dort heißt es: „Was ist die Zeit? Ein Geheimnis – wesenlos und allmächtig. Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkoppelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung. Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegung wäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Frage nur! Ist die Zeit eine Funktion des Raumes? Oder umgekehrt? Oder sind beide identisch? Nur zu gefragt!“

Das Leitmotiv des unaufgelösten Problems findet sich als Leitmotiv im Titel zahlreicher Bücher zum Thema „Zeit“, so etwa bei Paul Burger (1993), der von der „Aktualität des Zeiträtsels“ und bei Hans-Michael Baumgartner (1993), der vom „Rätsel der Zeit“ spricht. Auch in der modernen Physik bleibt das Thema aktuell (von Weizsäcker 1971, S. 145). Am häufigsten wird in der einschlägigen Literatur Augustinus zitiert, der in seinen Confessiones, im XI. Buch (14,17) sagt: „Quid enim est 'tempus'? Si nemo me querat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio.“ („Was also ist 'Zeit'? Wenn niemand mich fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht.“) Was besagt diese eigenartige Feststellung? Augustinus leugnet nicht, ein Wissen von der Zeit zu haben, denn er weiß ja etwas davon, solange er nicht gefragt wird. Sobald er jedoch die Frage, was Zeit sei, mit einer Erklärung beantworten möchte, entdeckt er nurmehr sein Unwissen. Das Wissen aus jener fraglosen Erfahrung wird nicht zum Wissen des Begriffs. Wie kann man sich diesen Umschlag erklären? Der Text schweigt dazu. Wir könnten folgendes dazu denken: Die Was-Frage zielt auf eine Begriffsbestimmung oder Definition. Lässt

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sich eine solche Definition nicht geben, können zwei Gründe vorliegen: entweder ist unser Wissen um die zu bestimmende Sache noch unvollkommen; oder die Frage ist falsch gestellt und die Sache ist gar keiner derartigen Bestimmung zugänglich. Wenn Augustinus' Wissen um die Sache lediglich so unvollkommen war, dass es ihm die Sprache verschlug, dann dürfen wir hoffen, heute in einer besseren Lage zu sein. Dann sollte mittlerweile sein Wissen der fraglosen Erfahrung zum Wissen des Begriffs geworden sein. Martin Heidegger ist unter den Klassikern der modernen Zeitphilosophie hier vielleicht der kompetenteste Zeuge. Genau dreißig Jahre nach Erscheinen seines Buches „Sein und Zeit“ (1926) fragte die Redaktion der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ zu ihrem eigenen, zehnjährigen Bestehen ihre Leser, darunter auch Martin Heidegger: „Was ist die Zeit?“. Die Antwort des Gefragten erschien am 23. Februar 1956. Darin heißt es: „Man könnte meinen, der Verfasser von 'Sein und Zeit' müßte dies wissen. Er weiß es aber nicht, so daß er heute noch fragt. Fragen heißt: hören auf das, was sich einem zuspricht.“ (Heidegger 1956)

Der Verfasser von „Sein und Zeit“ gibt also zu verstehen, dass er noch nicht mehr weiß als Augustinus. Die Frage ist nach wie vor offen – der Autor vernimmt Zuspruch, eine Antwort aber kommt auch jetzt, 1500 Jahre später, noch nicht heraus, zumindest nicht als begriffliche Bestimmung. Die Zeugnisse lassen sich beliebig vermehren. Ihnen stehen andere gegenüber, die als gelungene Versuche einer begrifflichen Fassung der Zeit gelten. VERSUCHE EINER BEGRIFFLICHEN FASSUNG DER ZEIT Isaac Newton äußert sich zum Begriff der Zeit zu Beginn seiner „Philosophia naturalis principia mathematica“ von 1689. Im Scholium zu den einleitenden Definitionen heißt es: „Absolute, true, and mathematical time, of itself, and from its own nature, flows equably without relation to anything external, and by another name is called duration: relative, apparent, and common time, is some sensible and external (whether accurate or unequable) measure of duration by the means of motion, which is commonly used instead of true time…“.

Die absolute Zeit fließt also an sich und nach ihrer eigenen Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand, während die relative oder gewöhnliche Zeit ihre sinnliche und äußere Messung vermittels der Bewegung ist. Hier am Anfang der „Principia“ behandelt Newton den Zusammenhang zwischen Raum, Zeit und physikalischen Gegenständen. Dabei fällt auf, dass er streng genommen gar keine Begriffsbestimmung der Zeit bietet. Der Satz ist nämlich keine Antwort auf die Frage „Was ist die Zeit?“, sondern darauf, ob und inwieweit zwischen der Zeit und den äußeren Gegenständen eine Beziehung – etwa von Ursache und Wirkung – bestehe. Newton sagt hierzu, dass die Zeit

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absolut, also ohne Beziehung zu ihnen sei. Die Frage zielt also auf die Besonderheit der Zeit im Gefüge der physikalischen Beziehungen. Wir können sie als Frage nach der differentia specifica der Zeit auffassen. Die Sache insgesamt, von der dann solche eine Besonderheit ausgesagt wird, bleibt freilich unklar, denn ihr genus wird lediglich im Verbum „fließt“ angedeutet. Das Fließen wird weiter nicht erläutert. Wenn wir es vorsichtig interpretieren, können wir vielleicht folgendes darüber sagen: Das Fließen ist eine zusammenhängende Bewegung, wie wir sie etwa von der Bewegung von Flüssigem kennen. Insbesondere ist solch eine Bewegung nicht sprunghaft oder schwankend, sondern „equally“, also gleichförmig. Der Gattungsbegriff wird folglich mit Blick auf eine bestimmte Art von Bewegung ausgelegt. Wie jedoch der nachfolgende Gegensatz der gewöhnlichen und relativen Zeit feststellt, ist Bewegung, ob fließend oder nicht, ein Phänomen, das wir nur an Gegenständen beobachten. Der Artbegriff der absoluten Zeit besagt allerdings, dass die Zeit ihrer Natur nach absolut, also ohne Beziehung zu Gegenständen sei. Newtons Zeitbegriff beinhaltet also entweder eine contradictio in terminis, denn vom Gattungsbegriff und vom Artbegriff werden widersprüchliche Dinge ausgesagt – oder er beinhaltet eine dunkle und wertlose Metapher. Diese Metapher des Fließens besagt dann lediglich, dass die Zeit eine eigenartige Bewegung ist, die der räumlichen Bewegung von äußeren Gegenständen nicht gleicht. Diese besondere Bewegung wäre dann für Newton die eigentliche Natur der Zeit, „its own nature“. Die Frage „Was ist die Zeit?“ blieb bei Newton unbeantwortet, auch wurde sie eigentlich gar nicht gestellt. Newtons Überlegungen werden knapp zweihundert Jahre später von Kant fortgesetzt, der sich etwa in der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) im zweiten Abschnitt der Transzendentalen Ästhetik der Zeit zuwendet. Während Newton in den Principia die mathematischen Grundsätze der Physik oder „Naturphilosophie“ behandelt, zielt Kant auf die transzendentalen Grundsätze der Metaphysik. Geht es dort um die Erkenntnis der äußeren Gegenstände aus der Erfahrung, dreht es sich hier um den Gegenstand jener Erkenntnisse, die von aller Erfahrung unabhängig, doch gleichwohl notwendig, klar und gewiss sind („Kritik der reinen Vernunft“, Einleitung I). Analog zu Newtons Principia beginnt Kant, nach Vorrede und Einleitung, mit den Themen Raum und Zeit, welche er der „transcendentalen Ästhetik“ zuordnet. In der „transcendentalen Ästhetik“ geht es um die a-priorischen Prinzipien der Sinnlichkeit, als der sinnlichen Anschauung von Gegenständen überhaupt (S. 21). Die sinnliche Anschauung kennt den äußeren und den inneren Sinn. Der äußere Sinn bezieht sich auf Gegenstände außer uns. Da die Zeit kein äußerer Gegenstand ist, kann sie nicht äußerlich angeschaut werden. Bei den äußeren Gegenständen kommt nicht die Zeit vor, und auf die Bewegung geht Kant in diesem Zusammenhang nirgendwo ein. Diese gehört ja, nach Newton, zur relativen Zeit, und hier steht nur die absolute Zeit zur Prüfung an, da die Metaphysik sich nur für das Absolute der apriorischen Erkenntnisse interessiert (siehe unten). Die Zeit ist somit kein empirischer Begriff.

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Folglich muss sie eine Sache des inneren Sinnes sein. Der innere Sinn bezieht sich nicht auf Gegenstände, sondern auf den inneren Zustand unseres „Gemüths“. Darauf bezieht er sich als ein Anschauen „unserer selbst“ (S. 33). Der Begriff der Zeit kann insofern kein „diskursiver“ oder logisch allgemeiner Begriff sein, denn er „ist … in der Anschauung und Vorstellung der Zeit unmittelbar enthalten“ (S. 31–32). Der so angeschaute Zustand ist kein „Object“, sondern eine Form, was heißt: er ist eine Ordnung unter Bestimmungen, hier also unter den inneren Bestimmungen des „Gemüths“ (S. 22–23). Die Ordnung unter diesen inneren Bestimmungen ist freilich nichts anderes als das „Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen“ (S. 30). Ihr Hauptsatz lautet, dass verschiedene Zeiten nicht zugleich sein können (S. 32). Der Begriff der Zeit wird daher ausgelegt als die „Form des inneren Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes“. Sie „haftet … allein … an der subjectiven Beschaffenheit unseres Gemüths“ – ansonsten aber ist sie „gar nichts“ (seriatim: S. 33, 23, 36). Dies ist ein kühner Gedanke, und er hat seinen herausragenden Platz in der Kantischen Revolution der Denkungsart. Wenn wir ihn annähmen, wäre die Frage „Was ist die Zeit?“ wohl weitgehend beantwortet. Gleichwohl stellt er ein klassisches non sequitur dar. Zu Anfang argumentiert Kant, dass das Zugleichsein und Nacheinandersein nicht in die Wahrnehmung komme, „wenn die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum Grunde läge“ (S. 30). Nun ist dazu zu sagen, dass die sinnliche Wahrnehmung in der Tat nur in der Präsenz eines Gegenstandes, d.h. immer nur in der Gegenwart stattfinden kann. Dies ist zugegeben. Doch dass nunmehr das Zugleichsein und Nacheinandersein hinzukommt, liegt nicht an der apriorischen Zeitvorstellung, sondern daran, dass wir eine Erinnerung an das bereits Wahrgenommene haben. Daher ist die Vorstellung von Zugleichsein und Nacheinandersein in der Differenz von Erinnertem und Aktuellem begründet. Die Erinnerung aber wird von Kant nicht in Betracht gezogen, sodass an die Stelle einer einfachen und bekannten, eine kühne Erklärung treten muss. Kant scheint aber weiter sagen zu wollen, dass sich aus der Erfahrung kein allgemeiner Begriff bilden lasse, da Erfahrungen weder „strenge Allgemeinheit, noch apodiktische Gewißheit geben“. Daran schließt ein zweites Argument an, welches ausführt, dass ein allgemeiner Begriff der Zeit unzureichend wäre, selbst wenn wir ihn durch Abstraktion gewönnen, denn „der Satz, dass verschiedene Zeiten nicht zugleich sein können“ ließe sich „aus einem allgemeinen Begriff nicht herleiten“ (S. 32). Dies jedoch ist sehr wohl der Fall. Die Vorstellungen von Zugleichsein und Nacheinandersein, welche bei Kant das genus proximum des Zeitbegriffs bilden, ebenso die Ausdrücke „verschiedene Zeiten“ und „zugleich“ setzen nämlich zwei allgemeine Begriffe voraus: den der Differenz und den der Identität. Es ist zwar vielleicht nicht möglich, den Begriff der Zeit selbst aus Differenz und Identität herzuleiten, den gleicher und verschiedener Zeiten allerdings kann man so sehr wohl gewinnen, ebenso wie den obigen Satz. Denn wenn eine Zeit als „verschieden“ von einander bestimmt wird, dann setzt das voraus, dass hier eine Differenz zwischen beiden ist; wenn aber eine Differenz ist, dann eben kann keine

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Identität sein. Identisch aber sind Zeiten nur dann, wenn sie zugleich sind. Insofern sich Zeit durch Differenz und Identität sowohl als Zugleichsein wie als Nacheinandersein bestimmen lässt, muss es sich hierbei um eine Bestimmung der differentia specifica von Zeit, und kann es sich eben nicht – wie Kant denkt – um ihr genus proximum handeln. Es gibt die Zeit in der Variante des Gleichzeitigen wie des Ungleichzeitigen. Wovon dies freilich Eigenschaften oder Momente sind, bleibt offen, ja danach wird im Text nicht einmal gefragt. Zu diesem Etwas „Zeit“ muss aber Differenz und Identität erst hinzukommen, damit das Gleichzeitige und das Ungleichzeitige dann herauskommt. Die endgültige These lautete dann: Die Zeit sei die Form des inneren Sinnes. Dies mag man zugeben. Auch braucht man nichts dagegen einzuwenden, dass dies eine besondere Bedingung der menschlichen Sinnlichkeit ist. Was allerdings ist die Bedingung dafür, dass es mit diesem Sinn anzuschauen möglich ist, wie „meine Vorstellungen (einander) folgen“? (S. 37 und 37 Fn.) Dies ist nicht die Zeit als Form, sondern die Erinnerung als Vermögen. Insoweit gilt: Die Erinnerung macht die Realität der Zeit für den Menschen erfahrbar. Doch aus der Tatsache, dass wir wegen der Erinnerung die Zeit auffassen können, folgt nicht, dass die Zeit nichts anderes – so die vollständige These – als die Form des Sinnes ist. Dies ist eine Konfusion von Erkenntnisgrund und Seinsgrund. Wenn diese Konfusion statthaft wäre, dann müsste andernfalls auch gelten, dass lediglich ein Vermögen, in die Zukunft zu schauen, dem Seienden eine Zukunft gäbe, oder dass das Sehvermögen der Grund der Sichtbarkeit von äußeren Gegenstände sei. Wohingegen wir aus Erfahrung wissen, dass dieser Seinsgrund einzig und allein im Licht und der Oberflächenbeschaffenheit von gegenwärtigen Körpern liegt. Daher gibt es immer drei mögliche Gründe dafür, warum einer nichts sieht: entweder kann er nicht sehen, oder es ist dunkel, oder es gibt nichts zu sehen. Dementsprechend habe wir drei Gründe für das Zustandekommen oder Fehlen eines Zeitbegriffs anzusetzen: die Erinnerung, die Zeit und die Bewegung. Kant behandelt aber in der Kritik der reinen Vernunft die Zeit, ohne die Bewegung und ohne auch die Erinnerung zu betrachten. So scheint selbst Newtons problematischer Zeitbegriff dem Kantischen überlegen, da er immerhin die Bewegung in die Begriffsbildung mit hinein nimmt. Auf diesem Wege gelangen wir jedoch weiter zu keinem befriedigenden Ergebnis. So wäre als nächstes der Blick auf einen Autor zu werfen, der immerhin alle drei Momente – die Erinnerung, die Zeit und die Bewegung – in einem bedenkt. Dies ist Aristoteles. Während Kant die Frage nach der Zeit im Rahmen seiner Prüfung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Metaphysik stellt, erörtert Aristoteles die Zeit in seiner Physikvorlesung. Das nimmt sofort Wunder: Warum gehört für Aristoteles die Zeit nicht zu den metaphysischen Fragen, wo er doch der Autor der so genannten „Metaphysik“ ist und er immerhin für das ganze Unternehmen, wenn schon nicht den erst Jahrhunderte später entstandenen Namen, so doch den maßgeblichen Text vorlegte? Die Antwort, vorweg genommen, wird lauten: Weil die Zeit kein Seiendes ist und daher für die Behandlung des Seins des Seienden belanglos sei muss. Hieran wird mein experimenteller Traktat anknüpfen.

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Aristoteles durchdenkt den Zeitbegriff in den drei Komponenten (1) der Zeit selbst und ihrer (2) Wahrnehmung anhand (3) von Prozessen. Dabei fasst er diese Komponenten in typischer Weise. Die Zeit ist das definiendum und wird sowohl als solche, wie auch in ihrer Bedeutung für die Erkenntnis des Seienden betrachtet. Die Wahrnehmung heißt aísthesis und umfasst alle verschiedenen Arten der Erfahrung: die sinnlichen (wie etwa das Sehen), die imaginativen (wie beispielsweise das Erinnern), die noetischen (wie das Bewusstsein). Die Prozesse schließlich können verschiedener Art sein, nämlich: räumliche Bewegung, Entstehen und Vergehen, ungegenständliche Bewegung wie das Denken und Erinnern. Da diese Komponenten zusammen zu durchdenken sind, steht die Frage nach dem Wesen der Zeit im Mittelpunkt: „Stellen wir demnach die Frage nach dem Wesen der Zeit, so müssen wir hier ansetzen und fragen: welches Moment [welche Eigenschaft] am Prozeß stellt die Zeit dar? Immer eben sind wir uns miteinander des Prozesses und der Zeit bewußt (… háma gàr kinéseos aisthanómetha kaì chronon). Auch im Dunkeln und bei völligem Fehlen äußerer Eindrücke scheint uns ja, sobald nur in der Seele selbst irgendein Prozeß sich abspielt, also gleich damit auch Zeit verlaufen zu sein. Aber auch umgekehrt: wo eine Zeit als verstrichen erlebt wird, wird auch ein Prozeß als abgelaufen erlebt. Daraus folgt: Die Zeit ist entweder identisch mit dem Prozeß oder ein Moment [eine Eigenschaft] am Prozeß.“ (Physik IV. 11., 219 a 2–7)1

Bereits zuvor wurde bewiesen, dass Prozess und Zeit nicht identisch seien können: Ein Prozess findet nur an dem Ort statt, wo die Sache selbst ist, welche dem Prozess unterliegt, die Zeit umfasst aber alle Orte. Es gibt des Weiteren schnelle und langsame Prozesse, aber nicht schnelle und langsame Zeit. Folglich ist die Zeit nur ein Moment am Prozess oder eine Eigenschaft des Prozesses. Das aber heißt für die Ordnung der Grundbegriffe: die Zeit ist eine differentia specifica des Prozesses. Welche Eigenschaft des Prozesses liegt hier nun vor? Aristoteles bestimmt diese Eigenschaft als das Zahlmoment oder, wie man heute sagen würde, die Maßeinheit, welche die Bewegung in ihrer Ordnung des Vorher-Nachher quantitativ bestimmt: „Denn eben dies ist ja die Zeit, die Anzahl für die Bewegung hinsichtlich ihrer Phasenfolge. Nicht Bewegung selbst ist also die Zeit, sondern das Zahlmoment an der Bewegung.“ (Phys. IV. 12., 219 b 1–3)

Das was die Einheit für die Zeitzählung liefert, wird nun analog gedacht zur Maßbestimmung der Strecke durch den Punkt (stigmé). So wie zwei Punkte auf einer Geraden den Anfang und das Ende einer Strecke festlegen, ebenso legen zwei Jetztpunkte in der Zeit die Dauer der gezählten Zeitstrecke fest. An der Oberfläche macht uns die Aristotelische Zeittheorie einen recht einfachen Eindruck. Wir bekommen nämlich den Eindruck, es handele sich im 1

Der Übersetzer, Hans Wagner, gibt das griechische hyparchon mit gutem Sprachgefühl als „Moment“ wieder. Man muss jedoch im Sinn behalten, dass hier generell sonst die Eigenschaft oder Eigenart einer Sache – also ihre differentia specifica – gemeint ist. Ich habe dies in eckiger Klammer darum hinzugesetzt.

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Kern um eine Theorie der Zeitmessung bei Bewegungsvorgängen. Was er hierüber zu sagen scheint, ist zusammengefasst etwa folgendes: Die Zeit erfahren wir immer anhand von Bewegung. Dabei ist die Zeit, da sie ein Mehr und Weniger hat, lediglich eine quantitative Eigenschaft der Bewegung. An der Bewegung gibt es nun zwei quantitative Eigenschaften, nämlich den Weg und die Dauer. Der Weg wird durch ein Streckenmaß, die Zeit durch ein Zeitmaß gemessen. Das Streckenmaß wird bestimmt durch die Distanz von mindestens zwei Punkten, das Zeitmaß durch die zwischen mindestens zwei Jetztpunkten verstrichene Zeit. Auch Newtons relative Zeit schließt noch an diese Aristotelische Konzeption an. Die Probleme des Zeitbegriffs beginnen jedoch außerhalb dieser Theorie der Zeitmessung. Das bemerken wir anhand der Widersprüche, welche diese Theorie beinhaltet. Und als erstes fällt auf, dass eine Bestimmung der Zeit als Begriff im Verlauf dieser Überlegungen gar nicht gelingt. Denn auch der Weg der Bewegung ist ein hysteron und próteron, da er eine Maßzahl der Bewegung angibt, worin eine Folgeordnung der Wegstücke bestimmt wird. Diese Folgeordnung wird selbst durch ein Abzählen, bzw. nach einem Streckenmaß, gemessen. Im Zeitmaß wird also die Zeit bereits als ein besonderes vorausgesetzt, das sie vom Streckenmaß unterscheidet. Doch worin dieses Besondere besteht, bleibt offen. Sodann bleibt unbegründet, warum die Zeit ein Moment oder eine Eigenschaft des Prozesses ist. Hier fehlt die Begründung. Denn warum ist nicht umgekehrt der Prozess ein Moment der Zeit? Wenn bewiesen ist, dass Prozess und Zeit nicht identisch seien können, weil der Prozess nur an dem Ort stattfindet, die Zeit aber alle Orte umfasst, dann muss die Zeit eigentlich das allgemeinere Prinzip sein. Im erwähnten Zusammenhang wird sodann aus dem non cognosci posse auf ein non esse posse geschlossen: Es gibt keine Erfahrung der Zeit ohne Erfahrung des Prozesses; daraus folgt für Aristoteles: keine Zeit ohne Prozess. Dies ist nicht zwingend. Der Fehlschluss wird, wie wir sahen, noch von Kant wiederholt. Woher rühren diese Probleme? Möglicherweise liegt in den Prämissen ein Undenkbares schon zugrunde, das unausgesprochen die folgende Argumentation bestimmt. Dieses Undenkbare finden wir in der einleitenden Überlegung. Bevor Aristoteles die Zeit als ein definiendum untersucht, wird zuerst geprüft, ob es die Sache selbst überhaupt gibt. Dieses Problem freilich bleibt unaufgelöst. In dieser Prüfung wird der Gedanke hin und her gewendet, dass die Zeit kein eigenes Seiendes sein könnte. Alle folgenden Überlegungen verbleiben bei dieser unaufgelösten Aporie und durchdenken sie in immer neuer dialektischer Wendung: „Der Jetztpunkt ist in gewisser Weise immer derselbe, in gewisser Weise ist er es nicht.“ (219 b 13f) – „Zweifellos gäbe es ohne die Zeit keinen Jetztpunkt und ohne den Jetztpunkt keine Zeit.“ (220 a 1) – „Wir messen nicht nur die Bewegung mittels der Zeit, sondern auch mittels der Bewegung die Zeit …“ (220 b 15). Schließlich sogar (wie ein Vorgriff auf Kant): „Gibt es nun außer … dem Verstand der Seele … nichts, was zu zählen vermöchte, dann ist eine Existenz der Zeit ohne eine Existenz der Seele ausgeschlossen.“ (223 a 25ff) Der Gedanke, dass die Zeit kein eigenes Seiendes sein könnte, steht am Anfang dieser Dialektik. Dort heißt es:

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„Das eine Stück der Zeit ist vorbei und ist nicht (mehr), das andere Stück kommt erst noch und ist noch nicht; und aus diesen besteht jedwede Zeit, ob die eine unendliche Zeit oder irgendein Zeitabschnitt; was aber aus Nichtseiendem besteht, scheint keinerlei Sein besitzen zu können.“ (218 a 13–16)

Dieser skeptische Gedanke wird nochmals anhand des Jetztpunktes, des nyn, vertieft. Ist er immer einer und derselbe? Oder treten immer neue Jetztpunkte auf? Nehmen wir einmal letzteres an, dann fragt es sich, wann ein Jetztpunkt zugrunde geht. Denn er muss zugrunde gehen, bevor ein neuer auftauchen kann. Es geht aber nicht, dass er in sich selbst zugrunde geht, denn dort hatte er ja sein Sein. Es geht aber auch nicht, dass er erst in einem anderen Zeitpunkt zugrunde geht, denn die Jetztpunkte bilden keine kontinuierliche, sondern eine diskrete Reihe (dieses Jetzt ist ein anderes als jenes Jetzt). Andernfalls wären zwei Jetztpunkte nämlich plötzlich in einem Jetztpunkt, wobei der eine darin untergeht. Wenn man aber annimmt, dass es nicht verschiedene, sondern nur einen Jetztpunkt gibt, dann würde dies bedeuten, dass alle Ereignisse, gleichgültig wie weit sie zeitlich auseinander liegen, immer in einem und demselben Jetztpunkt stattfänden. Damit aber gäbe es keinerlei Früher oder Später (219 a 9–29). Die hier gestellten Fragen werden nicht beantwortet, sondern abgetan (218 a 30). Die Frage, ob die Zeit ein Seiendes ist oder ob nicht, bleibt bei Aristoteles offen. SEIN UND GEGENWART Allerdings beinhaltet die Art und Weise, wie dieses Problem aufgeworfen wird, bereits den Hinweis darauf, warum sie so, nämlich aus dem parmenideischen Vorbegriff, gefragt, gar nicht zu lösen ist. Wie Jacques Derrida (1968) gezeigt hat, bemerkt erstmals Heidegger in „Sein und Zeit“, wie dieser Vorbegriff nicht nur die Antwort zur Frage verstellt, sondern das Verhältnis von Sein und Zeit bereits unausgesprochen bestimmt, indem es das Parmenideische Paradigma als allein geltendes hinnimmt. Seiendes nämlich wird in seinem Sein – nicht nur bei Aristoteles – immer schon als Anwesenheit, als ousía bzw. als parousía bestimmt. Des weiteren: Das Seiende entlehnt sein Wort vom tà ònta, also von den Dingen, welche dem Menschen gegeben und zur Hand sind. Das Sein und das Seiende werden also allemal schon im Horizont der Zeit gedacht. In diesem Horizont wird es festgelegt auf die Gegenwart. Dies aber liegt nicht in einem Missgriff des antiken Denkens begründet, sondern wohl schon in der Grammatik der griechischen Sprache. Das griechische Verbum („Zeitwort“) besitzt neben anderen Infinitiven auch einen besonderen Infinitiv des Präsenz sowie die daraus ableitbaren Partizipien. Sein Infinitiv ist mithin nicht schlechthin „infinitiv“, also „unbegrenzt“, sondern ist dies nur hinsichtlich des Numerus des Verbums, also der Zahl der Personen, deren Tätigkeit ausgesagt wird. Der Infinitiv ist allerdings ein Definitiv, ein Bestimmtes in der Zeit: einai (sein) und ta onta (das Seiende) sind immer Formen der Gegenwart.

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Obzwar im Horizont der Zeit gedacht, bleiben das Vergangene und das Zukünftige aus dieser Form ausgeschlossen. Dass es aber so und nicht anders zu denken ist, bleibt außerhalb des metaphysischen Fragens. Eine der wesentlichen Errungenschaften Heideggers liegt eben hier: dieses Problem wieder zum Thema der Metaphysik und zwar als grundlegendste Fragestellung gemacht zu haben. Damit wird zwar die Frage nach Sein und Zeit neu gestellt und als unbeantwortete, ja, als eigentlich noch nicht einmal richtig gestellte Frage erkannt – doch wie wir schon sahen, bleibt bei Heidegger die Antwort aus. So bietet sich folgendes Bild. Als oberster Begriff der „Ersten Philosophie“ oder „Metaphysik“ gilt das Sein. Dieser Seinsbegriff legt das Sein als Inbegriff der Parousie oder Gegenwärtigkeit aus. Da die Zeit durch ein Nicht-Sein bestimmt wird, bleibt sie diesem Begriff untergeordnet, zugleich aber ist sie ihm auch übergeordnet, insofern Zeit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft umgreift. Die Zeit ist ein Seiendes und ein Nichtseiendes zugleich, insofern sie das Nochnichtseiende und das Nichtmehrseiende ebenso wie das Gegenwärtigseiende als ein immer Vergängliches umfasst. Die Negation aber – im Noch-nicht wie im Nichtmehr wie im Vergänglichen – wird nicht als Differenz sondern als vollständige Negation des Seienden aufgefasst, sodass letztlich Zeit und Sein einander als Kluft von Nichts und Sein gegenüberstehen. Dies ist, logisch betrachtet, ein grundlegender Widerspruch und, metaphysisch betrachtet, ein unzureichender Begriff von der Ordnung der Dinge. Mit dem parmenideischen Grundmodell lassen sich weder die logischen Verhältnisse, die zwischen Sein und Zeit bestehen, befriedigend darstellen, noch können wir eine sachlich angemessene Bestimmung unserer Grundbegriffe geben. Das bemerken wir schon daran, dass die klassischen Texte das Problem, welcher Begriff denn nun genus proximum der Zeit ist, weder logisch präzise stellen noch sachlich lösen können. Sehr deutlich wurde dies bei Aristoteles, auf den alle späteren immer wieder aufbauen. Erst Plotin stellt sich – und er vielleicht als einziger – dem Problem in seiner logischen Tragweite. Er bestimmt in der dritten Enneade (7, bes. 10–13) als Oberbegriff zur Zeit die Ewigkeit. Plotin lässt dabei freilich den Parousie-Begriff des Seins unangetastet. Er sieht in logischer Hinsicht sehr scharf, ohne das metaphysische Problem – also das sachliche Verhältnis von Sein und Zeit – aufzulösen. Lediglich Heraklit scheint, wenn auch in den erhaltenen Fragmenten für uns nur angedeutet, das sachliche Verhältnis bedacht zu haben. Wir können die einschlägigen Fragmente vielleicht so lesen, dass Heraklit den Prozess des Seins nicht als völlige Negation, sondern als Einheit (Identität) in der Differenz bestimmt. Heraklits Kurzformel hierfür zitiert Plotin in der vierten Enneade (8, 1): „Sich wandelnd ruht es“ (metabállon anapaúetai). Gewesenes und Werdendes sind gegenüber dem Seienden nicht durch ein Nicht-Sein, sondern als relative Differenz bestimmt, ein Verhältnis, das in der dialektischen Formel einer „Einheit der Gegensätze“ wiederauftaucht (Diels, Kranz: Fragm. 10, 12, 49a–54, 67, 80, 84a, 88). Freilich merkte schon Plotin daselbst an, dass uns Heraklit keinen klaren Begriff, sondern nur Vermutungen hinterlässt verbunden mit der Aufforderung,

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selbst zu suchen. Die Aufforderung wäre aufzugreifen. Der Weg verläuft über eine Neubestimmung von Zeit und Sein. ZEIT UND WERDEN Die eine Zeit zeitigt alles, was ist, war und wird, also das Seiende, das Gewesene und das noch Werdende. Die Zeit bestimmt als genus ultimum das Sein, insofern sie Zeitigung ist. Insofern die Zeit als eines alles zeitigt, heißt sie: Ewigkeit. Hinsichtlich des Alles, welches das Seiende, Gewesene und Werdende umfasst, heißt sie: All. Als erster Ursprung, der in der Ewigkeit alles zeitigt, heißt sie: Gott. Die Zeit ist mithin als genus ultimum und als principium primum zu denken. Da die Zeit genus ultimum, höchster Begriff, ist, kann sie nicht definiert werden, denn es gibt keinen allgemeineren Begriff, durch oder gegen den die Zeit abgrenzbar wäre. Jede Definition setzt eine Differenz zu einem Anderen voraus und eben diese ist ja hier gerade nicht der Fall. Stattdessen müssen aber alle anderen Grundbegriffe und Begriffe überhaupt sich daraus ableiten lassen, indem sie als Momente der Zeit ausgegrenzt werden. Diese Möglichkeit, alle übrigen Begriffe hieraus zu entwickeln, ist das (einzige) Kriterium, an dem man prüfen kann, ob eine Metaphysik des Werdens auf diesem Weg gelingt oder nicht. Auch die Stellung als principium primum lässt sich aus keinem Grund, welcher der Zeit vorausliegt, begründen, denn einen solchen Grund gibt es nicht. So lässt sich die Adäquatheit dieser spekulativen Konzeption nur daran prüfen, ob alles, was sich aus dem principium primum heraus differenziert, sich ihm zwingend, vollständig und konsequent einordnen lässt. Diese Spekulation ist darum ein axiomatischer Entwurf. Die Zeit zeitigt alles Sein. Die Zeit bestimmt als genus ultimum das Sein, insofern sie Zeitigung ist. Zeitigung heißt, etwas aus der Ewigkeit in die Fülle des Werdenden, Seienden und Gewesenen zu entfalten. Entfalten heißt daher, aus der Identität der Ewigkeit die Vielfalt des Alls zu differenzieren. Differenzieren heißt somit, die vollkommene (totale) Identität zu negieren. Negation aber heißt nicht vollkommene (totale) Negation (Nichtung). In den finiten Verbformen von sein und in den Zeitformen der Verben allgemein deuten wir die Zeit an. Das Wort „Sein“ ist die substantivierte Form des Infinitivs eines Verbs oder eben eines Zeit-Wortes. Wie alle Arten von Verben und ihre verschiedenen Formen bedeutet es etwas hinsichtlich von Zeit und Zeitigung. Als Wort stellen „sein“ und seine finiten Formen, wenn wir mit anderen Verben vergleichen, ein Allgemeinstes dar. Die konkreten Verben nämlich bezeichnen bestimmte Arten von Prozessen: ein bestimmtes gegenwärtiges, vergangenes oder zukünftiges Geschehen – sehen, gehen, tun und lassen etc. Beim Sein handelt es sich um den Prozess als solchem. Daher abstrahieren das Wort „sein“ und seine Formen von allen Arten konkreter Prozesse – bis auf deren Zeitlichkeit. Mit der Gegenwartsform sprechen wir das Seiende aus, insofern es uns anwesend, präsent ist. Mit der Vergangenheitsform weisen wir auf eine Differenz

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zum Präsenten, auf das Nicht-mehr-Präsente, auf Gewesenes hin, das einmal präsent war. In der Zukunftsform legen wir all das an, was sowohl vom Präsenten wie vom Gewesenen verschieden ist, und das ist etwas, das weder schon vergangen, noch auch gerade präsent ist, sondern möglicherweise einmal präsent wird. Die Frage aber, inwiefern das Gewesene und das Zukünftige denn noch oder noch nicht „ist“, inwiefern beide Momente des Werdens ein „Seiendes“ sind, erweist sich als gänzlich unsinnige Frage, denn sie spricht nur ein Konfusion der Tempi aus. Alle drei sind Momente des Werdens. Das protagoreische Paradigma und seine platonische Fortsetzung im ParousieBegriff des Seins behauptet hingegen etwas ganz anderes, dass nämlich der Begriff des Seins eine Abstraktion von aller Zeitigung sei. In der Tat trifft aber das Gegenteil zu. Das Sein ist nicht als eine allgemeine Bestimmung bloß des Seienden auszulegen. Vielmehr abstrahiert das Sein von den verschiedenen Aspekten, insofern wir einen Prozess als Gewesenen, als Seienden und als Werdenden bestimmen können, und meint damit das, was bei Absehung von diesen Differenzen identisch bleibt. Identisch bleibt in diesen Differenzen eben die Teilhabe an der Zeit. Die Teilhabe an der Zeit nennen wir Zeitigung und legen daher das Sein als Zeitigung aus. Der Begriff Sein abstrahiert also von der differenzierenden Entfaltung und bedeutet als Zeitigung die Identität alles Entfalteten. Das Nichts ist umgekehrt nicht eine bloße und völlige Negation alles Seienden, insofern es kein Gegenwärtiges ist. Vielmehr ist es der Inbegriff jener Differenzen, insofern wir am Prozess des Gewesenen, des Seienden und des Werdenden eine jeweilige Negation bestimmen. Während das Sein der Inbegriff der Zeitigung, ist das Nichts der Inbegriff der Nichtung. Insofern die Zeit als eines alles zeitigt, heißt sie: Ewigkeit. Als Ewigkeit zeitigt die Zeit sich selbst als das Eine, vor der Differenz, mit welcher sich das All entfaltet. Die Zeit in ihrer Identität kann nur als Eines gedacht werden. Erst durch Differenz nämlich kann eine Vielheit werden. Diese Identität der Zeit als eine kann freilich nicht das Wesen der Zeit bestimmen. Es lässt sich nicht sagen: „Die Zeit ist, ihrem Genus nach, Ewigkeit, aus welcher sich alles übrige entfaltet“. Um eine Wesensbestimmung zu geben, müsste bereits ein Ist in seiner Differenz zum War und Wird gezeitigt worden sein. Darum ist die Ewigkeit lediglich ein anderer Name der Zeit. Die Identität der Ewigkeit umfasst alles, einschließlich der Negation und der Differenz. Damit liegt in der Ewigkeit sowohl die umfassende Identität als auch die in der Zeitigung differenzierte Vielfalt. Diese Differenzierung aus der Ewigkeit geschieht als Negation von Einheit, sodass die Ewigkeit einerseits nicht Nichts ist, aber andererseits die Nichtung als Differenzierungsprozess umfasst und den Begriff des Nichts hervorbringt. Die differenzierende Entfaltung als Prozess des Seins ist eine Einheit aus Zeitigung und Nichtung. Hinsichtlich des Alles, welches jegliches Seiende, Gewesene und Werdende insgesamt umfasst, heißt die Zeit: das All (oder: das Universum, die Fülle). Die Zeit zeitigt solche Fülle, indem sie immer schon in der Identität ihrer Einheit auch

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die Differenz einschließt. Um etwas zeitigen zu können, muss die Zeit Grund sein. Sie gibt aber nicht einfach irgendeinen Grund, sondern den ersten Grund überhaupt. Das heißt, sie gibt den Grund für alles andere. Um alles andere so zeitigen zu können, muss sie aber das Alles als ihr Anderes oder als ihre Differenz schon in sich enthalten. Die Gründung des Seienden, Gewesenen und Werdenden in der Zeit bedeutet: das Seiende, Gewesene und Werdende zu entfalten. Das Entfalten ist zugleich das Werden. Insofern dies eine Vielfalt zeitigt, entfaltet die Zeit aus ihrer Identität die Differenzen. Den Prozess der Entfaltung verstehen wir daher als einen Prozess der Differenzierung. Die Identität der Zeit in ihrer Vielfältigkeit, also von Seiendem, Gewesenem und Werdendem, heißt darum das All, das Universum oder die Fülle. „Universum“ bedeutet das „Auseinem-gewendete“ und bezeichnet mithin die Gesamtheit des Prozesses der differenzierenden Zeitigung, oder kurz das „All“. Ein anderes Wort für diesen Prozess der Differenzierung aus der Identität der Zeit ist „Kreativität“ oder „Schöpfung“. Die Zeit ist hierin nicht nur genus ultimum sondern auch principium primum. Als erster Ursprung, der in der Ewigkeit alles zeitigt, entspringen der Zeit das Werden. Der Ursprung des Werdens ist zugleich auch als Inbegriff von Kreativität zu begreifen. Alles fließt – dieser Satz des Heraklit verweist lediglich auf die Ordnung der Zeit. Sein verallgemeinertes Prädikat bezeichnet eine spezielle Art der Bewegung, die metaphorisch den differenzierenden Prozess des Werdens in der Entfaltung der Zeit andeutet. Die kontinuierliche Bewegung ist das beständig Gleiche, in dem alle Dinge werden. Dies ist ihr logos, ihre regelmäßige Ordnung. Unter dem Prinzip der Zeit ist freilich die Wiederholung die einzige Form, in der etwas zugleich fließend und regelmäßig geordnet sein kann. In ihr sind Werden und Ordnung als Einheit so aufgehoben, dass die Dinge eine dauerhafte Form gewinnen. Solche Form entsteht aus der Wiederholung des Werdens. Sich wiederholend kommt das Werden in sein Gleichgewicht. In ihm erst lassen sich das Werden und die dauernde Gegenwart, die Parousie des Seienden, vermitteln. LITERATUR Aristoteles (1983): Physikvorlesung, übersetzt von Hans Wagner, Darmstadt 1983 (Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, hg. v. H. Flashar, Bd. 11). Augustinus, Aurelius (1955): Confessiones, Lat. u. dt., München. Baumgartner, Hans-Michael (1993): Das Rätsel der Zeit, Philosophische Analysen, Freiburg 1993 Burger, Paul (1993): Die Einheit der Zeit und die Vielheit der Zeiten, Zur Aktualität des Zeiträtsels, Würzburg 1993. Derrida, Jacques (1988): Ousia und Gramme, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien, S. 53– 84 (zuerst in: L'endurance de la pensée, Paris 1968). Diels, Hermann, Kranz, Walther (1992, 1993): Die Fragmente der Vorsokratiker, 3. Bde., Zürich, Hildesheim (18. Aufl.). Heidegger, Martin (1977): Sein und Zeit (14. Auflage), Tübingen. Heidegger, Martin (1956): Was ist die Zeit?, in: Die Zeit, 10. Jg. (1956) Nr. 8, S. 14; wiederabgedruckt in: Aus der Erfahrung des Denkens (GA, Bd. 13) Frankfurt a. M. 1983, S. 131

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Kant, Immanuel (1781): Kritik der reinen Vernunft (Akademie-Ausgabe, Bd. IV, Berlin 1903/1911). Newton, Isaac (1687): Philosophia naturalis principia mathematica, London 1687. Plotins Schriften, Richard Harder (Übers.), 6 Bde., Hamburg 1956–1971. von Weizsäcker, Carl Friedrich (1971): Die Einheit der Natur, München 1971.

DAS WISSEN DER WÖRTER WISSENSCHAFTSGESCHICHTE ALS SEMIOTISCHES PROJEKT * Wenn aber die Sprache nicht mehr unmittelbar den Dingen ähnelt, die sie bezeichnet, ist sie dennoch nicht von der Welt getrennt. In einer anderen Form ist sie weiterhin der Ort der Enthüllungen und hat teil an dem Raum, in dem die Wahrheit sich gleichzeitig manifestiert und äußert. Michel Foucault1

I HOMÖOSTASE DER ZEICHEN Für Leopold von Ranke war die Frage, was Geschichtswissenschaft zu leisten habe, simpel zu beantworten. Im Vorwort zu seinem ersten großen Werk, GESCHICHTE DER GERMANISCHEN UND ROMANISCHEN VÖLKER VON 1494 BIS 1535, formulierte er 1824 das berühmte Bekenntnis, er habe nur zeigen wollen, „wie es eigentlich gewesen“ war – damals. Das reichte. Nun wusste Ranke selbst, dass dies leichter gesagt als getan war. Doch die Ansprüche an die Dienstleistungsfähigkeit der Historiographie sind seitdem noch ungleich höher geworden. Denn die Aufgabe einer modernen Geschichtswissenschaft besteht nicht mehr nur darin, die Chronik der vergangenen Ereignisse zu schreiben. Sie reflektiert vielmehr, „wie es eigentlich gemeint war“, was über Vergangenes gesagt und geschrieben wurde. Und über Meinungen lässt sich immer streiten. Im Folgenden soll deswegen eine Theorie der Geschichtsschreibung skizziert werden, die sich als Wissenschaft zur Dekodierung von Zeichensystemen versteht. In der Regel sind dies sprachliche Zeichen, also Texte jeglicher Form und Gattung. Archäologen oder Paläontologen haben es zusätzlich auch mit materiellen Zeichen wie Vasen, Knochen oder ganzen Städten zu tun. Insoweit ist Historiographie als Disziplin zu beschreiben, die genuin semiotisch arbeitet, also methodisch zur Zeichentheorie gehört. Dies festzustellen bedeutet in keiner Weise, Geschichtswissenschaft in ein abstraktes oder virtuelles Unternehmen aufzulösen. Hier geht es nicht um Metaphysik, sondern um das Gegenteil: Geschichte auf ihre einzigen greifbaren Symptome zurückzuführen: ihre Spuren in Sprache und materiellen Überresten. Wir haben es in der Geschichte nie mit Ereignissen zu tun, nie mit Handlungen, 1

Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1974, S. 68.

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nie mit Personen oder Ideen, sondern stets nur mit den Berichten über sie oder mit den Dingen, die sie hinterließen. Wir können nicht einmal guten Gewissens sagen, dass wir bei ausreichender Lektüre, Interpretation oder Grabung die Personen oder Verhältnisse „hinter“ diesen Zeichen entdecken können. Es sind allein die Zeichen, die diese Geschichte bilden. Insoweit geht der hier vertretene Ansatz über das zum Beispiel von Hayden White grandios analysierte Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Sprache weit hinaus. Unterschiedliche Herangehensweisen an den Gegenstand Geschichte äußern sich bei verschiedenen Autoren zwar in unterschiedlichen Stilen und bestimmen somit ihre Interpretation, wie Hayden schreibt. Doch noch grundsätzlicher als diese Poetik der Historiographie ist die Erkenntnis, dass Geschichte als kulturelles Gut erst durch Sprache entstehen kann.2 Und in dieser historiographischen Semiotik wirkt das der Physiologie entliehene Modell der Homöostase zur Verdeutlichung besonders fruchtbar, um die merkwürdigen Strukturen zu erfassen, die sich beim Bedeutungswandel nicht nur einzelner Begriffe, sondern komplexer sprachlicher Interpretationscluster wie Metaphern oder Paradigmen zeigen. Das Bild des Fließgleichgewichtes darf in seiner Analogiefähigkeit für intellektuelle Prozesse zwar nicht überstrapaziert werden. Doch hinter der reinen Sprachbildlichkeit verbergen sich auch systematische Parallelen zwischen dem Prinzip des osmotischen Ausgleichs und der Art und Weise, in der eine (Wissens)Gesellschaft versucht, altes durch neues Wissen auszutauschen. Denn auch während epistemologischer Umbruchphasen – die Jahrzehnte, auch Jahrhunderte dauern können – gibt es in einer Gesellschaft das Bestreben, nicht aus dem Gleichgewicht eines legitimierten Diskurses zu geraten, in dem über verschiedene Paradigmen gestritten werden kann, ohne dass dabei die Fundamente der Kommunikation über diese Streitfragen schaden nehmen. Die Welt darf in Fluss geraten, aber nicht aus den Fugen. Der Fall, an dem diese homöostatische Theorie der Geschichtswissenschaft erprobt werden soll, betrifft die Veränderungen des Geschichtshorizonts in der frühen Neuzeit, genauer gesagt: die Tiefe der Dimension „Vergangenheit“. Es wird sich zeigen, dass sich in der Hülle tradierter Begriffe und Interpretationsmuster wie der „Genesis“ oder der „Sintflut“ semantische Umbrüche ereigneten, die ursprüngliche Bedeutungsmuster aufhoben und veränderten, um einen enormen Sprung in der Zeitvorstellung zu ermöglichen. II DIE GRENZEN DES ZEITRESERVOIRS Denn die Welt alterte in Europa binnen zweier Jahrhunderte schnell. Der Bedarf nach Zeit, den Wissenschaften wie die Geologie und Kosmologie seit der Mitte des 17. Jahrhunderts anmeldeten, war enorm. Georges Louis Leclerc de Buffon 2

Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1994.

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datierte in seiner HISTOIRE NATURELLE um die Mitte des 18. Jahrhunderts das Alter der Welt auf immerhin 75000 Jahre. Am Ende des 19. Jahrhunderts war man um einiges weiter, da zählte die Erde nach den verschiedenen Berechnungen William Thomsons, des späteren Lord Kelvin, mal 400, mal 24 Millionen Jahre. Der irische Geologe Samuel Haughton kam sogar auf mehr als 1018 Millionen Jahre.3 Was für ein Sprung im Vergleich zu den nur 6000 Jahren, die nach biblischer Zeitrechnung der Erde eigentlich zur Verfügung standen! Durch die Berechnung der Lebensalter der alttestamentarischen Patriarchen waren Chronologen zu dieser überschaubaren Bilanz gekommen. John Lightfoot, Vize-Kanzler von Cambridge, hatte zum Beispiel den Geburtstermin des Menschen 1642 gleich in aller nur wünschenswerten Exaktheit bestimmt: „…this took place and man was created by the Trinity on October 23, 4004 B.C. at nine o’ clock in the morning.“4

Mit diesem Zeitrahmen ließ sich leben, so lange die Welt und der Mensch in ihn hineinpassten. Dies änderte sich jedoch, nachdem durch neue naturwissenschaftliche Theorien der Verdacht wuchs, dass die Entstehung der Erde und des Weltalls weitaus länger gedauert hatte als bislang angenommen. In diesem Zwiespalt von Wissenschaft und Tradition mussten sich zwangsläufig auch Historiker, Archäologen und Vorzeitforscher eine Position suchen. Es galt Wege zu eröffnen, wie zum Beispiel Knochenfunde und Versteinerungen unbekannter Tiere und Pflanzen in diesen Zeitrahmen eingepasst werden konnten. Denn entweder stand man in der Gefahr, die Funde wider besseres Wissen jünger datieren zu müssen, damit sie nicht älter als die Welt waren. Oder aber man hätte unterstellen müssen, dass die biblische Überlieferung ein falsches Bild der Schöpfung bot. Beide Antworten waren für ernsthafte Forscher keine attraktiven Alternativen. Die Lösungsstrategien für dieses Dilemma gehören zu den interessantesten Prozessen der frühneuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte. Meine These ist, dass es über zwei Jahrhunderte hinweg nicht nur einen Zeithorizont gab, sondern parallel zueinander mindestens drei verschiedene Vorstellungen über das Ausmaß der Vergangenheit konsensfähig zueinander existierten. Stellt man sich das Ganze als musikalische Partitur vor, dann gab es zum einen die grundierende Basslinie des biblischen Weltbildes, das eine Gesamtgeschichte von 6000 Jahren propagierte. Hinzu entwickelte sich die Vorstellung, dass die Naturgeschichte der Erde viel älter sein könnte, nämlich bis zu vielen Millionen Jahren. Und dann gab es noch, gleichsam als chronologische Variation, die menschliche Kulturgeschichte. Sie bewegte sich als dritte Dimension zwischen den beiden Zeithorizonten der Bibel und der Natur. Die Beschleunigung dieser Zeitlinie war deutlich langsamer als die der Erdgeschichte, und die 3 4

Diese Diskrepanz wurde auch in zeitgenössischen Büchern zur Anthropologie und Ethnologie angemerkt: Richard Oberländer: Menschliche Rassen. Geschichte und Verbreitung, Leipzig 1878 (Repr. Leipzig o.J.), S. 4. John Lightfoot: A Few and New Observations on the Book of Genesis (1642), zitiert nach: Glyn Daniel: Idea of Prehistory, Hammondsworth 1964, S. 19.

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chronologische Ausweitung der „Humanhistorie“ setzte auch deutlich später ein, nämlich erst an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Miteinander vereinbar – so meine zweite These – blieben diese drei sich eigentlich widersprechenden Zeitvorstellungen durch sprachliche Strategien. Die Vorzeitforschung profitierte in ihrer frühen Phase von dieser Ungleichzeitigkeit der Zeiten, weil dieses Tableau Freiräume schuf, in denen geforscht werden konnte, ohne sogleich in Widerspruch zur Bibel zu geraten. III ZEITGEWINNE Um dies zu erläutern, sei skizziert, wie sich das chronologische Koordinatenkreuz im 17. und 18. Jahrhundert veränderte. Das Paradigma der Genesis als eines wortwörtlichen Protokolls der Erdentstehung bröckelte zuerst in Geologie und Kosmologie. Immer mehr Beobachtungen wiesen darauf hin, dass die Erde sich über einen langen Zeitraum hinweg geformt haben musste. René Descartes beispielsweise ging davon aus, dass sich die Planeten aus großen Materie-Nebeln gebildete hatten. Durch Rotation dieser Nebel formten sich die Himmelskörper, die in ihrer noch jungen Gestalt als rot glühende Körper auf festen Bahnen durch das Weltall flogen. Die Zeit, die die Erde wie auch die anderen Planeten zum Abkühlen benötigten, überschritt die bislang angenommene Dauer von etwa 5500 Jahren Naturgeschichte bei weitem. Auch tektonische Phänomene wie die Auffaltung der Gebirge wurden als schier unglaublich zeitaufwändige Prozesse erkannt. Mithin kamen Naturforscher zu dem Schluss, dass das Gesicht der Erde, wie es sich aktuell darstellte, um viele Jahrtausende älter sein, als bislang angenommen. Es sei hier nur auf die Arbeiten von Nicolaus Stensen, Robert Hooke und William Whiston während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verwiesen. Immanuel Kant geriet ein Jahrhundert später in seiner frühen Schrift über die ALLGEMEINE NATURGESCHICHTE UND THEORIE DES HIMMELS von 1755 schon geradezu in einen Zeitrausch: „Es ist vielleicht eine Reihe von Millionen Jahren und Jahrhunderten verflossen, ehe die Sphäre der gebildeten Natur, darin wir uns befinden, zu der Vollkommenheit gediehen ist, die ihr jetzt beywohnt. [...] Es werden Millionen und ganze Gebürge [sic!] von Millionen Jahrhunderten verfliessen, binnen welchen immer mehr neue Welten und Weltordnungen nach einander […] sich bilden.“5

Die wissenschaftsgeschichtlich entscheidende Frage ist, wie es dazu kam, dass etwa um die Mitte des 17. Jahrhunderts in Europa die bereits seit langem bekannten Probleme der Naturgeschichte anders beantwortet werden konnten als in den Jahrhunderten zuvor. Für diesen Erklärungsnotstand zwischen Zeitbedarf und Zeitreservoire fand man zwei Lösungswege. Zunächst einen katastrophalen. 5

Immanuel Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newtonschen Grundsätzen abgehandelt, hrsg. v. Arthur Joachim Oettinger, O.O. 1898, S. 93.

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Ein Geologe mit theologischem Hintergrund wie etwa Thomas Burnet – er war Hofprediger Williams III. – nahm in seiner zwischen 1681 und 1689 erschienenen TELLURIS THEORIA SACRA den Ausweg in der Annahme, es habe in der frühen Phase der Erde eine globale Katastrophe gegeben. Diese veränderte das Antlitz der Oberfläche schlagartig. Kontinentale Verschiebungen hatten in dieser Epoche stattgefunden; auch Tierarten waren untergegangen, so dass man eine Erklärung für Fossilien unbekannter Tiere und Pflanzen fand. Die Erde habe in dieser Katastrophe ungeheure Kräfte entfaltet und die geophysikalische Entwicklung beschleunigt. Nach dieser Phase seien alle geologischen Phänomene wieder in ihr normales Tempo zurückgefallen. In diese Erklärung fügte sich auch die Sintflut als biblisch-mythischer Beleg jener Katastrophe ein, die nach Auffassung der Chronologen im Jahr 1656 in der Welt stattgefunden hatte. Entscheidender für die Möglichkeit, den Zeitraum der Erdentstehung zu weiten, war jedoch die Etablierung des Naturgesetz-Begriffs, der die zeitliche Konstanz zum Prinzip aller physikalischen Vorgänge machte. Dies legte es nahe, dass die Naturprozesse, so wie sie aktuell beobachtet werden konnten, sich auch vor Jahrtausenden und Jahrmillionen in eben derselben Geschwindigkeit zugetragen haben mussten. Rechnete man also ganz trivial die geochemischen und kosmologischen Prozesse in die Vergangenheit zurück, kam man ganz selbstverständlich auf außergewöhnliche zeitliche Dimensionen. IV DIE LEGITIMATION DER „LANGEN GESCHICHTE“ – ENTSCHÄRFUNG DES ZEIT-KONFLIKTES DURCH NEUE SEMANTIKEN Es wäre jedoch falsch, nähme man an, dass sich diese Ausweitung des Zeithorizontes kontinuierlich und vor allem ohne Dissens vollzogen hätte. Das Quellenmaterial der deutschsprachigen Welt- und Universalgeschichten, in denen die Genesis den Plot für die Vor- und Frühgeschichte der Erde bildet, überwiegt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert ganz eindeutig über jene Werke, die sich geologischer und kosmologischer Befunde bedienen.6 Dies gilt übrigens besonders für Schullehrbücher, in denen sich auch noch bis zur Wende zum 20. Jahrhundert biblische Traditionalismen finden lassen. Dies führte zu der merkwürdigen Situation, dass ein junger, wissensbegieriger Mensch noch um 1870 in seinem Schulbuch lesen konnte, die Welt sei etwa 6000 Jahre alt, während in der Bibliothek seines Vaters Bücher davon sprachen, dass die Welt vor mehreren Millionen Jahren entstanden war und dass das Leben auf ihr sich nur sehr langsam entwickelt habe. Mit solchen offensichtlichen Widersprüchen galt es aber zurechtzukommen, ohne an der Konsistenz des Weltbildes zweifeln zu müssen. Wie konnte dies gelingen? 6

Dazu: Stephan Cartier: Licht ins Dunkel des Anfangs. Studien zur Rezeption der Prähistorik in der deutschen Welt- und Kulturgeschichtsschreibbug des 19. Jahrhunderts, Herdecke 2000, (zugl. Diss. Bochum 1999).

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Mein Eindruck ist: indem man den Ausgleich dort suchte, wo Fakten und ihre Interpretation in einem gemeinsamen Medium, oder einem Transformationsraum, Ausdruck fanden: in der Sprache. Jene Historiker und Naturphilosophen, die schon früh Erkenntnisse aus Geologie und Kosmologie rezipierten, verarbeiteten diese nicht auf konfrontative Weise. Sie versuchten, einen Gegensatz zwischen Religion und Geschichtswissenschaft zu vermeiden. Der etwas sperrige, aber zeitgenössische Begriff der „Physico-Theologie“ zeugt von dieser Liaison aus Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft. Beispielsweise schrieb der Pastor und Naturforscher Friedrich Christian Lesser 1732 eine Lithotheologie (also eine Theologie des Gesteins) und erklärte zu deren vornehmstem Ziel: „...die Allmacht, Güte, Weisheit und Gerechtigkeit des Schöpfers zu erkennen und Menschen zur Bewunderung, Lobe und Dienst desselben aufzumuntern.“ 7

Auch für Historiker lag die Lösung des Zeitdilemmas in der Umdeutung der biblischen Erzählung – nicht in deren Ablehnung. Christian Daniel Beck ist ein frühes Beispiel dieser Umcodierung. In seiner 1787 erstmals erschienenen WELTUND VÖLKERGESCHICHTE beschreibt er die Entstehung des Erdkörpers aus einem rot glühenden Materieball. Genaue Zeitangaben über diese vorweltliche Epoche macht er nicht. Aber aus dem Kontext wird ersichtlich, dass es sich für Beck nicht nur um einige Jahrtausende handeln konnte. In der zweiten Auflage des Werkes, die 1813 erschien, nimmt er auch erstmals Ergebnisse der Paläontologie auf, wenn er über die „…fossile Incognita der Urwelt, Reste von ausgestorbenen Thierarten, Versteinerungen und Abdrücken von Thieren…“8 schreibt. Trotz dieser progressiven Bezüge auf naturwissenschaftliche Daten zweifelt Beck jedoch nie grundsätzlich am Dogma der göttlichen Schöpfung. Auch andere Geschichtsschreiber wie Johann Gottfried Eichhorn folgten diesem Gedanken. 1790 begann er mit der Veröffentlichung seines dreibändigen Werks URGESCHICHTE. In ihm versuchte er durch die Einpassung archäologischer und geologischer Funde, die prinzipielle Richtigkeit der mosaischen Urkunden zu beweisen. Er war sich darüber klar, dass dies aber nur um den Preis gelingen konnte, dass er die biblische Erzählung von der Bürde befreite, wortwörtlich genommen zu werden. Eichhorn behauptete daher, „…dass Moses ein dichterisches Bild der Schöpfung abgegeben hat.“9 Noch ein dritter Zeuge soll diese Umdeutung der Semantik des Begriffsfeldes von „Urgeschichte“ und „Vorzeit“ belegen: der Göttinger Aufklärungshistoriker August Ludwig Schlözer. Er brachte die Notwendigkeit, sich den neuen Er-

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Zitiert nach: Martin Guntau: Zu einigen Wurzeln der Mineralogie in der Geschichte; in: Aus Wissenschaftsgeschichte und -theorie, Hubert Litko zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Horst Kant und Annette Vogel, Berlin 2005, S.111–130, hier S. 116. Christian Daniel Beck: Anleitung zur Kenntnis der allgemeinen Welt- und Völkergeschichte für Studierende, 1. Theil, Leipzig 1787, S. 97. Johann Gottfried Eichhorn: Urgeschichte, Bd.1, hrsg. v. Johann Philipp Gabler, Altdorf/ Nürnberg 1790, S. XXI.

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kenntnissen der Naturwissenschaften zu stellen, auf den Punkt. 1785 schrieb er in seiner WELTGESCHICHTE: „Die zum Theil neuen Ideen von der Entstehung (S.16–24) unserer Erde, die zur Rettung der Mosaischen Bücher immer wichtiger werden, habe ich […] nachgeschrieben.“10

Dies ist bemerkenswert! Nicht mehr die naturwissenschaftlichen Theorien bedürfen der Sanktionierung durch die theologische Tradition. Vielmehr ist es nun die Theologie, die nur noch durch die Rückendeckung der empirischen Wissenschaft ihre Gültigkeit bewahren kann. Schlözer entschärfte das Zeitdilemma dadurch, dass er die Schöpfungswoche als Sprachbild deutete. Denn ob die Schöpfungstage 24 Stunden oder aber 24 Jahrhunderte gedauert hätten, so schreibt Schlözer, dies „…entscheide die Urkunde nicht.“11 V AUSNAHMSWEISE: DER MENSCH Diese interpretatorische Flexibilität war um so mehr gefordert, als es noch einen dritten Zeitplan gab: den für die Entwicklungs- und Kulturgeschichte des Menschen. Hier verschob sich der zeitliche Horizont sehr viel langsamer nach hinten als bei der Naturgeschichte. Für die menschliche Kulturgeschichte bot die 6000-Jahre-Lehre bis weit ins 19. Jahrhundert hinein den konsensfähigen Zeitrahmen. Es fiel einer breiten Öffentlichkeit schwer zu glauben, dass es Menschen schon vor mehr als 100.000 Jahren gegeben haben sollte und dass diese in ihrem zivilisatorischen Niveau weit hinter den aus der Bibel bekannten Standards zurück lagen. Nur bei wenigen historiographischen Autoren begann schon im späten 18. Jahrhundert langsam die Ausweitung der anthropologischen Vergangenheit. So etwa bei Schlözer und Eichhorn, von denen wir hörten, dass sie früh mit der Einpassung paläontologischer und geologischer Funde in die Geschichtswissenschaft begannen. In seiner WELTGESCHICHTE von 1799 gestand Eichhorn der menschlichen Historie immerhin 7000 Jahre zu.12 Und Schlözer, der hier mutiger agierte, gewährte dem menschlichen Geschlecht sogar bis zu 20000 Jahre Geschichte zu.13 Der Universalgelehrte Johann Heinrich Gottlob von Justi kam bei der Beurteilung menschlicher Fossilien sogar zu dem für die damalige Zeit bemerkenswerten Schluss, dass sie mehrere 100000 Jahre alt sein müssten.14

10 August Ludwig Schlözer: Weltgeschichte nach ihren Hauptteilen im Auszuge und Zusammenhange, 1. Theil, Göttingen 1792, S. 29. 11 Ebda. 12 Johann Gottfried Eichhorn: Weltgeschichte1. Theil, Reutlingen 1818, S. 7. 13 Schlözer, Weltgeschichte 1. Theil, S. 31. 14 Johann Heinrich Gottlob v. Justi: Geschichte des Erd-Cörpers aus seinen äußerlichen und unterirdischen Beschaffenheiten hergeleitet und erwiesen, Berlin 1771, S. 262. (Für diesen Hinweis danke ich Dr. Ingo Wiwjorra von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.)

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Für sich genommen bleiben solche Fundstellen in den Quellen jedoch Ausnahmen. Für die Geschichtsschreibung der Wissenschaften bieten sie Anlass, um „Vorläufer“ von später etablierten Ideen zu sichten und Entwicklungslinien zu konstruieren. Ein Spiegelbild der zeitgenössischen Auffassung über die Tiefe der menschlichen Geschichte bieten sie jedoch nicht. Diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten in der Ausweitung der Zeithorizonte bei der Erd- und in der Menschheitsgeschichte bedeutete aber zum Beispiel für Archäologen und Fossilienjäger eine größere Anschlussfähigkeit ihrer zeitlichen Interpretationen an ein im chronologischen Umbruch befindliches Weltbild in Europa, denn die Ausgräber fossiler menschlicher Überreste gerieten nicht automatisch in Widerspruch zum biblischen Zeitrahmen. Dies bot gewissermaßen einen Freiraum zur Forschung. Ja, selbst das biblische Zeitmodell selbst musste nicht restlos revidiert werden, um Anschlüsse an die Ergebnisse archäologischer Grabungen zu finden. Als 1613 im französischen Langon Relikte großer menschlicher Knochen gefunden wurden, konnten diese nach langen Diskussionen in den alttestamentarischen Kontext eingepasst werden. Denn die Bibel berichtete ja über Riesen. Auch Megalithengräber und Kultanlage der Größe von Stonehenge, die die begeisterten Antiquarier wie John Aubrey in England erforschen, drängten nicht automatisch zu Interpretationen, die die Kulturgeschichte über viele Jahrzehntausende hinaus ausweiten. Erst als die Interpretation im fortschreitenden 19. Jahrhundert soweit ging, auch den Menschen als evolutionär veränderliche Art im Rahmen der Naturgeschichte zu deuten, dessen Urahnen vor Millionen von Jahren lebten, kam es zur direkten Konfrontation zwischen Archäologie, Prähistorik und moderner Historik auf der einen, sowie der Theologie auf der anderen Seite. Die Auseinandersetzungen kulminierten im Darwinismus-Streit der 60er Jahre. Doch selbst nach den großen polemischen Debatten um die Evolutionstheorie fanden sich noch in vielen Werken zur Weltgeschichte oder Völkerkunde nur sehr vage Formulierungen über das Alter der Menschheit. Denn hier bestand stets die Gefahr festzustellen, dass Mensch und Affe engere Verwandte waren, als man wünschte. „Eine solche Annahme verletzt die Eitelkeit einer großen Klasse von Menschen noch immer auf das Empfindlichste“, hielt Richard Oberländer 1878 fest.15 Und so blieb es auf paradoxe Weise der Selbstüberschätzung des Menschen geschuldet, dass er zwar mit mehreren Zeitvorstellungen lebte. Dass er sich aber andererseits in der Geschichtsschreibung lange Zeit viel zu wenig Zeit für seine Spezies genommen hatte als ihr eigentlich zustand.

15 Oberländer, Menschliche Rassen, S. 4.

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VI PRODUKTION VON WISSEN DURCH SPRACHE Erst durch die Transformierung von empirischem Faktum und diskursiver Interpretation im gemeinsamen Medium Sprache – so meine These – konnte diese Ausweitung des Zeithorizontes gelingen, ohne in direkten Konflikt mit den Grundfesten des gültigen christlichen Weltbildes zu geraten. Die Umcodierung der Semantiken ermöglichte es, neue Erkenntnisse aus empirischen Wissenschaften wie Geologie und Astronomie in die spezialisierte Geschichtsforschung, aber auch den öffentlichen Diskurs über die Stellung des Menschen zu integrieren. Verallgemeinert heißt dies als epistemologisches Fazit: Neues Wissen wird durch Sprache produziert, durch den Druck zur Kommunikation über Entdeckungen und Funde, die zwar nicht in den tradierten wissenschaftlichen Diskurs passen, die aber auch nicht ignoriert werden können. Wovon man nicht schweigen kann, darüber muss man reden. So ließe sich Ludwig Wittgensteins siebter Hauptsatz aus dem TRACTATUS LOGICO-PHILOSOPHICO, der schon so viele Variationen erleiden musste, noch einmal gewinnbringend umformulieren. In diesem Reden-Müssen liegt die Kraft zur wissenschaftlichen Revolution. Der große französische Wissenschaftstheoretiker Gaston Bachelard hat diesen Prozess auf den Punkt gebracht: „Die wissenschaftliche Sprache ist im Zustand der permanenten semantischen Revolution.“16 Und an diesem Zitat wird auch deutlich, warum das Konzept der Homöostase methodisch zur Beschreibung dieser Wissensevolution besonders tauglich ist. Bachelard bringt die entscheidenden Modi in seinem Fazit zusammen: die Gleichzeitigkeit von Zustand und Bewegung. Nichts anderes bedeutet Homöostase. Nämlich die Konstruktion von substanziellen Gegensätzen in der Beschreibung eines Prozesses aufzubrechen, oder besser gesagt: erst gar nicht als Alternativen einander gegenüberzustellen. Das klingt nach andauernder Veränderung der geistigen Grundlagen eines Diskurses. Das Bedürfnis eines gesellschaftlichen Teilsystems wie der Wissenschaft, der Theologie oder aber auch des Gesamtssystems Gesellschaft selbst nach struktureller Stabilität seines Wissens wird hierdurch aber nicht geleugnet, im Gegenteil. Durch das Modell der semantischen Homöostase wird dies vielmehr zugebilligt, da die tradierten Begrifflichkeiten und religiösen Gründungsgeschichten wie die Genesis weiterhin benutzt werden konnten. Doch die Konnotationen zu diesen Metaphern und Begriffen sind nicht statisch, wie wir weiter oben gesehen haben, sondern sie befanden sich im wahrsten Sinne im Fluss. An verschiedenen Stellen des Diskurses über die Ausmaße der Erd- und Menschheitsgeschichte machten sich Interpreten daran, ihnen neue Bedeutungen zu geben. Die Genesis war für viele eben nicht mehr unwidersprochen der wortwörtliche Ablaufbericht der Schöpfung. Sie blieb aber wie selbstverständlich die Rückversicherungsurkunde, dass Gott die Welt erschaffen hatte – nur hatten sich die Einzelheiten eben etwas anders zugetragen als von Moses überliefert.

16 Gaston Bachelard: Epistemologie, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1971, S. 208.

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Diese Beschreibung des Wissenszuwachses als eines homöostatischen Prozesses gründet zuletzt auf der aus der soziologischen Systemtheorie entlehnten Annahme, dass es bei der wissenschaftlichen Selbstvergewisserung einer Gesellschaft über ihre Grundlagen zwei Prozesse gibt, die parallel zueinander laufen: Die Beobachtung und die Kommunikation über diese Beobachtungen. Entscheidender Punkt an dieser Diagnose für die Praxis der archäologischen Ausgrabungen und Geschichtsschreibung ist, dass die Umcodierung nicht als Strategie im Sinne einer Camouflage, als Täuschung oder List der Vernunft zu verstehen ist. So als hätten sich progressive, im Innersten atheistisch eingestellte Historiker oder Archäologen mit der bildlichen Interpretation der Bibel eine subversive Strategie zurechtgelegt, nur um ja nicht mit ihren Meinungen anzuecken. Oder aber, als gäbe es einen unpersönlichen, strukturellen „Druck“ im Diskurs, der solche semantischen Verschiebungen gleichsam anonym produzierte. Dies würde die schlichte Praxis dieses homöostatischen Prozesses wieder unnötig metaphysisch überhöhen. Die Lösung des Konfliktes zwischen Glauben und Wissenschaft über den Umweg der Semantik war vielmehr eine zutiefst ehrliche und individuelle Antwort der Diskursteilnehmer. Die Sprache war ein Labor zur Wissensevolution, das von einzelnen genutzt werden konnte – aber nicht musste. Niklas Luhmann hat dies in der für ihn typischen Poesie des Formalismus formuliert. „Die Semantik gewährt der strukturellen Innovation eine gewisse Schonzeit, bis sie soweit gefestigt ist, daß sie als Ordnung aus eigenem Recht behauptet werden kann. Und auch sonst gibt es zahlreiche zeitliche Inkongruenzen zwischen systemstruktureller und semantischer Evolution – unter anderem auch der Art, daß in der Semantik Ideenerfindungen gelernt und getestet werden, bevor sie im strukturellen Kontext von Ausdifferenzierungen eingesetzt werden.“17

Karl Marx hatte in der 11. These zu Feuerbach davon gesprochen, dass es nicht darauf ankomme, die Welt nur anders interpretieren zu wollen – so wie es die Herrn Philosophen betrieben. Es komme vielmehr darauf an, die Welt zu verändern. Was Marx hier völlig unterschätzt – und wer könnte es ihm verübeln, da es ihm doch darum ging, den deutschen Idealismus zu überwinden – ist die subversive Kraft der Sprache. Für unsere Theorie der semiotischen Homöostase gilt deswegen mehr der – mindestens ebenso schöne – Satz des Schweizer Wissenschaftshistorikers Jakob Tanner: „Wenn die Welt einmal neu interpretiert ist, wird sie sich auch verändern!“18 Wichtig ist dabei zu betonen, dass dieses Modell der Wissensevolution – im unterschied zur Wissenschaftsrevolution – grundlegend nur dann plausibel ist, wenn man von einer alten sprachtheoretischen Annahme abweicht. Nämlich der, 17 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd.1, Frankfurt a. M. 1997, S. 539. 18 Jakob Tanner: „Weisheit des Körpers“ und soziale Homöostase. Physiologie und das Konzept der Selbstregulierung; in: Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Philipp Sarasin und Jakob Tanner, Frankfurt a. M. 1998, S. 129–169, hier S. 169. Sieh auch den Beitrag von Jakob Tanner in diesem Band.

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dass Worte und die Dinge, die sie bezeichnen, eine logische und feste Verbindung besitzen. Es gilt diese Annahme aufzulösen zugunsten einer pragmatischen Sicht auf das Phänomen Kommunikation. Denn hier geht es nicht um die passende Zuordnung von Zeichen und Ding. Es geht vielmehr darum, Sprache als Medium zu begreifen, das den Mitgliedern eines Systems möglichst konfliktfreie Anschlussfähigkeit in der Kommunikation ermöglicht. Ständig wiederholte Zeichen, also Worte „…dienen auch nicht, wie oft angenommen, der ‚Repräsentation’ von Sachverhalten der Außenwelt im Inneren des Systems. Vielmehr sind die Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem eine interne Unterscheidung, die nicht voraussetzt, dass es das in der Außenwelt gibt, was bezeichnet wird.“19

Was „Zeit“ ist, was unter „Vergangenheit“ zu verstehen war, was unter „Urwelt“ – all dies war – und ist – keine Sache eindeutiger Zuordnung. Vielmehr wird durch die Verwendung, die Praktik des Sprachgebrauchs, Bedeutung erst generiert. Dies heißt, dass sich die Bedeutung von Worten auch verändern kann, ohne dass deswegen das Zeichen unverständlich würde. Niklas Luhmann hat dies – allerdings aus meiner Sicht allzu einseitig – durch die Formel ausgedrückt: „Ihre [der Zeichen – S.C.] Besonderheit liegt vielmehr in der Isolierung dieser Unterscheidung, mit der erreicht wird, daß das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem unabhängig vom Verwendungskontext stabil bleibt.“20

Umgekehrt bedeutet dies aber, dass dort, wo die Semantik eines Zeichens sich aufgrund neuer Erkenntnisse änderte, dieses Wort-Zeichen wie ein Etikett, eine Konstante genutzt werden konnte, um den Diskurs, in dem es auf neue Art verwendet wurde, konsensual und damit stabil zu halten. Auch an dieser Beschreibung einer wechselseitigen Abhängigkeit von Faktum und Kommunikation über das Faktum wird deutlich, warum der Begriff der Homöostase trotz all seiner biologistischen Implikationen für die geisteswissenschaftliche Forschung nützlich ist. Denn die hier beschriebenen selbstreferentiellen Prozesse korrespondieren mit dem, was Walter B. Cannon als „soziale Homöostase“ bezeichnete, als er die Physiologie des einzelnen Körpers auf die Gesamtheit sozialer Massen übertrug. Der Wissenschaftshistoriker Jakob Tanner bewertet diese Metaphorisierung zwar durchaus kritisch, verkennt aber nicht, dass eben genau in der Datenverarbeitung und Wissensproduktion eines gesellschaftlichen Systems der Begriff angebracht ist, denn „‚Homöostase’ ist keine genuin ‚biologische’ Vorstellung; rückgekoppelte Kreisläufe und Mechanismen der Selbstregulierung lassen sich überall finden.“21

Und dies gilt für Tanner umso mehr in Kommunikationsprozessen, mit denen sich eine Gesellschaft ihrer eigenen Existenzgrundlagen, und dies meint auch ihrer Geschichte, versichert: 19 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 100. 20 Ebda. 21 Tanner, Weisheit des Körpers, S. 167.

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Stephan Cartier „,Information’ kann zwar nur in spezifischen Kontexten funktionieren; gleichzeitig sind ‚Codes’ omnipräsent, und es gibt nichts Erkennbares oder Vorstellbares, das nicht in informations- und kommunikationstheoretische Kategorien übersetzt werden könnte.“22

Letztlich ist eben Geschichte nur Kommunikation über Vergangenes, nicht die Vergangenheit selbst. So konnten – um noch einmal auf „unsere“ Geschichte zu kommen – vice versa ganz natürlich all diejenigen, die die Uminterpretation der biblischen Worte vor sich und ihrem Glauben nicht zulassen konnten, gar nicht anders, als die Erweiterung der Vergangenheit weiterhin abzulehnen. Auch dafür gibt es genügend Beispiele. Zu eben jener Zeit, in der Schlözer sich den Weg offen hielt, Glaube und Wissenschaft im Konsens miteinander zu halten, erklärte der Geschichtsschreiber Carl Renatus Hausen in seinem VERSUCH EINER GESCHICHTE DES MENSCHLICHEN GESCHLECHTS 1771 apodiktisch: „Da aber Moses die Begebenheiten ganz genau, wie sie vorgegangen ohne Kunst und Verstellung hat erzählen wollen, so muß notwenig angenommen werden, dass diese Erzählung des Sündenfalls im buchstäblichen Wortverständnis zu erklären sey.“23

So wie Hausen dachten viele deutsche Historiker. Und dies – ich habe es oben erwähnt – noch lange Zeit bis ins späte 19. Jahrhundert hinein. Es wäre also falsch anzunehmen, es habe eine kontinuierliche Erweiterung der Zeittheorie gegeben, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts das Alter der Welt von 6000 Jahre auf Jahrmillionen und –milliarden ausweitete. Durch den Druck der neuen Fakten aus Geologie und Kosmologie erwuchs aber für Historiker und Archäologen zumindest die Möglichkeit, sich zwischen zwei Modellen entscheiden zu können: dem statischen des biblischen Geschichtsbildes und dem flexiblen der Naturwissenschaften. So war es diese Form des beständigen homöostatischen Austausches, oder vielleicht besser formuliert: der gegenseitigen Anpassung des alten und des neuen Weltbildes aneinander, das in einer langfristigen Perspektive zu einer Veränderung des Grundkonsenses führte, eben der heute gültigen Auffassung, dass die Welt eine Vergangenheit von mehr als fünf Milliarden Jahren besitzt. Es bedurfte seiner eigenen Zeit des Wechselspiels von neuen Fakten und Semantiken, bis ein neuer Diskurs über die Zeitvorstellungen möglich wurde. Am Ende stand ein qualitativ veränderter gesellschaftlicher Konsens über die Ausdehnung des Zeithorizontes – der für sich genommen wiederum vorübergehend und fluide ist. Denn auch heute noch gibt es zum Beispiel in den USA von kreationistischer Seite beträchtlichen Widerstand gegen jede Spielart der darwinistischen Theorie und ihre zeitlichen Anforderungen. Und der Streit geht – fließt – weiter. Der Fortschritt in der Zeitauffassung der Neuzeit liegt also drin, dass mehrere Zeitauffassungen parallel in einer Gesellschaft bestehen können, ohne zu Wider22 Ebda. 23 Carl Renatus Hausen: Versuch einer Geschichte des menschlichen Geschlechts, 1. Theil, Halle 1771, S. 61.

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sprüchen zu führen, die die Eliminierung eines der Konzepte gefordert hätten. Die Widersprüche wurden nicht verschwiegen. Im homöostatischen Fluss der Kommunikation stabilisierten sie eine Gesellschaft im Umbruch ihres Weltbildes, indem sie Vergangenheit und Zukunft des Wissens gleichzeitig repräsentieren konnten. VII DYNAMIK DES AUSGLEICHS Wichtig für diese wissenschaftliche Fortentwicklung war, nicht demonstrativ den gesellschaftlichen Konsens zu verlassen, weder sprachlich noch strukturell. Die heroische Vorstellung der so genannten Wissenschaftsrevolution, die durch eine radikale Idee eingeleitet wird, hat ihren narrativen und legitimierenden Wert für die Gründungsvorstellung einer sich als aufklärerisch selbst legitimierenden Neuzeit. Den Geistern, die solche Ideen äußerten, ohne eine Anschlussfähigkeit an den Diskurs zu bieten, blieb indes meist nur das unbefriedigende Schicksal von Außenseitern, im schlimmsten Fall von toten. Und hier lässt sich auch ein letztes Mal die Verwendung des HomöostasePrinzips zur Beschreibung wissenshistorischer Prozesse testen. Denn es genügte eben nicht, dass die Semantik einzelner Begriffe nach Gutdünken und ohne Ausgleich mit dem gesellschaftlich Tolerablen ausgeweitet wurde. Dort, wo der Rahmen der Interpretation oder, in unserer Terminologie, der semantischen Umcodierung über die für eine Gesellschaft erträglichen Maße hinaus getrieben wurde, gab es auch keine Anschlussfähigkeit neuer Ideen. Martin Muslow hat sich ausführlich mit solchen „unanständigen“ Versuchen der Wissenserweiterung auseinandergesetzt. Als etwa der Niederländer Adriaan Beverland 1678 ein Buch mit dem Titel PECCATUM ORIGINALE veröffentlichte, in dem er die Genesis als metaphernreiche Umschreibung des Geschlechtsaktes umdeutet, konnte dies kaum etwas anderes als Verfolgung durch Kirche und Staat nach sich ziehen.24 Wie viel kluge historisch arbeitende Psychologie sein Traktat auch enthielt (und er dabei Teile der Freudschen Psychoanalyse vorwegnahm), blieb gänzlich unerkannt. Es gab keinen homöostatischen Ausgleich dieser semantischen Umdeutungen selbst für aufgeschlossene Geister. Solchen „Extremisten“ der europäischen Wissensgesellschaft bleibt posthum nur das zweifelhafte Verdienst des Märtyrertums. Zum Schluss sei deswegen hier an einen solchen mutigen Mann erinnert, den aus Bordeaux stammenden Isaac La Peyrére, der 1655 ein Buch mit dem Titel PRAE-ADAMITAE veröffentlichte. In ihm versuchte er zu beweisen, dass es bereits vor Adam und Eva Menschen gegeben haben musste – mithin die menschliche Geschichte also älter als 6000 Jahre war. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Frage, wo die Indianer Amerikas ihren Ursprung genommen hatten, da doch in der Bibel nichts von ihnen berichtet wurde. La Peyrére untermauert seine 24 Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Stuttgart/Weimar 2007, S. 6 ff.

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These von den voradamitischen Menschen durch die Auflistung logischer Ungereimtheiten der Bibel. Warum etwa sollte Gott dem Brudermörder Kain durch ein Zeichen stigmatisiert haben, wenn nicht anderen, in seinem Umfeld lebenden Menschen zur Warnung. Auch der Tod Mose erschien La Peyrére ein Beweis dafür zu sein, dass der Mann nicht Autor des Pentateuch gewesen sein konnte, in dem ja noch einiges über die Geschichte der Israeliten nach seinem Tod berichtet wird. Der Versuch, innerhalb des theologischen Diskurses gegen dessen Grundfesten zu argumentieren, musste jedoch scheitern. La Peyrére, als Calvinist wahrscheinlich ein Nachfahre zwangsbekehrter Juden, wurde selbst aus dem libertären Holland vertrieben, wohin er vor der kirchlichen Verfolgung geflohen war. 1657 inhaftierte ihn Papst Alexander VII, und er schwor seinen Ideen offiziell ab; ja, er konvertierte sogar zum Katholizismus. Innerlich blieb er indes überzeugt von seiner Idee, dass die fünf Bücher Mose nicht die ganze Geschichte der Vorwelt erzählten. Letzte Zuflucht bot ihm 1665 das Seminar von Notre Dame des Vertus in Aubervilliers bei Paris, wo er sicher vor weitere Verfolgung war – um den Preis, dass er schwieg. Das tat er bis zu seinem Tod am 30. Januar 1676.25 Isaac La Peyrére bot mit seiner Theorie der Prae-Adamiten keine Anschlussfähigkeit an den gesellschaftlichen Konsens, dass die Bibel Grundlage jeder neuen Geschichtsinterpretation sein musste. Dies weist ihn als konsequenten Denker aus. Und zeigt aber auch, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht ohne die mühselige Zusammenarbeit und den homöostatischen Ausgleich mit behäbigeren Geistern zu haben ist, wenn er von Dauer sein soll.

* Meinem Vater, Wolfgang Cartier, gewidmet, der kurz vor Drucklegung dieses Buches verstarb.

25 Zu La Peyrére: Richard Popkin: Isaac La Peyrére (1596–1676). His Life, Work and Influence, Leiden/New York/Kobenhaven/Köln 1987.

FORTWÄHRENDER URSPRUNG DER SPRACHE HOMÖOSTATISCHE PHÄNOMENE IN HERMANN BROCHS ROMAN „DER TOD DES VERGIL“ Es klang nach einer interessanten Geschichte, die der SPIEGEL mit der Nummer 43/2002 auf den Titel hob: „Der Anfang war das Wort. Wie der Mensch die Sprache erfand und dadurch zum Menschen wurde“. Da kündigte sich – im Rekurs auf Biblisches – Grundsätzliches, Absolutes, Ursprüngliches an. Von einem, nein: dem ganz bestimmten Anfang war die Rede, der mit dem Wort identisch sein soll. Damit wurde zwar das Johannesevangelium als Protokollsatz nach bester positivistischer Manier ausgedeutet1 – sehr zeitgemäß, um Eindeutigkeit bemüht, geradezu auf den Begriff und damit um den guten Teil seiner Bedeutungsfülle gebracht; dennoch ließ der Titel aufmerken, wurde doch der Anfang des Menschen mal nicht als ein rein physiologischer und damit geistloser gedacht, der in dem aufrechten, „energiesparenden“ Gang, der Zunahme des Hirnvolumens, der Ausbildung des Kehlkopfes etc. gründen soll.2 Nein, der SPIEGEL befand ganz mutig, dass der Mensch seinen Anfang vom Wort aus nahm; im Worte soll der Mensch also gründen. Die Freude über dieses Votum zugunsten des Wortes als Anfang – als absoluter – währte indessen nicht lange, genauer: bis zum konfusen Untertitel: „Wie der Mensch die Sprache erfand und dadurch zum Menschen wurde“. Der Anfang – das Wort also – bedurfte des Menschen, dem es zunächst aufgegeben worden war, „das Wort“ zu erfinden; paradox: der Anfang à la SPIEGEL braucht den „sprach-los Sprechenden“:

1

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Insofern und im Hinblick auf den Untertitel sowie den folgenden SPIEGEL-Artikel kann vermutet werden, dass das „Wort“ nicht in seiner theologischen Dimension gemeint ist, sondern eher im Sinne des DUDENs zitiert wird, als „selbständiges sprachliches Element“, als „Lautkomplex“. Es scheint, als böte der DUDEN dem SPIEGEL verdaulichere Antworten auf die Frage nach der sprachlichen Dimension des Menschen als die Bibel. Vgl. auch das Johannesevangelium 11. Vgl. auch „Bild der Wissenschaft“ 5/2008: „Wie die Sprache auf die Erde kam. Vom Affenlaut zum Menschenwort […]“. Natürlich hält der nachfolgende Artikel nicht, was der Titel verspricht. Er führt lediglich notwendige Bedingungen an – wie z.B. das „FOXP2-Gen“ –, die gegeben sein müssen, damit „die Sprache auf die Erde“ kommen konnte. Hinreichend beantwortet ist die Frage, „wie die Sprache auf die Erde kam“, damit aber noch nicht. Die jüngste Forschung im Bereich der „Sprachentwicklung“ sowie die Diskussion der bisherigen Ergebnisse ähneln stark der aktuellen, sehr kontrovers geführten Debatte zur „Hirnforschung und Willensfreiheit“. Vgl. den gleichnamigen Band, hrsg. v. Christian Geyer, Frankfurt a. M. 2004.

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Jörg Martin „Ist der Mensch schon Mensch, als er Sprache erfindet, dann kann er nicht erst dadurch zum Menschen werden. Oder ist der erste Begriff ‚Mensch‚ ein anderer als der zweite. Und was soll das für ein ‚Mensch‚ sein, der noch nicht ‚Mensch‚ ist, aber ‚Sprache‚ erfinden kann, durch die er dann ‚Mensch‚ wird. ‚Schon als Tier hat der Mensch Sprache‚, beginnt Herders Ursprungsabhandlung, was um ein Vielfaches bedeutungsvoller ist als dieser entweder in sich widersprüchliche oder nur so dahingeplauderte Untertitel.“3

Immerhin: Auf einen Aspekt, der mit der Sprachentstehung eng zusammenzuhängen scheint und dem hier nachgegangen werden soll, lenkt der Artikel die Aufmerksamkeit: Indem er Jürgen Weissenborn, Professor für Linguistik an der Universität Potsdam und Leiter der Deutschen Sprachentwicklungsstudie, zu Worte kommen lässt, benennt er den Rhythmus als konstitutives Element der Sprachentstehung. „Dem Baby stellt sich die Sprache zunächst als Lautstrom dar, wie Musik oder das Plätschern eines Gebirgsbaches.“ Darüber hinaus weiß er: „Die Melodie der Sprache nimmt das Kind bereits im Leib der Mutter wahr“.4 Bei der Einflechtung dieser Forschungsergebnisse winkt von Ferne Haeckel und dessen Biogenetisches Grundgesetz: dass die Ontogenese die Phylogenese rekapituliere, dass sich somit bei der frühkindlichen Sprachentstehung die Sprachentwicklung des Menschen zeige. Ob diese Annahme zulässig ist, kann hier nicht entschieden werden. Dennoch sollen die Beobachtung Weissenborns als Anlass genommen werden, um der Frage nachzugehen, inwiefern der Rhythmus – verstanden als ein bedeutungsvolles, sprachliches, nicht nur akustisches Phänomen – sowohl mit dem Anfang der Sprache als auch mit dem des Menschen als Menschen in Verbindung gebracht werden kann – und was das wiederum mit dem Paradigma der Homöostase zu tun haben könnte. DAS PERSPEKTIVIERENDE UNTERSUCHUNGSOBJEKT Wenn in diesem Beitrag vom Rhythmus die Rede ist, so ist der Rhythmus der Sprachbewegung, also das sprachliche Phänomen „Rhythmus“, gemeint. Und weiter: Es geht um die Frage, inwiefern das sprachliche Phänomen „Rhythmus“ elementar sprachlich bzw. ein ursprüngliches Sprachphänomen ist. Die Betrachtungen zum Rhythmus gehen dabei primär, auch wenn nicht immer explizit dargestellt, von Beobachtungen aus, die Hermann Brochs Roman „Der Tod des Vergil“5 sowie Brochs Schriften zu Literatur ermöglichen. Anders gesagt: Diese Texte, insbesondere aber der Roman, stellen ein Wahrnehmungsschema bereit, das die hier zu besprechenden Inhalte überhaupt erst erfahrbar macht. Seit seinem Erscheinen im Jahr 1945 gibt „Der Tod des Vergil“ Rätsel auf. Obwohl über die Bedeutsamkeit des Romans weitgehend Einigkeit besteht, ist er 3 4 5

Helmut Arntzen: Sprache im Spiegel, zitiert nach: www.helmut-arntzen.de SPIEGEL 43/2002, S. 218–234 Hermann Broch: Der Tod des Vergil, hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1976. Im nachfolgenden beziehen sich die den Zitaten aus dem Roman nachgestellten Seitenangaben auf diese Ausgabe.

Fortwährender Ursprung der Sprache

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nur mäßig rezipiert und kaum erforscht. Zum einhundertsten Geburtstag Brochs lässt sich dementsprechend in einem Aufsatz von Martin Lüdke lesen: „Hermann Broch, vielzitiert, kaum gelesen. Von den großen Gestalten der Literaturgeschichte dieses Jahrhunderts, wie Kafka und Proust, wie Joyce und Musil und (…) Thomas Mann, ist er, bis heute, der unbekannteste geblieben.“6

Man muss fairerweise hinzufügen: Broch ist nicht ohne Grund der unbekannteste geblieben, ist doch sein opus magnum, „Der Tod des Vergil“, geradezu unlesbar und extrem unverständlich. Der Text macht es dem Leser nicht leicht, drängt ihn eher heraus, als dass er ihn an sich bindet. Dieses abweisende, herausdrängende, inkommensurable Moment des Textes kann als ärgerliche Nebenerscheinung, als Stileigenart, als Manierismus Brochs abgetan werden, an dem der Leser dann i.d.R. auch scheitert; es kann aber auch den Blick auf die besondere Qualität des Textes lenken, kann auf das aufmerksam machen, was an dem Text sinnvoll kaum zu begreifen, aber als ein Sinnliches an ihm sehr wohl erfahrbar ist: den Rhythmus als sprachliches Phänomen, mit dem der Text immer wieder an seinen eigenen sprachlichen Ursprung – die Weise der Sprachentstehung – herangeführt wird. METHODISCHES Den Rhythmus zu denken, ohne ihn indessen als Begriff zu haben, ist das Problem bei der Beschäftigung mit ihm. Rhythmus ist weder ein Gegenstand, wie etwa eine Kunstgattung oder ein Kunstwerk, noch führt er zu einer isolierten Betrachtungsweise, wie etwa der stilistisch-ästhetischen.7

Diese Feststellung deutet bereits auf einen Rhythmus hin, der nicht in semantischer Bestimmung, sondern konkret in dem von ihm gemeinten Geschehen gründet. Dieses Geschehen nachzuvollziehen, sich auf es einzulassen, bringt dem Rhythmus näher; es lediglich mit dem Begriff zu belegen, sagt hingegen wenig aus. Anders gesagt: Da der Begriff Rhythmus als Begriff stets Gegenständliches, Statisches suggeriert, ist er gegen eine Vorstellung des Rhythmus einzutauschen, die an das Geschehen selbst gemahnt. Dementsprechend soll in diesem Beitrag „das Rhythmische“ fortan anleiten, sich dem von ihm Gemeinten zu überlassen. Dem Geschehen wird hier das Primat zugesprochen. Um die Einstimmung auf dieses Geschehen mit der Untersuchung selbst noch zu befördern, hat Sprache sich als primär begriffsorientierte zurückzunehmen und dem Zugriff auf das Rhythmische zu entsagen.

6 7

Martin Lüdke: Der gehetzte Engel mit dem Doppelberuf; in: SPIEGEL vom 27. Oktober 1986, S. 250–258. Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik. Hamburg 1958, S. 64.

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DAS RHYTHMISCHE ALS UNSAGBARES Das Rhythmische muss statthaben, damit sich vollzieht, was nicht mit dem Begriff auf den Punkt gebracht werden kann. Das Rhythmische muss zeigen, dass mit ihm als Begriff noch nichts gewonnen ist, es muss die eigene Begrifflichkeit in Frage stellen im Verweis auf das Rhythmische als ein sich Vollziehendes. Insofern ist das, was das Rhythmische ausmacht, unsagbar, wobei „der topos der Unsagbarkeit [...] nicht wirklich Unsagbarkeit [meint]; dann müsste an seine Stelle ja das Schweigen treten.“8 Er meint vielmehr, dass man sich von dem Rhythmus „keinen Begriff machen kann, der nicht zugleich schon wieder das zerstörte, um das es ‚eigentlich’ geht“.9 Das Rhythmische muss sich der es depravierenden Begrifflichkeit entschlagen: Es muss – getreu dem Wittgensteinschen Motto, dass das Unaussprechliche sich zeigen muss10 – präsentieren, was es ist, indem es sich vollzieht. Das Rhythmische ist ein Bewegtes, darin zeigt es sich. DAS RHYTHMISCHE ALS EIN SICH-ZEIGENDES Bei dieser Demonstration tritt Sprache als bloß instrumentalisierte zurück: Die Sprache wird als sinnliche, nämlich als klangliche und im ursprünglichen Sinne euphonische erfahren und nicht für einen kommunikativen Sprechakt verwendet. Präsent wird in dem, was sich zeigt, worauf der Begriff immer nur verweisen kann, indem er es eben als Abstraktes verwiesen sein lässt: das Liedhafte, Lyrische rhythmischer Sprache. Je ausgeprägter aber diese Erfahrung ist, desto weniger ist logisch-begrifflich zu fassen, was erfahren wird. Denn dem Sinnlichen rhythmischer Sprache korrespondiert eine Bedeutungsoffenheit, die vor dem Petrifizierten eines jeden Begriffes liegt; im Hinblick auf das Rhythmische ist Sprache als begriffsbezogene das sekundäre Sprachphänomen. So ist entsprechend auch das vermeintlich Identische eines Gegenstandes, auf das der Begriff als Begriff verweist, dem Rhythmischen fremd, da ihm dessen Konkretion nicht Aufgabe und Ziel ist. Das Identische, der Gegenstand, der Begriff sind mit dem Rhythmischen nicht vereinbar. Sie sind erst dort, wo das Rhythmische nicht mehr ist. Umgekehrt bedeutet dies, dass das Rhythmische begrifflich nicht zu fassen ist. Im Versuch seiner über den Begriff habhaft zu werden, wird sich das Rhythmische stets verflüchtigen, da es so nicht festzustellen ist. Auf diese Proble8

Thomas Althaus: Aphorismus und Experiment. Lichtenbergs Versuche mit Worten; in: Germanistik im Zeitalter der Technologie. Selbstbestimmung und Anpassung. Vorträge des Germanistentages 1987, hrsg. von Norbert Oellers. Bd. 2, Tübingen 1988, S. 355–379, hier S. 369f. 9 Ebda. 10 „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M. 1960, S. 7–83, hier S. 82.

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matik macht das dem „Tod des Vergil“ vorangestellte Motto aus der „Aeneis“ aufmerksam, das somit als Allegorie verstanden werden kann: ... Da iungere dextram, da, genitor, teque amplexu ne substraho nostro. Sic memorans largo fletu simul ora rigabat. Ter conatus ibi collo dare bracchia circum, ter frustra comprensa manus effugit imago, par levibus ventis volucrique simillima somno.11

Das Rhythmische, zumal das des Mottos, zeigt sich; „leicht wie Windhauch“ entzieht es sich jeglichem Zugriff. ZUR ETYMOLOGIE Das Rhythmische als Dynamisches, ein „Sich-vollziehendes“ zu denken legt auch seine Etymologie nahe, indessen dies nicht nur, da sie auch dessen Verfassung als Form zu bedenken gibt. Obwohl die Etymologie des Wortes Rhythmus nicht eindeutig und mit letzter Sicherheit zu bestimmen ist, wird es vielfach von griech.: rheein, fließen, abgeleitet. Curtius, auf den in dieser Debatte immer wieder zurückgegriffen wird, stellte in der fünften Auflage seiner „Grundzüge der griechischen Etymologie“ von 1879 fest, dass „aber der ρυ-ϑ-µo-ς [...] von den Griechen dem Meere abgelauscht ward“12. Seidel jedoch bemerkt dazu, dass diese „Ableitung [...] nur lautlich, nicht aber semasiologisch befriedigend [ist]. Denn in den ältesten Belegen bedeutet ρυϑµoς weder ‚Fluss’ noch ‚fließen’.“13 In ihnen nämlich zeigt Rhythmus sich nicht mehr als ein Dynamisches, sondern, paradox, als ein Statisches. Mit dem Fragment 67a, das Archilochos (7. Jh.n.Chr.) zugeschrieben wird, ist das Dokument gegeben, mit dem Rhythmus erstmals zu belegen ist. Dort heißt es, in einer Übersetzung von Werner Jaeger: Weder sollst du als der Sieger vor aller Welt dich brüsten, noch sollst du als Besiegter zu Hause dich hinwerfen und jammern, sondern freue dich über das was freuenswert ist, gib dem Unglück nicht zu sehr nach und erkenne, welcher Rhythmus die Menschen in seinen Banden hält.14

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„‚laß, Vater, laß deine Hand mich fassen, entziehe dich, Vater, doch nicht der Umarmung des Sohnes.' Also sprach er und Ströme von Tränen netzten sein Antlitz. Dreimal versuchte er, ihm um den Nacken die Arme zu schlingen, dreimal, vergeblich umarmt, entrann das Bild seinen Händen, leicht wie Windhauch, ähnlich durchaus dem flüchtigen Traumbild.“ Vergil: Aeneis. Und die Vergil-Viten. Lateinisch – Deutsch. In Zusammenarbeit mit Karl Bayer hrsg. und übersetzt von Johannes Götte. Bamberg 1958, S. 260f. 12 Georg Curtius: Grundzüge der Griechischen Etymologie, Leipzig 1879, S. 353. 13 Wilhelm Seidel: Rhythmus/Numerus (1980); in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, Wiesbaden, S. 5. 14 Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 1. Berlin/Leipzig 1934, S. 173f.

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Rhythmus erscheint hier als das, was den Menschen „hält“ und ihn gesetzmäßig bindet, ihn einbindet. Er ist zu denken als Gesetz, wird zum Schicksal. Liest man vor diesem Hintergrund den Anfang der Brochschen Schicksalelegie „Schicksal, du gehst allen Göttern voran“ (191), dann ist dies auf den Rhythmus hin zu perspektivieren. Dem Rhythmus als Schicksalhaftem ‚unterliegen’ selbst noch die Götter, sie können sich ihm nicht entziehen. Den pragmatischen Aspekt dessen gibt Nietzsche dann als den „Ursprung der Poesie“ zu bedenken: Man versuchte sie [die Götter, J.M.] also durch den Rhythmus zu zwingen und eine Gewalt über sie auszuüben: man warf ihnen die Poesie wie eine magische Schlinge um.15

Rhythmus schlägt in Bann, ‚fesselt’. In diesem Sinne führt Jäger noch weitere Beispiele an: Wir denken an den Prometheus des Aischylos, der in dem Eisengeflecht seiner Fesseln regungslos festgehalten ist und von sich sagt: Ich bin hier in diesem „Rhythmus“ gebannt, oder an Xerxes, von dem Aischylos sagt, er habe den Fluß des Hellespont in Fesseln gelegt und den Wasserweg über ihn „in eine andere Gestalt (Rhythmus) gebracht“ d.h. in eine Brücke umgestaltet und ihm feste Bande umgelegt. Hier ist Rhythmus gerade das was der Bewegung, dem Fluß die Schranke, das Feste auferlegt [...]. So spricht auch Demokrit im echten alten Sinne vom Rhythmus der Atome und versteht darunter nicht etwa ihre Bewegung, sondern, wie bereits Aristoteles treffend den Sinn wiedergibt, ihr „Schema“.16

Leemans kommt in seiner Untersuchung zu einem vergleichbaren Ergebnis: „Form ist also die ursprüngliche Bedeutung.“17 Dieser Feststellung liegt indessen der Dualismus von Form und Inhalt zugrunde, was bedeutet, der Rhythmus könne als isolierte „Form“, als „Schema“ betrachtet werden. Schnell wäre man dann bei der Metrik als Synonym für den Rhythmus.18 Will man diesem jedoch gerecht werden, sind im Hinblick auf die Etymologie sowohl der dynamische als auch der statische Aspekt dessen, was das Wort meint, zu berücksichtigen und in einen Zusammenhang zu bringen. Der Rhythmus lässt sich demnach denken als eine stetige Bewegung, die ihr Gegliedert-sein als Form mit sich zum Ausdruck bringt. Anders gesagt: Als Rhythmus zeigt sich die Manifestation des Gesetzes, das er als rhythmische Bewegung vollzieht. Damit ist der Rhythmus als ein homöostatisches 15 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York 1973, S. 11–335, hier S. 116. 16 Jaeger, Paideia, S. 174f. 17 „Vorm is dus de oorspronkelijke betekenis.“ E.A. Leemans: Rhythme en ΡΥΘΜΟΣ, in: L'Antiquité Classique. XVII (1948), S. 403–412, hier S. 411. 18 vgl. auch Roberto Calasso: Die Literatur und die Götter, München/Wien 2003, S. 112: Im Hinblick auf Mallarmés Feststellung: „In Wirklichkeit aber gibt es keine Prosa: Es gibt das Alphabet und dann Verse, mehr oder weniger dicht, mehr oder weniger locker“, erläutert Calasso: „Rhythmus aber bedeutet Metrum. […] Das Metrum ist jetzt nicht mehr der Sprache funktional untergeordnet, sondern umgekehrt: Die Sprache bildet sich in funktionaler Abhängigkeit vom Metrum. Allein das Metrum bewirkt, dass es Stil gibt, und nur der Stil bewirkt, dass es Literatur gibt. Die Differenz von Dichtung und Prosa lässt sich also nicht aufrechterhalten […] Die rhythmischen Akzente können mehr oder weniger deutlich markiert sein. Aber sie sind die Kraft, die das Wort trägt“. – Erläuterungen, die sich der Gleichsetzung von Rhythmus und Metrum verdanken und des Paradigmas der Homöostase entbehren.

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Phänomen beschrieben. In der Homöostase unterliegt die Bewegung der Form, die sie mit ihrem Vollzug unterhält. Dass der Rhythmus einem Gesetz, einer Form unterliegt, dass er als ein Gegliedertes und zugleich stetig Bewegtes zu denken ist, macht ebenfalls Klages deutlich. Mit der Bestimmung des Rhythmus ‚als gliedernde Stetigkeit’ grenzt er ihn vom Takt ab, der, ebenfalls gliedernd, die Stetigkeit dessen, was er gliedert, unterbricht, z.B. mit dem Taktstrich. Klages bemerkt zum Rhythmus: Wir denken an den regungslosen Spiegel des Teiches, in dessen Mitte ein Stein gefallen, und lassen den Blick mit den Wellen nicht weiterwandern, sondern halten die Stelle fest, wo etwa ein schwimmendes Holzstück die Bewegung bezeichnen möge. Wir fragen, worin sie dem Zweitakt müsse verglichen, worin von ihm unterschieden werden. – Wie auf die Arsis die Thesis folgt, so folgt auf den Wellenberg das Tal; beide entsprechen den begrenzenden Schlägen, allein die Schläge sind nicht markiert. Vermittelt durch einen unauszählbaren Wechsel von Zwischenlagen gleitet die Aufbewegung in die Abbewegung hinüber und umgekehrt, derart dass weder am oberen noch am unteren Wendepunkt eine Kante entspringt. Im stattdessen erscheinenden Bogen wird uns anschaulich offenbar die unzergrenzte Stetigkeit einer Bewegung von nicht zu verkennender Gliederung, infolge des beständigen Wechsels nämlich einander entgegengesetzter Ausschläge von der Ruhelage.19

Diese Überlegungen sowie die im Zusammenhang mit dem Rhythmischen stets auftauchende Metapher der wogenden Wellenbewegung können einen weiteren Ansatz zur Interpretation des Romans „Der Tod des Vergil“ liefern. Mit ihr nämlich kann der Eingang des Romans – „Stahlblau und leicht, bewegt von einem leisen, kaum merklichen Gegenwind, waren die Wellen des adriatischen Meeres dem kaiserlichen Geschwader entgegengeströmt“ (11) – als gleichsam etymologisch motivierte Thematisierung dessen verstanden werden, was den Text immer wieder, den zitierten Eingang im besonderen gliedernd organisiert: das Rhythmische. ZUM RHYTHMISCHEN ALS URSPRUNG Das Rhythmische als Ursprung der Sprache gedacht, ist – gleichsam ‚an sich’ und selbst sprachlos – nur als das Gestaltlose, das Amorphe zu denken, das im Dunklen liegt. Davon weiß die „Genesis“ in dem Satz: „Vnd die Erde war wüst vnd leer / vnd es war finster auff der Tieffe“.20 Der Ursprung selbst kann sich nicht aussagen und immer nur von seiner äußeren Grenze her gedacht werden, jenseits derer alles im Dunkeln liegt. Das bedeutet zweierlei: Als Ursprungsphänomen a priori gesetzt, kann das Rhythmische erst im nachhinein postuliert werden – nämlich nachdem es Sprache hervorgebracht hat – und dann festgestellt nur mit Begriffen, deren logisch-grammatische Fügung das Rhythmische nie wird als Ursprüngliches restaurieren können. Das Rhythmische als ein Ursprüngliches 19 Ludwig Klages: Vom Wesen des Rhythmus, Kampen auf Sylt 1934. S. 16f. 20 Gen. I.2. zitiert. nach: D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe, hrsg. v. Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke, Darmstadt 1973, S. 25.

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festhalten zu wollen, ist somit wenig sinnvoll. In diesem Sinne ist Georgiades zu verstehen: „Rhythmus ‚ist’ – für sich – nichts“21. Für das Rhythmische als Ursprung gilt im besonderen, was Foucault über den Ursprung im allgemeinen schreibt: Das Ursprüngliche [...] ist also durchaus unterschieden von jener idealen Genese, die das klassische Zeitalter zu rekonstruieren versucht hatte. Aber es ist auch verschieden [...] vom Ursprung, der sich in einer Art retrospektiven Jenseits durch die Historizität der Wesen hindurch abzeichnet.22

DAS RHYTHMISCHE ALS URSPRÜNGLICHES SPRACHPHÄNOMEN Das Verständnis eines Rhythmischen als Ursprung muss aufgegeben werden zugunsten eines Rhythmischen, das, obwohl in ihm fußend, immer schon über den Ursprung hinaus ist.23 Es ist nicht das ursprüngliche Prinzip, aus dem heraus sich die Sprache entwickelt, ist nicht Ursprung der Sprache, sondern ursprüngliches Sprachphänomen. Quelle und Ursprung heißt nichts anderes als die erste, unmittelbarste Weise, in der etwas erscheint.24

Das Rhythmische als Ursprung ist immer schon außer sich in der Sprache, wobei das Außer-sich-sein des Rhythmischen in der Sprache den Raum markiert, in dem, und nur in dem, ursprüngliche Sprache statthat. Nur so, wenn die Beziehung zwischen Sprache und Rhythmischem als eine ursprüngliche gedacht wird, kann die müßige Frage nach dem missing link, welches den Übergang von diesem zu jener plausibel macht, umgangen werden.25 21 Thrasybulos Georgiades: Sprache als Rhythmus, in: Die Sprache. Vortragsreihe München/ Berlin 1959, hrsg. von der Bayerischen Akademie der schönen Künste. München 1959, S. 75–92, hier S. 91. 22 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971, S. 399. 23 Als Wesen, das Sprache hat bzw. sprachlich verfasst ist, war der Mensch immer schon über den Ursprung hinaus im Sprung, d.h. im (rhythmischen) ‚Satz’! Mit Foucault gesagt: „Stets auf einem Hintergrund eines bereits Begonnenen kann der Mensch das denken, was für ihn als Ursprung gilt.“ Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 398. 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1974, § 400. S. 97f. 25 Dieser Frage aber muss sich Mayer stellen. Er kommt in seinem Buch „Schöpferische Sprache und Rhythmus“ zu dem Ergebnis, dass „im Anfang der Sprache nicht der Logos [war], sondern der Rhythmus.“ Dieser These liegt die Annahme zugrunde, dass Sprache „nicht gewollte oder gekonnte Wiedergabe und freie Bearbeitung von wahrnehmbaren Eindrücken [ist], sondern zwangsläufige Bewegungs-Reaktion auf intensives Erleben.“ Legt man den Rhythmus als derart ursprüngliches Erlebnis zugrunde, stellt sich aber die Frage, wie der Übergang von der „zwangsläufige[n] Bewegungs-Reaktion“ „in Gebärde und Stimme“ zur sinnvollen sprachlichen Äußerung zu denken ist, wann und wo die expressiven Laute mehr

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Es soll also das Rhythmische so verstanden werden: nicht als das Unsprachliche und Ursprüngliche an sich – dann wären die rhythmischen Passagen im Roman „Der Tod des Vergil“ durch bloße Lautabfolge ein gänzlich unverständliches und daher sinnloses Murmeln –, sondern als ursprüngliche Organisation von Klanglichem als dadurch erst Bedeutungsvollem und Sprachlichem. Mit dem Rhythmischen als homöostatischem Phänomen organisiert sich Klangliches zu Bedeutungsvollem. In diesem Zusammenhang ist auf Brochs Aufsatz „James Joyce und die Gegenwart“ hinzuweisen. In der 1936 verfassten Kritik bezieht Broch sich zum Ende hin auf „Anna Livia Plurabelle“, einem Kapitel aus Joycens „Finnegans Wake“. In diesem Kapitel nun, so das Referat Brochs, geht es um die Rückverwandlung von Sprache, wie sie der Alltag kennt, in das „Murmeln des Flusses“, die „Musik des Wassers“: Ihre Gespräche gehen im Takte der Arbeit, des Walkens und des Ausschlagens, ihre Gespräche sind selber Waschen, sie waschen die schmutzige Wäsche der Stadt. Doch es wird dunkler, die Nebel sinken herab, das Gespräch wird lässiger, die Bewegungen der Wäscherinnen werden lässiger, der Fluß wird im sinkenden Nebel immer breiter und breiter, sein Murmeln wird immer hörbarer, es dringt das Murmeln des Flusses in die Gespräche ein, denn nichts wird beschrieben, alles entsteht in und aus dem Reden der Wäscherinnen, die nun schon keine Wäscherinnen mehr sind, sondern Fabelwesen, die eine zum Strunk eines Uferstrauches, die andere zu einem Felsstück geworden, bespült von den wachsenden Wellen sie beide, und ihre Sprache ist schließlich nur mehr das verebbende Murmeln des Flusses, unverständlich jedem Zuhörer, unverständlich ihnen selber, Musik des Wassers, gefaßt in menschlichen Laut, der kaum mehr Wort ist.26

Als beinahe nurmehr Lautliches werden die gesprochenen Worte der Wäscherinnen wahrgenommen, als das „Murmeln des Flusses“, das aber, und das ist das entscheidende, wiederum selbst sprachlich, weil „gefasst in menschlichen Laut“ ist. Fluss und Wortstrom sind beinahe deckungsgleich, überlagern sich, ufern aus, sind nicht mehr zu unterscheiden. Natur wird zu Sprachlichem und dieses wiederum zu Natur. In dieser elementaren Organisation kann das Klangliche als Bedeutungsvolles nicht zum bloßen und unbedeutenden Naturlaut hin ‚entwerden’: Das Murmeln selbst ist noch sinnvoll – und schließlich sogar sinnvoller als das ‚Gewäsch’ der Wäscherinnen. Wer sich darauf einlassen kann wird das Murmeln schon verstehen, nämlich als Sprache in ihrer ursprünglichen Erscheinungsweise. Das Rhythmische, so wie es hier betrachtet werden soll, lenkt die Wahrnehmung auf sich selbst als elementar organisierendes Moment von Sprache. Somit kann das Rhythmische nur untersucht werden als ein Phänomen, das immer

Sinn bekommen als den, „intensives Erleben“ bloß peripher zu begleiten. Felix Mayer: Schöpferische Sprache und Rhythmus, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Erich Simenauer, Berlin 1959, S. 63. 26 Hermann Broch, James Joyce und die Gegenwart, in: Hermann Broch. Schriften zur Literatur 1, hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1975, S. 63–94, hier S. 78.

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schon sprachlich ist, also anhand Rhythmisch-Sprachlichem.27 Die Betrachtung geht an dieser Stelle nun endgültig über von dem (sinnlosen) Begriff des punktuellen Ursprungs zum breit angelegten Ganzen einer rhythmischen Textpassage. Die rhythmische Passage ist ein Phänomen des Übergangs, der Dämmerung, dem die ‚Klarheit’ des Logos – das Descartessche clare et distincte – nicht zukommen kann: [...] Aufgetan und gleitend war das Dämmerlicht, war das Atembare, so gleitend wie das Flutende, in das die Kiele tauchten, flüssiges Bad der Seele [...]. Vorne am Bug sang ein Musikantensklave; [...] und nach einer kurzen Pause für das Stimmen der Leier sowie nach einem kurzen, kunstgerechten Zuwarten war es aufgeklungen, wurde es herbeigeweht, das namenlose Lied des namenlosen Knaben, mild strahlend das Lied, hauchschwebend wie die Farben eines Regenbogens im Nachthimmel, mild strahlend das Saitenspiel, elfenbeinzart, Menschenwerk das Lied, Menschenwerk das Saitenspiel, aber über den menschlichen Ursprung hinaus menschenentfernt, menschenentlöst, leidenentlöst, Sphärenluft, die sich selber singt [...] (19f.)28

Die rhythmische Passage ist nicht im ursprünglich Rhythmischen beheimatet, sondern, selbst heimatlos, stellt sie den Ort eines Übergangs dar, an dem Sprache sich als sinnliche und damit überhaupt erst als Sprache entdecken kann. Durch ihre Sinnlichkeit, die Sprache – rhythmisch organisiert – an sich bemerkt, entdeckt sie an sich Ursprüngliches. Ihre konkrete Sinnlichkeit ist somit kein akzidentielles Beiwerk, sondern ihre ursprüngliche Erscheinungsweise. Kein Grund geht ihr also voran, aus dem sie hervorgeht. In der rhythmischen Passage erfolgt der Hinweis der Sprache auf sich selbst als Grund. Sie wird zur „Sphärenluft, die sich selber singt.“ (20) Als rhythmische ist Sprache an ihren Ursprung gebunden. Anders gesagt: rhythmische Sprache schreitet nicht (diskursiv, argumentativ) fort, sie entwickelt sich fortwährend, indem sie ihren Ursprung nicht verlässt, sondern ihn weitgehend bei sich hat: Sie währt in ihrem Wechsel, oder: Sie ist in ihrer (sukzessiven) Bewegung zugleich deren Anhalt: Homöostase!29 Dies verweist auf die repetitive 27 Trier betont ähnliches, wenn er auf die „Unterschiede zwischen Tanz und Musik auf der einen, Dichtung auf der andern Seite“ eingeht: „Auch eine gefühlig gelöste, rauschhaft entrückte und taumelnde Lyrik behält doch immer einen unaufhebbaren Bestand von Denkstoff und Begrifflichkeit, einen Strang von Vernunft, der nicht zerreißen kann. Das liegt an ihrem Stoff. Sie bleibt immer Rede, immer innerhalb des Sprachlichen. Das kann sie in keinem Fall verleugnen. Es bleibt in der Dichtung immer ein elastisches Gegeneinander von ρυϑµος und λογος.“ – In diesen Ausführungen Triers ist allerdings vom Standpunkt dieses Beitrages aus betrachtet der Terminus Begrifflichkeit ein problematischer. Jost Trier: Rhythmus, in: Studium generale, 2 (1949), H. 3, S. 135–141, hier S. 138. 28 Hervorhebung von J.M. 29 In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen Umberto Ecos zu dem spanisch-arabischen Theologen Ibn Hazm (994–1064) von großem Interesse: Er referiert, „daß die Sprachen nicht durch Übereinkunft entstanden sein können, da die Menschen ja, um sich über Regeln zu einigen, vorher eine Sprache gehabt haben müssten; hätte es diese Sprache aber bereits gegeben, warum hätten die Menschen sich dann die Mühe machen sollen, andere Sprachen zu erfinden […]? Ibn Hazm hat nur eine Erklärung: Die Ursprache enthielt bereits alle Sprachen. Die spätere Trennung und Teilung […] ist nicht durch die Erfindung neuer Sprachen provo-

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Struktur rhythmischer Sprache und letztendlich auf die repetitive Struktur des gesamten Brochschen Romans. Sie erreicht stets das, was sie gerade erst verlassen hat; sie hält, obwohl bewegt, an sich, ist – als dynamische – statisch: Sie hat statt und lässt dadurch erkennen, dass sie immer schon auf das Ganze hin zu perspektivieren ist: Das Fortschreiten von einem Moment zum anderen vollzieht sich somit unter dem Gesichtspunkt des Ganzen und damit zum Ganzen hin, aufs Ganze, genauer: auf das Erleben des Ganzen, zu.30

Das Rhythmische als Ganzheitsphänomen hat weder eine Heimat, der es entstammt, noch ein Ziel, auf das es zusteuert, da es immer schon ganz bei sich selbst ist: [...] Unbekannt war das Ziel, unbekannt der Ausgangshafen; von keiner Mole war man abgestoßen, aus Unendlichkeiten kommend, ins Unendliche strebend ging die Fahrt vor sich [...] (413).

Jünger rekurriert auf einen ähnlichen Ursprungsgedanken: Wir müssen vielmehr davon ausgehen, dass der Ursprung der Sprache etwas Mitgegebenes ist. Das heißt, als werdende hat sie ihren Ursprung nicht hinter sich, sondern bei sich. Werdend löst sie sich von ihrem Ursprung nicht ab, sondern hält ihn bei sich.31

Der Ursprung der Sprache ist somit nicht etwas, das von dieser getrennt vorhanden wäre. Als rhythmische trägt sie ihn bei sich, was bedeutet, dass sie ihn als einen externen noch nicht aufgegeben hat. Dementsprechend kann sie ihn auch nicht haben, da sie, indem sie sich im Rhythmischen zu allererst organisiert, ursprüngliches Phänomen der Sprache ist. Als solches aber ist sie unbegrenzt, sie bringt Unendliches, „Einheit“ mit sich zum Ausdruck, kennt weder einen Anfang noch ein Ende. Der Sprachrhythmus ist die ungeteilte Bewegung selbst, in der die Sprache sich in dieser ihrer Einheit faßt und sich in ihr wiegt.32

Im Bestreben Brochs, mit seinem Roman „der Welttotalität die Waage [zu] halten“33, erscheint das Rhythmische als das gesuchte sprachliche Phänomen, mit dem die ‚waaghaltende Totalität’ darzustellen möglich ist.

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ziert worden, sondern durch die Zersplitterung jener ersten, die von Anfang an existierte und in der alle anderen schon enthalten waren.“ Es fällt nicht schwer, in diesen Überlegungen Parallelen zum Paradigma der Homöostase zu entdecken. Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München 2002, S. 356. Richard Hönigswald: Vom Problem des Rhythmus. Eine analytische Betrachtung über den Begriff der Psychologie, Leipzig/Berlin 1926, S. 38. Friedrich Georg Jünger: Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht, Stuttgart 1966, S. 21. Friedrich Georg Jünger: Wort und Zeichen. In: Die Sprache. Vortragsreihe, München/Berlin 1959, S. 55–74, hier S. 73. Hermann Broch: Die mythische Erbschaft der Dichtung, in: Hermann Broch, Schriften zur Literatur 2, hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1986, S. 202–212, hier S. 210.

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DAS RHYTHMISCHE ALS WEISE DER WELTERZEUGUNG Das bereits angeführte Zitat aus der „Genesis“ erlaubt auch eine Interpretation, die einerseits dem Phänomen des Rhythmischen, andererseits dem Zitat selbst noch gerechter wird. Nicht bringt es dann primär das Ursprüngliche als das Chaotische und Finstere – gleichsam in seiner vermeintlichen Abbildfunktion fotographisch – auf den Begriff, sondern stellt mit sich selbst die erste Organisation dessen als ein Rhythmisch-Sprachliches dar. Insofern ist das Sprechen von Gen. I.2. ein produktives zu nennen. Es markiert den Anfang der Welt als einen mit Sprache verbundenen, deren ursprüngliche Regungen und erstmals aufkommende Organisation mit der Organisation des Chaotischen einhergeht. Die Weise der ursprünglichen Wahrnehmung der Welt koinzidiert mit der ursprünglichen Sprache, die primär sich nicht anders als rhythmisch organisiert. In dieser rhythmischen Organisation, so ist vorstellbar, wird die Welt nicht als eine feste, gegenständliche, sondern als eine fluide, klangliche Erscheinung konstituiert34, in der die Welt sich bedeutungsvoll „bekunde[t]“35. Im Rhythmischen organisiert sich der Klang, der so Welt bedeutet.36 Die Ursprünglichkeit der Welt fällt mit der der Sprache in der Entdeckung des Klanglichen als Sinnliches, Ästhetisches zusammen. Die Welt in ihrer primär-organisierten Erscheinung ist ein ästhetisches Ganzheitsphänomen. Als ein solches, ohne verortet, klar und konturiert zu sein, ist sie, und mit ihr das ursprüngliche Sprachphänomen, elementar. Zu diesem elementaren Sprach- und Weltverhältnis muss immer wieder zurückkehren, wer sich am einzelnen Gegenstand nicht verlieren und die Welt als ‚außersprachliche’, ‚faktische’ nicht aufgeben will. Noch einmal sei in diesem Zusammenhang an den Aufsatz „James Joyce und die Gegenwart“ erinnert, da Broch dort explizit das Schöpferische des Rhythmischen, bzw. des „Murmelns“ hervorhebt. Während der sinkende Nebel die Konturen des Gegenständlichen verwischt, die Dämmerung ihr übriges tut, nimmt der Fluss mit seiner Akustik mehr und mehr die Szenerie und das Geschehen in sich auf. Das Murmeln „dringt [...] in die Gespräche ein“37, die dadurch ihre kommunikative Funktion verlieren: „denn nichts wird beschrieben, alles entsteht in und aus dem Reden der Wäscherinnen, die nun schon keine Wäscherinnen mehr sind“38. Die Gegenstände, die Wäscherinnen, sie gehen ein in 34 „Der sechste Quellgeist in der göttlichen Kraft ist der Schall oder Ton, dass alles darinnen schallet und tönet, daraus die Sprache und Unterscheid aller Dinge erfolget […]“. Jakob Böhme: Aurora oder Morgenröte im Aufgang, hrsg. von Gerhard Wehr, Frankfurt a. M./ Leipzig 1992, S. 185. 35 In diesem Sinne bemerkt Georgiades, dass der Grieche „das Gefühl gehabt haben [muß], dass nicht der Mensch die Dinge benennt, sondern dass die Dinge selbst klingend sich substantiell bekunden.“ Georgiades, Musik und Rhythmus, S. 44. 36 An dieser Stelle sei nochmals auf Jürgen Weissenborn und seine Studien zur Sprachentwicklung beim Kind verwiesen: „Dem Baby stellt sich die Sprache zunächst als ein Lautstrom dar, wie Musik oder das Plätschern eines Gebirgsbachs“, so Weissenborn im SPIEGEL 43/2002, S. 219. 37 Hermann Broch: James Joyce und die Gegenwart, ebda. 38 Ebda, Hervorhebung von J.M.

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das „Murmeln des Flusses“, das als die elementare Weise der Welterscheinung zugleich die erste der Welterzeugung ist. Das dergestalt produktiv Rhythmische kann als primäre kognitive Wahrnehmung gelten. In der rhythmischen Passage stellt sich die primäre Art kognitiven Wahrnehmens als produktive vor; in ihr geht es „um Wahrnehmung im Ursprungssinn von aísthesis: als ein sensitives und kognitives, sogar ein produktives und nicht bloß rezeptives Vermögen.“39 Im Jahre 1909 schon hob Koffka in seinen „Experimental-Untersuchungen zur Lehre vom Rhythmus“ hervor, dass das Rhythmuserleben von „psychische[n] Funktionen“ begleitet wird, „bei denen das Subjekt in besonderer Weise das Gefühl hat tätig zu sein.“40 In der Wahrnehmung ist das Subjekt als tätiges immer schon eingebunden in das, was da wahrgenommen wird. Genauer noch: In der primären kognitiven Wahrnehmung kann das, was wahrgenommen wird, keinem Subjekt mehr zugeschrieben werden, da es selbst mit dem Wahrgenommenen im Wahrnehmungsgeschehen identisch ist. „Wahrnehmung ist [...] ein Identitätsphänomen.“41 So gesehen ist das Subjekt seine Welt, die da, in der Wahrnehmung, bzw. im Rhythmischen produziert, aufgeht. ABGRENZUNG ZUR METRIK Diese Überlegungen machen deutlich, warum das Rhythmische strikt von der Metrik zu trennen ist, da mit dem Metrischen das Produktive und Schöpferische im Sinne der aísthesis nicht verbunden ist. Das Metrische ist immer schon in Gefahr, dem Dualismus von Form und Inhalt zu unterliegen. Als ein Formales wird es über das Inhaltliche bloß gestülpt. Anders gesagt: Die Metrik setzt voraus, was mit dem Rhythmisch-Sprachlichen sich erst bildet, nämlich das ‚Sprachmaterial’. Anders nämlich als dem Metriker liegt dem Dichter nicht „die Sprache [...] als ein vorhandenes Rhythmizomenon [vor]“. Nach Jünger „entstehen für den Dichter [Rhythmus und Rhythmizomenon] gleichzeitig; er trennt sie im Entstehen nicht. Er arbeitet den Rhythmus nicht in den Bestand des Rhythmizomenon hinein; dieses mühsame Geschäft kann nicht Dichten genannt werden. Die Sprache wird für den Dichter erst dann zu einem bestehenden Rhythmizomenon, wenn ihn der Rhythmus verlässt. [...] Im Dichter sind Rhythmus und Sprache von je eines, und der Vorgang des Dichtens lehrt, dass erst dort, wo Rhythmus ist, Sprache entstehen kann, dass die entstehende Sprache sich im Entstehen der rhythmischen Bewegung bewegt.“42

39 Althaus, Aphorismus und Experiment, S. 374. 40 Kurt Koffka: Experimental-Untersuchungen zur Lehre vom Rhythmus, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, I. Abt.: Zeitschrift für Psychologie, Leipzig 1909, S. 4–109, hier S. 105. 41 Wolfgang Welsch: Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987, S. 92. 42 Jünger: Rhythmus und Sprache, S. 19f.

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FOLGERUNGEN FÜR DIE RHYTHMISCHEN PASSAGEN IM ROMAN „DER TOD DES VERGIL“ Die Verfolgung der einzelnen Satzglieder, insbesondere des Subjekts und Prädikats, garantiert nur dann ein scheinbares Verständnis des Brochschen ‚Satzes’, wenn wesentliche Passagen, die zwischen diesen Satzgliedern gelagert sind, gestrichen werden. Wolfram z.B. praktiziert dieses Verfahren, um zu dem „Sinngerüst“ des Brochschen ‚Satzes’ zu gelangen.43 Nur die Streichung bewirkt die Kohärenz des grammatischen Satzes und degradiert das, was in den einzelnen Stellungsfeldern zu lesen ist, zum bloßen Füllsel, das unsinnigerweise das Verständnis noch erschwert. Diesem Verfahren soll hier aber nicht nachgegangen werden, im Gegenteil. Wichtig bei der Betrachtung Brochscher ‚Sätze’ ist gerade das, was die Stellungsfelder dehnt und ausfüllt und mitunter das Subjekt des ‚Satzes’, das Prädikat verschwinden lässt.44 Bieten die zentralen Satzglieder keinen Anhalt mehr, die rhythmische Passage wie einen grammatischen Aussagesatz zu lesen, kann der Lesende sich einlassen auf das Geschehen der ‚Sätze’ selbst. Die Intensität rhythmischer Sprache geht einher mit der Extension ihrer Passagen. Extension aber bedeutet zweierlei: das Ausgedehnte und das Oberflächige. Je rhythmischer und intensiver die Passage, desto ausgedehnter ist sie, desto näher rückt der Sinn an das Konkrete der Passage selbst, an ihr konkretes Geschehen, ihren sinnlichen Klang und Rhythmus – desto weniger aussagefähig im Sinne urteilsbezogener Sprache aber wird sie auch. Ist das Sinnliche der Sprache derart konkret, wird jeder Interpretation eine Absage erteilt, die versucht, zwischen den Zeilen die ‚eigentliche’ Intention des Autors zu ergründen. Die rhythmische Passage selbst ist nicht länger ein Methodisches insofern, als es ihr darum ginge, den hinter ihr stehenden Sinn, der ‚eigentlich’ ausgesagt werden will, zu erreichen, bzw. auch auszusagen. Die rhythmische Passage ist „unhintergehbar“, und jeder Versuch, hinter sie zu schauen mit der Absicht, sie auf ein außerhalb ihrer selbst Liegendes zurückzuführen, wird stets im Erreichen dessen reduktionistisch ausfallen. Die ‚eigentliche’ Aussage im Rhythmischen zu suchen, wäre somit die Fortführung begriffsorientierter Sprache – vom Phänomen der rhythmischen. Hinter ihr liegt kein Sinn, im Gegenteil. Sie ist der Grund ihrer selbst. Methode, für die Erkenntnis ein Weg, den Gegenstand des Innehabens [...] zu gewinnen, ist für die Wahrheit Darstellung ihrer selbst und daher als Form mit ihr gegeben.45

Die rhythmische Passage ist sinnvoll in ihrer Form und damit im Benjaminschen Sinne wahr. Ein Formalismus soll hier vertreten werden, der sich nicht dessen

43 Wieslawa Erna Wolfram: Der Stil Hermann Brochs. Eine Untersuchung zum ‚Tod des Vergil’, Freiburg i.Br. 1958, S. 7. 44 Sieh dazu die Untersuchungen in dem Abschnitt „Schaffung der Welt als klangliche“. 45 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, S. 203–430, hier S. 209.

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schuldig macht, die ‚Form vom Sinn abzutrennen’46, sondern diesen in jener zu situieren.47 Durch die Wahrheit, die dem Rhythmischen zukommt, stellt dieses zugleich das Kriterium für Wahrheit dar: Das Rhythmische ist das Wahrheitskriterium des Romans. Beginnt also der Text, sich rhythmisch zu organisieren, ist er seiner eigenen Wahrheit ganz nahe. Metaphorisch bringt der Text diese Nähe zum Ausdruck, indem er immer wieder, geradezu leitmotivisch, den rhythmischen Bewegungsablauf fließenden Wassers, das „Rieseln“ des Wandbrunnens in Erinnerung ruft: [...] pausenlos rieselte das Wasser des Wandbrunnens, und das Rieseln war wie ein Teil seines unsäglich zeitlosen, unbewegten, ozeanischen Dahinflutens [...] (65)

Vermischen sich dann dem hörenden Vergil die von dem Knaben Lysianas rezitierten Verse der „Aeneis“ mit eben diesem „Rieseln“, dem „murmelnde[n] Wasserrieseln“, kann dies als Zeichen dafür genommen werden, dass Vergil nach allen Zweifeln an seinem Werk zur Wahrheit der Verse zurückgefunden hat; die Verse sind damit nicht länger mehr das, was der Opferflamme zu überantworten wäre: [...] Spinnwebartig knisternd flackerte das Kerzenlicht auf dem Tische, Echolicht und VorEcho eines jenseitig-künftigen leuchtenden Dröhnens, das unter den Sternen wartete, das Opfer erwartend, die Flamme der Auslöschung erwartend, aber schattenhaft weich murmelte 46 So Maurice Merleau-Ponty: „Mit Recht verurteilt man den Formalismus, aber man vergißt gewöhnlich, dass sein Fehler nicht darin liegt, die Form zu sehr zu beachten, sondern sie so wenig zu beachten, dass er sie vom Sinn abtrennt.“ Maurice Merleau-Ponty: Das mittelbare Sprechen und die Stimmen des Schweigens, in: Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hrsg. und übersetzt von Hans Werner Arndt, Hamburg 1984, S. 69–114, hier S. 107. 47 Dieser Formalismus verweist auf Brochs Konzeption der „inhaltlichen Formung“. In seinem Aufsatz „Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens“ von 1946 geht er auf den Unterschied zwischen der Englischen und der Deutschen Sprache ein. „Es ist, als ob der englische Ausdruck mehr um das Faktum, also um das Wort, um die Vokabel zentriert wäre, während der deutsche nahezu gänzlich auf den Faktenzusammenhängen, auf dem syntaktischen Zusammenhang der Vokabeln zu ruhen scheint.“ Englisch sei dementsprechend eher „eine Wort-, Deutsch aber eine Satzsprache, so dass in dieser die »inhaltliche Formung«, in jener hingegen der »geformte Inhalt« überwiegt.“ Das heißt, dass in der Satzsprache auch die Form Sinn darstellt. In einem weiteren Aufsatz von 1947, in dem er auf die Verbindung zwischen „Mythos und Altersstil“ eingeht, kommt Broch auf das Wesen des Abstraktionismus zu sprechen, „in welchem der Ausdruck sich in immer geringerem Maße auf das jeweils gegebene Vokabularium stützt, so dass von diesem letztlich nur wenige Ursymbole verbleiben und der Ausdruck sich in zunehmendem Maße bloß der Syntax bedient: denn darin besteht eben das Wesen des Abstraktionismus – in der zunehmenden Verengung des Vokabulariums und in der Bereicherung der syntaktischen Ausdrucksbeziehungen“. Die Mathematik markiert nach Broch eine Grenze des Abstraktionismus, da „das Vokabularium auf Nichts reduziert, während deren Ausdruckssystem ausschließlich durch die ihr eigene Syntax getragen wird.“ Hermann Broch: Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens, in: Hermann Broch, Schriften zur Literatur 2, S. 61–86, hier S. 75. Hermann Broch: Mythos und Altersstil, in: Hermann Broch, Schriften zur Literatur 2, S. 212–233, hier S. 213.

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Jörg Martin hier das Rieseln des Wandbrunnens. Und halb über den Tisch gebeugt, [...] begann der Knabe [...] die Verse herzusagen, die Verse der römischen Namen, und die Verse glitten in die Nacht und in das nächtlich murmelnde Wasserrieseln [...] (183)48

Die Darstellung der Wahrheit hat prinzipiell kein Ende, so dass die rhythmische Passage tendenziell ausgerichtet ist auf Entgrenzung. Der Punkt am Ende der Passage ist jedesmal aufs Neue Unterbindung des Rhythmischen, Limitierung der Wahrheit, wenn man so will, ein Unfall. Entsprechend ist für Martini das „fixierende Satzzeichen stets nur als ein Pausenzeichen, nicht als ein Abschluß“49 zu denken. Dass die ursprüngliche Fassung des Romans, „Die Heimkehr des Vergil“, in ihrem Umfang geradezu explodierte50, kann somit der Entdeckung des Rhythmischen als eines Wahrheitskriteriums und seiner Ausarbeitung zugeschrieben werden. Auch ist so der Brochsche „Langsatz“ zu erklären. Arens, der sich in seiner Untersuchung die Mühe machte, der Beziehung zwischen Satzlängen und Wortlängen in der deutschen Erzählprosa mittels Statistik nachzugehen, kommt nicht umhin festzustellen, „dass Brochs Roman [Der Tod des Vergil, J.M.] die höchsten Werte für SL [Satzlängen, J.M.] und WL [Wortlängen, J.M.] liefert.“51 Arens irrt jedoch, wenn er sich die enormen Satzlängen moderner Prosa mit dem Ethos der Autoren, Dinge und Personen möglichst exakt zu beschreiben, erklärt: Sobald aber die Personen und Dinge selbst zu interessieren beginnen und man versucht, sie in ihrer Besonderheit deutlich, ja sichtbar zu machen, um der Wirklichkeit näher zu kommen, [...] dann kommt ein Element der Beschreibung in die Erzählung, das sogar diese selbst schließlich überwuchert.52

Mag diese Vermutung für einen Autor, wie z.B. Thomas Mann gelten und zutreffen auf die Texte Husserls, für Broch scheinen eher die schon angeführten Gründe zuzutreffen. Diese langen Sätze mit all ihren Eigentümlichkeiten waren nicht ausgeklügelt; sie waren schlicht eine Notwendigkeit.53

Die Notwendigkeit muss als eine gedacht werden, die nicht von dem Ideal einer fotographischen Genauigkeit gesetzt und auf das ‚Außersprachliche’ zu beziehen ist, sondern die das Kennzeichen einer Sprache darstellt, die stets katalysatorisch aus ihrem Inneren neu entsteht und dementsprechend vorgibt, was als Wahrheit zu schreiben ist. 48 Hervorhebung von J.M. 49 Fritz Martini: Der Tod des Vergil, in: Fritz Martini, Das Wagnis der Sprache. Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn, Stuttgart 1954, S. 408–464, hier S. 449. 50 Die erste maschinenschriftliche Fassung – „Die Heimkehr des Vergil“ von 1936/1937 – umfasste gerade mal neun eng beschriebene Seiten, die allerdings den reinen Plot zu einem Gutteil schon enthielten. 51 Hans Arens: Verborgene Ordnung. Die Beziehung zwischen Satzlänge und Wortlänge in deutscher Erzählprosa vom Barock bis heute, Düsseldorf 1965, S. 37. 52 Ebda, S. 87. 53 Brief an Aldous Huxley vom 10.5.1945. In: Hermann Broch. Briefe 2 (1938–1945), hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1981, S. 450.

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Vor diesem Hintergrund kann die auffällige Häufung von Partizipien, die den Roman auszeichnet, als Zeichen eben dieser aus sich heraus entstehenden Sprache angesehen werden. Die Zwischenstellung der Partizipien zwischen Verb und Substantiv, Dynamik und Statik, ihr Weder-Noch lassen sie geeignet erscheinen, um das Schwebende einer Sprache zum Ausdruck zu bringen, die als eine rhythmisch bewegte immerzu aus sich heraus entsteht. Am dergestalt undifferenzierten Partizip wird das schöpferische Moment rhythmischer Sprache augenfällig. Fazit: Das Rhymthmisch-Sprachliche als homöostatisches Phänomen scheint geeignet, um sich der Frage nach dem Ursprung der Sprache, der Sprachentstehung zu nähern. Die Annäherung jedoch kann nur auf literarischem Wege erfolgen, auf dem das Rhythmisch-Sprachliche konkret erfahrbar ist; erst in dessen Vollzug scheint der Ursprung der Sprache als das stets Anwesende, Fortwährende und Unhintergehbare auf; wer hierfür empfänglich ist und das Ursprüngliche der Sprache herauszuhören vermag, erschließt sich einen neuen Zugang: zur Literatur, zur Sprache, zur Welt und schließlich zu sich selbst.

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DAS SELBST IN FLIEßENDEN GRENZEN: ÜBERLEGUNGEN ZUR SELBSTBESTIMMUNG Nach einem geflügelten Wort, mit dem man oft den etwas vagen Anspruch erhebt, das Diktum des Heraklit ‚Alles fließt’ zu zitieren, ist alles im Fluss. Wenn diese generelle Aussage bedeuten soll, dass sich alles, was zu der Welt gehört, die wir wahrnehmen und in der wir handeln, in beständiger Veränderung befindet, so trifft sie, nach allem, was wir wissen, zu.1 Und zwar auch auf uns selbst und unser seelisches Leben. Die Meinungen, Wünsche und Gefühle, die eine Person ausmachen, bilden ein bewegliches Gebilde, das zu keinem einzigen Zeitpunkt völlig erstarrt ist. Die Veränderung des eigenen seelischen Lebens hat verschiedene Formen: Neue Meinungen, Wünsche oder Gefühle kommen hinzu, alte werden aufgegeben. Solche Veränderungen betreffen den Umfang und den Gehalt von Meinungen, Wünschen und Emotionen. Verändern kann sich auch die Aufmerksamkeit und Klarheit, mit der wir uns selbst wahrnehmen. Veränderungen können schließlich auch darin bestehen, dass wir die Elemente unseres mentalen Lebens neu arrangieren. Wir, also diejenigen, die mit dem Ausdruck „Ich“ auf sich selbst Bezug nehmen können, verändern uns fortwährend und sind doch, in gewissem Sinne, dieselben Personen. Dieselben Personen sind wir in dem Sinne, dass wir uns selbst als denjenigen erleben, beobachten und beschreiben, der eben verschiedene Veränderungen erfährt. Wir erleben uns selbst als den Gegenstand von Veränderungen und wir können uns selbst zu verschiedenen Zeitpunkten als dieselbe Person erkennen. Die minimalistische Bedingung dafür lässt sich so formulieren: Wenn wir in der Lage sind, mindestens zwei Zustände der eigenen Person aufgrund bestimmter Eigenschaften hinreichend genau als diese beiden Zustände zu identifizieren und so miteinander zu vergleichen, dass wir erkennen, welche Veränderung stattgefunden hat, dann sind wir fähig, uns selbst als den Gegenstand eben dieser Veränderung zu erleben. Das ist freilich eine minimale, sehr formale und abstrakte Charakterisierung der Tatsache, dass eine Person sich selbst als diese bestimmte Person (er)kennt. Dieselbe Person sind wir nun auch als die Urheber unserer eigenen Veränderungen – als diejenigen, die auf sich selbst Einfluss nehmen. Diese Einflussnahme schafft geradezu den Zusammenhang des mentalen Lebens einer Person, den wir, mit einem nominalen Ausdruck, auch „das Selbst“ nennen können: das Selbst ist der Inbegriff der Elemente, die uns selbst, die eigene Person 1

Den Gedanken, den Heraklit mit seinem Diktum offenbar zum Ausdruck bringen wollte, erläutert Günther Patzig: Heraklits Fluss und Kants bestirnter Himmel oder: Über die Nivellierung philosophischer Gedanken; in: Ders.: Gesammelte Schriften III, Aufsätze zur antiken Philosophie, Göttingen 1996, S. 295–308.

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ausmachen und uns zum Beobachter, aber auch zum Urheber des eigenen Erlebens, Denkens und Handelns machen. Dieses Selbst ist ein grundsätzlich verständlicher Zusammenhang von Elementen, und verständlich ist er, weil wir diesen Zusammenhang, jedenfalls zum Teil, selber schaffen, nämlich durch die Fähigkeit, das Zusammenspiel der Elemente des mentalen Lebens aus dem eigenen Nachdenken heraus zu lenken, mit einem Wort, durch Selbstbestimmung. Diese Fähigkeit sorgt dafür, dass wir in dem eingangs genannten Sinne in allen Veränderungen, die wir erfahren, dieselben bleiben – dieselbe Person. Das Selbst bewegt und bildet sich in fließenden Grenzen, die durch gedankliche Selbstbestimmung gezogen werden. Selbstbestimmung sorgt gleichsam für das ‚Fließgleichgewicht’2 des seelischen Lebens einer Person. Gedankliche Selbstbestimmung Selbstbestimmung bedeutet das eigene Denken, Wollen und Fühlen lenken zu können, also diejenigen Gedanken, Wünsche und Emotionen zu haben, die wir haben wollen. Was heißt das genau? Die Meinungen, Wünsche und Emotionen einer Person bilden einen Zusammenhang; sie stehen in inferentiellen und motivationalen Beziehungen zueinander. Dieser Zusammenhang ist, wie gesagt, ein verständlicher Zusammenhang; unsere Meinungen und Wünsche sind so beschaffen und so miteinander verknüpft, dass wir sie als einen Zusammenhang von Gründen deuten können. Dennoch kennen wir die vielfältigen Zusammenhänge der Elemente unseres mentalen Lebens nicht ganz genau. Viele der Meinungen, Wünsche und Emotionen, die wir haben, sind uns nicht ausdrücklich bekannt und einige von ihnen passen nicht zusammen. Wir verfügen nicht über eine vollständige Übersicht, und die Elemente unseres mentalen Lebens bilden auch keinen vollständig transparenten und kohärenten Zusammenhang. Das ist in vielen, vielleicht den meisten Fällen kein großes, entscheidendes Problem. Wir führen unser Leben nicht in jedem Augenblick mit nachdrücklicher Klarheit, sondern oft auf eine vertraute, unausdrückliche und auch unproblematische Weise, indem wir erprobten und insgesamt verlässlichen Meinungen und Gewohnheiten folgen. Wir lassen uns dann von den geräuschlosen, gleichförmigen, unauffälligen Wogen unserer vertrauten Meinungen und Handlungsmuster forttreiben. Das unthematische Selbstverständnis, die Sicherheit und das Vertrauen in unsere Meinungen und Handlungsmuster können jedoch insgesamt problematisch werden. Wir verlieren (und vermissen) zuweilen die Klarheit unserer Meinungen und die Sicherheit des Wollens und Handelns. Mangelnde Klarheit über die eigenen Meinungen und die eigenen Wünsche kann dazu führen, das eigene Denken und Wollen in einem grundsätzlichen Sinne nicht mehr zu verstehen, Konflikte zwischen verschiedenen Meinungen und Wünschen also nicht mehr in der für uns selbst wünschenswerten Weise lösen zu können. Die 2

Geprägt hat den Ausdruck Ludwig von Bertalanffy: Biophysik des Fließgleichgewichts, Braunschweig 1977.

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Elemente unseres mentalen Lebens sind dann so sehr im Fluss, das ihr Urheber Gefahr läuft, die Orientierung zu verlieren: das eigene Selbstverständnis gerät ins Wanken. In solchen Situationen bedarf es der Selbstbestimmung in einem nachdrücklichen Sinne; jetzt kommt es darauf an, die fließenden Grenzen des Selbst neu zu ziehen. Aber wie? Selbstbestimmung erfordert Selbsterkenntnis.3 Selbsterkenntnis Selbsterkenntnis ist mehr als eine bloße Bestandsaufnahme der eigenen Person und eine korrekte Buchführung über das, was man denkt, wünscht und fühlt. Wenn man in einem anspruchsvollen und relevanten Sinne von Selbsterkenntnis spricht, ist damit vielmehr eine besonders eindringliche, kritische und vor allem genaue Analyse der eigenen Person gemeint. Selbsterkenntnis bedeutet die eigene Person besser und genauer zu verstehen. Wie geschieht das? Zuweilen erscheint es wünschenswert, sich selbst ganz von außen, aus einer unbeteiligten, neutralen Perspektive zu betrachten, einen Standpunkt außerhalb des eigenen seelischen Geschehens einzunehmen und einfach nur zu beobachten, was sich in uns abspielt. Doch einen solchen Standpunkt gibt es nicht. Man wünschte sich zuweilen auch, dass uns die Selbsterkenntnis von anderen Personen abgenommen wird. Der Blick anderer Menschen auf unsere eigenen Gedanken, Wünsche und Gefühle ist in der Tat sehr hilfreich für das Verständnis der eigenen Person. Zur Selbsterkenntnis kann das, was andere über uns selbst wissen, aber nur beitragen, wenn es uns gelingt, dieses Wissen in die eigene Selbstkritik einzufügen. Selbsterkenntnis bedeutet aber auch keine geheimnisvolle Versenkung in die Tiefen der eigenen Person. Selbsterkenntnis ist vielmehr eine besondere Art und Weise, mit sich selber gedanklich umzugehen. Wenn eine Person sich selbst genauer und besser zu verstehen sucht, so nimmt sie keinen Standpunkt außerhalb des eigenen Denkens ein, sondern sie verändert die Bedingungen, unter denen sie über sich selbst nachdenkt; sie schafft Bedingungen größerer Genauigkeit, indem sie in eine innere gedankliche Distanz zu ihren Meinungen und Wünschen tritt, sie ausdrücklich zum Thema macht und sich fragt: Was genau ist der Inhalt und die Herkunft meiner Meinungen und was genau ist das Ziel meiner Wünsche? In eine innere gedankliche Distanz zu treten, heißt die eigenen Überzeugungen und Wünsche ausdrücklich zum Thema zu machen, ihren Gehalt zu explizieren und sie auch zu bewerten, um schließlich das Zusammenspiel der eigenen Überzeugungen und Motive auch verändern und sich in diesem Sinne selbst bestimmen zu können. Selbsterkenntnis zielt auf Selbstbestimmung. Die Meinungen und Wünsche, die wir haben, sind in bestimmte Kontexte eingebunden. Um sie genauer zu verstehen, lösen wir sie gedanklich aus ihren 3

Ich nehme hier einige Überlegungen auf, die ich an anderer Stelle ausführlich entwickelt habe: Jörg Hardy: Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis mit Sokrates, Berlin 2007 (Habilitationsschrift).

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jeweiligen Kontexten heraus und variieren sie. Das ist eine Leistung des Nachdenkens und der exakten Phantasie. In gedanklicher Selbstdistanzierung schaffen wir Bedingungen des Nachdenkens, die eine größere Variationsbreite und eine größere Genauigkeit des Verstehens ermöglichen. Worauf achten wir in der kritischen Prüfung unserer Meinungen und Wünsche? Und was ist der Maßstab für deren Bewertung und Veränderung? Wenn wir uns selbst, das eigene mentale Leben besser und genauer verstehen wollen, so achten wir mit besonderer, nämlich ausdrücklicher Aufmerksamkeit auf bislang unentdeckte Lücken und auf bislang undurchschaute Täuschungen. In eine innere gedankliche Distanz zu treten, heißt verschiedene Konstellationen der eigenen Überzeugungen und Wünsche im Nachdenken und in der Phantasie zu variieren, die Lücken zwischen unseren Meinungen und Wünschen zu schließen und dabei auch die Erfahrungen von (erlebten und möglichen) Täuschungen zu berücksichtigen. Täuschungen zu berücksichtigen heißt genau zu wissen, dass wir bestimmte latente Überzeugungen und Wünsche haben, die wir im Lichte des distanzierten, variierenden Nachdenkens nicht haben wollen. Den Maßstab bilden die übergeordneten Ziele, an denen wir unser Denken, Wollen und Handeln ausrichten. Ein Beispiel: Ein Eiskunstläufer nimmt größte Anstrengungen auf sich, um vier verschiedene Sprungformen vierfach zu springen. Er absolviert alle Sprünge in makelloser Perfektion. Bereits in den letzten Sekunden seiner Kür weiß er, dass die so hart erkämpfte Goldmedaille sicher ist. Während der abschließenden Pirouette tritt ein Ausdruck tiefer Zufriedenheit in seine Gesichtszüge, doch bei der Siegerehrung blickt er verdrossen ins Publikum. Die Zuschauer deuten diesen Blick als Ausdruck von Erschöpfung und Erleichterung, den fragenden Reportern wird der Einkunstläufer antworten, dass die wahre Freude sich nach all den Strapazen erst später einstellen kann. Doch so ist es nicht. Der Eiskunstläufer hat sein Ziel erreicht und er merkt jetzt, dass ihm der Sieg und die Perfektion seines Könnens nicht wirklich wichtig sind. Im nachhinein erscheint es ihm als etwas, das er nicht gewollt hat. Ein weiteres Beispiel: Stellen wir uns einen ehrgeizigen Mitarbeiter eines Unternehmens vor, der danach strebt, die Position seines bisherigen Chefs zu übernehmen. Er bewundert seinen Chef, hat viel von ihm gelernt, seine eigenen Fähigkeiten in der Auseinandersetzung mit ihm entwickelt und verbessert. Der Wettbewerb mit dem Chef war stets eine Quelle des eigenen Erfolgs. Stellen wir uns vor, der Ehrgeizige verspricht sich den größten Erfolg davon, selber die Führungsposition zu übernehmen, um dadurch nicht nur größeren Einfluss, sondern auch Anerkennung zu gewinnen. Von diesem übergeordneten Ziel ist nun die Auseinandersetzung bestimmt, die er mit seinem Chef und mit anderen Rivalen führt. Der Ehrgeizige erreicht schließlich sein Ziel. ‚Sie haben gesiegt’, sagt der ehemalige Chef nach der entscheidenden Sitzung des Vorstands und steigt in den Fahrstuhl, in den ihm jetzt niemand mehr folgt. Stellen wir uns vor, dass der Ehrgeizige zunächst triumphiert, dann jedoch erkennt, dass er seine Freude mit niemandem teilen kann, und merkt, dass sich Freude nicht einmal einstellen will. Der Ehrgeizige erkennt, dass er sich über sein Ziel getäuscht hat, ohne es zu bemerken – dass es ihm nicht um den Chefposten

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um seiner selbst willen ging, dass er seine Rivalen gar nicht verdrängen, seinen Chef gar nicht endgültig besiegen wollte. Aus der Auseinandersetzung, dem Wettbewerb, dem Messen der Kräfte hat er vielmehr seine Kraft und Anerkennung geschöpft und er merkt am Ende des Weges, dass es nicht der endgültige Sieg war, den er wirklich wollte. So ist der Ehrgeizige am Ende verbittert über den scheinbaren Sieg, der ihn an das Ziel seines vormaligen Wollens gebracht hat. Jetzt schlägt die Stunde der Selbstbestimmung. In dieser Situation kann eine Person ihr Handeln nicht einfach fortsetzen, ohne genau über das nachzudenken, was ihr wichtig ist und die Elemente ihres Denkens, Empfindens und Wünschens neu zu ordnen. Selbstdistanzierung versetzt uns in die Lage, unsere Urteile und Wünsche aus einer distanzierten Sicht zu prüfen, Variationen durchzuspielen, mögliche Irrtümer zu berücksichtigen und erst dann eine Entscheidung zu treffen, wenn wir uns sicher sind, alle relevanten Alternativen erwogen zu haben. Selbsterkenntnis ist auch antizipatorische Fehlerkorrektur. Wir wissen, dass wir uns in der Abwägung von Motiven täuschen können. Das wissen wir, weil wir diese Erfahrung kennen, also einige Irrtümer bereits begangen und andere auch rechtzeitig eingesehen und überwunden haben. Deshalb können wir uns vorstellen, spontane Wünsche zu haben, die wir unter den Bedingungen ungetrübter Selbsterkenntnis nicht haben wollten. Wenn Selbsterkenntnis gelingt, schafft sie die Grundlage der Selbstbestimmung. Beeinträchtigt wird die gedankliche Selbstbestimmung dann, wenn der innere Abstand und damit die Fähigkeit zur Selbstkritik verloren geht. Dafür gibt es verschiedene Ursachen: inneren Zwang, eine tiefe und nachhaltige Ambivalenz der Meinungen und Wünsche – dieses Phänomen finden wir in den Schriften von Sigmund Freud fabelhaft beschrieben –, tief verankerte Selbsttäuschungen, Willensschwäche und Manipulation. Schauen wir uns die beiden zuletzt genannten Phänomene etwas genauer an. Willensschwäche Selbstbestimmung wird u.a. durch ein Phänomen gefährdet, das wohl jedem Menschen vertraut ist, sich bei näherer Betrachtung jedoch als rätselhaft erweist: Das Handeln wider besseres Wissen, oder, mit einem Wort: die Willensschwäche. Der Willensschwache hat einen bestimmten Willen, denn er handelt. Und dieser Wille bringt eine bestimmte Überzeugung zum Ausdruck, denn er ist das Ergebnis abwägender Überlegungen. Dennoch hält der Handelnde seine freiwillige, absichtliche und überlegte Handlung für einen Fehler, den er später bedauert. Ein Beispiel: Ebenezer Scrooge denkt darüber nach, ob er einem Mitmenschen, der sich in finanzieller Not befindet, Geld schenken sollte, um ihm zu helfen. Scrooge ist reich, lebt jedoch in der beständigen Angst, niemals Geld genug zu haben, sondern von Armut stets bedroht zu sein. Deshalb hat er den starken Wunsch, niemandem jemals Geld zu schenken. Das schöne Geld zu verschenken, um jemandem zu helfen – kaum etwas könnte für Scrooge irrationaler sein als dies. Nun hat Scrooge jedoch auch die Erfahrung gemacht, dass uneigennützige

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Handlungen, so etwa Schenkungen, Anerkennung einbringen, und zwar sowohl die Anerkennung anderer Menschen als auch die Anerkennung, die er sich selbst entgegenbringt, weil es ihm gelungen ist, eine zuvor starke, nahezu unwiderstehliche Neigung im Lichte des Nachdenkens überwunden zu haben. Scrooge wägt beide konkurrierenden Wünsche ab und entschließt sich, seinem Mitmenschen zu helfen. Er weiß aufgrund abwägender Überlegungen, dass die Schenkung die beste Handlung ist und er hat einen handlungswirksamen Wunsch mit eben diesem Gehalt. Dennoch führt Scrooge in einem bestimmten Augenblick – freiwillig und absichtlich – eine andere Handlung aus. Er behält das Geld. Was ist geschehen? Wer gegen das eigene bessere Wissen handelt, unternimmt praktische Überlegungen, wägt Gründe und Motive ab und fällt schließlich ein bestimmtes Urteil, das mit einem handlungswirksamen Wunsch verknüpft ist. Aber er hat nicht den handlungswirksamen Wunsch, der mit einem anderen Urteil verknüpft wäre – mit einem Urteil, das er als Wissen auszeichnet. Was ihm fehlt, ist offenbar Wissen – aber welches Wissen? Entweder fehlt in der fraglichen Situation das Wissen um den besseren oder besten Grund oder es ist zwar in irgend einer Weise vorhanden, aber nicht mit einer hinreichend starken motivationalen Kraft verknüpft, um handlungswirksam zu werden. In struktureller Hinsicht lässt sich das Handeln gegen besseres Wissen so charakterisieren: Der Handelnde hat eine bestimmte Überzeugung über das jeweils beste Handlungsziel, die er unter anderen, besseren Bedingungen des Nachdenkens, die er grundsätzlich kennt und selber schaffen könnte, nicht hätte. Das unterscheidet das Handeln gegen das eigene Wissen von Zwang. Der Willensschwache weiß offenbar, dass er aufgrund einer handlungswirksamen Überzeugung handelt, die er unter besseren Bedingungen, die er selber grundsätzlich schaffen kann, nicht hätte. Denn sonst könnte er nicht wissen, dass er einen Fehler begeht und diesen Fehler nicht beklagen. Dass man das als willensschwach empfundene Handeln beklagt, ist nur dann verständlich, wenn man in der Tat weiß (oder jedenfalls wissen könnte), dass ein anderer Grund der bessere Grund gewesen wäre und man in Übereinstimmung mit diesem Grund hätte handeln wollen. Eine präzise Analyse der Willensschwäche ist Donald Davidson zu verdanken.4 Davidsons Analyse lässt sich so darstellen: Eine Person hat zwischen zwei Handlungen A und B abzuwägen. Sie hat sowohl für Handlung A als auch für die alternative Handlung B einen Grund und deshalb zwei entsprechende Handlungsmotive, die sich jedoch gegenseitig ausschließen. Stellen wir uns vor: Jemand hat einen Grund dafür, ein Haus zu kaufen, jedoch auch einen Grund dafür, es nicht zu tun, etwa deshalb, weil er für den Kauf des Hauses eine hohe Hypothek aufnehmen müsste und sich nicht sicher ist, ob er die Hypothek vertragsgemäss zu tilgen vermag. Wenn unsere Beispielperson ihre Gründe umfassend berücksichtigt, erkennt sie, dass es alles in allem besser wäre, das Haus 4

Donald Davidson: How is Weakness of the Will possible? (1969), in: Moral Concepts, hrg. von Joel Feinberg, Oxford, S. 1969: 93–113. Einen guten Überblick der aktuellen Problemdiskussion bietet: Willensschwäche (2005), hrsg. von Thomas Spitzley, Paderborn.

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nicht zu kaufen. Dennoch tut sie es, lässt also einen Grund handlungswirksam werden, der alles in allem nicht der beste ist und dafür hat sie wiederum keinen Grund. Der Willenschwache verletzt, so Davidson, den Grundsatz der Selbstbeherrschung: ‚Handle stets in Übereinstimmung mit den besten Gründen, d. h. mit der handlungsleitenden Überzeugung, die man sich durch eine umfassende Berücksichtigung aller relevanten Gründe bildet.’ Wir folgen in unserem Handeln zwar stets Gründen, doch nicht immer den Gründen, von denen wir wissen (oder jedenfalls grundsätzlich wissen können), dass sie die jeweils besten Gründe sind. Wie ist das zu erklären? Die Ursache für die genannte Diskrepanz zwischen Wissen (den besseren Gründen) und Handlungsmotivation ist, so scheint es, die mangelnde Selbstbeherrschung. Die erfolgreiche Selbstbeherrschung scheint demnach auch die Verständlichkeit des Handelns zu gewährleisten. Diese Auffassung ist in Philosophie, Psychologie und auch in unserem Alltagsverständnis weitverbreitet. Was ist die Quelle der Selbstbeherrschung? ‚Ich konnte nicht anders. Ich war nicht stark genug. Ich wusste durchaus, was das Beste wäre, und wollte es auch tun, aber der Wille war dann am Ende doch nicht stark genug. Ich war wie überwältigt’, mag derjenige sagen, der sein Handeln als ein Handeln gegen besseres Wissen beklagt. Die Schwäche des Wollens betrifft, so scheint es, nicht den Gehalt, sondern die Durchsetzungsfähigkeit eines bestimmten Willens. Der Willensschwache hat zunächst eine bestimmte Überzeugung, die er aus einem distanzierten Blick als das ‚bessere Wissen’ erkennt, das er haben will, gibt sie dann aber wieder auf und schwächt damit das entsprechende Motiv ab. Was ihm fehlt, scheint daher eine Fähigkeit zu sein, die über die Abwägung von Gründen hinausgeht. Selbstbeherrschung ist nun, so scheint es, eine zusätzliche motivationale Kraft, die nicht an einen ganz bestimmten Willen gebunden ist, den man sich im praktischen Überlegen jeweils bildet. Ob man sich zu ‚schwach’ fühlt, einer Sahnetorte, den Schmerzen einer Therapie, dem Nervenkitzel des Roulette oder einer lukrativen Investition zu widerstehen – die Kraft der Selbstbeherrschung, die fehlte, ist stets dieselbe. Selbstbeherrschung scheint eine motivationale Kraft eigener Art zu sein, die, wie gesagt, nicht an einen Willen mit einem bestimmten Gehalt gebunden ist. Doch so kann es nicht sein. Eine Kraft, die im Falle des selbstbeherrschten Handelns nach dem Prozess des Abwägens von Motiven auf das Wollen Einfluss nimmt, den praktischen Überlegungen also von außen, d. h. aus einer zusätzlichen Motivationsquelle hinzuträte, könnte den Willen nicht so beeinflussen und steuern, dass dieser Wille ein verständlicher Wille ist. Eine Kraft, die nicht ihrerseits mit den ganz bestimmten Überzeugungen operiert, die im praktischen Überlegen jeweils entstehen, könnte eben diesen Prozess nicht im Sinne der guten, besseren Gründe beeinflussen. Ihr Einfluss auf das Wollen und Handeln wäre beliebig; er käme gleichsam aus dem Nichts. Der erfolgreiche Einfluss der Selbstbeherrschung, der vor dem Handeln gegen besseres Wissen bewahrt, lässt sich nur so erklären, dass die übergeordnete Motivation des Selbstbeherrschten derselben Quelle entspringt wie das (bessere) Wissen. Das bessere Wissen und die konstante, selbstbeherrschte Motivation gehen gemeinsam aus demselben Prozess des praktischen Überlegens hervor. Die

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motivationale Kraft, die dem Wissen eine konstante Stärke gibt, ist keine Kraft, die in ihrem Ursprung und ihrer Wirkung von einem bestimmten Willen abgelöst wäre. Der Einfluss der Selbstbeherrschung, der die Verständlichkeit des Urteilens und Wollens gewährleistet, findet bereits in der Bildung einer bestimmten Überzeugung statt. Die Selbstbeherrschung kann nur dann auf einen bestimmten, aus bestimmten Gründen gebildeten Willen stabilisierend Einfluss nehmen – und auf diese Weise die Verständlichkeit des Wollens sichern –, wenn es sich dabei um denselben Prozess handelt, in dem dieser bestimmte Wille entsteht. Betrachten wir unser Beispiel. Scrooge weiß, dass er den starken Wunsch hat, zu schenken und zu helfen, doch weiß er auch, dass sein Wunsch, niemandem mit seinem Geld zu helfen, sondern das vorhandene Vermögen zu maximieren, ebenfalls so stark ist, dass dieser Wunsch leicht die Regie übernehmen kann. Stellen wir uns vor, dass Scrooge im Ergebnis gründlicher Abwägungen schließlich mit Entschiedenheit erkennt, dass Hilfe zu leisten für ihn im höheren Masse wünschenswert ist. Wenn er seinen Willen in dieser Weise von seinem bestmöglichen (motivierenden) Wissen bestimmen lässt, so hat er den Willen, den er haben will. Scrooge hat wohlgemerkt diesen ganz bestimmten Willen: Er will das Geld verschenken und diesen Wunsch will er aufrechterhalten. Dieser Wille ist wiederum intrinsisch mit einem Urteil verknüpft. Scrooge will helfen, weil er weiß, dass dies für ihn im höchsten Masse wünschenswert ist. Dieser Wille ist so zustande gekommen, dass Scrooge auch über soviel Selbstbeherrschung verfügt, dass es ihm gelingt, genau so und nicht anders zu handeln und seine Neigung, das schöne Geld in den Händen zu behalten, zu überwinden. Die drei genannten Elemente bilden einen Zusammenhang. Ohne ein ganz bestimmtes Urteil hätte der selbstbeherrschte Scrooge nicht den bestimmten Willen, und ohne diesen Willen nicht die hinreichend kraftvolle Motivation, die man auch Selbstbeherrschung nennt. Diese Elemente gehen gemeinsam aus demselben Prozess des praktischen Überlegens hervor. Die Konstanz des selbstbeherrschten Willens verdankt sich der Stärke des mit Wissen gebildeten Willens, und die Stärke dieses Willens verdankt sich der Klarheit und Sicherheit der entsprechenden Überzeugung. Das verständliche, selbstbeherrschte Handeln ist das gedanklich selbstbestimmte Handeln. Eine Handlung ist eine verständliche Handlung, solange ihr Urheber in der Lage ist, diese Handlung in ein kohärentes und transparentes Netz von Gründen einzubinden und sich eine Handlung in diesem Sinne als ihre Handlung anzueignen. Unverständlich wird das Wollen und Handeln, sobald ein bestimmter Schwellenwert unterschritten wird. Stellen wir uns vor: Scrooge hat unter sehr guten Bedingungen des Nachdenkens die Gesamtheit seiner relevanten handlungsleitenden Überzeugungen berücksichtigt, so etwa seine Wünsche nach Reichtum, Anerkennung, Selbstachtung und so fort. Er kennt die Situationen, in denen Wünsche einer bestimmten Art auftreten; er kennt seine Gier und die Rücksichtslosigkeit, mit der er oft gehandelt und Andere verletzt hat und er kennt auch die Erfahrungen der Scham und Reue. Scrooge weiß auch um die Veränderungen seiner Wünsche. Nehmen wir an, dass Scrooge auch die tieferen Wünsche und Emotionen kennt, in denen seine in speziellen Situationen wirksamen Wünsche

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wie Geldgier oder Hilfsbereitschaft verankert sind. Er weiß, dass beides letztlich dem Wunsch nach Anerkennung entspringt. Sein übergeordneter Wunsch ist jedoch der Wunsch, zu helfen und die daraus erwachsende Anerkennung zu ernten. In den Überlegungen, die der Umsetzung dieses Zieles gewidmet sind, zieht Scrooge wiederum viele Alternativen in Erwägung. Er hat die Wahl, einer bestimmten Person hier und jetzt zu helfen, die nach seinem Wissen finanzielle Hilfe benötigt. Scrooge könnte sein Geld auch einer Hilfsorganisation geben. Er denkt auch darüber nach, das überschüssige Geld zunächst einmal wieder zu investieren, um mit dem zusätzlichen Gewinn schließlich eine Stiftung mit seinem Namen gründen zu können. Unter besten Bedingungen zieht Scrooge diese und viele andere Faktoren in Erwägung, prüft sorgfältig die Stärke seiner Motive und deren Zusammenhang und weiß schließlich genau, welche Handlung die Beste ist (und zwar so genau, dass er seine Meinungen nicht mehr revidieren, also seinen Willen nicht mehr abschwächen wird). Scrooge will auf jeden Fall sein überschüssiges Vermögen verschenken, um anderen zu helfen. Stellen wir uns vor: Scrooge erhält einen Anruf von einem Investmentbroker, der ihm eine lukrative Investition in ein Berliner Immobilienprojekt offeriert. Wenn Scrooge weiterhin davon überzeugt ist, dass Hilfeleistung sein grundlegendes Ziel ist und höchste Priorität genießt und dennoch – freiwillig und absichtlich – eine andere Handlung ausführt, nämlich das ursprünglich für die Hilfe gedachte Geld in das Immobilienprojekt steckt – dann ist sein Handeln unverständlich. Variieren wir das Beispiel: Scrooge kennt verschiedene Personen und Institutionen, denen er mit einer Schenkung helfen könnte, kann sich aber nicht entscheiden, wem er das Geld geben soll, weil er glaubt, für diese spezielle Entscheidung keine wirklich guten Gründe zu haben. Deshalb fasst er folgenden Entschluss: Alle hilfebedürftigen Menschen, die er kennt, lädt er ein, sich im Atrium seines Hauses zu versammeln und wirft das Geld dann von einer Balustrade aus in hohem Bogen unter die Leute – um eben die spezielle, problematische Entscheidung nicht treffen zu müssen. Diese Handlungsweise wäre merkwürdig, wohl auch verächtlich, aber immer noch in einem minimalen Sinne verständlich. Unverständlich wird eine überlegte, absichtliche Handlung erst dann, wenn der Faden zwischen dem speziellen Motiv, dem sie entspringt, und den anderen Überzeugungen und Motiven, mit denen sie bislang, d. h. vor dieser bestimmten Handlung einen verständlichen Zusammenhang bildete, zerreißt. Käme Scrooge nach reiflicher Überlegung zu dem Entschluss, das Geld, das er selbst nicht braucht, verschenken zu wollen und entschlösse sich daraufhin, anstelle der Schenkung in das Berliner Immobilienprojekt zu investieren, obwohl sich seine grundlegenden Präferenzen zwischenzeitlich nicht verändert haben, so wäre diese Handlung, wie gesagt, unverständlich. Denn mit dieser Handlung stellte Scrooge sein normatives Selbstbild als einer in erster Linie helfenden, altruistischen Person in Frage. Verglichen mit dieser Handlung wäre es verständlicher, das Geld unter die Leute zu werfen. Wenn wir Gründe abwägen und uns zu bestimmten Entscheidungen entschließen, gewinnen wir Klarheit über den Gehalt, die Struktur und die

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Hierarchie unserer Überzeugungen und Motive. Eine Meinung wird so zu einem Element der Kontinuität eines gedanklich selbstbestimmten Lebens; wir können die Handlungen, die aus solchen Meinungen hervorgehen, fortsetzen, weitere handlungsleitende Überzeugungen anknüpfen und so auch das Bild einer zukünftigen, verständlichen Zukunft entwerfen. Das Gravitationszentrum des mentalen Lebens einer Person ist ihr normatives Selbstbild; es lenkt das Spiel der mentalen Elemente und schafft so die fließenden Grenzen, in denen das Selbst sich bewegt. Das Selbstbild ist indessen kein starres Gebilde. Stabilität erlangt ein Selbstbild nicht dadurch, dass wir unbeirrbar an einer bestimmten Meinung und einem bestimmten Willen festhalten. Seine lenkende, stabilisierende Kraft besteht vielmehr in der Fähigkeit, unsere Überzeugungen und Motive zum Thema zu machen, aufmerksam prüfen, ihren Gehalt durch Phantasie und Irrtumseinsicht klar artikulieren und schließlich auch verändern zu können. Selbstbestimmung erfordert deshalb auch eine Beweglichkeit des Wollens.5 Fehlt diese Beweglichkeit, besteht die Gefahr von Selbsttäuschungen. Ein literarisches Beispiel mag dies illustrieren. Dostojevski lässt den „Spieler“ mit dem Bericht einer Episode beenden, die der Protagonist, der den unwiderstehlichen Wunsch hat, am Spieltisch sein Glück zu versuchen, für einen Beweis „außergewöhnlicher Entschlossenheit“ hält: Ich brauche nur einmal Charakter zu beweisen, um in einer einzigen Stunde mein ganzes Schicksal zu verändern. Charakter – darauf kommt es an. Ich brauche mich nur daran zu erinnern, was vor sieben Monaten in Roulettenburg geschehen ist, kurz bevor ich endgültig mein ganzes Geld verspielte. Da habe ich wirklich außergewöhnliche Entschlossenheit unter Beweis gestellt. Ich hatte alles verspielt. Doch als ich den Spielsaal verließ, wurde ich plötzlich auf einen letzten verbliebenen Gulden in meiner Westentasche aufmerksam. Ich dachte: „So habe ich wenigstens noch so viel Geld, um zu Mittag zu essen!“ Aber ich war noch keine hundert Schritte gegangen, da hatte ich es mir anders überlegt und machte kehrt. Ich setzte diesen Gulden auf manque …, und wahrlich: es ist ein herrliches Gefühl, allein in einem fremden Land, fern der Heimat, ohne alle Freunde zu sein, nicht zu wissen, ob man heute etwas zu essen haben wird und dann den letzten Gulden einsetzt, den aller-, allerletzten Gulden! Ich gewann, und als ich zwanzig Minuten später die Spielbank verließ, hatte ich hundertsiebzig Gulden in der Tasche. Tatsache! Sehen Sie, das kann manchmal der letzte Gulden bedeuten! Aber was wäre geschehen, wäre ich damals ängstlich geworden und hätte mich nicht entschließen können (den letzten Gulden einzusetzen)? … Morgen, morgen wird sich alles wenden.6

Eine nahezu perfekte Lebenslüge. Der Spieler wird von dem Wunsch beherrscht, sein Glück zu versuchen. Die Starrheit dieses Wunsches sperrt sich gegen eine veränderte Bewertung, die vom Nachdenken ausginge. Der Spieler macht seinen Wunsch durchaus zum Thema und stellt ihn gleichsam auf die Probe, indem er erwägt, dem Casino den Rücken zu kehren, um mit dem wenigen verbliebenen Geld – wie es ihm Freunde geraten haben – ein Leben zu führen, das nicht von diesem Wunsch bestimmt ist. Doch schließlich trägt er das Geld erneut ins Casino 5 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Hermann Schmitz zur „Person der Person“ in diesem Band. 6 Fjodor M. Dostojevski: Der Spieler, St. Petersburg 1866, eigene Übersetzung.

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– und er gewinnt. Darin sieht er seine Stärke, seine Entschlossenheit und Selbstdisziplin bestätigt. Der Spieler hat den Wunsch, nicht zu spielen, scheinbar überwunden und sich mit dem Wunsch zu spielen, der aus der Sicht seiner Mitmenschen eine zerstörerische Schwäche darstellt, so identifiziert, dass er diesen Wunsch für den Ausdruck seiner Stärke hält. Im Banne seines starren Willens verschließt sich der Spieler seine offene Zukunft, die als eine rationale, verständliche Zukunft erst wieder geöffnet würde, wenn er die Fähigkeit zurückgewänne, sein Wollen durch das variierende Nachdenken zu bestimmen. Das erfordert Selbsterkenntnis in einem emphatischen Sinne. Selbsterkenntnis gewährt uns nun auch die Möglichkeit, die Gefahren abzuwenden, die unserer gedanklichen Selbstbestimmung von außen drohen. Manipulation Manipuliert zu werden heißt, dass durch eine äußere Beeinflussung Meinungen, Wünsche und Emotionen erzeugt werden, die man im Lichte des kritischen und selbstbestimmten Nachdenkens nicht hätte. Manipulation ist zunächst nicht erkennbar für ihre Opfer. Wer erkennt, dass er manipuliert werden soll, wird sich selbstverständlich zur Wehr setzen, aufmerksam sein und darauf achten, welche Absicht eine andere Person durch ihre Einflussnahme verfolgt. Mit der ausdrücklichen Aufmerksamkeit, die zwangsläufig eine grundsätzlich kritische Einstellung zur Folge hat, ist das Einfallstor der Manipulation im Grunde bereits verschlossen. Meinungen, Wünsche und Emotionen, die jemand anderes durch manipulative Einflussnahme erzeugen möchte, sind der eigenen Person, solange sie jedenfalls grundsätzlich über die Fähigkeit zur Selbstbestimmung verfügt, nicht völlig fremd: Sie sind vielmehr grundsätzlich inferentiell und motivational anschlussfähig an vorhandene eigene Meinungen, Wünsche und Emotionen. Die Manipulation könnte sonst nicht gelingen; die manipulative Einflussnahme prallte einfach von uns ab. Deshalb macht uns die Einsicht in mögliche Manipulation darauf aufmerksam, dass wir mentale Zustände haben, die wir nicht kennen und die eine nicht ausdrücklich bemerkte kausale Rolle spielen können und sich unserer bewussten Kontrolle entziehen. Stellen wir uns vor: Der ehrgeizige Politiker A ist Mitglied einer Partei, in der er als ein Fachmann für Ökonomie fungiert. Er möchte in seiner Partei Einfluss gewinnen und für ein Abgeordnetenmandat nominiert werden. A weiß, dass er starke Konkurrenten hat und zusätzliche Verbündete braucht. Deshalb versucht A seinen Freund B, einen erfolgreichen Unternehmer, der über große rhetorische Fähigkeiten, Verhandlungsgeschick, soziale Gewandtheit, Charme und Charisma verfügt, zu überreden, in seine Partei einzutreten und ihn mit seinen Fähigkeiten zu unterstützen. B ist ein erfolgreicher Unternehmer und für seinen ökonomischen Erfolg braucht er seine rhetorischen Fähigkeiten nicht einzusetzen. B hatte auch nie den Wunsch, in einer politischen Partei zu arbeiten, denn er hat den starken Wunsch, in seinem Handeln von gruppenpsychologischen Zwängen, wie sie seiner Ansicht nach in einer politischen Partei zuweilen herrschen, unabhängig zu

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sein. Nun hat A allerdings auch den starken Wunsch nach einer Anerkennung, die ihm durch den Gebrauch seiner rhetorischen Fähigkeiten zuteil wird. Über den Gehalt und die Stärke dieses Wunsches ist B sich aber nicht im klaren. A führt B die Vorzüge seines ökonomischen Programms vor Augen und es gelingt ihm, B zu bewegen, seiner Partei beizutreten und A mit seinen rhetorischen Fähigkeiten zu unterstützen. Seine Manipulation ist deshalb erfolgreich, weil er in B den Wunsch erzeugt, sich parteipolitisch zu engagieren und dabei an B’ s Wunsch anknüpft, durch den erfolgreichen Einsatz seiner Überzeugungsfähigkeiten Anerkennung zu erlangen. B macht sich den Einfluss von A zu eigen; er unterstützt A’s politische Ambitionen, weil er den Wunsch hat, endlich einmal auch Anerkennung zu genießen, die man ihm aufgrund seiner Überzeugungskraft entgegen bringt. Aber er weiß nicht, dass es dieser Wunsch ist, der sein Handeln bestimmt, sondern er glaubt, A’s politische Vorschläge deshalb zu unterstützen, weil er sie für ökonomisch sinnvoll hält. B glaubt, von seiner eigenen ökonomischen Kompetenz motiviert zu sein. Das Opfer der Manipulation glaubt, einen anderen Wunsch zu haben als denjenigen, der durch den Einfluss einer anderen Person in ihr erzeugt wird. Wüsste Person B, dass er tatsächlich durch den Wunsch nach Anerkennung motiviert ist, wäre er nicht manipuliert. Das bedeutet: Zur erfolgreichen Manipulation gehört es auch, dass der Manipulierte sich selber über die eigenen Überzeugungen und Absichten täuscht. Der manipulative Einfluss kann nur zum Erfolg führen, wenn dieser Einfluss an einen latenten Wunsch anknüpfen und diesem Wunsch eine Wirksamkeit verleihen kann, den die manipulierte Person selber hat. B hat den Wunsch nach einer bestimmten Form von Anerkennung und nur deshalb kann der manipulative Einfluss von A diesen Wunsch wirksam werden lassen und in B zugleich den trügerischen Eindruck entstehen lassen, es sei nicht dieser Wunsch, der ihn in Bewegung setzt. In der Manipulation wird ein Wunsch wirksam, dessen Gehalt maskiert ist und sich hinter einem Wunsch mit einem anderen Gehalt verbirgt. Deshalb wird die Fähigkeit zur Selbstbestimmung durch Manipulation in einer tiefgreifenden und schwer zu durchschauenden Weise beeinträchtigt. Die Einsicht in ein beginnendes manipulatives Geschehen kann jedoch auch zu einer besonderen Form von Klarheit führen; sie lässt uns erkennen, dass uns bestimmte Überzeugungen oder Wünsche besonders wichtig sind, so dass wir sie gegenüber der Beeinflussung durch andere Personen verteidigen. Dazu ein weiteres kleines literarisches Beispiel: In der Kurzgeschichte „Matrjonas Hof“ erzählt Alexander Solschenizyn die Geschichte von Matrjona, einer älteren Frau, die auf einem einsamen Hof in einem kleinen russischen Dorf lebt. Der Erzähler S kehrt in das Dorf ein, in dem Matrjona lebt, sucht eine Unterkunft und zieht schließlich in ihr Haus. Einen Winter leben sie zusammen. S weiß nicht viel über sie, aber er begleitet ihr Leben in diesem Winter und erlebt sie als eine anspruchslose, opferbereite und vor allem helfende Person. Dieses Bild ist nicht das Ergebnis ausdrücklichen Nachdenkens; S sieht lediglich, was Matrjona sagt und tut, und sein Bild ist vollkommen klar. Ein helfender Mensch zu sein, wird Matrjona schließlich zum Verhängnis. Verwandte verlangen einen Teil ihres Hofs von ihr, ein Teil des Hauses wird abgebaut und auf einen Laster verladen. Der Laster gerät

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in eine gefährliche Situation und bei dem Versuch, die Gefahr abzuwenden, kommt Matrjona ums Leben. Das Ende der Erzählung bildet eine Episode, in der die Einsicht in den Charakter und die Bedeutung dieses Menschen in einem Kontrast zu den verfälschenden Bildern, die andere von ihm zeichnen wollen, klar hervortritt. Der Erzähler S zieht zu Matrjonas Schwägerin, die verschiedentlich auf Matrjona zu sprechen kommt und auf Eigenschaften dieses Menschen hinweist, auf die S nie aufmerksam geworden ist. S berichtet über die Absicht, die seine Gesprächspartnerin verfolgt: Alle ihre Äußerungen über Matrjona waren missbilligend – unsauber sei sie gewesen; und nicht hinter Besitz her; und hätte nicht gespart; und hielt sich nicht mal ’n Ferkel, hat es nicht aufziehen mögen; und wäre so dumm gewesen, fremden Leuten umsonst zu helfen … Sogar über Matrjonas Herzlichkeit und Schlichtheit, die sie wohl anerkannte, sprach die Schwägerin mit verächtlichem Bedauern. Und erst jetzt, aus diesen missbilligenden Äußerungen der Schwägerin, erstand vor mir die Matrjona, die sich mir nicht erschlossen hatte, als ich an ihrer Seite lebte. [Sie] war nicht hinter Besitz her … Hatte nicht geschuftet, um sich Sachen zu kaufen und sie dann zu pflegen, mehr als ihr Leben. War nicht auf Kleidung versessen – auf 7 Kleidung, die selbst Krüppel und Bösewichte schmückt.

Die Schilderung der Missgünstigen ist falsch und sie ist von einer manipulativen Absicht getragen. S weiß das. Sein Wissen, dass Matrjona ein helfender Mensch war, ist für ihn klar genug, um durch die missgünstige Charakterisierung nicht verändert werden zu können. Dennoch weist S auch darauf hin, dass sich sein Urteil unter dem Einfluss der Urteile anderer Personen völlig verändern könnte; er weiß, welche Meinung man in ihm erzeugen will. Plötzlich scheint es so, als sei der helfende, uneigennützige Mensch ein Mensch, dessen Einfalt und Sorglosigkeit sogar verächtlich ist. Das Wissen um die manipulative Beeinflussung seines Urteils schärft nun auch den Blick für die Tatsachen. Wenn S auf die mögliche Veränderung aufmerksam wird, die das manipulative Geschehen bewirken könnte, kann er seine frühere, weniger ausdrückliche Wahrnehmung in der Kritik der falschen Meinung, die man in ihm erzeugen möchte, bekräftigen. Er kann jetzt erkennen, was er wirklich gesehen hat, ohne es je so gesehen zu haben: [E]rst jetzt, aus diesen missbilligenden Äußerungen der Schwägerin, erstand vor mir die Matrjona, die sich mir nicht erschlossen hatte, als ich an ihrer Seite lebte … Unverstanden, allein gelassen sogar von ihrem Mann, hatte sie sechs Kinder begraben, ihr hilfsbereites Wesen aber nicht eingebüsst; ihren Schwestern und Schwägerinnen fremd, eine lächerliche Person, die dumm genug war, für andere ohne Entgelt zu arbeiten, hatte sie sich am Ende ihres Lebens keinen Besitz erspart … Wir alle haben neben ihr gelebt und nicht begriffen, dass sie jene Gerechte war, ohne die, wie das Sprichwort sagt, kein Dorf bestehen kann. Und keine Stadt. Und nicht unser ganzes Land.8

Mit dem distanzierten Blick eines Menschen, der seiner Wahrnehmung vertraut und erkennt, dass jemand versucht, ihn zu manipulieren, sieht S die Tatsachen klarer denn je. Wenn S seine Wahrnehmung und Urteilskraft verteidigt, so drängt er nicht lediglich die manipulative Absicht einer anderen Person zurück. Die 7 8

Alexander Solschenizyn: Im Interesse der Sache. Erzählungen, Neuwied / Berlin 1970, S. 55. Alexander Solschenizyn: Im Interesse der Sache. Erzählungen, Neuwied / Berlin 1970, S. 55f.

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Überwindung einer möglichen Täuschung bekräftigt das klare Urteil, das S hat. Aus der erfolgreichen Abwehr einer möglichen Manipulation geht die gedankliche Selbstbestimmung, der Wille, an seinem ungetrübten Urteil festzuhalten, verstärkt hervor. Vieles mehr gäbe es über Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung zu sagen.9 Ich habe die beiden Phänomene hier lediglich unter dem Gesichtspunkt der Konstitution des Selbst ein wenig zu beleuchten versucht. Eines jedenfalls mögen unsere Überlegungen gezeigt haben: Selbsterkenntnis ist nicht lediglich eine Art gedanklicher Luxus, den man sich unter bestimmten Bedingungen leistet, auf den man aber auch verzichten könnte. Selbsterkenntnis ist vielmehr eine notwendige Bedingung für ein gedanklich selbstbestimmtes Leben; sie schafft die Grundlage dafür, das Spiel der eigenen seelischen Kräfte im Gleichgewicht, in einem fließenden Gleichgewicht zu halten, das in genau dem Sinne stabil ist, dass unser Selbst so beschaffen ist, wie wir es selbst im Lichte unseres Nachdenkens wollen.

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Für eine umfassende Studie sei verwiesen auf: Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart 1999.

EXIT HOMÖOSTASE – DAS GLEICHGWICHT VON BILD UND BETRACHTER Für jeden Besucher, ob gläubig oder nicht, sind die Blicke der Christusfigur, die von Gemälden oder Altarbildern herab anscheinend jede Bewegung des in der Kirche herumgehenden Betrachters verfolgen, faszinierend. Das Ganze ist ein optischer Trick, doch die Wirkung verblüfft. Ebenso eindrucksvoll ist für den Besucher aber auch der direkte Blick Christi, der auf dem Schweißtuch abgebildet erscheint, das uns in der ikonograpischen Tradition von der Heiligen Veronika frontal vorgehalten wird. Wir können diesen direkten Bezug als Segen, als Einbeziehung oder als Verfolgung interpretieren, entziehen können wir uns dieser Faszination kaum. Viele Karikaturen, insbesondere im 19. Jahrhundert, haben diese Verlebendigung der Bilder genutzt. Ebenso wie dies auch Filme (insbesondere z.B. von David Cronenberg) thematisieren. Wenn auf Masolinos wohl frühestem transportablen, ortsunabhängigen Tafelbild der europäischen Kunstgeschichte von 1423 das rundlich-menschliche Christuskind nicht nur zärtlich seine Mutter Maria umfasst, sondern seinen Blick direkt auf den Betrachter richtet (Bild in der Kunsthalle Bremen), dann ist hier dies Thema weitergeführt, dass in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts in vielen Variationen ausgeführt wird: Wenn in den Gruppenbildern eine der meist am Rand stehenden Figuren den Betrachter direkt ansieht, können wir hier mit diesem Blick in das Bild und seine Komposition einsteigen und die inhaltliche Dramaturgie entschlüsseln. Ähnliches muss der sich in den Kirchenräumen oder großen Treppenhäusern der barocken Baumeister bewegende Betrachter tun, der die großen Deckenwandbilder mit ihren speziellen, mehr als 250 Jahre später vom Film wieder aufgenommenen ineinander verwobenen Erzählstrukturen entziffern will. Das größte Deckenbild des Barock im Treppenhaus der Würzburger Residenz haben Giovanni Battista und sein Sohn Domenico Tiepolo so raffiniert gestaltet, dass sich die einzelnen Szenen nacheinander beim Hinaufschreiten der lang gezogenen Treppe wie ein Kameraschwenk ohne Schnitt lesen lassen. Hier findet also ein Austausch statt, zwischen dem Produzenten und dem Konsumenent von Kunst. Für das Thema Homöostase kann die Kunstwissenschaft also ein gewichtiges Kapitel beisteuern: die Beziehung von Kunstwerk und Betrachter. Schon in der Antike wird die Erkenntnis formuliert, dass die Wahrnehmung von Kunst und damit ihre Existenz außerhalb des Kunst-Objektes erst in der Reflexion durch einen Betrachter gebildet wird. Bereits Aristoteles habe die Bild-Betrachter-Beziehung „als allein richtungsgebendes Element aufgefasst“ – so Gerd Ueding in seinem Vortrag auf dem deutschen Kunsthistorikertag 1997. Auch Hans-Georg Gadamer hatte sein grundlegendes Werk „Platons dialektische Ethik“

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als ein eigentlich stecken gebliebenes Aristoteles-Buch bezeichnet. Für ihn ist die Hermeneutik als Analyse des Verstehens die Grundlage jeder Geisteswissenschaft. Doch der Bezug Bild-Betrachter ist vielfach dargestellt worden, am besten zusammengefasst von Wolfgang Kemp in seinem grundlegenden, material- und geistreichen Buch „Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts (München 1983), bzw. „Der Betrachter ist im Bild, Kunstwissenschaft und Rezeptionsäshtetik“ (Köln 1985). Weitere Autoren könnte man hinzufügen, um aktuelle Diskussionen einzubeziehen, doch ich möchte hier nur auf Jonathan Crary hinweisen: „Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und moderne Kultur“ (Frankfurt 2002), das auf seiner Untersuchung „Techniken des Beobachters. Sehen und Moderne im neunzehnten Jahrhundert“ (1990, dt. 1996) aufbaut und den Begriff der „attention“ für diese Form der Wahrnehmung benutzt. Der Betrachter – und in diesem Fall ist nun insbesondere, ja vielleicht sogar ausschließlich der männliche gemeint – kann auch zum Komplizen werden und dadurch das Bild zu einem Skandalbild werden lassen: Die Distanz zwischen Bild und Betrachter kann so spannungsvoll aufgeladen, ja wirkungsvoll erlebbar gemacht werden, indem das Bild nicht nur an sich schon Verbotenes, Unzugängliches wiedergibt, sondern dann auch die Form des Bildes und die unmittelbare Nähe den Betrachter zum Voyeur werden lässt. Dominique Ingres´ „Türkisches Bad“ von 1862 (heute im Louvre, Paris) zeigt diese Wunschträume schläfriger Üppigkeit in einem jedem „normalen“ Mann unzugänglichen Harem; der 82jährige Maler macht so jeden Betrachter zu einem Komplizen des verbotenen Blickes – wie Baudelaire seinen „scheinheiligen Leser“ mit „mon semblable, mon frère“ ansprach. Dieses unanständige Sujet wurde bewundert. Ein Jahr später trumpfte der junge Edouard Manet mit seinem „Frühstück im Grünen“ (heute im Musèe d`Orsay, Paris) auf, das in einem öffentlichen Park am Wasser neben zeitgenössisch gekleideten Herren eine junge Dame so selbstbewusst wie anmutig und gelassen, aber völlig nackt zeigt – dies war dann der Skandal. Ganz zu schweigen von dem Bild, das übrigens derselbe Besitzer des „Türkischen Bades“, der türkische Botschafter in Frankreich, 1866 bei Gustave Courbet in Auftrag gab: „Der Ursprung der Welt“, das so schamlos allein den Blick des Betrachters auf die nackte weibliche Scham konzentrierte, dass dieses Bild eigentlich bis heute mit einem Vorhang den Blicken der Betrachter entzogen wird. Das Gleichgewicht, also die Homöostase, zwischen Bild und Betrachter kann nicht stärker gestört, weil verstört werden. Der Betrachter muss geschützt werden vor den eigenen Vorstellungen, die das Bild bei ihm auslösen könnte. Ein weiteres wichtiges Thema, um das Konzept des homöostatischen Austausches für die Kunstwissenschaften nutzbar zu machen, ist der gemalte Spiegel, der vielfältig von Künstlern über die Jahrhundert eingesetzt wurde: doch meist diente der Spiegel im Bild, um einen Ort innerhalb des Bildes wiederzugeben, der in Wirklichkeit außerhalb des Bildes, in der Welt des Betrachters liegt. Der Spiegel dient zur Bestätigung der Realität und liefert zugleich den Beweis für das Irrationale, das unmöglich so Seiende, denn wenn der Betrachter in den gemalten Spiegel sieht, erscheint „nur“ die dem Maler zugängliche, von

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ihm gewünschte Spiegelwelt. So sind auf dem „Hochzeitsbild der Arnolfini“ von Jan van Eyck von 1434 in dem zentral hängenden Konvexspiegel die Trauzeugen gemeint, die auf dem Bild zwar nicht zu sehen sind, die aber an der Position stehen müssten, die wir als Betrachter vor dem Bild einnehmen. Unsere Außenwelt erscheint als Teil der Bildwelt gespiegelt – und die Unschärfe der Darstellung der beiden gemalten Figuren im Bild ermöglicht die Identifikation mit uns wechselnden Betrachtern vor dem Bild. Die komplexe Atelier-Szene, die Velasquez in seinem wandbildartigen „Las Meninas“ (Prado, Madrid) so gestaltet hat, dass wir Zeuge werden einer Szene, die wiederum nur das eintretende Königspaar hat sehen können. Denn dies Paar sehen wir im Hintergrund als Spiegelung vor dem Bild stehen – wie eben wir jetzt als Betrachter auch! In vielen Portrait-Bildern mit gemalten Spiegeln sehen wir die Persönlichkeit des Malers, bzw. des Dargestellten im wahrsten Sinne in einem erweiterten Blickfeld. Der Spiegel dient als Metapher für Selbstreflexion des Künstlers wie der Reflexion des Betrachters: Es gibt die Lust an der Selbsterkenntnis wie die Angst vor der Trennung und der Differenz des Abbildes von der Realität, ja vor dem Verlust des Spiegelbildes, des Schattens, der Existenz. „Manchmal höre ich etwas wie eine Art Widerhall von meinem Leben, doch nie und nimmer ganz das von meinem Ich, dem ich nach wie vor unbekannt gegenüberstehe – oh, viele Spiegel sind notwendig, um hinter die Spiegel zu sehen“ schrieb Max Beckmann in sein Tagebuch 7. Juli 1949. Diese ganze Thematik beginnt – und fast möchte man auch sagen: entfaltet sich in der ganzen Breite – schon in der deutschen Romantik: In der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts finden wir bei E.T.A. Hoffmann, Jean Paul, Adalbert von Chamisso u.a. die ganze Fülle der Ideen der Entstehung und des Verlustes der Identität und der Verdoppelung durch Spiegelbilder, Schatten und reale Doppelgänger. Heinrich von Kleist erfindet in seinem „Amphytrion“ die durch ihr Götter-Sein „bessere“, verdoppelte Existenz: Die Götter in Gestalt der Menschen wirken nicht nur ähnlich, sondern sogar noch anziehender als die real existierenden Originale. So sagt Sosias bei Kleist: „Ich schwör´s Euch zu, dass ich, der einfach aus dem Lager ging, ein Doppelter in Theben eingetroffen; dass ich mir glotzend hier begegnet bin.“ Doch Heinrich von Kleist ist in unserem Zusammenhang des Gleichgewichts von Bild und Betrachter deshalb wichtig, weil er diese Spannung vielleicht als erster so emotional direkt formuliert hat, wie wir es dann für die nächsten Jahrhunderte als Grundlage nehmen können. In seine Bearbeitung eines Textes von Clemens von Brentano in den „Abendblättern“ 1810 ließ er so viel Besonderes einfließen, dass sich der Autor erschreckt zurückzog und Kleist selbst als Autor der „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ auftrat. Vor dem radikal neuen Bild „Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich (heute Nationalgalerie, SMPK Berlin) spürt Kleist die Kraft der Malerei, den Betrachter in sich aufzusaugen. Friedrich will den Betrachter nicht mehr durch eine einladende Figur, eine Geste, einen Blick in einen Spiegel in das Bildmotiv und seine Stimmung einführen, sondern die kleine Mönchsfigur wird in der „Apokalypse“, der „Uferlosigkeit“ des Ganzen zur einzigen Identitätsmöglich-

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keit „dass man hinüber mögte, dass man es nicht kann“. Aber es gibt kein vorn oder hinten, keinen Übergang „so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weg geschnitten wären“. Und die vielleicht klarste Zusammenfassung lautet: „Das, was ich in dem Bild selbst finden sollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde“. Erst in der emotionalen Interaktion zwischen dem Betrachter und dem Bild entsteht die Kunst, blüht das Kunstwerk auf zu etwas Wesentlichem, das mehr ist als eine mit Gegenständen, Farben und Formen bemalte Leinwand. Hier haben dann viele Künstler und Theoretiker weitergedacht und weitergearbeitet, insbesondere Marcel Duchamp, aber auch John Cage und die Künstler, die auf den Feldern von Fluxus und der Konzept-Art gearbeitet haben, müssen genannt werden. Alle diese Künstler haben den Denkraum des Betrachters definiert, erweitert und als eigentliches Thema die Etablierung des Betrachters als geistigen Partner des Künstlers gestaltet. Hier könnte nun ein langer Exkurs über die Einbeziehung des Betrachters in den Werkprozess folgen. Etwa über die Aktionen der Fluxus- und HappeningKünstler der frühen 60er Jahre bis zu den soziologisch, gesellschaftlich orientierten Künstlern wie Christine Hill mit ihrem „Laden“ oder Philippe Parreno; beide lassen erst durch die Einbeziehung der Betrachter Kunst und Ausstellungen entstehen. In all diesen Fällen können wir nicht von einem abgeschlossenen Kunstwerk sprechen, dem der Betrachter gegenübertritt, sondern eine neue Mischform entsteht: Erst in einer Interaktion des aktiven Betrachters wird das Kunstwerk realisiert. Das Fluxus-Werk entsteht zwar nach Angaben der Künstler, aber ist in Form und Inhalt ständig variiert, und die Qualität besteht gerade darin, dass es keine feste Form hat. Um aber in unserem Themenzusammenhang einen wahren Ausgleich von Werk und Betrachter bestimmen zu können, sollte das Werk klar definiert und in sich fertig und gleichbleibend beschreibbar und rekonstruierbar sein. Damit schränkt sich das Feld der zu betrachtenden Kunst ein, auf das ich aber im Folgenden eingehen möchte. Mit dem gemalten Spiegel kamen wir schon nahe an die reale Einbeziehung des Betrachters in das Kunstwerk. Bei allen bisher angesprochenen Werken, insbesondere in der Malerei, ist die Barriere definiert durch die Tatsache, dass das Kunstwerk abgeschlossen und fertig vor dem Betrachter steht und „nur“ ein geistiges Eindringen, Mitgestalten, eben ein Wahrnehmen möglich ist Doch die realen Spiegel, wie sie Michelangelo Pistoletto seit den 60er Jahren der vorigen Jahrhunderts als Bildträger einsetzt, ermöglicht eine reale Teilnahme des einzelnen Betrachters, der sich gespiegelt sieht in der jeweilig realen Umgebung zusammen mit dem von Pistoletto auf der Spiegelfläche angebrachten flächigen Objekt, oftmals einer menschlichen Figur. Wenn dies nun eine weibliche Nackte ist, fühlen wir uns – ähnlich den Kunstbetrachtern vor Manets „Frühstück im Grünen“ – zumindest verunsichert, wenn nicht verstört, da wir uns gespiegelt, eingebunden und benachbart im selben Bildraum mit dieser Nackten befinden! Mit diesen Werken hat Michelangelo Pistoletto eine neue Qualität der gesteigerten Einbeziehung des Betrachters erreicht.

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Seit 1962 nutzte er die Spiegelfläche eben nicht nur als Aufhebung des realen Bildgrundes, sondern er konfrontiert den Betrachter mit seinem eigenen Bild, er stellte dabei Fragen wie „Chi sei tu?“ („Wer bist Du?“) oder spricht ihn an mit: „Ti amo“ („Ich liebe Dich“) – so wie hier konnte sich der Betrachter noch niemals in ein Kunstwerk einbezogen sehen. Vielleicht verdrückte sich der Betrachter lieber aus dem Bildfeld, doch die ersten Erfahrungen waren hier gemacht: der einzelne Betrachter ist live in diesem, jeden neuen Augenblick im Bild und damit Teil des Kunstwerks – es mag kein Zufall sein, dass in diesen Jahren auch Nam June Paik zum ersten Mal dank eines Fußschalters den Betrachter des Fernsehapparates in der Wuppertaler Galerie Jährling im März 1963 zum Veränderer der elektronischen Bilder machte. Es gibt weitere Bespiel in unserem Zusammenhang der realen Aktivierung des Betrachters zum Handelnden, der die Anweisungen des Künstlers ausführt, indem er die „Objekte benutzt“ – dies war das Stichwort, unter dem Franz Erhard Walther seine Werke ausstellte. Ebenfalls seit 1962/63 realisierte Walther seine „Objekte“ mit Handlungsanweisungen zum Benutzen. Sein Schlüsselerlebnis sei 1960 eine Begegnung im Frankfurter Städel Museum gewesen: Er sah eine junge Frau Rembrandts „Blendung Simsons“ betrachten – eine hochdramatische Szene, vom jungen Rembrandt wie in einem Hollywoodfilm 1636 gemalt. „Was ich zu betrachten begann, war die Beziehung zwischen der Person und dem Gegenstand. Diese Beziehung hatte sich verselbständigt und war eigener Gegenstand der Betrachtung geworden.“ Indem Walther seine „Werksätze“ zumeist aus Stoff, manchmal mit Pappe verstärkt, zur kommunikativen Aufführung durch mehrere Beteiligte schuf, gilt er als einer ersten und konsequentesten Künstler dieser Erweiterung der Aktions- und Konzeptkunst. Wahrnehmung, Aneignung und Erlebnis sind als „Handlungsformen“ so integriert, dass der Betrachter schließlich sagen kann: „Ich bin die Skulptur“ – und diese wäre ohne seine Handlung jetzt und hier nicht vorhanden und morgen durch andere Handelnde auch wieder verändert. Video Closed-Circuit-Installationen ermöglichen eine vielleicht noch intensivere, aktive Teilnahme des Betrachters durch Veränderung der Wahrnehmungsebene gegenüber der Spiegel-Bildebene, die das reale Bild reflektiert. Hier steht wiederum Nam June Paik am Beginn einer fruchtbaren Entwicklung, die einen ersten Höhepunkt in den 70er Jahren erfährt: 1969 übertrug Nam June Paik sein Prinzip der „Interaktion“, der Einbeziehung des Betrachters, der „elektronisch malen“ konnte: 1963 mit einem Fußschalter, 1965 mit einem Magneten, 1969 mit zwei Mikrophonen, deren Klänge in optische Signale umgesetzt wurden. Der entscheidende Schritt war „Participation TV“, ausgestellt in der frühen Ausstellung „TV as a Creative Medium“ in der Howard Wise Gallery, New York, mit folgender Angabe im Faltblatt: „3 or 4 TV Sets which show multi-color echoes, or fog, or clouds, which are electronically produced. Sometimes you can see yourself floating in air, dissolving in deep water.” Zu dieser Zeit gab es noch keine preiswerten Farbkameras für eine solche Installation, so dass Paik drei SchwarzWeiß-Kameras so manipulierte, dass auf dem Farb-TV deren Bilder in den drei TV-Grundfarben erschienen. Da die drei Kameras nebeneinander gestellt waren,

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sind ihre Bilder nicht nur farblich, sondern auch räumlich differenziert, so dass der Betrachter sich dann als dreifach farbige Erscheinung auf dem TV erkennt. Paik hat dann diese Arbeit für seine Guggenheim-Retrospektive in Bilbao rekonstruiert und mit einem Projektor erweitert (heute als Dauerleihgabe der Sammlung Dieter und Si Rosenkranz in der Kunsthalle Bremen). Es ist eine spielerische Einbeziehung des vor den Kameras agierenden Betrachters, die sich in den überschneidenden Farbformen wieder erkennen und mit Freude und leichtem Befremden die leicht verschobene farbige Bildwelt durch ihre Handlungen zu entziffern suchen. Diese Möglichkeit der Closed Circuit-Videoinstallation haben andere Künstler in dieser Zeit unterschiedlich eingesetzt: Les Levine in „Iris“ 1968, der in den Raum eintretende Betrachter sieht sich auf den Bildschirmen in unterschiedlicher Distanz – für ihn schwer verständlich, da dies ja sein zeitgleiches Abbild ist. Bruce Nauman lässt in seinem „Live/Taped Video Corridor“ von 1969 den Betrachter in einem sehr engen Korridor auf zwei Monitore zu gehen: der eine zeigt auf einem vorproduzierten Videoband diesen Raum noch immer leer, während der andere das Bild den in diesem Gang auf sein eigenes Bild zugehenden Betrachter zeigt. Obwohl der Betrachter auf sein eigenes Bild zugeht – wird dies aber immer kleiner, er scheint von sich selbst weg zu gehen – es ist eine eigentümlich befremdliche Erfahrung, dass das eigene Spiegelbild sich entfernt, wenn man auf sein Abbild zugeht! Eine andere RaumInstallation entwarf Bruce Nauman so, dass wir um einen Kubus herumgehend auf dem an der Ecke angebrachten TV-Monitor immer nur uns gerade um die Ecke weggehend sehen – weil wir immer nur die versetzte Aufzeichnung unseres Gehens sehen. Der besondere Meister des Video Closed Circuits ist der Amerikaner Peter Campus, der nach einem Psychologie-Studium von der Planungs-Komplexität des Filmens abgestoßen, Anfang der 70er Jahre für sich das Medium Video und dessen Möglichkeiten entdeckte: In „interface“ (1972, heute im Centre George Pompidou, Paris) ist der Betrachter mit einem doppelten Bild seiner selbst konfrontiert: In der großen Glasscheibe sieht er sich einmal als schwarz-weißes, seitenrichtiges Kamerabild projiziert und einmal als farbiges, aber seitenverkehrtes wahres Spiegelbild. Da wir uns immer nur als Spiegelbild eben seitenverkehrt wahrgenommen haben, ist die seitenrichtige schwarz-weiße Erscheinung in gleicher Größe und gleicher Bewegung eine verstörende Erfahrung, die uns zugleich endlich einmal die Erscheinung zeigt, wie uns die anderen sehen: eben seitenrichtig. Es stellt sich dem nachdenklich in dieser Installation Agierenden die Frage nach seinem wahren Bild – ja, und die Frage nach dem Kunstwerk, das ohne den Betrachter eher einer Versuchsanordnung in einem leeren Raum mit Lichtkegel gleicht, in den der Betrachter eintritt. Es besteht nur aus einer Kamera sowie einem Projektor (manchmal auch einer spiegelnden Glasfläche oder einem transparenten Projektionsfeld). Erst die Aktion, die Erkenntnis aufgrund der entstehenden, sich ungewöhnlich gegenüber den bisher gemachten Erfahrungen verändernden Bilder von einem selbst, lässt das Kunstwerk real und in seiner Wirkung beim Betrachter entstehen.

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In „mem“ (1975, Kunsthalle Bremen) von Peter Campus erscheint das projizierte Bild auf der Wand nur an bestimmten Positionen im Raum aufgenommen scharf und „richtig“. Bewegt sich der Betrachter, verliert sich sein Abbild in grauem Schemen, über die sich dann sogar sein realer dunkler Schatten legt oder beim Nähergehen auf die Projektion wird das Abbild immer kleiner und scheint sich in der Projektion im endlosen Raumtrichter nach rechts zu verlieren. „Nicht einmal diesen Traum deines Ichs, wie er aus dem Spiegel hervorschimmert, gönnst Du mir“, raunte Guilette ihrem Erasmus zu, der sah, „wie sein Bild unabhängig von seinen Bewegungen hervortrat“; so dass er im Todeskampf zu Boden gerissen wurde. Die von E.T.A. Hoffmann in seinen „SpukGeschichten“ so eindringlich geschilderte Szene der sich im Spiegelbild scheinbaren Auflösung des eigenen Körpers ist durch die Schrägprojektion des VideoBildes möglich geworden. Künstler wie Peter Campus können persönliche Erfahrungen so für die einzelnen Betrachter in eindrucksvolle Kunstwerke umsetzen: Jeder kann, ja muss in diesen Closed Circuit-Installationen nunmehr selbst diese Erfahrungen machen. Dan Graham ermöglicht dem Betrachter noch andere Erfahrungen: Er interessiert sich für räumlich-architektonische Strukturen und verschafft dem Betrachter in seinen gebauten Räumen durch die Einbeziehung von Spiegeln die Erfahrung, scheinbar innen und zugleich außen zu sein (Interior Space/Exterior Space, 1976). In „Present/Continuous Past(s)“ (1974 Centre George Pompidou, Paris) führt Graham als erster die verzögerte Wiedergabe ein: Der Betrachter sieht sich im Raum auf Spiegeln mehrfach gespiegelt, auf dem Monitor aber mit einer Verzögerung von ca. 5 Sekunden und beobachtet nunmehr irritiert seine gerade gelebte Vergangenheit als Gegenwart, die aber nicht mehr beeinflussbar ist, da sie ja nunmehr aufgezeichnet konserviert ist. Diese Verdoppelung der Zeit und der Wahrnehmung, der Unverrückbarkeit des Verfließens, aber damit auch der Verfestigung der Bilder ist eine verunsichernde Erkenntnis, hier von Dan Graham für den einzelnen Betrachter sinnlich visualisiert. Als abschließendes Beispiel für die Variationen der Closed Circuit-VideoInstallationen, die den Betrachter aktiv einbeziehen und erst dadurch das Werk sichtbar werden lassen, ist „He weeps for you“ von Bill Viola (1976, Sammlung Hamburger Bahnhof, Museum der Gegenwart SMPK, Berlin). Eine Kamera mit einer Speziallinse zeichnet einen Wassertropfen auf; das winzige Bild wird als große Projektion auf der Wand sichtbar. Der in den Lichtkegel des sonst dunklen Raumes tretenden Betrachter wird als Spiegelung in dem Wassertropfen winzig verkleinert aufgenommen und zeitgleich riesig vergrößert projiziert. Das Abbild in dem sich langsam bildenden, dann aber mit verstärktem Klang auf ein Tamburin hinab fallenden Tropfen entsteht und vergeht in einem langsamen, gleich bleibenden Rhythmus, der uns über das Werden und Vergehen des Bildes, des Lebens, der Natur nachdenken lässt. Ein Gleichgewicht zwischen dem Werk und dem Betrachter besteht bei den oben beschriebenen Video Closed Circuit-Installationen, weil das Kunstwerk des Künstlers klar definiert und substantiell vorhanden ist und der Betrachter trotzdem

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das Vorhandene nur als eine Folie empfindet, das von ihm jeweils neu live mit Leben gefüllt werden muss. Hier sind beide Seite in einem idealen Gleichgewicht. Doch wie beim gemalten Bild das Ungleichgewicht zu Gunsten des Kunstwerks verschoben ist, so ist bei den reinen Konzept-Werken dieses Ungleichgewicht zugunsten des Betrachters verschoben, da das Werk nicht in einer künstlerisch gestalteten, sich materialisierenden Form vorhanden ist, sondern lediglich als konzeptueller Text existiert. Diese Texte sind meist kurz und knapp formuliert und dienen als Vorlagen, Partituren oder Anweisungen für Handlungen, Aufführungen, Aktionen – oder, wie der wohl erste und einflussreichste Künstler dieser minimalen Kunstform, George Brecht formulierte: „events“. Gabriele Knapstein hat in ihrer umfangreichen Arbeit (Wiens Verlag Berlin 1999) die Bedeutung und den Kontext dieser „event“-Karten, die George Brecht zwischen 1959 und 1963 entwarf, analysiert. Das wohl berühmtes „word event“: EXIT, ist signiert und datiert mit „G. Brecht Spring. 1961“. Ein anderes aus derselben Zeit ist „Three Chair Events: Sitting on a black chair/Occurrence. Yellow Chair (Occurrence). On (or near) a white chair”. Hier gibt es weder die Objekte selbst, noch andere Zusammenhänge, die das Werk in den unterschiedlichen Erscheinungen vergleichbar machen würde: jede Durchführung ist völlig anders, die Ungleichgewichtigkeit ist offensichtlich. So wie dies auch bei den „Instructions for paintings“ von Yoko Ono, die diese seit dem Winter 1960 bis zum Erscheinen von „grapefruit“ 1964 verfasst hat, so z.B. „Küchen Stück: Hänge eine Leinwand an eine Wand. Wirf alle Küchenabfälle des Tages auf die Leinwand. Du kannst für dieses Stück besonderes Essen vorbereiten.“ (Die deutsche Fassung 2007 von Yoko Ono handgeschrieben als Faksimile von der Kunsthalle Bremen ediert). Nam June Paik hat 1961 ähnlich knappe, radikale Anweisungen geschrieben: „Theatre for Poor Man: summon a taxi, position yourself inside, OBSERVE THE METER:“ oder „On sunny days, count the waves of the rhine. On windy days, count the waves of the rhine.” Doch kein Stück, kein „event“ ist damals so häufig aufgeführt worden oder hat es zumindest auf den Programm-Zettel oder auf die Schultafel, die vielfach auf den Fluxus-Aktionen eingesetzt wurde, gebracht wie George Brecht´s EXIT. Klar und eindeutig, kein Werk mehr, raus aus der Kunst, so weit es eben gerade noch als Kunst geht, damit es an diesem Rand überhaupt noch als Kunst wahrgenommen werden konnte. Für unsere Beispiele einer Reihe von Kunstwerken, die die Frage nach der Gleichwertigkeit und dem Gleichgewicht von Werk und Betrachter andeuten möchte, ist EXIT daher ein Schlusspunkt, der den Ausstieg aus der Folge der Werke ermöglicht.

KUNST. KUNSTERFAHRUNG. KUNSTEREIGNIS KUNST ALS EREIGNIS VON VARIABEL GESTALTETEN BEZÜGLICHKEITEN VERHÄLTNIS: KUNST – ERFAHRUNG Kunst-Betrachter Das Verhältnis von Kunst zu den Personen, die sie herstellen, die sie betrachten, sie verehren, genießen, mit ihr umgehen, ist schon lange ein Thema auch der Psychologie. Die Psychophysik, die anfängliche Experimentalpsychologie, die Psychoanalyse, die Gestalt- und die Kunstpsychologie haben sich damit auseinandergesetzt und sie erforscht. Wie schon Kant, der sich über die sinnlichen Wahrnehmungen und Apperzeptionen ausließ, betrachtet die Psychologie dabei in erster Linie die Wahrnehmungen und die sonstigen psychischen Erfahrungen, die eine Person – etwa einen Besucher einer Ausstellung – mit den unterschiedlichen Bildwerken und Objekten der Kunst verbinden. So etwa ein Besucher der Documenta: Ein gegenwärtiger, trendbewusster Teilnehmer an einem zeitgeistigen Geschehen, ein Flaneur in den Gärten modisch künstlerischer Diskurse und Ansichten. Ein Sucher nach neuen Gelegenheiten und Gewinnen auf dem Spiegelparkett, das einer der wichtigsten Marktplätze für die Bildkunst heute ist. Oder vielleicht auch nur ein Interessierter an zeitgenössischer Kunst. Oder jemand, den es bloß aus reinem Zeitvertreib in die Kasseler Kunsthallen für das alle fünf Jahre gefeierte Hochamt des Kunstbetriebs verschlagen hat. In jedem Fall – auch dann, wenn der Besucher sich nur zufällig, oder aus Langeweile dorthin verirrt hat – kommt es zu einer Begegnung, zu einem Wahrnehmen, einem Erkennen, einer Deutung von Kunstobjekten in den Kunstumwelten unterschiedlichster Art. Auf der einen Seite befindet sich ein Individuum, das sich so und so verhält, das sucht, denkt, urteilt, fühlt, erkennt. Zugleich ist es einer, der sich für eine bestimmte Zeitspanne mit Kunst auseinandersetzt und, intendiert oder nicht, von ihr Impulse, Informationen, Einblicke und Anregungen empfängt. Auf der anderen Seite, dem Besucher zur Ansicht gebracht, sind die unterschiedlichen Objekte einer arrangierten Kunst, die sich nach besonders gestalteten Formen, Ideen, Eigenschaften, Moden und Gesetzlichkeiten in Zeit und Raum präsentieren und dort entsprechend wirken sollen. Die Reichweite der Kunstobjekte kann sich dabei erstrecken vom Geruch einer angepflanzten Blumenwiese, dem Flimmern einer Videowand, der spürbaren Zartheit und der Delikatesse einer altpersischen Miniaturzeichnung, der Haptik

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eines ausgestopften Tierkörpers wie aus den Wunderkammern alter Zeiten, der Idee eines in den Boden versenkten, unsichtbaren Zeichens, bis hin zum neuesten Werk eines zeitgenössischen Malerstars, oder der gespürten Nähe und Anwesenheit von 1001 Personen nebst genau so vielen Sitzgelegenheiten aus einem fernen Land, die das schillernde happening eines Kunstbesuchs darzustellen vorgeben. Der Kunstmarktplatz Documenta scheint ohnehin heute den Jahrmarkt besetzt zu haben, wo es einmal für jedermann etwas zu bestaunen gab. Unterschieden werden bei einer derartig oberflächlichen dichotomen psychologischen Betrachtung einer Begegnung zwei Instanzen: der Bereich des psychischen Verhaltens und Empfindens einerseits, und andererseits der Bereich, in dem sich die Kunst als etwas davon Getrenntes abspielt und darstellt. Subjekt versus Objekt, Kunstinteressent versus Kunstgegenstand, Empfindung versus Wirkung; Psychologie versus Ästhetik. Ein Betrachter als ein psychisch komplex und different sich verhaltendes, psychophysisches Wesen gegenüber einer Kunstwelt, die gewöhnlich im Habitus eines gesondert erstellten Werks und Produkts künstlerischer Absicht auftritt. Die – hier: bildende – Kunst wird dabei aufgefasst als ein vom je realen Leben und vom psychischen Verhalten von Personen Abgesondertes, als ein Erhabenes, Sublimes, ästhetisch Ephemeres, Eigenes. Kunst stellt anscheinend eine Gestalt dar, ein Ganzes, ein letztlich Unteilbares, Eigengesetzliches. Das Dynamische hingegen spielt sich, nach dieser Sichtweise, vorwiegend zwischen einem Betrachter als einem handelnden Subjekt und einem Objekt, der Kunst, ab. Diese Sichtweise der psychischen Rezeption von Kunst beruft sich auf eine lange Tradition. Ein Kunstwerk fungiert als etwas überwirkliches, zeitloses, außermenschlich Geschaffenes, als eine Idee, eine Ikone, ein Imago, ein Artefakt, ein Produkt eines Demiurgen. Dies verweist auf einen Ursprung, der wesensmäßig außerhalb des Könnens und Vermögens von Menschen zu liegen scheint. Eine Beziehung zu einem Gott oder zu einer Gottheit liegt dieser Auffassung nahe. Auch die Annahme eines ewig wirksamen Kanons für Kunstwerke bewegt sich in diesem Denkschema: alle Eigenschaften und Formen eines Kunstobjekts unterliegen einer ehernen Gesetzmäßigkeit des Zeitlosen, des Harmonischen, des Unabänderlichen, des verbindlich Überwirklichen. Selbst in der Auffassung einer „Gestalt“, wie sie die Gestaltpsychologie unternimmt, fällt dem Kunstwerk etwas Eigengesetzliches, Monadisches zu; der Begriff der „guten Gestalt“ spricht jedenfalls dafür. Aber auch noch in der neueren Systemtheorie hallen solche Auffassungen nach. So unterliegt die Auffassung eines geschlossenen Systems noch der Annahme eines dazugehörigen Reglermechanismus, der etwa nach eigengesetzlichen, optimalen, dem System immanenten Funktionen eine letztlich unveränderliche Struktur an Vorgängen, Prozessen und Zuständen bildet. Selbst dann, wenn ein solches System sich selbst regulieren kann, geschieht dies zu einem Erhalt derjenigen Homöostase, die eben das System erst als solches, d.h. als ein Gebilde aus aufeinander bezogenen, austarierten Faktoren ausmacht. Die Begegnung des besagten Besuchers der Documenta wäre demnach ein Zusammentreffen zweier in sich, wie man sagt, geschlossener Systeme, die je

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nach ganz unterschiedlichen, eigenen Regeln, Formen und Abläufen zunächst für sich einzeln existieren. Dass dieses Treffen zu einem Kunstgenuss, zu einem Augenschmaus, zu einem Lerneffekt, zu einem Aha-Erlebnis, zum ästhetischem Empfinden, einem Entzücken, oder gar zum Verzücken führen kann, ist allerdings eine Sache, die sich allein noch keineswegs aus einer Annahme zweier eigenständiger, voneinander abgeschlossener Systeme ableiten lässt. Denn das Eintreten eines Genusses, eines Lerneffekts, eines Aha-Erlebnisses, eines Empfindens oder eines Entzückens setzt ja gerade voraus, dass das eine – etwa ein Kunstwerk, das auf der Documenta ausgestellt ist – ein anderes – hier das Verhalten und die Person des Betrachters – zu beeinflussen überhaupt in der Lage ist. Wie etwa: Löst das neue Spitzenwerk von Gerhard Richter, von Peter Doig, von Zhang Xiao Gang beim Besucher die gleichen Hochgefühle an Begeisterung aus wie im international bespielten Reigen der veröffentlichten Kritiken? Das setzte ja voraus, dass, abgesehen vom ökonomischen Kalkül, von einem etwas auf ein anderes überhaupt übergehen, dass das eine sich einem andern prinzipiell anverwandeln kann. Auch die Annahme einer Subjekt-Objekt-Beziehung, die in der traditionellen Ästhetik wie auch in der Kunstpsychologie üblich ist, zielt in die gleiche Richtung. Sowohl das Subjekt als auch das Objekt stellen zwei Einheiten, zwei Entitäten dar, die jede für sich und unabhängig vom anderen existiert und ein sowohl anthropologisch bestimmtes als auch ein physikalisch und wissenschaftliches determiniertes Dasein führt. In Ernst Machs „Analyse der Empfindung“ (1991) wird dies noch einmal grundlegend für die neuere Psychologie postuliert: das Ich, etwa der Beobachter, ist die eine Sache, die Welt, als äußere Wirklichkeit, eine andere. Vom einen auf das andere zu schließen, verbietet sich daher weitgehend – vielleicht sogar gänzlich, grundsätzlich. In dieser Machschen Tradition befinden sich daher auch die meisten Theorien und empirischen Untersuchungen der Psychologie, wie sie Allesch übersichtlich zusammengestellt hat (2006): wie etwa die kognitiven, kulturpsychologischen, die symbolisch-handlungstheoretischen, morphologisch-psychologischen, die semiotisch-ökologischen, die evolutionstheoretischen und die interdisziplinären Ansätze. Sind nach solch grundlegenden Zweifeln seitens der Wissenschaft daher die skizzierten scheinbaren psychischen Empfindungen und Erfahrungen des Besuchers der Documenta mit Kunst nur eine Täuschung, eine Schimäre? Sind sie nur eine Einbildung, eine Selbsttäuschung des Besuchers einerseits, ein Wunschdenken des Veranstalters andererseits? Und wie ist das Verhältnis der möglichen Erwartungen mit den realen Erfahrungen? Beruhen diese auf etwas, das es letztlich psychisch gar nicht gibt, nicht geben kann? Oder wollte, erwartete und suchte der Besucher der Kunstschau eigentlich etwas ganz anderes – wie die bloße Zerstreuung, den Zeitvertreib, die Ablenkung? Sind so seine Erfahrungen mit der Kunst nur die Nebenprodukte für etwas anders Geplantes? Vielleicht.

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Variable Bezüglichkeiten Vielleicht sind solche Empfindungen aber auch ein Ergebnis weitgehend andersartig verlaufender Prozesse und Anordnungen. Etwa dann, wenn man das Verhältnis „Betrachter und Kunst“ nicht als die beiden voneinander getrennten Aggregatzustände wie bei einer physikalischen Versuchsanordnung ansieht. Sondern wenn man sie als besondere Erfahrungen betrachtet, die sich vor allem als an sich veränderliche Verhaltensweisen einerseits für den Betrachter und andererseits für die Kunst als besonders gestaltete und ebenso grundsätzlich veränderliche und offene Verlaufsformen der Nähe zu Leben und Wirklichkeit erweisen. Also: Kunst als gestaltete offene Form variabler Bezüglichkeiten. Wenn man also das Verhältnis einer Kunsterfahrung als einen Prozess, ein Erlebnis und als ein Ereignis betrachtet, das sich vor allem diesseits und jenseits homöostatischer, equilibristischer Zustände abspielt. Oder dass es sich dabei um ein Kunstereignis handelt, das zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort stattfindet, und das daher unwiederholbar je einmalig abläuft. Vor allem aber, dass ein solches Kunstereignis sowohl auf der Seite der Betrachtung als auch auf der der Kunst nach vielen Abläufen und Gegebenheiten verläuft, die alle Momentcharakter besitzen. Von einem ausgewogenen Gleichgewicht zwischen diesen beiden Faktoren kann allein schon von daher nur in Ausnahmefällen die Rede sein. Kunst und ihre psychischen Erfahrungen stellen Ereignisse dar, die grundsätzlich ungleichgewichtig, offen, anarchisch, schöpferisch-chaotisch, durcheinanderwirbelnd offen, variabel ablaufen. Es herrscht zwischen beiden ein Zustand prekärer Ambiguität. Diese kommt der Neugier entgegen, der Unabgeschlossenheit, dem Sog des hohen Aufforderungscharakters, dem Reichtum ästhetischer Erfahrung seitens des Kunstbetrachters. Und der Attraktivität, der Ausstrahlung, der komplexen Wahrhaftigkeit auf Seiten der Kunst. Das zwischen beiden Polen bestehende Fließgleichgewicht erweist sich wie der Nährboden für die Funkenschläge, die sich dazwischen entzünden und ihrerseits wieder zu weiteren Energieschüben führen können. Das ähnelt dem Prozess an den folgenreichen Kettenreaktionen bei der Menschwerdung, die Edgar Morin (1973) schon vor Jahren für die Naturgeschichte des Übergangs etwa vom Neandertaler zum modernen Menschen ausgemacht zu haben glaubt. Einerseits werden das Kunstverständnis, das Kunsterlebnis, die Kunstempfindungen, die Beurteilungen und die Deutungen, die Zuneigungen oder Abneigungen als psychoästhetische Erfahrungen angenommen, die sich in erster Linie über Wahrnehmungsprozesse abspielen, von wo aus sie Emotionen, Urteilen und Deutungen zugeführt werden. Bei diesen Wahrnehmungen und Erkenntnissen laufen parallel dazu weitere psychisch-physische Vorgänge ab wie die momentane körperliche Befindlichkeit, Anspannung, Aufmerksamkeitsniveau, Stressfaktoren, neuronale und hormonelle Aktivitäten – so wie klimatische Bedingungen, KälteWärme, natürliche oder künstliche Beleuchtung von Räumen, andere Besucher, Lärm. Es handelt sich dabei außerdem um einen weiteren psychischen Prozess, der als Selbstbezug charakterisiert werden kann, das heißt über die singulären,

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subjektiven und egozentrisch angelegten Beziehungen, die sich zwischen einem Individuum und einem Kunstobjekt unabweislich ergeben. Andererseits gibt es die inhaltlich psychologische Auffassung von Kunst. Die bildende Kunst stellt, in ihrer gelungenen, wirksamen und bedeutsamen Form und ihrem Inhalt, ein Konstrukt, eine Gestalt aus Bezüglichkeiten dar. Kunst, wenn sie bedeutend ist, spiegelt Anteile der Lebenswirklichkeit wider, in der sie entsteht und auf die sie sich bezieht. Kunst ist daher letztlich immer auch lebensnah, das heißt: sie erzählt von anthropologisch relevanten Bezügen, von Problemen und von Inhalten, die die Menschen einer Zeit bestimmen, sie bewegen und formen. „Die Kunst und das Leben zu Gegensätzen zu erklären, halte ich für eine bürgerliche Sentimentalität. Die Wirklichkeit ist zum Wegschauen, die Kunst ist zum Hinschauen.... Die Kunst ist eine Folge des Lebens. Sonst wäre das Leben nicht erträglich“ (Walser, 2007). In der als zeitgenössisch eingestuften Kunst spiegeln sich die Lebensläufe der Menschen, die mit ihr gelebt haben – genau so, wie die Menschheitsentwürfe und die Schicksale anderer Epochen in eben dieser anderen Kunst aufscheinen können. In dieser Art und Weise ist Kunst im wesentlichen auch stets variabel: Sie ist selbstorganisierend, unfestgelegt, singulär, auch spielerisch, zufällig. Kunst ist also im Kern und in ihrer Form so wie das komplexe, reichhaltige und variierende Leben, in dem sie entsteht. (Dergestalt sind auch das happening, die performance und andere events diejenigen heutigen Kunstformen, die einer auf schnelle Wirkung erpichten Zeit zu entsprechen scheinen.) Die Aufnahme, die Empfindung und die Deutung von Kunst stellt nicht so sehr einen Automatismus, einen Lernvorgang oder eine Erfahrung dar, sondern viel eher ein Ereignis. Das heißt, einen einmaligen Vorgang zu einem Zeitpunkt, an einem Ort. Das Ereignis vollzieht sich zwischen der Kunst einerseits und dem Betrachter andererseits, der aus soziologischer Sicht gern als „flexibel“, beweglich, lernfähig, verwandelbar, anpassungsfähig, auch opportunistisch, beschrieben wird (Sennett, 2002.) Und das Ereignis besteht aus einem Einrasten, einem plötzlichen Geschehen, das sich aufgrund unterschiedlicher Reize, Reaktionen, Situationen und anderer Faktoren zu einer spezifischen, einmaligen, zeit- und ortgebundenen Kunsterfahrung verbindet. Kunst als Ereignis Kunst entsteht und spielt sich nicht in einem Jenseits vom menschlichen Leben ab; sie ist ein integraler Bestandteil vom Leben und demnach ein Teil der evolutiven Entwicklung im Verlauf der Naturgeschichte des Menschen. Kunst stellt in der Gegenüberstellung mit einem Betrachter oder irgendeinem anderen Kunstbeteiligten ein ungleichgewichtiges und sich offen selbstorganisierendes Element eines besonderen Ereignisses dar. Einerseits sind daran wirksam die vielschichtigen Ebenen von ästhetischen Wahrnehmungen und den Deutungen von Individuen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort.

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Andererseits gibt es die Kunstwerke mit ihren spezifischen Systemen von Wirkungen und Eigenschaften sowie ihren Bezügen zu Lebenswirklichkeiten. Die Kunsterfahrung dazwischen gestaltet sich als ein Ereignis jeweils different, vielschichtig, abwechslungsreich, zufällig, ungleichgewichtig und offen: insgesamt also variabel. Es wird von dem beteiligten Betrachter als ein besonderer Augenblick, als ein Kunstgenuss, als ein Höhepunkt, eine intensive Emotion, als ein ästhetisches Aha-Erlebnis usw. erfahren und dementsprechend erlebt, eingeordnet, gefühlt und gedeutet. In dem Moment eines solchen Kunstereignisses kann der daran Beteiligte nicht nur Einblicke in eine spezifische Kunst erhalten und er kann nicht nur Bezüge zu sich selbst erstellen. Sondern er kann auch entsprechend intensiviert seine eigene Lebenszeit und seinen Lebensraum erfahren und deutend mitgestalten. Darauf bezieht sich das Konzept des Selbstbezugs. Darin verschmelzen die Verhaltensweisen des Betrachters mit den Eigenschaften und den Wirkungen der Kunst. Ganz so wie bei den begeisterten Besuchern des „Millennium Parks“ in Chicago, die sich fasziniert gegenüber einer Großskulptur von Anish Kapoor, „Cloud Gate“, verhalten, in die sie durch ein vielschichtiges System von mehrfach gekrümmten und quasi unendlich viel reflektierbaren Spiegelungen selber einsteigen und abheben können in andere Dimensionen – auch weg von und zu sich selbst. Eine Begegnung mit so einem genau durchdachten, hochkomplexen, einladend offenen und gleichermaßen lustvollen Kunstwerk bedeutet ein Kunstereignis der besonderen Art. Das Ergebnis kann – wie in diesem Fall real und komplex reflektierte – Ansichten und damit auch Einsichten in Aspekte der eigenen Persönlichkeit des Betrachters eröffnen. Grundannahme dabei ist jedoch, dass sowohl das Verhalten des Betrachters als auch die Kunst selbst nach ungleichgewichtigen variablen Verläufen sich ereignen. Insofern sind beide Pole (Betrachter/Beteiligter – Kunst) so komplex und so unvorhersehbar variabel wie die Lebenswirklichkeit selbst, auf die sich beide beziehen. PSYCHISCH VARIABLE ERFAHRUNGEN VON KUNST Ästhetische Wahrnehmungen über Selbsterhaltung, Selbstveränderung und Rückbezug Kunst bedeutet in der Psychologie nicht so sehr einen ästhetisch definierten Gegenstand als vielmehr einen Prozess der gegenseitigen Aneignung – im allgemeinen durch individuelles Verhalten, Lernen und Handeln und im besonderen durch die variablen Prozesse der Wahrnehmungen, neben denen des Verstehens, des Empfindens und des Deutens. Das Verstehen, Empfinden und Deuten fallen indes in die Bereiche des Denkens, der Neurologie und der Physiologie der Kognitionen. Es sind aber in erster Linie die Wahrnehmungen, die als ein Bindeglied zwischen dem individuellen Verhalten und der Kunst

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stehen und eine wie auch immer geartete gegenseitige Annäherung, das eigentlich psycho-ästhetische Ereignis von Kunst, in die Wege leiten. Das Konzept der Selbstorganisation, in die naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Diskussionen eingebracht, bezieht sich auf Systeme, deren Dynamik sich aus eigengesetzlichen sowie kommunikativen und interaktiven Eigenschaften konstituieren. Vor allem die ästhetischen Wahrnehmungen fallen darunter (Schurian, 1986, 1992.) Ihre Eigenschaften und ihre Funktionsweisen setzen sich in der Hauptsache aus drei Komponenten zusammen: Selbsterhaltung, Selbstveränderung und Rückbezug. Bei diesen genannten basalen Prozessen der Kunsterfahrung fällt bereits eine ihrer immanenten Eigenschaften auf: die Breite der Variation. Wenn mit einem Mittelwert in diesem Fall der Kunsterfahrungen die Homöostase bezeichnet werden kann – das Gleichgewicht, die Austariertheit, die Zentrierung, die Ausgewogenheit, die Ordnung usw. –, dann bezieht sich die Varianz auf die unterschiedlichen Grade der Abweichungen vom Gleichgewicht. Wenn allerdings in der Statistik damit eine mögliche Fehlerquote, eine Unschärferelation angegeben wird, meint die Varianz in der Erfahrung von Kunst den dazugehörigen, grundsätzlichen Spielraum, den Freiheitsgrad, in dem sie sich ereignet. Da Kunst wie deren Aufnahme nur unter variablen, komplexen, nicht festgelegten, weitgehend unvorhersehbaren, auch zufälligen Bedingungen sowohl entsteht als auch erfahren wird, ist die Variation deren wesentliche Voraussetzung und ihr Hauptmerkmal. Selbsterhaltung Bezüglich eines Kunstwerks kennzeichnet Selbsterhaltung die Tatsache, dass es eine eigene Gestalt bildet. Picasso äußert dazu sinngemäß: wenn eine Form einmal geschaffen ist, dann sei sie da und führe fortan ihr eigenes Leben (1957). Alle Gegebenheiten und alle Voraussetzungen dafür sind im Objekt selbst enthalten. Dies bezieht sich auf einer unmittelbaren Ebene auf die Gegebenheiten, wie den Aufbau, eines Objekts: chemische Zusammensetzungen einer Farbe, physikalische Gesetze einer Skulptur, einer Tonfolge, so wie physiologische Reaktionen im Betrachter, beim Zuhörer, beim Hörer, beim Leser usw. Ebenso: Schriftbild, Typus, Assoziationen eines Textes und andere basale Grundlagen im Prozess der ästhetischen Wahrnehmungen. Diese materialen Grundlagen stellen die eine Ebene von Selbsterhaltung dar. Im Zusammenhang mit den anderen Aspekten eines Kunstwerks führen sie in Zeit und Raum eine eigene Existenz, d. h. sie sind losgelöst von der Person des Künstlers und des Betrachters, sie schaffen sich eigene Bedingungen und üben selbst Wirkungen aus. Sie existieren folglich nicht nur im „Auge des Betrachters“, sondern für sich selbst. Sie altern, sie reifen oder sie vergehen in der Zeit; oder sie verändern sich zu neuen Gestalten wie etwa die Plastik des Merkur von Giovanni Bologna (1529–1608), die zu einer Erkennungsmarke eines Blumenversands mutiert. Was die Gebrüder Grimm (1959) über das Märchen in ihrer Vorrede zu

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ihren Kinder- und Hausmärchen anmerken: „Darin bewährt sich jede echte Poesie, dass sie niemals ohne Beziehung auf das Leben sein kann, denn sie ist aus ihm aufgestiegen und kehrt zu ihm zurück“, gilt für alles Ästhetische, alle Kunst. Zu unterscheiden sind die ästhetischen Wahrnehmungen einerseits und der Charakter der Kunst andererseits; für beide gilt vor allem das Prinzip der Bezüglichkeit. Sowohl die ästhetischen Wahrnehmungen als auch die Kunst gründen vorwiegend auf dem Prinzip der Bezüglichkeit. Sie bewegen sich nicht im ideellen Raum, in der abgehobenen Sphärik, sondern sie sind lebensnah, evolutiv different; als solche sind sie bedeutsam für das Individuum. Da die individuellen Wahrnehmungen dem persönlichem Verhalten nützlich sind, so unter dem Gesichtspunkt einer evolutiven Psychologie, dienen sie auch der Kunst. Demnach ist die Kunst nicht nur ein Produkt der spezifischen Auslesekriterien, denen auch der Mensch als Lebewesen ausgesetzt ist. Wenn die Kunst bedeutsam sein will, enthält sie vielmehr Anteile des Lebens. Sie begleitet und spiegelt das Schicksal des Menschen in den unterschiedlichen Zeiten mit ihren eigenen unterschiedlichen Formen und Aussagen. Kunst als Teil der konkret sich herausgebildeten Menschheit bezieht sich jeweilig, d. h. zeitgenössisch, selbsterhaltend auf das Leben der jeweiligen Menschen zu bestimmter Zeit, an bestimmtem Ort. Selbstveränderung Der zweite Aspekt der Selbstorganisation, die Selbstveränderung, betont die Bewegungen, die Entwicklung und die Geschichtlichkeit des Ästhetischen. In ihm ist angedeutet, dass das Ästhetische einen Prozess darstellt. Zustand dagegen bedeutet einen Punkt auf einer Zeitachse, bei dem ein Prozess zu einem Stillstand gelangt ist. Kennzeichnet der Prozess ein Werden, so meint der Zustand demgegenüber das Sein. Prozess ist Bewegung ohne eigentliches Ende. Das Ästhetische als ein System stellt ein Gebilde aus Eigenschaften dar, welches sich selbst dahingehend zu organisieren vermag, dass weiterführende Impulse von ihm ausgehen können. Das ästhetische Objekt ist in der Lage, sich selbst im Raum und in der Zeit zu verändern, andere Gestalt anzunehmen und andere Eindrücke zu hinterlassen. Mit Selbstveränderung ist noch ein weiteres Moment angesprochen. Das ästhetische Objekt und die Anschauung können sich quantitativ als auch qualitativ in der Zeit verändern, wie etwa von Adorno über Richard Wagner postuliert (1978). Sie setzen beispielsweise unterschiedliche Patina an. Sie können veralten, sie können sich selbst verjüngen, sie erscheinen zu unterschiedlichen Zeiten in einem jeweils anderen Licht. Mal vermitteln sie den Anschein des Mehr: in ihrem ganzen Glanz, ihrer Aura, all ihren Eigenschaften, auch ihren Legenden und Zuschreibungen, welche sich bereits um ein Objekt herum gebildet haben können, mit allen Anschauungen und Einbildungen, welche die Betrachter hinzugegeben haben. Es können Kunstwerke aber auch schrumpfen in ihrer einstigen Bedeutung; dann fallen sie aus ihrer Form und aus ihrer Zeit heraus.

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Dies bezieht sich auf die quantitativen und auch auf die qualitativen Veränderungen. Es kommt etwas hinzu oder es fällt etwas fort. So kann es auch geschehen, dass zu Zeiten ein Kunstwerk in seiner eigentlichen Struktur aufscheint; alles Überflüssige ist von ihm abgefallen, alle Verzierungen sind abgeblättert, nur sein Kern ist erhalten. Hier vermittelt sich der Anschein des Weniger, der geringeren Substanz, des Minimalen. In diesem Falle handelt es sich um eine quantitative Verkürzung, eine Verminderung des Objekts, eine Rückführung auf seine tragenden Strukturen. Dies geschieht nicht selten mit Objekten, die in Museen landen. Dort erhält sich ihre Idee, ihr Gedanke, das Eigentliche; alles Zeitliche, alles Geschichtliche ist abgefallen, das Objekt erscheint aufgehoben in einer zeitlosen Substanz. Das Ästhetische ist als ein selbstverändernder Vorgang nicht ein Zustand, der einmal hergestellt ist und dann zu wirken beginnt. Es ist ein Vorgang, der pulsierend sich unterschiedlich in der Zeit darbietet. Wie andere evolutionäre Prozesse beinhaltet auch das Ästhetische stets selbstverändernde Inhalte und Formen. Das Ästhetische enthüllt sich in den Eigenschaften der Selbsterhaltung und der Selbstveränderung, es ist demnach kein abgesonderter Teil von der übrigen Evolution, sondern ein integraler Bestandteil aller Entwicklungen des Lebendigen. So kann es geschehen, dass das Ästhetische mal über-, mal unterschätzt wird. Es können einem Objekt alle nur erdenklichen guten Eigenschaften zugeschrieben – oder aber auch abgesprochen werden. Rückbezug Als eine zusätzliche Eigenschaft, neben der Selbsterhaltung und der Selbstveränderung, kommt dem Ästhetischen der Rückbezug, die „Re-ligio“ (Jantsch, 1979) zu. Diese ist zunächst einmal zeitlich zu verstehen. Wenn ein System mit seiner Entwicklung in der Gegenwart nicht mehr zu Rande kommt, so kann es in die Geschichte der eigenen Entwicklung zeitlich zurückgehen bis zu jenen Punkten, an denen bereits einmal Entscheidungen anstanden und stattgefunden haben. An solchen Kreuzpunkten des Weges können dann andere Richtungen neu eingeschlagen werden. Hier besteht die Möglichkeit, Entwicklungen des eingeschlagenen Weges rückgängig zu machen und andere Alternativen zu suchen. Rückbezug meint das systemimmanente Aufsuchen derjenigen Punkte, wo Entscheidungen anstehen und abgeändert werden können. Es beinhaltet das Vorhandensein geschichtlichen Potentials, welches in Zweifelsfällen, in den Momenten der Entscheidungen, aufgespürt und nutzbar gemacht werden kann. Rückbezug bezeichnet nicht das psychologisch verstandene Zurückgehen (Regression) auf frühere Stufen der Entwicklung, da der zeitliche Augenblick zu komplex erscheint, um bewältigt zu werden. Rückbezug im Zusammenhang des Ästhetischen deutet auf ein eigentlich fortschrittliches Moment der Geschichtlichkeit. In Wirklichkeit meint daher auch Rückbezug in diesem Zusammenhang

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ein mehrschichtiges Abtasten aller vorhandenen Möglichkeiten und ein Aussondieren aller möglichen variabel bezüglichen Gegebenheiten. Rückbezug meint im ästhetischen Bereich die grundsätzliche Offenheit des Systems, sich nach allen Seiten hin auszubreiten, zu wirken, als auch sich durch alle Seiten zu informieren, selbst durch die der eigenen Vergangenheit. Es ist die Energiequelle, der Punkt der Emanation des Systems, über Zeit und Raum zu verfügen. Rückbezug ist davon die eine Möglichkeit, die bisher durchlaufene Entwicklung zu begreifen und handzuhaben als eine Veränderung aus sich selbst heraus in die Richtung auf einen veränderten Zustand in der Zukunft. Gleichzeitige Vielschichtigkeit Die Wirkungen und die Prozessen der Selbsterhaltung, Selbstveränderung und des Rückbezugs beruhen auf den Wahrnehmungen des Ästhetischen vor allem nach den Kriterien der Vielschichtigkeit, der Aufmerksamkeit und der Offenheit (Schurian, 1986, 1992) Die Tätigkeiten des psychischen Apparats beruhen weiterhin auf solchen Prinzipien wie Resonanz (Übereinstimmung), Selektion (Auswahl), Scanning (Absuchen, Abtasten) und Verlangen. Alle diese Eigenschaften und Tätigkeiten laufen grundsätzlich nach den offenen, ungleichgewichtigen, selbstorganisierenden Gegebenheiten ab. Sie gestalten sich im Verlauf eines Prozesses jeweilig neu. Das Ziel, der Endzustand ergibt sich vor allem durch den Verlauf selber. Auf ganz unterschiedlichen Ebenen der Wahrnehmungen vollziehen sich diejenigen Reaktionen und Empfindungen, die die Komplexität und die Varianz der ästhetischen Erfahrung gewährleisten. An Ebenen der Wahrnehmungen sind dabei zu unterscheiden: 1. Allgemeine physisch-physiologische und chemische Vorgänge und Reaktionen, die in ihren Grundmustern und -abläufen sowohl für alle Lebewesen gleich, als auch für deren Umwelten gleichartig verlaufen: Dissipative Strukturierungen – Herstellung eines räumlich-körperlichen Bezugs zur Innen- und zur Außenwelt, elektromagnetische Schwingungsprozesse, allgemeine Orientierung und Ausrichtung. Organelle und zelluläre Abläufe – zellgebundene Energieabläufe, unspezifische Empfindungen, Farbreaktionen, Sympathie-Antipathie-Bekundungen. 2. Besondere, anthropologische Struktur- und Funktionsverläufe, die auch für höhere Säugetierarten ähnlich ablaufen; vor allem jedoch spezifisch sind für menschliches Verhalten, Erkennen und Empfinden: Organismische Reaktionen – grundlegende emotionale und soziale Einstellungen und Reaktionen. Reflexives Verhalten – Instinktive und erworbene automatische Prozesse, Gefühle, Lernvorgänge, Änderungsverhalten. 3. Individuelles Verhalten und Handeln: selbst-reflexive und evolutiv-symbolische Prozesse: Einsicht eines Einzelnen in eigenes Verhalten, Bildung eines Selbstkonzepts, Erkennen von ethisch-ästhetische Prinzipien; Gestalten und Verändern von Selbst und Umwelt; soziale und globale Perspektivik.

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Während die „unteren“ Ebenen eher festgelegt, automatisiert und starr, d.h. nach vorgegebenen Mustern programmiert ablaufen, da diese im Lauf der evolutiven Entwicklung nach und nach erworben worden sind und sich als nutzbar erwiesen haben, ändert sich das auf den „höheren“ Ebenen nach und nach. Im mittleren Bereich der Struktur- und Funktionsverläufe sind bereits typisch menschliche Aktionen und Reaktionen gegeben, der Spielraum des Verhaltens und Handelns ist weiter ausgedehnt und flexibel gestaltet. Dennoch verläuft das Verhalten noch weitgehend in den Bahnen vorgegebener und erworbener biologischer Verhaltensmuster. Erst auf der oberen Ebene kann es dann zu typischen, spezifischen, neuartigen; auch zu ungleichgewichtigen Varianten und unvorhergesehenen sowie zu individuell bedingten psychischen Verhaltensweisen kommen. Im Bezug auf die Wahrnehmungen von Kunst heißt das, dass diese sowohl nach programmierter Regelmäßigkeit, großer Engführung und automatisierten Mustern verlaufen: So sind etwa die Wirkungen von Primärfarben gleich für alle Menschen, räumliche Parameter werden gleichartig gesehen und optische Täuschungen sind zwingende visuelle Einflüsse. Erst mit dem mittleren Verhalten kann der Kreis der Kunstwahrnehmungen ausgeweitet, geöffnet und vertieft werden. Hier spielen individuelle Lernprozesse, Übungen, Wiederholungen eine Rolle, so wie diese dem Einfluss von Kognitionen und Emotionen unterworfen sind. Auf den höheren Ebenen herrscht sodann erst ein richtiges, variables Prinzip des ungleichgewichtigen Ungeplanten, Unvorhergesehen, Ungleichgewichtigen vor. Hier gestaltet jeder Einzelne praktisch selbst seine ihm gemäße eigene Kunst, indem er Gesehenes weitersieht, Wahrgenommenes fortspinnt, Assoziiertes variiert oder verfestigt, Zufälliges ausbaut – oder aber verwirft, usw. Dem besagten Besucher der Documenta dienen die ihm vorgesetzten Kunstwerke, Performanzen und Diskursreigen nicht nur als ein Lernerlebnis, eine Neuentdeckung und ein Anlass für einen Kunstgenuss, sondern darüber hinaus vor allem als ein Angebot, von dort aus sich selbst einen Parcours, einen Leitfaden für seine eigene, subjektiv bestimmte mentale Sammlung von bedeutsamer Kunst der Gegenwart, also seiner individuell geprägten Lebenszeit, zusammenzustellen, diesen zu verfolgen und diesen auch den gegebenen Anforderungen nach zu variieren. Der Besucher bezieht also sich selbst, seine Person und Persönlichkeit, seine momentane Befindlichkeit, die Zufälle, Ereignisse und Situationen während dieses Besuchs auf die ihm angebotene Kunst; und diese Kunst bringt er mit seinen Bedürfnissen, Wünschen, Verlangen in eine Verbindung. Jede Erfahrung mit Kunst stellt zudem auch noch einen psychischen Selbstbezug her. Und ein solcher Selbstbezug ist vorstellbar als ein Zustand und ein Ereignis, das sich jenseits von Gleichgewicht abzeichnet. Viele Parameter sind daran beteiligt; es meint eine stete subjektiv verursachte und eingefärbte Herausforderung, ein inneres Anliegen mit offenem Ausgang. Jedes Kunstereignis wird personifiziert und damit zu einem einzigartigen, einem persönlichen.

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Selbstbezug Selbstbezug trägt einem erweitert gehaltenen Begriff der Selbstkongruenz (Rowold, 2001; Schurian, 2004, 2007) Rechnung. Diese findet ihren Platz und ihre Funktion in einem „allgemein-psychologisch“ aufgefassten methodologischen Rahmen; in einem solchen ist sie tendenziell und empirisch erkundet worden z.B. als Selbstbild, Selbstkonzept. Um das angedeutete breite Umfeld allerdings zu erfassen, um die subjektive Bezugnahme des Ästhetischen zu skizzieren und um die dabei sich abzeichnenden komplexen, differenten und variablen Wirkungsgefüge zu erkennen, die dabei wahrscheinlich mit im Spiel sind, scheint es notwendig zu sein, andere Aspekte mit einzubeziehen und zudem außerpsychologische Kriterien dabei mit zu berücksichtigen. Selbstbezug verweist auf einen mehrschichtigen Vorgang; es beinhaltet ein aktives und ein passives Element: ich beziehe ein Kunstwerk auf mich – im Sinne von: ich ziehe ein Kunstwerk auf mich hin, oder: ich werde von einem Kunstwerk hingezogen – ich gehe auf ein Kunstwerk zu und ich lasse mich auf ein Kunstwerk ein. Wichtig dabei ist der Sachverhalt, dass es auch von Seiten des Kunstwerks selbst aktive emergente, emanative und selbstorganisierende Kräfte gibt, die einen solchen Bezug erst in Gang setzen, ermöglichen oder verstärken. Ein Bild stellt dabei etwa ein System dar (Schurian, 1976), das, neben den kunstpsychologisch bereits ausgiebig untersuchten Dynamiken und Gesetzmäßigkeiten des Inhalts, des Formalen und des Wahrnehmens, noch über zusätzliche unterschiedliche Energie- und Kraftfelder verfügt, die einen solchen aktiven Austausch gewährleisten. Die Begegnung mit einem Kunstwerk stellt einen gesamt-organismischen Vorgang dar. Wenn ein Bild betrachtet wird, ist daran nicht nur das Auge, das Gefühl und das Denken beteiligt, sondern mehr und weniger der ganze Körper mit all seinen Funktionen und Aktivitäten. Wenn Musik gehört wird, sind damit nicht nur die Ohren und das Hörzentrum im Kortex beschäftigt, sondern vielmehr der ganze Körper. Von den Schwingungsmustern der Erregungen auf der Haut, bis zu den aktivierten Impulsen in den Zellen, des Skelettsystems, der viszeralen Organe sowie an vielen Stellen des Körpers wird zumindest schon auf die Schallwellen reagiert, wenngleich nur zum geringsten Teil aufmerksam, gerichtet oder bewusst (Schurian, 1986). Ein solcher gesamt-organismischer Vorgang in Reaktion auf ein Kunstwerk spielt auch auf Seiten des Künstlers eine spiegelbildlich gleichartige Rolle. Indem der Künstler körperlich und organismisch daran beteiligt ist, ein Kunstwerk zu schaffen, lernt er bei diesem Vorgang ebenfalls mehr und mehr von und über sich selbst. Ob der dies nun absichtsvoll, zielgerichtet, planmäßig, vorbereitet, geordnet betreibt oder aber nebenbei, zufällig, spontan, planlos – oder nicht. Oder aber, auch das ist möglich, wenn dieses Verhalten und Handeln aus Langeweile, Abneigung, Müdigkeit, Stress und Frustration und anderen sonstigen zusätzlichen Kriterien ausgeführt wird. Immer steht die Persönlichkeit der künstlerischen Arbeit zur Seite. Wie der Maler und Bildhauer Jeff Koons meint, gebe die Kunst

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ihm einen Begriff von sich selbst. Dessen Kern sei immer derselbe: Lerne, dir selbst zu vertrauen. Wenn dem so ist, dann ergibt sich daraus, dass bei einem so komplexen und vor allem variablen Vorgang wie es der ästhetische Selbstbezug darstellt, der ganze Körper, die ganze Person, in unterschiedlicher Intensität involviert ist: beim Künstler wie beim Kunstbetrachter. Folgende Schwerpunkte und Aspekte an grundlegenden Verhaltensweisen auf der Seite des Betrachters und an Eigenschaften auf der Seite des Kunstwerks lassen sich dabei in Andeutungen markieren: Organismische Reaktionen, Wahrnehmungsvorgänge, Identifikation, Kognition und Deutung, Wunsch und Verlangen, narrative Bildlichkeit. Organismische Reaktionen Bei einer Bildbetrachtung beispielsweise, die sich nicht im Ideellen, sondern in der Wirklichkeit, etwa in einem konkreten Raum eines Museums abspielt, sind es zunächst die sich dabei abzeichnenden realen topografischen Orte, die einen physikalisch vorgegebenen Standpunkt für einen Betrachter ausmachen. Dessen Körper, dessen gesamter Organismus ist dabei räumlich-zeitlich vor ein Bild positioniert. Dieser Organismus funktioniert in diesem Augenblick nach den jeweiligen inneren, örtlichen und zeitlichen Vorgaben (Tages-, Jahreszeit, Klima, Lichtverhältnisse, Erregungszustand, Aufmerksamkeit usw.), die sich auf das Bild ausrichten. Der darauf einsetzende Vorgang unterschiedlicher organismischer Reaktionen und Empfindungen gründet auf diesen körperlichen Befindlichkeiten. Dabei kann es zu ganz spontanen dissipativen und zellulären Reaktionen wie Neugier, Ablehnung oder Akzeptanz kommen, die alle weiteren Reaktionen des Selbstbezugs suchen, nachspüren, vor-beurteilen, filtern, auswählen, beeinflussen und gewichten. Auch die formalen Merkmale des Bilds wie Format, Formen, Linien, Flächen, Hell-Dunkel, Farben, Oberfläche werden hier vorab grob ausgesondert und vorläufig aufgenommen – oder aber sie werden verworfen. Diese organismischen Reaktionen bilden den Boden, auf dem sich alle nachfolgenden psychischen Verhaltensweisen anordnen und vorsortiert werden können. Hier setzt sich der – in der Forschung meistens nur abstrakt bezeichnete und genommene – Betrachter als ein konkretes Individuum, eine wirkliche Person mit seinem ganzen Körper, seinen momentanen Empfindungen, Gefühlen, Wissen, Stimmungen, körperlichen Befindlichkeiten und seinem Wünschen und Verlangen dem Bild aus. Wahrnehmungen Ausgehend von einem solchen realen, körperlich konkreten und räumlichen Ausgesetztsein ergeben sich anschließend die unterschiedlichen sinnlichen Wahrnehmungen. Diese verlaufen in denjenigen Bahnen, die ihnen die Kunstpsychologie in den mehr als hundertfünfzig Jahren ihrer Erforschungen zuge-

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wiesen hat. Dabei sind es insbesondere die erwähnten formalen, visuellen Elemente eines Bildes (Bildmitte, Schwerpunkt, Linien, Flächen, Farben), die etwa von der Psychophysik (Präferenzen von bestimmten Bildwerken), über die Gestaltpsychologie (mit ihren grundlegenden „Gesetzen des Sehens“), Arnheim (Sehen und Verstehen), Gibson (Wahrnehmungen in realen Räumlichkeiten) bis zu den neuen Untersuchungen von Kognitionspsychologen (W. Prinz) und anderen ausgemacht werden konnten. Zukünftig werden die neuen bildgebenden Verfahren es zudem vielleicht noch besser ermöglichen, die neuronalen Zusammenhänge, die sich dabei abspielen, näher erkennen zu können. Es ist wahrscheinlich, dass dann erneut wiederum über den ungelösten intrikaten Zusammenhang zwischen den materiell körperlichen Vorgängen und den geistig ästhetischen spekuliert wird, so wie es heute wieder vermehrt unternommen wird (wie z.B. in der Philosophie Daniel C. Dennetts, 1999). Dann wird vielleicht auf die Frage nach dem psychischen Bezug und der ästhetischen Wertigkeit zwischen einem Individuum und der Kunst erst richtig – oder anders – eingegangen werden können. Identifikation In diesem an Bedeutungszuweisungen wertend aufsteigenden Vorgang der Anverwandlung an ein Kunstwerk nehmen auch die von der Psychoanalyse untersuchten Mechanismen der Sublimierung, der Projektion und der Introjektion einen festen Platz ein. Vor allem ist es aber hier der Mechanismus der „Identifikation“, mit der die Psychoanalyse einen wichtigen Beitrag geliefert hat, der erklären kann, wie es überhaupt psychologisch zu einer Aneignung und Anverwandlung des Anderen im Individuum kommen kann. Dabei wird ein Verhältnis hergestellt, das in der Form vorher so noch nicht existiert hat; es kommt praktisch zu einer Verbindung von etwas eigentlich Unvereinbarem, woraus sodann etwas vorher bis dato Nichtvorhandenes, eben ein Anderes, sich ergibt. Damit, so wie mit dem Begriff der Introjektion, der Einverleibung, der Aneignung, der Verinnerlichung, kann die Psychologie plausibel darlegen, wie und warum es zu einer engen und bedeutsamen Beziehung zwischen einem Kunstwerk und einer Person kommt. Diese Beziehung stellt eine hoch komplexe interaktive Verbindung her zwischen einerseits unterschiedlichen psychischen Bestrebungen, Empfindungen und Verhaltensweisen und andererseits den objektiven, gegenständlichen, materialen und physikalisch bestimmbaren Gegebenheiten sowie den ästhetischen Inhalten und Kriterien eines Kunstwerks. Beide Instanzen sind eigentlich, d.h. ihrer Natur nach, und wie eingangs erwähnt, unvereinbar. In dem Akt des Selbstbezugs bewegen sie sich indessen aufeinander zu – und werden unter Umständen dadurch erst zu einem Ereignis von Kunst.

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Kognition, Deutung Mit Kognition ist das Verhalten angesprochen, das sich mit Verstehen, Urteilen, Deuten und Problemlösen beschäftigt. Ein Bildwerk der Kunst wird demnach vom Individuum zuerst einmal abgetastet (gescannt), um dessen Zusammenhänge mit anderen Bildern in der Vergangenheit zu klären. Es wird sodann abgeglichen mit den bereits verfügbaren Daten, die sich auf etwas Ähnliches beziehen. Auch tragen dabei andere Erfahrungen dazu bei, das Bild einzuordnen in die übrigen Verhaltensanteile. Auch soziale Erfahrungen fügen sich dem an, das Bild in einen kulturellen Kontext zu stellen, der zum besseren Erkennen und Verstehen beitragen kann. Ein Vorgang, der bei der Wahrnehmungspsychologie in letzter Zeit in den Mittelpunkt des Interesses gerückt und der das Feld der Kognition ausweitend überschreitet, ist der Prozess der Deutung. Damit ist es möglich, einen physikalisch und ästhetisch bestimmbaren Gegenstand, der beispielsweise ein künstlerisches Bild ja immer auch ist, zu einem psychisch relevanten umzuformen. Wenn nämlich im Vorgang des Selbstbezugs ein Bild eine künstlerische Bedeutung gewinnen soll, ausgewählt wird, interessant erscheint, mit dem man sich näher beschäftigen will, dann liegt dies an einer individuell vorgenommenen Deutung, die ein „Stück Leinwand, mit Farben und Formen überzogen, in einem Rahmen“ erst zu einem ästhetisch relevanten Gegenstand, zu einem Bild umdeuten kann. Das heißt: ein Objekt wird zu einem Kunstwerk. Diese Art von Verleihung von Bedeutung über die wahrnehmungsmäßige Deutung stellt den wichtigen Übergang von den materialen, physischen, physiologischen und anderen Anteilen zu einem psychisch erfahrbar neuartigen Kunstereignis dar. Das ist es, das etwa eine farblich und strukturell bearbeitete zweidimensionale Fläche – wie die eines Tafelbilds – erst zu dem macht, was sodann als ein Kunstwerk gedeutet und als ein solches verstanden, beurteilt und geschätzt wird – oder auch nicht. Wunsch, Verlangen Jedes künstlerisch einzuordnende Bild trägt in sich einen Kern jener Substanz, die es erst zu Kunst macht, die aber, wenn überhaupt, nur schwer wissenschaftlich festzumachen ist. Sie bezieht sich wahrscheinlich auf jenes menschliche Verhalten, das im Bereich des Verlangens und des Wunsches anzusiedeln ist. Die „Suche nach dem Andern“ (Schurian, 1986) ist ein solcher Anteil, der sich darauf beziehen lässt. In Kunst zeigt sich etwas von deren Ziel. Kunst spiegelt jene Horizonte wider, die sich jenseits des bloßen Verhaltens und Handelns abzeichnen. Diese sind als das Erhabene, das Sublime, das Naturschöne, das a priori Wesen an sich bezeichnet worden. Nicht selten wird daher der Ursprung der Kunst in überirdische Gefilde ausgelagert. Höchst irdisch bezieht es sich aber auf so handfeste Verhaltensweisen wie die Sehnsucht, bei der man nicht genau weiß, was sie ist und worauf sie sich richtet.

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Auch das unstillbare Verlangen nach dem Schönen in der Kunst (ihre Akademien nannten und verstanden sich ja einmal als die der „Schönen Künste“), das nur schwer empirisch zu fassen ist, deutet darauf hin. Schließlich ist das nie zu sättigende Verlangen nach dem Anderen, den erahnten, den fehlenden, den zusätzlichen Anreizen, die etwa einen Betrachter dazu bringen, immer wieder in einem Museum sich bestimmte Bilder anzuschauen, ein Hinweis auf etwas, das anscheinend nur die Kunst befriedigen kann. Und das einen wichtigen Teil des sowohl evolutiv historischen als des individuellen Verhaltens ausmacht, welcher in den unterschiedlichsten Bereichen außerhalb der Kunst anscheinend nicht – oder nur vermindert – erlangt werden kann. Narrative Bildlichkeit Schließlich umfasst der Selbstbezug noch dasjenige, das sich in Anlehnung an die Sprachpsychologie und die Literaturwissenschaft auf die vielschichtigen Deutungsmuster von Texten anwenden lässt. Dort ist ja die Rede von der Intertextualität, den Subtexten, den Lineartexten usw. Was hier eine Wissenschaft der Semantik des Wortes ist, ist im Bereich der bildenden Kunst eine Art von Semantik des Bildlichen. Es ist zu beziehen auf die Atome eines Bildes, die kleinsten materialen und auch inhaltlichen Bestandteile, so wie es mittlerweile durch eine datenunterstützte Analyse einzelner Bildanteile, der Pixel und ähnlich kleiner Teile, möglich ist. Ob dieser Weg indes tatsächlich einmal Erfolge erzielen wird, steht allerdings noch dahin; auch die Zentrierung auf die vielen Textqualitäten in den Literaturwissenschaften befindet sich ja mittlerweile wieder in einem Zustand der Ernüchterung. Dennoch wird in der Kunstpsychologie darüber weiter zu befinden sein, was etwa das Wesen eines Bildes im Zusammenhang mit dem anscheinend unstillbaren Bedürfnis danach denn eigentlich sei. Das wird einhergehen mit den weiteren unumgänglichen, auch experimentellen Versuchen der empirischen Erkundungen nach den Mechanismen der Bild-Erkennung und der Bild-Deutung. Der Maler Neo Rauch meint zu einem solchen „Erzählen“ in seiner Malerei: „Mich interessieren Sachen in übergreifenden Zusammenhängen, was Kontinuität hat, im Guten wie im Bösen. Das versuche ich allerdings in eine Form zu bringen, die dem Schrecken nicht wehrlos gegenübersteht, sondern ihn auffängt und einhegt durch abgezirkelte, austarierte Kompositionen, durch all das, was ein Bild zu einem guten Bild macht und uns einen Halt gibt (...) Malerei ist eine herrschaftliche Geste. Ich versuche, die Herrschaft zu erlangen über die unbeherrschbaren Dinge dieser Welt.“ (2007) Wichtig ist in diesem Zusammenhang allerdings auch, dass es sich bei der Bildlichkeit um eine narrative, um eine erzählende, berichtende handelt, nicht nur um eine abbildende, bezeichnende, imaginative, bloß vorgestellte. In diesem Fall verfügt das Kunstbild neben anderem vor allem über einen Inhalt, der einmal von sich selbst berichtet, von sich selbst erzählt. Und zum andern erzählt das Bild von dem Betrachter, oder es veranlasst den Betrachter, sich zu öffnen und von sich

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selbst zu berichten. Damit erst ergibt sich ein semantischer und kognitiver Austausch, eine wirkungsvolle Beziehung zwischen zwei Instanzen. WIRKUNGEN UND EIGENSCHAFTEN VON KUNST Kunst, die man grob in Personenkunst, Raumkunst, Klangkunst, Bildkunst, Wortund Medienkunst einteilen kann (Schurian, 1992), handelt, so man sie psychologisch betrachtet, von einer jeweiligen Verfügbarkeit. Über Kunst, die man nicht sieht, hört, liest, riecht und fühlt, über Kunst, die nicht öffentlich zugänglich ist, kann man nicht argumentieren. Kunst muss sich zeigen, muss ausgestellt sein. Damit ist man schon bei einer der Wirkungen von Kunst, dass sie nämlich den Charakter eines Displays annimmt. Des Weiteren muss Kunst attraktiv sein, sie muss im wörtlichen und übertragenen Sinn anziehend, die Aufmerksamkeit auf sich leitend, wirken. Sei es durch Schönheit oder durch Hässlichkeit, durch Harmonie oder durch Unordnung. Dergestalt begibt sich Kunst in die Öffentlichkeit, nimmt dort ihre von einem Künstler verliehene Gestalt an und öffentlich wahr. Kunst verkörpert sich jeweilig so in der Gegenwart (Selbstpräsentation), dass sie als identisch mit sich selbst wahrgenommen werden kann. In dieser Hinsicht ist bedeutsame Kunst stets zeitgenössisch: Sie nimmt die Strömungen ihrer Zeit in sich auf und formt sie um zu etwas, das die Zeit überdauern kann. Und schließlich erneuert sich Kunst je aus sich selbst (Emanation). Sie verströmt unaufhörlich von den spezifischen Inhalten und Formen, die in sie vom Künstler als ästhetische Substanz eingearbeitet worden sind. An diesem Punkt treten die Eigenschaften von Kunst zutage. Eher äußerlicher Art sind solche Eigenschaften wie Information: das, wörtlich: In-eine-Formbringen von Inhalten. Einem solchen formalen Prinzip entspricht auch das der Spannung. Kunst bewegt eine Erregung beim Betrachter, eine psychische Anspannung; der Kunstgenuss lässt sich als ein jeweiliges Einherpendeln zwischen Anspannung und Entspannung verstehen (Berlyne, 1974) Die Eigenschaften Neuartigkeit und Schönheit stellen äußerlich identifizierbare Kriterien dar, die bei der Betrachtung als erstes ins Auge springen, die anziehend wirken und zum Wahrnehmen und Deuten (ver)führen. Die Eigenschaften der Wahrhaftigkeit und der Ernsthaftigkeit sind dagegen schwerer auszumachen, da sie tiefer im Kunstwerk verankert zu sein scheinen und nicht ohne weiteres oberflächlich wahrgenommen werden. Sie berichten aber dem Betrachter von dem ehrlichen, wahrhaftigen, aufrichtigen Bemühen des Künstlers um irgendeine Art von Wahrheit, die er in seine Kunst eingearbeitet hat. Zumeist ist diese Wahrhaftigkeit mit dem Schicksal des Menschen verbunden (Coetze, 2006) Es ist also eine anthropologische Konstante der Kunst, dass sie in erster Linie (nicht auf den ersten Blick jedoch) sich mit den Grundfragen des Menschen in der Zeit beschäftigt. In dieser Hinsicht erscheint die Kunst kompromisslos, d.h. ernsthaft und wahr – also nicht oberflächlich, zufällig und unecht –, um ihre Gestaltung und ihre Ausstrahlung und Wirkung bemüht.

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Hinzukommen die Grundeigenschaften von Kunst wie Komplexität, Energie und Varietät. Bereits diese Begriffe implizieren diejenigen Vorgänge, die auf wechselseitigen Umsatz und auf mehrfache Wirksamkeit beruhen. Mit Varietät – als Teil der Varianz – ist darüber hinaus eine zentrale Eigenschaft von Kunst allgemein angesprochen, die die Abwechslung, die Differenz, das Changieren zum Prinzip haben. Bilder etwa als „Systeme von Entwicklung“ (Schurian, 1976) stellen Komplexe dar, die sich gemäß der zeitlichen und räumlichen Bedingungen, in der sie existieren, ihre Gestalten und Gehalte ändern können. Kunst als etwas zeitgenössisch Bedeutsames, das Zeiten überdauern und anderen Zeiten neu berichten kann, enthält von der Energie, die in sie hineingearbeitet worden ist und die im Lauf der Zeiten wieder aus ihr entströmt (Emanation.) One way or another – So oder so Skulpturen von Tony Cragg (Abbildungen siehe Anhang) Wenn große, wuchtig formalbetonte Skulpturen von Titeln wie „One way or another“ (in etwa: „So oder so“) oder „Line of thought“ (in etwa: „Gedankenlinie“) begleitet werden, dann soll es sich vielleicht, vom Künstler aus, um etwas Besonderes handeln. Den Betrachter berührt zudem das subtil Immaterielle, Psychische, Geistige sowie das physisch Feinstoffliche, das sich mit solchen Bezeichnungen verbinden soll, mit der gegensätzlich teils überbetonten teils überwältigenden Materialfülle, dem Volumen, der Skulpturen selbst. Das gilt auch für die kleineren Plastiken „Cast glances“ (in etwa: „Geworfene Blicke“) und „In two minds“ (in etwa: „In zweierlei Bedeutungen“). Und tatsächlich bestechen die Figuren von Tony Cragg einmal durch ihre nahe gehende massive materiale Präsenz und gleichzeitig durch ihre fast grazile Eleganz, ihre mitvollziehbare, fast tänzerische Leichtigkeit. Zwar sind sie allein schon wegen ihrer Schwerkraft zentral geerdet, versehen mit einem sicheren eingebauten Schwer- und Standpunkt. Zugleich aber heben sie sich über sich selbst hinaus, schweben. Sie scheinen wie in einer ruhigen, ununterbrochenen Bewegung – unterstrichen durch die subtil gebrochenen Spiele des Lichts auf ihren matt glänzenden Oberflächen – wie um sich selbst zu kreisen und zu kreiseln. Den Ansichten und Einblicken in solche monumentalen Gestalten scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein. Diese imposant singulären Bildwerke sind wie die Beweise für die Aufhebung der Schwerkraft einerseits und der bewegenden Offenheit, des ungleichgewichtigen Abhebens, des Schwebens andererseits. Und ihre polierten samtig glatten Oberflächen fordern sinnlich geradezu auf, sich ihnen körperlich anzuschmiegen. In jedem Fall spürt man den Drang, sie zu berühren, sie anzufassen. Diese Skulpturen bieten dem Betrachter unaufhörlich andere, changierende Ansichten und zahllose Deutungsmöglichkeiten: mal blicken ihn, im Profil der Skulptur, seitlich typisierte Gesichter ebenso aus einem Profil heraus an. Mal

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schaut er, en face einer Figur, in verschiedenartige Kippfiguren von Linien, Muster, Rundungen, Formvarianten. Mal scheint dabei der Schwerpunkt unten, mal mittig, mal aber auch weit oberhalb einer Figur zu liegen. Wenn der „Erfinder“ eines ästhetischen Gleichgewichts bei den Wahrnehmungen, der Kunstpsychologe Rudolf Arnheim, unter seinen vielen Untersuchungen zum künstlerischen Sehen u.a. auch die Schwerkraft, die Mitte, den psychisch gewichteten Kern, die Substanz etwa eines Bildes empirisch genau verortet hat, dann hat er sicherlich eine der Gesetzmäßigkeiten der durchschnittlichen ästhetischen Wahrnehmungen erkannt (z. b. 1978, S. 33). Wenn Tony Cragg nun seinerseits dieses Gesetz künstlerisch real mitunter buchstäblich auf den Kopf stellen kann (wie etwa bei Figur 1, S. 198 in diesem Band), dann liefert er mit seinen den Blick und die Gefühle mitreißenden Figuren einen ästhetischen, genau so zutreffenden Gegenbeweis. Im Ereignis ihrer Betrachtungen fallen solche Gegensätze hingegen ohnehin beinahe in sich zusammen und führen – so oder so – zu einer einzigartigen Erfahrung von nachhaltig auffordernder, sinnlich unmittelbarer, wiewohl vielleicht letztlich unausdeutsamer – eben einer variabel bezüglichen – Kunst. Jenseits des Gleichgewichts Die Erfahrungen mit Kunst verlaufen nicht nur, aber meistens, wie grundsätzlich die übrigen psychischen Erfahrungen, jenseits des Prinzips eines Gleichgewichts. Gleichgewichtigkeit mag in vielen Fällen ein Prinzip physikalischer und auch physiologischer Vorgänge sein, im Psychischen ist es das nur in Ausnahmefällen. Allein schon die zuvor benannten vielschichtig angelegten und funktionierenden Wahrnehmungsebenen in den Bereichen des Ästhetischen, auf denen Austauschprozesse komplex gleichzeitig sich entwickeln und ablaufen, lassen Gleichgewichtszustände generell nur ausnahmsweise zu. Nur über die verschachtelten Netzwerke, die sich untereinander verbinden, sind systemisch komplexe Übermittlungen sowie Lernen, Einsichten und Deutungen, wie auch emotionale Befindlichkeiten zulässig. Sie verlaufen nach den Prinzipien wie Spontaneität, Neugier, Suche, Neuformierung, Fluktuation, Dissipation und Resonanz, nicht aber in erster Linie nach so genannten geschlossenen Parametern wie etwa Goldener Schnitt, „Gute Gestalt“, Harmonie, Balance, Mitte, Konstanz, Symmetrie, Konsonanz, Wiederholung, Statuarik, Homöostase, Ausgeglichenheit. (Dass solche und andere Gesetze eines Kanons der Kunst auch zuweilen in der Praxis eine spezifisch formale Rolle spielen können, wie etwa im Manierismus und Surrealismus, bleibt davon unbenommen.) Wenn zudem korrespondierend bei einem Kunstereignis noch die Kunst selber hinzukommt, die ihrem Wesen nach aus grundsätzlich offenen Werken besteht, da sie in vielen Fällen ungeplant, experimentell, unausgewogen, versuchsweise, zufällig, spontan entsteht und dementsprechend zufällig, versuchsweise, provokativ, emergent, emanativ, andersartig wirken kann, dann kann in diesem Zusammenhang ein Gleichgewicht nur die Ausnahme, nicht aber die Regel sein.

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Bildwerke sind ähnlich wie physische und psychische Systeme Gebilde aus einer offenen Systemik. Sie entstehen, gestalten sich und wirken nach den Kriterien wie Emanation, Informationsaustausch, Spannung und Aufforderung. Zählt man außerdem noch bei einem Kunstereignis die Faktoren der Zeit und des Ortes hinzu, dann steigert sich das offene Moment umso mehr. KUNST ALS PSYCHO-ÄSTHETISCHES EREIGNIS Wenn die Kunst sowohl über die unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen des Betrachters wahrgenommen und verarbeitet und gedeutet werden kann als auch von sich aus über die genannten Wirkungen und Eigenschaften verfügt, dann kann es zu jenem Kunstereignis kommen, von dem Erschütterung, Genuss, Einsicht, Beglückung und Neugier ausgehen können. Dann kann ein Ereignis stattfinden, bei dem es zu jenem plötzlichen, spontanen, blitzartig auftretenden, unvorhersehbaren Verhalten (Fulguration), zu jener besonderen einmaligen Kunsterfahrung kommen kann, von dem berichtet wird und das jeder selbst erleben kann. Auch als Aha-Erlebnis, als plötzlich momentane Einsicht kann dieses Ereignis umschrieben werden, bei dem etwas bislang Ungeahntes, buchstäblich Zufälliges unerwartet neu geschieht. (Dass daneben der Kunst noch philosophische, ästhetische, soziale, ökonomische und andere Eigenschaften und Wirkungen zukommen, bleibt in diesem Zusammenhang dahingestellt.): KUNST

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