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German Pages 379 [206] Year 2003
Weiterwohnlichkeit der Welt Zur Aktualität von Hans Jonas Christian Wiese und Eric Jacobson (Hg.)
PHILO
Inhalt
Vorwort
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I. Der Philosoph im zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar. © 2003 Philo Verlagsgesellschaft mbH, Berlin Wien www.philo-verlag.de Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Nach Entwürfen von Gunter Rambow, Berlin Satz: U. Herrmann, Berlin Druck und Bindung: Nexus Druck, Frankfurt am Main Printed in Germany ISBN 3-8257-0
Christian Wiese Abschied vom deutschen Judentum. Zionismus und Kampf um die Würde im politischen Denken des frühen Hans Jonas
17
Vittorio Hösle Hans Jonas’ Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie
36
Konrad Paul Liessmann Verzweiflung und Verantwortung. Koinzidenz und Differenz im Denken von Hans Jonas und Günther Anders
55
Christian Wiese Zwiespältige Freundschaft: Reflexionen über Hans Jonas und Gershom Scholem
73
II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff nach Auschwitz
Kurt Rudolph Hans Jonas und die Gnosisforschung aus heutiger Sicht
95
Joseph Dan Von Hans Jonas zu Umberto Eco: Der Mythos der Gnosis
110
Micha Brumlik Ressentiment – Über einige Motive in Hans Jonas’ frühem Gnosisbuch
129
David J. Levy Mythische Wahrheit und die Kunst der Wissenschaft. Hans Jonas und Eric Voegelin über Gnosis und das Unbehagen der Moderne
147
Eric Jacobson Hans Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz
168
Hans Hermann Henrix Machtentsagung Gottes? Eine kritische Würdigung des Gottesverständnis von Hans Jonas
186
Christian Wiese „Weltabenteuer Gottes“ und „Heiligkeit des Lebens“. Theologische Spekulation und ethische Reflexion in der Philosophie von Hans Jonas
204
Vorwort
III. Philosophie des Organischen und Ethik der Verantwortung
Gereon Wolters Hans Jonas’ „philosophische Biologie“
227
Wolfgang Erich Müller Organismus und Verantwortung. Hans Jonas’ Begründung der Ethik in der Philosophie des Lebens
244
Emidio Spinelli Hans Jonas und das Problem der Freiheit
258
Gertrude Hirsch Hadorn Prinzip Verantwortung oder intergenerationelle Gerechtigkeit?. Zur Position von Hans Jonas in der zukunftsethischen Debatte
274
Michael Löwy Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ und Hans Jonas’ „Prinzip Verantwortung“
292
Dietrich Böhler/Horst Gronke In dubio pro responsabilitate. Die Orientierungskraft des Verantwortungsprinzips im ökologischen und bioethischen Diskurs
303
Anhang Anmerkungen
325
Autorinnen und Autoren
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Am Anfang dieses Buches steht die Überzeugung, daß Hans Jonas, dessen Geburtstag sich 2003 zum hundertsten Mal jährt, nicht nur ein faszinierender Mensch war, in dessen Leben mit seinen dramatischen Erlebnissen und Brüchen sich die Erfahrungen, Krisen und Katastrophen wie die intellektuelle, politische und technologische Entwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts widerspiegeln. Vor allem aber war Jonas ein herausragender Philosoph, dessen Werk für die Bewältigung der komplexen politischen und ethischen Probleme unserer Zeit hochaktuell ist. Einem breiten Publikum ist er als Verfasser des berühmten ethischen Entwurfs Das Prinzip Verantwortung bekannt, das seit dem Aufbruch der ökologischen Bewegung Ende der siebziger Jahre vor allem in Deutschland einen enormen Einfluß ausgeübt hat. Noch heute zählt Jonas zu den wichtigsten Stimmen innerhalb der zukunftsethischen Debatten, die in den modernen Industriegesellschaften geführt werden. Damit ist seine Bedeutung jedoch längst noch nicht erschöpft. Auch den weit weniger bekannten Aspekten seiner Biographie und seines wissenschaftlichen Gesamtwerks, die für das Verständnis seiner Philosophie unerläßlich sind, kommt ein hohes Maß an Aktualität zu. Als in Deutschland geborener, 1933 in die Emigration nach Palästina vertriebener Jude, als Zionist, der als Soldat gegen Nazi-Deutschland kämpfte und dessen Mutter in Auschwitz ermordet wurde, ist er ein wichtiger Zeuge des von den Deutschen während der Nazi-Diktatur zerstörten deutschen und europäischen Judentums. Zugleich ist er ein bedeutender Interpret des deutsch-jüdischen intellektuellen Erbes, das er als Philosoph in seinen Werken und in seiner Wirksamkeit an der New School for Social Research in New York fortsetzte. Von so gegensätzlichen Lehrern wie Martin Heidegger und Rudolf Bultmann geprägt, hat Jonas in seinen frühen Werken eine meisterhafte 7
Jacobson: Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz
Eric Jacobson
Hans Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz1 I. Der Gottesbegriff hat nach der Schoah eine radikale Wendung genommen, die jüdische Denker auf verschiedene Weise in den letzten Jahrzehnten zum Ausdruck brachten. Hinter dem, was unter dem Begriff einer Theologie der Schoah bekannt geworden ist, verbirgt sich eine mit vereinten Kräften unternommene Anstrengung, eine Erklärung für Auschwitz zu finden. Aus der Perspektive einer verwandelten Himmelswelt schlagen ihre Vertreter eine Neudeutung des Bundes zwischen dem jüdischen Volk und Gott vor, einschließlich eines neuen Akzents, der die Dauer und Ewigkeit des jüdischen Volkes durch den jüdischen Staat gewährleistet. In der Welt des Profanen und als Brennpunkt des jüdischen Volkes ist der Staat Israel zur Antithese von Auschwitz geworden. An die Stelle der Erforschung der göttlichen Vorsehung und der Wissenschaft vom Heiligen tritt eine Praxis des weltlichen Engagements. Die Bedeutung und Relevanz des Judeseins hat sich dabei erheblich verändert. Im Mittelpunkt dieses Wandels, der Ausdruck einer wachsenden Glaubenskrise ist, stehen die Geschichte der Schoah und die Erinnerung an den Völkermord, die immer häufiger als Ersatz für vergangene Formen jüdischer Kultur dient. Der Wandel des Gottesbegriffs ist aber weder eine neue noch eine rein geschichtliche Erscheinung. Vielmehr berührt er den Charakter des Judentums als einer Religion ohne zentralisierte Autorität. Dieses Phänomen wird häufig so verstanden, als sei das Judentum eine Religion von Atheisten, Ungläubigen und hartnäckig der Tradition Gehorsamen. Von dieser Vorstellung stammt die abgedroschene Entgegensetzung einer „Religion des Buches“ versus einer „Religion des Geistes“, wobei letztere als Religion 166
der reinen Vernunft, der Erkenntnis des Willens Gottes erscheint. Das Judentum, so heißt es dann, besitzt keine Theologie, sondern lediglich eine Geschichte. Man braucht nicht besonders zu betonen, daß eine solche Polemik ein armseliges Beispiel kritischen Denkens bietet, doch die Unterscheidung zwischen einer Religion mit und einer Religion ohne Kirche stellt einen wichtigen Aspekt dar. Nach dem Verlust ihrer grundlegenden theokratischen Struktur hat die jüdische Religion seit der Zerstörung des Zweiten Tempels eine große Vielfalt von Ritualen und Glaubensüberzeugungen entwickelt, sei es in den Gemeinschaften und Kulturen des Mittleren Ostens, Europas, Afrikas oder Amerikas. Große Mannigfaltigkeit wird auch mit Blick auf den Gottesbegriff sichtbar: Bis heute bildet eine lange Tradition theologischer Spekulation über Gottes Existenz und seine Attribute ein beständiges Element jüdischen Denkens. Eine kurze Einführung in die Theorie der Attribute Gottes macht dies sichtbar. Der Name, das grundlegendste Attribut eines Wesens oder Gegenstandes, bildet die Basis des Gottesbegriffs im Judentum, und dennoch bestehen hier keinerlei Grenzen, was Theorien und Glaubenssätze angeht. El, elohi und elohim sind drei Formen des wahren Namens, wobei el in vielen antiken semitischen Sprachen ein häufiger Appellativ ist, sei es allein oder in Verbindung etwa mit schaddai. Dieser Liste wäre adoni („mein Herr“) hinzuzufügen, ganz abgesehen von dem bekanntesten Begriff: dem Tetragramm JHWH, dem aus vier Buchstaben bestehenden Namen, dessen Aussprache unbekannt ist und der zugleich das Zentrum aller Sprachspekulationen im Judentum ausmacht. Der offenkundigste und vielseitigste Name ist in vielerlei Hinsicht der zuletzt erwähnte. Die Wendung ha-schem (wörtlich „der Name“) stellt zugleich die verbreitetste und unklarste Bezeichnung dar. Als Hinweis auf etwas anderes gewinnt sie den Charakter einer Metapher, eines Zeichens ohne Inhalt. Sie wird aber gleichzeitig zum Stellvertreter ihres Inhalts, zum Kennzeichen, das sich durch den Gebrauch des bestimmten Artikels ausweist – der Name Gottes als „der Name“. Weitere Spielarten hat jene Tradition hervorgebracht, die unter der Bezeichnung schem ha-meforasch bekannt ist: der verborgene heilige Name und 167
II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff
Jacobson: Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz
Ursprung aller anderen Namen. Die Frage, ob der wahre Name aus vier Buchstaben besteht, wie beim Tetragramm, oder aus 12, 42, 72 oder sogar 100 Buchstaben, bot hinreichend Material für eine breite Spekulation über die wahre Identität Gottes. Im Hochmittelalter, etwa in den Werken so bedeutender Denker wie Chai Gaon und Raschi, war der Glaube an einen Namen aus 42 Buchstaben weit verbreitet. Kabbalistische Denker des dreizehnten Jahrhunderts, darunter Nachmanides, vertraten die Auffassung, die Tora in ihrer Gesamtheit, mitsamt all ihren Buchstaben, konstituiere den wahren Namen.2 Von den frühesten Quellen bis zur Mystik der Gegenwart kommt der Diskussion über den Namen Gottes in jüdischem Denken zentrale Bedeutung zu. Die Komplexität des Namens spiegelt zudem die Tiefe des Denkens mit Blick auf die Vorstellung des Göttlichen wider, denn wenn es nicht den einen Namen Gottes gibt, ist auch nicht nur ein einziger Gottesbegriff denkbar. Vielmehr kann man sich ohne weiteres vorstellen, daß sich ein moderner Philosoph zur Idee eines religiösen Atheismus hingezogen fühlt, ganz zu schweigen von einer ganzen Kultur, die sich und ihre Religionen in diesem Licht betrachtet. Man nehme etwa das moderne Japan mit seinen beiden vorherrschenden Glaubensrichtungen, dem Shintô und dem Buddhismus, die eine in jeder Hinsicht reiche religiöse Kultur aufweisen, ohne einen einheitlichen Gottesbegriff zu besitzen. Die Japaner sind darüber auch offenbar in keiner Weise beunruhigt: Von einem Shintô-Priester verheiratet und von einem buddhistischen Mönch beerdigt zu werden, ist durchaus üblich und scheint keinerlei negative Auswirkungen zu haben. Solche Variation in allen Ehren, doch die Beschränkung oder Beseitigung einer eindeutigen Kategorie pflegt jeden organisierten Glauben vor grundlegende Fragen zu stellen. Selbst eine polytheistische Religion dürfte einen nicht unterscheidbaren Gottesbegriff als verwirrend empfinden. Die Vielzahl an Himmelskörpern im Shintôismus etwa ergibt unterschiedliche Gottheiten, sei es einen Naturgott (ein Berg oder Wald), einen Helden oder eine Gottheit, die in abstrakter, ästhetischer Form zum Ausdruck kommt. Diese Gottheiten besitzen aber jeweils einen Namen und Charakter. Für einen Shintôisten könnte daher leicht die Frage entstehen, wie es sein kann, daß eine Religion, die
auf der monotheistischen Idee beruht, nicht imstande ist, ihren Gott zu benennen. Schließlich ist es nur ein Gott. Angesichts so vieler Namen und der fehlenden Übereinstimmung über den angemessenen Namen erscheint es zumindest plausibel, wenn auch nicht sinnvoll, zu fragen, ob überhaupt ein Name für Gott und somit ein einheitlicher Gottesbegriff existiert. Ohne eine eindeutige Vorstellung des Namens ergibt ein einheitlicher Gottesbegriff keinen Sinn. Ich greife hier auf zwei miteinander zusammenhängende Prinzipien zurück – nämlich daß sich außerhalb der Sprache oder ohne Verbindung zu ihr kein Gedanke definieren läßt und daß es kein Ding oder Lebewesen gibt, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhat und seinen geistigen Inhalt in der Sprache mitteilt. Der erste Grundsatz stammt von Ludwig Wittgenstein, der zweite von Walter Benjamin.3 Ein verborgener, dem Sprecher unbekannter Name, der seinem Gegenstand unbestimmt bleibt und sich somit sprachlich nicht vermittelt, bringt zugleich auch ein Daseinsproblem mit sich. Er wirft demnach das Problem des religiösen Atheismus auf. Hans Jonas’ Essay „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“ ist in diesem Sinne weniger eine Abweichung als ein Bestandteil einer im Judentum lange andauernden Debatte über das Problem der Bedeutung Gottes nach einer historischen Katastrophe. Indem sie sich einer historischen, einer philosophischen und einer theologischen Fragerichtung bedient, steht Jonas’ Reflexion über den Gottesbegriff nach Auschwitz im Kontext des – auch als Theologie der Schoah bezeichneten – modernen Diskurses über die Bedeutung von Auschwitz für das Judentum und der allgemeinen Debatte über das Problem des Glaubens in unserer Zeit überhaupt.
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II. Hans Jonas, der von 1924 bis 1928 in Marburg bei Martin Heidegger studierte, schrieb seine Dissertation bei seinem philosophischen Lehrer und bei dem protestantischen Theologen Rudolf Bultmann. Sein erstes bedeutendes Werk – Gnosis und spätantiker Geist – erschien 1934, ein Jahr nach seiner Auswanderung 169
II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff
Jacobson: Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz
nach England. 1935 zog er nach Jerusalem, voller Hoffnungen, die viel mit dem deutsch-jüdischen religiösen Zionismus seiner Zeit zu tun hatten. Nach seiner Ankunft in Palästina trat er in Verbindung zu Gershom Scholem und dem Kreis deutsch-jüdischer Intellektueller in Jerusalem. 1945 kehrte er als Soldat der siegreichen britischen Streitmächte nach Deutschland zurück, wo er von der Ermordung seiner Mutter erfuhr. 1949 verließ er den neugegründeten Staat Israel, zog zunächst nach Kanada, später nach New York, wo er zum Professor der Philosophie an der deutsch-jüdischen University-in-Exile, der New School for Social Research, ernannt wurde. 1984 wurde Hans Jonas nach Deutschland eingeladen, um den Leopold-Lucas-Preis der theologischen Fakultät der Universität Tübingen in Empfang zu nehmen. Sein Essay „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ verdankt sich seiner aus diesem Anlaß gehaltenen Rede, in der er „metaphysische Vermutungen“ über das Problem der Allmacht Gottes angesichts des menschlichen Bösen anstellte. Die Frage klingt einfach, die Antwort ist kompliziert: Wie konnte Gott die Vernichtung der Juden zulassen? In Auseinandersetzung mit Auschwitz als einer historischen Wirklichkeit schlug Jonas eine Neudeutung der Gottesidee mit Hilfe eines „Mythos“ vor, in dessen Zentrum eine göttliche Katastrophe stand. Diese Interpretation sollte die Auswirkung der Schoah auf den religiösen Glauben widerspiegeln. Mit einer neu aufgegriffenen, in vielerlei Hinsicht jedoch recht traditionellen Vorstellung eines deus absconditus oder des hester panim, des Verbergens des Antlitzes Gottes, schilderte Jonas ein göttliches Versagen, das Böse zu verhindern oder aufzuhalten.4 War der Inhalt der Rede von Hans Jonas dem Judentum durchaus vertraut, so war ihr Kontext alles andere als traditionell: Jonas sprach eine Thematik an, die erst Mitte der achtziger Jahre in Deutschland weithin diskutiert wurde. Die Diskussion begann mit einer neuen Generation, die sich offen und mit immer stärkerem Nachdruck mit der Schoah auseinandersetzte. Auch für die deutsche Philosophie handelte es sich um ein unkonventionelles Programm: die Idee nämlich, einen Mythos zu verwenden, um über ein Problem nachzudenken, das einen spezifisch jüdischtheologischen Charakter besaß. Unter Rückgriff auf eine kabba-
listische Theorie des Bösen, die als beherrschende Erklärung der jüdischen Katastrophe nach der Inquisition entstanden ist, verkörpert Jonas’ Essay die außerordentliche Zwiespältigkeit des deutsch-jüdischen Parnaß nach der Schoah: Sichtbar wird eine Theologie des Judentums, nicht von einem Rabbiner verfaßt, sondern von einem „Philosophen und Juden“, der sich vier Jahrzehnte nach der Schoah an ein vorwiegend nicht-jüdisches Publikum in Deutschland wandte. Als eine jüdische theologische Antwort auf die Schoah wurde der Essay ein zentraler Text innerhalb der deutschsprachigen, mehrheitlich nicht-jüdischen Welt der Holocaust-Literatur. So sehr „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ als Phänomen gelten muß, das mit der Diskussion in Deutschland nach der Schoah zusammenhängt, so bilden die Ideen, die darin enthalten sind, sicherlich ein ständiges Element moderner jüdischer Philosophie. Dies gilt trotz aller biographischen Selbstzeugnisse, denn Jonas verstand sich zweifellos nicht als „jüdischer Philosoph“, sondern als der universalen Vernunft verpflichteter Denker, als „Philosoph und Jude“. Der Zwiespalt wird hier besonders deutlich, da sich die angemessene Identifikation eines philosophischen Essays auf dessen Inhalt und nicht auf die Identität seines Verfassers bezieht. Besonders vielsagend ist die Tatsache, daß der größere Teil der Argumentation auf einem Mythos beruht, den Jonas auf der Suche nach der religiösen Erklärung einer historischen Erscheinung konstruiert. In diesem Zusammenhang entfernt sich die Anwendung eines Mythos etwas von einer herkömmlichen philosophischen Methode. Es stellt sich daher die Frage, ob es sich hier um eine philosophische Untersuchung, die Darstellung jüdischen Denkens oder um einen Beitrag zur Theologie der Schoah handelt. Der Gegensatz zwischen Philosophie und Theologie in Jonas’ Denken ist stets gegenwärtig, wird aber nie vollständig enthüllt, so daß wir uns fragen müssen, ob man von der unausgesprochenen Prämisse ausgehen muß, daß ein Philosoph durch den Glauben an Gott kompromittiert wird. Die Idee einer „jüdischen“ Philosophie würde dann einen fundamentalen Widerspruch in sich bergen. Dieser Aspekt tritt für Jonas besonders deutlich unter dem Aspekt des Atheismus zutage: „Der Philosoph“, so sagte er in einem späten Interview, „muß sein eigentliches
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II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff
Jacobson: Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz
Geschäft, das Denken, völlig frei von solchen Bindungen und ererbten Voraussetzungen verrichten. Er ist dem Denken allein verpflichtet. Philosophie muß in der Methode ‚atheistisch’ sein […] es heißt, sich nichts von Glauben darüber sagen zu lassen. Daß man zusammen Philosoph und Jude ist — darin liegt eine gewisse Spannung.“5 Wie es sich für einen Philosophen geziemt, sucht Jonas offenkundig nach einer reinen Methode des Denkens, wenn nicht nach einem Denken über sich selbst, so doch zumindest nach einem Bereich, der von individuellen Vorlieben und ungeprüften Glaubensüberzeugungen frei ist. Was die Spekulation über den Gottesbegriff betrifft, sollen wir glauben, der einzig denkbare philosophische Ansatz müsse hier der atheistische sein. Doch die Vorstellung einer atheistischen Methode scheint vollkommen unhaltbar. Eine Methode, welche die Existenz des Gegenstandes grundsätzlich bestreitet und somit implizit die Bedeutung des Themas in Frage stellt, kann nicht Grundlage einer Studie zur Gottesfrage sein. Es ist zudem auch höchst zweifelhaft, ob diese Methode wirklich atheistisch ist. Wären wir vollständig von der atheistischen Qualität der Argumentation überzeugt, so könnte uns eine schlichte Frage näher an den Kern des Problems heranbringen: Weshalb sollte Jonas seinem Essay den Titel „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“ gegeben oder einem solchen Titel zugestimmt haben? Weshalb sollte hier die Stimme eines Juden und nicht die Erklärung des Philosophen betont werden? Wäre nicht ein Essay über die Bedeutung von Auschwitz für den Gottesbegriff für einen Christen ebenso gültig und relevant? Jenseits aller Fragen nach der Gleichberechtigung des Denkens und dem wesentlichen Unterfangen, dem jüdischen Denken seinen rechtmäßigen Platz in der Philosophie zu verschaffen, gibt es noch einen zwingenderen Grund, Jonas’ Postulat hinsichtlich der Methode und des Ortes seines Essays nicht anzunehmen, und es doch in den Kontext jüdischer Philosophie zu stellen: den Mythos über die göttliche Katastrophe und seine Verwendung als Erklärungsansatz für die Schoah. Als historisches Geschehen ist die Schoah gewiß singulär. Daraus läßt sich allerdings nicht schließen, daß auch ihre Bedeutung für die Geschichtsphilosophie oder den Gottesbegriff einzigartig sei. Obwohl die Nazi-Vernichtungsstrategien völlig neu waren,
hatten sich ihre Implikationen für das Judentum beinahe fünfhundert Jahre vorher mit der Massenvertreibung und der Zwangskonversion der Juden auf der iberischen Halbinsel bereits angekündigt. Die Fragen, die sich den jüdischen Denkern und Theologen in beiden Epochen stellten, waren keineswegs vollkommen unterschiedlich: Beide Generationen suchten – via mystica – eine Erklärung für die hinter dem Leiden des jüdischen Volkes stehende göttliche Absicht oder Vorsehung. Auf der Grundlage des religiösen Denkens Isaak Lurias brachte die mit der Katastrophe von 1492 ringende Theologie des sechzehnten Jahrhunderts Aspekte ihres geschichtlichen Zeitalters in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der göttlichen Welt. So wie die irdische Welt sich als von Exil, Verlassenheit, Scheitern und Ohnmacht beherrschter Ort offenbart hatte, befand sich auch die himmlische Welt in der Krise. Der unbewegte Beweger wurde wachgerüttelt: Ohnmächtig, dem Bösen Einhalt zu gebieten, mußte Gott sich aus der aktiven Wirksamkeit in der Welt zurückziehen. Der gegenwärtige Zustand des Scheiterns und der Herrschaft des Bösen beruht auf einer vorangegangenen Katastrophe: dem „Bruch der Gefäße“. Im Zentrum des lurianischen „Mythos“ steht die Vorstellung, daß das von Gott ausgehende Licht der Schöpfung nicht von den dafür geschaffenen Gefäßen aufgefangen werden konnte, so daß diese zerbrachen und Funken des göttlichen Lichts in alle Sphären des Kosmos verstreut wurden. Beklommen zog sich Gott aus der Welt zurück und ließ ihr die Möglichkeit freien Handelns. Dieser Vorgang, der als zimzum oder als Selbstkontraktion Gottes sowie als erzwungene Preisgabe der Welt kraft seines Scheiterns und seines Rückzugs in sich selbst dargestellt wird, bildet gemäß der lurianischen Kabbala die Wurzel historischer Katastrophen.6 Jonas’ Vorstellung hinsichtlich des Schweigens Gottes in Auschwitz steht eindeutig im Bann dieser Tradition. Sein Essay bietet eine theoretische Neuformulierung des lurianischen Mythos, die sich auf der Grenze zwischen Tradition und Mystik bewegt und von kabbalistischen Abhandlungen nicht sehr weit entfernt ist.7 Das Motiv des Mythos, der benutzt wird, um die Existenz Gottes zu erklären, wird bereits in einem Aufsatz aus den frühen sechziger Jahren mit dem Titel „Unsterblichkeit und heutige
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Jacobson: Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz
Existenz“ sichtbar. Ähnlich wie in „Gottesbegriff nach Auschwitz“ ist die Gestalt Gottes in diesem „hypothetischen Mythos“ im Werden begriffen: Es handelt sich um eine Gottheit, die von der Evolution betroffen ist, vom Handeln eines „göttlichen Subjekts“, das, indem es höhere Stufen der Selbstdifferenzierung und Komplexität erreicht, die Bedingungen schafft, unter denen Gott sich selbst mittels seiner eigenen Schöpfung entdeckt. Die Gottheit erneuert sich in jedem Augenblick der Geschichte durch die Entwicklung der Welt und mildert so die Permanenz der Ewigkeit. Mit dem erwachenden Bewußtsein des Lebens werden wir Zeugen einer wachsenden Dimension der „Weltverantwortung“, die auf eine elementare Ethik zielt. Gott entdeckt darin eine „neue Modalität […], sein verborgenes Wesen zu erproben und durch die Überraschungen des Weltabenteuers sich selbst zu entdecken.“8 Er selbst wird zu einem Geschöpf der Evolution. Auf Grund seiner Selbstreflexion in der Geschichte wirkt seine Schöpfung als vermittelnde Kraft, die in Erscheinung tritt, indem sie sich ausdifferenziert und zum Ausdruck ihrer selbst gelangt. Gott bleibt von diesem Abenteuer nicht unberührt, denn er erkennt sich selbst in der Herausforderung der weltlichen Entwicklung. Diese Entwicklung ist nicht so sehr von der Zeit gekennzeichnet, sondern von historischen Handlungen als dem rationalen Ausdruck seines Wesens: Gott muß sich selbst in der Geschichte erkennen, und was er nicht weiß, entdeckt er durch menschliches Handeln. Gemäß dieser Konstruktion ist Gott nicht von der Unterscheidung zwischen Gut und Böse betroffen. Wie auch immer das Ergebnis „im großen Glückspiel der Entwicklung“ ausfällt, kann er hier nicht verlieren.9 Einsteins Überzeugung von der Genauigkeit der göttlichen Vorsehung gewinnt hier eine völlig andere Bedeutung: Obwohl Gott nicht am Spiel teilnimmt, ist er auf tödliche Weise an das Ergebnis gebunden. Er spielt nicht mit, beobachtet jedoch die „Dynamik des weltlichen Schauplatzes“ und wird durch sie geprägt.10 Der Gott der Geschichte wird durch die Geschichte bestimmt. Nahezu fünfundzwanzig Jahre später kehrt Jonas in „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ zu diesem Mythos und seinem Verständnis der Attribute Gottes zurück. Obwohl sich dieser
Essay auf viele Motive des früheren Textes bezieht, verengt er die Analyse auf drei wesentliche Attribute: Güte, Allmacht und Verstehbarkeit. Ersteres betrifft das alte gnostische Problem der zwei Mächte im Himmel sowie der Existenz des Bösen in Gott selbst. Die Reflexion über das zweite Attribut, als Konsequenz des ersten, trägt der Trennung des Guten von Gott Rechnung, die zur Folge hat, daß er nicht länger allmächtig ist, sondern vielmehr das Schicksal der Menschheit erleidet. Das dritte Attribut besteht darin, daß lediglich die Begrenzung der Gewalt Gottes sein Handeln verständlich macht. Im Folgenden werden alle drei Attribute im einzelnen erörtert. Auch hier befindet sich Jonas in Übereinstimmung mit der jüdischen Theologie nach der Schoah, wenn er die Idee göttlicher Allmacht nach Auschwitz in Frage stellt. Sein Zweifel basiert auf der Vorstellung eines bewährten, auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhenden Bundes zwischen Gott und Israel. Ein Bruch der Beziehung wird postuliert. Die ursprüngliche Abmachung lautete: Die Israeliten halten die Gebote der Tora, und Gott beschützt die Israeliten. Auschwitz hat diesen Bund zerbrochen, und die Folgen verlangen nach einer Neubewertung der Vorstellung der Gegenseitigkeit. Jonas erklärt diesen Bruch als entscheidenden Vorgang: Da Gott kein beschützender Gott mehr ist, wird er zu einem sich historisch entwickelnden Wesen. Er ist eine Gottheit, die vom Augenblick der Schöpfung an leidet, die den Menschen dazu herausfordert, zu seinen Gunsten zu handeln und ihn vor den Folgen seiner eigenen Herrschaftsübertragung zu retten. Wir begegnen hier erneut der Vorstellung aus Jonas’ früherem Aufsatz, wonach Gottes Leiden Merkmal seines Werdens ist. Die Frage nach der göttlichen Ewigkeit ist mit seinem Akt des Werdens in jedem geschichtlichen Augenblick irdischer Existenz beantwortet. Er ist stets in Gefahr, es sei denn die Welt ist nicht vollkommen. Wie kann seine Welt noch heile sein, mögen wir fragen, wenn sie von der unseren bestimmt wird, da unsere Welt in jedem Augenblick von vollständiger Vernichtung bedroht ist? Daß Gott nicht allmächtig ist, ist in der Tat ein Paradox, behauptet Jonas, indem er den vertrauten dialektischen Beweis dafür führt, daß Allmacht Freiheit erfordert. Ohne Freiheit wird Allmacht willkürliche Macht. „‚Macht’ ist ein Verhältnisbegriff“,
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II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff
Jacobson: Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz
schreibt er, implizit auf die Machtdialektik von Hegel zurückgreifend. Um ihren Charakter zu bewahren, muß Macht die Fähigkeit bewahren, „etwas zu überwinden; und Koexistenz eines anderen ist als solche genug, diese Bedingung beizustellen.“11 Die klassische jüdische Vorstellung, daß beim Schöpfungsakt etwas neben Gott existierte, eine frühe Überlieferung des Midrasch, wird hier in eine innere Unterscheidung zwischen Macht und Freiheit verwandelt: Gott verlagert Freiheit nach außen, damit etwas außerhalb seiner selbst besteht, worüber er herrschen kann. Dieselbe Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Macht trifft auch auf das Problem des Bösen zu. Weshalb findet sich keine „Gegenmacht“ in Gott selbst? Weshalb muß Gott das Böse nach außen verlagern? Ein Gleichgewicht zwischen beiden Bereichen wäre nur dann möglich, wenn Gott einen solchen Gegensatz in sich selbst aufrechtzuerhalten imstande wäre. Man könnte antworten, daß außerhalb des Bereiches Gottes ein Ort für das Böse geschaffen werden mußte, um den Bereich des reinen Guten zu bewahren. Der Aspekt der Vollkommenheit ist für diese Vorstellung entscheidend, denn wenn Gott vollkommen ist, kann kein Teil von ihm böse sein. Wenn er nicht böse ist, kommt der Gedanke auf, er müsse seine Macht mit einer anderen Gewalt im Himmel teilen. Gäbe es aber etwas Böses in Gott selbst, so würde dies bedeuten, daß seine Fähigkeit zu gebieten die Fähigkeit zum Bösen aufrechterhält, denn er kann nicht von der Menschheit verlangen, was er selbst nicht erfüllen könnte. Das wäre gewiß böse. Die Grundlage der Logik besteht gerade in der Fähigkeit, die Welt mittels der Vernunft als göttlich geordnet und gewollt zu begreifen. Das cartesische Beispiel des bösen Dämons, der uns an Illusionen glauben läßt, liegt als Prämisse allen erkenntnistheoretischen Überlegungen zugrunde, die Gott nach wie vor für eine denkbare Kategorie halten. Angesichts des Wunsches, an einem vom Bösen freien und in seiner Macht begrenzten göttlichen Bereich festzuhalten, gelangen wir mit einigem Unbehagen zu dem Schluß, daß hier, so sehr Jonas das Gegenteil will, ein gnostisches Gottesverständnis unvermeidbar aufscheint.12 Die Auseinandersetzung mit der Idee einer göttlichen Allmacht birgt eine Überraschung. Jonas behauptet, Gott habe sich die Begrenzung seiner Macht selbst auferlegt. Er schlägt die Vorstellung
einer bewußten „Zurückhaltung“ oder „Einschränkung Gottes“ um der Freiheit des Lebens auf Erden willen vor. Die absolute Freiheit, die gewöhnlich Gott zugeschrieben wird, wird hier auf die Menschheit übertragen, wobei die einzige Grenze der Dialektik der Macht in der Bedrohung des Menschen durch die totale Vernichtung der Erde liegt. Die Übertragung absoluter Freiheit auf den Menschen beruht auf der bewußten Selbstbeschränkung der göttlichen Welt. Im Falle von Auschwitz wäre es allerdings schwierig zu begründen, weshalb Gott, der doch die absolute Güte widerspiegelt, hinsichtlich der menschlichen Freiheit keine Ausnahme gemacht hat. Die Vorstellung, daß Gott auch während der Schoah im freiwilligen Exil blieb und sich absichtlich zurückhielt, obwohl er hätte eingreifen können, deutet nicht nur auf einen Bruch des Bundes, sondern zugleich auf die Existenz des Bösen innerhalb Gottes hin: Er wußte, daß es böse war, hielt es aber nicht auf. Parallel zur Argumentation mit Hilfe der Idee des freiwilligen Rückzugs, die der lurianischen Vorstellung des unfreiwilligen zimzum entgegensteht, behauptet Jonas, Gott habe gerade nicht geschwiegen, obwohl er hätte reden können, sondern weil er nicht reden konnte. Die Vorstellung einer freiwilligen Selbstbegrenzung göttlicher Allmacht hebt die Fähigkeit zur absoluten Güte auf. Es ist offenkundig, daß nicht alle drei Attribute – Güte, Allmacht, Verstehbarkeit – miteinander vereinbar sind, denn jede positive Verbindung von zweien davon schließt das dritte aus.13 Jonas muß zwischen Allmacht und Verstehbarkeit wählen: „Nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor behaupten, daß eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (in ihrem Weltregiment, worin allein wir sie erfassen können) total unverständlich wäre.“14 Diese Art der Mathematik wäre für die mittelalterlichen Theologen unverständlich gewesen: Sie hätten es für undenkbar gehalten, das Gute und Verstehbare anzunehmen und dafür auf die Vorstellung der Allmacht und des Vollkommenen zu verzichten. Dort, wo ein innerer Widerspruch zwischen der Idee, Gott sei weniger als allmächtig, und der Annahme seiner bleibenden Vollkommenheit besteht, zieht Jonas einen verstehbaren Gott einem allmächtigen vor. Die Vorstellung, Gott entdecke sich selbst in der Geschichte und sei daher in seiner
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Macht begrenzt, beruht auf dem Gedanken, es gebe etwas an Gott, was ihm selbst verborgen bleibe. Jonas bezeichnet dies mit dem Begriff „göttlicher Unerforschlichkeit, d. h. Rätselhaftigkeit.“ Dieser Teil der Argumentation ist notwendig, um die Behauptung aufrechtzuerhalten, Gott sei allmächtig (da er sich nur um der Freiheit willen zurückgezogen habe), zugleich sei aber kein Teil von ihm bewußt böse. In dieser Konstellation ist Gottes Unvollkommenheit nicht ein Zeichen des Bösen, sondern Ausdruck seines eigenen Werdens: Die Aussage des Gegenteils – Gott sei zugleich allmächtig und vollkommen – würde nämlich bedeuten, daß er unverstehbar ist. Jonas spricht sich gegen einen vollständig verborgenen Gott aus, das heißt gegen einen der Vernunft unzugänglichen Gott, der aus seiner Sicht ein „unannehmbarer Begriff nach jüdischer Norm“, wenn nicht sogar problematisch für jede Religion wäre.15 Die Vorstellung, die Wege Gottes seien unerforschlich, bietet eine alternative Erklärung für Auschwitz und ist innerhalb des Judentums ein vertrautes Argument. Hier wird die Unterscheidung zwischen göttlichem und profanem Bereich betont: Daß Gottes Wege für uns unerforschlich sind, meint in Wirklichkeit nicht die Auffassung eines irrationalen Gottes. Unerforschlichkeit und Irrationalität sind nicht dasselbe, sondern werden einander nur in dem Augenblick ähnlich, in dem unser Handeln für Gottes Existenz bedeutsam ist. Wäre Gottes Wille nicht zu allen Zeiten gültig, so wäre er fehlbar. Seine Partikularität würde bedeuten, daß man die Gebote eher als Vorschläge betrachten sollte. Jonas möchte daran festhalten, daß Gott in seinem Handeln verstehbar sei, und ringt deshalb zwangsläufig mit einem unverkennbaren Widerspruch: „Wenn aber Gott auf gewisse Weise und in gewissen Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht all-mächtig ist.“16 In seinem Aufsatz zu Ehren von Rudolf Bultmann griff Jonas das Problem der „zwei Mächte im Himmel“ auf, das Bultmann in seiner Auseinandersetzung mit Jonas’ Vorstellung von der „Unsterblichkeit“ vorweggenommen hatte. Dieses Problem ergibt sich aus der Vorstellung, daß Gott das Böse in einem begrenzten Sinn von sich selbst scheidet, daß also das „Handeln
Gottes als nicht ‚zwischen’ weltlichen Ereignissen […], sondern als ‚in’ ihnen verborgene[s] Geschehen“ zu verstehen ist.17 Wenn Gott mit dem Bösen verhandeln muß, liegt es mit Sicherheit außerhalb seiner selbst. Diese Aussage ist offenkundig dazu gedacht, den Beweis zu stärken, wonach Gott gut, aber nicht allmächtig ist. Allerdings liegt hier ein Zwiespalt vor: Um seine Güte zu bewahren, wird das Böse in Gott nach außen verlagert: Er verhandelt mit dem Bösen. In jedem Augenblick innerhalb der Zeit ist seine Güte von genau dem Bösen gefährdet, das er nach außen verlagert und dem er Freiheit gewährt hat, so daß er es fortan nicht mehr zu kontrollieren vermag: Dabei handelt es sich um eine plausible Deutung eines zentralen Textes über die Theodizee im Judentum – der Geschichte Hiobs. Gottes Unfähigkeit, die Welt zu beherrschen, würde zugleich seine Ohnmacht bedeuten, ein Attribut in sich aufrechtzuerhalten: Um die Idee der absoluten Güte zu bewahren, müßte man auch den Begriff der absoluten Allmacht beibehalten.
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III. Nur wenige bestreiten heute, daß die Schoah stattgefunden hat. Die Bemühungen zweier Generationen von Historikern, denen es gelungen ist, einen Großteil der inneren Vorgänge in NaziDeutschland aufzudecken, haben die Wahrnehmung dieser Geschehnisse für alle Zeit verändert. Die Schoah ist dadurch nicht nur Geschichte und ein Teil unseres Geschichtsverständnisses, sie hat auch zweifellos die Geschichte des jüdischen Volkes verändert. Die Frage, welche Jonas’ „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ aufwirft, lautet jedoch, ob die Schoah auch als ein theologisches Ereignis betrachtet werden kann. Kommt ihr auch theologische Bedeutung zu? Erklärt die Schoah die göttliche Absicht, oder ist sie durch sie zu erklären? Theologen sind gewiß weltliche Geschöpfe und werden von weltlichen Ereignissen ebenso überrascht wie Historiker. Doch macht das Faktum ihrer Existenz als Subjekte ihren Gegenstand historisch? R. G. Collingwood definiert historische Ereignisse in The Principles of History als in Gedanken verkörperte Handlungen. Er 179
II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff
Jacobson: Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz
verwendet den Begriff res gestae, um menschliches Handeln von Naturereignissen und vom Gottesgeschehen zu unterscheiden: „Traditionell sagen Historiker, die Geschichte vermittle Erkenntnisse über res gestae, die im Sinne menschlicher Taten verstanden wurden. Hinter dieser Formel verbirgt sich die Vorstellung, die Geschichtswissenschaft strebe nur insofern nach Erkenntnis der Ereignisse, als diese Handlungen die Rationalität verkörperten und zum Ausdruck brächten, die – gemäß einer parallelen Tradition – dem Menschen unter den Lebewesen auszeichne.“18 Collingwood ist sich mit den europäischen Naturwissenschaften hinsichtlich der Prämisse einig, daß sich die Menschen von der übrigen natürlichen Welt durch die Fähigkeit unterscheiden, der sie umgebenden Welt etwas hinzuzufügen, den Charakter ihrer Umwelt und Kultur grundsätzlich zu verändern: „Der Mensch“, schreibt er, „ist nicht nur animal, sondern animal rationale, und es geschieht kraft seiner Rationalität, daß er nicht nur ißt, sondern speist, nicht nur begattet, sondern heiratet, nicht nur stirbt, sondern auch begraben wird.“19 Die Fähigkeit, Gedanken in Handlungen zu fassen, bedeutet, sie mittels der Sprache auszudrücken – eine Gabe, die menschliches Handeln zusätzlich als in weltliche Ausdrucksformen übersetzte Gedanken auszeichnet. Gestae Dei werden auf Grund eines ähnlichen Prinzips erkannt. Während sich die Menschen dadurch von der Natur unterscheiden, daß sie ihre Geschichte durch Handlungen vorantreiben, die Gedanken verkörpern, stellt das Handeln Gottes den ungehinderten Ausdruck göttlichen Willens dar. So wie die Natur den res gestae ausgesetzt ist, ohne die aktive Fähigkeit zur Rücksprache und Wechselseitigkeit zu besitzen, vollziehen sich auch die gestae Dei unabhängig vom menschlichen Willen und Handeln. Wo sich die Handlungen Gottes auf menschliche Angelegenheiten auswirken oder durch menschliche Handlungsträger ausgeführt werden, betreten sie den Bereich der Geschichte und sind der Geschichte unterworfen. Und genau hier entsteht das Problem: Die Handlungen Gottes selbst unterliegen nicht menschlichem Denken, denn sie vollziehen sich entweder unabhängig von unserem Wissen, oder sie sind vollständig auf unser Verstehen begrenzt, wären dann aber nicht mehr heilig. Halten wir die Kategorie der res gestae und der gestae Dei um der Geschichte als Gegenstand
des Menschlichen und um der Theologie als der Erforschung des göttlichen Willens willen aufrecht, so müssen wir zwischen Geschichte und Theologie unterscheiden. Die Behauptung liegt nahe, daß die historische Hypothese der Theologie der Schoah sich nicht mit einem denkbaren Gottesbegriff in Einklang bringen läßt. An dieser wichtigen Wegmarke teilen sich die Wege der Geschichte und der Theologie. Theologen sind historische Wesen, die Hermeneutik der Theologie ist eminent historisch, doch nicht die Wissenschaft von Gott. Sind wir bereit, die Geschichte von der Theologie zu trennen und zu behaupten, daß die Denkbarkeit des Gottesbegriffs unmittelbar mit etwas Universalem zusammenhängt, so kann auch nicht von einem zeitlichen Gott die Rede sein. Mit Blick auf die Auswirkung der Schoah auf die jüdische Theologie gilt es dann zu fragen, ob das Geschehen von Auschwitz als andere Kategorie der Katastrophe gelten kann als die Zerstörung der jüdischen Theokratie und Souveränität im Jahre 70 u. Z. oder als die Vertreibung der Juden aus Spanien 1492. Waren dies für das jüdische Volk weniger zerstörerische und entmenschlichende Ereignisse? Wie könnten res gestae göttliche Vorsehung zur Wirkung bringen oder unsere Gotteserkenntnis grundsätzlich verändern? Von Gott zu reden heißt Kenntnis von einem nicht an die Zeit gebundenen Wesen zu suchen. Es ist daher offenkundig, daß sich Gottes Wahrnehmung des Leids nicht verändern kann. Aller Kummer und alles Leid müssen Gott auf dieselbe Weise betreffen. Während die Historiker die Anzahl der Züge und die Menge des Goldes berechnen – und jeder Gerechtigkeitsbegriff beharrt darauf, daß dies fortzusetzen ist, bis alle Täter zur Rechenschaft gezogen wurden –, bleibt Gott der Schoah gegenüber zwangsläufig gleichgültig. Die Gleichgültigkeit der göttlichen Welt gegenüber dem menschlichen Leid beruht auf der gleichen Problematik wie die Frage nach dem Gebet und der Erfüllung der Verpflichtungen. Gott steht beiden gleichgültig gegenüber. Wenn die zehn Gebote keine Vorschläge sind, so ist die göttliche Vorsehung auch nicht für Veränderungen offen: Unsere Welt ist die Erfüllung eines sich entfaltenden göttlichen Plans. Alles andere würde Gott unseren Launen und Wünschen unterwerfen. Der Einwand Martin
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II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff
Jacobson: Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz
Luthers gegen die Vorstellung eines Heils durch irdische Reue stellt zugleich ein Problem für die Idee der Verdammnis dar. Das Problem ist das der Theurgie: der Fähigkeit der Menschen, den göttlichen Plan durch ihr eigenes Handeln zu ergänzen. Die res gestae überholen die gestae Dei. Gott brauchte die Schoah nicht, so wie er weder die Inquisition noch die Zerstörung des Zweiten Tempels brauchte. War es der Zweck der Schoah, Gott aus dem Bereich des Handelns zu verdrängen und ihn durch die Epoche von Auschwitz zu ersetzen, so könnte man wagen zu behaupten, daß ihn das gesamte Unterfangen nicht beeindruckte. Ausgehend von einer allmächtigen Kraft konnte die Schoah ihn nicht zum Rückzug bewegen oder dazu, den umgekehrten Kurs einzuschlagen. Hätte der unbewegte Beweger beschlossen umzuziehen, so wäre er, wie einst Kafka bemerkte, in ein höheres Stockwerk gezogen, und dies hätte längst vor der Schoah stattgefunden. Das Hauptergebnis mit Blick auf die Schoah und das Judentum hat nichts mit Gott zu tun, da dieser nicht den Gesetzen und Bräuchen des Judentums unterliegt, sondern dem jüdischen Volk und seiner Theologie. Mit der Bedrohung der Existenz des jüdischen Volkes und der daraus folgenden Frage nach der fortdauernden Gültigkeit des Bundes hat die Theologie der Schoah ein wichtiges Thema neu aufgegriffen: die Zerstörung der jüdischen Theokratie. Das Wissen um den Vorgang der Vernichtung und der unkontrollierte Patriotismus im jüdischen Staat haben die Glaubensfrage durch andere Formen historischer Aktivität ersetzt. Die Theologie des Überlebens des jüdischen Volkes hat die Wissenschaft von Gott an Bedeutung überholt. Mit der Entstehung und der Entwicklung zweier Alternativen zum jüdischen Glauben – Patriotismus und Geschichte, Israel oder Auschwitz – sind wir Zeugen einer stetigen Reduzierung der jüdischen Theologie auf eine neue Religion im Dienste des Staates und einer komplexeren Form politischer Theologie geworden. Im Gegensatz zur Theologie der Schoah postuliert Hans Jonas’ Essay „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ keinen historischen oder politischen Ersatz. Allerdings setzt er den Gottesbegriff einem Bereich aus, in dem wir Auschwitz zu verstehen versuchen.
Hans Jonas gründet seinen Gottesbegriff auf eine lange Tradition historischen Einflusses auf die jüdische Theologie. Mit dem Leitmotiv des Essays, dem Mythos des Rückzuges, bringt er uns bemerkenswert nahe an die von der lurianischen Kabbala vertretene Theorie einer göttlichen Katastrophe. Eine Dreiteilung der göttlichen Attribute in Güte, Allmacht und Verstehbarkeit erweist sich als unvereinbar mit einem denkbaren Gottesbegriff. Jonas gibt der Güte und Verstehbarkeit den Vorzug vor der Allmacht, doch er ist nicht imstande, sich gegen die Vorstellung einer zweiten Macht im Himmel abzusichern. Es wird ziemlich deutlich, daß Jonas mit Hilfe einer sorgfältig ausgearbeiteten Analyse der göttlichen Attribute und der Anwendung des Mythos auf der Suche nach einer göttlichen Erklärung der Schoah ist, und zwar nicht – jedenfalls nicht allein – vom Standpunkt der Vernunft aus, sondern aus dem Inneren des Judentums heraus. Ein Mensch, der innerhalb des Judentums Antworten auf historische Erscheinungen sucht, mag ein Jude oder ein Philosoph sein, doch sein Gegenstand ist jüdische Philosophie.
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Anmerkungen
10 K. Vondung, „Eric Voegelin, the Crisis of Western Civilization, and the Apocalypse“, in: S. A. McKnight/G. L. Price (Hg.), International and Interdisciplinary Perspectives on Eric Voegelin, Columbia, MO 1997, S. 117–134. 11 E. Voegelin, Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966. 12 E. Voegelin, Order and History, Bd. 5: In Search of Order, Baton Rouge, La 1987. 13 R. Haardt, Gnosis: Character and Testimony, Leiden 1971, S. 1. 14 Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 62. 15 E. Voegelin, „Equivalences of Experience and Symbolization in History“, in: ders., Collected Works, Bd. 12: Collected Essay, 1966–1985, hg. von E. Sandoz, Baton Rouge, La 1990, S. 115–133. 16 H. Jonas, „Wandel und Bestand. Vom Grunde der Verstehbarkeit des Geschichtlichen“, in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 50–80, hier: S. 63f. 17 Vgl. D. J. Levy, „‚The Religion of Light’: On Mani and Manichaeism“, sowie, als Gegensatz, ders., „‚The Good Religion’: Reflections on the History and Fate of Zoroastrianism“, in: ders., The M e a s u r e o f M a n : I n c u r si on s i n P h il o s oph ic a l a nd P o li t ic a l Anthropology, St. Albans 1993, S. 170–206. 18 H. Jonas, Philosophical Essays. From Ancient Creed to Technological Man, Chicago/London 1974, S. XI. 19 H. Jonas, Augustin und das paulinische Freiheitsproblem, Göttingen 1930. 20 Vgl. dazu D. J. Levy, Hans Jonas. The Integrity of Thinking, Columbia, MO 2002 und R. Wolin, Heidegger’s Children: Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas, and Herbert Marcuse, Princeton, N.J. 2001, S. 101–133. 21 M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 199, zit. nach: Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 391. 22 Jonas, ebd., S. 287–344. 23 M. A. Williams, Rethinking „Gnosticism“: An Argument for Dismantling a Dubious Category, Princeton, N.J. 1996. 24 Vgl. Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 345–376. 25 Vgl. R. Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Darmstadt 51986, vor allem die letzten beiden Kapitel
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Anmerkungen
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über das urchristliche Bild der „Situation des Menschen in der Welt“ (S. 205–213) und über die urchristliche Vorstellung von der Erlösung (S. 213–228). Ebd., S. 211 und S. 207. Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 294. H. Jonas, „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, in: ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1963, S. 44–62, hier: S. 59. In diesem bemerkenswerten Essay bezieht sich das Zitat auf „eine Wahrheit […], die notwendig unerkennbar und sogar, in direkten Begriffen, unsagbar ist, dennoch aber durch Selbstbekundungen in unserer tiefsten Erfahrung unsere Fähigkeit in Anspruch nimmt, indirekt Rechenschaft von ihr zu geben in widerruflichen, anthropomorphen Bildern“ (ebd.). Obwohl sie in diesem Kontext auf die Frage nach der Unsterblichkeit bezogen ist, läßt sich diese Vorstellung eines Mythos, die Platons Idee eines „wahren Mythos“ ähnelt, mit Recht auch auf die kosmologische Spekulation in Materie, Geist und Schöpfung anwenden, in deren Gesamtsicht man ein Echo des stoischen Mythos von einem logos identifizieren kann, der sowohl die Struktur des Kosmos als auch die existentiell angemessene Form menschlichen Verhaltens prägt; vgl. ders., Materie, Geist und Schöpfung, Frankfurt a. M. 1988. Als kurze Darstellung seiner Position vgl. H. Jonas, „Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik“, in: ders., Philosophische Untersuchungen, S. 128–147.
Eric Jacobson
Hans Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz1 1 2
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Ich danke Christian Wiese für die sorgfältige Hilfe. Vgl. A. Marmorstein, The Old Rabbinic Doctrine of God, Bd. 1, Oxford 1927; G. Scholem, „Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala“, in: Judaica, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1984, S. 7–70. L. Wittgenstein, Werkausgabe. Bd. 5: Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung, Frankfurt a. M. 1984; W. Benjamin, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2/1, Frankfurt a. M. 1997, S. 140–157.
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Anmerkungen
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H. Jonas, „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“, in: ders. P h il o s oph isc h e U n t e r s u c hun ge n und m e t a ph ysisc h e Vermutungen, Frankfurt a. M. 1994. S. 190–208. Aus Jonas’ Sicht erscheint der deus absconditus als „unannehmbarer Begriff nach jüdischer Norm“ (S. 203). Der Gedanke von Gottes „verborgenem Antlitz“ ist jedoch zu einer zentralen Kategorie der Theologie der Schoah geworden. Interview mit H. Jonas, in: Herlinde Koelbl, Jüdische Portraits. Photographien und Interviews, Frankfurt a. M. 1998, S. 166–171, hier: S. 170f. Vgl. C. Wiese, Hans Jonas. „Zusammen Philosoph und Jude“, Frankfurt a. M. 2003. Vgl. G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Haupströmungen, Frankfurt a. M. 1980, S. 266–314. Gegen Ende von „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ (S. 206) bezieht sich Jonas ausdrücklich auf Scholem und seine Studie zur lurianischen Kabbala. Der lurianische Ursprung seines Mythos wird jedoch nicht offengelegt, wo er erstmals im Werk von Jonas auftaucht, vgl. H. Jonas, „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, in: ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1963, S. 44–62, bes. S. 55–58. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Ebd. Jonas, „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, S. 202. Vgl. ebd., S. 205. Ebd., S. 203. Ebd., S. 204. Ebd., S. 203. Ebd., S. 204. H. Jonas, „Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens. Erinnerungen an Rudolf Bultmann und Betrachtungen zum philosophischen Aspekt seinen Werkes“, in: O. Kaiser (Hg.), Gedenken an Rudolf Bultmann, Tübingen 1977, S. 41–70. hier: S. 59 R. G. Collingwood, The Principles of History, Oxford 1999, S. 70. Ebd., S. 46.
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Anmerkungen
Hans Hermann Henrix
Machtentsagung Gottes? Eine kritische Würdigung des Gottesverständnisses von Hans Jonas1 1
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Bei diesem Essay handelt es sich um eine überarbeitete Fassung eines früheren Artikels mit dem Titel: „Auschwitz und Gottes Selbstbegrenzung. Zum Gottesverständnis bei Hans Jonas“, in: Theologie der Gegenwart 32 (1989) S. 129–143. E. Wiesel, Die Nacht zu begraben, Elischa, Esslingen o. J., S. 93f. So nach E. Levinas, „Die Tora mehr zu lieben als Gott“ (1955), in: M. Brocke/H. Jochum (Hg.), Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust, München 1982, S. 213–217 (jetzt auch in anderer Übersetzung zugänglich in: E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt a. M. 1992, S. 109–113), der die vielleicht bedeutendste Interpretation des Textes bietet. Weitere Interpretationen: U. Bohn, „Thora in der Grenzsituation“, in: P. von der Osten-Sacken (Hg.), Treue zur Thora, Berlin 1977 (FS Günther Harder), S. 124–134; P. Lenhardt/P. von der Osten-Sacken, Rabbi Akiva, Berlin 1987, S. 332ff.; H. Luibl, „Wenn der Herr sein Gesicht von den Betenden abwendet. Zu Zwi Kolitz: ‚Jossel Rackower spricht zu Gott’“, in: Orientierung 52 (1988) S. 5–8. Der Text selbst ist mehrfach in deutscher Fassung veröffentlicht worden, u. a.: Almanach für Literatur und Theologie 2, Wuppertal 1986, S. 19–28; M. Stöhr (Hg.), Erinnern – nicht vergessen, München 1979, S. 107–118; P. von der Osten-Sacken (Hg.), Das Ostjudentum, Berlin 1981, S. 161–168; Judaica 39 (1983) S. 211–220; Z. Kolitz, Jossel Rackower spricht zu Gott, NeuIsenburg 1985. Vgl. aber auch den Versuch strophischer Nachdichtung von R. Brandstaetter, in: K. Wolff (Hg.), Hiob 1943. Ein Requiem für das Warschauer Getto, Berlin 1983, S. 274–276. E. L. Fackenheim, „Die gebietende Stimme von Auschwitz“ (1970), in: Brocke/Jochum, Wolkensäule, S. 73–100 (Übersetzung aus: ders., God’s Presence in History. Jewish Affirmations and Philosophical Reflections, New York 1970, S. 67–98). Fackenheim hat seine Position in seinen weiteren Werken wiederholt: Encounters between Judaism and Modern Philosophy, New York 1973; The Jewish Return to History, New York 1978; To Mend the World, New York 1982; Was ist Judentum? Eine Deutung für die Gegenwart, Berlin
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Christian Wiese und Eric Jacobson (Hg.) Weiterwohnlichkeit der Welt
Weiterwohnlichkeit der Welt Zur Aktualität von Hans Jonas Christian Wiese und Eric Jacobson (Hg.)
PHILO
Inhalt
Vorwort
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I. Der Philosoph im zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar. © 2003 Philo Verlagsgesellschaft mbH, Berlin Wien www.philo-verlag.de Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Nach Entwürfen von Gunter Rambow, Berlin Satz: U. Herrmann, Berlin Druck und Bindung: Nexus Druck, Frankfurt am Main Printed in Germany ISBN 3-8257-0
Christian Wiese Abschied vom deutschen Judentum. Zionismus und Kampf um die Würde im politischen Denken des frühen Hans Jonas
17
Vittorio Hösle Hans Jonas’ Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie
36
Konrad Paul Liessmann Verzweiflung und Verantwortung. Koinzidenz und Differenz im Denken von Hans Jonas und Günther Anders
55
Christian Wiese Zwiespältige Freundschaft: Reflexionen über Hans Jonas und Gershom Scholem
73
II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff nach Auschwitz Kurt Rudolph Hans Jonas und die Gnosisforschung aus heutiger Sicht
95
Joseph Dan Von Hans Jonas zu Umberto Eco: Der Mythos der Gnosis
110
Micha Brumlik Ressentiment – Über einige Motive in Hans Jonas’ frühem Gnosisbuch
129
David J. Levy Mythische Wahrheit und die Kunst der Wissenschaft. Hans Jonas und Eric Voegelin über Gnosis und das Unbehagen der Moderne
147
Eric Jacobson Hans Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz
168
Hans Hermann Henrix Machtentsagung Gottes? Eine kritische Würdigung des Gottesverständnis von Hans Jonas
186
Christian Wiese „Weltabenteuer Gottes“ und „Heiligkeit des Lebens“. Theologische Spekulation und ethische Reflexion in der Philosophie von Hans Jonas
204
Vorwort
III. Philosophie des Organischen und Ethik der Verantwortung Gereon Wolters Hans Jonas’ „philosophische Biologie“
227
Wolfgang Erich Müller Organismus und Verantwortung. Hans Jonas’ Begründung der Ethik in der Philosophie des Lebens
244
Emidio Spinelli Hans Jonas und das Problem der Freiheit
258
Gertrude Hirsch Hadorn Prinzip Verantwortung oder intergenerationelle Gerechtigkeit?. Zur Position von Hans Jonas in der zukunftsethischen Debatte
274
Michael Löwy Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ und Hans Jonas’ „Prinzip Verantwortung“
292
Dietrich Böhler/Horst Gronke In dubio pro responsabilitate. Die Orientierungskraft des Verantwortungsprinzips im ökologischen und bioethischen Diskurs
303
Anhang Anmerkungen
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Autorinnen und Autoren
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Am Anfang dieses Buches steht die Überzeugung, daß Hans Jonas, dessen Geburtstag sich 2003 zum hundertsten Mal jährt, nicht nur ein faszinierender Mensch war, in dessen Leben mit seinen dramatischen Erlebnissen und Brüchen sich die Erfahrungen, Krisen und Katastrophen wie die intellektuelle, politische und technologische Entwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts widerspiegeln. Vor allem aber war Jonas ein herausragender Philosoph, dessen Werk für die Bewältigung der komplexen politischen und ethischen Probleme unserer Zeit hochaktuell ist. Einem breiten Publikum ist er als Verfasser des berühmten ethischen Entwurfs Das Prinzip Verantwortung bekannt, das seit dem Aufbruch der ökologischen Bewegung Ende der siebziger Jahre vor allem in Deutschland einen enormen Einfluß ausgeübt hat. Noch heute zählt Jonas zu den wichtigsten Stimmen innerhalb der zukunftsethischen Debatten, die in den modernen Industriegesellschaften geführt werden. Damit ist seine Bedeutung jedoch längst noch nicht erschöpft. Auch den weit weniger bekannten Aspekten seiner Biographie und seines wissenschaftlichen Gesamtwerks, die für das Verständnis seiner Philosophie unerläßlich sind, kommt ein hohes Maß an Aktualität zu. Als in Deutschland geborener, 1933 in die Emigration nach Palästina vertriebener Jude, als Zionist, der als Soldat gegen Nazi-Deutschland kämpfte und dessen Mutter in Auschwitz ermordet wurde, ist er ein wichtiger Zeuge des von den Deutschen während der Nazi-Diktatur zerstörten deutschen und europäischen Judentums. Zugleich ist er ein bedeutender Interpret des deutsch-jüdischen intellektuellen Erbes, das er als Philosoph in seinen Werken und in seiner Wirksamkeit an der New School for Social Research in New York fortsetzte. Von so gegensätzlichen Lehrern wie Martin Heidegger und Rudolf Bultmann geprägt, hat Jonas in seinen frühen Werken eine meisterhafte 7
Gesamtschau der mythologischen Motive und Symbole, religiösexistentiellen Haltungen und ethischen Konzepte vorgelegt, die für das Phänomen der spätantiken Gnosis charakteristisch sind. Die gegenwartsbezogene philosophische Sprengkraft seiner Interpretation besteht dabei in der Entdeckung der Parallelen zwischen dem gnostischen Empfinden eines dualistischen, feindseligen Kosmos und jenem Phänomen, das er als „kosmischen Nihilismus“ des modernen Existentialismus bezeichnete: einer zu Weltangst, Resignation und amoralischer Weltflucht neigenden Überzeugung von der „Geworfenheit“ des Menschen in eine unfreundliche, befremdliche Wirklichkeit. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs setzte sich Jonas mit den Ursachen des moralischen wie intellektuellen Scheiterns seines Lehrers Heidegger auseinander, die er in eben jenem ethischen Nihilismus erblickte, und entwarf eine „Philosophie des Organischen“. Sie sollte es dem mit Geist und Freiheit begabten Menschen ermöglichen, sich als integraler Teil einer ganz und gar nicht seelenlosen, sondern sich selbst bejahenden, wertvollen Natur zu begreifen, für deren Integrität und Fortexistenz der Mensch verantwortlich ist. Auf der Ebene der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit individuellen Lebens – dem Altern und Sterben – begründet diese Haltung zudem eine für die medizinethischen Debatten der Gegenwart faszinierend natürliche, schlichte Bejahung der Sterblichkeit als eines Bestandteils organischer Existenz. Es ist kein Zufall, daß Jonas auf die philosophische Begründung der Ethik der Verantwortung, die auf das engste mit seiner Interpretation menschlichen Lebens zusammenhängt, in den achtziger Jahren eine ganze Reihe ethischer Konkretionen in so umstrittenen Bereichen wie der Humanbiologie und der Medizin folgen ließ und dort auch für die Gegenwart entscheidende ethische Leitlinien formulierte. Sie gehen von dem grundsätzlichen Recht des Fortschritts der Forschung aus, ziehen aber zugleich klare Grenzen, wobei der Maßstab stets in der Bewahrung der Würde der Person und der Integrität des Menschenbildes sowie in der Achtung vor den unantastbaren Grundphänomenen des Lebens – der Natürlichkeit von Geborenwerden und Sterben – besteht.
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Als Philosoph sah sich Jonas in erster Linie der Vernunft verpflichtet und wollte eine universal plausible logisch-vernünftige Zukunftsethik entwickeln, die auf Strategien der Demut, des Verzichts, der Selbstbegrenzung und der Ehrfurcht vor dem Leben zielte. Dennoch reflektierte er in diesem Zusammenhang auch über die ethische Relevanz der jüdischen und christlichen Tradition der Geschöpflichkeit und Gottesebenbildlichkeit menschlichen Lebens und brachte seine Verantwortungsethik mit der Kategorie der „Heiligkeit des Lebens“ ins Gespräch. In allen Phasen seines Werkes taucht zudem ein geheimes Thema immer wieder auf, das Jonas in seinem Spätwerk als „metaphysische Vermutungen“ bezeichnete: ein unablässiges denkerisches Bemühen um die Frage nach Gott. Auf Grund der neuzeitlichen Infragestellung aller Metaphysik und der Erfahrung von Auschwitz, die aus seiner Sicht jegliche traditionelle Rede von Gott ins Undenkbare verbannte, erforderte insbesondere das Problem der Theodizee eine ganz neue, radikale Interpretation des Gottesbegriffs. Philosophie und Religion wies Jonas zuletzt die Aufgabe zu, sich unbeirrt von allen Zweifeln an der Wirksamkeit ihrer ethischen Maximen in der eigendynamischen modernen Industriegesellschaft dem Verhängnis menschlicher Machtentfaltung zu stellen. Zu wissen, daß die Menschheit für alle Zukunft im Schatten drohender Folgen des eigenen technologischen Handelns wird leben müssen, ohne dabei dem Fatalismus zu verfallen – diese Herausforderung gehört zu dem bleibenden Vermächtnis des Philosophen. In seiner mit „Technik, Freiheit und Pflicht“ überschriebenen Rede, die er anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1987 hielt, brachte er seine Überzeugung von der Sinnhaftigkeit des zerbrechlichen menschlichen Lebens und sein denkbar aktuelles Plädoyer für eine nüchterne Hoffnung und für ein verantwortliches Handeln in Formulierungen zur Sprache, die auch den Titel des vorliegenden Buches inspiriert haben: „Sich des Schattens bewußt sein aber, wie wir es jetzt eben werden, wird zum paradoxen Lichtblick der Hoffnung: Er läßt die Stimme der Verantwortung nicht verstummen. Dies Licht leuchtet nicht wie das der Utopie, aber seine Warnung erhellt unsern Weg – zusammen mit dem Glauben an Freiheit und Vernunft. So kommt am Ende doch das Prinzip Verantwortung 9
mit dem Prinzip Hoffnung zusammen – nicht mehr die überschwengliche Hoffnung auf ein irdisches Paradies, aber die bescheidenere auf eine Weiterwohnlichkeit der Welt und ein menschenwürdiges Fortleben unserer Gattung auf dem ihr anvertrauten, gewiß nicht armseligen, aber doch beschränkten Erbe. Auf diese Karte möchte ich setzen.“ Der Aufbau dieses Bandes konzentriert den Blick auf drei wesentliche Aspekte, die den inneren Zusammenhang von Biographie, zeitgeschichtlichen Umständen und den differierenden Strängen des wissenschaftlichen Œuvres von Hans Jonas sichtbar machen. Der erste Teil befaßt sich zunächst mit Jonas’ Verwurzelung im deutsch-jüdischen Milieu sowie überhaupt im deutschen kulturellen wie geistesgeschichtlichen Kontext vor der nationalsozialistischen „Machtergreifung“. Er eröffnet sodann eine vergleichende Perspektive auf zwei ebenfalls aus dem deutschen Judentum stammende wichtige Weggefährten, die sich – auf dem Hintergrund der Schoah – zeitlebens mit ähnlichen religionsgeschichtlichen (Gershom Scholem) und ethischen (Günther Anders) Fragestellungen auseinandergesetzt haben, aber zum Teil zu durchaus unterschiedlichen Schlußfolgerungen gelangten. Der zweite Teil widmet sich der Bedeutung und Aktualität der religionsgeschichtlichen und -philosophischen Arbeiten von Hans Jonas. Aus der Perspektive eines in den vergangenen Jahrzehnten durch den Fortschritt der Forschung stark differenzierten Verständnisses der spätantiken Religionsgeschichte erfährt Jonas’ philosophische Gnosisdeutung Würdigung und Kritik; sie wird auf dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit Heidegger analysiert und mit anderen zeitgenössischen politisch-philosophischen Interpretationen des Phänomens verglichen. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Abschnitts beleuchtet aus unterschiedlichen Perspektiven Jonas’ Reflexionen über den „Gottesbegriff nach Auschwitz“, die in den sechziger Jahren – zeitgleich mit der Auseinandersetzung über den Zusammenhang zwischen Gnosis und Existentialismus – einsetzten und mit den Arbeiten über die Gnosis auf vielfältige Weise verbunden sind: nicht allein durch das Interesse an Religion überhaupt, sondern vor allem auch durch den für den Philosophen charakteristischen antinihilistischen Impuls, durch das Aufgreifen einzelner 10
gnostischer Motive und die Verwendung der Form des philosophischen Mythos, die ihm auf Grund seiner religionsgeschichtlichen Arbeiten so vertraut war. Jonas’ Nachdenken über einen Gott, der sich im Laufe der Evolution um der Freiheit seiner „Schöpfung“ willen seiner Allmacht entäußerte und dem Handeln der Menschen auslieferte, wird im Kontext jüdischer Tradition und jüdischer Religionsphilosophie nach Auschwitz kritisch beleuchtet und auf den Zusammenhang mit seiner philosophischen Ethik hin befragt. Im Zentrum des dritten Teils steht die Frage nach der Begründung, Bedeutung und zukunftsethischen Relevanz von Jonas’ Entwurf Das Prinzip Verantwortung. Auf dem Hintergrund wissenschaftsgeschichtlicher Überlegungen zu seiner „Philosophie des Organischen“, der Interpretation ihrer Funktion für die Begründung der Ethik der Verantwortung und eines Blicks auf Jonas’ Begriff der Freiheit wird dessen nüchterne, antiutopische und auf die Bewahrung der Zukunftschancen kommender Generationen zielende philosophische Ethik mit dem utopischen Entwurf Ernst Blochs und alternativen Entwürfen intergenerationeller Gerechtigkeit in der demokratischen Massengesellschaft konfrontiert. Am Schluß stehen Reflexionen über die orientierende Kraft des „Prinzips Verantwortung“ für die konkreten ökologischen, bioethischen und sozialethischen Debatten der Gegenwart. Ziel dieses Bandes ist es, die so unterschiedlichen und doch unauflöslich miteinander verbundenen Facetten des Werkes von Hans Jonas zusammenzuschauen und auf diese Weise ein interdisziplinäres Gespräch zwischen Wissenschaftsgeschichte, Philosophie, Ethik, Geschichtswissenschaft, Religionsgeschichte, Theologie und Judaistik über die intellektuellen Herausforderungen anzuregen, die sein Denken auch für das einundzwanzigste Jahrhundert in sich birgt. Dabei vermitteln die ganz unterschiedlichen Perspektiven auf Jonas’ Denken, die sich in den einzelnen Beiträgen widerspiegeln, nicht nur einen Eindruck von dessen Reichtum und Vielfalt. Sie lassen zugleich erkennen, daß auch in Zukunft nicht mit einer einlinigen Rezeption zu rechnen ist. Die in einzelnen Beiträgen aufscheinenden konträren Sichtweisen – ob nun mit Blick auf die religionsgeschichtliche Bewertung des Phänomens der Gnosis, die Bedeutung Heideggers für Jonas’ 11
Philosophie, die Tragfähigkeit des „Prinzips Verantwortung“ für die konkreten gesellschaftlichen und ethischen Probleme der Gegenwart oder die Relevanz jüdischer Existenz im zwanzigsten Jahrhundert und jüdischer Traditionselemente für das Verständnis der ethischen wie religionsphilosophischen Reflexion des Philosophen – widerstreben dem Versuch, eine verbindliche Lesart zu etablieren. Sie machen das Buch vielmehr zur Grundlage einer offenen, fruchtbaren Diskussion über Jonas’ philosophischethisches Vermächtnis und die wichtigen Themen, mit denen er sich in seinen Arbeiten auseinandersetzte. Ungeachtet unterschiedlicher Perspektiven und Bewertungen gehen jedoch alle Beiträge von der Prämisse aus, daß Jonas’ Thesen, Anregungen und Provokationen von solch drängender Aktualität sind, daß es sich lohnt, sie nicht nur im inneren Kreis der Fachwissenschaft zu diskutieren, sondern einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen und ihnen zu weiterer Wirksamkeit zu verhelfen. Wenn es diesem Buch gelänge, erneut auf Hans Jonas aufmerksam zu machen, zur Lektüre seines Werkes anzuregen und Interesse für die damit angesprochenen historischen, gesellschaftspolitischen und ethischen Diskurse zu wecken, wäre jedenfalls ein wichtiger Teil seiner Zielsetzung erfüllt. Die Entstehung des Bandes wäre undenkbar gewesen ohne die spontane Zusage der darin versammelten Autorinnen und Autoren, in ungewöhnlich kurzer Zeit vielfach neue, originelle Beiträge zu verfassen und in diesem Kontext zur Diskussion zu stellen. Ihnen ist daher in erster Linie herzlich zu danken. Dank gilt in nicht geringerem Maße Axel Rütters und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Philo-Verlags, die sich ebenso spontan wie entschlossen des Projekts angenommen und für sein rechtzeitiges Erscheinen eingesetzt haben. Dank gebührt nicht zuletzt Stephan Lahrem für sein engagiertes, zuverlässiges und professionelles Lektorat, das die Zusammenarbeit an diesem Buch zu einem echten Vergnügen gemacht hat. Für die Herausgeber Christian Wiese
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I. Der Philosoph im zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext
Christian Wiese
Abschied vom deutschen Judentum. Zionismus und Kampf um die Würde im politischen Denken des frühen Hans Jonas 1903 in Mönchengladbach im Milieu des liberalen jüdischen Bürgertums geboren, gehörte Hans Jonas zur Generation jener jungen „postassimilatorischen“ Juden, die in der Zeit kurz vor oder nach dem Ersten Weltkrieg trotz selbstverständlicher sozialer und kultureller Integration in Deutschland neu mit ihrer jüdischen Identität konfrontiert wurden und aus dem Empfinden der bleibenden Differenz zur nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft heraus so etwas wie eine religiös-kulturelle oder nationale „jüdische Renaissance“ verkörperten.1 Er wuchs in einem Umfeld auf, in dem das Jüdische weniger in der Erfahrung alltäglicher religiöser Praxis als vielmehr in dem Willen zur Bewahrung des Judentums und in einem kollektiven Zusammengehörigkeitsgefühl zum Ausdruck kam. Als Jugendlicher wurde er Zeuge der patriotischen Begeisterung der jüdischen Gemeinschaft zu Beginn des Ersten Weltkrieges, die eng mit der Hoffnung verbunden war, der Beweis der Zugehörigkeit zur „Schicksalsgemeinschaft“ des deutschen Volkes werde zur endgültigen Anerkennung der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden beitragen. Wenig später erlebte er jedoch die tiefe Desillusionierung, die mit der antisemitisch motivierten „Judenzählung“ 1916 und der präzedenzlosen Welle antijüdischer Verleumdung und Gewalt im Übergang vom wilhelminischen Kaiserreich zur Weimarer Republik einherging, und wandte sich daher schon früh zionistischen Überzeugungen zu. Die von heftigen ideologischen Streitigkeiten begleitete Abgrenzung vom Vater, dem Vorsitzenden des örtlichen Zweiges des „assimilatorischen“ Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.), in dem antizionistische Polemik ebenso 15
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selbstverständlich war wie die „Abwehrarbeit“ gegen den Antisemitismus, mag dabei eine gewisse Rolle gespielt haben.2 Prägend für das politische Selbstverständnis des jungen Hans Jonas war jedoch vor allem das frühzeitig ausgeprägte „Bewußtsein eines Außenseitertums“, die Erfahrung, trotz aller Integration eine stets von judenfeindlicher Entlarvung bedrohte „Sonderexistenz“ zu führen: „Jede Spur von Antisemitismus“, so stellte er rückblickend fest, „bestärkte mich darin, daß wir Fremde sind.“3 Aus dieser Zeit jugendlicher Identifikation mit nationaljüdischen Ideen rührte das tiefverwurzelte Empfinden für die Gefährdung der Würde der jüdischen Bürger her, das Jonas’ politische Wahrnehmung schärfte. Im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Juden vertraute er nicht darauf, daß es sich bei dem zu Beginn der Weimarer Republik aufbrandenden Judenhaß um eine vorübergehende Erscheinung handelte, sondern teilte die Auffassung Theodor Herzls oder Leon Pinskers, derzufolge der Antisemitismus nur durch „Selbstemanzipation“, die stolze Bejahung jüdischer Identität, und letztlich durch die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina überwunden werden könne. Als Schüler hegte Jonas in dieser ideologischen Aufbruchszeit „dreams of glory“, wie er später nicht ohne Selbstironie bekannte – Heldenträume, die ihm eine herausragende Rolle bei der Befreiung der Juden aus dem immer stärker von rechtsradikalen Bewegungen bedrohten Deutschland einräumten: „In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als in Deutschland Verbände wie der Stahlhelm und die Nationalsozialisten aufkamen (die man zu Beginn noch nicht so sehr ernst nahm), aber auch die aggressiv antisemitischen sogenannten Freikorps, da habe ich mir schon gedacht, daß wir Juden in Deutschland direkt physischen Attacken ausgesetzt sein würden. Ich habe mir dann vorgestellt, wie wir uns, im Schießen ausgebildet und mit Waffen versehen, in unseren Häusern verschanzen und dem bewaffneten Angriff dieser Judenfeinde Widerstand leisten würden. Das war ein Traum, aber jedenfalls leistete man Widerstand: ‚Nur nicht einfach wehrlos sein!’ Gleichzeitig ging es darum, sich auf diese Weise Achtung zu erringen. Als sich dann mein Zionismus entwickelte, war mir sofort klar, daß diese Strategie bestenfalls eine vorübergehende Sache sei
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und daß es in Wirklichkeit darauf ankam, nach Palästina auszuwandern. Ich stellte mir vor – und das war mein letzter dream of glory, denn dann wurde ich genügend Realist, um auf solche Träume zu verzichten –, daß ich mich an der Spitze einer bewaffneten jüdischen Armee, die sich in den verschiedenen Gegenden der Galut gebildet hatte, begleitet von Frauen und Kindern, durch ein feindliches Europa auf dem Landweg über den Bosporus durch Kleinasien bis nach Palästina durchschlagen würde. Ich sah mich in diesem Traum als Heerführer dieses Restes der jüdischen Verzweifelten, die sich nach schrecklichen Verfolgungen selbst retteten und nun im Land ihrer Väter ankamen, und ich war einigermaßen erstaunt, als ich Jahre später las, daß das auch der Jugendtraum von Ferdinand Lassalle war! Genau derselbe, daß er als der Führer eines bewaffneten jüdischen Zuges Palästina für einen jüdischen Staat erobern würde.4 Ebenso wie ich erfreulich erstaunt war, als ich viel später, nämlich erst vor wenigen Jahren, las, daß der Jugendheld von Sigmund Freud Hannibal war,5 und zwar aus demselben Grund, aus dem Hannibal in meiner Schulzeit auch mein großer Geschichtsheld war – der große semitische Feldherr, der es den ‚Ariern’ aufs Dach gegeben hatte, der gezeigt hatte, daß man mit den ‚Semiten’ nicht einfach so umspringen kann.“6
In die Zeit seiner Hinwendung zum Zionismus und der Aktivitäten in der jüdischen Jugendbewegung, in der „der Geist Martin Bubers mächtig wehte“,7 begann sich Jonas ausgiebig mit der jüdischen Tradition zu befassen. Was seine akademische Ausbildung betrifft, so gewann allerdings sein Interesse an der Philosophie die Oberhand über seine judaistisch-theologischen Neigungen. 1921 studierte er zunächst in Freiburg beim berühmten Phänomenologen Edmund Husserl, der – als konvertierter Jude und nationaldeutscher Professor – Jonas’ zionistischen Aktivitäten mit äußerster Skepsis begegnete,8 und beim jungen Privatdozenten Martin Heidegger. Wenig später ging Jonas nach Berlin, um sich neben der Philosophie und Religionsgeschichte an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums auch dem Studium der jüdischen Geschichte und Tradition zu widmen. In dieser Zeit kam er intensiver mit der zionistischen Studentenbewegung in Berührung und dachte – tief beeindruckt von Martin Bubers 17
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Diagnose der Zwiespältigkeit jüdischer Existenz in der Diaspora und seinem Plädoyer für die Bewußtwerdung der geistigen und ethischen Werte des jüdischen Volkes – verstärkt darüber nach, sich auf eine Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Politische Stellungnahmen zur zionistischen Ideologie und Praxis aus Jonas’ Feder liegen aus dieser Zeit nicht vor, doch sein Aufsatz über „Die Idee der Zerstreuung und Wiedersammlung bei den Propheten“, der 1922 in der Zeitschrift Der Jüdische Student erschien, gestattet zumindest einen Blick auf die politischen Implikationen seiner zionistisch inspirierten Lektüre der Bibel. Hinter seiner religionsgeschichtlichen Analyse der Entwicklung des prophetischen Motivs des Exils als Strafe für die Versündigung des Volkes Israel und der nachexilischen Hoffnung auf eine Rückkehr ins Land der Verheißung scheint unverkennbar das Leiden des modernen Zionisten an der „Nacht der Galut“ durch. Mit „einem seltsamen Gefühl“ las Jonas „jene düsteren Verkündigungen eines in der Geschichte einzig dastehenden Strafaktes der beleidigten Gottheit gegen ihr abtrünniges Volk – der Entwurzelung aus der Heimaterde unter die Völker. Erkennen wir doch in diesen prophetischen Drohungen zutiefst die beispiellose Tragik unseres eigenen Völkerdaseins wieder, damals erschaut in visionärer Zukunftsschau und gefordert von dem Glauben an die in der Geschichte sich auswirkende sittliche Weltordnung, heute seit mehr als zwei Jahrtausenden Wirklichkeit und dauernde Gegenwart.“9 Zwar betonte Jonas, wie sehr das kollektive Gedächtnis des jüdischen Volkes davon bestimmt sei, daß das Wohnen im gelobten Land ein Geschenk des Ewigen und keine historische Selbstverständlichkeit sei. Er wandte sich aber zugleich eindeutig gegen die seit dem neunzehnten Jahrhundert typische jüdischliberale Verabschiedung der religiösen Hoffnung auf eine Rückkehr nach Zion und stellte der „moderne[n] liberal-jüdische[n] Missionsidee“, derzufolge gerade das Exil dem Judentum die Möglichkeit einer universal wirksamen Verbreitung des prophetischen „ethischen Monotheismus“ eröffnet habe, die Überzeugung der Propheten von der zukünftigen Wiederherstellung des jüdischen Volkes entgegen: „So sehr sie [die Juden] sich auch mit ihrem Gott identifizierten, so war doch die Vorstellung, daß ihr Volk auf ewig als Zerrbild der Nationen zwischen Leben
und Sterben hangen sollte, für sie schlechthin unerträglich.“10 Ausdrücklich spielte er nicht nur auf die von Zionisten nicht selten aufgenommene Ahasver-Metaphorik an, um das Exil im Gegensatz zur liberalen Interpretation als Ort uneigentlicher, „ungesunder“ jüdischer Existenz zu beschreiben, sondern setzte die prophetischen Visionen vom Ende des Exils auch in Beziehung zu Theodor Herzls Programm der Schaffung eines „Judenstaates“ und postulierte damit die Notwendigkeit, in der gegenwärtigen Situation der Steigerung des europäischen Antisemitismus die Verwirklichung der religiösen Zionshoffnung in die eigenen Hände zu nehmen.11 Nachdem Jonas sein Studium für kurze Zeit unterbrochen hatte, um im Rahmen der Hachschara-Organisation, die jungen Zionisten eine landwirtschaftliche Ausbildung zur Vorbereitung auf die Einwanderung nach Palästina vermittelte, in Wolfenbüttel in einem bäuerlichen Betrieb zu arbeiten, entfaltete sich sein weiterer intellektueller Werdegang scheinbar unabhängig von seinen zionistischen Ambitionen in der fruchtbaren Atmosphäre der Marburger Universität. Hier begegnete er Hannah Arendt und einem Kreis jüdischer Studierender, der ihm intellektuell anregend, aber politisch auf Grund der dort herrschenden apolitischen Begeisterung für Heideggers Philosophie und der Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Krisen der Weimarer Republik äußerst zwiespältig erschien. Dabei interessierte sich Jonas selbst auch nicht für die politische Gestaltung der deutschen Gesellschaft, sondern konzentrierte sich angesichts des Ende der zwanziger Jahre stetig wachsenden Antisemitismus darauf, „daß die jüdische Galut-Existenz – menschlich, psychologisch und politisch – auf die Dauer unhaltbar war und mit Hilfe der zionistischen Lösung überwunden werden mußte.“12 1933 gehörte Jonas folgerichtig zu jenen, die unmittelbar nach Hitlers „Machtergreifung“ das Ende des deutschen Judentums gekommen sahen und daraus die Konsequenz der Emigration zogen. Später hat er diese Überzeugung und die Neigung der deutschen Zionisten, bereits die ersten Entrechtungsmaßnahmen als unwiderrufliche Aufhebung der Integration zu deuten, in einem heftigen Streit mit Hannah Arendt verteidigt.13 Als 1934 Jonas’ von Martin Heidegger und Rudolf Bultmann inspiriertes frühes
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Meisterwerk Gnosis und spätantiker Geist erschien, hatte er Nazi-Deutschland unter dem Eindruck des antijüdischen Boykotts vom 1. April 1933 längst verlassen, da er zu der Auffassung gelangt war, er könne in einem Land, in dem Juden ihrer Bürgerund Menschenrechte beraubt würden, nicht bleiben, ohne seine Würde zu verlieren. Nachdem er zunächst nach London gezogen war, gelangte er 1935 nach Jerusalem, wo er in die Welt der deutsch-jüdischen Emigranten und der Hebräischen Universität eintauchte. Die Gefühle, die ihn bei seinem Fortgang aus Deutschland erfüllten und seine Entscheidungen in den kommenden Jahren bestimmen sollten, sind in einer Passage seiner Erinnerungen eindrucksvoll beschrieben:
sein der Würde, die er sich als Jude auf keinen Fall nehmen lassen wollte. Diese von Stolz auf sein Judesein und von tiefer Verletzung durch den Antisemitismus bestimmte Haltung und die Begegnung mit den zionistischen Pionieren in Palästina, deren Leistungen man, wie er rückschauend schrieb, „dieser ganzen schmachvollen Judenverleumdung, an die man vom europäischen Antisemitismus gewöhnt war und die ihren Höhepunkt in der Untermenschentheorie der Nazis fand, getrost entgegenstellen konnte“,15 sollten mehr als ein Jahrzehnt seines Lebens existentiell prägen. Aus dem Privatgelehrten, der sich darauf eingestellt hatte, in Deutschland seine religionsgeschichtlichen Studien zur Gnosis fortzusetzen, wurde ein homo politicus, der weit über das bei vielen anderen Zionisten erkennbare persönliche Engagement hinaus für die Sache Palästinas und für die Rettung der Juden Europas aus der Hand der Nazis eintrat und dafür seine akademischen Ambitionen aufs Spiel setzte, und ein Philosoph, der in Auseinandersetzung mit Krieg, Tod und Vernichtung ganz neu über das Leben nachzudenken begann. Wie sehr Jonas bereits vor dem Zweiten Weltkrieg vom Ende des deutschen Judentums überzeugt war und wie sehr ihn die Verfolgungen in Nazi-Deutschland erschütterten, zeigt ein Radiovortrag, den er 1938 in Jerusalem im Gedenken an seinen soeben verstorbenen Lehrer Edmund Husserl hielt. Er begann mit folgenden charakteristischen Worten:
„An den Tag, als ich Deutschland verließ, erinnere ich mich genau. Es war ein wunderschöner Spätsommertag Ende August, und meine Eltern und ich gingen in unserem Garten auf und ab […]. Bis dahin war keine Träne über alle Geschehnisse vergossen worden, auch nicht über den Beschluß der Auswanderung, aber als es dann soweit war und die letzte halbe Stunde, die letzten zehn Minuten anbrachen, da fingen wir schrecklich an zu weinen. Und ich tat einen heimlichen Schwur, ein Gelöbnis: Nie wiederzukehren, es sei denn als Soldat einer erobernden Armee. Ich habe bereits erwähnt, daß meiner Phantasie ein gewisser militaristischer Zug zu eigen ist, und ich meinte, Juden könnten, gerade weil sie als Weichlinge, Feiglinge und Schwächlinge galten, Ehrenbeleidigungen überhaupt nur mit Blut abwaschen. Und hier – ganz abgesehen von der Bedrohung unserer ökonomischen Existenz, die der Judenboykott ja klar signalisierte, und von der drohenden Ghettoisierung, auf die die Ereignisse hindeuteten – erfaßte mich das Grundgefühl, daß man meine Ehre beleidigt hatte, daß man durch die Absprechung unserer Bürgerrechte und die anderen rechtlichen Schikanen, die wir Juden nun mehr und mehr von Staats wegen erfuhren, unsere Ehre als Menschen verletzte. Ich hatte instinktiv das Gefühl, das könne nur mit der Waffe in der Hand wieder ausgeglichen werden.“14
Ob Jonas’ jugendliche „dreams of glory“, die entschlossene Emigration 1933 oder das Bewußtsein eines zwangsläufig bevorstehenden Krieges – stets stand dahinter ein empfindsames Bewußt20
„Anfang Mai starb Edmund Husserl, einer der Großen der Philosophie unserer Zeit. Er starb in Freiburg, an dessen Universität er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1929 als Haupt einer philosophischen Schule gelehrt und geforscht hat, zu dem die Schüler strömten und von der ein tiefreichender Einfluß auf das philosophische Leben Deutschlands ausging. Er hat eine Generation im Denken erzogen, er hat den Ruhm gekannt und starb vereinsamt in einer verwandelten Umwelt, die ihm nicht einmal mehr Nachrufe widmet. Gegenüber diesem Schweigen im Lande seines Wirkens ist es eine Ehrenpflicht für uns, seiner hier zu gedenken. Er selbst, der das Judentum in jungen Jahren verlassen hatte, ein deutscher Professor war, sich ganz und gar als Diener der europäischen Wissenschaft, als Sachwalter des abendländischen Kulturerbes fühlte, hätte gewiß nie daran gedacht, daß in Jerusalem getan würde, was in Freiburg unter-
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lassen wird. Die Tatsache, daß heute ein Schüler, der vor Jahren zu seinen Füßen gesessen hat, vom Jerusalemer Sender in hebräischer Sprache zu seinem Gedenken sprechen darf, ist für sich selbst ein Symbol für unsere Zeit.“16
Das Leiden an der Verfemung, Entrechtung und Verfolgung der deutschen Juden, die Jonas in der öffentlichen Ächtung Husserls exemplarisch in ihrer ganzen Härte zum Ausdruck kommen sah, verschärfte sich noch in den Jahren des Zweiten Weltkrieges, die für ihn ganz im Zeichen des Kampfes gegen den Nationalsozialismus standen. Unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Polen meldete sich der Philosoph freiwillig für den Dienst in der britischen Armee, um gegen die Nazis zu kämpfen. Am 7. September 1939 schrieb er an die Leitung der britischen Streitkräfte in Palästina: „In view of the fact that the British Empire is now engaged in a war against Nazi Germany which is bound to last – to quote the words of the Prime Minister – ‚till Hitlerism is destroyed’, as a Palestinian and former German Jew I am eager to take up arms against the enemy of my people and not only to assist the British Forces in Palestine but to fight as a soldier on the Western front in Europe. I should be grateful to you if you would let me know where I am to enlist for military training.“17 Jonas’ politische Beurteilung der Lage zu Beginn des Zweiten Weltkrieges und die Gefühle, mit denen er das Geschehen in Europa von ferne beobachtete, kommen auf unvergleichliche Weise in einem bewegenden, hellsichtigen Dokument aus diesen Tagen der ersten Kampfhandlungen zur Sprache, in dem er die jüdische Jugend in Palästina aufrief, sich aktiv – und zwar in einer eigenen jüdischen Armee! – an der militärischen Bekämpfung Deutschlands zu beteiligen. Der Text mit dem bezeichnenden Titel „Unsere Teilnahme an diesem Kriege. Ein Wort an jüdische Männer“18 zeugt von der Leidenschaft, mit der Jonas für die vom Tod bedrohten Juden in Europa eintrat, dem Entsetzen, das ihm die Drohung einer weiteren Expansion Hitler-Deutschlands einflößte, und der Entschiedenheit, mit der er ganz selbstverständlich die Verantwortung der bis dahin vom Zugriff der Nazis verschonten Juden in Palästina für das Schicksal des gesamten jüdischen Volkes einforderte. Er beginnt mit den Worten: 22
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„Dies ist unsere Stunde, dies ist unser Krieg. Es ist die Stunde, auf die wir mit Verzweiflung und Hoffnung im Herzen diese tödlichen Jahre gewartet haben: die Stunde, da es uns vergönnt sein würde, nach dem ohnmächtigen Erdulden jeder Schmach und jedes Unrechts, jeder physischen Beraubung und moralischen Schändung unseres Volkes, endlich unserem Todfeind Auge in Auge, mit der Waffe in der Hand zu begegnen; Genugtuung zu fordern; bei der großen Abrechnung unsere Rechnung, die die erste war, mit gleichzustellen; und an der Niederwerfung des Weltfeindes, der zuerst der unsere war und es bis zuletzt sein wird, aktiv mitzuwirken. Dies ist der Krieg, durch den allein dies Übel wieder aus der Welt geschafft werden kann; ohne den es fortgewuchert wäre ohne Maß und Grenze, unsere Vernichtung in seiner Spur: darum ist es unser Krieg. Wir haben ein Erstlingsrecht an ihm und eine Erstlingspflicht. Wir haben ihn mitzukämpfen, da er für uns mit gekämpft wird. Wir haben ihn in unserm Namen, als Juden, mitzuführen, da sein Ergebnis unsern Namen wiederherstellen soll. Unsere Opferbereitschaft in ihm darf nicht geringer sein als die der Söhne derjenigen Staaten, die jetzt dem Hitlerismus den Krieg angesagt haben. Individuelle Würde, nationale Ehre und politische Überlegung gebieten gleicherweise unsere volle Teilnahme an diesem Krieg. Sie ist uns Pflicht und muß einem Manne, der diesen Namen verdient, Bedürfnis sein.“19
Die Entstehungsgeschichte und die politischen Hintergründe dieses einzigartigen Textes, der im Kontext der bei Ausbruch des Krieges innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Palästina entbrannten Diskussion mit Blick auf die Stellung zum Krieg in Europa zu verstehen ist, sind an anderer Stelle beleuchtet worden.20 Seine Wirkung blieb, wie Jonas selbstkritisch eingestand, mehr als begrenzt, da er in deutscher Sprache verfaßt war und somit wenig Verbreitung fand. Zudem handelte es sich letztlich um eine private Initiative, die aus der Sicht der zionistischen Führung zunächst sogar im Gegensatz zu den Sicherheitsinteressen der jüdischen Gemeinschaft in Palästina stand. Auch die Vertreter Großbritanniens und Frankreichs standen der Idee einer eigenständigen Jüdischen Legion zunächst völlig ablehnend gegenüber. Erst 1944 entstand – dank der Unterstützung Winston Churchills – offiziell die Jewish Brigade Group, die schließlich als eigenständige 23
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Kampftruppe der britischen Armee im östlichen Mittelmeer, in Nordafrika und in Italien eingesetzt wurde.21 Ungeachtet der Wirkungslosigkeit des Aufrufes von Hans Jonas handelt es sich um ein faszinierendes Dokument, das persönliche Leidenschaft mit einer außergewöhnlichen politischen Klarheit verbindet. Der Text bringt exemplarisch die tiefe Verletzung der noch rechtzeitig nach Palästina entkommenen deutschjüdischen Emigranten angesichts der Entwürdigung des deutschen Judentums durch Entrechtung und Terror sowie sein ohnmächtiges Ausgeliefertsein an den Vernichtungswillen der Nazis zur Sprache. Dieser Ohnmacht setzt Jonas die Wirklichkeit des Zionismus entgegen, der „das Ghettovolk zur Nation“ gemacht, es „als Subjekt in die Völkerarena geführt“ und so „zum Wagnis selbsthandelnder geschichtlicher Existenz verpflichtet“ habe.22 Es sei deshalb die ureigenste Pflicht der Juden Palästinas, für die Rettung der europäischen Juden zu kämpfen. Jonas’ Wissen darum, daß das Judentum als Gegenprinzip und „metaphysischer Feind“ des Nationalsozialismus bei einem deutschen Sieg dem Untergang geweiht war,23 spricht für die Illusionslosigkeit, mit der er nicht nur bis dahin die Nazi-Verfolgung wahrgenommen hatte, sondern auch – lange vor der Wannsee-Konferenz – erahnte, mit welcher Zwangsläufigkeit sie auf eine Politik des totalen Völkermordes hinauslief. Bis dahin war es ein „einseitiger Krieg“ gewesen, in dem Juden ohnmächtig hinnehmen mußten, was ihnen zugefügt wurde: „Erinnern wir uns: Tausende jüdischer Existenzen vernichtet, tausende jüdischer Herzen gebrochen, tausende jüdischer Menschen geplündert, gequält, verjagt; in den Selbstmord getrieben; wie Vieh verfrachtet und ins Nichts gestoßen. Denkt an die Flüchtlingsschiffe mit ihrer Verzweiflungsfracht, diese Höllenvision unseres Jahrhunderts. Denkt an Schanghai. Zusehen mußten wir, wie unser Name geschändet, unsere Werte erniedrigt, unsere Synagogen verbrannt, unser Heiligstes entweiht wurde. Wo wir Bürger waren, hat man uns unter das Tier erniedrigt und jeder Bube durfte uns bespeien – wir mußten es dulden! Selbst die wehrlosen Seelen unserer Kinder sahen wir als Opfer dieses wahrhaft satanischen Hasses in ihrer Blüte geknickt. Eingebrannt in unsere Seelen lebt dieser Schmerz
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und kann nicht schweigen. Und keine Gegenwehr war möglich, nicht einmal der Versuch eines Kampfes! Preisgegeben waren wir der frechsten Macht, die zu unserm Elend noch den Hohn fügte.“24
Wie ein Leitmotiv zieht sich durch den Text die Forderung, um der eigenen Selbstachtung willen den Beweis dafür zu führen, „daß wir nicht Parias sind, die nur ohnmächtig ihren Grimm herunterschlucken“, und die eigene Ehre wiederherzustellen.25 Wenn Jonas in diesem Zusammenhang von einem „‚bellum Judaicum’ in des Wortes tiefster Bedeutung“ sprach, der im Gegensatz zu jenem der Antike „nicht ein Krieg der Katastrophe, sondern ein Krieg unserer Rettung aus der jüdischen Katastrophe, nicht Juda gegen die Welt, sondern Juda mit der Welt gegen den Weltfeind“ sein sollte, so brachte er unüberhörbar den tiefen Zusammenhang zur Sprache, den er zwischen dem Schicksal des jüdischen Volkes und den Interessen der westlichen Demokratien gegenüber einem Sieg des „Nazi-Prinzips“ und des „Kults der menschenverachtenden Macht“ erkannte.26 Noch deutlicher werden Jonas’ Motive in einem Brief an seinen nach Hawaii entkommenen Cousin Gerry, in dem er im Sommer 1941 Rechenschaft über seine politischen Überzeugungen und seine seelische Verfassung seit dem Verlassen Deutschlands ablegte.27 In diesem sehr persönlichen Schreiben, in dem sich Jonas „die Besessenheit der vergangenen Jahre von der Seele schreiben“ wollte, kehren die Leitmotive des Textes von 1939 wieder – das Ringen um die Bewahrung jüdischer Selbstachtung, der Schmerz über das Leid des jüdischen Volkes und das Bewußtsein, daß in diesem Krieg die Grundlagen der westlichen Zivilisation auf dem Spiel standen, ergänzt durch Reflexionen über Haß, Rache, die Gewalt des Krieges und den Pazifismus: „Ich darf sagen, daß ich früher und vielleicht intensiver als die meisten meiner Landsleute erkannt habe, daß dies in einem höchst schicksalhaften und unausweichlichen Sinne unser Krieg ist: Ob wir kämpfen oder nicht, für uns würde Hitlers Sieg die völlige Vernichtung bedeuten – nicht nur hier, sondern überall – und seine Niederlage die einzige Hoffnung auf Überleben. Allein aus diesem Grund sind wir unwiderruflich mit der Sache der demokratischen
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Staaten verbunden, sogar wenn wir es nicht durch gemeinsame Ideale wären. Was sie angeht, so erkennt jetzt jeder, daß sie weit über eine bloße Regierungsform oder ein soziales Regime herausgehen: sie betreffen die Wurzeln unserer Zivilisation, die grundlegenden Vorstellungen, die die Stellung des Menschen in unserer Welt prägen. Unsere geistige Existenz steht nicht weniger auf dem Spiel als die physische – und ‚unsere’ meint in diesem Fall nicht eine besondere, jüdische, sondern jene, die wir – zum Teil dank unserem eigenen Beitrag zum Erbe des Westens – mit der europäischen Menschheit gemeinsam haben, die durch die Überlieferungen der Antike und des Christentums geprägt ist. Wenn ich diese Fragestellungen bedenke, die hier mitschwingen – welche Werte gefährdet sind und von welchen Gegenwerten – gehe ich sogar so weit, dies als einen Religionskrieg im radikalen Sinne des Wortes zu bezeichnen, obwohl diesmal keine übernatürlichen Glaubensbekenntnisse miteinander im Streit liegen. In jedem Fall befindet sich die Welt, in der ich – als ethisches Wesen – imstande bin, zu atmen, in tödlicher Gefahr. Sollte sie verloren sein und fallen, so will ich sie – in dem unwahrscheinlichen Fall, daß es mir physisch möglich ist – nicht überleben.“
Es erschien Jonas zutiefst als eine Frage jüdischer Würde und der Selbstachtung des zionistischen Gemeinwesens, daß der Krieg gegen Nazi-Deutschland nicht ohne Beteiligung jüdischer Soldaten geführt werde: „Nichts hat in der ersten langsamen, schleppenden Phase des Krieges mein Denken mehr gequält als die Furcht, dies könne geschehen – vielleicht ohne unsere Schuld, gegen unseren Wunsch und Willen, sogar trotz unserer erklärten Bereitschaft, und doch zu unserer unauslöschlichen Schande – denn das Urteil der Geschichte kennt keine Absichten, und seien sie noch so gut, sondern allein Taten.“ Seit langem war Jonas auf Grund seiner frühen Einsicht in den mörderischen Charakter des Nationalsozialismus von der Unvermeidlichkeit eines Krieges überzeugt gewesen: „Tatsächlich habe ich mich nur darin getäuscht, daß ich ihn viel früher erwartet hatte, wahrscheinlich aufgrund der Ungeduld meiner Gefühle. Ich sehnte mich geradezu danach, mit Deutschland abzurechnen. Ganz freimütig und persönlich gesprochen, kann ich sagen,
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daß in mir von 1933 an ein heftiger Wunsch nach Rache brannte, und ich schäme mich nicht des Geständnisses, daß – im Zuge des Fortschreitens des scheußlichen Alptraums Jahr für Jahr, mit dem zunehmenden Leid unseres gejagten Volks, verschärft durch das demütigende Gefühl der Ohnmacht, dieser Wunsch, zurückzuschlagen und es denen, die unsere Menschenwürde besudelten, heimzuzahlen, zur beherrschenden Leidenschaft meines Lebens wurde. Ich bekenne mich zu diesem Gefühl umso bereitwilliger, als ich niemals das Vorurteil meiner sanftmütigeren oder feineren Zeitgenossen ihm gegenüber geteilt habe. Es ist, so meine ich, nicht nur ein völlig natürliches, sondern auch ein ehrenwertes und moralisches Motiv, vorausgesetzt, man ist bereit, die eigenen Risiken und Lasten auf sich zu nehmen. Seine Vehemenz ist ein Spiegel der Tiefe der Verletztheit und der Wachsamkeit, die eine Verletzung der Ehre zurückweist. […] Schließlich gibt es Übel, die nach Vergeltung rufen, soll die Welt für den, der es erlitten hat, wieder annehmbar werden. Es gibt Verletzungen, deren Verursacher vernichtet werden muß, soll der Verletzte sein eigenes Leben wieder wertschätzen können. […] Und es obliegt dem, der das Böse erlitten hat, sein Leben und sein Glück aufs Spiel zu setzen im Kampf gegen die fortdauernde Existenz des Bösen, der ihm beides bestreitet. Ihm persönlich entkommen zu sein, bewahrt geblieben zu sein, begründet die Pflicht, ihm besser entgegenzutreten, sobald sich die Gelegenheit bietet. […] Wer konnte, selbst wenn er wollte, wirklich die Süße des Lebens genießen in der erstickenden Atmosphäre jener Vorkriegszeit, in der die Krankheit sich weiter ausbreitete und bis zu unseren Zufluchtsorten vorzudringen trachtete, selbst in unsere neue Heimat – eine ständige Erinnerung für die Vergessenden, daß es für uns keine Sicherheit gibt, solange die Macht noch auf Erden besteht? […] Hier ist der Punkt, an dem Rache und Selbsterhaltung, Ehre und Interesse, sich vereinen: Was die Erinnerung an vergangene Verletzung nicht von selbst bewirkt hat, wurde buchstäblich von der tatsächlichen Bedrohung unserer Gegenwart und Zukunft zur Geltung gebracht.“
Dabei legte Jonas besonderen Wert darauf, daß er sich nicht in erster Linie von den offen eingestandenen Gefühlen des Hasses und der Rache leiten ließ, sondern vor allem von der Erkenntnis, daß 27
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ein Sieg Nazi-Deutschlands weltweit die Grundlagen von Demokratie und Humanität auf lange Sicht vernichten würde: „Ich vermittle Dir rückschauend ein Bild von meinem Gemütszustand während der Vorkriegsjahre, als mich der Haß gegen Deutschland bisweilen bis in meine Träume verfolgte. Doch dieses Bild wäre unvollständig – und würde mir, so meine ich, nicht gerecht –, wenn es sich auf diese höchst emotionalen oder spezifisch nationalen Elemente beschränkte. Vielmehr hatte ich übergeordnete Motive, den Krieg mit Ungeduld herbeizusehnen. Es war der umfassendere Aspekt der Dinge, die der Weltsituation selbst innewohnende Notwendigkeit, die am stärksten für den Krieg und gegen einen ‚Frieden’ sprachen, der unter den waltenden Umständen nichts anderes als Beschwichtigungspolitik hätte sein können. Die Frage lautete, ob die bedrohte historische Ordnung, der wir alle angehören, bereit war, um ihre Fortexistenz zu kämpfen, sollte sie sich nur kämpfend bewahren lassen. Anders gesagt, ob sie sich selbst noch als einen so hohen Wert begriff, daß sie des höchsten Opfers wert sei. In dieser Frage war alles enthalten. Hier war das Kriterium für die gegenwärtige Lebenskraft, ja, die Ehrlichkeit ihrer Ideale, und damit für das Existenzrecht dieses Systems. Diesem Kriterium nicht gerecht zu werden wäre gleichbedeutend mit einem historischen Urteil zugunsten der neuen Ideen und Kräfte, einer Rechtfertigung all ihrer bösen Erfolge. […] Doch das darf niemals geschehen, sollen nicht Jahrtausende menschlichen Strebens vergeblich gewesen sein.“
Seit dem deutschen Einmarsch im Rheinland 1936 und der Tschechoslowakei-Krise 1938, deren Lösung durch das Münchner Abkommen Jonas als verhängnisvolles Zurückweichen der europäischen Mächte gegenüber Hitlers Weltmachtplänen erschien, war er zu der Einsicht gelangt, daß ein Krieg, obgleich er sich der damit verbundenen Grausamkeiten voll bewußt war, den vernichtenden Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft vorzuziehen sei: „Sollten die Kapitulationen kein Ende haben? Sollte die Flut ganz Europa ohne jede Gegenwehr überrollen? Der einzige Hoffnungs-
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strahl in der Finsternis war Winston Churchill, dessen Schriften ich damals verschlang, der aber kaum mehr als ein Prophet in der Wüste war. Auf dem Hintergrund eines beständigen Rückzugs der Demokratien seit 1936 erlebte ich den Ausbruch des Krieges im September 1939 mit wahrer Erleichterung. Das klingt blasphemisch angesichts der unermeßlichen Schrecken und Zerstörungen, die dieser Krieg mittlerweile mit sich gebracht hat und bis zum bitteren Ende verursachen wird (und bitter wird selbst der Preis des Sieges sein). Und doch stehe ich zu meinen Empfindungen jener Stunde, wie damals, als die Niederlage nahe schien. Gott weiß, daß ich diese tragische Entscheidung nicht mit leichtem Herzen begrüßte. Eine Generation, die während des letzten Krieges zum Bewußtsein erwachte und zutiefst erfüllt war von dem Geist des ‚Nie wieder!’, verfällt nicht leicht dem Kriegsfieber. Wir alle rangen mit dem Pazifismus jener Zeit. Zudem hegte ich keine Illusionen über einen leichten Sieg, ja ich war mir nicht einmal gewiß, daß der Sieg eintreten werde; allerdings konnte niemand die dramatische Plötzlichkeit und das verheerende Ausmaß der Katastrophen voraussehen, die noch kommen sollten. Doch ich vertrat die Auffassung, es sei selbst im Falle des Scheiterns, den derjenige, der sich der Laune des Kriegsglücks aussetzt, als mögliche Folge bedenken muß, besser, kämpfend unterzugehen, als ohne Widerstand in den Abgrund gerissen zu werden.“
Ganz persönliche Passagen des Briefes bringen Jonas’ der Trauer abgerungene Erleichterung darüber zum Ausdruck, daß sein Vater, der im Januar 1938 einem langjährigen Krebsleiden erlegen war, von weiterer Verfolgung verschont bleiben werde – „aus dieser teuflischen Situation hinweggenommen zu werden, gefangen im Nazi-Land, ist in diesen Zeiten für unsere alten Menschen ein guter Ausweg, in vielen Fällen eine wahre Erlösung“. Zur Sprache kommt aber auch die Verzweiflung über das Scheitern der Emigration seiner geliebten Mutter, die ihr Zertifikat für Palästina ihrem zeitweise in Dachau inhaftierten jüngsten Sohn Georg überlassen hatte und, wie Jonas durch das Rote Kreuz erfuhr, 1942 ins Ghetto Lodz deportiert worden war. Erst 1945, bei seiner Rückkehr nach Deutschland wurde ihm zur Gewißheit, was er befürchtet hatte: daß die Nazis seine Mutter in Auschwitz 29
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ermordet hatten – „eine dunkle Geschichte, der große Kummer meines Lebens. Diese Wunde hat sich nie geschlossen“, wie Jonas in hohem Alter sagte.28 1940 war Jonas Soldat in der First Palestine Anti Aircraft Battery der britischen Armee geworden, 1944 Mitglied der Jewish Brigade Group, mit der er über Nordafrika nach Italien zog29 und im Juni 1945 in Deutschland einmarschierte. Dort erfuhr er die ganze Wahrheit über die Schoa, erhielt in Mönchengladbach Gewißheit über das Schicksal seiner Mutter, stieß auf jüdische Überlebende, die die Begegnung mit den am Davidstern erkennbaren Soldaten der Jüdischen Brigade – „als Siegern, nicht als Märtyrern und Opfern“ – bejubelten,30 machte die Erfahrung der geringen Bereitschaft der Deutschen, sich mit den Verbrechen der Nazis auseinanderzusetzen, und sah, wie er freimütig zugab, mit einem Gefühl der Genugtuung auf seinen Reisen durch Deutschland die zerstörten Städte.31 Als er im November 1945 nach Jerusalem zurückkehrte, lagen hinter ihm die Emigration in eine Welt, die einen vollkommenen Abbruch der Existenz bedeutete, welche das Fundament seiner bisherigen wissenschaftlichen Arbeit gewesen war, und mehr als fünf Jahre Krieg, die auch in seinem Denken eine tiefe Zäsur bildeten. Der Kriegsaufruf des Jahres 1939 und der Brief an seinen Cousin sind mehr als bloß zeitgeschichtlich bedeutsame Zeugnisse, die einen Einblick in das Denken und Fühlen vieler deutscher Juden in Palästina während des „Dritten Reiches“ und des Zweiten Weltkrieges eröffnen. Sie sind vielmehr ein bewegendes document humain, ohne das die weitere Entwicklung des Philosophierens von Hans Jonas nach dem Krieg nicht in ihrer Tiefe zu verstehen ist. Die eindrucksvollen Zeugnisse entschlossenen Widerstandes gegen den Sieg des „nationalsozialistischen Prinzips“ und die Vernichtung des Judentums sowie der menschlichen Erschütterung über das Schicksal der Juden in Europa ergeben ganz neue Perspektiven für die Frage nach der Bedeutung von Jonas’ jüdischer Existenz für sein Gesamtwerk. Das gilt etwa für die Passagen, in denen er den „bellum Judaicum“ als „ersten Religionskrieg der Moderne“ interpretiert. Jonas bejahte diesen Krieg vor allem deshalb, weil er darin den „Krieg zweier Prinzipien“ erkannte, „von denen das eine in der Form der christlich-
abendländischen Humanität auch das Vermächtnis Israels an die Welt verwaltet, – das andere, der Kult der menschenverachtenden Macht, die absolute Negierung dieses Vermächtnisses bedeutet“. Der Nationalsozialismus – als nihilistisches „Heidentum im tiefsten Sinne“ – habe dies begriffen, insofern er „das Christentum als Verjudung der europäischen Menschheit beurteilte und in seinen metaphysischen Antisemitismus einbezog“. Lange bevor christliche Theologie und Kirche, die sich in der Nazi-Zeit auf Grund ihrer antijudaistischen Tradition und ihrer teilweisen Affinität zum „nationalen Aufbruch“ in Deutschland scharf vom Judentum – vielfach sogar von der hebräischen Bibel – distanzierten und die Juden in Europa schweigend der Verfolgung preisgaben, dies auch nur zu ahnen begannen, beschwor Jonas die wechselseitige religiös-kulturelle Solidarität von Judentum und Christentum, deren Erbe er durch die Inhumanität der Nazis in ihrer Tiefe bedroht sah. Daß diese Solidarität um der Bewahrung auch der säkularen „rational-humane[n] Zivilisation des modernen Europa“ notwendig war, begründete aus seiner Sicht das Paradox, „daß ein bellum christianum zugleich ein bellum judaicum sein kann“. In diesem Zusammenhang betonte er nicht nur den „unverjährten Beitrag“ des Judentums zur „Ethisierung der Menschheit“, zum Schutz der ethischen Tradition der Achtung vor dem Leben des Menschen, sondern ließ mit dem Postulat der gemeinsamen jüdisch-christlichen Grundlagen der abendländischen Kultur ein Motiv anklingen, das etwa in seinen späteren Reflexionen über den Beitrag der jüdischen Tradition für eine Ethik der Verantwortung eine wichtige Rolle spielen sollte.32 Das zionistisch inspirierte Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Judentum, die zeitlebens den Kern seiner jüdischen Identität ausmachte, gewann also für Hans Jonas in der Zeit des Kampfes gegen Nazi-Deutschland und nach 1945, als die ganze Dimension der Vernichtung des europäischen Judentums sichtbar wurde, einen zutiefst existentiellen Sinn: im Emigrantenschicksal des Religionshistorikers, der seine in deutscher Sprache entworfene Gnosisdeutung erst ein Jahrzehnt später vollenden konnte, im Schmerz des Sohnes um seine Mutter, deren Ermordung sein reiches und fruchtbares Leben überschattete und deren Andenken er, fast vierzig Jahre später, sein Nachdenken über den „Gottes-
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begriff nach Auschwitz“ widmete, sowie im Engagement des Soldaten, der 1944/45 in seinen „Lehrbriefen“ an seine Frau die Kerngedanken seiner – angesichts der Erschütterung nicht nur der Welt, sondern auch der zeitgenössischen philosophischen Denkmodelle – ganz neu entworfenen Philosophie des Lebens konzipierte. Diese als Anhang zu Jonas’ Erinnerungen erstmals veröffentlichten „Lehrbriefe“ gewähren Einblick in diese entscheidende Zäsur seines Denkens und können – ähnlich wie im Falle Franz Rosenzweigs, der während der letzten Monate des Ersten Weltkrieges an der Front erste Skizzen seines Werkes Der Stern der Erlösung in Feldpostbriefen entwarf – als früher Ausdruck des „neuen Denkens“ der „Philosophie des Organischen“ gelten. Zugleich dokumentieren sie in ihren wenigen persönlichen Passagen, daß sich der Philosoph von den schweren Erfahrungen der Kriegszeit nicht entmutigen ließ, sondern den Erschütterungen mit tiefgründigem Nachdenken über das Wesen menschlichen Daseins begegnete.33 Die intellektuelle Erkenntnis der Kriegszeit inspirierte Jonas’ lebenslange Auseinandersetzung mit dem Nihilismus und seine philosophische Bejahung des gefährdeten, endlichen menschlichen Lebens inmitten einer wertvollen und am Geist teilhabenden Natur – ein der Erfahrung des Inhumanen abgerungener Denkweg, der später in das engagierte Plädoyer für die „Weiterwohnlichkeit der Welt“ unter den Bedingungen der von selbstverursachten Verhängnissen bedrohten hochtechnisierten Zivilisation mündete. Unübersehbar haben die antinihilistische Stoßrichtung, die Jonas’ gesamtes Denken seit 1945 bestimmte, und die philosophische Leidenschaft, mit der er unablässig den Wert des menschlichen wie geschöpflichen Lebens zu begründen versuchte, ihre Wurzel in seiner intellektuellen Konfrontation mit der in der Schoa gipfelnden nationalsozialistischen Preisgabe alles Menschlichen. Sein Kriegsaufruf und sein Eintreten für Würde und Menschlichkeit lassen sich daher mit einigem Recht als ein untergründig fortwirkendes Ursprungselement seines in den Jahrzehnten nach 1945 entfalteten Denkens interpretieren. Noch in seiner am 30. Januar 1993 gehaltenen letzten Rede in Udine über „Rassismus im Lichte der Menschheitsbedrohung“ erinnerte Jonas in bewegenden Worten daran, daß sich in dem mit Blick auf die Zukunft von Menschlichkeit und Toleranz so überaus
trügerischen zwanzigsten Jahrhundert „in einem der Herzländer unserer gerühmten Kultur“ jene „höllische Offenbarung“ ereignet habe, die mehr als alles Frühere „den Titel des Menschen als Ebenbild Gottes in Frage stellt“. Er wagte die Reise nach Udine trotz seines hohen Alters, weil sie ihn an den Ort zurückführte, an dem er das Ende des Krieges erlebt und in den Erzählungen Überlebender von der menschlichen Anständigkeit zahlreicher italienischer Frauen und Männer erfahren hatte, die flüchtende Juden beschützt und vor dem Tode gerettet hatten. Man kann darin ein Zeichen dafür erkennen, daß der Philosoph bis zum Ende seines Lebens von diesem Geschehen in Atem gehalten wurde und darin die fundamentale ethische Verantwortung erblickte, weit über seine eigene Lebenszeit hinaus alle Kräfte der Moralerziehung und Wachsamkeit gegen „diese kaum jemals schlafende Bestie“ der Inhumanität zu mobilisieren.34 Charakteristisch für Jonas’ Denken und sein gesamtes Werk ist, daß er in jener Rede die Erinnerung an die Menschenverachtung der Nazis als Bedrohung aus der Vergangenheit in einen inneren Zusammenhang mit der gegenwärtigen und zukünftigen Bedrohung des Lebens auf der Erde durch die technologische Hybris des Menschen stellte: Die Schoa als Höhepunkt des „Kultes der menschenverachtenden Macht“ und als das fundamentale historische Ereignis des vergangenen Jahrhunderts, so deutete er damit an, ist Ausdruck derselben Indifferenz gegenüber dem Wert des Lebens, die dem zerstörerischen, gedankenlosen oder fatalistischen Umgang mit der natürlichen Umwelt innewohnt, und entsprechend gilt ihr gegenüber – um der Bewahrung menschenwürdigen Lebens willen – gleichermaßen die Pflicht zum verantwortlichen Handeln. Hans Jonas’ leidenschaftliches Eintreten für die Würde menschlichen Lebens und die eindringliche Warnung vor ihrer Preisgabe gehören – als Leitmotive, die sein frühes politischen Denkens mit seiner späteren ethischen Reflexion über das „Prinzip Verantwortung“ verbinden – mit zu den Elementen, welche die Aktualität seines philosophischen Vermächtnisses begründen.
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Vittorio Hösle
Hans Jonas’ Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie Für Lore Jonas, ohne die es Organismus und Freiheit und damit auch Das Prinzip Verantwortung nicht gäbe.
Natürlich hat Victor Eremita (alias Kierkegaard) recht: Das Äußere ist nicht das Innere. Und doch haben wir oft genug keine andere Möglichkeit, als uns dem Inneren über das Äußere zu nähern, und selbst dort, wo Alternativen bestehen, mag uns der Weg über das Äußere schneller und sicherer zum Inneren bringen als jene anderen Zugangsweisen: Denn im Äußeren mag sich sehr wohl das Innere in angemessener Weise Ausdruck verschaffen. Zum Äußeren eines Denkens gehört nun in jedem Fall seine Rezeptionsgeschichte. Für sie ist ein Denker nur zum Teil verantwortlich, denn wir alle wissen, daß Rezeptionen häufig unfair und von lächerlichen Zufällen bestimmt sind. Und doch sagt die Rezeptionsgeschichte eines Werkes nicht nur etwas über die Rezipienten, sondern auch über den Recipiendus aus. Einige Reflexionen zu Jonas’ Rezeption sollen daher am Anfang stehen. Einer der, wenn auch äußerlichen, so doch auffälligsten Aspekte der Jonasschen Philosophie ist ihr zwar sehr später, aber doch um so schnellerer Aufstieg zum Weltruhm. Besonders in Deutschland hat Jonas eine Popularität erlangt, die kaum einem anderen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts zuteil wurde: Edmund Husserls Denken war zu technisch, um größere Kreise anzuziehen, und daß Martin Heidegger nicht zu jenen Autoren aufgestiegen ist, auf die man sich etwa bei öffentlichen Anlässen problemlos beruft, hat nur allzu bekannte Gründe. Ich weiß jedenfalls von keinem anderen deutschen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts, dem eine Statue errichtet worden ist, so wie Jonas von 34
seiner Heimatstadt Mönchengladbach, und daß bereits zehn Jahre nach seinem Tode eine Gedenkbriefmarke herausgegeben wurde, ist eine Ehre, die ebenfalls nicht vielen deutschen Denkern unserer Zeit widerfahren ist. Schließlich ist auch der inhaltliche Einfluß Jonas’ auf die Umweltbewegung beträchtlich gewesen.1 Wie erklärt sich dieser Erfolg, der um so verblüffender ist, als Jonas vor 1979, dem Erscheinungsdatum von Das Prinzip Verantwortung, vornehmlich Patristikern und Gnosisspezialisten als Philosophie- und Religionshistoriker bekannt war und das Buch, das er selbst für sein bedeutendstes hielt, The Phenomenon of Life (englisch 1966, deutsch 1973 unter dem Titel Organismus und Freiheit), weitgehend unbeachtet blieb, bis man im Gefolge der Diskussionen um Das Prinzip Verantwortung darauf aufmerksam wurde, da es in der Tat die Grundlage der Argumente des späteren Werkes bildet? Erklärungsbedürftig ist auch die Tatsache, daß Jonas’ Werk zunächst in Deutschland einschlug, obgleich seine Sprache die Entwicklung des Deutschen seit 1933 nicht mitgemacht hatte, wie er selbst – keineswegs kokettierend – einräumte,2 und inzwischen auch in vielen anderen europäischen sowie in asiatischen Ländern rezipiert ist – freilich kaum in den USA, als deren Bürger Jonas starb und wo er fast vier Jahrzehnte seines langen Lebens wirkte. Eine Ursache von Jonas’ Erfolg in Deutschland mag seine jüdische Herkunft gewesen sein: Indem man ihn las und/oder lobte, konnte man glauben, zur Wiedergutmachung der deutschen Verbrechen an den Juden beizutragen. Aber sofern das mitgewirkt hat, hat es jedenfalls keine große Rolle gespielt; denn ein vergleichbarer Erfolg ist ja keineswegs allen emigrierten jüdischen Intellektuellen zuteil geworden. Nein, es war der Sachgehalt des Werkes, der ihm zu seiner Rezeption verhalf. Dabei spielte einerseits das Thema eine Rolle – seit dem ersten Bericht des Club of Rome hatte man in den siebziger Jahren erstmals weltweit das ökologische Problem wahrzunehmen begonnen, und daß schon am Ende dieses für das Erkennen des Umweltproblems entscheidenden Jahrzehnts eine ausgereifte Theorie mit den Grundlagen einer Ethik für die technische Zivilisation vorlag, erzeugte bewunderndes Staunen. Hier hatte jemand ganz offensichtlich in langen Jahrzehnten vorher Theorie auf Vorrat angehäuft, die er nun zur 35
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philosophischen Bearbeitung einer ethisch-politischen Schicksalsfrage der Menschheit einzusetzen verstand. Auch daß Das Prinzip Verantwortung sich als Gegenwerk zu Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung vorstellte, trug zu seinem Erfolg bei: Konservative, die dem Marxismus gegenüber skeptisch oder gar feindlich eingestellt waren, konnten bei Jonas eine brillante Kritik eines Anspruchsdenkens finden, das sie aus guten Gründen ablehnten, und Linke, die die destruktiven Tendenzen des modernen Kapitalismus durchschauten, fanden in ihm eine Bestätigung ihrer Sorgen. Zwar ist Jonas’ Verteidigung der Sowjetunion in Kap. V des Prinzips Verantwortung einer der problematischsten und provokativsten Teile seines Werkes, dem er auch später abschwor; aber was auch intelligente Antimarxisten bestach, war die Tatsache, daß Jonas die marxistische Ideologie als edle Lüge für die Massen einzusetzen hoffte, um sie zu asketischen Idealen zu animieren. Der Abschnitt „Kann Enthusiasmus für die Utopie in Enthusiasmus für die Bescheidung umgemünzt werden?“ mit dem bezeichnenden Untertitel „(Politik und Wahrheit)“ gehört in seiner grandiosen Mischung von Platonismus und Machiavellismus zu den abgründigsten Texten der politischen Philosophie des vergangenen Jahrhunderts, und daß er mit den Worten endete, „der Autor ist auf den Vorwurf des Zynismus gefaßt und wünscht ihm nicht die Versicherung eigener guter Gesinnungen entgegenzustellen“,3 mußte Jonas gerade denjenigen interessant machen, die „Gutmenschentum“ nicht für die Lösung des Problems der Moral halten. Gleichzeitig war jedem klugen Rezipienten klar, daß die Entgegenstellung dieser Versicherung, die bei einem Carl Schmitt deswegen nichts geholfen hätte, weil sie nur als Machiavellismus zweiter Potenz gedeutet worden wäre, bei Jonas aus ganz anderen Gründen überflüssig war: Wem die Integrität dieses Mannes und seines Denkens noch nicht aufgefallen war, der wäre in der Tat auch durch eine solche Erklärung nicht zu überzeugen gewesen. Daß Ende der siebziger Jahre, nach einem extrem ideologisierten Jahrzehnt, eine solche geistige Autonomie, die auf wertkonservativer Grundlage der Sowjetunion positive Aspekte abzugewinnen suchte, faszinierte, war wahrlich ein hoffnungsvolles Zeichen. Wichtiger noch als das Thema selbst war die Art und Weise seiner Behandlung. Schon vor Jonas – man denke an John
Passmore4 – hatte es solide Untersuchungen zu umweltethischen Fragen gegeben, und daß nach dem Erfolg seines Buches die Umweltethik im akademischen Philosophiebetrieb florieren würde, war in der Tat zu erwarten gewesen (auch war nicht überraschend, daß gar manche der neueren Autoren es nötig fanden, ihre guten Absichten hervorzuheben). Aber das, was Jonas’ Entwurf etwa von verdienstvollen Arbeiten wie derjenigen Dieter Birnbachers5 abhob, war der metaphysische Anspruch. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß es seit Immanuel Kant kaum einen Ethiker gegeben hat, in dessen Ansatz die Metaphysik der Ethik eine so entscheidende Rolle spielt wie bei Jonas: Der Utilitarismus etwa, ungeachtet aller seiner materialen Fortschritte über Kant hinaus, gehört nicht zu den ethischen Schulen, die sich durch Reflexionen zum Status des Sollens innerhalb des Seins auszeichnen. Der neue Brückenschlag zwischen Metaphysik und Ethik war deswegen so faszinierend, weil Jonas nicht einfach zu einer älteren Position zurückkehrte, sondern seine Rückkehr mit der gegenwärtigen Situation begründete – der Eigenart unserer Pflichten gegenüber kommenden Generationen sowie der Notwendigkeit einer neuen Deutung der Natur. Daß der Rückgriff auf eine scheinbar obsolete Form des Denkens in einer archaischen Sprache vorgetragen wurde, trug wahrscheinlich zur Anziehungskraft des Werkes bei: Man hatte den Eindruck, daß das Beste an der deutschen Philosophie, das 1933 vertrieben oder pervertiert worden war, gleichsam aus längst geschwunden geglaubter Vergangenheit zur Bewältigung der Zukunft aufrief, und diese eigentümliche Mischung der Zeitmodi in einer desorientierten Gegenwart ist sicher einer der entscheidenden Faktoren von Jonas’ Erfolg gewesen. Hinzu kam – und das erklärt Jonas’ schnelle Rezeption in Deutschland und seine bis heute zögerliche Rezeption in der angelsächsischen Welt –, daß sein Denken in ganz besonderer Weise in der deutschen Tradition wurzelte. Das ist nicht ohne weiteres ersichtlich, da Jonas nicht zu denjenigen Denkern gehört, die ihre Quellen und Vorläufer ausführlich diskutieren; aber es ist, wie ich im folgenden zeigen möchte, dennoch zutreffend. Jonas’ einzigartige Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie besteht darin, daß er Heideggers Anregungen an die Weltphilosophie
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fruchtbar zu machen gewußt hat und gleichzeitig aus der Sackgasse ausgebrochen ist, in die dessen Denken die Philosophie geführt hatte. Dies gelang ihm, indem er – nicht etwa direkt, sondern auf „Umwegen“, nämlich durch die Sache selbst, wie sie sich ihm in seiner Auseinandersetzung mit den modernen Biowissenschaften und den ethischen Problemen ihrer technischen Folgen offenbart hatte – die entscheidenden Prinzipien der Kantischen Ethik und der Hegelschen Philosophie des Organischen neu gedacht und auf die gegenwärtige Situation angewandt hat. Für jemanden, der – wie der Autor dieses Aufsatzes – die These vertritt, daß bestimmte Grundtypen der Philosophie in regelmäßiger Folge wiederkehren,6 war das Wiedervorstoßen eines Schülers Heideggers zu den Positionen der klassischen deutschen Philosophie – und zwar nicht aus historistischer Gelehrsamkeit heraus, sondern aus immanenten Problemen der Gegenwart selbst – eine hochwillkommene Bestätigung jener allgemeinen Theorie der Philosophiegeschichte und der mit ihr verbundenen Hoffnung auf eine Erneuerung der Tradition des objektiven Idealismus. Das, was Hans Jonas für das deutsche Bildungsbürgertum letztlich so interessant machte, war, daß er mit einer Unbefangenheit und Originalität Metaphysik betrieb, wie sie in Deutschland gerade aus politischen Gründen kaum mehr möglich war: Man mußte gleichsam US-Amerikaner sein, um sie sich zu erlauben, so wie man sich seine Kritik an „liberale[n] Naivitäten“7 und seine Gedanken über die konstitutionelle Vernachlässigung der kommenden Generationen in der modernen Demokratie8 nur gestatten konnte, wenn man 1933 Deutschland mit dem Gelöbnis verlassen hatte, „nie wiederzukehren, außer als Soldat einer erobernden Armee.“9 Vielleicht liegt darin einer der wichtigsten Gründe für die Anziehungskraft des Jonasschen Denkens: Mit der nahezu unüberbietbaren Abscheulichkeit von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus sind alle jene politischen und intellektuellen Alternativen zum westlichen Typus wohlfahrtsstaatlicher Massendemokratie und ihrer konsenstheoretischen Legitimation disqualifiziert worden, die in den ersten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Ländern erwogen worden waren. Das ist einerseits nur zu verständlich; es ist wirklich kaum möglich, etwa eine Biographie
Stefan Georges zu schreiben, ohne auf die Tatsache einzugehen, daß Georges Elitismus manchen Nationalsozialisten faszinierte.10 Aber wenn man mit Jonas Hitler für einen Zufall hält,11 dann stellt sich unweigerlich die Frage, wie wir heute etwa Nietzsche, George und Heidegger bewerten würden, wäre Hitler nicht zur Macht gekommen. Es mag durchaus sein, daß in einigen jener Alternativen, die mit dem Totalitarismus logisch nicht im mindesten verknüpft sind, Ideen enthalten waren, von denen man gerade angesichts der enormen Schwierigkeiten der modernen Demokratien, mit den Umweltproblemen fertigzuwerden, lernen kann. Jonas hat mit einer solchen Möglichkeit erstaunlich unbefangen gerechnet, und die Dankbarkeit der Öffentlichkeit seinem Werke gegenüber hat sicher auch mit dem Gefühl zu tun gehabt, hier würden wieder Alternativen zur politischen Korrektheit des Mainstream offengehalten, von denen die Freiheit und die Weite des geistigen Austausches auch dann profitieren können, wenn man schließlich zu dem Ergebnis kommt, daß sie abzulehnen sind. Im folgenden will ich erstens das Heideggersche Erbe bei Jonas erörtern (I) sowie den Bruch mit Heidegger in der Naturphilosophie (II) und in der Ethik (III) diskutieren, wobei auf die sachliche Verwandtschaft mit Hegels und Kants Theorien einzugehen ist. Da ich eine genauere sachliche Analyse von Jonas’ Philosophie an anderer Stelle vorgelegt habe,12 kann ich es mir hier ersparen, Jonas’ Argumentationen im einzelnen darzulegen und zu analysieren. Mir geht es in diesem Text nur um den geschichtlichen Ort von Jonas’ Denken. Das Thema gestattet es zugleich, die Frage zu streifen, ob es etwas wesentlich „Deutsches“ in der Philosophie der zu diskutierenden Denker gibt.
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I. Provozierend läßt sich sagen, daß für einen großen Teil der Weltöffentlichkeit mit Heideggers Werk die klassische deutsche Philosophie ad absurdum geführt worden war. So, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Rede von einem deutschen „Sonderweg“ verbot und Adenauers wahrlich geschichtliche Leistung 39
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darin bestand, Deutschland endgültig in Westeuropa einzubinden, so war es nach der extremen Eigenwilligkeit des Heideggerschen Denkens – und zwar noch unabhängig von dessen Verstrickung in den Nationalsozialismus – für deutsche Intellektuelle unbedingt geboten, sich in viel intensiverer Weise um die Rezeption insbesondere des angelsächsischen Denkens zu bemühen, als dies im neunzehnten Jahrhundert geschehen war, in dem Schopenhauer einer der wenigen Philosophen gewesen ist, der etwa David Hume gründlich studiert hat. Jürgen Habermas ist der Reeducation-Philosoph der Bundesrepublik gewesen (insofern ist, auch wenn er das wohl nicht gerne hören wird, seine Rolle in der Philosophie derjenigen Adenauers in der Politik wesensverwandt), und Karl-Otto Apels Peirce-Buch13 war prägnanter Ausdruck dieser Wendung zum Westen (einschließlich der USA). Die Metaphysikkritik Apels und Habermas’, die durch ihre These (oder besser: deren besondere Interpretation) von den drei Paradigmen der Ersten Philosophie abgestützt wurde,14 war wohl auch als Beitrag zur Überwindung der Isolation der deutschen Philosophie intendiert, weil sie das Gespräch mit Pragmatismus und analytischer Philosophie ermöglichte und zu einer intersubjektivitätstheoretischen Rechtfertigung der Demokratie führen sollte. Nur ein deutscher Philosoph wie Jonas, der seit 1933 in englischsprachigen Ländern gelebt hatte, konnte es sich leisten, weiterhin die analytische Philosophie zu ignorieren (viel lernte er freilich von dem Briten Alfred N. Whitehead). In der Tat kann man einräumen, daß ein starkes Interesse an Metaphysik und ein wesentlich geringeres Interesse an der Rechtfertigung von Demokratie, wenn nicht gar ihre klare Ablehnung, zwei wichtige Merkmale der deutschen Philosophie bis 1945 waren und daß Heidegger diese Tendenzen nur bis zur Unerträglichkeit gesteigert, aber keineswegs neu geschaffen hat. Natürlich ist der erste Teil dieser Aussage problematisch, weil es keinen Nationalgeist an sich, also unabhängig von den Individuen gibt, in denen er sich manifestiert. Aber es ist trotzdem richtig, darauf zu verweisen, daß in bestimmten Kulturen bestimmte Eigenschaften sich eher finden als in anderen, was auch immer die Ursachen dafür sind. Ich will hier nicht der Frage nachgehen, ob etwa die Ausgrenzung einer deutschen Philosophie im Mittelalter mehr ist
als eine bequeme, aber letztlich willkürliche Grenzziehung15 – klar ist, daß spätestens seit der Verwendung des Deutschen als philosophischer Fachsprache im achtzehnten Jahrhundert eine eigene deutsche Nationalphilosophie existiert. Den meisten ihrer Vertreter ist folgendes gemeinsam: Erstens sind die religiösen Wurzeln der klassischen deutschen Philosophie stark, stärker als etwa in Frankreich. Gleichzeitig ist die deutsche Religiosität intellektueller als etwa die englische oder gar die USamerikanische: Philosophische Religiosität bedeutet in Deutschland einfach, daß man der Welt auf den Grund kommen will, selbst wo das nicht mit der positiven Religion im Einklang steht. Schon bei Jakob Böhme zeigt sich ein außerordentliches Bedürfnis, unabweislichen Fragen, die mit der Natur Gottes zusammenhängen, mit Mitteln der Vernunft nachzugehen, auch wenn dies von der naiven Orthodoxie abführt, und im Deutschen Idealismus wurde diese Tendenz auch innerhalb der akademischen Philosophie dominierend.16 Da gleichzeitig eine voluntaristische Gotteslehre in Deutschland auf wenig Sympathien stieß, wurde zweitens eine apriorische Konstruktion der Wirklichkeit verlockend: Wenn Gott rationale Gründe für die Schöpfung dieser und keiner anderen Welt hatte, müßte es im Prinzip möglich sein, den Strukturen der Welt durch Nachdenken beizukommen. Auch derjenige große deutsche Philosoph, der dem Empirismus am meisten Zugeständnisse machte, Kant, ist nach britischen Maßstäben selbst im Bereich der theoretischen Philosophie ein weitgehender Aprioriker, ganz zu schweigen von der praktischen Philosophie, in der er Humes Ansatz diametral entgegengesetzt ist. Kants anti-eudämonistische Ethik ist drittens sicher einer der folgenreichsten Programme für die deutsche Philosophie gewesen. Seine Forderung nach unbedingter Konsequenz und die Ablehnung synkretistisch-halbherziger Positionen sind viertens formale Merkmale, die man auch bei einem so antikantischen Denker wie Nietzsche wiederfindet. Nietzsches Wurzeln im Historismus sind offenkundig, und in der Tat kann man in dem besonderen Interesse an der Geschichte ein fünftes Merkmal der deutschen Philosophie erblicken. Vermutlich auf Grund des spekulativen Schwerpunktes hat es die deutsche Philosophie – sechstens – lange Zeit verschmäht, sich in die Niederungen der Praxis hinabzulassen;
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selbst ein so unstrittiger Universalist und Republikaner wie Kant kann auf Grund seiner Lehre vom Widerstandsrecht schwerlich als Denker gepriesen werden, der zur Demokratisierung der Deutschen beigetragen hat. Die meisten dieser Merkmale sind bei Heidegger unschwer wiederzuerkennen, allerdings in einer neuen Mischung, die erst eigentlich verhängnisvoll wurde.17 Sein und Zeit verbindet auf höchst innovative, ja geniale Weise vier philosophische Stränge, die vorher relativ unabhängig voneinander existierten. Erstens setzt Sein und Zeit die transzendentalphilosophischen Reflexionen über die Beziehungen zwischen Subjektivität und Zeitlichkeit fort, wie sie bei Descartes und Kant einsetzen und von Husserl auf ein neues Niveau gehoben worden waren. Zweitens gelingt es Heidegger, anders als dem frühen und mittleren Husserl, von diesen Reflexionen die Brücke zu schlagen zu einer Theorie der Geschichtlichkeit, wie sie das Zentrum der philosophischen Bemühungen Diltheys ausmachte, der für Heidegger meines Erachtens wichtiger war als Husserl. Drittens wird die Zeitlichkeit des Daseins zur Sterblichkeit zugespitzt; damit gelingt es Heidegger, den Tod wieder zu einem zentralen Thema der Philosophie zu machen, was er lange nicht gewesen war, und damit der Philosophie eine neue existenzielle Intensität zu sichern. Verbunden wird die transzendentalphilosophische Reflexion viertens mit einer Neubesinnung auf die Seinsfrage: Einerseits ist das Dasein durch eine besondere Beziehung zum Sein ausgezeichnet, andererseits wird das Dasein in die Welt eingefügt und der Weltlosigkeit der Husserlschen Epoché entrissen. Das Zusammenführen so unterschiedlicher Ansätze bleibt eine der größten Leistungen der Philosophiegeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: An der philosophischen Größe Heideggers, insbesondere an seinem neue Wirklichkeitsschichten erschließenden phänomenologischen Blick, ist – leider! – nicht zu rütteln.18 Aber gerade wegen dieser Größe sind Heideggers Engführungen um so verderblicher. Von besonderer Relevanz ist, daß Heideggers Ansatz die Ethik auflöst. Von einer objektiven Sittenlehre ist bei ihm nicht die Rede; letztlich reduziert sich die Moral auf das Gebot, sich der eigenen Sterblichkeit zu stellen. Dadurch erhält Sein und Zeit zwar den Anschein eines besonderen moralischen
Pathos, das freilich um so leerer ist, als es mit keiner der üblichen moralischen Pflichten vermittelt ist. Was bei Heidegger eine Weihe erfahren kann, ist etwa, daß man im Krieg dem Tode ins Auge schaut; eine Theorie des gerechten Krieges freilich wird man bei ihm vergeblich suchen. Ja, mehr noch: Eine solche Theorie ist auf der Grundlage seines Ansatzes gar nicht denkbar. Dies gilt noch mehr für den späten Heidegger, der im Gefolge Diltheys den Gedanken der Geschichtlichkeit zu einer Theorie der Inkommensurabilität der verschiedenen Manifestationen des Seins steigert.19 Mit diesem Ansatz ist die Auffassung unvereinbar, es gebe ein allgemeingültiges Sittengesetz, und noch weniger ist eine eigenständige Ethik innerhalb eines Ansatzes denkbar, in dem eine verantwortliche, autonome Subjektivität vom Sein gleichsam verschluckt wird. Das besonders Irritierende am späten Heidegger ist wiederum, daß sein Denken der metaphysischen Tradition zuzugehören scheint, was einesteils auch wirklich zutrifft, wobei andernteils die entscheidenden Gedanken der metaphysischen Tradition, insbesondere der Zusammenhang zwischen Metaphysik und Ethik, preisgegeben, ja in ihr Gegenteil verkehrt werden: Denn Heideggers Sein ist vollständig wertfrei. Während jeder, der an jener Tradition hängt, in Nietzsche ihren Feind erkennt, ist deren Pervertierung durch Heidegger, weil sie zum Teil in der Sprache jener Tradition erfolgt, viel schwerer zu durchschauen und daher viel gefährlicher. Hinzu kommt, daß der radikale Historismus des späten Heidegger den Glauben an die Fähigkeit der menschlichen Vernunft lähmt, zeitlose Wahrheiten zu erkennen, worin traditionell die Aufgabe der Metaphysik bestand. Nicht um das Sein und seine Strukturen geht es Heidegger nach der Kehre, sondern um die Art und Weise, wie in den einzelnen Epochen das Sein erfahren wird – also um Metaphysikgeschichte, nicht um Metaphysik. Freilich ist es richtig, daß sich in dieser Geschichte der Metaphysik nach Heidegger das Sein selbst enthüllt (so daß seine Philosophiegeschichtsschreibung philosophisch inspiriert bleibt). Das gilt auch und gerade für die Epoche fortgeschrittenster Seinsvergessenheit, nämlich diejenige der modernen Technologie, deren Wesen und Konsequenzen Heidegger in der Tat wie kaum ein anderer, und früher als alle anderen Philosophen, durchschaut zu haben beanspruchen kann – auch
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wenn er vor ihr, mangels jeder Ethik, nur zu kapitulieren vermochte. Worin zeigt sich die Abhängigkeit Jonas’ von Heidegger?20 Sein erstes großes Werk, das zweibändige Gnosis und spätantiker Geist, erschloß eine wenig erforschte Epoche der Geistesgeschichte neu durch die Anwendung von Kategorien, die Jonas der Daseinsanalytik Heideggers entnommen hatte, wie „Verfallen“ und „Geworfenheit“. Nicht minder ist in Organismus und Freiheit der Einfluß Heideggers mit Händen zu greifen. Etwas überspitzt kann man sagen, daß die organische Seinsform, um die es Jonas geht, eine Verallgemeinerung des Heideggerschen Daseins ist. Die Sorge, so könnte man sagen, ist zwar nicht allen Organismen eigentümlich, aber sie kann sich nur entwickeln auf der Grundlage der organischen Seinsform. Das Vorlaufen zum Tode setzt Sterblichkeit voraus, und die ist nur die Kehrseite des Lebens. Aber warum? Weil das Leben wesentlich prekär ist, und zwar auf Grund seiner Angewiesenheit auf den Metabolismus. Damit freilich ist das Leben durch eine neue Form von Zeitlichkeit vom Anorganischen geschieden: Durch den Energie- und Stoffwechsel ist die Zeitlichkeit dem Organismus gleichsam immanent: Innerhalb einer bestimmten Zeit muß der Organismus ein bestimmtes Quantum an Energie und Materie austauschen, wenn er überleben soll. In einem gewissen Sinne radikalisiert Jonas nur die in Sein und Zeit begonnene Transzendierung der Husserlschen Bewußtseinsimmanenz: „Und so weit Heidegger sich auch von Husserl entfernte, so blieb er doch im Bannkreis der deutschen idealistischen Tradition, die Wirklichkeit dadurch zu erkennen, zu erfassen, philosophisch zu meistern, daß man in sich selber hineinschaut. […] Zum Beispiel das Hungergefühl als eine innere Sensation, das läßt sich phänomenologisch beschreiben, wie das so ist, wenn man Hunger empfindet. Was man aber durch keine Bewußtseinsanalyse und keine Daseinsanalyse herauskriegt, ist, wieviel der Mensch zum Beispiel nötig hat, um am Leben zu bleiben.“21 Analog ist auch im Prinzip Verantwortung die erschließende Kraft der Daseinsanalytik Heideggers unverkennbar. Insbesondere die Theorie der Verantwortung im zentralen vierten Kapitel atmet den Geist von Sein und Zeit. Von den drei Merkmalen, die
Jonas dem Begriff der Verantwortung zuschreibt – Totalität, Kontinuität und Zukunft –, haben die beiden letzteren mit Zeitlichkeit zu tun, und insbesondere wirkt der Vorrang, den Heidegger der Zukunft zuweist, bei Jonas nach: Die Abschnitte IV und V des vierten Kapitels loten die Bedeutung der Zukunft für den Begriff der Verantwortung aus. Entscheidender noch ist Jonas’ Beharren darauf, daß es Verantwortung nur für Seiendes von organischer Seinsweise geben könne, denn nur dieses sei wesentlich gefährdet und vergänglich. Zwar erkennt Jonas eine Verantwortung des Künstlers für sein Werk an, aber auch diese gebe es nur angesichts möglicher menschlicher Rezipienten des Werkes, und im berühmten Konfliktfall sei selbstverständlich das Kind vor der Sixtinischen Madonna aus dem brennenden Haus zu retten.22 Im allgemeinen gelte: „Nur das Lebendige also in seiner Bedürftigkeit und Bedrohtheit – und im Prinzip alles Lebendige – kann überhaupt Gegenstand von Verantwortung sein.“23 Gegen die platonische Bevorzugung des Dauerhaften, auf deren Grundlage Verantwortung nicht zum zentralen Begriff der Ethik habe werden können, betont Jonas: „Aber die Ontologie ist eine andere geworden. Die unsere ist nicht die der Ewigkeit, sondern die der Zeit. Nicht mehr Immerwähren ist Maß der Vollkommenheit: fast gilt das Gegenteil. Dem ‚souveränen Werden’ (Nietzsche) verschrieben, zu ihm verurteilt, nachdem wir das transzendente Sein ‚abgeschafft’ haben, müssen wir in ihm, das heißt im Vergänglichen, das Eigentliche suchen. Damit erst wird Verantwortlichkeit zum dominierenden Moralprinzip.“24 „Nicht sub specie aeternitatis, vielmehr sub specie temporis muß sie die Dinge ansehen, und sie kann ihr Alles in einem Augenblick verlieren.“25 Verantwortung ist für Jonas „das moralische Komplement zur ontologischen Verfassung unseres Zeitlichseins.“26
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II. In Organismus und Freiheit27 schildert Jonas, wie sein von Heideggers Philosophie inspiriertes Studium der Geschichte der Gnosis ihn allmählich zu der Einsicht brachte, Heideggers Philosophie sei selbst geschichtlich, ihre Kategorien seien also nicht 45
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allgemeingültig, sondern auf eine bestimmte geschichtliche Situation des Menschen beschränkt. Damit erging es Jonas in mancher Hinsicht ähnlich wie dem anderen großen Heidegger-Schüler, Hans-Georg Gadamer: Die intensive, philosophisch geleitete Beschäftigung mit der Geschichte mußte die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Historismus selbst zur Folge haben. Anders als bei Gadamer führte freilich die Erkenntnis der Geschichtlichkeit des Historismus zu der Anerkennung einer zeitlosen Sphäre als legitimen Gegenstandes der Philosophie.28 Es bleibt Zeichen einer ganz besonderen geistigen Beweglichkeit, daß Jonas auf dieser Grundlage nun eine Neubegründung der Naturphilosophie in Angriff nahm oder, um genauer zu sein, jenes Teils der Naturphilosophie, der vom Organischen handelt. Statt sich wie Heidegger mit den Kategorien zu befassen, die den unterschiedlichen Konstruktionen von Natur in den verschiedenen Epochen der abendländischen Geschichte zugrunde liegen, oder wie die Wissenschaftstheorie den wissenschaftlichen Zugang zur Natur für den einzigen legitimen Zugang zur Natur zu halten, galt Jonas’ Nachdenken der Natur intentione directa – auch wenn in Organismus und Freiheit Reflexionen zur Geschichte der Biowissenschaften weiterhin eine ungewöhnlich große Rolle spielen. Insofern kehrte Jonas zur Phänomenologie seines ersten Lehrers Husserl zurück, und da er gleichzeitig metaphysischen Spekulationen gegenüber offen war,29 konnte er auch mit großer Unbefangenheit etwa auf Aristoteles, Spinoza und Leibniz zurückgreifen. Eine sachliche Lektion brachte Jonas aus seinem Studium der Gnosis mit – die Ablehnung jedes radikalen Dualismus. In der Tat ist dies einer der Gründe, warum Jonas sich auf die Philosophie des Organischen warf: Sie interessierte ihn nicht nur aus regionalontologischen Gründen, sondern weil er meinte, in diesem Gebiet Wichtiges für eine allgemeine Seinslehre lernen zu können – eine adäquate Erfassung des Organischen werde etwa eine dualistische Metaphysik nach Art Descartes’ widerlegen.30 Darin besteht nun eine Gemeinsamkeit zwischen Jonas und jenen beiden Denkern, bei denen seine Philosophie des Organischen am ehesten vorgeprägt ist, Aristoteles und Hegel, die beide ebenfalls gegen die Dualismen ihrer Vorgänger Platon und Kant rebellierten. Zwar liegt ein bedeutender Unterschied zwischen Aristoteles
und Hegel auf der einen und Jonas auf der anderen Seite darin, daß nur jene ein wirklich umfassendes System der Philosophie vorgelegt haben, das allen Seinsschichten Gerechtigkeit zu erweisen sucht; aber es bleibt richtig, daß auch für Aristoteles und Hegel die Philosophie des Organischen mehr als eine bloß regionale Disziplin ist und Folgen hat für die Gesamtstruktur ihrer Philosophie. In De anima ist die Psychologie biologisch begründet, und nicht ganz zu Unrecht hat ein weiterer HeideggerSchüler, Herbert Marcuse, in Hegels Philosophie des Lebens den Ursprung seiner Theorie der Dialektik sehen wollen.31 Wie bei Aristoteles und bei Hegel erhebt sich die Geistphilosophie einesteils auch bei Jonas über einer Philosophie des Organischen. Und wie bei beiden Vorläufern ist andernteils auch bei Jonas die Biologiephilosophie insofern auf den Geist hin angelegt, als dem Organischen eine Dimension der Innerlichkeit eignet, die von der kybernetischen Biologie zu Unrecht ausgeblendet worden sei.32 Für alle drei ist der Geist die „natürliche“ Fortsetzung des Organischen, doch ihre Philosophie wird deswegen nicht naturalistisch, weil der Organismus als auf den Geist hin angelegt konzipiert wird. Ja, alle drei Denker sehen im Organismus etwas besonders Werthaftes, ja geradezu eine Manifestation des Göttlichen in der Welt (was bei keinem der drei bedeutet, daß Gott nur innerhalb der Welt zu finden sei). Bemerkenswert ist, daß Jonas zwar in jeder Hinsicht die Darwinsche Umgestaltung der Biologie mitgemacht hat, daß er aber gleichzeitig mit Nachdruck, und mit vollem Recht, jene Bestandteile der traditionellen Biologiephilosophie verteidigt, die nur ein oberflächliches Denken als mit dem Darwinismus inkompatibel ausgibt – ich meine etwa die Lehre von der scala naturae.33 Von besonderer Dichte sind seine Überlegungen zum Unterschied von Tier und Pflanze, die nicht nur bei Aristoteles und Hegel,34 sondern auch bei den nur wenig älteren Max Scheler und Helmuth Plessner vorgeprägt sind. Am originellsten sind Jonas’ Analysen zum Wesen des Organischen, die den Metabolismus ins Zentrum stellen, der, wie Jonas wohl wußte, auch in Aristoteles’ und Hegels Biologiephilosophie eine wichtige Rolle spielt,35 allerdings der Teleonomie der Gestalt und der Reproduktion untergeordnet wird. Die Angewiesenheit des Organischen auf die umgebende
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Welt, von der es sich zugleich unterscheiden und absetzen muß, ist für Jonas eine jener Antithesen, die das Leben ausmachen, wie die „von Sein und Nichtsein, von Selbst und Welt, von Form und Stoff, von Freiheit und Notwendigkeit.“36 Hierin liegt eine deutliche Nähe Jonas’ zu Hegels Dialektik, so sehr Hegel das Denken in Antithesen und ihren jeweiligen Synthesen auf die ganze Philosophie ausgedehnt hat und so sehr er über eine Methode apriorischer Begriffsbildung zu verfügen beansprucht, die Jonas’ deskriptiv-phänomenologischem Zugang fremd ist. Der evidente Vorteil des Hegelschen Ansatzes ist, daß er über eine wenigstens ansatzweise Antwort auf die Frage verfügt, wann die Konstruktion eines philosophischen Gebietes vollständig ist. Auch wenn Hegels und Jonas’ Philosophie des Organischen sowohl in ihrer Stellung im ganzen der jeweiligen philosophischen Konzeption als auch in zahlreichen Details erstaunlich ähnlich sind, empfand Jonas ein tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber dem Hegelschen System – hier wirkte vielleicht die frühe Schopenhauer-Lektüre nach.37 Die Verwendung der Dialektik zum Zwecke einer metaphysischen Erfolgsstory hat Jonas besonders im Bereich der Geschichtsphilosophie abgelehnt, weil er keine Möglichkeit sah, den Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts einen Sinn abzugewinnen, ja derartige Versuche als Beleidigung der Opfer – etwa seiner in Auschwitz ermordeten Mutter – betrachtete. „Die Schmach von Auschwitz ist keiner allmächtigen Vorsehung und keiner dialektisch-weisen Notwendigkeit anzulasten, etwa als antithetisch-synthetisch erforderter und förderlicher Schritt zum Heil. Wir Menschen haben das der Gottheit angetan als versagende Walter ihrer Sache, auf uns bleibt es sitzen, wir müssen die Schmach wieder von unserem entstellten Gesicht, ja vom Antlitz Gottes, hinwegwaschen. Man komme mir hier nicht mit der List der Vernunft.“38
eine Rolle,39 aber vermutlich hat Jonas auch die Abneigung gegenüber dem Transzendentalismus von Heidegger übernommen, und zwar auf Grundlage der falschen Annahme, transzendentale Argumente führten zum Subjektivismus. Nun zeigt sicher Kants theoretische Philosophie eine Verbindung von Transzendentalismus und Subjektivismus, aber seine praktische Philosophie kann ganz gewiß nicht als subjektivistisch bezeichnet werden. Und in der Tat ist es so, daß die zentralen Intuitionen von Jonas’ Ethik kantianisch sind, auch wenn das angesichts von Jonas’ Polemik gegen den Kantischen Formalismus40 dem Leser von Das Prinzip Verantwortung nicht leicht auffällt. Immerhin hat Jonas vom ersten Satz der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die er früh las, gesagt, er habe „wie ein Donnerwort durch mein Leben geklungen.“41 Es ist dieses Donnerwort, das ihn vor der moralischen und ethischen Paralyse bewahrt hat, die von Heideggers Denken ausging, und ihn befähigt hat, die neben der Diskursethik innovativste ethische Theorie der deutschen Nachkriegsphilosophie vorzulegen, die lange gebraucht hat, um auch nur das Desiderat einer praktischen Philosophie einzusehen. Jonas’ bleibende Leistungen in der Ethik bestehen darin, erstens die Objektivität moralischer Verpflichtungen und zweitens ihre Irreduzibilität auf das wohlverstandene Eigeninteresse hervorgehoben zu haben – und dabei handelt es sich um zwei entscheidende Ideen Kants.42 Bei intergenerationellen Verpflichtungen, so Jonas, falle die Reziprozität weg, und allgemein gehe es in der Ethik darum, kategorische, nicht hypothetische Imperative zu fundieren.43 Damit ist der Eudämonismus der aristotelischen Ethik verlassen, und auch die nicht-hypothetischen Imperative des Utilitarismus und der Diskursethik werden in ihrem materialen Inhalt zurückgewiesen, weil Jonas in einem mit der Würde und der Berufung des Menschen erkauften Einverständnis und Wohlgefühl späterer Generationen nicht nur nichts Positives, sondern sogar eine Vergrößerung der Schuld der dafür verantwortlichen früheren Generationen sieht. „Es bedeutet, daß wir im letzten nicht das antizipierte Wünschen der Späteren konsultieren (das unser eigenes Erzeugnis sein kann), sondern ihr Sollen, das nicht von uns gemacht ist und über uns beiden steht. Ihnen ihr Sollen unmöglich machen ist das eigentliche Verbrechen, dem
III. Nicht nur ein umfassender Systembau, auch die spezifisch transzendentale Denkform ist Jonas fremd geblieben. Zwar spielen Selbstaufhebungsargumente in seiner Kritik am Epiphänomenalismus 48
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alle Vereitelungen ihres Wollens, schuldhaft genug wie sie sein mögen, erst an zweiter Stelle folgen. Das bedeutet aber, daß wir nicht so sehr über das Recht künftiger Menschen zu wachen haben […] wie über ihre Pflicht […]“.44 Jonas’ Kritik an Kant ist sicher insofern unfair, als Jonas nur eine der verschiedenen Formulierungen von Kants kategorischem Imperativ diskutiert und nicht sieht, daß dieser aus den anderen Formulierungen materiale Gehalte abzuleiten sucht, die von den Jonasschen nicht sehr entfernt sind. Ja, es mag sogar sein, daß Jonas’ alternativer kategorischer Imperativ „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“45 Kant nicht nur nicht über-, sondern sogar unterbietet, weil er vielleicht nicht ausreicht, um Individualrechte zu begründen – das hängt jedenfalls von seiner Interpretation ab.46 Auch die Begründung des Jonasschen Imperativs ist in Das Prinzip Verantwortung recht dunkel – ein Appell an Intuitionen47 findet sich merkwürdigerweise am Ende eines komplexen Arguments, nach dem in der Natur nicht nur Zwecke, sondern auch Werte zu finden seien. Das Argument ist nicht einfach zu rekonstruieren, aber sein Zentrum scheint der Gedanke zu sein, daß der Selbstzweckcharakter des Lebens ein wichtiger Zweck der Natur selbst, ja ein Gut an sich oder Wert sein müsse,48 weil es nicht möglich sei, Zweckhaftigkeit selbst zu negieren, ohne sich diese Negation selbst zum Zweck zu machen. Jonas sagt: Zwar sei etwas relativ gut – also nur de facto, aber nicht de jure gut – bloß im Lichte faktischer Zwecke, aber bei Zweckhaftigkeit an sich liege die Sache anders. „In der Fähigkeit, überhaupt Zwecke zu haben, können wir ein Gut-an-sich sehen, von dem intuitiv gewiß ist, daß es aller Zwecklosigkeit des Seins unendlich überlegen ist.“49 Jonas läßt offen, ob es sich dabei um einen analytischen oder synthetischen Satz handle, und er schwankt zwischen der Berufung auf die Evidenz des Satzes und der Verwendung eines apagogischen Argumentes: Die Nirvanalehre sei selbstwidersprüchlich, weil sie die Befreiung von allen Zwecken zum Zwecke mache. Zwar meint Jonas, daß die Unmöglichkeit eines negativen Urteils nicht ausreiche, um zu einem bejahenden Urteil zu verpflichten,50 und daher bleibt jener Satz bei ihm letztlich axiomatisch. Aber wer von apagogischen Begründungen
höher denkt als Jonas, wird in jenen Reflexionen den argumentativen Kern von Das Prinzip Verantwortung erblicken. Jonas’ Argument scheint nun, anders als etwa die transzendentalpragmatische Letztbegründung der Ethik, Möglichkeiten für eine Ethik zu eröffnen, die nicht stark anthropozentrisch ist, also nicht nur dem Menschen intrinsischen Wert zuschreibt. Zwar sind Jonas’ Aussagen zum sittlichen Eigenrecht der Natur sehr vorsichtig,51 und man spürt, daß er froh ist, daß sich die Frage praktisch gar nicht stellt, „da […] das Interesse des Menschen mit dem des übrigen Lebens als seiner Weltheimat im sublimsten Sinn zusammenfällt.“52 Und doch ist klar, daß es auf der Grundlage von Jonas’ philosophischer Biologie sehr schwierig ist, dem Lebendigen einen Eigenwert abzusprechen: Einerseits die Kontinuität der biotischen Evolution, zu der der Mensch wesentlich gehört, andererseits jene ontologisch so faszinierende Eigenart des Organischen legen nahe, es in einer Axiologie zu berücksichtigen. Hierin liegt nun in der Tat ein enormer Fortschritt Jonas’ über Kant hinaus, für den die Natur, auch und gerade die organische, in dem, was an ihr erkennbar ist, menschliches Konstrukt bleibt und damit bar jedes intrinsischen Wertes. Ein umfassendes philosophisches System hat Jonas, wie gesagt, nicht vorgelegt. Aber er hat in einem Zeitalter immer weitergehender Spezialisierung nicht nur zwei sehr unterschiedliche Disziplinen, die Philosophie der Biologie und die Ethik, auf höchst originelle Weise behandelt, sondern auch viele Bezüge zwischen ihnen deutlich gemacht. Jonas’ Originalität besteht im wesentlichen darin, daß er Heideggers Tiefenanalyse von Zeitlichkeit ebenso wie seine Kritik des modernen technologischen Zeitalters weiterentwickelt hat zu einer Ontologie der Natur und einer Ethik, die nach der Heideggerschen Diagnose der Gegenwart eine Therapie zu bieten sucht. Er ist dabei, zum Teil ohne es selbst zu wissen, zu entscheidenden Theoriebestandteilen der Naturphilosophie des deutschen Idealismus und der Ethik Kants zurückgekehrt und hat in einer Welt, die von der deutschsprachigen Philosophie nicht mehr viel erwartete, die Gegenwart, ja Zukunftsbezogenheit einer scheinbar veralteten Tradition gezeigt. Etwas übertreibend kann man sagen: Jonas hat in seinem Denken wie in seiner Sprache nicht nur das Beste aus dem präfaschistischen
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Deutschland bewahrt, sondern ist wahrscheinlich auch der letzte deutsche Nationalphilosoph gewesen – vor dem Aufgehen der Nationalphilosophien in einer entscheidend im Medium des Englischen erfolgenden Weltphilosophie. Daß der letzte deutsche Nationalphilosoph ein Jude mit US-amerikanischem Paß war, war natürlich eine besonders schmerzliche, wenn auch auf eine höhere Gerechtigkeit verweisende Erfahrung, weil sie zeigte, daß das Erlöschen der deutschen Seele ganz entscheidend eine Folge der nationalsozialistischen Vernichtung des Judentums war.
Konrad Paul Liessmann
Verzweiflung und Verantwortung. Koinzidenz und Differenz im Denken von Hans Jonas und Günther Anders Es gehört zu den Besonderheiten der philosophischen Rezeptionsgeschichte im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert, daß zwei Denker, deren Lebenswege sich mehrmals kreuzten, die als von den Nazis vertriebene deutsche Juden ein ähnliches Schicksal erlitten und deren Philosophie sich zumindest in einem gewichtigen Punkt – der Sorge um die Zukunft der Menschheit – berührte, selten in einem Atemzug genannt werden: Hans Jonas und Günther Anders.1 Bereits die biographischen Berührungspunkte lassen dieses Versäumnis höchst erstaunlich erscheinen. Hans Jonas und Günther Anders – der Sohn des berühmten Psychologen William Stern – hatten sich Anfang der zwanziger Jahre in Edmund Husserls Freiburger Seminar kennengelernt, wenig später in Berlin in einem Seminar Eduard Sprangers wiedergetroffen und angefreundet. Jonas erkannte in dem wenig älteren HusserlSchüler eine geniale Begabung,2 und ihre intensive Freundschaft erhielt dadurch eine besondere Note, daß Günther Anders die vertraute Freundin von Hans Jonas und Geliebte Martin Heideggers, Hannah Arendt, wenige Jahre später heiraten sollte. Im Rückblick will sich Jonas über diese Heirat sehr gefreut haben, habe doch immerhin sein bester Freund seine beste Freundin zur Frau genommen.3 Beide Philosophen verbanden darüber hinaus ähnliche Motive: Sie waren ursprünglich nach Freiburg gekommen, um bei Husserl zu studieren, vermochten sich dort dem Bann von Martin Heideggers unorthodoxem Philosophieren nicht zu entziehen und folgten ihm nach Marburg, standen seinem Denken jedoch durchaus kritisch gegenüber. Während Anders bei Husserl promovierte und sich Ende der zwanziger Jahre auf den
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Entwurf einer negativen Anthropologie sowie auf eine musikphilosophische Habilitation konzentrierte, die dann unter anderem am Einspruch Adornos scheitern sollte, promovierte Jonas noch bei Heidegger mit einer Arbeit über den Begriff der Gnosis, aus der dann später sein berühmtes Werk Gnosis und spätantiker Geist erwuchs. Die Machtergreifung Hitlers beendete Jonas’ Habilitationspläne ebenso wie Anders’ begonnene journalistische Karriere in Berlin. In ihrer politischen Haltung unterschieden sich die Freunde allerdings beträchtlich. Hatte sich Jonas schon früh der zionistischen Bewegung angeschlossen, die sich die Bildung einer säkularen jüdischen nationalen Heimstätte in Palästina zum Ziel gesetzt hatte, so verstand sich Anders wohl eher als linker, gesellschaftskritischer Autor, der im Umkreis von Bert Brecht verkehrte, ohne sich allerdings der kommunistischen Partei oder ihrer Doktrin zu unterwerfen. Die von Anders gerne erzählte Geschichte, wonach er schon frühzeitig die Gefahr Hitlers erkannt hatte, weil er es als einziger Intellektueller nicht für unter seiner Würde erachtet hatte, Mein Kampf zu lesen, findet in den Erinnerungen von Hans Jonas allerdings keine Bestätigung.4 Auf dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen ideologischen Prägung erscheint es nur folgerichtig, daß Anders 1933 zunächst nach Paris und 1936, nach der Trennung von Hannah Arendt, weiter in die USA floh, während Jonas ebenfalls unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung über London nach Palästina ging, dort während des Krieges Soldat bei der „Jewish Brigade Group“ wurde und im Zuge des Vormarsches der Alliierten über Italien im Juli 1945 als Offizier der britischen Armee wieder nach Deutschland kam. Jonas kehrte dann nach Palästina zurück, wurde 1948 erneut eingezogen, diesmal von der israelischen Armee, und nahm nach vergeblichen Versuchen, eine Professur an der Hebräischen Universität in Jerusalem zu bekommen, ein Angebot nach Kanada, später eines nach New York an. Dort kam es Weihnachten 1949 auch zum Wiedersehen mit Anders, an dem er bereits damals einen „Zug von Bitterkeit“ festgestellt haben will.5 Während Anders mit seiner zweiten Frau Elisabeth Freundlich 1950 nach Wien ging, wo er bis zu seinem Tode leben sollte, blieb Jonas in den USA, besuchte später allerdings auf zahlreichen Reisen immer wieder Europa und
Deutschland. Auch wenn er es in seinen Erinnerungen nicht erwähnt, geht aus einem Brief an Hannah Arendt hervor, daß er auf einer dieser Reisen gemeinsam mit seiner Frau auch Günther Anders noch einmal getroffen hatte, und auch der Briefwechsel zwischen Jonas und Anders reicht offenbar bis in die späten achtziger Jahre.6 Im Denken von Günther Anders und Hans Jonas sind einige auffallende Affinitäten, aber auch Differenzen festzustellen. Vor allem zwei Themenkreise erscheinen in diesem Zusammenhang maßgeblich. Beiden Philosophen ging es in einem eminenten Sinn um die Frage nach dem Fortbestand der Menschheit unter den Bedingungen technischer Selbstvernichtungskapazitäten, und beide setzten sich eindringlich mit den Konsequenzen auseinander, die Auschwitz nicht nur für das Denken und Handeln der Menschen, sondern auch für das religiöse Bewußtsein haben müsse. Die Antworten, die beide Fragestellungen bei Hans Jonas und Günther Anders gefunden haben, könnten – trotz gleicher oder ähnlicher Ausgangs- und Erfahrungslage – unterschiedlicher kaum sein. Angesichts der Bedrohung der Gattung Mensch versuchte Hans Jonas in seinem späten Werk Das Prinzip Verantwortung (1979), die Frage, warum menschliches Leben auch zukünftig sein solle, auf dem Wege der Metaphysik zu beantworten, indem er aus einer besonderen Seinswürdigkeit des Menschen auf das Erfordernis einer Kontinuität seiner Existenz schloß. Günther Anders hatte dagegen schon Jahrzehnte früher im ersten Band der Antiquiertheit des Menschen (1956) die Frage nach der potentiellen Vernichtung der Gattung reflektiert und dabei allen Versuchen, ein besonderes Seinsrecht des Menschen abzuleiten, eine Absage erteilt. Daß die Fortexistenz der Menschheit nicht zwingend begründbar sei, implizierte für ihn allerdings nicht, daß man sie der Vernichtung preisgeben dürfe. Beide Denker versuchten, die grundlegenden ethischen Maximen für das technologische Zeitalter mittels einer Neuformulierung des kategorischen Imperativs zu bestimmen. Die dabei auftretenden Differenzen sind nicht nur strategisch, sondern auch moralphilosophisch höchst aufschlußreich. Wollte Hans Jonas die „Permanenz echten menschlichen Lebens“ zum Kriterium des Handelns machen, so
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war für Anders die Menschenverträglichkeit der verwendeten Technologien entscheidend. Und während Jonas mit dem Prinzip Verantwortung eine moralphilosophisch begründete Antwort auf die Bedrohung der Menschheit zu geben suchte, verstand Günther Anders seinen Kampf um den Fortbestand der Gattung Mensch letztlich als ein trotziges Aufbegehren, für das sich angesichts des von ihm diagnostizierten „monströsen“ Charakters des technischen Fortschritts nicht mehr rational argumentieren ließ. Die Denkfiguren nachzuzeichnen, die Jonas und Anders entwarfen, kann nicht nur helfen, die Hintergründe ihrer kontroversen Positionen aufzuhellen, sondern auch einen Beitrag zum Verständnis der entscheidenden Problematik leisten, mit der sich jede Ethik des technologischen Zeitalters auseinandersetzen muß. Sowohl Hans Jonas als auch Günther Anders gingen von der These aus, daß die traditionellen philosophischen Moralkonzepte zur Fundierung eines Handelns im Interesse der Menschheit angesichts der destruktiven Tendenzen technischer Naturbeherrschung und vor allem angesichts der Möglichkeit der Selbstauslöschung der Gattung Mensch durch die atomaren Arsenale nicht mehr ausreichten. Jonas verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß alle bisherigen ethischen Entwürfe von den Handlungsmöglichkeiten und dem Erwartungshorizont des einzelnen Subjekts ausgegangen waren und deshalb nicht mehr genügten, um das Problem nachhaltiger Eingriffe in die Natur, die die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen schmälern oder gar irreversibel schädigen könnten, zu lösen. Die traditionelle Ethik, namentlich die Immanuel Kants, habe den Menschen aufgefordert, in Übereinstimmung mit seiner Vernunft zu handeln, in der sich gleichsam die Idee der Menschheit repräsentiert, und damit das Unmoralische als logischen Selbstwiderspruch definiert. Es liegt aber, so Jonas, „kein Selbstwiderspruch in der Vorstellung, daß die Menschheit einmal aufhöre zu existieren, und somit auch kein Selbstwiderspruch in der Vorstellung, daß das Glück gegenwärtiger und nächstfolgender Generationen mit dem Unglück oder gar der Nichtexistenz späterer Generationen erkauft wird.“ Daß die Reihe der Generationen überhaupt weitergehen, also die Menschheit auch weiterhin existieren soll, stellt angesichts der Destruktionspotentiale moderner Technologien die eigentlich
entscheidende ethische Frage dar, und sie ist nicht mit Rückgriff auf eine Individualmoral, sondern nur „metaphysisch“ zu beantworten.7 Jonas sieht sich also auf Grund der Krise der traditionellen Ethik vor der Herausforderung, einen neuen Imperativ zu formulieren, der den Fortbestand der Gattung Mensch mit im Blick hat und gleichzeitig die implizite Voraussetzung, daß auch zukünftig Leben sein soll, metaphysisch zu begründen vermag. Die Formulierungen, die Jonas diesem Imperativ gegeben hat, haben in den ökologischen und technikkritischen Debatten der achtziger Jahre eine entscheidende Rolle gespielt. An sie ist an dieser Stelle aber in erster Linie zu erinnern, um den Kontrast zur Reformulierung von Imperativen bei Günther Anders hervorzuheben. Jonas formulierte diesen Imperativ unter anderem folgendermaßen: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“, oder, negativ formuliert: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftigen Möglichkeiten solchen Lebens.“8 Jonas wollte damit letztlich aussagen, daß wir zwar – aus welchen Gründen auch immer – „unser eigenes Leben, aber nicht das der Menschheit wagen dürfen.“ Dabei war er sich darüber im klaren, daß diese Formulierungen in einer bisher nicht bekannten Form den „Zeithorizont“ zu einem bestimmenden Kriterium ethischen Verhaltens machten, insofern sie die „Zukunft“ zum letzten Sinnhorizont verantwortlichen Handelns erklärten.9 Der entscheidende Aspekt des neuen kategorischen Imperativs liegt – abgesehen von der Frage, wie sich Begriffe wie „echtes menschliches Leben“ qualitativ in Hinblick auf mögliche zukünftige Entwicklungen bestimmen lassen – im Versuch von Hans Jonas, die Forderung, die Menschheit solle auch in Zukunft fortexistieren, metaphysisch – das heißt für ihn: ontologisch – zu bestimmen. Die alte, unter anderem auch von Leibniz und Schelling geltend gemachte und von Heidegger aufgegriffene Frage, warum etwas sei und vielmehr nicht nichts, wird auch für Jonas zum Leitmotiv seines Begründungsversuchs, in dessen Zentrum die These steht, daß das Sein gegenüber dem Nichts einen Wert darstellt, der dem Sein einen Vorrang gegenüber dem Nichts
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einräumt.10 Die Plausibilität dieser These gewinnt Jonas über den Nachweis, daß in der Natur selbst schon Zwecke, die als Werte interpretiert werden können, angelegt sind, woraus er in einem weiteren Schritt folgert, daß „in der Fähigkeit, überhaupt Zwecke haben zu können“, ein „Gut-an-sich“ gesehen werden kann, von dem zumindest „intuitiv“ gewiß zu sagen ist, es sei aller Zwecklosigkeit des Seins unendlich überlegen. Unterstellt man diese als selbstevident verstandene Einsicht als „ontologisches Axiom“, so folgt daraus eine „Selbstbejahung des Seins im Zweck“, der ein emphatisches „Nein zum Nichtsein“ korrespondiert.11 Der Mensch nun, der nicht allein Produkt der Natur ist, sondern dieser reflexiv gegenübersteht, muß dieses „Ja“ zur Maxime seines Handelns und somit nicht nur zu einem Moment seines „Wollens“, sondern auch zu einem „Sollen“ machen: Daß weiterhin Menschen sein sollen, ergibt sich für Jonas letztlich daraus, daß ihrer Existenz und den damit verbundenen Lebensmöglichkeiten ein höherer ontologischer Wert innewohnt als ihrer Nichtexistenz. Angesichts der Bedrohung des Lebens auf diesem Planeten ergibt sich aus seiner Sicht daher zwingend das Konzept einer Ethik der Verantwortung, welche die Erhaltung des Lebens in Hinblick auf seine Zukunftsmöglichkeiten zum Kriterium individuellen wie kollektiven Handelns erhebt. Auch für Günther Anders sind die traditionellen Ethiken im zwanzigsten Jahrhundert unhaltbar geworden. Sein Ansatz scheint allerdings radikaler als der von Hans Jonas: „Die bisherigen religiösen und philosophischen Ethiken sind ausnahmslos und restlos obsolet geworden, sie sind in Hiroshima mitexplodiert und in Auschwitz mitvergast worden.“12 Mit diesem Diktum hat Anders die Situation der Moral in einer Weise gekennzeichnet, die keine Möglichkeit läßt, aus der Tradition der Moral und den ethischen Reflexionen der Vergangenheit noch einen entscheidenden Nutzen für die Gegenwart zu ziehen, auch nicht im Sinne der Ableitung einer neuen Verantwortlichkeit. Es ging ihm vielmehr darum, zu analysieren, inwiefern die technisch veränderte Welt mit der damit verbundenen Möglichkeit der Menschheitsvernichtung auch die bisherigen moralischen Imperative liquidiert. Aus der Analyse lassen sich dann allerdings sehr wohl Schlüsse ziehen, die Auskunft darüber geben, an welchen Maßstäben sich das
Handeln orientieren müßte, soll der Anspruch auf Humanität – und das heißt auch bei Anders schlicht: auf den Fortbestand des Menschen – nicht vollends aufgegeben werden. Günther Anders verzichtet jedoch im Gegensatz zu Hans Jonas prinzipiell darauf, eine Moral, die die Existenz der Gattung Mensch zum Ziel hat, philosophisch zu begründen. Gerade weil seiner Auffassung nach der Gattung Mensch keine bevorzugte ontologische Stellung zukommt, läßt sich auch und gerade angesichts der Bedrohung der Menschheit eine Ethik nicht ontologisch-metaphysisch deduzieren. In den anthropologischen Entwürfen seiner jungen Jahre hatte Anders den Menschen als weltfremdes, ja weltloses Wesen bestimmt, das im Gegensatz zum Tier in keine Welt eingepaßt ist, sondern sich Welt immer erst schaffen muß, was allerdings keine ontologische Sonderstellung bedeutet, sondern als belastende Exterritorialität, als „Pathologie der Freiheit“ zu diagnostizieren ist.13 Die noch bei Kant formulierte Ansicht, nur dem Menschen komme eine Zweckhaftigkeit zu, der gegenüber alles andere in der Natur zu einem Mittel werden könne, so daß der Mensch das Ziel, das Telos der Natur sei, hat Anders immer wieder bestritten, zumal er darin das Manko der abendländischen Ethik erblickte.14 Aus der Position des Menschen in der Welt läßt sich seine Wertigkeit ebensowenig ableiten wie aus einer vermeintlichen Hierarchie des Seins, die Anders nicht mehr gelten lassen wollte. Wohl aber resultiert aus der „Pathologie der Freiheit“, daß der Mensch ein Wesen ist, das nicht nur die Möglichkeit der Entscheidung besitzt, sondern geradezu dazu gezwungen ist. Weil wir nicht vollständig in unserem Handeln determiniert sind, sind wir mit Freiheit, das heißt aber mit der Notwendigkeit konfrontiert, bestimmte Handlungen zu wählen oder zu unterlassen. Diese Freiheit erschien Anders durchaus als eine Form von Zwang, die dem Menschen die Unausweichlichkeit des Sollens schlechthin auferlegt: „Es bleibt uns gar nichts anderes übrig: wir müssen sollen.“ Daß der Mensch sich Gesetze, Regeln, Normen geben muß, da die natürlichen Instinkte nicht ausreichen, war für Anders in erster Linie eine Not, keine Tugend. Immanuel Kants Apotheose des Sittengesetzes wurde interessanterweise gerade deshalb zum Gegenstand der Kritik: „Die philosophische […] Grundfrage muß die nach den Bedingungen der
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Nötigkeit sein, nicht die transzendentale nach den Bedingungen der Möglichkeit.“15 Anders griff damit übrigens einen Gedanken aus seiner frühen Auseinandersetzung mit Heidegger auf, dem er in der Studie über dessen Scheinkonkretheit vorgeworfen hatte, nur nach den Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit, nicht aber nach der „Bedingung der Nötigkeit“ gefragt zu haben.16 Diese Nötigung zum Sollen und damit die wie auch immer geartete prekäre Möglichkeit zur Freiheit sah Anders allerdings durch Entwicklungen gefährdet, die dazu geeignet waren, das Sollen aufzuheben. Die Ideologie und Vernichtungspraxis des Nationalsozialismus verstand Anders etwa als den Versuch, den Menschen auf eine vorgegebene Natur, auf ein Seiendes, festzuschreiben und auf diese Weise aus einem Sollen ein Müssen zu machen: „Wenn ein Seiendes (der Arier) von Natur aus und unwiderruflicherweise das Gute verkörpert und ein anderes Seiendes (der Jude) gleichfalls von Natur aus und unwiderruflich das Böse, dann ist kein Platz mehr gelassen für Freiheit (der Wahl zwischen Gut und Böse), und das ebenfalls unwiderruflicherweise; und ebenso unwiderruflicherweise ist dann kein Raum mehr übrig für das ‚Sollen’, das nun gewissermaßen zwischen Sein und Müssen zerquetscht wird.“ Unter solchen Bedingungen wird der Kantische Begriff der Pflicht pervertiert. Hatte Kant die Pflicht zu handeln noch als die Forderung verstanden, sich an einer dem kategorischen Imperativ folgenden Vernunft zu orientieren, sich also bei jeder Handlung zu überlegen, ob die zugrundeliegende Maxime für alle Menschen gelten könne, so wurde Pflicht bei den Nazis nun zu dem Phantasma, tun zu müssen, was die Natur verlangt. Anders hat dies knapp und präzise in einer Weise formuliert, die wohl auch für andere, ähnlich gelagerte Ontologisierungen des Guten und Bösen gilt: „Wo Müssen herrscht, darf kein Sollen sein.“17 Günther Anders ging es demnach um die Analyse jener Faktoren, die – obwohl fallweise sogar Produkt der Freiheit menschlichen Handelns – dieses selbst wiederum bestimmen. An anderer Stelle formulierte er diese Frage folgendermaßen: „Sei moralisch, obwohl du, daß Sollen sein soll, nicht begründen kannst, nein sogar für unbegründbar hältst.“18 Zu dem oben Gesagten ergibt sich dabei kein Widerspruch, da der Mensch – als das zum Sollen
gezwungene Wesen – aus diesem Sollen nicht ableiten kann, daß er selbst in einem ontologischen Sinn sein soll. Daß er als Mensch sollen muß, bedeutet nicht, daß er als Mensch auch sein soll. Oder anders ausgedrückt: Zwar ist der Mensch durch seine spezifische Existenz zur Moral genötigt, doch seine Existenz selbst läßt sich ebensowenig aus der Moral ableiten wie man letztere philosophisch begründen kann. Als Konsequenz aus diesen Überlegungen postulierte Anders einen „moralischen Nihilismus“. Ethik bleibt in diesem Sinne letztlich ein „utopisches“, das heißt unmögliches Unterfangen. Daß die Existenz der Gattung Mensch nicht positiv begründet werden kann, bedeutete für Anders allerdings nicht, daß sie deshalb nicht sein soll. Aus seinem moralischen Nihilismus machte er kein anthropofugales Programm, denn so wenig sich begründen läßt, warum menschliches Leben sein soll, so wenig folgt daraus das Gegenteil. In den Ketzereien bekannte sich Anders in bezug auf die Begründbarkeit der Moral und auf die Existenz des Menschen deshalb zu einem doppelten Nihilismus, betonte jedoch, dieser habe ihn als handelndes Wesen nie beeinflußt. Anders zog also aus seinem Nihilismus keine praktischen Konsequenzen, sondern beließ es bei der Provokation, daß er als Nihilist mit „eiserner Inkonsequenz“ auf dem Überleben der Menschheit beharrte.19 Die Frage, welchen Sinn es haben solle, daß es eine Menschheit gebe und nicht vielmehr keine, ist für Anders „höchstens im Bereich der theoretischen Vernunft sinnvoll (auch wenn unbeantwortbar), für die praktische Vernunft dagegen uninteressant. Den Moralisten geht sie nichts an. Er begnügt sich mit dem Vorletzten.“20 Das Leben der Menschen bedarf, um als lebenswert verteidigt zu werden, keines metaphysischen Sinns. Der Sinn des Lebens ist deshalb als Fundament für die Letztbegründung einer Moral ebenfalls ungeeignet. Für seinen praktischen Kampf um das Überleben der Menschheit benötigte Anders keine Begründung. Auch wenn ihn die theoretische Einsicht in die prinzipielle Unmöglichkeit dieser Begründung metaphysisch verzweifeln ließ, so durfte dies für das Handeln keine Bedeutung haben: „Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an.“21 Jenseits der Frage nach einer philosophischen Letztbegründung der Ethik war Günther Anders jedoch genauso konkret an
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der Moralfrage interessiert wie Hans Jonas. Es ging ihm schließlich nicht nur um die ethische und geschichtsphilosophische Frage der denkbar geworden atomaren Selbstvernichtung der Menschheit, sondern auch darum, auf welche Weise der technologische Fortschritt das Leben der Menschen entscheidend veränderte. Die Sorge, die Möglichkeiten der Technik könnten weniger einen Zugewinn an Freiheit, als vielmehr eine schleichende Dehumanisierung zur Folge haben, beschäftigte Anders ebenso intensiv wie Jonas. Im Gegensatz zu diesem reagierte er darauf jedoch nicht mit einer neuen Verantwortungsmoral, sondern verlagerte das Moralproblem in die Struktur des Technischen selbst. Während die konventionellen Vorstellungen von Moral, wie sie nicht zuletzt auch in den gegenwärtigen Debatten um Gentechnik und Bioethik zum Ausdruck kommen, noch immer davon ausgehen, es bedürfe moralischer Normen und Richtlinien, die den Umgang mit den durch den technischen Fortschritt eröffneten Möglichkeiten regeln, insistierte Günther Anders in einer radikalen Umdeutung der moralischen Grundsituation auf der Erkenntnis, daß nicht etwa unsere moralischen Maximen den Gebrauch der Geräte steuern, sondern vielmehr die Maximen der Geräte uns die Richtlinien des Handelns vorgeben. Das bedeutet nicht nur, daß alles, was technisch möglich ist, schließlich auch verwirklicht werden wird, sondern auch, daß das, was erlaubt, geboten oder verboten ist, einzig davon abhängt, was die Geräte und die Technologien zulassen. Deshalb konnte Anders postulieren, im technologischen Zeitalter sei de facto ein „kategorischer Imperativ“ wirksam, der stärker als jedes Sittengesetz das tatsächliche Handeln der Menschen bestimme: „Handle so, daß die Maxime deines Handelns die des Apparats, dessen Teil du bist oder sein wirst, sein könnte“ – oder negativ formuliert: „Handle niemals so, daß die Maxime deines Handelns den Maximen der Apparate, deren Teil du bist oder sein wirst, widerspricht.“22 Die Grundthese von Anders für eine der Zeit angemessene Ethik lautet also, daß das Sollen dem Menschen letztlich von den Maschinen abgenommen wird – eine Prämisse, die nicht nur die großen Fragen hinsichtlich der Zukunft der Menschheit, sondern auch die Alltagsmoral betrifft: „Produkte, also Dinge, sind es, die den Menschen prägen. In der Tat wäre es kaum eine Übertreibung
zu behaupten, daß Sitten heute fast ausschließlich von Dingen bestimmt und durchgesetzt werden. […] Sofern wir heute einen Benehmenskodex haben, ist dieser von Dingen diktiert.“23 Das Sollen wird also durch die Apparate, mit denen wir uns umgeben, in ein Müssen umgewandelt, aus Handlungsmöglichkeiten werden Notwendigkeiten, die gleichsam als naturhafte Sachzwänge erscheinen. Freiheit und damit die Möglichkeit, als Mensch zu agieren, lassen sich allein in einer immer wieder herzustellenden Souveränität gegenüber den Technologien bewahren, denn es gilt: „Jeder hat diejenigen Prinzipien, die das Ding hat, das er hat.“24 Deshalb gab Anders seiner positiven Neuformulierung des kategorischen Imperativs folgende Form: „Habe nur solche Dinge, deren Handlungsmaximen auch Maximen deines eigenen Handelns werden könnten.“25 Welchen Maximen eine Moral auch immer folgen will – die Bedingung für deren Möglichkeit entscheidet sich am Verhältnis dieser Maximen zu den in der Technik immer schon mitgelieferten Handlungsanweisungen und Normierungen des Denkens und Handelns. Man könnte diese Überlegung auch den Neuformulierungen des kategorischen Imperativs bei Hans Jonas gleichsam vorschalten: Wer an einer Permanenz echten menschlichen Lebens interessiert ist, muß aufpassen, ob er dieser Intention nicht einfach dadurch widerspricht, daß er Geräte verwendet, zu deren immanenter Logik es gehört, eben jenes „echte menschliche Leben“ zu destruieren. Aus solch einem Ansatz resultierte keine blinde Technikfeindlichkeit, wohl aber eine vernünftige Reflexion eines jeden über die immanenten Ziele unserer Apparaturen. In detaillierteren Analysen – so Günther Anders zum Fernsehen, Hans Jonas zu Fragen der Medizinethik – haben beide Denker vorgeführt, wie solch eine Reflexion aussehen kann.26 Wenngleich sich beide Denker also in der Frage nach der Begründbarkeit der Existenz der Gattung Mensch deutlich unterscheiden, können in den Ansätzen zu einer Ethik, die auf die Fortsetzung menschlichen Lebens auf der Erde abzielt, durchaus Übereinstimmungen festgestellt werden. Dieses Phänomen einer gleichzeitigen intellektuellen Nähe und Ferne läßt sich noch in einem weiteren Themenbereich ihres Denkens feststellen. Beide Philosophen, die aus säkularen jüdischen Familien stammten und durch die Vernichtungspolitik der Nazis
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in existentieller Weise auf ihr Judentum verwiesen worden waren, hatten sich, wenn auch erst Jahrzehnte später, der schmerzhaften Frage nach den Folgen der Schoa für den Glauben an den biblischen Gott und für eine moderne Auseinandersetzung mit der Theodizeeproblematik gestellt. In der Frage allerdings, welche religionsphilosophischen oder theologischen Konsequenzen aus den Massenmorden des zwanzigsten Jahrhunderts zu ziehen sind, hatten Hans Jonas und Günther Anders diametral entgegengesetzte Positionen. Während Hans Jonas in einem beeindruckenden und berührenden Text – Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme – den Gedanken zur Sprache brachte, man könne nach Auschwitz nur noch von einem dem Handeln des Menschen ohnmächtig ausgelieferten Gott reden, stellten Auschwitz und Hiroshima für Günther Anders die stärksten Indizien dafür dar, daß Gott nicht existieren könne. Wie aus den Erinnerungen von Hans Jonas hervorgeht, haben sie jedoch bei aller Divergenz in der Frage, ob und inwiefern nach Auschwitz noch ein Gott gedacht werden kann, der jeweils anderen Position zumindest Respekt gezollt.27 Die Theodizeeproblematik geht in ihrer modernen Fassung zwar auf Leibniz zurück, hat in ihrem Kern – der Frage, wie Gott angesichts der Übel gerechtfertigt werden kann – ihre erste große Ausdeutung jedoch bereits in der Klage Hiobs angesichts des ihm widerfahrenen, für ihn nicht mehr nachvollziehbaren Leides erfahren. Der griechische Philosoph Epikur hat dieser Problematik dann die erste logifizierte Fassung gegeben: Der Philosoph, der die Vermeidung von Schmerz zur Maxime seiner Philosophie erhoben hatte, soll auf die Frage, warum Gott das Leid zulassen könne, geantwortet haben: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er mißgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl mißgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?“28 Die Präzision dieser Deduktionen, mit denen die
prinzipiellen Möglichkeiten, das Verhältnis Gottes zum Übel zu denken, ausgelotet waren, sind unüberbietbar. Alle Diskurse der Theodizee, mit welchem Raffinement sie auch immer geführt wurden, standen, wenn auch oft unausgesprochen, vor dem Problem, Epikurs Schlußfrage beantworten zu müssen, weil alle anderen Möglichkeiten unzumutbar oder undenkbar erschienen. Genau diese Frage aber bestimmte letztlich auch das Nachdenken von Günther Anders und Hans Jonas über Gott nach Auschwitz. In seinen zum Teil fingierten tagebuchartigen Aufzeichnungen Ketzereien hat Günther Anders die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts der Massenmorde des zwanzigsten Jahrhundert in aller Radikalität und Naivität noch einmal gestellt. Im Rahmen einer Fragebogenaktion wird der Philosoph von einem Fernsehjournalisten mit der Frage konfrontiert: „Glauben Sie an Gott, wenn nein, warum nicht.“ Auf diese – sogar in seinen „unzimperlichen“ Ohren „ungehörige“ – Frage folgt ein Anderssches Lehrstück, an das sich der Journalist, sollte es ihn tatsächlich gegeben haben, wohl noch lange erinnert hat: „Erst einmal teilte ich ihm schlicht mit, daß ich nicht wüßte, was mit dem Wort ‚glauben’ gemeint sei. Sein Unterkiefer fiel herunter, so als hätte ich in präzedenzloser Weise einen durch den Fernsehauftrag automatisch mitgeltenden Vertrag gebrochen. […] ‚Wenn es [Gott] gibt’, sprach ich sehr langsam, ‚dann ist er einer, der Auschwitz und Hiroshima nicht verhindert hat. […] Er ist also einer, der, die Hände im Schoß, diese beiden Ereignisse zugelassen hat. […] Ist solch ein Gott ein gerechter Gott? Wäre ein solcher Gott ein gerechter Gott? Ein liebender Gott? Ein barmherziger Gott? Einer, zu dem wir beten dürften, ohne uns zu entwürdigen? Einer, den wir anbeten dürften, ohne uns zu schämen? Ohne uns zum Komplizen seines Zulassens zu machen? […] Finden Sie nicht, dann schon besser kein Gott?’“29 Mit Blick auf die Greuel des zwanzigsten Jahrhunderts – und Anders nennt konsequent Auschwitz und Hiroshima in einem Atemzug – steigert der bekennende Atheist stakkatoartig die Argumente, die, wenn auch in anderer Form, seit Leibniz gegen die Verteidigung Gottes vorgebracht werden, zu einem historischen Anti-Gottesbeweis. Angesichts dessen, was in diesem Jahrhundert Menschen anderen Menschen angetan haben, angesichts
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der vollständigen und systematischen Vernichtung ganzer Populationen und Völker ist ein barmherziger Gott nicht mehr vorstellbar. Auf die Freiheit des Menschen, über die Gott keine Macht habe, will sich Anders dabei erst gar nicht einlassen: denn er spricht aus der Perspektive der Opfer. Deren Leiden hätte einen existierenden Gott zu einem Eingreifen bewegen müssen. Da dies jedoch nicht geschah, kann Gott nicht existieren. Daß Auschwitz – nicht Hiroshima – vielleicht gerade deswegen zum Kern einer säkularen negativen Theologie werden konnte, hat Anders allerdings nicht intendiert – eher im Gegenteil. In einem wohl ebenfalls nicht ganz authentischen Gespräch mit einem Priester auf einer Bahnfahrt von Bad Ischl nach Wien nennt Anders den Glauben an einen Gott, der Auschwitz „zugelassen“ hat, geradezu eine „Blasphemie“ und fährt dann – gegen die hilflosen Einspruchsversuche des Priesters –fort: „‚Oder meinen Sie, er [Gott] habe davon [von Auschwitz] sowenig gewußt wie das deutsche Volk seit dem Jahre 1945? Das heißt: gewußt, aber nichts davon wissen wollen. Und die Frage ist nicht nur an Sie gestellt. Sondern auch an die Rabbiner. Und an alle Nachfahren der sechs Millionen. Zuweilen frage ich mich sogar, ob es wirklich so groß gewesen sein kann, mit den Preisungen dessen, der dies zuließ, auf den Lippen in die Gasöfen hineinzuziehen. Ob das nicht – aber ich wage das aus Respekt vor dem Unsäglichen, das mir ohne Verdienst erspart geblieben ist, nur ganz leise zu fragen – ob dieser Preisgesang vielleicht nicht etwas …’ Das Wort ‚unwürdig’ wagte ich nicht auszusprechen. Und ließ dieses Gespräch versanden.“30 Hans Jonas stellte sich in hohem Alter in einem 1984 gehaltenen Vortrag an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen ebenfalls noch einmal der Frage nach dem Gottesbegriff nach Auschwitz. Dabei meinte er dezidiert und bewußt den Gott des Judentums und nannte seine Reflexionen ein „Stück unverhüllt spekulativer Theologie“.31 Auch Jonas griff angesichts des Geschehens der Schoa noch einmal die seit Hiob und Epikur tradierten Denkfiguren der Theodizee auf: „Nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor behaupten, daß eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (in ihrem Weltregiment, worin allein wir sie erfassen können) total unverständlich wäre. Wenn aber Gott auf gewisse
Weise und in gewissem Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht all-mächtig ist.“32 Im Gegensatz zu Anders, für den die Vernichtung des europäischen Judentums und die Bombardierung von Hiroshima letztlich einen negativen Gottesbeweis darstellten, zog Jonas aus ganz ähnlichen Prämissen einen völlig anderen Schluß. Nicht Gottes Nicht-Existenz wird in der Katastrophe des jüdischen Volkes sichtbar, sondern seine vollkommene Ohnmacht: „Durch die Jahre des Auschwitz-Wütens schwieg Gott […], nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein.“33 Mit großartigen, ergreifenden Worten skizzierte Jonas das faszinierende und erschreckende Bild eines Gottes, der zu schwach ist, um in das von ihm initiierte Weltgeschehen noch einzugreifen, aber dennoch um die Liebe der Menschen für sein Schöpfungsprojekt wirbt: „Aus Gründen, die entscheidend von der zeitgenössischen Erfahrung eingegeben sind, proponiere ich die Idee eines Gottes, der für eine Zeit – die Zeit des fortgehenden Weltprozesses – sich jeder Macht der Einmischung in den physischen Verlauf der Weltdinge begeben hat; der dem Aufprall des weltlichen Geschehens auf sein eigenes Sein antwortet nicht ‚mit starker Hand und ausgestrecktem Arm’, wie wir Juden alljährlich im Gedenken an den Auszug aus Ägypten rezitieren, sondern mit dem eindringlich-stummen Werben seines unerfüllten Zieles.“34 Der schwache, ohnmächtige Gott: Das ist zweifellos auch ein naher Gott, der paradoxerweise leichter verständlich erscheint als ein allmächtiger Deus absconditus. Schwach zu sein, nicht eingreifen zu können und trotzdem geliebt werden zu wollen – das ist nicht nur nachvollziehbar, das ist vor allem zutiefst menschlich. Nach Auschwitz, so die These von Jonas, haben wir keine Möglichkeit, Gott anders als in dieser Gestalt zu denken. Glauben hieße heute, an diesen schwachen Gott glauben und ihm gleichsam, indem man selbst versucht, das Projekt der Schöpfung zu verbessern, zu Hilfe zu eilen und alles zu tun, damit er an sich selbst nicht verzweifeln muß. Doch, so könnte man fragen, setzt nicht dieses Ansinnen, daß der Mensch sich mitleidig in den ohnmächtigen Gott einfühlen soll, jene Hybris der Gottähnlichkeit voraus, die seit dem Sündenfall als Ursprung des Bösen gilt? Und
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schließt sich in einer Theologie des schwachen Gottes nicht ein Kreis, der mit einer letztlich technisch induzierten Selbstermächtigung des Menschen begonnen hat und nun zur Ohnmacht des Allmächtigen führt? Dort, wo Hans Jonas trotz Auschwitz und trotz der Atombombe einen Gott, an den er nach eigenen Angaben letztlich nie gezweifelt hat,35 auch um den Preis der Ohnmacht retten wollte, hielt Anders das Festhalten an einem solchen Glauben letztlich – und dies scheint der entscheidende Punkt zu sein – mit der Würde des Menschen für nicht mehr vereinbar. Daß Anders im Gegensatz zu Jonas demonstrativ darauf verzichten wollte, den Sinn menschlichen Lebens metaphysisch zu begründen, motivierte auch seinen radikalen Atheismus, für den Auschwitz und Hiroshima so etwas wie letzte, furchtbare Bestätigungen darstellen. In letzter Instanz war aus seiner Sicht nicht nur die Existenz des Menschen unbegründbar, sondern auch der Sinn seines Lebens. Der in der populären praktischen Philosophie so beliebten „Sinnfrage“ hatte Anders stets eine harte und konsequente Absage erteilt. Schon in den frühen Studien zur Philosophie Heideggers heißt es: „Säkularisiert man das Dasein, so begibt man sich der Möglichkeit einer Sinn-Philosophie. […] Denn der Sinnbegriff ist ohne Transzendenz ‚sinnlos’. […] Wir haben keinen Sinn. Denn ‚Sinn’ hat nur das Unfreie.“36 Nur solche Dinge haben einen Sinn, deren Zweck von jemandem bestimmt ist und über die verfügt werden kann. Das Leben des Menschen, auch das der Gattung Mensch, hätte nur dann einen Sinn, wenn es von einer übergeordneten Instanz als Zweck, als Mittel für etwas anderes ausersehen wäre. Dem Leben einen Sinn geben, hieß für Anders immer, sich seiner Freiheit und damit der Möglichkeit der Selbstbestimmung zu berauben, also „für“ etwas anderes oder für jemand anderen dazusein. Später hat Anders diese in der Auseinandersetzung mit Heidegger entwickelte Kritik des Sinnbegriffs in einer Analyse der „Antiquiertheit des Sinns“ verallgemeinert: „‚Sinn haben für …’ bedeutet (immer): heteronom sein, Mittel für einen Zweck sein, unfrei sein. Ist es wirklich so gewiß, daß Sinn-Haben ein Ehrenprädikat, und daß keinen Sinn zu haben, ein Manko ist? Läuft nicht vielleicht letztlich unsere Suche nach Sinn auf Suche nach
Dienstbarkeit hinaus, auch wenn wir diesen Sinn (weil wir ihn nicht finden) ‚tief’ nennen …?“37 Darüber hinaus wies Anders darauf hin, daß die philosophische Tradition fast nie nach dem „Sinn von Positivem“ gefragt hatte, sondern immer nur nach dem Sinn von Leid, sich also an den Negationen des Lebens entzündete, deren „Dasein“ mit dem „Willen Gottes“ nicht hatte vereinbart werden können und deshalb Rechtfertigung erforderte. Die modisch gewordene Sinnfrage erweist sich also als die „säkularisierte Version der Theodizee-Frage.“ Sie ist die „getarnte Rechtfertigungsfrage des Atheisten.“ Will man keinen Gott annehmen, der mit den Menschen etwas „im Sinn“ haben könnte, so gibt es auch keine vorgeordnete Bestimmung oder Funktion des Menschen. Mit dem „Tod Gottes“, so Anders, sei auch der „Tod des Sinns“ zu proklamieren: Wir sind „Nichtgemeinte“, die „ungesteuert durch den Ozean des Seienden treiben.“38 Gerade gegenüber diesem „Nichtgemeintsein“ hat Hans Jonas Widerspruch angemeldet: „Ich bin jedoch zutiefst davon überzeugt, daß der reine Atheismus falsch ist, daß es darüber hinaus etwas gibt, was wir nun vielleicht nur noch mit Hilfe von Metaphern zur Sprache bringen können, ohne das jedoch die Gesamtsicht des Seins unverständlich wäre.“39 Jonas’ Verantwortungsethik ist theoretisch deshalb auch von dem Bestreben, die „Gesamtsicht des Seins“ zu verstehen, nicht zu trennen. In ihren praktischen Konsequenzen ähnelt sie allerdings der voraussetzungslosen praktischen Moral von Günther Anders: Beide Konzeptionen sind von großer Skepsis gegenüber dem technischen Fortschritt getragen, beide Konzeptionen fürchten um die Zukunft des Menschen. Philosophisch wäre an dieser Stelle weiterzufragen, welchen Stellenwert Begründungsversuche oder deren Verweigerung und die Konzeption von Transzendenz oder deren Verneinung für das praktische Handeln, dem es um den Menschen geht, eigentlich besitzen. Denn eine entscheidende Frage müssen beide Denker schließlich offenhalten: die Frage nach dem, was letztlich das Menschengemäße genannt werden könnte. Das „echte menschliche Leben“, dessen Permanenz Jonas einfordert, bleibt im Konkreten so unbestimmt wie das Kriterium, an dem Günther Anders die „Antiquiertheit“ des Menschen abliest. Die Schärfe und Luzidität, mit welcher die einander so ähnlichen und dennoch
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so differenten Freunde ihre Positionen vorgetragen haben, enthebt uns nicht der Aufgabe, angesichts jeder neuen Technologie und angesichts der fortgesetzten oder jederzeit fortsetzbaren nuklearen Hochrüstung die Frage danach, was es heißen kann, als Mensch menschlich zu leben, immer wieder neu zu stellen.
Christian Wiese
Zwiespältige Freundschaft: Reflexionen über Hans Jonas und Gershom Scholem I. Am 15. August 1940 trug Hans Jonas bei einem feierlichen Anlaß im Hause Salman Schockens in Jerusalem einen köstlichen Text mit dem Titel „Aus einem ungedruckten Fragment zum ‚Zauberberg’ von Thomas Mann“ vor. Ganz im Stile des Dichters zeichnete er darin – in der Gestalt des „Fremden“ – ein lebendiges Bild seines Freundes und zionistischen Mitstreiters Gershom Scholem, während er sich selbst als Settembrini stilisierte: „Als die Vettern sich der Wegbiegung näherten, wurden sie auf das anschwellende Stimmengetön einer Unterhaltung aufmerksam, die offenbar in lebhaftestem, um nicht zu sagen heftigstem Gange war und bei der ihres Freundes Settembrini vertraute und wohllautende Stimme nur mit Mühe sich gegen ein rücksichtsloseres Organ von ganz unhumanistischer Streitbarkeit und sturzbachähnlicher Redefülle und -geschwindigkeit zu behaupten schien. Jetzt war sie gar vollends darin ertrunken wie ein Schwimmer, der erschöpft den Kampf gegen die Übermacht des Elementes aufgibt und mit dem Kopfe immer längere Zeiten unter Wasser bleibt […]. Ein schon nicht mehr hörbarer Einwurf Settembrinis, vielleicht nur der Versuch zu einem solchen, war soeben mit dem leidend-ungeduldigen Ausruf ‚Wenn sie mich doch nur ausreden ließen!’ von dem Fremden zum Schweigen gebracht worden, der dann auch ohne Aufenthalt, wenn auch keineswegs in fließender, sondern vielfach von gezogenen Vokalen und Flickworten wie ‚Dingsda’ unterbrochener Rede die so geschaffene Alleinredefreiheit zu nutzen fortsetzte. Nein, ein Dialog, wie ihn sich die alten Protagonisten des Wechselgesprächs
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bei uns hier oben so oft in pädagogischer Absicht vor lernbegieriger Jugend geliefert hatten, war das nicht. Von jenem bei aller Schärfe eleganten Duell nach ungeschriebenen Regeln, bei dem mit angestrengter Höflichkeit oder auch mit verhaltener Schadenfreude der Eine den Andern ausreden ließ, um dann mit wohltemperierter Stimme zu gesetzter Gegenrede anzuheben, gewiß, dabei des gleichen Vorzuges wie jener sich versehen zu dürfen – kurz, von der schätzenswerten Konvention gesitteter Gesprächskunst, nach Settembrini der Mutter der Freiheit und des Fortschritts, konnte hier nicht wohl die Rede sein. ‚Sieh da, Freund Settembrini in Nöten’ dachte Hans Castorp und beschleunigte mit erfreuter Spannung den Schritt, während er den widerstrebend mithaltenden Joachim daran erinnerte, wie sie an beinah eben dieser Stelle zum ersten Mal dem kleinen scharfen Naphta in der Gesellschaft Settembrinis begegnet waren. Alsbald wurden sie auch des Paares ansichtig, und Hans Castorp konnte seine Neugierde in betreff des Fremden im Näherkommen befriedigen. Sagten wir ‚des Fremden’? In der Tat, eine fremdartigere Erscheinung war selten hier oben gesehen worden. Auf langen Beinen daherschreitend, die bei jedem Schritt eine leichte Auswärtsbewegung beschrieben, so daß sie der ganzen Gestalt eine Art von Schlingern mitteilten; mit langen Armen und riesigen Händen gestikulierend, wobei die eine noch ihr besonderes Spiel mit einem Gegenstande trieb, der sich bei näherem Zusehen als ein in rastlosem Zwirbeln abwechselnd zu einem Röhrchen gerollter und wieder entrollter Papierstreifen erwies; den Oberkörper leicht vorgebogen und den Kopf aus dem Nacken nochmals vorgeschoben; mit Ohren, deren Ausmaße denen der anderen Extremitäten nicht nachstanden – hatte die Gestalt des Fremden trotz des im gesitteten Abendlande üblichen Sakko-Anzuges, mit der sie bekleidet war, wohl infolge ihrer vielfältig schlenkerigen Bewegungen etwas so Phantastisches, und wir möchten sagen, Flatterndes an sich, daß es die Freunde kaum gewundert hätte, wenn er bei einbrechender Dämmerung wie eine Fledermaus schwärzliche Flügel entfaltet und sich schaukelnden Fluges über das in Dunkel sinkende Tal hin entfernt hätte. Vorderhand aber ereignete sich nichts dergleichen, wenn auch der Inhalt der Rede, in der der Fremde begriffen war, seltsam genug war und auch bizarrere Möglichkeiten als diese in den Bereich des
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Erwartbaren und sozusagen Selbstverständlichen zu rücken schien. ‚Bekanntlich’, so hörte Hans Castorp ihn gerade sagen, ‚bekanntlich haben Gespenster keinen Umriß.’ Hier gelang es Settembrini, mit feiner Würde die Feststellung anzubringen, daß ‚bekanntlich’ die Vernunft von Gespenstern nichts wisse, auch nichts davon zu wissen wünsche und glücklicherweise mit diesem mittelalterlichen Aberglauben, der so lange den Menschen geschändet, endgültig aufgeräumt habe – wenigstens, so fügte er noch hinzu, für alle diejenigen, denen Fortschritt und Ehre des Menschen am Herzen lägen. Befremdlicherweise antwortete der Unterredner auf diese mit edler Wärme vorgebrachten Worte, die gleichsam an sein besseres Ich zu appellieren und eine höhere Gemeinsamkeit über den Standpunkten anzurufen schienen, mit dem einzigen Worte ‚Backobst!’ – dessen möglicher Zusammenhang mit dem verhandelten Gegenstande den Freunden schlechterdings unverständlich blieb, das aber jedenfalls auf irgendeine Weise, trotz der Untadelhaftigkeit des in Rede stehenden Erzeugnisses der Fruchtverwertungsindustrie, von Herrn Settembrini mit Recht oder Unrecht als eine nicht eben schmeichelhafte Kennzeichnung seiner Einrede empfunden wurde, wie die flüchtige, auf Gekränktheit schließen lassende Bewölkung seiner angenehmen Züge bewies. Diesen Anflug von Verstimmung überwand er indessen sofort mit Eleganz, als er jetzt daran ging, die Herren miteinander bekannt zu machen – was denn also im Gehen und halben Stehenbleiben mit verbindenden Handbewegungen und unter Scherzreden seitens Settembrinis geschah, wobei er den Stand des Vorzustellenden nach italienischer Art möglichst pomphaft herausstrich …“1
Dieser Text legt auf lebendige Weise Zeugnis ab von einer aufrichtigen, von Humor, Ironie und der Begegnung starker Charaktere geprägten Freundschaft. In seinen Studienzeiten in Berlin hatte Jonas Scholem einmal von ferne auf einer turbulenten zionistischen Versammlung beobachtet und ihn schon damals als „ungemein eigenwillig denkende, originelle und aufs tiefste von geistigen Motiven durchdrungene Persönlichkeit“ wahrgenommen.2 Nachdem Jonas Deutschland im August 1933 endgültig verlassen hatte, knüpfte er an diesen Kontakt an und bat den auf Grund seiner Studien zur jüdischen Mystik bewunderten 73
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Kollegen um ein Empfehlungsschreiben, das dieser ihm bereitwillig ausstellte. Scholem empfand seinerseits bereits zu dieser Zeit große Achtung vor Jonas’ philosophisch-religionsgeschichtlicher Interpretation der spätantiken Gnosis und bescheinigte ihm „ein ungewöhnliches Talent zur scharfen Fassung und Durchleuchtung überaus schwieriger Gedankenkreise“, nicht ohne ihn offenbar brieflich auf die mangelhafte Rezeption seiner eigenen Arbeiten hinzuweisen – ein Thema, das später dringlicher werden sollte, hier aber lediglich vorsichtig anklang.3 Der Jerusalemer PILEGESCH-Kreis, über den Jonas in seinen Erinnerungen so anschaulich berichtet,4 ein schabbatlicher Debattierclub, in dem neben ihm und Scholem vor allem der Physiker Shmuel Sambursky, der Orientalist Hans Jakob Polotsky, der Altphilologe Hans Lewy und der Publizist George Lichtheim in deutscher Sprache miteinander ernste und weniger ernste Diskussionen führten, ermöglichte wenig später, nach Jonas’ Übersiedlung nach Palästina im Jahre 1935, die intellektuelle Begegnung der beiden Gelehrten, aus der bald eine intensive Freundschaft erwuchs. Sie war getragen von wechselseitiger Achtung und einem humorvollen Miteinander, wie es sich in dem oben angeführten „literarischen“ Text widerspiegelt. Andere – ernstere – Zeugnisse deuten auf eine im gemeinsamen Forschungsinteresse an der Welt der Gnosis und frühjüdischen Mystik gründende intensive Nähe, hinter der jedoch bei genauer Betrachtung eine bleibende Distanz aufscheint, die symbolisch vielleicht im lebenslang aufrechterhaltenen „Sie“ zum Ausdruck kam. So hatte etwa Scholem 1942 seinem Freund eine Ausgabe seines soeben erschienenen Buches Major Trends in Jewish Mysticism mit folgender Widmung geschenkt: „Dem gnostischen Kollegen / zum warnenden Geleit / beim ferneren Abstieg / in die Tiefen des Nichts / widmet diesen kleinen Traktat / über Mystik und Dialektik / freundschaftlich / der analysierende und / nicht-analysierte Autor. G. Scholem, Jerusalem 8.3.1942.“ Am 15. Januar 1943 – Jonas war zu dieser Zeit mit der britischen Armee nahe Haifa stationiert – ließ Scholem ihm ein weiteres Exemplar mit einer zweiten Widmung zukommen. Sie enthält ein vorsichtig angedeutetes Bekenntnis Scholems über die Wirkung der Auseinandersetzung mit der jüdischen Mystik auf sein eigenes Denken. Seinem Freund Jonas
gestattete er damit einen kurzen Blick in ansonsten völlig verborgene Seelenlandschaften:
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In die alten Bücher ging ich hinein – Mich dünkten die Zeichen groß. Ich blieb zu lange mit ihnen allein, Ich konnte nicht mehr los. Die Wahrheit hat den alten Glanz, Doch das Unglück stellt sich ein: Das Band der Geschlechter bindet nicht ganz, Das Wissen ist nicht rein. Verworrnes Gesicht von der Fülle der Zeit Habe ich heimgebracht. Ich war zum Sprung auf den Grund bereit, Aber habe ich ihn gemacht? Die Symbole der Väter sind hier formuliert; Der Kabbalist war kein Narr. Doch was die verwandelnde Zeit gebiert Bleibt fremd und unsichtbar. Die verwandelte Zeit sieht uns grausam an; Sie will nicht mehr zurück. Die Vision der Erlösung in Qualen zerrann. Was bleibt, ist verworfenes Glück.
(Hans Jonas, dem gnostischen Kollegen, zur Beherzigung beim Abstieg in die Tiefen des Nichts und beim Aufstieg ins noch Unbekanntere freundschaftlich eröffnet von Gerhard Scholem)5 Jonas antwortete in einem aufgewühlten Dankesbrief vom 4. Februar 1943 aus Haifa: „Lieber Scholem, wie soll ich Ihnen danken? Ich bin noch nie so beschenkt worden, und ich werde kaum einen zulänglichen Ausdruck finden für die Bewegung, die ich empfinde, so oft ich das
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großzügige und großartige Bekenntnis lese, mit dem Sie mich geehrt haben. Ich bin glücklich, daß Sie mein Exemplar dazu gewählt haben, und mehr noch, daß ich nun so im Ernste weiß, was mich und andere so oft als Frage – manche aus ‚Neugierde’ und manche als dringliches, mit dem Phänomen ‚Scholem’ verbundenes geistiges Anliegen – beschäftigt hat. Für mich persönlich könnte ich auch sagen: beunruhigt hat. Denn Sie sind sich ja selber klar darüber, daß Ihre geistige Existenz als solche, nicht nur das Forscherleben mit dem wissenschaftlichen Ertrag, in dem sie sich manifestiert, um sich zugleich dahinter zu verschanzen, eine tiefe Herausforderung an unsere – die ‚verwandelte Zeit’ – enthält; eine Herausforderung, die manches gerne aufnehmen würde, wenn sie nur unverhüllt (darf ich sagen: unzweideutig?), greifbar, sei es in bekenntnishafter, sei es in dialogfähiger Form, ihm entgegentreten würde. Jene Verschanzung im Forschungsgegenstand, legitim wie sie ist (und verpflichtend, wenn nicht durch das Objekt, dann noch durch die Objektivität des Erkennens), lehrend und wehrend in einem, Wink zugleich und Maske (und insofern so etwas wie eine Symbol-Wirklichkeit im echten Sinne) – sie macht es schwer, für die ‚Auseinandersetzung’, die doch unabdingbar darin vorgezeichnet ist, auch nur die ausdrücklichen terms festzustellen. Für die direkte wenigstens: die indirekte muß eben die gleichen ‚symbolischen’ Wege einschlagen, die Ihre Thesis (oder Herausforderung) geht – und diesen Weg immanenter Selbsterklärung und damit verhüllter Rede und Antwort gehen wir andern, jeder auf seine Weise und mit seinen (bescheideneren) Mitteln, in der Tat ja auch, unwillkürlich oder absichtsvoll, – jeder, wenn er sich forschend und deutend der Geschichte in seinem besonderen Thema stellt. Aber das Geheimnis der Beziehung zwischen dem Forscher und seinem Gegenstand, in Ihrem Falle ein berechtigteres Interesse, eine schärfere Frage als in den meisten sonst, ist gerade Ihnen gegenüber, wie Sie wissen, seit langem ein beliebter Gegenstand teils witziger Vermutungen (mit entsprechenden Formulierungen), teils ernsthaften Fragens und Kopfzerbrechens: alle diese aber, meine ich, letzten Endes ein Ausdruck jener Beunruhigung, die ich für mich oben erwähnt habe. All dies ‚lockt’ Sie nicht aus Ihrer Reserve heraus. Welcher Verstehende möchte nicht die Selbstzucht, die Enthaltsamkeit des Forschers und zugleich die Verschwiegenheit, ja Sprödigkeit der Person (in diesem
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Lichte sehe ich Ihre Gesprächigkeit) ehren und vor der direkten Anfrage zurückscheuen? Aber das Bedürfnis und das Warten bleibt: und es kommen Augenblicke in der Geschichte eines Geistes, wo man nach allen ihm verdankten Erkenntnissen sich ein Bekenntnis wünscht; wo ein Zipfel wenigstens des Vorhanges gelüftet und der latente Standpunkt sich in einer neuen, unmittelbareren Approximation, in der Sprache des Vertrauens, deklarieren möge – um der eigenen und um der befreundeten Seelen willen. Dies hat für mich Ihr Widmungsgedicht getan. Sie werden mir vergeben, wenn ich die einzige würdige Antwort, zu der es mein Gefühl verpflichtet: die Erwiderung von meinem Zentrum her, vorläufig aufschiebe. Ich weiß nicht, ob ich so viel Standpunkt schon in mir kristallisiert habe, und jedenfalls ist für mich die Zeit einem solchen Unternehmen nicht günstig. So begnügen Sie sich bitte für jetzt mit meinem ernsthaften Dank und dem Ausdruck, den ich ihm in diesem Briefe zu geben versucht habe. Als erstes werde ich mich zum Objekt zurückbegeben und in meinen knappen Mußestunden die Kapitel lesen, zu denen ich bisher nicht gekommen war.“6
Scholems Widmung und Jonas’ Dankesbrief sind einzigartig in der gegenseitigen Öffnung, die sich bei Scholem verhüllter, „symbolischer“, im Medium des Widmungsgedichtes vollzog, während Jonas seine Empfindungen offener aussprach: den Dank, aber auch ein gewisses Leiden an der Distanz und „Sprödigkeit“ eines Freundes, der sich ihm offenbar allzu oft hinter der „Maske“ seiner wissenschaftlichen Forschung verbarg. Zugleich illustrieren diese Texte, was Jonas meinte, als er später in seinen Erinnerungen über das „ungelöste Scholemrätsel“ reflektierte, nämlich über die Frage, die sich auch die nächsten Freunde stellten, „ob Scholem selbst ein gläubiges Verhältnis zum Judentum hatte“: „Was glaubte er, wie viel wollte er glauben, konnte es aber nicht? Niemals hat er sich darüber deutlich erklärt“.7 Was Jonas in seinem Brief als „Verschwiegenheit“ des Forschers beschreibt, die er in der Widmung mit den Anspielungen auf religiöse Suche, Faszination von mystischen Texten, Ernüchterung und bleibender Fremdheit andeutungsweise durchbrochen sah, haben andere Scholem als Ausweichen vor klaren Antworten hinsichtlich seines Verhältnisses zur religiösen Tradition und säkularen Moderne 77
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Wiese: Hans Jonas und Gershom Scholem
vorgeworfen. Die Deutungen seiner Haltung zum Judentum oszillieren zwischen der These, er habe die Kabbala völlig distanziert und aus säkularer Perspektive als historische Erscheinung betrachtet und der Auffassung etwa Theodor W. Adornos, „der mystische Funke [müsse] in ihm selbst gezündet haben“,8 sowie Ernst Simons Vermutung, hinter Scholems Schweigen von Gott verberge sich ein Bekenntnis zu ihm – nämlich als „indirekte Mitteilung“.9 Scholem selbst brachte seine Haltung erstmals in späteren Zeugnissen zur Sprache, etwa in seinem Essay „Einige Betrachtungen zur jüdischen Theologie in dieser Zeit“ aus dem Jahr 1973 und in einem 1973/74 geführten biographischen Interview.10 In diesem Gespräch distanzierte sich Scholem vom Atheismus und bekannte sich dazu, „daß ich ein religiöser Mensch bin, weil ich mir meines Glaubens an Gott sicher bin“.11 Er gab zu verstehen, daß er trotz seines streng wissenschaftlichen Zuganges zur Mystik zumindest das Grundgefühl der Kabbalisten teile – „daß es in der Welt ein Geheimnis gibt“.12 Es klingt – natürlich ohne daß dies intendiert gewesen wäre – fast wie eine späte Antwort auf Jonas’ Reaktion auf den Widmungstext des Jahres 1943, wenn Scholem auf die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Glaube in seiner Erforschung und Lehre der Geschichte der Kabbala erwiderte:
„Tarnungen“ und „Masken“ diesem gegenüber persönlich formuliert hätte. Ohne daß ersichtlich wäre, ob Scholem und Jonas nach ihren in den Gedichten und Briefen aus dem Jahre 1942/43 vorsichtig formulierten Andeutungen den Faden des Gespräches über Religion, Glauben und Zweifel jemals wieder aufgenommen haben, läßt Scholems Essay von 1973 eine überraschende Nähe zu Jonas’ Denken feststellen. Trotz mancher unterschiedlicher Akzente, die schon darin begründet liegen, daß der Jerusalemer Gelehrte aus einem weit tieferen Fundus jüdischer Gelehrsamkeit schöpfen konnte, gelangten beide Denker – wohl unabhängig voneinander und doch um die gleichen Fragen ringend – zu sehr ähnlichen Einschätzungen. Wie Jonas, der zeitlebens ein zwiespältiges Verhältnis zur jüdischen Tradition hatte, das sich zwischen grundsätzlicher Bejahung und Zurückweisung zentraler Elemente bewegte,14 bekennt Scholem, nicht zu „diesen Glücklichen“ zu gehören, die eine „positive Theologie eines unverrückbaren Judentums“ besitzen – allenfalls könne er Fragen aufwerfen. Zu diesen Fragen zählen, abgesehen von jener nach der Autorität der Tradition, vor allem die nach der „Stellung des Judentums und seiner Überlieferung in einer säkularisierten und technologisierten Welt“ sowie die nach der Bedeutung der „Katastrophe der Vernichtung“ und der Gründung des Staates Israel. Wie Jonas in seinen Überlegungen über den Gottesbegriff nach Auschwitz reflektiert Scholem über die Folgen der „Hitlerjahre, die auf so überwältigende, unfaßbare und im Grunde wohl auch unausdenkbare Weise in unser Leben als Juden eingegriffen“ haben, so daß sich jüdische Tradition nicht mehr einfach ungebrochen fortschreiben läßt.15 Die Herausforderung der Schoa, aber auch jene der fortschreitenden Säkularisation, betrifft aus Scholems Sicht die drei entscheidenden Grundpfeiler des Judentums: die Autorität der Offenbarung, den Schöpfungsglauben und die Hoffnung auf Erlösung, also genau jene Aspekte, die auch in Jonas’ Reflexion über das Judentum eine entscheidende Rolle spielten.16 Wie Jonas ging Scholem davon aus, daß der verbindliche Charakter der Offenbarung zerbrochen, die Überzeugung vom Dasein Gottes aber auch unabhängig von einer Offenbarung konkreter Glaubensinhalte denkbar sei. Die Bejahung der Existenz Gottes und daraus abgeleiteter religiöser oder ethischer Folgerungen sei
„Doch daß ich über die Kabbala nicht nur als ein historisches Kapitel sprach, sondern aus einer dialektischen Distanz, aus gleichzeitiger Identifizierung und Entfernung, resultierte wohl aus meinem Empfinden, daß es in der Kabbala einen lebendigen Kern gab, daß sie Dinge in einer jener Generation entsprechenden Form zum Ausdruck brachte, die sich aber vielleicht auch in anderer Form in etwas anderem und in einer anderen Generation hätten ausdrücken können. Jenseits aller Tarnungen, Masken und philologischen Spiele, in denen ich mich auszeichne, hat mich wohl etwas Verborgenes dieser Art angetrieben. Ich kann verstehen, daß etwas Derartiges sich in den Herzen meiner Zuhörer – unter den Säkularen – entzündete, wie es sich auch in mir entzündet hatte.“13
Es gibt keine Zeugnisse dafür, daß Scholem diese Antwort und vor allem das Zugeständnis der ja auch von Jonas angesprochenen 78
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in der Moderne vielfach in philosophische Überzeugungen übersetzt worden und besitze „den Wert von Provokationen, die sich vielleicht im Schmelztiegel des modernen Nihilismus als unauflösbar und zukunftsträchtig behaupten können“.17 Das entspricht nicht nur Jonas’ These vom Fortwirken der jüdisch-christlichen Überlieferung in der westlichen Philosophie,18 sondern auch der Art und Weise, in der er in seinen theologischen Reflexionen Autonomie der Vernunft, Ohnmacht Gottes und Wirksamkeit Gottes im Handeln des Menschen miteinander in Einklang zu bringen versuchte. Obwohl Gott weder durch geschichtsmächtiges Handeln noch durch autoritative Offenbarung in den Lauf der Welt einzugreifen vermag, kann er sich doch hörbar machen: Durch den Geist des Menschen „kann Gott gleichsam Macht zurückgewinnen, ebenso wie er auch scheitern kann durch das Versagen der Menschen. Es ist nicht gesagt, daß Gott Gehör findet in den Seelen und daß die von ihm erleuchteten Propheten sich durchsetzen […]. Aber grundsätzlich gibt es dieses Einfallstor, durch welches das Überweltliche in das Weltliche hineinwirken kann – die einzige Kausalität, die ich Gott noch einräume.“19 Alle „theologischen“ Texte des Philosophen zeugen davon, daß er, wie Scholem, darauf hoffte, daß – trotz Säkularisation – die philosophische Plausibilität zentraler Elemente jüdischen Glaubens wie die Heiligkeit geschöpflichen Lebens und die Gottebenbildlichkeit des Menschen kraft des menschlichen Geistes dem nihilistischen Weltverständnis der Gegenwart widerstreiten könne.20 In der Frage nach der Bedeutung der Schöpfungsvorstellung für das Judentum im säkularen Zeitalter und ihrem Verhältnis zur Hoffnung auf die messianische Erlösung wird die Nähe von Jonas und Scholem besonders eindrucksvoll erkennbar. Ein auffälliges Merkmal der Philosophie von Hans Jonas besteht darin, daß die gegen Ernst Bloch gerichtete Fundamentalkritik utopischen Denkens im Prinzip Verantwortung21 mit einer eindeutigen Distanzierung von der jüdisch-messianischen Tradition korrespondiert, die als eschatologische Flucht vor der Bejahung der Zweideutigkeit und Fragilität geschöpflichen Seins erscheint.22 Diese Haltung hängt vor allem mit der für Jonas’ Ethik charakteristischen starken Akzentuierung der Vorstellung von einem dem Leben
selbst innewohnenden Wert – theologisch: die Güte der Schöpfung und die „Heiligkeit“ des Geschaffenen – zusammen, der das „Sollen“, den Imperativ der Bewahrung des Lebens, begründet. Ähnlich ging auch Scholem von der kritischen Beobachtung aus, die Idee der Erlösung habe sich, sei es unmittelbar, sei es in säkularisierten Metamorphosen, „viel nachdrücklicher im Denken weiter Kreise behauptet“ als jene der Schöpfung. „Grade die, die am lautesten von Erlösung und deren Implikationen sprechen, wollen oft am wenigsten von der Welt als Schöpfung hören. Aber daß die Welt Schöpfung sei, einmalige oder kontinuierliche, sich immer erneuernde, ist ein Satz, auf den keine wie immer geartete jüdische Theologie verzichten kann. […] In der Wahl zwischen den beiden Alternativen, der Welt als Schöpfung und der Welt als sich selbst gebärendes Zufallswesen, wird die jüdische Überzeugung von Gott als Schöpfer auch jenseits aller Bilder und Mythen ihren Platz behaupten.“ Jedes lebendige Judentum, wie immer es seinen Gottesbegriff verstehe, müsse darauf beharren, daß die Vorstellung einer Welt, die sich aus sich selber entwickelt habe, zwangsläufig die Auffassung der Sinnlosigkeit der Welt nach sich ziehe.23 Leibniz’ berühmte Frage, warum etwas sei und nicht vielmehr nichts, der auch Jonas im Prinzip Verantwortung nachspürt,24 ist aus Scholems Sicht jedoch nicht unabhängig von der Frage nach Gott zu beantworten. Mögen beide noch darin übereinstimmen, daß „Gott als Schöpfer“ wichtiger sei als „Gott in seiner Eigenschaft als Offenbarer und Erlöser“, ja, daß sich eine Theologie denken lasse, „in der die einzige Offenbarung eben die Schöpfung selber wäre“,25 so wird in Scholems These der Unerläßlichkeit einer spezifisch religiösen Schöpfungsethik für die Herausforderung durch die Technologie ein gewisser Dissens sichtbar. Jonas’ skeptische, aber letztlich positiv bewertete Frage, ob sich eine Ethik der Verantwortung ohne Rekurs auf die religiöse Kategorie des „Heiligen“ wirksam begründen lasse,26 hätte Scholem sehr dezidiert mit dem Hinweis beantwortet, die Forderungen der religiösen Ethik – die „Forderungen der Gottesfurcht, der Liebe zu Gott, der Demut und vor allem der Heiligung, die ohne eine Beziehung zur religiösen Sphäre nicht gedacht werden können“ – stünden „zu einer säkularisierten Welt in Widerspruch“ und seien „in einer rein innerweltlichen Ethik nicht
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vollziehbar“.27 Für Jonas’ Versuch, Sinn und Wert des Lebens aus einer inneren Teleologie der Natur heraus zu begründen und eine säkulare Tradition der Verantwortung für die „Heiligkeit des Lebens“ zu stiften,28 läßt Scholems Schöpfungstheologie und seine starke Akzentuierung des Gegensatzes religiöser und säkularer Ethik allerdings keinen Raum. Im Gegenteil: Konnte Jonas auf Grund seiner Philosophie des Lebens eine nicht-religiöse Begründung des „Heiligen“ voraussetzen und fordern: „Wir müssen wieder Furcht und Zittern lernen und, selbst ohne Gott, die Scheu vor dem Heiligen“,29 so formulierte Scholem: „Die säkularisierende Rede von der ‚Heiligkeit des Lebens’ ist eine Quadratur des Zirkels. Sie schmuggelt einen absoluten Wert in eine Welt hinein, die ihn aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus niemals bilden könnte und welcher versteckt auf eine Teleologie der Schöpfung hinweist, die doch von der rein naturalistischen Weltanschauung geleugnet wird.“30 Könnte man sich einen Dialog von Scholem und Jonas im Himmel vorstellen (eine natürlich angesichts von Jonas’ Interpretation des Todes und des Begriffes der Unsterblichkeit undenkbare Möglichkeit),31 so wäre es mehr als spannend, Zeuge der Konfrontation dieser beiden unterschiedlichen Perspektiven zu werden. Ungeachtet der gegensätzlichen Auffassung, die in den zuletzt angeführten Formulierungen aufscheint, hätte Jonas Scholems Kritik der Schöpfungsvergessenheit der modernen Gesellschaft und seiner Überzeugung, eine „technologische Welt“, die sich hemmungslos optimistisch auf die Beherrschung der Natur stürze, müsse mit der Welt des Judentums zwangsläufig in einen Konflikt „von ungemilderter Vehemenz“ geraten, wohl bedingungslos zugestimmt. Wenn Scholem die Befürchtung äußert, der Mensch wäre in einer solchen Welt unbegrenzter technologischer Macht „ein hilfloses Instrument ihn überrollender Gewalten und zugleich ein atomisiertes, isoliertes Detail, das schutzlos vor Einsamkeit und Sinnlosigkeit steht“,32 so erinnert das unweigerlich an Jonas’ Diagnose der Gefährdung der Würde und Verantwortung des Menschen in einer der Dimension des Transzendenten und des Anspruches der Gottebenbildlichkeit beraubten säkularen Gesellschaft.33 So verwundert es nicht, daß beide Denker angesichts der Entzauberung des Kosmos und der Welt durch die moderne Naturwissenschaft mit ihrem
Hang zur technologischen Bemächtigung die Kategorie der Ehrfurcht, des Heiligen und des Geheimnisses neu zur Geltung zu bringen versuchten – Jonas in seinem persönlichen Glauben an den ohnmächtigen Schöpfergott und dem Hinweis, es gebe „ein Geheimnis, das uns alle über die zeitgebundenen, privaten, persönlichen Stellungnahmen hinaus, die wir geistig und bewußt vollziehen, bindet“,34 Scholem im Verweis auf das Grundgefühl jüdischer Mystik und der eindringlichen Warnung vor ihrem Verlust: „Wenn das Gefühl, daß die Welt ein Geheimnis birgt, je aus der Menschheit entschwindet – ist alles zu Ende. Ich glaube aber nicht, daß es so weit mit uns kommen wird …“35
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II. Die vorsichtig-tastende Nähe, wie sie in Jonas’ und Scholems persönlichen Zeugnissen aufscheint, hat sich offenbar nach Jonas’ Übersiedlung nach Kanada 1949 nie wieder eingestellt. Statt dessen sollte es schon bald zu einem Konflikt kommen, der ihre Beziehung dauerhaft überschattete. Zunächst ging es dabei konkret um die Frage nach der Treue gegenüber dem Zionismus und dem jungen Staat Israel. Jonas war nach seinem Militärdienst 1945 nach Palästina zurückgekehrt, fand jedoch keine akademische Wirkungsmöglichkeit und wurde 1948 bei Ausbruch des israelischen Unabhängigkeitskrieges sofort wieder eingezogen. 1949 übersiedelte er daher mit seiner Familie nach Kanada, sein weiterer Weg führte ihn dann von dort 1955 als Professor an die New School for Social Research nach New York. Dort fiel die endgültige Entscheidung, die Perspektive eines Lebens und philosophischen Lehrens in Jerusalem aufzugeben und sein Glück auf dem amerikanischen Kontinent zu versuchen. Als Jonas 1951 einen Ruf als Philosophieprofessor an die Hebräische Universität Jerusalem, für den sich Scholem persönlich eingesetzt hatte, aus familiären Gründen und weil er in den USA bereits Fuß gefaßt hatte, ablehnte, kam es zu einem scharfen Streit, in dessen Verlauf der Vorwurf des „Verrats am Zionismus“ laut wurde, den Scholem ihm über Jahrzehnte halb ernst, halb scherzhaft vorhielt.36 Was blieb, war eine zwiespältige Freundschaft, die sich fortan in einer 83
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eigentümlichen Mischung aus Zuneigung, Ironie und Streitbarkeit Ausdruck verschaffte. Mit der Zeit kam es dann zu Differenzen, die sachlich mit der unterschiedlichen Entwicklung der Forschungsschwerpunkte beider Gelehrter zu tun hatte. Jonas hatte die Gnosisforschung zu dieser Zeit längst hinter sich gelassen, um sich ganz seiner neuen Philosophie des Organischen zu widmen. Zwar wurde er auf Grund des Ruhmes seines Gnosis-Werkes noch gelegentlich zu wichtigen Kongressen eingeladen, doch er verfolgte die Entwicklungen innerhalb der Disziplin nur noch am Rande, so daß die Forschung, wie er bereitwillig zugestand, in der Fülle der Details der religionsgeschichtlichen Quellenerschließung und -deutung rasch über ihn hinwegschritt.37 Im Zentrum der heftigen Dissonanzen zwischen beiden Gelehrten stand die vieldiskutierte und nach wie vor kontroverse Frage nach dem Verhältnis von Gnosis und Judentum, also immerhin einer der zentralen Aspekte der Bestimmung des Wesens und Ursprunges der gnostischen Bewegung. Seit dem neunzehnten Jahrhundert hatten sich auch jüdische Forscher mit dieser Frage auseinandergesetzt und entweder – so Heinrich Graetz – einen gnostischen Einfluß auf rabbinische Traditionen oder umgekehrt einen jüdischen Einfluß auf die Gnosis vorausgesetzt.38 Unter dem Einfluß der Religionsgeschichtlichen Schule hatte sich die Aufmerksamkeit jedoch vom Judentum hin zur iranischen Religion verlagert – der sogenannte orientalisierende Ansatz, der auch Hans Jonas prägte.39 Er postulierte von Beginn an eine dialektische, letztlich jedoch durch einen fundamentalen Gegensatz geprägte Beziehung zwischen jüdischer und gnostischer Religion. Er bestritt zwar nicht, daß sich die Gnosis jüdischer Motive und Elemente bediente, und wollte auch einen Zusammenhang der Gnosis mit einem heterodoxen okkulten Judentum nicht ausschließen, akzentuierte aber den antijüdischen Impetus, den er in ihrem vehementen Antinomismus und in der Identifikation des verhaßten gnostischen „Demiurgen“ Jaldabaoth mit dem Gott der hebräischen Bibel verspürte. Der juden- und judentumsfeindliche Affekt galt Jonas als wesentliches Merkmal der gnostischen Rebellion gegen die Vorstellung von einer nach dem Ebenbild Gottes gestalteten guten Schöpfung. Daß die Gnosis in Gegensatz zum Judentum trat und „an dem jüdischen Weltgott ihr ganzes angesammeltes
Ressentiment ausließ“, war aus seiner Sicht gerade das untrügliche Kennzeichen ihres revolutionären Charakters, der in der antidualistischen Natur des jüdischen Monotheismus seinen natürlichen Widerpart finden mußte.40 Jonas wußte sich darin mit Scholem einig, der ihm gegenüber in den dreißiger Jahren bei einem Gespräch in Jerusalem die Gnosis als bedeutendsten Entwurf eines – nicht gegen das jüdische Volk, sondern gegen den jüdischen Gott gerichteten – „metaphysischen Antisemitismus“ bezeichnet hatte.41 Diese Einschätzung wirkt bis heute nach, wenn etwa Micha Brumlik vermutet, es sei „historisch kein Zufall […], daß Antijudaismus und Antisemitismus bis heute von gnostischem Denken zehren“, da die Gnosis das Judentum auf Grund seines Glaubens an einen rationalen Weltschöpfer stets als schlimmsten Feind betrachtet habe. Allerdings, darin urteilt Brumlik anders als Jonas, ändere dies nichts daran, „daß die Gnosis wahrscheinlich im Schoß jüdischer Sekten entstanden ist und daß im Judentum selbst, in Kabbala und Chassidismus, gnostische Tendenzen einen erheblichen Raum einnahmen“.42 In dieser Feststellung spiegeln sich neue Tendenzen sowohl der Gnosisforschung als auch zeitgenössischer Arbeiten zu den mystischen, esoterischen Überlieferungen des Judentums von der Antike über die mittelalterliche Kabbala bis zur Frühen Neuzeit, die immer deutlicher Zusammenhänge mit gnostischem Denken sichtbar machen. Letzteres thematisierte Gershom Scholem, der in seinem Werk Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen die These vertrat, die antike jüdische Mystik trage eindeutig auch gnostische Züge. Scholem beschrieb die Gnosis als Reaktion gegen das rabbinische Judentum, später sogar als von apokalyptischen Schriften inspirierte innerjüdische Entwicklung. Sein Begriff eines „jüdischen Gnostizismus“ postulierte zwar keinen historischen Zusammenhang zwischen der antiken jüdischen Mystik und der gnostischen Bewegung des zweiten und dritten Jahrhunderts, beschrieb aber eine der Gnosis phänomenologisch verwandte religiös-mystische Bewegung, die aus alten jüdischen religiösen Ideen und Symbolen entstanden sei; diese wiederum hätten auch dem nicht-jüdischen Gnostizismus als Material gedient. Einschränkend machte er immerhin auf grundsätzliche Differenzen aufmerksam, die darin begründet seien, daß sich die Merkabah-
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Mystik, anders als die dualistische gnostische Mythologie, in Anlehnung an das orthodoxe Judentum um strikte Bewahrung des Monotheismus bemüht habe. Bahnbrechend ist Scholems Versuch geworden, die Wirkungsgeschichte gnostischen oder gnostisierenden Denkens in der mittelalterlichen Kabbala – vom Buch Bahir im zwölften Jahrhundert über den Sohar bis hin zur lurianischen Kabbala des sechzehnten Jahrhunderts – nachzuweisen.43 Jonas dagegen drang darauf, den Begriff des Gnostischen mit Blick auf die spätantike jüdische Mystik wesentlich zurückhaltender zu verwenden,44 auch wenn er selbst seine Haltung weiter differenzierte und die Möglichkeit jüdischer „Vorläufer“ und der Entstehung der Gnosis „an den Rändern“ des Judentums zugestand, sie also als jüdischen Motiven und Denkversuchen nahe und von ihnen herausgefordert zu begreifen begann.45 Zu einem „Eklat“ zwischen beiden Forschern kam es, als Jonas 1965 einen Aufsatz veröffentlichte, in dem er seine massive Kritik an einer einseitigen Herleitung der Gnosis aus dem Judentum durch Gilles Quispel mit einem sanften polemischen Seitenhieb auf Scholems Terminologie einer jüdischen Gnosis verband: Die Bezeichnung der orthodox-monotheistischen jüdischen Mystik als Gnosis führe zur Nivellierung des radikalen Bruches zwischen Judentum und Gnosis, deren entscheidendes Merkmal aus Jonas’ Perspektive nach wie vor der häretische Dualismus zwischen dem wahren Gott des Lichts und dem gefallenen Gott der finsteren Schöpfung war.46 Als Scholem darauf offenbar höchst empört reagierte, entschuldigte sich Jonas in einem Brief vom 19. Mai 1966 und würdigte aufrichtig Scholems wissenschaftliche Überlegenheit auf dem Gebiet: „Lieber Scholem, ich schulde Ihnen ein Bekenntnis schlechten Benehmens und eine Bitte um Verzeihung, die ich nur mit der Hoffnung vorbringen kann, daß Sie sie um der Freundschaft willen gewähren, selbst wenn ich nichts vorbringen kann, was die Bitte rechtfertigt. […] Sie haben Ihren gerechten Unwillen und keinen Grund, ihn durch seine Anerkennung beschwichtigen zu lassen. Ich kann nur grandios von der ‚midat ha-din’ [hebr.: Recht; C. W.] an ‚midat ha-rachamim’ [hebr.: Gnade; C. W.] bei Ihnen appellieren und, wie gesagt, alte Freundschaft dabei zur Hilfe rufen. Bitte verzeihen Sie mir. Ich möchte noch sagen, daß ich zwar zugegebenermaßen nicht alles von
Ihnen lese […], aber doch jedes Mal was immer mir von Ihnen in die Hände kommt, und jedes Mal mit der Bewunderung und Belehrung, die seit je alle Scholemiana bei mir bewirken.“47 Einen späten Nachhall fand dieses kleine Scharmützel, als Scholem eine für 1978 in Yale anberaumte große Gnosiskonferenz, bei der er gemeinsam mit Jonas auf dem Podium hätte diskutieren sollen, absagte. „Ihre Abwesenheit“, schrieb Jonas daraufhin, „ist für mich eine bittere persönliche Enttäuschung […]. Viel von dem Glanz der Konferenz und ein Hauptgrund meiner Zusage, ist in meinen Augen dahin. Die Aussicht, gerade unter den Auspizien dieses Themas noch einmal, am Lebensabend, die theoretische Bühne mit Ihnen teilen zu können […], hatte mich mit tiefer Vorfreude erfüllt.“48 Scholem erteilte ihm daraufhin eine deutliche Abfuhr, indem er den Gegensatz zwischen seiner eigenen religionsgeschichtlich bestimmten Position und Jonas’ philosophischer Interpretation der Gnosis scharf akzentuierte und eine öffentliche Diskussion darüber für sinnlos erklärte:
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„Der Hauptgrund meiner Absage in Yale war die völlig unmögliche Zeit. […] Freilich kam auch die oder jene Erwägung hinzu, die mit völlig verschiedenen Begriffen zusammenhängen, die wir offenkundig über den Begriff ‚Gnosis’ haben, worüber Sie sich ja oft genug verbreitet haben. Was soll eigentlich aus solchem Gespräch, in dem man aneinander vorbeiredet, herauskommen? Ihre Definition der Gnosis ist nicht die meine, und darüber zu diskutieren, hätte gar keinen Sinn. Für mich ist Gnosis eine sich immer wieder reproduzierende Struktur im religiösen Denken, für Sie ist es ein einmaliges geschichtsphilosophisch bestimmtes Phänomen […]. Sie haben das Buch über Gnosis geschrieben, das unbedingt einmal geschrieben werden mußte, und wir alle, mich eingeschlossen, sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Die historische Forschung hat, so weit ich sie zu verstehen imstande bin, ganz andere Wege eingeschlagen, und ich habe mit großem Respekt und noch größeren Bedenken Ihre zwei oder drei Versuche gelesen, sich mit dieser Tatsache auseinanderzusetzen. Darüber eine öffentliche Diskussion mit Ihnen zu führen, würde bedeuten, mich einige Monate an dies Problem zu setzen, wofür bei meiner Arbeitslage und deren Programmierung ich keine absehbare Zeit sehen kann. […] Hoffentlich bleiben uns
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beiden noch einige Jahre guter Arbeit gegönnt. Das wünsche ich uns sehr. Mit herzlichen Grüßen Ihr Gershom Scholem.“49
Solche Worte, die nunmehr schonungslos aussprachen, was sich bis dahin stets im Bereich der Andeutung bewegt hatte, hinderten Jonas allerdings nicht, Scholem wenig später anläßlich von dessen achtzigsten Geburtstag noch einmal die Bedeutung ihrer Freundschaft für sich und seine persönliche Bewunderung vor Augen zu führen. „Ich weiß wohl“, so schloß er seinen herzlichen Brief, „daß Sie oft unzufrieden mit mir waren und es vielleicht permanent sind. Von mir darf ich bekennen, daß ich mich glücklich schätze, einmal in Ihrem näheren Umkreis gewesen zu sein und daß Sie eine bedeutende Figur in meinem Leben waren und geblieben sind. Ich verknüpfe meine Huldigung mit den wärmsten Wünschen für weiteres Leben und Schaffen. Ihr Hans Jonas.“50 Trotz aller Spannungen, die Jonas’ Freundschaft mit Gershom Scholem über die Jahrzehnte immer wieder trübten, und trotz aller Distanz, die wohl mit ihr Wesen ausmachte, kam es nie zum Bruch zwischen ihnen, offenbar weil das in Jerusalem gelegte Fundament tragfähig genug war, um das Aufeinanderprallen zweier starker Persönlichkeiten auszuhalten. Der von Achtung, aufrichtiger Trauer und Dankbarkeit gegenüber dem Freund zeugende Kondolenzbrief von Hans Jonas an Fania Scholem, der in der Charakterisierung Scholems unübersehbar Anklänge an den zu Beginn dieses Aufsatzes zitierten Text im Stile Thomas Manns aufweist, bringt den Wert, den er der in jungen Jahren gewachsenen Freundschaft auch im Alter noch beimaß, unvergleichlich zum Ausdruck:
Wiese: Hans Jonas und Gershom Scholem
meinem eigenen Leben wegzudenken, und mit keiner anderen Figur vergleichbar. In ihm konzentrierte sich für mich Jerusalem: gedanklich, temperamentsmäßig, gestenhaft, im Getöse des leidenschaftlichen Gesprächs, in der elektrischen Hochspannung jedes Austauschs, der blitzenden Rede und Widerrede, der unerschöpflichen Originalität, der nie ermüdenden Neugier, dem immer frischen Interesse, der Streitbarkeit gepaart mit generösem Anerkennen des Anderen, souverän in Selbstsicherheit wie freigebigem Wohlwollen, mit Witz im Ernst und Ernst im Witz, Humor inmitten der Passion des Erkennens und Benennens, und in alledem fühlbar die dunklen, unheimlichen, erregenden Tiefen hinter der blendenden Helle des Intellekts – so beherrschte er unsern Kreis PILEGESCH unvergeßlichen Angedenkens, er war der Brennpunkt, wo er war, war das Zentrum, das Bewegende, der aus sich selbst immer neu sich aufladene Akkumulator für die hin und her zuckenden Energien, ein Urphänomen nach Goethes Wort. Vom gewaltigen Denkmal seines Werkes, das ihm in der Nachwelt die Unsterblichkeit sichert, die Sterblichen überhaupt beschieden sein kann, brauche ich nicht zu reden, und der höchsten Anerkennung, die ihm schon die Mitwelt zollte, habe ich nichts hinzuzufügen. Ich durfte mich eine Weile seiner Freundschaft erfreuen und möchte glauben, daß er mir eine gewisse Zuneigung auch in der Distanz noch bewahrte. Meine zu ihm blieb in allen Wechselfällen des Verhältnisses gleich. Sein Hingang ist das Ende einer Epoche. […] Bitte nehmen Sie diesen Ausdruck meines Beileids an und meines Glaubens. Von Ihrem und Gershoms altem Freunde, Hans Jonas.“51
„Liebe Fania, die Nachricht von Gershoms Tod erfüllt mich mit Trauer um den Verlust, den wir alle und Sie im besonderen erlitten haben. Für mich persönlich bedeutet das Nicht-mehr-Dasein dieses eigenartigsten Geistes, dem mir zu begegnen und zeitweise nahe zu sein vergönnt war, eine klaffende Lücke in der Welt, die ich als die meinige ansehe und trotz der eingetretenen persönlichen Entfernung mit ihm teilte. Erinnerungen, über mehr als fünfzig Jahre sich erstreckend, werden wach. Sein Bild ist unauslöschlich, intensiv, einzigartig, weder aus der Zeit dieses ganzen Jahrhunderts noch aus
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II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff nach Auschwitz
Kurt Rudolph
Hans Jonas und die Gnosisforschung aus heutiger Sicht1 Die Arbeit der sogenannten Geistes-, Kultur- oder Gesellschaftswissenschaften wird bekanntlich durch unterschiedliche Forschungsstrategien bestimmt. Abgesehen von den Arbeitsbereichen als solchen, das heißt den Objekten, denen die Aufmerksamkeit des Forschers gewidmet ist, sind es vor allem die methodischen Zugänge und die Quellensituation, also die Zeugnisse verschiedener Art, die den Fortgang der Forschung stark beeinflussen. Der von Thomas S. Kuhn eingeführte Begriff des Paradigmenwechsels läßt sich ohne weiteres auch auf die Kulturwissenschaften übertragen, wie vielfach geschehen, da auch in ihnen der Prozeß der fortschreitenden Aneignung vergangenen und gegenwärtigen Geschehens von bestimmten bewußten oder meist unbewußten „Vorverständnissen“ abhängig ist. Gerade unsere Gegenwart zeigt auf häufig ziemlich rasante Weise, wie die zunehmende chronologische und räumliche Ausdehnung der wissenschaftlichen Betrachtung von einer zunehmenden Reflexion auf das „Lassen und Tun“ des Forschers begleitet wird. Erinnert sei nur an die Frage nach den „Ethnozentrismen“ auf diesen Gebieten. Speziell die historische Forschung, in unserem Fall die Religionsgeschichte, hat immer wieder Paradigmenwechsel vollziehen müssen, oft recht verspätet im Vergleich zu ihren Nachbardisziplinen. Dies läßt sich auf dem Gebiet der Beschäftigung mit der antiken Gnosis, dem sogenannten Gnostizismus (so noch vielfach im Englischen und Französischen), leicht aufzeigen. Herausfordernd ist einerseits der Wandel in der Fragestellung gegenüber diesem Gegenstand überhaupt, andererseits der Gewinn an Material durch neue Funde. Das religionsgeschichtliche Material läßt sich überhaupt nicht beherrschen oder voraussehen. Neue 93
II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff
Rudolph: Hans Jonas und die Gnosisforschung
Entdeckungen sind oftmals der Auslöser nicht nur für eine Ausweitung und Vertiefung des Forschungsgebietes, sondern auch für einen Wechsel der Betrachtung, ja der Methode generell. Sichtbar wird dies am Beispiel der Gnosisforschung, die für Hans Jonas in seiner frühen wissenschaftlichen Beschäftigung so dominant geworden ist. Abgesehen von der häresiologischen Apologetik der älteren christlichen Literatur, die uns einige Zeugnisse der antiken Gnostiker bewahrt hat, aber ihnen voreingenommen gegenüberstand, sind es die Arbeiten der neueren Kirchengeschichtsschreibung seit Ende des achtzehnten und dann im neunzehnten Jahrhundert, die nicht nur eine bahnbrechende Kritik der überlieferten Quellen einleitete, sondern sich auch dem theologischen Anliegen der Gnosis gegenüber offener zeigte. Namen wie Johann Lorenz von Mosheim, Ferdinand Christian Baur, Richard Adalbert Lipsius, Adolf Hilgenfeld, Adolf von Harnack stehen dafür. Die Fremdheit mancher gnostischer Ideen, die sich weder aus dem Christlichen noch aus dem Griechischen erklären ließen, führte man vielfach auf orientalische, ja asiatische (etwa buddhistische) Vorgaben zurück, oder man griff zur Erklärung auf den alten Mutterboden der Magie zurück. Der Standort der Betrachtung war allerdings primär ein kirchen- bzw. dogmengeschichtlicher, das heißt, die Gnosis war ein Thema der frühen Christentumsgeschichte, für Harnack das Beispiel einer „acuten Verweltlichung des Christentums“.2 Ein Wandel setzte erst um die Jahrhundertwende mit dem Aufkommen der Göttinger „Religionsgeschichtlichen Schule“ ein, die, wie vor allem Wilhelm Bousset, eine religionsgeschichtliche Sicht der Gnosis einführte und damit ein neues „Paradigma“ der Forschung geltend machte, das strenggenommen bis heute weithin herrscht. Kernstücke dieser Sicht waren folgende Thesen: – Die Gnosis ist nicht nur Thema der sogenannten Alten Kirchengeschichte, sondern auch der neutestamentlichen Exegese; – die inzwischen erweiterten Zeugnisse (Quellen) zeigen eine eigenständige Welt, die vor oder zumindest unabhängig vom Christentum entstand; – ihre Ursprünge liegen primär im Orient, das heißt in persischen und spätbabylonischen Quellen, nicht im Griechischen; – sie ist ein Produkt des hellenistischen Synkretismus;
– ihr Einfluß auf die christliche Lehre und Praxis ist trotz Abwehr und Ausscheidung als „Häresie“ nicht unbeträchtlich gewesen.
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Dieser neue Zugang wurde in hohem Maße von den inzwischen eingetretenen Entdeckungen neuer Originalquellen beflügelt, von denen einige schon länger bekannt, aber noch nie richtig in den Forschungsprozeß einbezogen worden waren. Erinnert sei an die koptischen Texte des Kodex Askew (Pistis Sophia) und Brucianus oder des Berliner Kodex 8502, der zwar erst nach dem Zweiten Weltkrieg ediert, aber schon seit 1898 stückweise (bes. durch Carl Schmitt) bekannt wurde, dann die manichäischen Funde aus der Oase Turfan (1904-1913) und vor allem die Mandaica, das heißt die umfangreiche Literatur der noch lebenden Anhänger der mandäischen Religion im Irak und im Iran. Es war vor allem Rudolf Bultmann in Marburg, der es als Vertreter der zweiten Generation der Religionsgeschichtlichen Schule zu seiner Aufgabe machte, diese Zeugnisse für die Exegese des Neuen Testaments, insbesondere für das Johannesevangelium und das Corpus Paulinum, nutzbar zu machen. Zu erwähnen sind seine beiden dafür grundlegenden Studien „Der religionsgeschichtliche Hintergrund des Prologs zum Johannesevangelium“ (1923) und „Die Bedeutung der neuerschlossenen mandäischen und manichäischen Quellen für das Verständnis des Johannesevangeliums“ (1925).3 Mit diesem exegetischen „Paradigma“ kam Hans Jonas in Marburg in Berührung, als er 1923 seinem philosophischen Lehrer Martin Heidegger an die Lahn folgte und dann 1924 erstmalig an einem neutestamentlichen Seminar bei Bultmann teilnahm. Der Weg des Philosophiestudenten Jonas in die Evangelische Theologie war ungewöhnlich und läßt sich dadurch erklären, daß er als Jude, wie er selbst schreibt, „am Reich der Religion“ interessiert war. Bereits in Berlin hatte er Vorlesungen an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums belegt und auch an der Friedrich-Wilhelm-Universität den führenden religionsgeschichtlichen Alttestamentler Hugo Greßmann gehört. Die beginnende Freundschaft zwischen Heidegger und Bultmann veranlaßte ihn, die Lehrveranstaltungen des Marburger Neutestamentlers zu 95
II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff
Rudolph: Hans Jonas und die Gnosisforschung
besuchen. Am 23. Juli 1925, so weisen die jetzt veröffentlichten Protokolle aus Bultmanns neutestamentlichen Seminaren aus, hielt Jonas ein Referat über „Die Gnosis im Johannesevangelium“.4 Das war offenbar der Einstieg in ein Gebiet, das ihn über Jahrzehnte beschäftigen sollte. Bereits 1928 legte er seine philosophische Promotionsschrift „Über den Begriff der Gnosis“ vor, die 1930 im Druck erschien.5 Die Fortsetzung der Arbeit gipfelte dann in dem 1934 veröffentlichten ersten Band von Gnosis und spätantiker Geist. Die mythologische Gnosis, der erschien, obwohl sein Verfasser Deutschland auf Grund des inzwischen erfolgten Machtantritts der Nazis bereits verlassen hatte. Bultmann versah den Band mit einem Vorwort, das dem Verfasser ein glänzendes Zeugnis ausstellte und die Bedeutung des Buches für die Gnosisforschung präzise umriß. Die Fortsetzung des Werkes mußte aus allseits bekannten Gründen unterbleiben, die uns an das unentschuldbare Unheil der Zeit von 1933 bis 1945 in unserem Lande erinnern. Die erste Hälfte des 2. Teils, schon 1934 teilweise gesetzt, konnte erst 1954 erscheinen. Im Vorwort dazu beschreibt Jonas, warum er nicht so ohne weiteres zum Werk seiner Jugend zurückzukehren vermochte. Daher blieb dieser Teil ein Fragment, auch wenn 1993 die noch vorhandenen Teile der zweiten Hälfte, an denen Jonas nach 1945 trotzdem weitergearbeitet hatte, ergänzt durch einige andere Studien zum Thema Gnosis, vorgelegt werden konnten.6 Obwohl Jonas während seines Exils seine philosophischen Interessen einem anderem, „von dem früheren Arbeitsgebiet weit abliegenden Gegenstand“ zugewandt hatte, die ihn dann schließlich seit 1979, dem Erscheinen seines Buches Das Prinzip Verantwortung, auch in Deutschland weit über die Gnosisforschung hinaus bekannt machte, galt seine Aufmerksamkeit trotzdem immer wieder der Gnosis, auch aus gleichsam unterirdisch wirksamen Gründen, von denen noch kurz zu sprechen sein wird. Diese sicherlich nur sporadische Fortsetzung der Beschäftigung mit dem alten Arbeitsgebiet ergab sich schon aus den unerwartet auftauchenden neuen koptisch-gnostischen Texten aus Nag Hammadi, die zwar bereits 1945 entdeckt worden waren, aber erst seit 1948 sukzessive bekannt wurden. Jonas nahm sich dieses erstmaligen umfangreichen Originalbestandes gnostischer
Literatur schon früh an und beurteilte sie von seiner Sicht aus. Auch griff er in die Diskussion über einige der wichtigsten Texte dieses Fundes ein, etwa mit Blick auf das „Apokryphon des Johannes“, das „Evangelium der Wahrheit“ oder das „Wesen der Archonten“. Seine zuerst 1962 in einer längeren Besprechung des Journal of Religion über The Secret Books of the Egyptian Gnostics von Jean Doresse veröffentlichte Stellungnahme ging dann erweitert in ein Ergänzungsheft zur dritten Auflage des ersten Bandes des Gnosisbuches (1964) ein, und zwar als 4. Kapitel unter dem Titel „Neue Texte der Gnosis“.7 Bereits vorher hatte Jonas 1958 eine englische Fassung seines Gnosisbuchs unter dem Titel The Gnostic Religion. The Message of the Alien God and the Beginnings of Christianity vorgelegt, die, wie er im Vorwort formulierte, dem Gesichtspunkt des deutschen Werkes zwar folgte, aber sich „hinsichtlich des Umfangs, der Anordnung und der literarischen Intention“ davon unterschied.8 Auch hier ist dann die zweite Auflage 1963 durch die Berücksichtigung der Nag Hammadi Texte ergänzt worden. Dieses Buch hat bis heute, besonders in seiner Paperback-Edition, einen großen Einfluß und wird oft als Pflichtlektüre für die Studierenden verwendet. Im Unterschied zum deutschen Vorläufer ist es für die heutigen Interessenten leichter lesbar, da Jonas schon durch den Gebrauch des Amerikanischen den „Heidegger-Stil“ nicht mehr verwendete. Eine weniger bekannte kurze Zusammenfassung seiner Gnosisdeutung legte Jonas 1967 im dritten Band der Encyclopedia of Philosophy vor.9 Die weiteren Beiträge zum Thema Gnosis widmeten sich entweder dem von ihm nie aufgegebenen Problem der Stellung Plotins zur Gnosis (1959; 1964, 1969),10 oder der durch die NagHammadi-Texte sehr aktuell gewordenen Diskussion über den jüdisch-biblischen Beitrag zur Gnosis, wie etwa im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Gilles Quispel auf der 100. Tagung der „Society of Biblical Literature“ 1964 in Nashville, Tennessee.11 Nicht zuletzt setzte er sich schließlich mit der von ihm seit seiner Dissertation (1928 bzw.1930) inaugurierten Frage nach der „typologischen und historischen Abgrenzung des Phänomens der Gnosis“ auseinander, die er 1966 auf dem ersten internationalen Kongreß über die Ursprünge der Gnosis im italienischen Messina in einem eindrucksvollen Referat erneut stellte.12
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Das generelle – ideengeschichtlich wie methodologisch brisante – Problem, das vor allem Kritiker von Hans Jonas immer wieder aufwarfen, bearbeitete er selbst eingehend in seinem Aufsatz über „Gnosis, Existentialismus und Nihilismus“,13 der zu den Vorarbeiten für seine spätere Philosophie des Prinzips Verantwortung gerechnet werden kann. Im Anschluß an diesen dokumentarischen Überblick über die Gnosisforschung von Hans Jonas stellt sich die Frage nach ihrer inhaltlichen Bedeutung und Weiterwirkung. Ohne Zweifel markierte Gnosis und spätantiker Geist 1934 einen wichtigen, bis heute aktuellen Einschnitt in der Forschungslandschaft. Das haben auch die Kritiker mehr oder weniger ungewollt bestätigt. Leider verhinderten die Zeitumstände damals eine größere Resonanz. Die einzige Rezension des Buches in einer deutschen wissenschaftlichen Zeitschrift – 1936 in Gnomon – stammte bezeichnenderweise aus der Feder des bekannten amerikanischen Religionshistorikers Arthur D. Nock.14 Er stand dem Buch etwas hilflos gegenüber, da er dessen Intentionen nicht wirklich erkannte. Erst die Neuauflage zusammen mit der Veröffentlichung des zweiten Teils 1954 erzielte einen größeren Erfolg. Dennoch entfaltete das Buch auch vorher seine quasi inoffizielle Wirkung, und zwar vor allem durch Rudolf Bultmann und seine Schüler, die dies nie verleugneten. Der Generation, die nach dem Kriege studierte und sich mit dem Thema befaßte, brachte das Werk einen unauslöschlichen Gewinn, vergleichbar einem roten Faden durch die Menge der vieldeutigen Quellen. Allerdings mußte man die Sprache Heideggers beherrschen, und die Lektüre von Sein und Zeit gehörte zur unbedingt notwendigen Vorbereitung. Jonas hat die Absicht, die er mit Gnosis und spätantiker Geist verfolgte, später im Vorwort zu seinem englischen Gnosisbuch von 1958 dahingehend charakterisiert, daß ihm nicht daran gelegen gewesen sei, weiteres zu dem reichen Feld der philologischhistorischen Einzelforschung beizutragen, sondern daran, etwas sehr Verschiedenes, aber Komplimentäres zu leisten – eine philosophische Interpretation: „den Geist zu begreifen, der aus diesen Stimmen sprach, und in seinem Licht der verblüffenden Vielfalt wieder eine verständliche Einheit zurückzugeben.“ Es ging ihm demnach um die klassische Suche nach dem „Wesen“ einer
historischen „Erscheinung“, und er war davon überzeugt, daß dies möglich sei. Es war der Philosoph, nicht der Historiker oder Philologe, der sich hier Gedanken über die Gnosis machte, und zwar nicht allein, um sie zu dokumentieren, sondern auch mit dem Ziel, eine bedeutsame Periode der westlichen Menschheit zu verstehen und ihre Relevanz für „unser menschliches Verstehen überhaupt“ zu erhellen.15 Die Durchführung des Programms erfolgte mit den Mitteln, die Jonas einerseits von Heidegger gewonnen hatte, das heißt mit der fundamentalontologischen Daseinsanalyse oder existentialen Interpretation.16 Er nahm zudem den kulturmorphologischen Gedanken Oswald Spenglers auf, wonach sich hinter den historischen Manifestationen etwas durchaus Neues nachweisen lasse, nämlich eine Art „Kulturseele“, die durch „Pseudomorphose“ in der herkömmlichen, vorhandenen Begriffssprache verborgen zum Ausdruck gelangt.17 Gedacht war dabei an die sogenannte arabische Kultur, die bei Jonas zum Vorbild für die nach ihm vom „spätantiken Geist“ bestimmte Kultur der östlichen Mittelmeerwelt wurde. Übrigens hat auch Spengler die Mandaica für seine Dokumentation herangezogen und die Idee vom „erlösten Erlöser“, die er von Richard Reitzenstein übernahm, verwendet. Obwohl Jonas die Vorstellung von isolierten Kulturmonaden ablehnte und obgleich ihm der Dilettantismus Spenglers nicht entging, war er doch von der „methodisch-hermeneutischen Fruchtbarkeit“ seines Ansatzes überzeugt.18 Auf dem Hintergrund dieser Voraussetzungen mußte er sich nun mit der bisherigen Gnosisforschung auseinandersetzen. Er leistete dies vor allem in dem langen Einleitungskapitel „Zur Geschichte und Methodologie der Forschung“.19 Es handelt sich um einen glänzend geschriebenen Essay, den jeder Gnosisforscher gelesen haben muß, da er überzeugend demonstriert, wie die bis dahin gängige Methode der religionshistorisch-philologischen Forschung allein der Zeugnisschicht, den „Objektivationen“, verhaftet blieb und das Wesen und die Herkunft der Gnosis aus deren Zuständen und Zusammensetzungen zu eruieren versuchte. Aus Jonas’ Sicht ähnelte das eher einer „Alchemie der Ideen“ als der Frage nach dem realhistorischen Zentral- oder Hintergrund, der gerade die unterschiedlichen Zeugnisse zusammenhält und sie als Ausdruck einer bestimmten „Daseinshaltung“
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erkennen läßt.20 Die Bestimmung als „Synkretismus“ führt nicht zur Beantwortung der Frage nach dem Wesen, da damit nur die kulturell-religiöse Oberfläche, nicht aber der tieferliegende „autonome Wesenskern“ beschrieben wird.21 Jonas hat dabei vor allem die ansonsten verdienstvollen Arbeiten Wilhelm Boussets vor Augen,22 kritisiert aber auch Adolf von Harnack und vor allem Hans Heinrich Schaeder, dem er einen graecozentrischen und neohumanistischen Blickwinkel vorwirft.23 Demgegenüber entdeckte Jonas in der Gnosis einen ungriechischen und zugleich – in Abgrenzung gegen Harnack – einen unchristlichen Geist. Die Gnosis stellt aus seiner Sicht einen „revolutionären Bruch“ mit der antiken und biblischen Tradition dar. Die Frage nach dem Realgrund, also der Trägerschicht und dem Entstehungsraum, veranlaßt Jonas, Fragen der Psychologie und Soziologie aufgreifen, wobei er gegenüber beiden Forschungsstrategien (auch jener Max Webers) den Vorrang des „existentialen Grundes“ verteidigt.24 Im übrigen folgt Jonas hier der Tradition der Religionsgeschichtlichen Schule, bestärkt durch Spenglers These, der Osten sei der Ursprungsort der neuen Weltauffassung, in welcher der Widerstand des Orients gegen die westlich-römische Bemächtigung sichtbar werde.25 Andererseits betonte Spengler die „Rätselhaftigkeit des Ursprungs“ und verstand die Kennzeichnung des „Orientalischen“ in dem Sinne, daß sie die „inhaltsgenetische Fragestellung“ hinter sich lasse.26 Daraus wird ersichtlich, daß Jonas die Gnosis lediglich als Spezialfall einer Weltanschauung betrachtete, die auch in anderen Bereichen „objektiviert“ zum Ausdruck gelangt: in den Mysterien, den Hermetica, dem Neuplatonismus, der jüdischen Apokalyptik und dem frühen Christentum.27 Es handelt sich dabei um keine sogenannten Einflüsse, sondern um Partizipation an einer neuen Weltsicht. Daß für Jonas darin die Gnosis eine primäre Rolle spielt, und zwar nicht nur als Zeugnisschicht, läßt sich daraus entnehmen, daß er durchaus von einem „gnostischen Zeitalter“ sprechen kann28 und daran interessiert ist, die Transformation der Gnosis im spätantiken Denken aufzuspüren.29 Dabei geht es ihm nicht um vordergründige literarische Zusammenhänge, sondern allein um den einheitlichen existentialen Grund, der hinter den Zeugniswelten zu entdecken ist und der letztlich die Gemeinsamkeit eines „neuen Weltgefühls“
ausmacht.30 Im zweiten Band stellte Jonas dann diese Transformation von der gnostischen Mythologie in die spätantike Philosophie und Mystik anhand einiger Beispielen exemplarisch dar. Den Ausgangspunkt für die Durchführung seines ganzen Programms gewinnt Jonas verständlicherweise aus der Zeugnis- oder Objektivationsschicht, das heißt aus den mythologischen Überlieferungen der Gnosis. Um von Beginn an ihren „existentialen Grund“ zu erfassen, setzt er im ersten Kapitel mit einer Analyse des „Logos der Gnosis“ ein, einer meines Erachtens vorzüglichen Analyse, auch wenn darin bestimmte Zeugnisse, vor allem jene der Mandäer, dominieren, die einer ganz bestimmten Literaturform, nämlich den Seelenaufstiegsliedern aus dem Linken Ginza, angehören. Das zweite Kapitel beschreibt die „Daseinshaltung“ der Gnostiker und arbeitet ihre wesentlichen Kennzeichen heraus: den antikosmischen Dualismus, die Herrschaft des Schicksals (Heimarmene), die Seelenlehre, die Dämonologie, die Erlösungsidee und zuletzt die revolutionären Züge, die sich immer wieder in den Zeugnisaussagen manifestieren31 und die sich in der Pseudomorphose von einzelnen Begriffen – wie Pneuma, Psyche, „Selbst“ – nachweisen lassen.32 Schließlich werden die Haupttypen der mythologischen bzw. theologischen Spekulation vorgeführt. In diesem dritten Kapitel führt Jonas eine einflußreiche Typologie ein, die teilweise bis heute verwendet wird, auch wenn dafür mitunter andere Namen gebraucht werden. Er unterscheidet den iranischen Typus mit seinem prinzipiellen Dualismus des Ursprungs, wie ihn der Manichäismus am reinsten vertritt, vom syrisch-ägyptischen Typus eines Emanationsdualismus, der die Hauptform der gnostischen Quellen vertritt und der eigentlich gnostische ist;33 auch die Nag-Hammadi-Texte gehören ihm an, wie im nachträglich hinzugefügten vierten Kapitel nachgewiesen wird. Eine Mischform zwischen beiden Typen repräsentieren die mandäischen Texte,34 die Jonas voranstellt, doch auch hier scheint seiner Auffassung nach der „Schuldmythos“ des syrischägyptischen Typs der angemessenere Ausdruck des „Lebensgefühls“ der alten Nasoräer gewesen zu sein.35 Als zwei weitere Haupttypen finden sich der „alexandrinisch-kirchliche“ in Gestalt des Origenes und der frühen Mönchsmystik sowie der neuplatonische (Plotin). Beide Typen behandelt Jonas ausführlicher im
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zweiten Band, wo er darlegt, daß in diesen beiden Manifestationen der Emanations- und Depravationsgedanke fester Teil des philosophischen Systems und Zeugnis eines gemeinsamen Zuges mit der Gnosis ist.36 In der Mystik, so Jonas, ist es der verinnerlichte stufenweise Aufstieg der Seele als Praxis meditativer Versenkung und Vorwegnahme des Eschaton.37 Das hier umrissene Gnosisverständnis hat sich bis in Jonas’ spätere relevante Arbeiten durchgehalten, wie insbesondere sein amerikanisches Gnosisbuch zeigt. Sowohl bei der Beschäftigung mit den neuen Koptica als auch in seinem erwähnten MessinaVortrag von 1966 bemühte er sich um den Nachweis, daß seine Interpretation der grundlegenden Kennzeichen der Gnosis dem Forschungsstand nach wie vor standhielten. Es sind vor allem folgende Sachverhalte, die zu den bis heute nachwirkenden Ergebnissen seiner Gnosisdeutung gehören: 1) Der konsequente und meines Erachtens gelungene Versuch einer Gesamtdeutung aus einem existentialen Grundprinzip der Entweltlichung bzw. eines antikosmischen Dualismus, der als Ausdruck einer revolutionären neuen Daseinshaltung verstanden wird (daß es sich dabei um eine „rationale Rekonstruktion“ mit Hilfe einer besonderen Terminologie, nämlich jener des Heideggerschen Existentialismus handelt, ist natürlich wissenschaftstheoretisch korrekt; das ändert aber nichts daran, daß sie hermeneutisch fruchtbar war und nach wie vor ist); 2) die Zusammenfassung der Zeugnisse unter bestimmten Leitlinien und ihre Typologisierung; 3) die Einbeziehung oder Berücksichtigung spätantiker Systeme philosophischer und theologischer Herkunft, wie Plotin und Origenes; 4) die Verfolgung der Fortsetzung gnostischer Sachverhalte in Form von Transformationen bzw. Metamorphosen in mystischen Überlieferungen, die zu einem Vehikel gnostischer Erbeaneignung werden konnten; 5) die erstmalige folgerichtige Einbeziehung der mandäischen Überlieferungen, welche die einzigen umfangreichen Zeugnisse in einem ostaramäischen Dialekt darstellen und dazu noch eine bemerkenswerte kultische Praxis tradieren; 6) die ebenfalls konsequente Berücksichtigung des Manichäismus, der eine – von der historischen Gestalt des Mani begründete – wirkliche gnostische Weltreligion gewesen ist.38
Selbstverständlich lassen sich an Jonas’ Konzeption eine Reihe kritischer Anfragen stellen. Abgesehen von der in allerjüngster Zeit aufgeworfenen Frage nach der Berechtigung des „umbrella term“ bzw. metasprachlichen Begriffs der Gnosis überhaupt, hat man einige der von Jonas aufgeführten Wesenszüge der Gnosis bestritten – etwa den antikosmischen Dualismus, der nicht in allen Texten, schon gar nicht im Manichäismus, so deutlich dokumentiert ist, wie zu erwarten wäre. In seinem Buch Rethinking ‚Gnosticism’. An Argument for Dismantling a Dubious Category hat Michael Williams diese Argumente scharfsinnig zusammengetragen.39 Williams möchte statt dem Begriff Gnosis oder dem im Englischen bevorzugten Gnosticism einen angemesseneren einführen: „biblical demiurgical tradition“40 oder „biblical demiurgy“.41 Damit könne man den wichtigsten Zug der relevanten Überlieferungen zur Geltung bringen, nämlich den Diskurs über die Weltschöpfung durch einen Demiurgen unterhalb des eigentlichen höchsten Wesens. Nun ist der Begriff Gnosis sicherlich nicht immer glücklich, insbesondere auf Grund seiner inflationären Anwendung in der Religions- und Geistesgeschichte, die Grenzen häufiger verwischt als deutlich definiert. Gnosis ist eine Art Hilfsbegriff, der aus der häresiologischen Objektsprache zu einem metasprachlichen Begriff aufgestiegen ist, mit dem es bisher gut möglich war und ist, Sachverhalte der Texte und Berichte in den Griff zu bekommen. Williams vergißt, daß die Wissenschaftssprache ihre eigenen Regeln hat. Allgemeinbegriffe („umbrella terms“) dienen nicht dazu, alle relevanten Sachverhalte einheitlich abzudecken, sondern sie sollen überhaupt Klassifizierungen oder Typologien ermöglichen. Einen Hiatus zwischen Einzelheiten und Universalien wird es immer geben. Abgesehen von der hier anvisierten Problematik der Terminologie, sollte man bedenken, daß Religionen und Weltanschauungen meist recht pluralistisch und nicht uniform sind. Übrigens fehlt der Begriff Demiurg, der bekanntlich aus der platonischen Philosophie stammt und der gelegentlich von den Häresiologen (etwa Irenäus) verwendet wird, in den gnostischen Quellen. Außerdem bringt gerade dieser von Williams bevorzugte Begriff der Demiurgie zum Ausdruck, wie die Gnostiker die Welt, den Kosmos betrachteten, so daß Jonas’ Feststellung, der antikosmische Dualismus sei ein
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herausragendes Kennzeichen der Gnosis gewesen, dadurch jedenfalls nicht widerlegt wird. Auch wenn dieses Merkmal in einzelnen Zeugnisschichten nicht sehr konsequent beibehalten wird, bleibt es grundsätzlich bei der Depotenzierung des Schöpferwesens gegenüber dem Deus absconditus.42 Des weiteren bestehen gewisse Zweifel an der Aussagekraft der angeführten Zeugnisschichten, vor allem an der Einbeziehung von Philo und Plotin in den gnostischen Bereich. Damit ist die Problematik des sogenannten spätantiken Geistes als einer dominanten Weltanschauung verbunden, vor allem wenn Jonas in diesem Zusammenhang den Spenglerschen Kulturseelengedanken zum Vorbild nimmt und als „echtes totales Prinzip“ bezeichnet.43 Auch die existentiale Daseinsanalyse ist natürlich an die zeitgenössische Philosophie Heideggers gebunden, besitzt aber insofern eine bessere Ausgangslage als die Kulturmorphologie Spenglers, weil sie durch ihren hinter die Objektivationen vordringenden Zugriff auf den „existentialen Grund“ der soziologischen Analyse nahesteht. Andererseits ist die von Jonas in seinen deutschen Gnosisbüchern verwendete Sprache bzw. Terminologie in den letzten Jahren von philosophischer Seite ideologiekritisch durchleuchtet worden, und zwar im Hinblick auf seinen Lehrer Heidegger.44 Die auffällige Parallelität mancher Logoi bei der Beschreibung der „Daseinshaltung“ der Gnostiker bei Jonas und der Menschen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts bei Heidegger führen notwendig zu ambivalenten Folgerungen, die hier nur kurz diskutiert werden können. Hat dieser „Paßcharakter“ der Terminologie damit zu tun, daß Heidegger – vor allem in Sein und Zeit (1927) – am gnostischen Erbe der Weltbetrachtung partizipierte, oder hat sein Schüler durch die Verwendung dieser Sprache eine „gnostische Fundamentalontologie“45 entworfen, die überhaupt erst die spätantike Gnosis ans Licht bringt? Es ist nicht schwer, bei Heidegger gnostische Strukturen oder Motive zu finden, wie es wiederholt und bereits von seinem Zeitgenossen Karl Jaspers beobachtet worden ist.46 Die nihilistische Absage an die traditionelle Metaphysik und ihren Gottesbegriff, die Verfallenheit oder „Geworfenheit“ des Menschen ins platte „Man“ von Existenz, die erst durch Einsicht und Denken bzw. das Bewußtsein um diese Situation verändert werden kann, durch eine
Art „Selbstermächtigung des Subjekts“ (M. Pauen). Eine Hilfe von außen hatte Heidegger dann in der für ihn erlösungsbedürftigen Zeit im „Führer“ gesehen, eine Art Retter, der zum Inneren und zur Essenz (der bloßen Existenz) leiten kann.47 Nun muß man ehrlicherweise zugestehen, daß Jonas als tief reflektierender Denker durchaus um die Verwandtschaft mancher seiner Logoi zu denen seines einstigen Lehrers wußte. So griff er etwa ganz bewußt auf Heideggers Begriff der Geworfenheit zurück und rechtfertigte dies:48 Nachdem er mandäische Texte zum Seelenfall als Ausdruck eines gnostischen Gefühls des „Geworfenseins“ zitiert hat, betont er, man könne der Versuchung kaum widerstehen, mit Blick auf die Situation des Daseins in der Welt der alten Mandäer (eigentlich deren Seelen) als objektive Kategorie „auf den ganz unmythologischen Begriff der ‚Geworfenheit’ zurückzugreifen, wie er in sonderbarer Analogie (aber sicherlich auch in letzter, säkularisierender Wiederaufnahme einer von jener Epoche ausgehenden theologischen Tradition) in einer modernen Analytik des Daseins, in Heideggers ‚Sein und Zeit’, als eine grundlegende Kategorie des Daseins überhaupt (als ‚Existenzial’) ausgearbeitet wurde.“49 Später nahm Jonas bekanntlich dann ausdrücklich das Thema des Zusammenhangs von Gnosis, modernem Nihilismus und Existentialismus auf. „Der Erfolg der ‚existentialistischen’ Lesung der Gnosis“, so Jonas in einer Rede anläßlich der 600-Jahr-Feier der Heidelberger Universität im Jahre 1986, „lud zu einer quasi ‚gnostischen’ Lesung des Existentialismus und mit ihm des modernen Geistes ein.“50 „Der Existentialismus, der die Mittel einer historischen Analyse geliefert hatte, wurde selber in deren Ergebnissen verwickelt.“51 Was ist aus diesen Zusammenhängen für das Gnosisbild von Jonas zu entnehmen? Sicher nicht, daß es mit der Erkenntnis der Prägung durch Heideggersche Kategorien als falsch erwiesen ist, denn Jonas hat in den relevanten Kapiteln des „Logos der Gnosis“ die maßgeblichen Quellen ausgiebig zitiert, namentlich die mandäischen Texte, die sich dafür besonders eigneten. Auch kann es nicht darum gehen, Heidegger und andere moderne Denker als bloße Gnostiker zu entlarven. Dennoch gibt uns der von Jonas vorgelegte Versuch einer phänomenologisch-hermeneutischen Analyse gnostischer Überlieferungen aus der Spätantike und ihrer
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Transformationen in späteren Folgeerscheinungen, wie Mystik und Esoterik, auch heute noch ein Modell dieses Denkens und Verhaltens an die Hand, das als Objektivation einer wissenschaftlichen Rekonstruktion nicht nur als bloße Singularität, sondern jenseits von Raum und Zeit eine menschliche Verhaltensund Denkform repräsentiert.52 Ein letzter wichtiger strittiger Aspekt des Gnosisverständnisses von Hans Jonas ist die nach wie vor kontrovers diskutierte Frage nach dem Ursprung der Gnosis, die heute etwas zugunsten der Untersuchung des tatsächlich in den Quellen Vorhandenen zurückgetreten ist. Jonas war hier auf die existentialontologische Beantwortung festgelegt, die jeder historischen Fragestellung vorauszugehen hatte. Damit hängt auch zusammen, daß er eine Verwurzelung gnostischer Vorgaben im Frühjudentum ablehnte. Natürlich bestritt er nicht grundsätzlich, daß die Zeugnisschicht auf einen Anteil biblisch- und außerbiblisch-jüdischen Materials hinweist. Die Mehrheit der Gnosisforscher geht heute jedoch davon aus, daß dieser Zeugniswert nicht nur ein Formalgrund für die Entstehung der Gnosis gewesen sein kann. Es bleibt die historische Frage bestehen, wo und vor welchem Traditionshorizont das neue Daseinsgefühl, dessen Manifestationen oder „Objektivationen“ wir in den religionsgeschichtlichen Quellen vor uns haben, entstanden ist. Dabei wäre etwa an die Traditionsträger der weisheitlichen Literatur zu denken, die, offen für kritisches Denken, die Sinnfrage gegenüber Welt und Schöpfer stellten und sich im Buch Kohelet (Prediger) zu Wort meldeten, wo die Gottesbezogenheit zur Welt nur noch hauchdünn zum Ausdruck kommt und wo dem irdischen Leben wenig Sinn abgewonnen wird.53 Andere Texte thematisieren parallel dazu das Verschwinden der „Weisheit“ aus dem Irdischen. Hier scheint mir diese gnostische Weltablehnung in statu nascendi vor uns zu stehen. Die Apokalyptik mit ihrem horizontal-dualistischen Weltbild und pessimistischen Gegenwartsbezug trug dazu gleichfalls bei. Unabhängig von der starken Differenzierung, welche die heutige Forschung mit Blick auf die religionsgeschichtlichen Fakten vorgenommen hat, gilt es – wenn man nach der Wirkung und Aktualität des Denkens von Hans Jonas fragt – daran zu erinnern, daß er dem Phänomen der antiken Gnosis in der philosophischen
Betrachtung einen Stellenwert verschafft hat, der bis heute spürbar ist und der auch die religionshistorische Arbeit zweifellos befruchtet hat. Ein nicht unerhebliches Ergebnis ist aber Jonas’ eigene, aus der Kritik der radikalen Weltablehnung der Gnosis und ihrer fatalen Wirkung herrührende Zuwendung zur Verantwortung für die Welt. „Einiges in der Gnosis klopft an die Tür unseres Daseins und besonders unseres Daseins im 20. Jahrhundert“, formulierte Jonas in seiner Rückschau von 1973 in Stockholm. „Hier ist die Menschheit in einer Krise [und] in manchen der grundlegenden Wahlmöglichkeiten, die der Mensch im Hinblick auf die Sicht seiner Stellung in der Welt, in seiner Beziehung zu sich selbst, zum Absoluten und zu seinem sterblichen Dasein, machen kann. Es gibt sicherlich etwas in der Gnosis, das einem dazu verhilft, die Menschheit besser zu verstehen als man sie verstehen würde, wenn man die Gnosis niemals kennen gelernt hätte“.54 Der Gnostiker erscheint als eine Art Gegentyp des Menschen, den Jonas in seiner späteren Philosophie für die Zukunft forderte und der – im Sinne eines kategorischen Imperativs – für Natur, Welt und Mensch, also für die „Schöpfung“, Verantwortung zu übernehmen hat. Gegenüber der gnostischen Weltablehnung, ihrer Verteufelung der Schöpfung als Mißgriff, dem wissenschaftlichen Thema seiner Jugend, hat Jonas dann aus gegebenem Anlaß die Weltverantwortung zum ethischen Zentralbegriff erhoben und als entscheidende Aufgabe einer praktischen Philosophie erkannt.55
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Joseph Dan.
Von Hans Jonas zu Umberto Eco: Der Mythos der Gnosis1. Die Geschichte der Geschichtsschreibung zu verstehen, ist für das Geschichtsverständnis von wesentlicher Bedeutung. Die Art und Weise, in der die Historiker des zwanzigsten Jahrhunderts die Vergangenheit dargestellt haben, gehört zu den vielsagendsten Aspekten der Geistesgeschichte dieser Epoche. Niemals zuvor, so scheint es, ist Ideologie so stark mit der Erforschung von Geschichte gleichgesetzt worden. Man könnte behaupten, dies sei ein beständiges, unveränderliches Merkmal spiritueller und geistiger Erneuerung: Jede neue Idee, die darauf zielt, Gegenwart und Zukunft der Menschen zu bestimmen, geht von einer Rückschau auf die Vergangenheit aus. Das Judentum entstand als Erzählung der Weltgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zur Gegenwart, wann immer genau diese Gegenwart gewesen sein mag. Das Christentum entfaltete sich als Reinterpretation der Verse der antiken Propheten Israels. Der Islam trat als Neudefinition der Rolle der Propheten in Erscheinung, die dem ersten und letzten Propheten, dem Verfasser des Koran, vorangegangen waren. Das gilt in noch stärkerem Maße für die „dritte Religion“: Gemeint ist die Vorstellung, wonach es sich bei der Gnosis um eine bedeutende Religion handele, die vermutlich aus dem vorchristlichen Judentum entstanden ist und sich über Jahrhunderte hinweg neben Judentum und Christentum entwickelt, Ideen von ihnen aufgenommen und wichtige Elemente in ihrer Kultur beeinflußt hat. Der Unterschied zwischen dem Narrativ der Gnosis und dem in Judentum und Christentum wirksamen besteht darin, daß ersteres nicht von den Glaubenden selbst stammte. Vielmehr nahm es erst in den Schriften von Gelehrten des zwanzigsten Jahrhunderts Gestalt an, und Hans Jonas hat zur Etablierung 108
dieser „Religion“ mit am meisten beigetragen. Die kurze Fassung seiner großartigen Monographie, die 1958 unter dem Titel The Gnostic Religion erschien, bildet eine wichtige Wegmarke in der Geschichte dieses wissenschaftlichen Unterfangens.2 Die Schriften der Kirchenväter, die wichtigste Quelle für diese Thematik, beschreiben Dutzende häretischer christlicher Sekten aus der Zeit zwischen dem zweiten und vierten Jahrhundert. Es gibt wenig, was sie verbindet, und der Begriff „gnostisch“ ist nur einer aus einer ganzen Anzahl von Begriffen, die für sie verwendet werden. Die andere wichtige Quelle, die 1946 in Ägypten entdeckt wurde, ist die Nag-Hammadi-Bibliothek, die von den Gelehrten als „gnostische Bibliothek“ gedeutet wurde. Erst nach vielen Jahren gründlicher Erforschung der beinahe fünfzig Abhandlungen dieser Sammlung wurde deutlich, daß sie ganz unterschiedliche religiöse Strömungen widerspiegelt, von denen viele, wenn überhaupt, sehr wenige der Merkmale aufweisen, welche die Gelehrten mit der „gnostischen Religion“ verbinden. Neuere Studien bezweifeln oder bestreiten sogar in der Regel, daß eine solche Religion, abgesehen von wenigen Abhandlungen, die man kaum als Verkörperung einer großen Bewegung beschreiben kann, überhaupt jemals existiert habe. Eine detaillierte Studie von Michael A. Williams bringt die Skepsis hinsichtlich dieser Thematik stellvertretend zur Sprache.3 Einer der unverwechselbaren Aspekte der Darstellung der Gnosis bei Hans Jonas besteht in dem In-Beziehung-Setzen ihrer Sekten und Vorstellungen zu jenen, die in der mittelalterlichen Sammlung antiker Schriften sichtbar werden, den Hermetica, die man gewöhnlich als Ausdruck der letzten Stadien heidnischer religiöser Kultur im hellenistisch-römischen Ägypten interpretiert. Die „gnostische Religion“ wurde also mit den antiken Mysterien heidnischer Mythologie in Verbindung gebracht. Dieser Eindruck, der weitgehend auf Jonas’ Werk beruht, ist nach wie vor wirksam und bedeutungsvoll. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts veröffentlichte Umberto Eco, ein Gelehrter und Schriftsteller, der die meisten ideologischen und wissenschaftlichen Kämpfe seiner Zeit aus nächster Nähe erlebt hat, einen neuen – seinen vierten – Roman mit dem Titel Baudolino.4 Dieses Werk widmet sich einer satirischen (in 109
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Dan: Von Hans Jonas zu Umberto Eco
diesem Kontext ein, wie im folgenden sichtbar werden wird, doppeldeutiger Begriff) Darstellung der komplexen Beziehung zwischen Fiktion und Geschichte, Mythos und Tatsache, Fälschung und Wissenschaft. Der Roman hat die Form eines Dialogs zwischen einem professionellen Historiker, Niketas Choniates, der die Geschichte von Byzanz während der letzten Jahrzehnte des zwölften Jahrhunderts und die Annalen der Zerstörung der Stadt durch die Kreuzfahrer im Jahre 1204 verfaßt hat, und einem berufsmäßigen Fälscher und Lügner, einer von Eco erfundenen fiktiven Gestalt, dem Helden des Romans – Baudolino. Baudolino erzählt dem kritischen Niketas seine Lebensgeschichte, während Konstantinopel gerade im Zuge des vierten Kreuzzugs erobert, in Brand gesetzt und geplündert wird (ähnlich wie Boccacios Decamerone, das inmitten des Ausbruchs des Schwarzen Todes 1348 spielt). Ein Teil dieser Erzählung, im Grunde der narrative und ideologische Höhepunkt des Romans, läßt sich als einzigartiger Tribut an Hans Jonas’ Werk über die Gnosis deuten. Gemäß seiner eigenen Erzählung ist Baudolino der Stifter und Fälscher zweier der großartigsten Mythen des Mittelalters: jenes Mythos von der Suche nach dem Heiligen Gral, in dem Christi Blut aus den Kreuzigungswunden gesammelt wurde und der den Kern des Zyklus von Romanzen um König Artus’ Tafelrunde ausmacht, sowie die Legende vom Priesterkönig Johannes, dem mythischen christlichen Herrscher über ein großes, wohlhabendes und mächtiges christliches Reich, das, wie man glaubte, in den Bergen Zentralasiens verborgen lag. Baudolino fälscht den berühmten Brief des Priesterkönigs Johannes an die christlichen Herrscher Europas und gibt den Weinkelch seines verstorbenen Vaters als den Heiligen Gral aus. Dann versucht er, Kaiser Friedrich Barbarossa davon zu überzeugen, nach der Befreiung Jerusalems aus der Gewalt Saladdins zum Land des Priesterkönigs Johannes weiterzuziehen. Als der Kaiser stirbt (oder ermordet wird, so das Kriminalgeheimnis, das im Zentrum des Romans steht), ziehen Baudolino und einige Freunde, die vorgeben, sie seien die Magier der christlichen Legende, gen Osten in das verlorene Land, um seinem Herrscher das kostbare Geschenk des Heiligen Grals darzubieten (wohlwissend, daß es sich bei beiden um soeben erfundene Lügen handelt). Einer aus dieser Gruppe ist ein Jude, Rabbi
Solomon von Gerona, der sich ihnen auf der Suche nach den legendären zehn verlorenen Stämmen anschließt. Sie überwinden viele Hindernisse, begegnen Ungeheuern und merkwürdigen Menschen (jede dieser Gruppen vertritt eine andere christliche Irrlehre), überqueren den mythischen Fluß Sambation und gelangen schließlich zu einem Ort, den sie als fernen Vorposten des Reiches des Priesterkönigs Johannes deuten. An diesem Ort, an den Ufern eines von Wald umgebenen Sees, begegnet Baudolino der Liebe seines Lebens, der schönen Hypatia, die von einem weißen Einhorn begleitet wird. Es entwickelt sich eine Beziehung, und während ihrer Gespräche weiht Hypatia Baudolino in die geheime Religion ihres Volkes ein, der allein Frauen angehören, die allesamt den Namen Hypatia tragen. Sie werden als Nachfahren der verehrten Philosophin und Wissenschaftlerin Hypatia von Alexandria, Tochter des Theon, dargestellt, die im Jahre 415 u. Z. von einem christlichen Mob ermordet wurde. Hypatia war eine neuplatonische Philosophin, Mathematikerin und Naturwissenschaftlerin, die der Flut des aufkommenden Christentums in Ägypten widerstand und den griechischen und ägyptischen heidnischen Traditionen die Treue bewahrte. Ihre Töchter-Nachfolgerinnen entkamen laut Ecos Roman der christlichen Verfolgung, zogen gen Osten und gaben sich der Aufgabe hin, ihre einzigartige Philosophie viele Jahrhunderte lang zu verbergen. Zahlreiche Seiten des Buches sind der Darstellung dieser Philosophie gewidmet, die – unter vielen anderen Aspekten – Folgendes geltend macht:
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„,Gott ist der Eine und Einzige, und er ist derart vollkommen, daß er keinem der Dinge gleicht, die es gibt, und keinem derer, die es nicht gibt. Du kannst ihn nicht beschreiben, indem du deinen menschlichen Verstand gebrauchst, als ob er einer wäre, der sich erzürnt, wenn du böse bist, oder der sich aus Güte mit dir beschäftigt, einer, der Mund, Ohren, Gesicht oder Flügel hat, oder der Geist, Vater oder Sohn ist, auch nicht seiner selbst. Von dem Einzigen kannst du nicht sagen, daß er da ist oder nicht da ist, er umfaßt alles, aber er ist nichts davon. Du kannst ihn nur durch die Nichtähnlichkeit benennen, denn es ist sinnlos, ihn Güte, Schönheit, Weisheit, Liebe, Kraft oder Gerechtigkeit zu nennen, es wäre
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II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff
dasselbe, wie ihn Bär, Panther, Schlange, Drache oder Greif zu nennen, denn nichts von dem, was du über ihn sagst, kann ihn jemals beschreiben. Gott ist nicht Körper, nicht Gestalt, nicht Form, er hat keine Quantität, keine Schwere oder Leichtigkeit, er sieht nicht, hört nicht, kennt keine Unordnung und Verwirrung, ist nicht Seele, nicht Intelligenz, Imagination, Meinung, Gedanke, Wort, Zahl, Ordnung, Größe, er ist nicht Gleichheit und nicht Ungleichheit, nicht Zeit und nicht Ewigkeit, er ist ein Wille ohne Ziel. Versuche das zu begreifen, Baudolino, Gott ist eine Lampe ohne Flamme, eine Flamme ohne Feuer, ein Feuer ohne Wärme, ein dunkles Licht, ein schweigendes Dröhnen, ein blinder Blitz, ein leuchtender Nebeldunst, ein Strahl der eigenen Finsternis, ein sich ausdehnender Kreis, der sich in sein Zentrum zusammenzieht, eine einsame Vielfalt, er ist … er ist…’ Sie suchte nach einem Beispiel, das sie beide überzeugte, sie, die Lehrerin, und ihn, den Schüler. ‚Er ist ein Raum, der nicht da ist, in dem du und ich dasselbe sind, so wie heute in dieser Zeit, die nicht vergeht.’“5
Sodann wirft Baudolino die Frage nach der Schöpfung und dem Bösen auf, und Hypatia erwidert: „‚Nun, der Einzige neigt dazu, aufgrund seiner Vollkommenheit, aus Großzügigkeit gegenüber sich selbst, sich zu verströmen, sich auszudehnen in immer weitere Sphären seiner eigenen Fülle, er wird wie die Kerze zum Opfer des Lichtes, das er verbreitet, je mehr er leuchtet, desto mehr löst er sich auf. Jawohl, das ist es, Gott verflüssigt sich in die Schatten seiner selbst, er wird zu einer Vielfalt von Boten-Gottheiten, von Äonen, die viel von seiner Potenz haben, aber in schon schwächeren Formen. Sie sind eine Vielheit von Göttern, Dämonen, Archonten, Tyrannen, Kräfte, Funken, Astren und selbst das, was die Christen Engel oder Erzengel nennen … Aber sie sind von dem Einzigen nicht geschaffen worden, sie sind seine Emanationen.’ ‚Emanationen?’ ‚Ausflüsse, Ausstrahlungen, jawohl. Siehst du den Vogel da? Früher oder später wird er einen anderen Vogel hervorbringen, indem er ein Ei ausbrütet, so wie eine Hypatia ein Kind aus ihrem Bauch hervorbringen kann. Aber wenn die Kreatur einmal hervorgebracht
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Dan: Von Hans Jonas zu Umberto Eco
worden ist, sei sie eine Hypatia oder ein Vogel, dann lebt sie aus eigener Kraft und überlebt auch den Tod ihrer Mutter. Nun denk statt dessen ans Feuer. Das Feuer bringt keine Wärme hervor, es strahlt sie aus. Die Wärme ist dasselbe wie das Feuer, wenn du das Feuer löschst, hört auch die Wärme auf. Die Wärme des Feuers ist am stärksten da, wo das Feuer entsteht, und sie wird immer schwächer, je mehr die Flamme zu Rauch wird. So ist es auch mit Gott. Je weiter er sich in Emanationen verströmt und dabei von seinem dunklen Zentrum entfernt, desto mehr verliert er an Kraft, und am Ende wird er eine zähflüssige, trübe Materie, wie das formlose Wachs, in das die Kerze zerfließt. Der Eine und Einzige würde sich lieber nicht so weit ausdehnen, aber er kann nichts tun gegen dieses Sichverströmen bis in die Vielheit und bis ins Chaos.’ ‚Und dieser dein Gott ist nicht imstande, das Böse aufzulösen, das … das sich rings um ihn bildet?’ ‚O doch, er könnte schon. Der Eine und Einzige ist immerzu bemüht, diesen Atem, der zu Gift werden kann, wieder einzusaugen, und siebzigmal siebentausend Jahre lang war es ihm stets gelungen, seine Ausdünstungen wieder ins Nichts zurückzuholen. Das Leben Gottes war ein regelmäßiger Atem, er atmete ohne Anstrengung. […] Eines Tages jedoch verlor er die Kontrolle über eine seiner Zwischenpotenzen, die wir den Demiurgen nennen, der vielleicht Zebaoth oder Jaldabaoth, der falsche Gott der Christen ist. Dieser Abklatsch Gottes nun, der hat aus Versehen oder aus Stolz oder aus Torheit die Zeit geschaffen, wo es vorher nur Ewigkeit gab. Die Zeit ist eine stammelnde Ewigkeit, verstehst du? Und zusammen mit der Zeit hat er das Feuer geschaffen, das Wärme spendet, aber auch alles zu verbrennen droht, das Wasser, das den Durst stillt, aber auch alles ersäuft, die Erde, die das Gras und die Kräuter ernährt, aber auch Lawine werden und sie ersticken kann, die Luft, die uns atmen läßt, aber auch Orkan werden kann … Er hat alles falsch gemacht, dieser täppische Demiurg. Er hat die Sonne gemacht, die Licht spendet, aber die Felder und Wiesen ausdörren kann, den Mond, der die Nacht nur ein paar Nächte lang beherrschen kann, dann nimmt er schon wieder ab und stirbt, die anderen Himmelskörper, die prächtig sind, aber schädliche Einflüsse ausstrahlen können. Und dann die verstandesbegabten Wesen, die aber nicht fähig sind, die großen Mysterien zu verstehen, die Tiere, die uns
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II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff
manchmal treu sind und manchmal bedrohen, die Pflanzen, die uns ernähren, aber nur ein sehr kurzes Leben haben, die Mineralien, die ohne Leben, ohne Seele, ohne Verstand sind und daher nie etwas begreifen. Der Demiurg war wie ein Kind, das Figuren aus Schlamm formt in der Absicht, die Schönheit eines Einhorns nachzubilden, und heraus kommt etwas, das eher wie eine Ratte aussieht!’“6
Dan: Von Hans Jonas zu Umberto Eco
Das höchste Ideal wird in einem weiteren Abschnitt beschrieben:
müssen, sondern werden sie überwunden und ihren Mangel besiegt haben in jener Nische, jenem unzugänglichen heiligen Ort, wir werden hinausgelangt sein über das Göttergeschlecht und die Hierarchien der Äonen […]. In dieser Rückkehr zum absolut Einfachen werden wir nichts anderes mehr sehen als die Glorie der Dunkelheit. Entleert von Seele und Verstand, werden wir über das Reich des Geistes hinausgelangt sein, werden uns in Verehrung dort niederlassen, als wären wir eine aufgehende Sonne, mit geschlossenen Augen werden wir in die Sonne des Lichtes blicken, werden zu Feuer werden, zu dunklem Feuer in jenem Dunkel, und durch den Weg des Feuers werden wir unseren Weg vollenden. Und das wird der Augenblick sein, da wir, nachdem wir den Lauf des Flusses zurückverfolgt haben und nicht nur uns selbst, sondern auch den Göttern und Gott bewiesen haben, daß man gegen den Strom zurückrudern kann – das wird der Augenblick sein, da wir die Welt geheilt, das Böse getötet, den Tod haben sterben lassen, der Augenblick, da wir den Knoten gelöst haben, in dem sich die Finger des Demiurgen verfangen hatten. Uns, Baudolino, uns ist es beschieden, Gott zu heilen, uns ist seine Erlösung anvertraut worden: Durch unsere Ekstase werden wir die ganze Schöpfung zurück ins Herz des Einen und Einzigen bringen. Wir werden ihm die Kraft geben, jenen großen Atemzug zu tun, der ihm erlaubt, das Böse, das er ausgehaucht hat, wieder einzusaugen.‘“8
„Am nächsten Tag sprach sie über das bei den Hypatien geübte Schweigen, damit auch er es erlerne, wie sie sagte. ‚Man muß eine absolute Stille ringsum erzeugen. Dann setzen wir uns in entlegener Einsamkeit vor das, was wir uns dachten, uns ausdachten und empfanden. So gelangen wir zu Ruhe und Frieden. Wir werden dann weder Zorn noch Verlangen, weder Schmerz noch Glück mehr empfinden. Wir werden aus uns selbst herausgetreten sein, entrückt in absoluter Einsamkeit und tiefster Stille. Wir werden nicht mehr die schönen und guten Dinge betrachten, wir werden über das Schöne als solches hinausgelangt sein, jenseits des Schönen als Begriff, jenseits des Chores der Tugenden, so wie diejenigen, die ins Allerheiligste des Tempels eingetreten sind, die Statuen der Götter hinter sich gelassen haben und nicht mehr Bilder sehen, sondern Gott selbst schauen. Wir werden keine Mittlerkräfte mehr anrufen
Man müßte diese Darstellung mit anderen der zahlreichen Beschreibungen – vor allem der verschiedenen Formen des Christentums – vergleichen. Ein Großteil des Romans ist der ironischen, gleichwohl zornigen Beschreibung des Reliquienkults gewidmet, von dem alle Teilnehmer besessen sind. Ein Armenier besitzt in seinem Schloß eine Fabrik, die zahlreiche Häupter von Johannes dem Täufer produziert; die Leute, die sie verkaufen, müssen sorgfältig darauf achten, in einer Stadt nicht mehr als einen oder höchstens zwei davon vorrätig zu haben, damit kein Verdacht aufkommt. Gräber werden nach Fingern und Zähnen von Aposteln und Heiligen durchwühlt. Das Gewand eines Leprakranken (noch dazu das eines Nestorianers, wie Eco feststellt) wird zum Leichentuch Christi. Es ist nicht der Aberglaube, den Eco angreift, sondern der zynische Handel auf der Grundlage anerkannten Betrugs. Die
Über die Sendung ihrer Gruppe sagt Hypatia: „‚Trotz des Irrtums der Schöpfung ist ein Teil des Einen und Einzigen in jedem von uns denkenden Kreaturen geblieben und auch in jeder anderen Kreatur, von den Tieren bis zu den toten Körpern. Alles, was uns umgibt, ist von Göttern bewohnt, die Pflanzen, die Samen, die Blumen, die Wurzeln, die Quellen; jede von ihnen, sosehr sie auch daran leidet, eine schlechte Nachahmung der Gedanken Gottes zu sein, möchte nichts anderes, als sich wieder mit ihm vereinen. Wir müssen die Harmonie zwischen den Gegensätzen wiederfinden, wir müssen den Göttern helfen, wir müssen diese Funken zum Leben erwecken, diese Erinnerungen an den Einen und Einzigen, die noch begraben liegen in unseren Seelen und in den Dingen selbst.’“7
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Dan: Von Hans Jonas zu Umberto Eco
schiere Grausamkeit der Christen gegeneinander, die Verstümmelungen und Hinrichtungen, werden seitenlang in entsetzlichen Einzelheiten beschrieben. Auf diesem Hintergrund bildet die ruhige, idyllische Darstellung der Gnosis eine Ausnahme. Tatsächlich ist uns kein antiker Gnostiker bekannt, der einen anderen Gnostiker oder überhaupt jemanden um dieses Glaubens willen umgebracht hätte. Wir kennen keine gnostischen Kathedralen, nicht einmal Gottesdiensträume. Wir besitzen keine Reliquien gnostischer Heiliger, denn es gibt keine Heilige. Es gibt keine gnostische Kunst, weder eine gute noch eine schlechte. Die Gnostiker tragen keine Schuld an den von Eco beschriebenen Verbrechen. Einer der Gründe dafür dürfte jedoch sein, daß sie nie existiert haben. Die theologische Darstellung ist humorvoll, wird aber einem schönen, einfachen jungen Mädchen in den Mund gelegt. Eco führt sie sanft von den Abstraktionen des Neuplatonismus zur „gnostischen“ Mythologie, ohne ihre Weltanschauung mit irgendeiner anderen Religion in Zusammenhang zu bringen: Sie ist weder jüdisch noch zoroastrisch, sie wendet sich gegen das Christentum, ist aber keine christliche Irrlehre. Hierbei handelt es sich um den poetischen, naiven Ausdruck einer nichtchristlichen oder vorchristlichen Gnosis – eine Vorstellung, die sich – weitgehend auf der Grundlage der Werke von Hans Jonas – unter den Gelehrten des zwanzigsten Jahrhunderts verbreitet hat. Die Verbindung zwischen Gnosis und spätantiker ägyptischer Kultur, insbesondere mit der hermetischen Bibliothek, wurde vor allem von Jonas herausgearbeitet. Das Verständnis der Gnosis als einer letzten Ausdrucksform antiker Philosophie, verbunden mit heidnischer Mythologie, spielt in dem von ihm entworfenen Bild eine wichtige Rolle. Eco war von diesem Narrativ offenkundig fasziniert und stellte eine aus mehreren Quellen zusammengesetzte Spielart davon in den Mittelpunkt der Romanze zwischen Baudolino und Hypatia, zwischen dem christlichen Fälscher und Lügner und der von ihrem weißen Einhorn begleiteten gnostisch-naiven Tochter der Natur. Diese Liebesgeschichte kann kein gutes Ende nehmen. Als Baudolino und Hypatia ihre Liebe vollenden, wird offenbar, daß Hypatia von ihren Hüften abwärts ziegengestaltig ist. Die Satyrn, die verborgen in den verbotenen Bergen leben, haben das Geschlecht
der Hypatien am Leben gehalten, indem sie sie schwängerten, die Töchter bei ihnen ließen und die Söhne fortnahmen. Baudolino läßt sich davon nicht abschrecken, und Hypatia wird schwanger. Dann dringen die Hunnen in die Region ein, zerstören alles und zwingen Hypatia und Baudolino zur Flucht in entgegengesetzte Richtungen Am Ende des Romans verläßt Baudolino das verwüstete Byzanz und macht sich erneut auf die Suche nach seiner geliebten Hypatia, ihrem halbsatyrhaften Kind und dem von ihm erfundenen Reich des Priesterkönigs Johannes. Ecos Roman steht eindeutig für die Faszination, welche die „dritte Religion“, die Gnosis, auf die Herzen und den Verstand der Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts ausgeübt haben. Es ist noch zu früh, vorauszusagen, wie ihr Schicksal im einundzwanzigsten Jahrhundert aussehen wird. Man kann das Problem in vier historische Fragen aufgliedern: 1) Gab es eine vorchristliche Gnosis, die das Christentum mit ihren zentralen Ideen und Mythen befruchtete (wie Rudolf Bultmann glaubte)? 2) Gab es eine nichtchristliche Gnosis, die unabhängig vom Christentum blühte, vornehmlich auf dem hellenistischen, ägyptischen Heidentum gründend, die nur von einigen Anhängern mit christlichen Elementen versetzt wurde? 3) Gab es eine jüdische Gnosis, die zur Quelle der christlichen Gnosis wurde? 4) Ist es wissenschaftlich gerechtfertigt, Dutzende christlicher häretischer Sekten – von Simon Magus bis zu den Katharern des dreizehnten Jahrhunderts – unter dem Begriff des „Gnostischen“ zusammenzufassen? Diese vier Fragen hängen in vielerlei Hinsicht miteinander zusammen, und offenbar geht die Tendenz heute dahin, sie allesamt zu verneinen. Die Vorstellung einer vorchristlichen Gnosis hat vor rund dreißig Jahren Edwin Yamauchi einer kritischen Analyse unterzogen,9 und seine Schlußfolgerung, es gebe kein bedeutsames Beweismaterial, das auf eine solche Erscheinung hinweise, scheint bis heute gültig zu sein. Natürlich kann man einen negativen Befund niemals beweisen: Wir können lediglich feststellen, daß kein zwingender Beweis dafür vorliegt, daß etwas existiert hat. Niemand weiß, was morgen entdeckt wird, und gewiß weiß niemand (auch wenn manche dies vorgeben), was „in Wirklichkeit“ geschehen ist. Auf Yamauchis Arbeit folgte jene Simone Petremonts;10
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nimmt man beider Erkenntnisse zusammen, ergänzt durch viele andere Studien, so läßt sich heute sagen, daß der Versuch der Bultmann-Schule, zu beweisen, daß die Wurzeln des Christentums auf einen gnostischen Mythos zurückreichen, so daß die Evangelien, insbesondere das Johannesevangelium, als christliche Adaption der gnostischen Narrative verstanden werden können, keine Bestätigung gefunden hat. Drei Generationen von Forschern, die sich an diesem Unterfangen beteiligten, haben es nicht vermocht, die frühen Thesen dieser Schule zu erhärten. Es fällt nicht schwer, die Enttäuschung zu verstehen und mitzuempfinden, die viele Gelehrte befällt, wenn sie auf die großen Ernüchterungen des zwanzigsten Jahrhunderts zurückblicken. Zweimal verhieß das vergangene Jahrhundert einen neuen, revolutionären Einblick in die Ursprünge und das Geheimnis der Macht des Christentums. Heute stehen wir am Beginn des dritten Jahrtausends, in dem das Christentum einen großen Teil der Menschheit geistig beherrscht. Die Botschaft des Neuen Testaments kann als wirksamste spirituelle Bewegung der Menschheitsgeschichte gelten. Die Suche nach dem Geheimnis, aus dem diese ungeheure Macht hervorbrach, ist faszinierend und fesselnd. Die beiden bedeutenden Entdeckungen antiker Texte im Mittleren Osten – Nag Hammadi 1946 und Qumran 1947 – schienen neue Türen zu öffnen und neue Möglichkeiten zum Verständnis dieses Mysteriums anzubieten. Auf beide Entdeckungen folgte eine intensive, hochmotivierte wissenschaftliche Kraftanstrengung, die in vielen Fällen zu einem neuen, tieferen Verständnis des historischen und geistigen Hintergrunds sowie der Frühgeschichte des Christentums führte. Beide Bibliotheken wurden sukzessive publiziert und trieben die Forscher bisweilen zur Verzweiflung. Dies ist nun überstanden. Die Texte der zahlreichen Werke beider Bibliotheken sind den Gelehrten offen zugänglich, die meisten sind ediert, übersetzt und in allen Einzelheiten bearbeitet. Es besteht keinerlei Zweifel daran, daß die Forschung in den letzten Jahrzehnten überaus große Fortschritte gemacht hat; ebensowenig ist zu bezweifeln, daß es zu keinen radikalen, revolutionären Entdeckungen kam und solche auch nicht zu erwarten sind. Ein Gefühl der Enttäuschung ist unter diesen Gegebenheiten natürlich und verständlich. Doch auf dem Weg der historischen
Forschung können negative Ergebnisse häufig ebensowichtig sein wie positive. Mit Blick auf das Thema dieses Essays scheint es jetzt, als habe eine „dritte Religion“, die dem frühen Christentum und dem rabbinischen Judentum vorausging und sich parallel zu ihnen entwickelte, niemals existiert. Als Williams vor einigen Jahren seine vernichtende Kritik der Gnosisforschung vorlegte, war die Frage, die ihm am schwersten zu beantworten schien und die ihm als „letzter“ Hinweis darauf galt, daß es so etwas wie eine gnostische Weltanschauung gegeben habe, jene nach dem bösen Demiurgen. Was diese Thematik betrifft, neigte er dazu, die Sicht jener zu akzeptieren, die diese Vorstellung inneren Entwicklungen innerhalb des Judentums zuschrieben. Meines Erachtens deutet diese zentrale Vorstellung, sofern man sie methodisch sorgfältig betrachtet, auf das wahre Wesen des fraglichen geistigen Phänomens hin. Zu diesem Zweck muß man allerdings die Neigung der Historiker überwinden, die Vielfalt der von den Texten gebotenen Ideen zu systematisieren und daraus scheinbar kohärente Strukturen zu schaffen, obwohl nichts darauf hindeutet, daß die Verfasser der Texte eine solche Struktur im Sinn hatten. Zugleich besteht eine Tendenz, davon auszugehen, daß Erscheinungen, die man mit dem gleichen Begriff bezeichnet, im Innern miteinander zusammenhängen, auch wenn dieser vereinheitlichende Begriff den Verfassern der Texte vollkommen unbekannt war. Das betrifft vor allem den Begriff des „Dualismus“, der vielfach mit Gnosis gleichgesetzt wurde. Jeder Hinweis auf irgend etwas, das ein moderner Forscher mit diesem Begriff bezeichnen mag, wurde sofort als Beweis für die Nähe zum Gnostischen angenommen. In Wirklichkeit beschreibt dieser Begriff mehrere in sich unterschiedliche religiöse Vorstellungen, und man sollte sie unabhängig voneinander analysieren, so wie es die Texte nahelegen. Guter und böser Trieb. Hierbei handelt es sich um die klassische Dualität des Menschen, wie sie das rabbinische Judentum zur Sprache bringt, ein Konzept, das Talmud und Midrasch bestimmt. Es postuliert einen dualistischen Charakter der menschlichen Psyche, der den Menschen entweder zu Gott hin oder von ihm weg treibt. Beides sind notwendige Elemente der menschlichen Persönlichkeit, und beide dienen dem Fortbestehen des
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Universums. Der böse Trieb wird mit dem Sexualtrieb in Zusammenhang gebracht, der den Menschen zwar zu sündigem Verhalten veranlassen kann, ohne den die Welt aber nicht bestehen kann. Einige Texte behaupten, in der kommenden Welt werde es den bösen Trieb nicht geben, doch in dieser Welt sei er ein unvermeidlicher, positiver Grundstein der Existenz, geschaffen von demselben Gott, der Schöpfer aller Dinge ist.11. „Das böse Reich“. Aus jüdischer Sicht war die Geschichte zwischen dem ersten Jahrhundert v. u. Z. und dem dritten Jahrhundert u. Z. aufgeteilt zwischen dem Guten – dem jüdischen Volk – und dem Bösen – dem Römischen Reich. Tatsächlich war dies eine Zeit ständiger Kämpfe – vielfach auf Leben und Tod – zwischen den „Söhnen des Lichts“ und den „Söhnen der Finsternis“. Diese Katastrophe, die Hunderttausende von Opfern forderte und die Souveränität des jüdischen Volkes sowie den jüdischen Tempel zerstörte, ist in der jüdischen Literatur auf mannigfaltige Weise dargestellt worden, zum Teil historisch, zumeist in visionären, apokalyptischen oder fiktionalen Texten. Einige davon sind äußerst grausam („Die Geschichte der Zehn Märtyrer“), doch in all diesen Fällen war die Wirklichkeit weit härter und grausamer als ihre literarische Darstellung. Man hat diese historische Dualität auf unterschiedliche Weise theologisch erklärt, doch nirgends wird sie mit dem Schöpfungsvorgang in Zusammenhang gebracht. Gott allein schuf die Welt, und kein römischer Kaiser hatte irgendeinen Anteil daran. Das böse Reich steht im Konflikt mit dem Volk Israel, nicht aber mit Gott. Es ist Teil der göttlichen Ordnung, und verschiedene theologische Argumente bieten dafür eine Erklärung. Ein theologischer Dualismus ist dadurch ausgeschlossen, daß die einzige Macht in der Geschichte wie in der Schöpfung der eine und einzige Gott ist.12 Der helfende Demiurg. Talmud und Midrasch sowie die esoterische und mystische Literatur der rabbinischen Zeit enthalten mehrere Hinweise darauf, daß einige jüdische Gruppen an eine zweite, ihrem Wesen nach göttliche Macht neben dem höchsten Gott glaubten, die – zumindest in gewissem Maße – am Schöpfungsprozeß beteiligt war. Der hebräische Begriff (jozer bereschit = Schöpfer, Demiurg), der sich in der Regel auf den höchsten Gott bezieht, kann in verschiedenen Kontexten mit Blick auf eine zweite
Macht gedeutet werden. Bisweilen wird der Name dieser Macht angegeben: Metatron. Zumeist sind die uns überlieferten Bezugnahmen auf diese Vorstellung polemisch und negativ, sollen sie also widerlegen. Doch bereits die Notwendigkeit, die Identität von höchstem Gott und Schöpfer zu verteidigen, deutet darauf hin, daß es auch andere Auffassungen gab. Der demiurgische Charakter Metatrons kommt am erkennbarsten in einem späten Werk der Hechalot-Mystik zum Ausdruck – dem Dritten Henoch oder dem hebräischen Henochbuch.13 In dieser Schrift werden Metatron alle Kräfte und Merkmale eines göttlichen Wesens zugesprochen, und seine Beherrschung der „Buchstaben, durch die Himmel und Erde geschaffen wurden“, wird deutlich betont. Doch Metatron wird mit Henoch, dem Sohn Jareds, gleichgesetzt, was bedeutet, daß er gar nicht an der Schöpfung teilgenommen haben kann, weil er mehrere Generationen später geboren wurde. Der Verfasser dieses Werkes scheint zu sagen: Gewiß, Metatron wirkt wie ein Demiurg, besitzt die Macht eines Demiurgen, so daß ihn manche womöglich fälschlicherweise als Demiurgen betrachten, doch er kann gar kein Demiurg sein, da er ein menschliches Wesen ist, das erst lange nach der Schöpfung zu dieser erhabenen Stellung erhoben wurde. Die Vorstellung eines untergeordneten göttlichen Helfers Gottes, der demiurgische Kräfte besitzen kann, findet sich im Talmud (Chagiga 15b) unter dem Begriff schtei reschujot („zwei Mächte“). Man hat diesen Begriff als „Dualismus“ übersetzt, doch das ist nur dann gerechtfertigt, wenn eindeutig und mit Nachdruck betont wird, daß in all diesen Texten keinerlei Hinweis auf einen Konflikt zwischen den beiden Mächten vorkommt. Diese göttliche Macht wird (gewöhnlich auf negative Weise, indem sie bestritten wird) als Helfer und Stellvertreter Gottes beschrieben, aber es besteht keinerlei Gegensatz, Neid oder Streit, und es ist völlig klar, wer der Herr und wer der Knecht ist. Es führt in die Irre, wenn man auf den hebräischen Begriff schtei reschujot Bedeutungen überträgt, die aus der Verwendung des Begriffes „Dualismus“ in anderen Zusammenhängen stammen. So wie Platons Demiurg ebensowenig auf einen Dualismus von Gut und Böse hindeutet wie Philos Logos, so gibt es auch keine Grundlage für die Annahme, die Existenz einer heterodoxen Deutung
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Metatrons als demiurgische Macht, die Gott während des Schöpfungsvorgangs hilft, spiegele eine dualistische Theologie im gnostischen Sinne wider. Im Gegenteil, die Tatsache, daß dieser Mythos dargestellt und diskutiert wird, deutet darauf hin, daß die Rabbinen und Mystiker dieser Zeit keine andere, radikalere Vorstellung eines Demiurgen kannten. Satan als Teil des göttlichen Gerichts. Das im Hiobbuch gezeichnete Bild Satans als eines bösen Intriganten und Verfolgers, der gleichwohl einen wesentlichen Teil der göttlichen Hierarchie ausmacht, die den Verlauf der Ereignisse im Universum lenkt, ist in der jüdischen Literatur der Antike die beherrschende Vorstellung. Hiob selbst erkannte die dualistische Natur der Welt, wenn er feststellte, das Land sei „in des Bösen Hand gegeben“ (Hiob 9,24); dennoch handelt es sich dabei um eine – von geheimnisvollen Wegen der Vorsehung bestimmte – Entscheidung Gottes selbst. Einige der schlimmsten Dokumente des Hasses auf Rom und seinen Kaiser nennen Samael, einen verbreiteten Begriff für Satan, als die göttliche Macht, die Rom im himmlischen Gericht vertritt: Samael ist böse und versucht, das Volk Israel zu verletzen, doch er ist Gott unterworfen (so daß auch Rom ein Untertan Gottes ist) und wird als Teil seines Gerichtshofs dargestellt. Auch hier entstehen zahlreiche schwierige theologische Probleme, doch Satan ist weder unabhängig noch befindet er sich jemals im Konflikt mit Gott; vielmehr ist er eher notwendiger Bestandteil der Schöpfung denn ein eigenständiger Schöpfer. Satan, der Rebell. Der deutlichste Hinweis auf eine dualistische Weltsicht findet sich in verstreuten Texten, vor allem in den Apokryphen und Pseudepigraphen, einige in den Qumranschriften und ganz wenige in späteren hebräischen Schriften, etwa in dem Sefer Serubabel, in dem eine anti-christliche Gestalt, Armilus, gegen den Messias kämpft,14 oder in den Pirke-de-Rabbi Eliezer, einer Midraschsammlung aus dem achten Jahrhundert, in der Samael als Erzengel erscheint, der gegen Gott aufbegehrt und sich selbst mit der Schlange identifiziert, die Adam und Eva zur Sünde verführte. In den christlichen Evangelien ist Satan der Feind, in manchen Kontexten eine dualistische Figur, die in Widerstreit mit Gott tritt. Die Gestalt des Antichrist im Neuen Testament könnte auch auf einige authentische jüdische Ursprünge
zurückgehen. In keinem dieser Texte ist das dualistische Element, der Kampf zwischen Gott und Satan, ein beherrschendes Merkmal, doch läßt sich seine Präsenz nicht leugnen; und obgleich es sich im Christentum rascher und intensiver entwickelte, besteht keinerlei Zweifel daran, daß auch im Judentum die Vorstellung eines im Widerstreit mit Gott liegenden Satans lebendig war. Zwar wurde sie in Talmud und Midrasch sowie in der esoterischen und mystischen Literatur bestritten und marginalisiert, doch sie muß als eines der vielen Elemente der jüdischen Weltanschauung der Antike gelten. In keinem dieser Kontexte ist Satan jedoch auf irgendeine Weise am Schöpfungsvorgang beteiligt. Samael, die nefilim, Shemhaza und Asael oder Uzza und Asael – überall handelt es sich um Gestalten, die erst im Gefolge der Schöpfung auftreten und wirksam werden. Mit keinem von ihnen werden demiurgische Merkmale verbunden. Um diese Fakten historisch bewerten zu können, gilt es den immensen Umfang der für diesen Überblick relevanten Literatur zu bedenken. Sie umfaßt die späten Bücher der hebräischen Bibel, die Apokryphen und Pseudepigraphen, die Qumranschriften, das Neue Testament, die gesamte Bibliothek des Talmud und der Midraschim, die zahlreichen Abhandlungen der Hechalot- und Merkabah-Literatur, das jüdisch-hellenistische Schrifttum, die Schriften Philos, Josephus’ Werke usw. Es handelt sich um eine Literatur, die aus Hunderten von Abhandlungen besteht, sich beinahe über ein halbes Jahrtausend erstreckt und die Anschauungen von zahllosen Sekten, Bewegungen und religiösen Gruppen in einem Dutzend Länder im ganzen Mittleren Osten zum Ausdruck bringt. Hunderte von Forschern haben diese Literatur seit nunmehr über hundert Jahren studiert, und sie haben nicht einen einzigen Beweis für einen jüdischen Text gefunden, der darauf hindeutet, daß irgendwo in der jüdischen Kultur, sei sie orthodox oder heterodox, esoterisch oder exoterisch, die Vorstellung eines bösen Demiurgen bekannt war. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß ein negativer Befund niemals bewiesen werden kann, verlangen diese Fakten von den zeitgenössischen Gelehrten, ihre Behauptung eines jüdischen Ursprungs dieser Vorstellung stärker zu fundieren als durch den Satz: „Vielleicht gab es irgendwo irgendwann Juden, die so gedacht haben.“
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Man sollte zudem bedenken, daß die Lehre vom bösen Demiurgen aus Sicht der jüdischen religiösen Kultur keine dualistische ist. Die Namen des Demiurgen-Satan, die sich in den „gnostischen“ Abhandlungen finden, sind nicht jene einer sekundären demiurgischen Macht, sondern die Namen des höchsten Gottes selbst, des Schöpfers aus der biblischen Überlieferung, Sabaoth ist nicht Metatron, er ist Gott selbst. Die Namen Elohaios, Adonaios, Jao, Jahu usw. beziehen sich allesamt auf den Gott des Buches Genesis, den einen und einzigen Gott der jüdischen Tradition. Der Name Jaldabaoth, der die Forscher lange verwirrt hat, scheint aus den häufig begegnenden, wohlbekannten Namen Gottes – Ja Elohim Adonai Zebaoth – zusammengesetzt.15 Es gibt lediglich eine faszinierende Ausnahme, nämlich die Verwendung des Begriffs „Jüngling“ als Bezeichnung des Demiurgen in der gnostischen Literatur. „Na’ar“ ist ein Beiname Metatrons, der seinen Ursprung möglicherweise in der Vorstellung des Sar ha-Olam, des Fürsten des Universums hat, den manche Exegeten in den Midraschim mit Blick auf einige schwierige Verse benutzten. Dabei handelt es sich um ein historisches Rätsel, doch es liegen keine Hinweise dafür vor, daß irgendeines seiner Bestandteile sich auf die Vorstellung eines bösen Demiurgen bezieht. Das Konzept der schtei reschujot, das die Trennung zwischen höchstem Gott und Demiurg beinhalten mag, steht demnach der Idee eines bösen Demiurgen nicht so nahe, wie einige gerne annehmen möchten. Was einem modernen Forscher als „lediglich ein kleiner Schritt“ von einer Vorstellung zu einer anderen erscheinen mag, dürfte für einen antiken Theologen fern, ja unmöglich gewesen sein. Man sollte bedenken, daß sich die Geschichtswissenschaft nicht damit befaßt, was gewesen sein könnte, sondern mit dem, was war. Die Frage lautet nicht, ob Juden – nach der Zerstörung des Tempels und ihren extremen Leiden und Peinigungen – zu dem Schluß gekommen sein könnten, das Universum sei von einem bösen Schöpfer geschaffen worden. Das wäre denkbar – so wie die Überlebenden der Schoa zu der Überzeugung hätten gelangen können, Gott sei in Wirklichkeit der Teufel. Die historische Frage lautet jedoch, ob sie tatsächlich so dachten. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man sich dem Mittelalter zuwendet. Die mittelalterliche Kabbala entfaltete die Vorstellung
des Demiurgen auf denkbar stärkste Weise. Der kabbalistischen Idee der zehn sefirot, jener Folge von Emanationen göttlicher Kräfte, die als Mittler zwischen der höchsten Gottheit und dem geschaffenen Universum fungieren, wohnt ein demiurgisches Element inne: Die sefirot spielten bei der Schöpfung eine jeweils besondere Rolle und leisten auch weiterhin einen Beitrag zur Fortexistenz der Welt. Dieses System beinhaltet zwar eine Vielzahl göttlicher Mächte, ist jedoch nicht böse, auch wenn ihm ein Element strenger göttlicher Gerechtigkeit innewohnt. Als die Kabbalisten des dreizehnten Jahrhunderts die Vorstellung einer eigenständigen Folge von Emanationen des Bösen, der „linken Seite“, entwickelten, beschrieben sie diese als sich nach der Schöpfung und im Widerstreit zu ihr entfaltenden Vorgang. Jeder Versuch, die Behauptung zu belegen, es habe einen verborgenen jüdischen Mythos des bösen Demiurgen gegeben, der noch nicht in der Antike zum Ausdruck gekommen, aber in der mittelalterlichen Kabbala in Erscheinung getreten sei, ist zum Scheitern verurteilt. Wohl entwickelte sich im mittelalterlichen und im modernen Judentum ein Dualismus, nicht aber die Vorstellung des bösen Demiurgen.16. Wer also brachte die Idee des bösen Demiurgen hervor? Die historische Analyse muß zu den Texten selbst zurückkehren und sich an die unbestrittenen Tatsachen halten: Wir besitzen mehrere – von heterodoxen Christen des zweiten und dritten Jahrhunderts verfaßte – Abhandlungen, die diese Vorstellung enthalten. Autoren und Lehrer häretischer, häufig esoterischer religiöser Sekten neigen bisweilen dazu, originelle Ideen zu formulieren. Läßt sich keine frühere Quelle entdecken, so sollte man davon ausgehen, daß es die Verfasser dieser Abhandlungen waren, welche die Vorstellung entwickelten. Sollte in der Zukunft eine weitere Quelle entdeckt werden, wird man diese Schlußfolgerung modifizieren müssen. Bis dahin muß der Historiker aber die heute bekannten Fakten präsentieren. Der Mythos des bösen Demiurgen ist nicht Ausdruck einer „dritten Religion“, die ihren Ursprung im Judentum hatte und das Christentum beeinflußte, sondern einer der zahlreichen neuen Richtungen und Weltanschauungen, die sich unter den rasch ausbreitenden christlichen Sekten des zweiten und dritten Jahrhunderts entwickelten.
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Umberto Ecos Baudolino verkörpert demnach die dauerhafte Wirkung eines Mythos auf die Literatur. Dabei handelt es sich diesmal um einen wissenschaftlichen Mythos, der in der gegenwärtigen Kultur weiterhin sein Echo findet, selbst wenn die Historiker sich allmählich davon distanzieren.
Micha Brumlik
Ressentiment – Über einige Motive in Hans Jonas’ frühem Gnosisbuch I. Hans Jonas’ Buch über die Gnosis,1 1925 in Angriff genommen, 1928 als Dissertation in Marburg eingereicht, 1934 in Göttingen erschienen und Jahre später in deutlich überarbeiteten Varianten neu publiziert,2 bestand im Kern aus dem höchst gründlichen Sammelreferat eines überraschend belesenen zweiundzwanzigjährigen jüdischen Studenten. Der Hinweis auf die Herkunft des Autors ist in diesem Fall deshalb von Bedeutung, weil die entsprechende akademische Leistung im Rahmen eines neutestamentlichen Seminars erbracht wurde, obwohl es doch NichtProtestanten unmöglich war, im Marburg jener Jahre evangelische Theologie zu studieren und förmlich abzuschließen. So reichte Jonas seine im Kontext protestantischer Theologie – im Seminar Rudolf Bultmanns – entstandene Arbeit wenige Jahre später als philosophische Dissertation bei dessen geistigem Weggefährten und Partner Martin Heidegger ein.3 Die erstaunliche Leistung des fünfundzwanzigjährigen Jonas, der selbst keine Quellenforschung betrieben, sondern sich an einer Einordnung und Deutung des vielfältigen und verstreuten, von anderen erschlossenen Quellenmaterials versucht hat, hat seither tiefe Spuren in der allgemeinen Geistesgeschichte und durchaus auch in der fachlichen Forschung hinterlassen. Ein Blick in das Register eines einschlägigen Sammelbandes4 zeigt schnell, daß kein Autor so oft zitiert wird wie Jonas. Zugleich wird jedoch deutlich, daß Jonas’ Blick auf die von ihm rezipierten Quellen einseitig war und er mindestens eine bedeutende Alternativhypothese zu seiner grundsätzlichen Deutung dieser komplexen geistigen Bewegung 126
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als eines Ausdrucks pessimistischer Weltflucht nicht in Erwägung gezogen hat. So sei das Auslösungsmoment für das Phänomen der historischen Gnosis Freude und grenzenloser Jubel über das von Gott erlangte Erlösungswissen gewesen, schreibt etwa Barbara Aland unter Bezug auf das in Nag Hammadi gefundene Evangelium Veritatis: „Ich frage mich schon lange“, so Aland, „ob man, was die antike Gnosis betrifft, die Reihenfolge nicht vertauschen muß, nämlich: Zuerst Erkenntnis, und zwar Erkenntnis nicht eines Un-Gottes, der lediglich dadurch definiert ist, daß er nicht Welt ist, sondern Erkenntnis eines prall gefüllten Gottes, der Liebe und Güte schenkt und über die elende Welt und die Ursache ihres Elends aufklärt. […] Marcions Reihenfolge war diese Reihenfolge. Man kann sie freilich nur für möglich halten“, so schloß Aland auf einem Kongreß in St. Petersburg im Jahr 2000 aus diesem Befund, „wenn man außerhalb dieser Welt einen Gott anzusetzen vermag, dessen Wesen sich nicht in Negativität erschöpft, oder anders gesagt, wenn man glauben kann.“5 Tatsächlich nahm der junge Hans Jonas seine Studien in einer persönlichen und politischen Atmosphäre auf, in der sich der „Glaube“ – sei er nun jüdisch oder christlich gewesen – in einer tiefen Krise befand, so daß man ihm und seinen akademischen Lehrern Martin Heidegger und Rudolf Bultmann gewiß kein Unrecht tut, wenn man ihnen unterstellt, daß „Glaube“ alles andere als selbstverständlich war und es im Gegenteil darauf anzukommen schien, in philosophischer Gründlichkeit und philologischer Penibilität zu untersuchen, auf welchen Grundlagen der „Glaube“ überhaupt beruhen konnte.6 Verbinden sich diese Haltungen zudem mit politischen und vor allem auch persönlichen Krisen, so erweist sich das, was als Objekt religionsgeschichtlicher Forschung gelten soll, ironischerweise als genau jenes Motivbündel, das die Autoren von Texten ihrerseits bewegte. Hans Jonas hat – darüber scheint sich die Forschung weitestgehend einig zu sein – eine im wesentlichen religionspsychologische Deutung der Gnosis vorgelegt und dieser den Anstrich einer Existentialanalyse gegeben. Das hat niemand schärfer gesehen als der ebenfalls an neutestamentlichen Themen interessierte jüdische Wissenschaftler Hans Joachim Schoeps, der schon 1956 über Jonas’ Buch schrieb, dessen Verfasser habe ein in allen Erscheinungen
der Gnosis „zum Durchbruch kommendes Urerlebnis beschreiben“ wollen. Indes: „Worin dieses aber nun tatsächlich besteht, habe ich nicht zu erfassen vermocht.“7 Die folgenden Überlegungen beanspruchen, dieses Urerlebnis in einem einmaligen lebensgeschichtlichen Ereignis von Hans Jonas zu situieren, reduzieren also bewußt Jonas’ Deutung auf den Entstehungskontext im Marburg der frühen zwanziger Jahre. Dabei ist mir bewußt, daß ein solcher Reduktionismus das Problem des Verhältnisses von Genesis und Geltung, von „Context of discovery“ und „Context of justification“ nicht völlig lösen kann. Auf diese Frage wird abschließend zurückzukommen sein.
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II. Als Hans Jonas nach dem Zweiten Weltkrieg seinen alten Lehrer Rudolf Bultmann besuchte, war dieser voller Hoffnung, das Buch, das Jonas unter dem Arm hielt, sei der lange versprochene zweite Teil seines noch 1934 in Göttingen erschienenen Buches Gnosis und spätantiker Geist, das auf eine 1928 bei Heidegger eingereichte Dissertation zurückging – eine Arbeit, die Jonas selbst später als ein eher unselbständiges Gesellenstück kennzeichnete.8 Die Arbeit galt ihm Jahre später als „interessanter, einmaliger Versuch, der bisher noch nicht unternommen worden war“, als eine „Anwendung der Existentialanalytik mit ihren Deutungsmethoden und ihrem Verständnis des menschlichen Daseins auf einen bestimmten historischen Stoff, in diesem Fall die spätantike Gnosis.“9 Jonas’ – von seinem Doktorvater Heidegger selbst nur mit mäßiger Begeisterung begleiteter – Versuch bestand darin, dessen philosophisches Verfahren der „Existenzialanalyse“ wissenschaftlich zu verwenden, allerdings ohne dabei bedacht zu haben, daß Heidegger schon in den späten zwanziger Jahren jene später zum Schlagwort gewordene Überzeugung: „Die Wissenschaft denkt nicht“ systematisch entfaltet hatte. Rudolf Bultmann, bei und mit dem Jonas tatsächlich arbeitete, bei dem er aber als Jude in Evangelischer Theologie nicht promovieren konnte, ging es jedenfalls darum, die transzendentale Analytik des Daseins als eine „neutrale anthropologische 129
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Grundverfassung zu beschreiben, von der her sich der Anruf des Glaubens unabhängig von seinem Inhalt innerhalb der Grundbewegung der Existenz ‚existenzial’ interpretieren ließ.“10 Dementsprechend gingen sowohl Bultmann in seinem 1934 erschienenen Vorwort zu Jonas’ Arbeit als auch dieser selbst wie selbstverständlich davon aus, daß eine wissenschaftliche Nutzung der Existentialanalyse sinnvoll und möglich sei, ohne zu berücksichtigen, daß Heideggers Reserve gegenüber der Wissenschaft keineswegs nur den Natur-, sondern mindestens ebenso sehr auch den Geisteswissenschaften galt. Sein und Zeit erschien in erster Auflage 1927 als Band VIII des von Edmund Husserl herausgegebenen Jahrbuchs für Phänomenologie und phänomenologische Forschung und enthielt eine dezidierte Stellungnahme zum Verhältnis dieser Philosophie, der „Daseinsanalytik“, gegen Anthropologie, Psychologie und Biologie. Indem Heidegger eine strikte Trennung zwischen der Daseinsanalytik und diesen Wissenschaften vornahm, attestierte er diesen zugleich, sie verfehlten das ihnen zugrundeliegende philosophische Problem und seien – dies nicht bedenkend – noch nicht einmal in der Lage, ihr eigenes Ziel zu erreichen. Allerdings regte Heidegger in diesem Zusammenhang auch an, der Wissenschaftlichkeit der benannten Disziplinen durch neue Impulse aufzuhelfen – Anstöße „die aus der ontologischen Problematik entspringen müssen.“11 Das allerdings setzte eine neue Fassung des Begriffs der Person voraus, die anders als im Positivismus, aber auch anders als im Neukantianismus, nicht mehr als objektivierbarer Gegenstand, jedoch eben auch nicht mehr als vorgegebenes apriorisches Prinzip der Erkenntnis verstanden werden dürfe: „Zum Wesen der Person gehört, daß sie nur existiert im Vollzug der intentionalen Akte, sie ist also wesenhaft kein Gegenstand. Jede psychische Objektivierung, also jede Fassung der Akte als etwas Psychisches, ist mit Entpersonalisierung identisch. Person ist jedenfalls als Vollzieher intentionaler Akte gegeben, die durch die Einheit eines Sinnes verbunden sind.“12 Diese Bestimmung hat insbesondere auch für die Theologie – genauer gesagt: für die Abkehr von der traditionellen theologischen Wesensbestimmung des Menschen – erhebliche Konsequenzen. Denn die klassisch christliche, unter Hineinnahme der antiken Tradition gewonnene
Wesensbestimmung des Menschen als eines endlichen Wesens, eines ens finitum, das gleichwohl oder gerade deshalb nach „Transzendenz“ strebe, mache die Frage nach dessen Sein vergessen. Mit diesen Einsichten ernst zu machen, bürdet den entsprechenden Wissenschaften den Imperativ auf, „daß diese ontologischen Fundamente nie nachträglich aus dem empirischen Material erschlossen werden können, daß sie vielmehr auch dann immer schon ‚da’ sind, wenn empirisches Material auch nur gesammelt wird.“13 Die intensive Zusammenarbeit Heideggers und Bultmanns im Marburg der zwanziger Jahre, die in gemeinsamen Seminaren ebenso ihren Ausdruck fand wie in Einladungen an den Philosophen, vor der dortigen Theologenschaft Vorträge zu halten, legt es nahe, sich mit Heideggers eigenen Überlegungen dieser Zeit zur christlichen Theologie auseinanderzusetzen. Heidegger hatte sich sowohl vor seinem Ruf nach Marburg als auch nach seinem weiteren Ruf zurück nach Freiburg mit Fragen der Theologie und der Religionsphilosophie auseinandergesetzt. Die 1920/21 gehaltenen „Vorlesungen zur Phänomenologie des religiösen Lebens“14 setzen sich gründlich mit der Phänomenologie der Religion und der Religionsgeschichte auseinander. Sie stellen die radikale Frage, ob das Material der Religionsgeschichte überhaupt für die Phänomenologie brauchbar sei, und gelangen zu der Schlußfolgerung, ihre Begriffe und Resultate seien einer Destruktion zu unterziehen, um sodann ein präzises Schema „phänomenologischer Explikation“15 zu geben. Dieser geht es darum, eine Wende vom Objektgeschichtlichen zum Vollzugsgeschichtlichen zu vollziehen, also die faktische Lebenserfahrung in ihrer Situiertheit bei der Lektüre theologischer Texte zur Sprache zu bringen: Wir „sehen die Situation so, daß wir mit Paulus den Brief schreiben. Wir vollziehen mit ihm selbst das Briefschreiben und -diktieren.“16 Heideggers weitere Deutungen führen dann zu dem Schluß, daß es für das christliche Leben keine Sicherheit geben könne: „Unsicherheit ist auch das Charakteristische für die Grundbedeutendheiten des faktischen Lebens. Das Unsichere ist nicht zufällig, sondern notwendig“.17 1929 und 1936 hat sich Heidegger dann noch mehrmals mit den „Grundbegriffen der Metaphysik“ sowie – unter dem Titel „Beiträge zur Philosophie“ – mit Gott, namentlich dem „letzten Gott“ auseinandergesetzt.
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Die Vorlesung von 1929 kommt nach ihren subtilen Untersuchungen des Wesens der Langeweile zum Wunsch nach einer Person, die das Verkennen der Lage, die durch den Weltkrieg geschaffen wurde, korrigiert. Heidegger scheint davon überzeugt zu sein, daß eine existentielle Umstimmung aus eigener Kraft nicht mehr möglich sei: „Wir müssen erst wieder rufen nach dem, der unserem Dasein einen Schrecken einzujagen vermag. Denn wie steht es mit unserem Dasein, wenn ein solches Ereignis wie der Weltkrieg im wesentlichen spurlos an uns vorübergegangen ist?“18 1936 schließlich – darauf ist noch zurückzukommen – wird Heidegger eine eigene – nun nicht mehr existentialanalytische, sondern existentialontologische – Lehre vom letzten Gott entwerfen, eines nun wahrlich ganz anderen Gottes, der einen neuen Abschnitt der menschlichen Geschichte und ihrer Möglichkeiten anzeigt.19 Jenseits dieser grundsätzlichen Fragen waren Bultmann und Jonas davon überzeugt, daß die von Heidegger geprägte Existentialanalyse eine besonders fruchtbare Methode darstelle, „den eigentlichen Sinn eines historischen Phänomens durch das Prinzip der Existenzanalyse zu erfassen.“20 Ohne – in der Druckfassung – die Namen Bultmanns oder Heideggers zu erwähnen, unternimmt Jonas in der „Einleitung“ den Versuch, der „Existenzialanalyse“ als wissenschaftlichem Verfahren eine präzise Form zu geben. Dabei fällt auf, daß er entgegen Heideggers schon in Sein und Zeit erhobener Kritik am Apriorismus die Existentialanalyse gleichsam transzendentalphilosophisch faßt. Die „gnostische Daseinshaltung“ soll – allem Reduktionismus entgegen und wie jede andere Daseinshaltung auch – als Antwort auf die Frage „nach der letzten wurzelhaften Einheit des Prinzips“ einer Mannigfachheit von religiösen Erscheinungen verstanden werden. Die Anwort selbst darf dann freilich – darauf legt Jonas äußersten Wert – nicht in der Angabe eines „Prinzips“ bestehen, sondern muß zur „existenzialen Wurzel selbst“ führen.21 Es geht also bei dem von Jonas entfalteten Gang der existentialen Analyse darum, kausale Reduktionismen, die der Sache äußerlich bleiben, ebenso zu vermeiden wie einen bewußtseinsphilosophischen Apriorismus. Jonas strebt nach einer Theorie, die – ohne auf die Benennung eines vorgängigen Daseinsentwurfs zu verzichten – gleichwohl
dessen Historizität anerkennt. Das „Dasein“, wie Jonas mit Heidegger die ihr Leben geschichtlich vollziehenden Menschen nennt, verhält sich konstitutiv zu einer Welt, „deren Konstitution es von sich her in spezifischen Auslegungen unterhält, so daß sich hierin auch sein innerstes Selbstverhältnis realisiert, und daß es seine Befindlichkeit, sein reales Verhaftetsein in der Welt wesensmäßig in Entwürfen der Weltdeutung zu bewältigen unternimmt, mit denen es seiner schlechthinnigen Faktizität die Horizonte seiner möglichen Existenzialität abgewinnt“.22 Um dieser Form einer existentialen Analyse eine materiale Bestimmtheit geben zu können und nicht bei der letztlich leeren Aussage stehenbleiben zu müssen, daß sich ein „Dasein“ unergründlich geradeso konstituiert, wie es sich konstituiert, scheint es unerläßlich, auf existentiale „Urphänomene“ zu verweisen, auf „Invarianten“, um deren Ordnung es einem geschichtlichen Daseinsentwurf jeweils gehen müsse. Jonas benennt als einschlägige „Urphänomene“: Weltabhängigkeit und Freiheit, Leben und Tod, Sorge, Angst, Sicherung und Verdeckung“23 – alles „Existenzialien“, deren Herkunft aus Sein und Zeit unschwer zu erkennen ist. Religionsphänomenologisch sind demnach mindestens zwei Aufgaben zu lösen: Erstens gilt es zu zeigen, wie eine jeweils vorfindliche religiöse Grundhaltung sich zu derlei „Urphänomenen“ verhält, und zweitens ist zu fragen, wie es zu derartigen Gesamtdeutungen überhaupt kommen konnte. Jonas sieht in der zweiten Frage die größere Herausforderung, ging doch die ältere Forschung, auf deren materiale Ergebnisse er sich stützt und die er zusammenfaßt, historisch genetisch vor. Während jedoch die ihm vorliegende historischgenetische Forschung an den unterschiedlichen gnostischen Systemen gemeinsame Eigenschaften zwar feststellte, ihre jeweilige Ausbildung jedoch im Sinne des Entstehens eines religiösen Synkretismus durch eine Reihe kontingenter Anlagerungen, Durchdringungen und Ausdifferenzierungen erklärte, strebt Jonas mit seiner von Bultmann übernommenen Variante der Existentialanalyse Heideggers nach einem Verfahren, das die Einheit eines historischen Gegenstandes weder rein definitorisch – wie etwa in Max Webers Verfahren des Bildens von Idealtypen – noch gar substantiell geschichtsphilosophisch – wie etwa bei dem Hegelianer Ferdinand Christian Bauer24 – bestimmt, sondern
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innere Einheit und historische Kontingenz in einem denkt. Die systematische Plausibilität von Jonas’ Variante der Existentialanalyse hängt mithin davon ab, ob es gelingen kann, geistige Entwürfe sowohl aus einer inneren Einheit heraus zu konstruieren, als auch davon, ob es möglich ist, sie gleichwohl nicht als notwendige Folgen eines historischen Prozesses verstehen zu müssen. Die Verbindung von faktischer Kontingenz und innerer Einheit jedoch war spätestens seit der Philosophie des deutschen Idealismus spezifischer Ausdruck menschlichen Selbst- und Ich-Bewußtseins, womit die Vermutung naheliegt, daß sich Jonas letztlich an der Übertragung eines bewußtseinsphilosophischen Modells auf das Gebiet der Geistesgeschichte versucht hat. Dieser Vorwurf scheint insofern ungerecht, als ja der Anspruch der Existentialanalyse seit Heidegger genau darin bestand, die bewußtseinsphilosophische Distanz eines erkennenden Bewußtseins einer ihm als objektiv gegebenen Welt gegenüber aufzuheben und an die Stelle dieser Gedankenfigur das Konstrukt eines je schon leidenschaftlich und stimmungsmäßig auf die Welt eingelassenen Daseins zu setzen. Aber auch dann bleibt die Frage offen, in welchem Verhältnis dieses in die Existenz geworfene Dasein zu der Welt steht, in die es geworfen wurde. Bestimmt es diese Welt oder wird es von ihr bestimmt? Kann es die Freiheit zur Selbstbestimmung erringen oder verweigert es seine Selbstbestimmung, indem es sich als „Man“ der Erkenntnis dieser seiner Konstitution verweigert? Es ist mehr als ein Zufall, daß diese formalen Anfragen an die Logik des existentialanalytischen Freiheitsverständnisses in der Untersuchung der gnostischen Systeme – und im Falle Bultmanns später des Johannesevangeliums25 – ihre bedeutendsten Anwendungen fanden: scheinen doch sowohl die gnostischen Mythen als auch die Eingangslieder des Johannesevangeliums in bildlicher Sprache eben dieses Problem zu artikulieren. Aber auch dann bleibt noch ungeklärt, ob und wieweit die Instrumente der Existentialanalyse der vielstimmigen Textur religiöser Systeme entsprechen. Sind sie wirklich Äußerungen eines letztlich nicht weiter ableitbaren Daseinsentwurfs? Um diese Frage beantworten zu können, ist es unerläßlich, Jonas selbst ausführlicher zur Sprache kommen zu lassen:
„Wenn wir“, führt er in einer längeren Bemerkung zur Kausalität geistiger, kultureller Objekte aus, von den „fertigen Produkten als dem Gegenstand der objektgeschichtlichen Forschung sprachen, so war damit hingedeutet auf ein dem zugrundeliegendes Produzierendes. Dies verstehen wir nun hier nicht als die jeweiligen empirischen Subjekte (individuelle oder kollektive, ethnologische usw.), die ja selber Schnittpunkte unzähliger Kausallinien außer ihnen sind, sondern als die Grundhaltung des Daseins in jener Urschicht der imaginativen Apperzeption des Seins, von der aus sich als geschichtlicher Akt die übergreifende Konstitution der ‚Welt’ und des Daseinsverhältnisses zur Welt für eine ganze Epoche zeitigt: so, daß diese ursprüngliche Konstitution der a priori verbindliche Horizont des Welt- und Selbstverständnisses für die betreffende Epoche und die empirischen Subjekte in ihr ist, innerhalb dessen sich alle jeweiligen ausdrücklichen Auslegungsversuche, -differenzen und -wandlungen, die im übrigen als empirische Realitäten den welthaften Kausalitäten unterstehen, vollziehen müssen. Das Produzierende verstehen wir also als das transzendental Konstitutive, das jeweils in einer faktisch geschichtlichen Grundverfassung des ‚Daseins’ wurzelt.“26 Der Versuch, diese Position zu rekonstruieren ergibt erstens, daß sich Jonas das Entstehen kultureller oder religiöser Texte in der Metapher von Produkt und Produzent klarzumachen versucht. Er fördert zweitens zutage, daß der „Produzent“ nach Maßgabe der idealistischen Selbstbewußtseinstheorie gedacht wird: Es geht um die „Grundhaltung des Daseins in jener Urschicht der imaginativen Apperzeption des Seins.“ Wenn „Dasein“ die je einzelne menschliche Existenz benennt, so der Begriff der Apperzeption – wie er in der neueren deutschen Philosophie von Leibniz bis Kant verwendet wurde – eine bewußte Form der Selbstwahrnehmung. Eine „imaginative Apperzeption“ wäre demnach die durch Einbildungskraft gelenkte Konstitution eines Selbst, also gleichsam – in zeitgenössischer Sprache – die Selbsterfindung einer Person, ihr eigenster Selbstentwurf. Auffälligerweise bezieht Jonas den Begriff der „imaginativen Apperzeption“ nicht auf das „Dasein“, sondern auf eine „Urschicht des Seins“, womit er nun die scharfe und erkenntnisleitende Differenz von „Sein und Dasein“, die Heideggers Sein und Zeit zugrunde lag, einzieht und
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aus dem „Sein“ selbst eine Art von Subjekt, eine Art „Dasein“ macht. Dabei handelt es sich um eine intellektuelle Operation, die wesentliche Gehalte der Heideggerschen Daseinsanalyse vergibt, wenn nicht preisgibt. Das allein kann freilich noch kein Einwand sein. Gleichwohl ist zu fragen, ob Jonas mit dieser Gedankenfigur nicht einfach eine Kategorie der hegelianischen Geschichtsphilosophie, etwa der Volksgeister, lediglich in anderer Begrifflichkeit revitalisiert, ohne damit wesentliche Erkenntnisgewinne verbuchen zu können. Als ob Jonas derartige Einwände antizipiert hätte, faßt er sein Programm noch einmal zusammen: „Jedenfalls ist eine solche existenziale Wurzel als das einheitliche und einheitgebende Prinzip für jeden zeitgeschichtlichen Zeugniskomplex a priori zu postulieren, sofern in ihm eine aktive Produktion vorliegt; es ist jeweils ein Dasein, das dieses System von Äußerungen sich aufgebaut hat, in dieser Zeugniswelt sich bezeugt, in ihr sein Sein objektiviert – wobei auch eine Heterogenität von Zeugniselementen von dorther zusammengehalten wird.“27 Letztlich, so wird jetzt deutlich, geht es um konstituierende Leistungen von Individuen, von „Dasein“, dessen Objektivationen einer „Befragung aus seinem Logos“28 auszusetzen sind. Leitfaden dieser Befragung ist dann die Einsicht, „daß das Dasein sich konstitutiv zu einer Welt verhält, deren Konstitution es von sich her in spezifischen Auslegungen unterhält, so daß sich hierin auch sein innerstes Selbstverhältnis realisiert, und daß es seine Befindlichkeit, sein reales Verhaftetsein in der Welt wesensmäßig in Entwürfen der Weltdeutung zu bewältigen unternimmt, mit denen es seiner schlechthinnigen Faktizität die Horizonte seiner möglichen Existenzialität abgewinnt – existenzielle Einsichten dieses Typus verwandeln sich in entsprechende Fragedirektionen gegenüber geschichtlichen Daseinswirklichkeiten.“29 Diese Reflexionen zielen freilich nicht auf ein idealistisches Programm: Das „Dasein“ verhält sich konstitutiv zu „seiner“ Welt, die gewiß nicht mit der allen gemeinsamen Welt gleichzusetzen ist, und: Diese Konstitutionsleistung vollzieht sich – ganz dem Programm von Sein und Zeit gemäß – im Zuge eines hermeneutischen Zirkels in Situationen, in die menschliche Existenz stets schon eingelassen ist. Jede Weltdeutung in diesem Sinne aber modifiziert, verändert oder erneuert auch das jeweilige Selbstver-
ständnis. So läßt sich – und das wird das wissenschaftliche Programm sein, dem Jonas nun folgen wird – eine Fragerichtung begründen, die geistige Deutungsmuster als existentielle Auslegung in einer bestimmten Epoche versteht und zugleich aufzeigt, wie auch kontingente existentielle Befindlichkeiten in derartigen Deutungsmustern ihren Ausdruck finden. Indem Jonas strikt zwischen dieser Analyse und empirisch/realhistorischen Kausalitäten unterscheidet, kann er deren Gültigkeit, und das heißt auch die Triftigkeit der von ihm vorgefundenen Theorien und philologischen Ergebnisse stehenlassen und sich an eine Gesamtdeutung wagen. Kritisch zu fragen ist dann allenfalls, warum Jonas nicht auch noch den Versuch unternommen hat, den eigenen blinden Fleck, wenn schon nicht zu erhellen, so doch mindestens zu benennen: nämlich die Frage nach dem existentialen Sinn seines eigenen wissenschaftlichen Unterfangens. Indem Jonas die existentiale Analyse gleichsam naiv instrumentell verwendet und sich seinen Gegenstand allen hermeneutischen Einsichten zum Trotz gleichsam als „Objekt“ vornimmt, wird er dem Anspruch einer existentialen Analyse im Geiste des Heidegger von Sein und Zeit nicht gerecht und assimiliert sein Verfahren dem ansonsten so geschmähten positivistischen Zeitgeist.
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III. Indes: Es könnte sein, daß auch in Jonas’ Text und in seinem Vorhaben der existentiale Sinn dessen, was er tut, sehr viel genauer enthalten ist, als ihm selbst – damals ja gerade erst fünfundzwanzig Jahre alt – zu Bewußtsein kam. Dabei ist allerdings auf ein Problem der frühen Heideggerschen Philosophie bzw. der Heideggerschen Schule hinzuweisen. So hat etwa Herbert Marcuse, der selbst dieser Schule entstammte, schon 1929 darauf hingewiesen, daß die Unterscheidung von „existential“ und „existentiell“ das Programm einer „konkreten Philosophie“ ins Unverbindliche entgleiten läßt, und Jürgen Habermas konnte schon 1959 zeigen, wie sehr sich doch die vermeintlichen „Existenzialien“ der Verdrängung konkreter historischer Situationen verdanken.30 137
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Eben diesem Verkennungsprozeß unterliegen auch Jonas’ frühe Studien zur Gnosis. In den abscließenden Zeilen seiner methodologischen Einleitung geht es um Differenz und Abhängigkeit von gnostischem Mythos und philosophisch ausgebildeten Seinsweisen. Jonas wird auch hier nicht müde, zu betonen, daß es sich um keine empirische Abhängigkeit handeln kann. Aber „diese Abhängigkeit ist keine äußere; und das existenziale Beruhen unseres ganzen Auslegungsbereichs auf dem gnostischen Grundmythos, seine hermeneutische Rückbeziehbarkeit auf ihn, ist prinzipiell nicht als literargeschichtliches Faktum zu verstehen und literargeschichtlich zu beweisen, sondern ist ein daseinsgeschichtliches Faktum und nur in existenzialer Analyse zu beweisen.“31 Hier ist genau zu lesen: Der Ausdruck „das existenziale Beruhen unseres ganzen Auslegungsbereichs“ kann durchaus naiv als Referenz auf das wissenschaftlich gewählte Thema verstanden werden, doch man kann es auch auf die Existenz des Wissenschaftlers Hans Jonas selbst beziehen, der sich hier – wenn auch nicht ganz bewußt – eingesteht, mit seinem Unterfangen selbst dem gnostischen Grundmythos zu unterliegen. Gnosis und spätantiker Geist erschien – wie bereits bemerkt – im Jahr 1934. Um so auffälliger sticht vor diesem Hintergrund eine Fußnote zur Gestimmtheit der Seele im Geist der Melancholie hervor, in der es wiederum um die Unableitbarkeit von Grundhaltungen wie Optimismus und Pessimismus geht: „Wir erinnern etwa an die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes, welche die Diesseitigkeit und selbst den grundsätzlichen Optimismus seiner Religion unerschüttert ließ. Die Welt blieb immer göttliche Schöpfung und auch in ihrer äußersten Ungunst Inbegriff des göttlichen Wirkens.“32 Jonas hat in diesen Zeilen – und es kann sich nicht um einen unerlaubten Übergriff ins Private handeln, dies festzustellen – zugleich seine eigene Lebenshaltung skizziert, die, wie seine Lebenserinnerungen zeigen, von einem grundlegenden Optimismus gekennzeichnet war. In eben diesen Lebenserinnerungen hat er zugleich die Reaktion seines Freundes und Zeitgenossen, des konservativen jüdischen politischen Philosophen Leo Strauss auf das Gnosisbuch zu Protokoll gegeben: „Der Antirevolutionär Strauss war so konservativ, daß er bei der Lektüre meines Gnosis-Buches instinktiv
spürte, daß sich in der Gnosis ein revolutionäres Element verbirgt, und mir schrieb, es sei ihm aus seiner persönlichen Bekanntschaft mit mir gar nicht so bewußt gewesen, daß ich eigentlich ein verkappter Revolutionär sei.“33 Tatsächlich irrt Jonas in dieser Mitteilung zumindest soweit, als daß es keines besonderen Instinktes bedurfte, um aus der Lektüre des Gnosisbuchs den Eindruck zu gewinnen, daß er die Gnosis für revolutionär hielt. Tatsächlich entfaltet Jonas diesen Gedanken – wie noch zu zeigen ist – ausführlich, und in Frage steht allenfalls, in welchem Sinn damals der Begriff der Revolution gebraucht wurde. In einem ausführlichen Exkurs, überschrieben mit dem Titel „Das revolutionäre Element der Gnosis“, hebt Jonas seine Verwendung von der üblichen politischen Verwendung des Begriffs ab, der ja auf Handlungen zielt, die danach streben, die Welt kämpferisch umzugestalten. Verstehe man jedoch unter „revolutionär“ eine Haltung, „die eine überkommene Wertordnung, gegen deren Herrschaft sie aufsteht, von einer neuen Sinngebung her aus den Angeln hebt und sie durch eine ebenso total andere ersetzt; die ebenso umfassend, nämlich in den Grundlagen neustiftet und verneint – dann ist die Gnosis in eminentem Maße revolutionär und in diesem Sinne wollen wir sie so nennen.“34 Wenn also Jonas in seinen Erinnerungen bemerkt, er habe in der Gnosis ein antikes Pendant zu Heidegger erblickt, dann wird man weiterschließen dürfen, daß er, wie viele andere Studenten auch, in Heidegger einen revolutionären Denker sah35 – eine Rolle, die sich Heidegger, wie wir etwa aus den Erinnerungen Gadamers wissen, auch durchaus angelegen sein ließ. Inhalte und Ziele dieses revolutionären Denkens aber waren die der konservativen Revolution, des Bruchs mit allem Überkommenen im Geiste einer neuen Sinnstiftung.36 Jonas gibt in seinen Lebenserinnerungen gleichermaßen zu Protokoll, die gnostischen Elemente in Heideggers Philosophieren erst sehr viel später bemerkt zu haben, was psychologisch durchaus plausibel ist. Dennoch: Wenn er die antike Gnosis als Pendant zu Heidegger ansah, muß er schon damals in beidem ein tertium comparationis vorgefunden haben, das ihm den Schluß, auch Heidegger philosophiere aus einer gnostischen Stimmung heraus, grundsätzlich hätte ermöglichen müssen. Die späte Einsicht in den nihilistischen Charakter von Heideggers Existentialismus
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hätte dementsprechend bereits 1925 spürbar gewesen sein müssen. Wie bestimmte Jonas 1928 den revolutionären Charakter der Gnosis? Die Fülle des von ihm in der Dissertation ausgebreiteten Materials lichtet sich, wenn man mit dem Autor den gnostischen Grundgedanken von seinem oftmals kompromißlerischen und mythologischen Beiwerk trennt und sich auf jenen Autor bezieht, der auch nach Überzeugung der damals fortgeschrittensten religionsgeschichtlichen Studie gleichsam als Reinform, als Idealtyp der Gnosis fungierte, nämlich auf Marcion. Ihm konzediert Jonas, das Evangelium vom unbekannten, fremden und neuen Gott in ungetrübter und gewissermaßen sachlichster Form artikuliert zu haben37 und stimmt Adolf von Harnack38 mit seiner Auffassung, Marcion sei der einzige Denker der Christenheit gewesen, „der mit der Überzeugung vollen Ernst gemacht habe, daß die Gottheit, welche von der Welt erlöst, mit der Kosmologie […] schlechterdings nichts zu tun habe“, vollauf zu.39 Jonas, der aus seinem grundsätzlichen Bekenntnis zum Schöpfer- und Gesetzesgott des Judentums in dieser Abhandlung kein Hehl macht, sieht dementsprechend den revolutionären Charakter der Gnosis, genauer Marcions, vor allem darin, „daß sie sich hierzu überall, wo sie darauf traf, in offene Opposition stellte und, ohne Rücksicht auf die hohe Geistigkeit des Vorbildes, an dem jüdischen Weltgott ihr ganzes angesammeltes Ressentiment ausließ.“40 Diese Bemerkung ist um so bemerkenswerter, als der aus Nietzsches Genealogie der Moral übernommene Begriff des Ressentiments41 mit der in der methodischen Einleitung getroffenen Festlegung, das Entstehen des gnostischen Weltentwurfs allenfalls nachrangig psychischen oder sozialen Ursachen zuzurechnen, nicht nur nicht übereinstimmt, sondern ihm geradezu widerspricht. Wenn „Gnosis“ eine aus dem Geist des Ressentiments resultierende revolutionäre Haltung ist, und wenn dieses Ressentiment dem jüdischen Schöpfer- und Gesetzesgott gilt, dann erweist sich dieser Gott zugleich als ein – wenn auch im besten Sinne – Prinzip des jeweils Bestehenden. Marcions Gnosis verkennt aus Jonas’ Sicht den jüdischen Gott allenfalls in dessen „Geistigkeit“, nicht aber in seinen ja gleichermaßen behauptbaren revolutionären und befreienden Zügen. In Marcions „mythenfreier Theologie“ gehe es nun
jenseits aller bildhaften Vertröstungen in vollem „revolutionärem Ernst“ frontal gegen den Gott des Alten Testaments und damit des Judentums. Marcion verkörpere den Höhepunkt einer revolutionären Entwicklung, die allen Aberglauben ebenso überwunden habe wie alle metaphysische Spekulation und die das neue Prinzip, wenn auch durch Ressentiment verursacht, nun frontal in Stellung bringe: Der Anlauf geht jetzt „geradewegs gegen die gewaltige Gestalt des alttestamentlichen Gottes als das allein würdige Symbol des Gegensatzes: Prinzip der Welt, der Zeitlichkeit und der positiven Moral.“ Es handelt sich um einen Aufstand, der „in entsprechender Zuspitzung den verwegensten und aufrührerischsten Ton gegen alles“ darstellt, „was sein ist.“42 Die hieraus entspringende Moral wird als kindisch und knechtisch gezeichnet: Das Verfehlen der göttlichen Weisung werde durch einen selbst aufgestellten Dispens entschuldigt, der „ausgesprochen revolutionär“ sei43 und den Fortbestand des alten Rechts und seiner Macht auch gar nicht leugnen, sondern nur skrupellos mißachten könne. Spätestens hier wird das persönliche Engagement des Religionshistorikers unübersehbar. Im Unterschied und in völligem Unverständnis für den Ernst des jüdischen Gesetzesverständnisses des Apostels Paulus ergebe sich hier „eine sonderbare Mischung von Furcht und Verwegenheit, von Schuldgefühl und Trotz, die nach Art der Knechtgewesenen die Freiheit mit dem Schwindelgefühl der Ruchlosigkeit versetzt.“44 Nach dieser Analyse gilt für Jonas zwangsläufig der Libertinismus als deutlichstes Merkmal dieser aus dem Ressentiment geborenen Haltung, ein anarchisches Freiheitsgefühls, „das sich die Zuchtlosigkeit als Selbstbeweis, ja als Verdienst und Tat anrechnet.“45 Zwar kann Jonas für diese Vorwürfe den Kirchenvater Irenäus bemühen, doch er vermag freilich die von ihm hergestellte Nähe des authentisch revolutionären Ernstes Marcions zum offensichtlich verachteten Libertinismus der Gnosis im allgemeinen aus den Quellen jedenfalls nicht belegen. „Insofern“, beschließt Jonas einen entsprechenden Absatz, „gehört der Libertinismus ins Zentrum des gnostischen Umschwungs.“46 In einer auffälligen, eingeklammerten Bemerkung fühlt sich der Religionshistoriker dann in die Lage des Gnostikers ein, als sei er dabeigewesen: „Übrigens mag auch die Eitelkeit beteiligt
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Brumlik: Über einige Motive in Jonas’ frühem Gnosisbuch
gewesen sein, die eigene Kühnheit in Gedanken und Tat auszukosten, denen der Gnostiker sich in der Sicherheit seiner pneumatischen Qualität vermißt; wie ja zu allen Umsturzzeiten“, so schreibt der fünfundzwanzig Jahre alte Doktorand Hans Jonas, „die starken Worte der Selbstberauschung beliebt sind.“47
weniger das Bild eines Professors als das „eines Kapitän Kommodores auf der Kommandobrücke eines Ozeanriesen“ und sprach mit „mittellauter Stimme, ohne ein Konzept zu benutzen“, während „in den Strom der Stimme ein außerordentlicher Verstand, aber noch mehr eine Willenskraft einströmte […], besonders wenn die Thematik gefährlich wurde.“53 An wen mochte Jonas gedacht haben, als er von den „starken Worten der Selbstberauschung“ schrieb? Und wie mochte er sich gefühlt haben, als ausgerechnet er, der nach Arendts Geständnis seiner Liebe zu ihr den Abschied gab, es war, der, nachdem Arendt Marburg 1926 verlassen und Heidegger keine Adresse hinterlassen hatte, sie Heidegger übermittelte?54 Spätestens hier muß psychologisierende Spekulation, die durch die Quellen nur ungenügend abgedeckt ist, enden. Zu fragen bleibt dennoch, warum Jonas eine andere Deutung der Gnosis, die ihm bei einer genauen Lektüre der ihm später vorliegenden Quellen hätte auffallen müssen, unterlassen hat und auch nicht bereit war, seine „pessimistische“, auf die Erfahrung der Defizienz abstellende Generaldeutung zu modifizieren. Das vierte Kapitel der 1964 erschienenen vierten Auflage seines Buches weist aus, daß ihm das mehr als dreißig Jahre nach seiner Dissertation bekannt gewordene valentinianische „Evangelium Veritatis“ zum Deutungsproblem wurde. Denn die Anfangszeilen dieses Evangeliums, die auch Jonas zitiert, klingen alles andere als pessimistisch, sie drücken weniger die verzweifelte Suche nach einem ganz anderen aus denn Glück über die Erfahrung einer jäh empfangenen Gnade: „Das wahre Evangelium ist Freude für die, die vom Vater der Wahrheit die Gnade empfangen haben, ihn zu erkennen durch die Kraft des Logos, der aus dem Pleroma kam“.55 In der Interpretation dieses valentinianischen Textes kommt Jonas nicht umhin, sich mit dem dort immer wieder aufgerufenen Begriff der Hoffnung auseinanderzusetzen. Jonas verharrt hier in scharfsinnigen, argumentationslogischen Analysen, als wolle er dem nun unbezweifelbaren Umstand entgehen, daß hier Gnostiker von Fülle und Hoffnung, von der Nichtigkeit der Angst, des Vergessens und der Lüge schreiben, als könne er in der Sache nicht zur Kenntnis nehmen, daß jener Gott, von dem dieses
IV. In Jonas’ Erinnerungen folgt die Geschichte der Entstehung seiner Dissertation, die er in die Jahre 1925 bis 1933 verlegt, unmittelbar auf die Erzählung seiner letztlich enttäuschten Liebe zu Hannah Arendt, die ihm 1924 mitgeteilt hatte, eine Liebesbeziehung zu Heidegger zu unterhalten.48 Weder von Marcion noch von den etwa von Irenäus verketzerten Libertinisten sind irgendwelche Hinweise bezüglich ihrer Eitelkeit oder auch ihres sonstigen Mutwillens überliefert. Zwar berichtet Irenäus, daß die Libertinisten das Verbotene ohne Scheu täten, enthält sich aber ansonsten psychologischer Spekulationen, um dann um so deutlicher festzuhalten, daß einige von ihnen heimlich „Frauen verführten und Frauen, die sie begehrten, ihren Männern abspenstig machten“.49 Diese Art des Libertinismus schien Jonas zu einem lebenspraktischen Problem geworden zu sein. In den Erinnerungen berichtet er auch noch nach mehr als sechzig Jahren beeindruckt: „Heidegger hatte ein Auge auf sie geworfen. Sie war keineswegs die einzige, denn er hat sich, wie ich erst später erfahren habe, hin und wieder für Studentinnen interessiert, und ich habe von keiner gehört, die Widerstand geleistet hätte.“50 Angesichts seines Zugeständnisses, er sei selbst von Heidegger fasziniert gewesen, läßt sich bei der Lektüre der Erinnerungen der Eindruck nicht vermeiden, daß Jonas ob der Liebesbeziehung zwischen Arendt und Heidegger von Eifersucht und Enttäuschung geplagt war und sich auch noch sechzig Jahre später nur mit einer Verführungstheorie über die damalige Enttäuschung hinweghelfen konnte.51 Daß diese Theorie falsch war, hätte Jonas sowohl der ihm noch zugänglichen biographischen Literatur zu Arendt entnehmen können; der 1998 publizierte Briefwechsel von Arendt und Heidegger zeichnet kein anderes Bild.52 Heidegger jedenfalls bot, so ein Zeitzeuge, 142
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Evangelium56 spricht, ein gänzlich anderer ist als der fremde und unerkennbare, andere Gott Marcions. Jonas hat aus Umständen, die an dieser Stelle nicht weiter zu entfalten sind, utopiekritische Gründe gehabt, der Hoffnung gegenüber mißtrauisch zu sein und an ihre Stellung den Begriff der Verantwortung zu setzen.57 Aller Fachlichkeit im philosophischen Betrieb, in religionswissenschaftlicher Forschung und philologischer Kritik zum Trotz muß ihm immer bewußt gewesen sein, daß Gnosis und spätantiker Geist von Beginn an ein politisches Buch war, das sich unter den an der Oberfläche unpolitischen Marburger Verhältnissen nur gegen jenen Protagonisten einer konservativen Revolution richten konnte, der Jonas rhetorisch und sachlich überwältigte und ihn sein Liebesglück kostete: Martin Heidegger, dem die „Sorge“ und nicht die „Hoffnung“ zum Zentralbegriff seines Werks geworden war. Jonas hat das indirekt eingestanden: „Mein Dissertationsthema ‚Gnosis’ war potentiell tausendmal politischer als Hannah Arendts Arbeit ‚Der Liebesbegriff bei Augustin’.“58
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Mythische Wahrheit und die Kunst der Wissenschaft. Hans Jonas und Eric Voegelin über Gnosis und das Unbehagen der Moderne1 1952 war ein entscheidendes Jahr für all jene, die an der Bedeutung der Kategorie der Gnosis für das Verständnis der politischen und geistigen Wirren der Moderne interessiert sind. Aufsehen erregte vor allem die Veröffentlichung von Eric Voegelins 1951 an der University of Chicago gehaltenen „Charles L. Walgreen Foundation Lectures“ unter dem Titel The New Science of Politics.2 Es sollte Voegelins bekanntestes Buch werden. Ein zentrales Element seiner These war die Behauptung, die politische Kultur, die sich im Westen seit dem Mittelalter entwickelt habe, zeichne sich durch das Phänomen einer modernen Gnosis aus, die – auf Grund des Anspruchs ihrer Anhänger auf eine Form von Heilswissen, das imstande sei, die Menschheit von den ansonsten erkennbaren Zwängen politischer Existenz zu befreien – eine ausgeprägte Affinität und Kontinuität zu den von den Kirchenvätern und von Neuplatonikern wie Plotin als gnostisch verurteilten weltverneinenden Irrlehren aufweise. Damit sprach Voegelin ein Motiv an, zu dem er in späteren Schriften zurückkehren sollte, insbesondere in seiner Antrittsvorlesung zum Thema „Wissenschaft, Politik und Gnosis“ im November 1958 sowie in dem Aufsatz über „Religionsersatz“, der 1960 in der Zeitschrift Wort und Wahrheit erschien.3 Obwohl die Kategorie der Gnosis in Voegelins späteren Analysen zurückzutreten scheint und der Name, den man einer empirisch identifizierbaren politischen Erscheinung verleiht, gegenüber deren Existenz und Bedeutung gewiß ohnehin stets sekundär ist, hat die Kennzeichnung der Moderne als „gnostisch“, die aus der Sicht konventionellerer und weniger kritischer Politikwissenschaftler eher als exzentrisch gilt, 145
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dafür gesorgt, daß Voegelin im orthodoxen akademischen Establishment bis heute vor allem auf Grund dieses Motivs in Erinnerung geblieben ist. Seine Verwendung des Begriffs Gnosis ist allerdings, wo sie nicht einfach ignoriert wurde, selbst von Forschern, die – wie Hans Jonas – seinem hermeneutischen Ansatz durchaus wohlwollend gegenüberstanden, im allgemeinen sehr kritisch beurteilt worden. In demselben Jahr wie Voegelins The New Science of Politics erschien auch Hans Jonas’ Aufsatz „Gnosticism and Modern Nihilism“ in der Zeitschrift Social Research.4 Dieser Essay, der 1958 unter dem Titel „Gnosticism, Existentialism and Nihilism“ als Anhang in seinem Buch The Gnostic Religion abgedruckt und 1966 in The Phenomenon of Life aufgenommen wurde, versucht auf überzeugende Weise die aufschlußreichen Parallelen zwischen der Weltanschauung der antiken Gnosis und dem Existentialismus seines philosophischen Mentors Martin Heidegger aufzuzeigen. Anders als Voegelin gilt Jonas, was die Geschichte und das Wesen der antiken Gnosis betrifft, vor allem auf Grund seines zweibändigen Werkes Gnosis und spätantiker Geist und der weniger philosophischen Fassung The Gnostic Religion (dt.: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes) als anerkannte Autorität.5 Diese Werke stellen bis heute die beste, lebendigste und philosophisch scharfsinnigste Einführung in die verrückte und doch merkwürdig vertraute Welt eines einst weitverbreiteten religiösen Kosmos dar, den in lebendiger Gestalt nur noch die kleinen Gemeinschaften der südirakischen Mandäer verkörpern, die sich auf Johannes den Täufer als ihren Gründer berufen und die heute zumeist als Neueinwanderer in Australien leben. Zwischen Voegelins Anwendung des Begriffs der Gnosis auf die politische Kultur der Moderne und Jonas’ Wahrnehmung einer starken Nähe zwischen dem weltverneinenden Glauben der antiken Gnosis und den seinem Verständnis nach nihilistischen Implikationen des Heideggerschen Existentialismus bestehen Ähnlichkeiten, aber auch entscheidende Unterschiede, auf die noch einzugehen sein wird. Jene Forscher, welche die Gnosis als religiöses Phänomen der ersten Jahrhunderte des christlichen Zeitalters untersuchen, begegnen Voegelins Charakterisierung der Moderne zumeist mit Mißtrauen. Letzterer erblickte das
Wesen der modernen Gnosis darin, daß sie die Hoffnung auf eine himmlische Erlösung auf die Ebene weltlicher Existenz verlagerte – ein Ziel, das es durch das revolutionäre Handeln von Menschen herbeizuführen gelte, die ein privilegiertes Wissen darüber zu besitzen beanspruchten, wie diese gleichsam ontologische Transformation erreicht werden könne. Im Gegensatz dazu zielt das Heilswissen, das allen Spielarten der antiken Gnosis eigen ist – von der subtilen Spekulation des Valentinus bis zu den Lehren Manis, durch den die Gnosis zur Weltreligion mit universalem Anspruch wurde –, nicht auf eine Erlösung der Welt oder ihrer Bewohner, sondern auf die Befreiung eines rein geistigen Elements aus dem unerlösbaren Übel irdischer Gefangenschaft. Trotz des modernen revolutionären Sektierern wie antiken Gnostikern gemeinsamen Vertrauens auf eine Form der Heilserkenntnis, die als etwas im Vergleich zu gewöhnlichem Wissen Besonderes und Überlegenes erachtet wird, besteht, wie Voegelin in Die neue Wissenschaft der Politik zugesteht, ein klarer Unterschied zwischen den weltimmanenten Programmen der Ideologen der Revolution und dem kosmisch-transzendenten Ziel der ursprünglichen Gnosis. Erstere streben danach, eine heilbare Erde und die darauf lebenden leiblichen Wesen zu einer qualitativ höheren Ebene des Seins zu erheben, während die letztere darauf zielt, einer Form des Seins, der leiblichen Existenz, zu entfliehen, die nie auf diese Weise erlöst werden kann. Dazu kommt folgendes: Während das Heilswissen des „modernen Gnostikers“ von dem Erwählten oder der revolutionären Avantgarde aus den Gegebenheiten der Welt selbst erlangt wird, häufig – wie in Auguste Comtes Positivismus oder im marxistischen Sozialismus – in Gestalt der „Wissenschaft“, wird seine scheinbare Entsprechung beim antiken Glaubenden durch einen fremden Boten in die Welt eingeführt, ausgehend von dem überkosmischen Ursprung eines geistigen Wesens, das allein den angemessenen Gegenstand gnostischer Verehrung darstellt. Nebenbei bemerkt, lohnt es sich, ein Echo der antiken Sichtweise festzuhalten, das in dem berühmten Sinnspruch Martin Heideggers erkennbar wird, der seinem Gesprächspartner von der Zeitschrift Der Spiegel die Auskunft gab: „Nur ein Gott kann uns retten.“6 In Wissenschaft, Politik und Gnosis charakterisierte Voegelin Heidegger als den
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hintergründigsten der modernen Gnostiker.7 Doch gemessen an den Kriterien der antiken Gnosis und an den Worten des SpiegelInterviews war er, abgesehen von den überlebenden Mandäern, ihr einziger moderner Vertreter: Das ist gewiß ein interessanter Gedanke, der jedoch Voegelins breitere Bezeichnung der revolutionären Moderne als „gnostisch“ in ihrem Kern zunichte macht. Wie groß auch immer der Einfluß Heideggers auf die gegenwärtige intellektuelle Szene sein mag, so kann man ihn wohl kaum bis auf die Auffassungen des Klerikers Joachim von Fiore im dreizehnten Jahrhundert zurückverfolgen, den Voegelin als fons et origo der modernen gnostischen Spekulation betrachtete. Ebensowenig kann man wirklich davon ausgehen, daß die Masse populärer post-Heideggerscher Theoretiker sich besonders von etwas hat überzeugen lassen, was – selbst in einem bekanntermaßen komplizierten Werk – zu den geheimnisvolleren Erklärungen ihres Meisters zählt. Gewiß verweist Hans Jonas in „Gnosis, Existentialismus und Nihilismus“ auf Parallelen zwischen Heidegger und den Gnostikern, was Wortwahl und Weltanschauung betrifft, und macht vor allem auf die bei Heidegger und Valentinus nahezu identische Formulierung aufmerksam, der Mensch sei in eine Welt „geworfen“, in der wir nicht – zumindest noch nicht – unser „authentisches“ Selbst sind. Doch diese Affinität ist aus Jonas’ Sicht noch nicht hinreichend, um Heidegger als Gnostiker zu bezeichnen, und offenbar ist er auch nicht bereit, jene historischen Verbindungen als gültig anzuerkennen, die laut Voegelin und der Forscher, auf die er sich beruft, die Kontinuität zwischen existentialistischer und echter gnostischer Weltanschauung begründen. Will man die unterschiedliche Art und Weise verstehen, in der Voegelin und Jonas die Kategorie der Gnosis verwenden, um – zumindest auf dem Weg der Analogie – Aspekte der Moderne zu identifizieren, so empfiehlt es sich, die biographischen und fachlichen Unterschiede zwischen beiden aufzuzeigen und dabei mit Eric Voegelin zu beginnen. Auf dem Hintergrund seiner juristischen und politikwissenschaftlichen Ausbildung und seiner fortdauernden Treue gegenüber der ethischen Welt des Rechtsstaats versuchte Voegelin während der dreißiger Jahre wiederholt, die extremistischen
politischen Bewegungen, darunter insbesondere den Nationalsozialismus, zu verstehen, welche die Existenz einer verfassungsmäßigen Ordnung durch eine ungeheure mörderische Zerstörungswut bedrohten. Unzufrieden mit der breiten Kategorie der „politischen Religionen“, die er in seinem gleichnamigen Buch aus dem Jahre 1938 verwendet hatte,8 wandte er sich, vorwiegend unter dem Einfluß der Lektüre von Hans Urs von Balthasars Werk Apokalypse der deutschen Seele,9 der Identifizierung des Phänomens einer neubelebten Gnosis zu, um die erbarmungslose Gewalt zu verstehen, mit der zeitgenössische Massenbewegungen die fragilen Überreste einer einst lebensfähigen politischen Ordnung angriffen, die in einem augustinischen Verständnis des Staates wurzelte. Wie Klaus Vondung beobachtet hat, subsumierte Voegelin dabei unter dem Begriff Gnosis auch Elemente einer kaum weniger antiken Tradition, nämlich jener der Apokalyptik, einer geistigen Erscheinung, die – wie die Gnosis selbst – erstmals in einer Epoche auftrat, die er später als „ökumenisches Zeitalter“ bezeichnen sollte: in einer Zeit also, in der ethnisch einheitliche Völker und die Kulte zumeist stammesgebundener Gottheiten sich neuen imperialen Mächten unterworfen sahen, die sowohl ihre politische Existenz als auch die Kontinuität der religiösen Praktiken ihrer Einwohner auszulöschen drohten.10 Die geistige Bewegung der Gnosis entstand in einem Kontext, in dem die bestehenden religiösen Bestrebungen infolge dieser Umstände radikal verwandelt und in eine Welt verlagert wurden, die nunmehr als Reich gleichgültiger Mächte erschien und häufig als dämonisch wahrgenommen wurde. Solche Glaubenshoffnungen richteten sich daher auf einen neu ausgemalten, stärker rein geistigen, von einer welttranszendenten Gottheit beherrschten Bereich, der infolgedessen frei von irdischen Mächten war, die – auf Grund ihrer weltlichen ontologischen Stellung – niemals in eine solch immaterielle und somit unverwundbare Sphäre des Seins vordringen konnten. Das führte die Gnostiker zu einer nicht weniger radikalen Herabwürdigung des Wertes der irdischen Existenz. Das konnte, mangels eines fortdauernden Empfindens für die in einer gerechten politischen Gemeinschaft verkörperte Tugend, entweder zur extremen Askese oder aber – seltener – zu einer nicht weniger extremen Zügellosigkeit führen. Ein wirksa-
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mes politisches Programm für eine Welt, die als unerlösbar verstanden wurde, ließ sich auf dieser Grundlage dagegen kaum begründen. Im Gegensatz dazu reagierte die Apokalyptik auf dieselben Umstände, indem sie dem Aktivismus der restlichen Gläubigen die – religiöse wie politische – Funktion zuschrieb, Gott zumindest dabei zu helfen, die überwältigende Macht des Dämonischen zu besiegen und die Bedrohung zu überwinden, die diese für die überkommenen Glaubensüberzeugungen und Praktiken bedeutete. Die Apokalyptik enthielt von Beginn an in einem Augenblick der Krise ein revolutionäres politisches Potential, für das die Weltsicht der Gnosis keinen Platz besaß. Denn während die apokalyptische Überlieferung die Existenz als durch das providentielle Zusammenwirken von göttlichem Willen und menschlichem Handeln heilbar betrachtete, lehnte die Gnosis die materielle Welt als unheilbar böse ab und verlagerte ihre eschatologischen Hoffnungen auf den Glauben an die Erlösung des Elements eines unbefleckten Geistes von der unerträglichen leiblichen Existenz. Zwar nahm Voegelin in seinen späteren Werken die These vom gnostischen Charakter der Moderne niemals ganz zurück, doch sie spielte darin keine zentrale Rolle mehr, insbesondere weil sich sein Interessenschwerpunkt von den kämpferischeren politischen Schriften der vierziger und fünfziger Jahre, die unter dem Einfluß des heißen Krieges gegen den Nationalsozialismus und später des Kalten Krieges gegen die kommunistische Expansion entstanden waren, auf den weniger polemisch vorgetragenen Versuch verlagerte, die positiven Ressourcen der politischen und geistigen Ordnung mittels der Wiederentdeckung der auf Erfahrung beruhenden Wurzeln der klassischen Philosophie zu erneuern. Trotz des Wertes von Die neue Wissenschaft der Politik und anderer verwandter Werke wird Voegelins Ansehen aus der Sicht seiner Nachwelt weniger auf den Büchern beruhen, durch die er dem akademischen Establishment am besten bekannt ist, als auf der in Anamnesis (1966) entwickelten Theorie des historisch und ontologisch konkretisierten Bewußtseins,11 auf dem fünften Band von Order and History12 und auf seinen späten Essays. Von diesen Schriften aus betrachtet, erscheint Die neue Wissenschaft der Politik und damit Voegelins Rückgriff auf die anregende, aber
hermeneutisch zweifelhafte Kategorie der modernen Gnosis bestenfalls als vorläufiger Ansatz zu einer tiefsinnigen Hermeneutik der Ordnung in der Seele wie in der Gesellschaft, der erst in den Arbeiten zur Vollendung gelangte, die entstanden, als der Druck der politischen Ereignisse – zumindest vorübergehend – gewichen war. Insofern Eric Voegelins Kategorie der modernen Gnosis eine historische Verbindung zur ursprünglichen Gnosis der frühen nachchristlichen Zeit herzustellen versucht, neigt sie zu einer Fortsetzung der von der patristischen anti-gnostischen Literatur – von Irenäus’ Adversus Haereses aus dem zweiten Jahrhundert bis zu dem Dialogus contra Manichaeos des Johannes Damascenus aus dem achten Jahrhundert – eingenommenen Haltung, die gnostischen Lehren als im wesentlichen christliche Irrlehren zu behandeln. Das ist aus zweierlei Gründen verständlich: einmal auf Grund der Tatsache, daß viele der gnostischen Lehrer, wie Marcion und Valentinus, sich tatsächlich als Christen, ja als die einzigen echten Träger der Botschaft Christi verstanden, und zweitens, weil unsere Kenntnis ihrer Weltsicht bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts fast vollständig auf den Zusammenfassungen ihrer Lehren beruhte, die einen wesentlichen Teil der Schriften ihrer orthodoxen Gegner bildeten. Diese Texte schienen das einzige zu sein, was von einer ursprünglich wohl weit gleichgewichtigeren theologischen Kontroverse übriggeblieben war. In Voegelins Fall verstärkte sich diese Neigung, der patristischen Perspektive beizupflichten, zudem durch eine spezifische Geschichtsdeutung, welche die moderne Gnosis als eine Distanzierung von den Spannungen des authentischen christlichen Glaubens verstand, sowie durch seine bereits erwähnte Neigung, Merkmale in die Kategorie der modernen Gnosis aufzunehmen, die eigentlich eher zur ausschließlich jüdisch-christlichen apokalyptischen Tradition gehören. Aus der Sicht der neuesten Forschung zur antiken Gnosis, einschließlich der Interpretation von Hans Jonas, ist diese Perspektive unhaltbar geworden – auf Grund der bemerkenswerten Erweiterung des Spektrums an ursprünglichem gnostischen Material, das seit der Entdeckung einer Vielzahl an manichäischer Literatur in unterschiedlichen altpersischen und türkischen
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Sprachen, die im neunzehnten Jahrhundert in der Oase Turfan im chinesischen Turkestan gelungen war. Unter den bedeutenderen dieser späten Funde, die zahlreiche nicht-christliche gnostische Schriften zutage gefördert haben, sind neben dem bereits bekannten Poimandres des Hermes Trimegistus und den mandäischen Schriften – die erstmals im siebzehnten Jahrhundert nach Europa gebracht, den Gelehrten aber erst vor weniger als hundert Jahren durch die Übersetzung von M. Lidzbarski allgemein zugänglich gemacht wurden – zwei von besonderer Bedeutung. Dabei handelt es sich einmal um die Bibliothek koptischer manichäischer Handschriften, die 1930 in Medinet Madi im ägyptischen Fayum entdeckt wurden, und um die 1945 in der Nähe der Stadt Nag Hammadi in Oberägypten gefundenen dreizehn Papyrus-Codices, die den Rest der Bibliothek einer christlichen gnostischen Gemeinschaft aus dem fünften Jahrhundert zu bilden scheinen. Sie umfaßt, neben nicht-orthodoxen christlichen Werken, die zuvor nur auf Grund von Zitaten aus patristischen Quellen bekannt waren, auch eine Anzahl koptischer nicht-christlicher Texte, vor allem einen unter dem Titel Zostrianos bekannten Traktat, der unmittelbar aus dem Kreis der iranischen, quasi-zoroastrischen Gnosis stammt. Die Bedeutung dieser Entdeckungen, die Jonas in nachfolgenden Auflagen von The Gnostic Religion in vollem Umfang berücksichtigte, besteht darin, daß sie eine Interpretation der Gnosis förderte, die diese nicht als ursprünglich christliche häretische Bewegung verstand, sondern – mit den Worten Robert Hardts – „als eine im wesentlichen nicht-christliche Bewegung der Spätantike, die sich in weitverstreuten Gemeinschaften und in vielen unterschiedlichen Spielarten manifestierte.“13 Jonas berief sich auf Oswald Spenglers Vorstellung der „Pseudomorphose“, um die verwirrende Situation zu klären, in der sich der Gnosisforscher angesichts einer verbreiteten religiösen und spirituellen Bewegung befindet, die in zahlreichen Spielarten zum Teil christlichen, zum Teil nicht-christlichen Ursprungs auftritt, welche sich bisweilen in offenkundig philosophischer Sprache, in anderen Fällen in stärker mythologischer Gestalt präsentieren, jedoch allesamt mehrere entscheidende Definitionsmerkmale aufweisen: Diese Merkmale kreisen um den Glauben an den essentiell bösen
oder entfremdenden Charakter der materiellen Existenz des Menschen. „Pseudomorphose“ beschreibt den folgenden geologischen Vorgang: „Wenn in einer geologischen Schicht Hohlräume, die von aufgelösten Kristallen hinterlassen werden, von einer andersartigen kristallinen Substanz gefüllt werden, so wird diese von der Hohlform gezwungen, eine Kristallform anzunehmen, die nicht ihre eigene ist, so daß sie ohne chemische Analyse leicht für einen Kristall der ursprünglichen Art gehalten werden kann.“14 Analog dazu nimmt die gnostische Spiritualität je nach ihrem historischen Kontext unterschiedliche Formen an, ohne jemals ihren einzigartigen, unverwechselbaren, identifizierbaren Charakter zu verlieren. Es ist diese Annahme, die Jonas – trotz der vielfältigen Formen, in denen sich die Gnosis in den Sekten und Kulten der Antike manifestiert – veranlaßt, von einer einzigen „gnostischen Religion“ zu sprechen. Aus dem gleichen Grund kann der Interpret einen gemeinsamen, essentiellen mythologischen Kern identifizieren, den man als eine verständliche, wenn auch letztlich trügerische Antwort auf eine Welt deuten kann, die als wirklich aus den Fugen geraten und jenseits einer Hoffnung auf Wiederherstellung wahrgenommen wurde. In dieser Hinsicht ähnelt Jonas’ Ansatz jenem, den Voegelin in seinem Aufsatz „Equivalences of Experience and Symbolization in History“ forderte:15 Diese Ähnlichkeit ist um so erstaunlicher, als man Jonas’ Unterscheidung zwischen so offenkundig mythologischen Formulierungen wie jenen der Mandäer und dem pseudophilosophischen Diskurs eines Valentinus entsprechend Voegelins Deutung der Entwicklung der Bewegung – zumindest auf der sprachlichen Ebene – von der Dichte des Mythos zu einer differenzierteren „philosophischen“ Begrifflichkeit verstehen kann. Die „mythische Wahrheit“ ist die authentische gnostische Form, die allzu reale Erfahrung weltlicher Unordnung verständlich zu machen: Die entsprechende „Kunst der Wissenschaft“ besteht in der Pflicht des Interpreten, dem zeitgenössischen Leser diese mythische Ausdrucksform zu erklären. Um Hans Jonas’ Beitrag zu unserem Verständnis der Gnosis und ihrer Bedeutung für die Selbstdeutung der Moderne zu erhellen, gilt es im folgenden die beiden im Titel vorkommenden
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Begriffe „Kunst der Wissenschaft“ und „mythische Wahrheit“ näher zu entfalten. Beiden eignet im allgemeinen Sprachgebrauch ein paradoxes Element: Wissenschaft und Kunst betrachtet man gewöhnlich als qualitativ unterschiedliche Unterfangen, während Mythos im allgemeinen als Gegensatz zu Wahrheit aufgefaßt wird. Hier wird der Begriff Wissenschaft so verwendet, daß er die Interpretation der antiken Gnosis mitumfaßt, Kunst dagegen als Fähigkeit, die der Interpret besitzen muß, um sein Ziel zu erreichen. Mit Blick auf die Gnosis handelt es sich bei den Interpretationsgegenständen um von Anhängern wie von Gegnern verfaßte Texte, die der Interpretation unter zwei Bedingungen zugänglich sind: einer sprachlichen und einer anthropologischen. Die sprachliche Bedingung ist erfüllt, wenn der Interpret die Sprache versteht, in welcher der Text zuerst geschrieben oder in die er auf angemessene Weise übersetzt wurde. Die anthropologische Bedingung dagegen ist kraft der Tatsache erfüllt, daß die Verfasser dieser Werke Menschen wie wir selbst waren, die eine Welt bewohnten, die wir – trotz ihrer geschichtlichen Besonderheit – nach wie vor als unsere eigene erkennen würden. In seinem Essay „Wandel und Bestand“ vertrat Jonas die Auffassung, die Möglichkeit der Interpretation basiere auf dem gemeinsamen menschlichen Horizont des Interpreten und seines Gegenstands, der auf bestimmten grundlegenden, kontinuierlichen Merkmalen der menschlichen Natur und Reaktionsweise beruhe. Das so verstandene angemessene Verstehen des anderen hängt weniger von der „Erkennung des Gleichen durch Gleiches“ ab, im Sinne einer genauen Übereinstimmung der Erfahrung, als vielmehr von dem, was Jonas als die „Erfahrung des Möglichen, vermittelt durch Symbole“ bezeichnet.16 Auf diese Weise können wir, um seine eigenen Beispiele heranzuziehen, die Trauer des Achill um Patroklus, Romeos Liebe zu Julia und die Antwort der Fischer auf den Ruf Jesu an den Ufern eines fernen galiläischen Sees verstehen. Was aber hat es mit der „mythischen Wahrheit“ auf sich? Dieses Problem ist ein wenig komplizierter. Die grundlegende Wahrheit, auf welche die Gnosis eine erkennbare Antwort bietet, besteht darin, daß unsere Welt ein verwirrender und bisweilen schmerzvoller Ort ist. Das Besondere der gnostischen Antwort liegt darin, daß sie die Mühen menschlicher Existenz nicht, wie
das orthodoxe Christentum, den menschlichen Fehlern oder, wie die klassische Weltanschauung, den unwandelbaren Bedingungen der sterblichen im Gegensatz zur göttlichen Existenz zuschreibt. Statt dessen betrachtet sie diese Mühen als Folge dessen, daß die Welt von einem mangelhaften oder bösen Schöpfer in bewußter oder unbewußter Rebellion gegen den letzten Ursprung des Geistes geschaffen wurde, von dem im unzufriedenen Menschen eine Spur erhalten blieb. Gelehrte, die den gnostischen Mythos erforschen, verweisen häufig auf seinen dualistischen Charakter, insofern er einen vollkommen guten Ursprung geistigen Seins einem bösen Schöpfer der unreinen Welt der Materie entgegensetzt. Doch diese Form des theologischen Dualismus gewinnt nur in den östlichen, iranischen Typen der Gnosis wirklich radikale Gestalt, etwa in den Lehren Manis, welche die orthodoxe zoroastrische Lehre des Dualismus verkehrt und verändert, wonach der Kosmos und der Mensch in der Integrität von Leib und Seele als Geschöpfe des guten Gottes Ormuzd und nicht des bösen Ahriman verstanden werden, der darum kämpft, sie zu beherrschen und zu zerstören. Aus Sicht des Manichäers dagegen erscheint lediglich das geistige Element im Menschen als Schöpfung des guten Lichts: Sein Leib – und der Leib der Welt – ist eine Schöpfung der Finsternis. Gemäß manichäischer Lehre kann nur der Geist erlöst werden, und er wird letztlich nach einem eschatologischen Schema erlöst, das Mani selbst in erstaunlich lebendigen mythologischen Einzelheiten entfaltete.17 Aspekte eines solchen theologischen Dualismus finden sich auch in westlicheren Spielarten der Gnosis, etwa in der – am deutlichsten bei Marcion akzentuierten – allgemeinen Feindseligkeit gegenüber dem jüdischen Schöpfergott des Alten Testaments sowie in der – von Plotin verurteilten – gnostischen Verunglimpfung der göttlichen Unsterblichkeit der Gestirne. Doch laut Jonas besteht der vorherrschende Dualismus der Gnosis nicht in dem theologischen Gegensatz zwischen zwei mehr oder minder gleichwertigen göttlichen Prinzipien, einem guten und einem bösen, sondern in einem existentiellen Dualismus, der im gnostischen Gefühl der Entfremdung von einem Kosmos wurzelt, der gemäß dem Glauben der klassischen Antike und der kosmologischen Kulturen Mesopotamiens und Ägyptens als letztlich gut und
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göttlich galt. In dieser existentialistischen Interpretation des gnostischen Dualismus erkennt man den Einfluß Heideggers, in dessen Beschreibung der Situation des „Daseins“ in Sein und Zeit (1927) Jonas auch einen unbewußten, aber unüberhörbaren Widerhall dieses für die Gnosis typischen Gefühls der Entfremdung von der Weltlichkeit des alltäglichen Daseins erkannte. Auf diese Weise gewannen die Ideen des frühen Heidegger für Jonas’ Forschung eine klare dialektische Funktion, indem sie zugleich einen Schlüssel für das Verständnis der antiken Gnosis lieferten und deren nächste moderne Entsprechung verkörperten. Hans Jonas zeichnet sich unter den Gnosisforschern nicht so sehr durch die Fülle des von ihm bearbeiteten Materials aus, sondern dadurch, daß er das Phänomen von einer erkennbaren philosophischen Perspektive aus interpretierte. Diese Perspektive, wurde, wie er selbst formulierte, „in der Schule von Lehrern wie Husserl, Heidegger und Bultmann“ geformt.18 Unter der Leitung Rudolf Bultmanns entworfen, befaßte sich Jonas’ erstes Buch mit der Frage nach Augustins Vorstellung des freien Willens im Kontext des pelagianischen Streits.19 Als zweites Buch erschien 1934, als Jonas längst über England nach Palästina emigriert war, in Deutschland der erste Band von Gnosis und spätantiker Geist mit einem Vorwort von Rudolf Bultmann. Der große Mut des Neutestamentlers, der sich darin aussprach, stellte einen der Gründe dafür dar, warum Jonas seinen Lehrer – trotz der Kritik, die er später an manchen Aspekten seiner Theologie übte – stets mit Achtung und Respekt begegnete. Man braucht nicht besonders zu betonen, daß Bultmanns Verhalten in scharfem Gegensatz zu jenem Heideggers stand, und es spricht für die Aufrichtigkeit und Liberalität der intellektuellen Orientierung von Hans Jonas, daß ihn das Problem der politischen Verbindung Heideggers mit dem Nationalsozialismus niemals daran hinderte, anzuerkennen, wieviel er selbst Heidegger mit Blick auf seinen eigenen philosophischen Ansatz, ganz zu schweigen von der Gnosisdeutung, verdankte, und sei es nur, weil er gezwungen war, auf ihn zu reagieren.20 Heideggers Einfluß auf Jonas’ Gnosisverständnis weist zwei Aspekte auf. Erstens sensibilisierte er ihn für die Möglichkeit der Interpretation der Gnosis als eine religiöse und geistige Reaktion
auf eine Reihe historisch geprägter existentieller Umstände, die sich zu Beginn der christlichen Ära ergeben hatten. Zweitens ermöglichte er es ihm, Parallelen zwischen dieser Reaktion und Merkmalen des intellektuellen Lebens seiner eigenen Zeit zu erkennen: Dazu zählten vor allem Aspekte des von Heidegger entwickelten existentialistischen Ansatzes und dessen Wirkung auf den Geist seiner Zeitgenossen, nicht zuletzt auch auf sein eigenes Denken. Anders als Voegelin bezeichnete Jonas Heidegger weder als Gnostiker, noch versuchte er, eine historische Kontinuität zwischen dem antiken und dem modernen Phänomen zu begründen. Mit Voegelins Begriffen gesprochen, ist die Parallele, die Jonas herstellt, vielmehr die einer Entsprechung der Erfahrung und der Symbolisierung, die in einer gewissen Gemeinsamkeit der menschlichen, historischen Situation begründet liegt. Jonas unterscheidet sorgfältig zwischen einer existentialistischen Philosophie von offenkundiger ontologischer Freiheit, die dem Menschen, indem sie bestreitet, daß er – ähnlich wie andere Lebewesen – in seinem Wesen determiniert sei, die Möglichkeit eröffnet, zu entscheiden, was er aus sich machen möchte, und einem gnostischen Mythos, der ihn als von innerkosmischen Mächten versklavtes Wesen versteht. Dennoch läuft Jonas’ Argumentation darauf hinaus, daß dieser Unterschied eher ein scheinbarer als ein wirklicher sei. Ihm liege nämlich eine grundsätzliche Affinität zugrunde, die in einem gemeinsamen Gefühl der – ontologischen und ethischen – Entfremdung wurzele, das im Falle der Gnosis das spirituelle oder geistige Wesen des Menschen, im Falle des Existentialismus sein authentisches „Selbst“ von den regulatorischen Voraussetzungen der ansonsten normativen Bedingungen irdischen Seins trenne. Unabhängig von dem scheinbaren Gegensatz zwischen dem gnostischen Glauben an den transmundanen Gott, in dem das geistige Element im Menschen seinen Ursprung hat, der aber in der Ordnung des Kosmos keine Rolle spielt, sowie der existentialistischen Bestreitung der Wirklichkeit jedes übernatürlichen oder natürlichen Maßstabs menschlichen Verhaltens teilen beide Strömungen das Empfinden, daß der Mensch – zumindest in dieser Welt – bei dem Entwurf dessen, was er sein will, ganz auf sich gestellt ist. Auf der Ebene der Theologie sind der deus absconditus der Gnosis und der nicht-existente
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Gott des Existentialismus in Wirklichkeit ein und dasselbe. Auf der Ebene der Anthropologie und der Ethik führt die Bestreitung des dem Sein des Menschen im Kosmos objektiv innewohnenden Sinns und Wertes zu dem, was Jonas im Gefolge Nietzsches als Nihilismus bezeichnet. Doch während Nietzsche diesen Zustand auf den „Tod Gottes“ zurückführt, womit er laut Heidegger meint, „daß die obersten Werte sich entwerten“,21 verleiht ihm Jonas eine umfassendere, weniger spezifisch christliche Bedeutung als Zeichen für das Zerbrechen des Gefühls eines sinnvollen und normativen Verhältnisses zwischen menschlicher Existenz und der Ordnung des Kosmos. Gemäß christlicher Lehre – ebenso wie im Judentum und im Islam – beruht die Gültigkeit dieser Beziehung auf dem Glauben, daß Gott, ungeachtet seiner Transzendenz, der Schöpfer des Universums sei – also genau auf jener Lehre, welche die Gnosis am entschiedensten bestreitet. Doch obwohl er für den Gegensatz zwischen Gnosis und christlicher Orthodoxie eine entscheidende Rolle spielte, stellt der Glaube an den göttlichen Ursprung der Welt, wenn man ihn mit den typischen Formen heidnischer Frömmigkeit vergleicht – etwa mit den Glaubensüberzeugungen der „kosmologischen Zivilisationen“ Ägyptens und Mesopotamiens, wie Voegelin sie nennt, oder mit der stoischen Idee eines kosmischen logos, der eine universale Ordnung schafft und dem menschlichen Verhalten eine objektive ethische Richtung weist – nur eine abgeschwächte und verletzliche Verheißung dar. Diese Tatsache liefert Jonas das Thema für eines der in philosophischer Hinsicht herausforderndsten Kapitel in The Gnostic Religion, in dem er die griechische und die gnostische Bewertung des Kosmos einander gegenüberstellt.22 Dieses Kapitel folgt auf Jonas’ Überblick über den allgemeinen Symbolgehalt des gnostischen Mythos und die breite Untersuchung der Lehren einer Auswahl gnostischer Sekten. Das reicht, um zumindest dem durchschnittlichen Leser einen Eindruck von der Vielfalt gnostischer Vorstellungen, ihrer weiten geographischen Verbreitung und der wesentlichen Einheit ihrer Einstellungen zu vermitteln, die auf einer gemeinsamen Herabwürdigung des Wertes der irdischen Existenz beruht. Zu Beginn seines Buches deutet Jonas diese geistige Bewegung der menschlichen
Entfremdung von der Welt als eine verständliche Reaktion auf eine existentielle Krise, die von der verwirrenden Zerstörung der älteren, stärker ethnisch und religiös homogenen Formen politischer Gemeinschaft durch imperiale Mächte ausgelöst wurde; dazu kam eine umfassende wechselseitige Befruchtung westlicher, im wesentlichen griechischer Glaubensüberzeugungen und Vorstellungen mit religiösen Ideen und Kulten orientalischen und ägyptischen Ursprungs. Die Gnosis ist darunter nur eine von vielen Erscheinungen, wenn sie sich auch von den übrigen durch ihre sys-tematische Ablehnung des positiven Wertes des weltlichen Seins für ein geistiges Wesen wie den Menschen entscheidend abhebt. Zwischen dieser Analyse der geistig-politischen Krise in der Spätantike und Voegelins Vorstellung eines „ökumenischen Zeitalters“ ist eine auffällige Nähe festzustellen, selbst wenn das von Jonas entworfene Bild – infolge seiner Konzentration auf die Gnosis – eine etwas negativere Färbung aufweist. In diesem Zeitalter handelte es sich bei der Gnosis und den Erscheinungen wie der Kosmosfrömmigkeit der Stoiker um verwandte, wenn auch gegensätzliche Reaktionen auf eine gemeinsame Erfahrung geistiger Entfremdung von partikularen lokalen Kulten, die von individueller und gemeinschaftlicher Verehrung des eigenen Gottes und der Hingabe an den Stamm oder die Stadt gekennzeichnet waren, deren besonderer Schutzpatron diese Gottheit darstellte, die nunmehr jedoch nicht mehr den traditionell erwarteten Schutz bieten konnte. Was die Gnosis jedoch zu einer einzigartigen revolutionären Erscheinung macht, und zwar nicht im politischen, sondern im ontologischen Sinne, ist die Tatsache, daß sie als einzige auf die Erfahrung der Desorientierung nicht mit der universalistischen Ausweitung eines vormals lokalen göttlichen Prinzips reagierte, sei es der Gott der Hebräer oder die kosmischen Gottheiten Griechenlands und Roms, sondern indem sie sich die Welt als eine ursprünglich und von Beginn an dämonische Sphäre vorstellte, als Schöpfung eines bösen Demiurgen. Zudem schrieb sie der echten Gottheit einen akosmischen Status zu, mit dem das geistige Element im Menschen allein durch die Vermittlung dieses esoterischen Wissens – der gnosis – wiedervereint werden kann, die ihn in dieser Welt von irdischen Verpflichtungen befreit und in
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Levy: Hans Jonas und Eric Voegelin
einer anderen Welt die letztliche Erlösung der Erwählten gewährleistet. Diese Charakterisierung der Gnosis blieb von seiten der Forscherkollegen von Hans Jonas nicht unbestritten. In seinem Buch mit dem Titel Rethinking „Gnosticism“: An Argument for Dismantling a Dubious Category23 hat Michael A. Williams, ein Spezialist für die Nag-Hammadi-Bibliothek, neuerdings sogar behauptet, die Kategorie der Gnosis überhaupt und damit auch Jonas’ Idee, es gebe so etwas wie eine „gnostische Religion“, sei eine hermeneutisch irreführende Vorstellung, die dazu verleite, eine Einheit zu erblicken, wo historische keine vorliege; was sie in die Forschung des zwanzigsten Jahrhunderts hinein verlängere, sei eine negative und im wesentlichen polemische Lektüre einer Vielzahl von Texten, die ihren Ursprung in den Schriften der frühen Häresiologen habe, deren Ziel nicht die leidenschaftslose Erforschung einer mannigfaltigen religiösen Erscheinung gewesen sei, sondern die Definition eines orthodoxen Christentums, aus dessen Sicht die Lehren der sogenannten Gnostiker aus unterschiedlichen Gründen als Herausforderung galten. Gewiß, als Jonas’ Buch The Gnostic Religion 1958 erschien, waren die Inhalte der Nag-Hammadi-Bibliothek kaum bekannt, und als er sich in der zweiten Auflage (1963) in einem Kapitel über „Die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiet der Gnosis“ mit diesen Schriften auseinandersetzte, entwarf er eine Lesart der Lehren der neuentdeckten Manuskripte, die deren Einheitlichkeit und Übereinstimmung mit dem aus patristischen Quellen gewonnenen Bild der Gnosis wohl allzu sehr übertrieb.24 Obwohl dies nicht der Ort ist, Williams’ Einwänden gegen die Kategorie der Gnosis zu begegnen, sollte man dennoch etwas zur Verteidigung von Jonas’ Verwendung des Begriffs und seiner Nützlichkeit mit Blick auf die Erhellung einer geistigen Erscheinung der Antike sowie gewisser Aspekte der Moderne sagen. Trotz der Skepsis von Williams bringt die Weltsicht, welche die Nag-Hammadi-Schriften vermitteln, eine Sicht der Existenz zum Ausdruck, die sich von den beherrschenden Formen paganer Frömmigkeit zur Zeit ihrer Entstehung durchaus unterscheidet. So wichtig die Schriften von Nag Hammadi auf Grund ihrer Anzahl und ihres relativ gut erhaltenen Zustands auch sein
mögen, so stellen sie doch lediglich das Erbe einer Strömung eines allgemeineren Phänomens der Spätantike dar, dem wir, wenn auch in fragmentarischer Form, in einem Corpus gnostischer Literatur begegnen, die in geringerem Maße der christlichen Metaphorik verpflichtet ist. Das ist von besonderer Bedeutung, wenn man bedenkt, daß, sofern der Großteil der überlieferten gnostischen Literatur, wie sie die Nag-Hammadi-Bibliothek verkörpert, die Sprache des Christentums spricht, umgekehrt auch die christliche Literatur in einer Art und Weise, wie sie Rudolf Bultmann gezeigt hat, der Metaphorik und sogar der theologischen Vorstellungskraft der Gnosis verpflichtet ist.25 Selbstverständlich behauptete Bultmann nicht, beide Erscheinungen seien identisch. Diese Deutung wäre nicht nur mit seiner Stellung als christlicher Theologe unvereinbar, sondern auch weder durch theologische Beweise noch durch historische Zeugnisse zu belegen gewesen. Recht hatte Bultmann allerdings mit einer These, die Jonas’ Überzeugung, der gnostische Akosmismus richte sich eher gegen die heidnische denn gegen die orthodoxe christliche Spiritualität, hinreichend rechtfertigt: Der Marburger Neutestamentler betonte, vielleicht stehe allein der – wenn auch theologisch entscheidende – christliche Glaube an den göttlichen Ursprung der Schöpfung, wie er in biblischen Aussagen wie „Die Erde ist des Herrn, und ihre Fülle“ (Psalm 24,1) zum Ausdruck gelangt, zwischen der gnostischen und der orthodoxen Lehre über die Beziehung zwischen dem Schicksal des Menschen und der Ordnung des Kosmos. So bemerkte Bultmann vor allem mit Blick auf das Neue Testament: „Wie in der Gnosis ist die Transzendenz Gottes radikal gedacht, und fern liegt die griechische Anschauung, daß Gott der Welt immanent sei, insofern ihre Ordnung, der gesetzliche Gang ihres Geschehens und die sie durchwaltenden Naturkräfte göttlichen Charakter tragen. Den stoischen Begriff der Vorsehung kennt das Neue Testament nicht. Gott und die Welt sind radikal geschieden“, da die Welt als Bereich der „Herrschaften und Gewalten“ gedeutet wird, die selbst nicht nur als von Gottes Willen getrennt, sondern als diesem geradezu radikal entgegengesetzt gelten.26 In seinen Bemerkungen zur „Erlösung“ verwies Bultmann auch auf Affinitäten zwischen der gnostischen und der orthodoxen Lehre hinsichtlich
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der Entfremdung des Menschen von der Ordnung der Welt sowie der Abhängigkeit der höchst wünschenswerten Rettung aus diesem Zustand von dem Eingreifen Jesu Christi, der – in seiner tatsächlichen Natur, wenn auch nicht in der materiellen Form seiner Inkarnation – aus einer jenseitigen in diese Welt gesandt wurde. Eine weitere Erörterung der damit angesprochenen komplexen theologischen Fragen würde den Rahmen dieses Essays sprengen. Hier gilt es lediglich zu klären, weshalb Jonas, der nicht als Theologe, sondern als Existenzphilosoph schrieb, die historische Bedeutung dessen so sehr hervorhob, was wir als gnostische Revolution gegen die in der ganzen antiken Welt herrschende Form der Frömmigkeit bezeichnen könnten. In seiner klarsten Gestalt zeigt sich das zentrale Symbol dieser Frömmigkeit in der griechischen Vorstellung des Kosmos als eines Bereichs der von Natur aus gegebenen Ordnung und der einzig wertvollen oder denkbaren Heimat der Menschheit. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die eindeutigste Form dieses Mythos der kosmischen Güte – wie die Gnosis selbst – erst in der Spätantike auftritt. Jonas charakterisiert das, was er als die spätantike „Kosmosfrömmigkeit“ bezeichnet, als eine „Rückzugsposition“:27 Sie entstand, wie die Entfremdung der Gnostiker, in einer historischen Situation, in welcher der Mensch sich nicht länger imstande fühlte, den Verlauf der Geschehnisse zu beeinflussen, wie er es einst in seinem Stamm oder in seiner Stadt vermocht hatte. Die besondere Eigenschaft der Kosmosfrömmigkeit eines Cicero und dessen, was sie dialektisch mit der kosmischen Entfremdung der Gnostiker verbindet, besteht in ihrem merkwürdig entpolitisierten Charakter. Der veredelnde Kosmos der Stoiker und der versklavende Kosmos der Gnostiker zeichnen sich gleichermaßen durch dieses Merkmal aus: Sie verweisen auf ein herausragendes Ganzes, zu dem der Mensch gehört, das er aber weder verändern noch gestalten kann. Sobald die Entstehung der Weltmächte die Rolle des einzelnen bei der Gestaltung der lokalen Kulte und der Kultur verringerte, wurde das unpersönliche Schicksal immer stärker als bestimmende Lebenswirklichkeit erfahren. Und während die Stoa dieses Schicksal als Vorsehung annahm, verurteilte es die Gnosis als Versklavung. In den unterschiedlichen und
dennoch miteinander verwandten Mythen beider Denksysteme blieb der Kosmos das höchste Zeichen einer weltimmanenten unnachgiebigen Ordnung, die von den Stoikern gerühmt wurde, während ihr die Gnostiker zu entfliehen trachteten. Die Bedeutung der Gnosis für das „Unbehagen der Moderne“ legt nahe, daß es eher Jonas denn Voegelin ist, der etwas für unser Verständnis einer Umwelt zu bieten hat, die weniger durch revolutionäre politische Bewegungen bedroht ist als durch wiederkehrende Symptome eines Ungleichgewichts zwischen der Macht, die dem Menschen zur Verfügung steht, und der Integrität der Welt, des für den Menschen bedeutsamen Kosmos, von dem er auch weiterhin abhängig ist. Gewiß ist dies das Leitmotiv, das Jonas’ gesamtes Werk durchzieht, von der Erforschung der Gnosis über seine philosophische Biologie und Anthropologie in Organismus und Freiheit bis hin zu seinem Versuch, in Das Prinzip Verantwortung eine dem präzedenzlosen technologischen Zeitalter angemessene Ethik zu formulieren; ja, dieses Motiv findet sich selbst in so späten theologischen Essays wie „Materie, Geist und Schöpfung“, in denen er einen wissenschaftlich bestimmten, aber bewußt spekulativen kosmologischen Ansatz entwickelte, den er – wenn auch in einem völlig anderen Kontext – ganz offen als „hypothetischen Mythos“ bezeichnete, „von dem ich glauben möchte, er sei ‚wahr’.“28 Eine umfassendere Rechtfertigung dieser Interpretation der Einheit des Werkes von Hans Jonas habe ich in dem Buch Hans Jonas. The Integrity of Thinking vorgelegt. Hier ging es darum, die exemplarische Bedeutung der Gnosis als einer historisch ursprünglichen, präzedenzlosen Ausdrucksform jenes Empfindens radikaler Entfremdung zwischen menschlichem Streben und natürlicher Ordnung darzulegen, die auch der scheinbar ganz anderen Auffassung der Stellung des Menschen in einer Welt zugrunde liegt, die nicht als göttliche Schöpfung, sondern als frei von ihr innewohnenden Werten und somit als Feld möglicher Ausbeutung gilt. Selbstverständlich besteht ein klarer Unterschied zwischen dem gnostischen Mythos eines im Innern dämonischen Kosmos und der modernen wissenschaftlichen Anschauung, die ihn schlicht als „wertfrei“ betrachtet. Doch dieser Unterscheid, so bedeutsam er auch scheinen mag, sollte nicht eine weit existenti-
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Levy: Hans Jonas und Eric Voegelin
ellere fundamentale Wirklichkeit menschlicher Erfahrung verdunkeln, die über die Jahrhunderte hinweg miteinander verbindet, was Hans Jonas 1952 als antike und moderne Formen des „Nihilismus“ charakterisierte: Diese Bezeichnung versuchte er in späteren Schriften zu rechtfertigen, indem er auf die essentielle Leere einer Ethik ohne ontologische Grundlegung verwies und die mögliche Vereinbarkeit einer modernen, wissenschaftlich gebildeten Ontologie mit einer objektiven Ordnung des ethischen Engagements nachwies.29 In einer neueren Besprechung des Werkes von Hans Jonas hat Richard Wolin dessen Versuch, den Graben zwischen Ontologie und Ethik, das heißt die philosophisch wohlbekannte logische, aber metaphysisch sinnlose Kluft zwischen dem „Ist“ und dem „Sollen“, zu überbrücken, den „untergründig wirksamen Affinitäten der Position Jonas’ zur ‚deutschen Ideologie’ in ihrer vitalistischen Phase“ zugeschrieben. Dabei handelt es sich um eine Nähe, die Wolin schon auf Grund des historischen Zusammenhangs zwischen dieser Lebensphilosophie und den mit dem Nationalsozialismus verbundenen irrationalistischen Philosophien beunruhigt. Doch so gewiß sich zweifellos eine biographisch begründete Affinität dieser Art finden läßt, da Jonas schließlich ein Kind seiner Zeit war, verfehlt Wolins Anschuldigung – und um eine solche handelt es sich – doch die weitaus wichtigere Unterscheidung zwischen einer Philosophie wie dem Vitalismus, die jegliche Existenz auf die blinde Kraft eines undurchdringbaren, weil der Vernunft unzugänglichen Prinzips des Lebens zurückführt, und einer Deutung des beseelten Seins, die es – wie jene von Hans Jonas – unternimmt, in den inhärenten dynamischen und strukturellen Imperativen des Phänomens Leben die Wurzeln der Vernunft zu erkennen. Wo auch immer die unmittelbaren biographischen Ursprünge dieser Philosophie anzusiedeln sind, so ähnelt sie doch weniger der Tradition des deutschen Vitalismus als den Lehren des Aristoteles, nach dessen Auffassung die Vernunft ein universales Deutungsprinzip zur Verfügung stellt, weil es sowohl dem Wirken der Natur als auch der Vorstellungskraft des Menschen innewohnt. Man kann sich nur schwer der Schlußfolgerung entziehen, daß diesem Verständnis des Naturprozesses – zumindest aus der
Perspektive der modernen Naturwissenschaften – ein unbestreitbar mythisches Element innewohnt, das dem von der üblichen Erforschung des Lebens und der Materie vermittelten Bild der Natur sehr fern liegt. Doch ein solcher Mythos kann nicht nur praktisch wahr sein, insofern er einen bedeutsamen, anthropologisch tragenden Zusammenhang zwischen menschlicher Vernunft und kosmischem Zufall neu geltend macht, den die antike Gnosis als erstes Glaubenssystem umfassend bestritt: Darüber hinaus können wir sogar – auf einer stärker theoretischen und nüchtern wissenschaftlichen Ebene – legitimerweise, wenn auch nicht abschließend, darüber spekulieren, daß der Imperativ des Überlebens, welcher der Evolution zugrunde liegt und sich allein im Menschen auf das Niveau einer rationalen Artikulation von Zukunftsaussichten erhebt, ein wirkliches Maß an Übereinstimmung zwischen dem Prinzip der Vernunft und dem Phänomen des Lebens gewährleistet. Auf dieser Abstraktionsebene, die allein durch weitere Forschung in den Spuren von Jonas’ Philosophie des Lebens einen konkreteren, wissenschaftlich aufschlußreicheren Inhalt erschließen kann, beginnt die Grenze zwischen mythischer Wahrheit und der wissenschaftlichen Kunst auf beunruhigende Weise zu verschwimmen.
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Jacobson: Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz
Eric Jacobson
Hans Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz1 I. Der Gottesbegriff hat nach der Schoah eine radikale Wendung genommen, die jüdische Denker auf verschiedene Weise in den letzten Jahrzehnten zum Ausdruck brachten. Hinter dem, was unter dem Begriff einer Theologie der Schoah bekannt geworden ist, verbirgt sich eine mit vereinten Kräften unternommene Anstrengung, eine Erklärung für Auschwitz zu finden. Aus der Perspektive einer verwandelten Himmelswelt schlagen ihre Vertreter eine Neudeutung des Bundes zwischen dem jüdischen Volk und Gott vor, einschließlich eines neuen Akzents, der die Dauer und Ewigkeit des jüdischen Volkes durch den jüdischen Staat gewährleistet. In der Welt des Profanen und als Brennpunkt des jüdischen Volkes ist der Staat Israel zur Antithese von Auschwitz geworden. An die Stelle der Erforschung der göttlichen Vorsehung und der Wissenschaft vom Heiligen tritt eine Praxis des weltlichen Engagements. Die Bedeutung und Relevanz des Judeseins hat sich dabei erheblich verändert. Im Mittelpunkt dieses Wandels, der Ausdruck einer wachsenden Glaubenskrise ist, stehen die Geschichte der Schoah und die Erinnerung an den Völkermord, die immer häufiger als Ersatz für vergangene Formen jüdischer Kultur dient. Der Wandel des Gottesbegriffs ist aber weder eine neue noch eine rein geschichtliche Erscheinung. Vielmehr berührt er den Charakter des Judentums als einer Religion ohne zentralisierte Autorität. Dieses Phänomen wird häufig so verstanden, als sei das Judentum eine Religion von Atheisten, Ungläubigen und hartnäckig der Tradition Gehorsamen. Von dieser Vorstellung stammt die abgedroschene Entgegensetzung einer „Religion des Buches“ versus einer „Religion des Geistes“, wobei letztere als Religion 166
der reinen Vernunft, der Erkenntnis des Willens Gottes erscheint. Das Judentum, so heißt es dann, besitzt keine Theologie, sondern lediglich eine Geschichte. Man braucht nicht besonders zu betonen, daß eine solche Polemik ein armseliges Beispiel kritischen Denkens bietet, doch die Unterscheidung zwischen einer Religion mit und einer Religion ohne Kirche stellt einen wichtigen Aspekt dar. Nach dem Verlust ihrer grundlegenden theokratischen Struktur hat die jüdische Religion seit der Zerstörung des Zweiten Tempels eine große Vielfalt von Ritualen und Glaubensüberzeugungen entwickelt, sei es in den Gemeinschaften und Kulturen des Mittleren Ostens, Europas, Afrikas oder Amerikas. Große Mannigfaltigkeit wird auch mit Blick auf den Gottesbegriff sichtbar: Bis heute bildet eine lange Tradition theologischer Spekulation über Gottes Existenz und seine Attribute ein beständiges Element jüdischen Denkens. Eine kurze Einführung in die Theorie der Attribute Gottes macht dies sichtbar. Der Name, das grundlegendste Attribut eines Wesens oder Gegenstandes, bildet die Basis des Gottesbegriffs im Judentum, und dennoch bestehen hier keinerlei Grenzen, was Theorien und Glaubenssätze angeht. El, elohi und elohim sind drei Formen des wahren Namens, wobei el in vielen antiken semitischen Sprachen ein häufiger Appellativ ist, sei es allein oder in Verbindung etwa mit schaddai. Dieser Liste wäre adoni („mein Herr“) hinzuzufügen, ganz abgesehen von dem bekanntesten Begriff: dem Tetragramm JHWH, dem aus vier Buchstaben bestehenden Namen, dessen Aussprache unbekannt ist und der zugleich das Zentrum aller Sprachspekulationen im Judentum ausmacht. Der offenkundigste und vielseitigste Name ist in vielerlei Hinsicht der zuletzt erwähnte. Die Wendung ha-schem (wörtlich „der Name“) stellt zugleich die verbreitetste und unklarste Bezeichnung dar. Als Hinweis auf etwas anderes gewinnt sie den Charakter einer Metapher, eines Zeichens ohne Inhalt. Sie wird aber gleichzeitig zum Stellvertreter ihres Inhalts, zum Kennzeichen, das sich durch den Gebrauch des bestimmten Artikels ausweist – der Name Gottes als „der Name“. Weitere Spielarten hat jene Tradition hervorgebracht, die unter der Bezeichnung schem ha-meforasch bekannt ist: der verborgene heilige Name und 167
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Ursprung aller anderen Namen. Die Frage, ob der wahre Name aus vier Buchstaben besteht, wie beim Tetragramm, oder aus 12, 42, 72 oder sogar 100 Buchstaben, bot hinreichend Material für eine breite Spekulation über die wahre Identität Gottes. Im Hochmittelalter, etwa in den Werken so bedeutender Denker wie Chai Gaon und Raschi, war der Glaube an einen Namen aus 42 Buchstaben weit verbreitet. Kabbalistische Denker des dreizehnten Jahrhunderts, darunter Nachmanides, vertraten die Auffassung, die Tora in ihrer Gesamtheit, mitsamt all ihren Buchstaben, konstituiere den wahren Namen.2 Von den frühesten Quellen bis zur Mystik der Gegenwart kommt der Diskussion über den Namen Gottes in jüdischem Denken zentrale Bedeutung zu. Die Komplexität des Namens spiegelt zudem die Tiefe des Denkens mit Blick auf die Vorstellung des Göttlichen wider, denn wenn es nicht den einen Namen Gottes gibt, ist auch nicht nur ein einziger Gottesbegriff denkbar. Vielmehr kann man sich ohne weiteres vorstellen, daß sich ein moderner Philosoph zur Idee eines religiösen Atheismus hingezogen fühlt, ganz zu schweigen von einer ganzen Kultur, die sich und ihre Religionen in diesem Licht betrachtet. Man nehme etwa das moderne Japan mit seinen beiden vorherrschenden Glaubensrichtungen, dem Shintô und dem Buddhismus, die eine in jeder Hinsicht reiche religiöse Kultur aufweisen, ohne einen einheitlichen Gottesbegriff zu besitzen. Die Japaner sind darüber auch offenbar in keiner Weise beunruhigt: Von einem Shintô-Priester verheiratet und von einem buddhistischen Mönch beerdigt zu werden, ist durchaus üblich und scheint keinerlei negative Auswirkungen zu haben. Solche Variation in allen Ehren, doch die Beschränkung oder Beseitigung einer eindeutigen Kategorie pflegt jeden organisierten Glauben vor grundlegende Fragen zu stellen. Selbst eine polytheistische Religion dürfte einen nicht unterscheidbaren Gottesbegriff als verwirrend empfinden. Die Vielzahl an Himmelskörpern im Shintôismus etwa ergibt unterschiedliche Gottheiten, sei es einen Naturgott (ein Berg oder Wald), einen Helden oder eine Gottheit, die in abstrakter, ästhetischer Form zum Ausdruck kommt. Diese Gottheiten besitzen aber jeweils einen Namen und Charakter. Für einen Shintôisten könnte daher leicht die Frage entstehen, wie es sein kann, daß eine Religion, die
auf der monotheistischen Idee beruht, nicht imstande ist, ihren Gott zu benennen. Schließlich ist es nur ein Gott. Angesichts so vieler Namen und der fehlenden Übereinstimmung über den angemessenen Namen erscheint es zumindest plausibel, wenn auch nicht sinnvoll, zu fragen, ob überhaupt ein Name für Gott und somit ein einheitlicher Gottesbegriff existiert. Ohne eine eindeutige Vorstellung des Namens ergibt ein einheitlicher Gottesbegriff keinen Sinn. Ich greife hier auf zwei miteinander zusammenhängende Prinzipien zurück – nämlich daß sich außerhalb der Sprache oder ohne Verbindung zu ihr kein Gedanke definieren läßt und daß es kein Ding oder Lebewesen gibt, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhat und seinen geistigen Inhalt in der Sprache mitteilt. Der erste Grundsatz stammt von Ludwig Wittgenstein, der zweite von Walter Benjamin.3 Ein verborgener, dem Sprecher unbekannter Name, der seinem Gegenstand unbestimmt bleibt und sich somit sprachlich nicht vermittelt, bringt zugleich auch ein Daseinsproblem mit sich. Er wirft demnach das Problem des religiösen Atheismus auf. Hans Jonas’ Essay „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“ ist in diesem Sinne weniger eine Abweichung als ein Bestandteil einer im Judentum lange andauernden Debatte über das Problem der Bedeutung Gottes nach einer historischen Katastrophe. Indem sie sich einer historischen, einer philosophischen und einer theologischen Fragerichtung bedient, steht Jonas’ Reflexion über den Gottesbegriff nach Auschwitz im Kontext des – auch als Theologie der Schoah bezeichneten – modernen Diskurses über die Bedeutung von Auschwitz für das Judentum und der allgemeinen Debatte über das Problem des Glaubens in unserer Zeit überhaupt.
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II. Hans Jonas, der von 1924 bis 1928 in Marburg bei Martin Heidegger studierte, schrieb seine Dissertation bei seinem philosophischen Lehrer und bei dem protestantischen Theologen Rudolf Bultmann. Sein erstes bedeutendes Werk – Gnosis und spätantiker Geist – erschien 1934, ein Jahr nach seiner Auswanderung 169
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Jacobson: Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz
nach England. 1935 zog er nach Jerusalem, voller Hoffnungen, die viel mit dem deutsch-jüdischen religiösen Zionismus seiner Zeit zu tun hatten. Nach seiner Ankunft in Palästina trat er in Verbindung zu Gershom Scholem und dem Kreis deutsch-jüdischer Intellektueller in Jerusalem. 1945 kehrte er als Soldat der siegreichen britischen Streitmächte nach Deutschland zurück, wo er von der Ermordung seiner Mutter erfuhr. 1949 verließ er den neugegründeten Staat Israel, zog zunächst nach Kanada, später nach New York, wo er zum Professor der Philosophie an der deutsch-jüdischen University-in-Exile, der New School for Social Research, ernannt wurde. 1984 wurde Hans Jonas nach Deutschland eingeladen, um den Leopold-Lucas-Preis der theologischen Fakultät der Universität Tübingen in Empfang zu nehmen. Sein Essay „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ verdankt sich seiner aus diesem Anlaß gehaltenen Rede, in der er „metaphysische Vermutungen“ über das Problem der Allmacht Gottes angesichts des menschlichen Bösen anstellte. Die Frage klingt einfach, die Antwort ist kompliziert: Wie konnte Gott die Vernichtung der Juden zulassen? In Auseinandersetzung mit Auschwitz als einer historischen Wirklichkeit schlug Jonas eine Neudeutung der Gottesidee mit Hilfe eines „Mythos“ vor, in dessen Zentrum eine göttliche Katastrophe stand. Diese Interpretation sollte die Auswirkung der Schoah auf den religiösen Glauben widerspiegeln. Mit einer neu aufgegriffenen, in vielerlei Hinsicht jedoch recht traditionellen Vorstellung eines deus absconditus oder des hester panim, des Verbergens des Antlitzes Gottes, schilderte Jonas ein göttliches Versagen, das Böse zu verhindern oder aufzuhalten.4 War der Inhalt der Rede von Hans Jonas dem Judentum durchaus vertraut, so war ihr Kontext alles andere als traditionell: Jonas sprach eine Thematik an, die erst Mitte der achtziger Jahre in Deutschland weithin diskutiert wurde. Die Diskussion begann mit einer neuen Generation, die sich offen und mit immer stärkerem Nachdruck mit der Schoah auseinandersetzte. Auch für die deutsche Philosophie handelte es sich um ein unkonventionelles Programm: die Idee nämlich, einen Mythos zu verwenden, um über ein Problem nachzudenken, das einen spezifisch jüdischtheologischen Charakter besaß. Unter Rückgriff auf eine kabba-
listische Theorie des Bösen, die als beherrschende Erklärung der jüdischen Katastrophe nach der Inquisition entstanden ist, verkörpert Jonas’ Essay die außerordentliche Zwiespältigkeit des deutsch-jüdischen Parnaß nach der Schoah: Sichtbar wird eine Theologie des Judentums, nicht von einem Rabbiner verfaßt, sondern von einem „Philosophen und Juden“, der sich vier Jahrzehnte nach der Schoah an ein vorwiegend nicht-jüdisches Publikum in Deutschland wandte. Als eine jüdische theologische Antwort auf die Schoah wurde der Essay ein zentraler Text innerhalb der deutschsprachigen, mehrheitlich nicht-jüdischen Welt der Holocaust-Literatur. So sehr „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ als Phänomen gelten muß, das mit der Diskussion in Deutschland nach der Schoah zusammenhängt, so bilden die Ideen, die darin enthalten sind, sicherlich ein ständiges Element moderner jüdischer Philosophie. Dies gilt trotz aller biographischen Selbstzeugnisse, denn Jonas verstand sich zweifellos nicht als „jüdischer Philosoph“, sondern als der universalen Vernunft verpflichteter Denker, als „Philosoph und Jude“. Der Zwiespalt wird hier besonders deutlich, da sich die angemessene Identifikation eines philosophischen Essays auf dessen Inhalt und nicht auf die Identität seines Verfassers bezieht. Besonders vielsagend ist die Tatsache, daß der größere Teil der Argumentation auf einem Mythos beruht, den Jonas auf der Suche nach der religiösen Erklärung einer historischen Erscheinung konstruiert. In diesem Zusammenhang entfernt sich die Anwendung eines Mythos etwas von einer herkömmlichen philosophischen Methode. Es stellt sich daher die Frage, ob es sich hier um eine philosophische Untersuchung, die Darstellung jüdischen Denkens oder um einen Beitrag zur Theologie der Schoah handelt. Der Gegensatz zwischen Philosophie und Theologie in Jonas’ Denken ist stets gegenwärtig, wird aber nie vollständig enthüllt, so daß wir uns fragen müssen, ob man von der unausgesprochenen Prämisse ausgehen muß, daß ein Philosoph durch den Glauben an Gott kompromittiert wird. Die Idee einer „jüdischen“ Philosophie würde dann einen fundamentalen Widerspruch in sich bergen. Dieser Aspekt tritt für Jonas besonders deutlich unter dem Aspekt des Atheismus zutage: „Der Philosoph“, so sagte er in einem späten Interview, „muß sein eigentliches
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Geschäft, das Denken, völlig frei von solchen Bindungen und ererbten Voraussetzungen verrichten. Er ist dem Denken allein verpflichtet. Philosophie muß in der Methode ‚atheistisch’ sein […] es heißt, sich nichts von Glauben darüber sagen zu lassen. Daß man zusammen Philosoph und Jude ist — darin liegt eine gewisse Spannung.“5 Wie es sich für einen Philosophen geziemt, sucht Jonas offenkundig nach einer reinen Methode des Denkens, wenn nicht nach einem Denken über sich selbst, so doch zumindest nach einem Bereich, der von individuellen Vorlieben und ungeprüften Glaubensüberzeugungen frei ist. Was die Spekulation über den Gottesbegriff betrifft, sollen wir glauben, der einzig denkbare philosophische Ansatz müsse hier der atheistische sein. Doch die Vorstellung einer atheistischen Methode scheint vollkommen unhaltbar. Eine Methode, welche die Existenz des Gegenstandes grundsätzlich bestreitet und somit implizit die Bedeutung des Themas in Frage stellt, kann nicht Grundlage einer Studie zur Gottesfrage sein. Es ist zudem auch höchst zweifelhaft, ob diese Methode wirklich atheistisch ist. Wären wir vollständig von der atheistischen Qualität der Argumentation überzeugt, so könnte uns eine schlichte Frage näher an den Kern des Problems heranbringen: Weshalb sollte Jonas seinem Essay den Titel „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“ gegeben oder einem solchen Titel zugestimmt haben? Weshalb sollte hier die Stimme eines Juden und nicht die Erklärung des Philosophen betont werden? Wäre nicht ein Essay über die Bedeutung von Auschwitz für den Gottesbegriff für einen Christen ebenso gültig und relevant? Jenseits aller Fragen nach der Gleichberechtigung des Denkens und dem wesentlichen Unterfangen, dem jüdischen Denken seinen rechtmäßigen Platz in der Philosophie zu verschaffen, gibt es noch einen zwingenderen Grund, Jonas’ Postulat hinsichtlich der Methode und des Ortes seines Essays nicht anzunehmen, und es doch in den Kontext jüdischer Philosophie zu stellen: den Mythos über die göttliche Katastrophe und seine Verwendung als Erklärungsansatz für die Schoah. Als historisches Geschehen ist die Schoah gewiß singulär. Daraus läßt sich allerdings nicht schließen, daß auch ihre Bedeutung für die Geschichtsphilosophie oder den Gottesbegriff einzigartig sei. Obwohl die Nazi-Vernichtungsstrategien völlig neu waren,
hatten sich ihre Implikationen für das Judentum beinahe fünfhundert Jahre vorher mit der Massenvertreibung und der Zwangskonversion der Juden auf der iberischen Halbinsel bereits angekündigt. Die Fragen, die sich den jüdischen Denkern und Theologen in beiden Epochen stellten, waren keineswegs vollkommen unterschiedlich: Beide Generationen suchten – via mystica – eine Erklärung für die hinter dem Leiden des jüdischen Volkes stehende göttliche Absicht oder Vorsehung. Auf der Grundlage des religiösen Denkens Isaak Lurias brachte die mit der Katastrophe von 1492 ringende Theologie des sechzehnten Jahrhunderts Aspekte ihres geschichtlichen Zeitalters in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der göttlichen Welt. So wie die irdische Welt sich als von Exil, Verlassenheit, Scheitern und Ohnmacht beherrschter Ort offenbart hatte, befand sich auch die himmlische Welt in der Krise. Der unbewegte Beweger wurde wachgerüttelt: Ohnmächtig, dem Bösen Einhalt zu gebieten, mußte Gott sich aus der aktiven Wirksamkeit in der Welt zurückziehen. Der gegenwärtige Zustand des Scheiterns und der Herrschaft des Bösen beruht auf einer vorangegangenen Katastrophe: dem „Bruch der Gefäße“. Im Zentrum des lurianischen „Mythos“ steht die Vorstellung, daß das von Gott ausgehende Licht der Schöpfung nicht von den dafür geschaffenen Gefäßen aufgefangen werden konnte, so daß diese zerbrachen und Funken des göttlichen Lichts in alle Sphären des Kosmos verstreut wurden. Beklommen zog sich Gott aus der Welt zurück und ließ ihr die Möglichkeit freien Handelns. Dieser Vorgang, der als zimzum oder als Selbstkontraktion Gottes sowie als erzwungene Preisgabe der Welt kraft seines Scheiterns und seines Rückzugs in sich selbst dargestellt wird, bildet gemäß der lurianischen Kabbala die Wurzel historischer Katastrophen.6 Jonas’ Vorstellung hinsichtlich des Schweigens Gottes in Auschwitz steht eindeutig im Bann dieser Tradition. Sein Essay bietet eine theoretische Neuformulierung des lurianischen Mythos, die sich auf der Grenze zwischen Tradition und Mystik bewegt und von kabbalistischen Abhandlungen nicht sehr weit entfernt ist.7 Das Motiv des Mythos, der benutzt wird, um die Existenz Gottes zu erklären, wird bereits in einem Aufsatz aus den frühen sechziger Jahren mit dem Titel „Unsterblichkeit und heutige
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Existenz“ sichtbar. Ähnlich wie in „Gottesbegriff nach Auschwitz“ ist die Gestalt Gottes in diesem „hypothetischen Mythos“ im Werden begriffen: Es handelt sich um eine Gottheit, die von der Evolution betroffen ist, vom Handeln eines „göttlichen Subjekts“, das, indem es höhere Stufen der Selbstdifferenzierung und Komplexität erreicht, die Bedingungen schafft, unter denen Gott sich selbst mittels seiner eigenen Schöpfung entdeckt. Die Gottheit erneuert sich in jedem Augenblick der Geschichte durch die Entwicklung der Welt und mildert so die Permanenz der Ewigkeit. Mit dem erwachenden Bewußtsein des Lebens werden wir Zeugen einer wachsenden Dimension der „Weltverantwortung“, die auf eine elementare Ethik zielt. Gott entdeckt darin eine „neue Modalität […], sein verborgenes Wesen zu erproben und durch die Überraschungen des Weltabenteuers sich selbst zu entdecken.“8 Er selbst wird zu einem Geschöpf der Evolution. Auf Grund seiner Selbstreflexion in der Geschichte wirkt seine Schöpfung als vermittelnde Kraft, die in Erscheinung tritt, indem sie sich ausdifferenziert und zum Ausdruck ihrer selbst gelangt. Gott bleibt von diesem Abenteuer nicht unberührt, denn er erkennt sich selbst in der Herausforderung der weltlichen Entwicklung. Diese Entwicklung ist nicht so sehr von der Zeit gekennzeichnet, sondern von historischen Handlungen als dem rationalen Ausdruck seines Wesens: Gott muß sich selbst in der Geschichte erkennen, und was er nicht weiß, entdeckt er durch menschliches Handeln. Gemäß dieser Konstruktion ist Gott nicht von der Unterscheidung zwischen Gut und Böse betroffen. Wie auch immer das Ergebnis „im großen Glückspiel der Entwicklung“ ausfällt, kann er hier nicht verlieren.9 Einsteins Überzeugung von der Genauigkeit der göttlichen Vorsehung gewinnt hier eine völlig andere Bedeutung: Obwohl Gott nicht am Spiel teilnimmt, ist er auf tödliche Weise an das Ergebnis gebunden. Er spielt nicht mit, beobachtet jedoch die „Dynamik des weltlichen Schauplatzes“ und wird durch sie geprägt.10 Der Gott der Geschichte wird durch die Geschichte bestimmt. Nahezu fünfundzwanzig Jahre später kehrt Jonas in „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ zu diesem Mythos und seinem Verständnis der Attribute Gottes zurück. Obwohl sich dieser
Essay auf viele Motive des früheren Textes bezieht, verengt er die Analyse auf drei wesentliche Attribute: Güte, Allmacht und Verstehbarkeit. Ersteres betrifft das alte gnostische Problem der zwei Mächte im Himmel sowie der Existenz des Bösen in Gott selbst. Die Reflexion über das zweite Attribut, als Konsequenz des ersten, trägt der Trennung des Guten von Gott Rechnung, die zur Folge hat, daß er nicht länger allmächtig ist, sondern vielmehr das Schicksal der Menschheit erleidet. Das dritte Attribut besteht darin, daß lediglich die Begrenzung der Gewalt Gottes sein Handeln verständlich macht. Im Folgenden werden alle drei Attribute im einzelnen erörtert. Auch hier befindet sich Jonas in Übereinstimmung mit der jüdischen Theologie nach der Schoah, wenn er die Idee göttlicher Allmacht nach Auschwitz in Frage stellt. Sein Zweifel basiert auf der Vorstellung eines bewährten, auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhenden Bundes zwischen Gott und Israel. Ein Bruch der Beziehung wird postuliert. Die ursprüngliche Abmachung lautete: Die Israeliten halten die Gebote der Tora, und Gott beschützt die Israeliten. Auschwitz hat diesen Bund zerbrochen, und die Folgen verlangen nach einer Neubewertung der Vorstellung der Gegenseitigkeit. Jonas erklärt diesen Bruch als entscheidenden Vorgang: Da Gott kein beschützender Gott mehr ist, wird er zu einem sich historisch entwickelnden Wesen. Er ist eine Gottheit, die vom Augenblick der Schöpfung an leidet, die den Menschen dazu herausfordert, zu seinen Gunsten zu handeln und ihn vor den Folgen seiner eigenen Herrschaftsübertragung zu retten. Wir begegnen hier erneut der Vorstellung aus Jonas’ früherem Aufsatz, wonach Gottes Leiden Merkmal seines Werdens ist. Die Frage nach der göttlichen Ewigkeit ist mit seinem Akt des Werdens in jedem geschichtlichen Augenblick irdischer Existenz beantwortet. Er ist stets in Gefahr, es sei denn die Welt ist nicht vollkommen. Wie kann seine Welt noch heile sein, mögen wir fragen, wenn sie von der unseren bestimmt wird, da unsere Welt in jedem Augenblick von vollständiger Vernichtung bedroht ist? Daß Gott nicht allmächtig ist, ist in der Tat ein Paradox, behauptet Jonas, indem er den vertrauten dialektischen Beweis dafür führt, daß Allmacht Freiheit erfordert. Ohne Freiheit wird Allmacht willkürliche Macht. „‚Macht’ ist ein Verhältnisbegriff“,
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schreibt er, implizit auf die Machtdialektik von Hegel zurückgreifend. Um ihren Charakter zu bewahren, muß Macht die Fähigkeit bewahren, „etwas zu überwinden; und Koexistenz eines anderen ist als solche genug, diese Bedingung beizustellen.“11 Die klassische jüdische Vorstellung, daß beim Schöpfungsakt etwas neben Gott existierte, eine frühe Überlieferung des Midrasch, wird hier in eine innere Unterscheidung zwischen Macht und Freiheit verwandelt: Gott verlagert Freiheit nach außen, damit etwas außerhalb seiner selbst besteht, worüber er herrschen kann. Dieselbe Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Macht trifft auch auf das Problem des Bösen zu. Weshalb findet sich keine „Gegenmacht“ in Gott selbst? Weshalb muß Gott das Böse nach außen verlagern? Ein Gleichgewicht zwischen beiden Bereichen wäre nur dann möglich, wenn Gott einen solchen Gegensatz in sich selbst aufrechtzuerhalten imstande wäre. Man könnte antworten, daß außerhalb des Bereiches Gottes ein Ort für das Böse geschaffen werden mußte, um den Bereich des reinen Guten zu bewahren. Der Aspekt der Vollkommenheit ist für diese Vorstellung entscheidend, denn wenn Gott vollkommen ist, kann kein Teil von ihm böse sein. Wenn er nicht böse ist, kommt der Gedanke auf, er müsse seine Macht mit einer anderen Gewalt im Himmel teilen. Gäbe es aber etwas Böses in Gott selbst, so würde dies bedeuten, daß seine Fähigkeit zu gebieten die Fähigkeit zum Bösen aufrechterhält, denn er kann nicht von der Menschheit verlangen, was er selbst nicht erfüllen könnte. Das wäre gewiß böse. Die Grundlage der Logik besteht gerade in der Fähigkeit, die Welt mittels der Vernunft als göttlich geordnet und gewollt zu begreifen. Das cartesische Beispiel des bösen Dämons, der uns an Illusionen glauben läßt, liegt als Prämisse allen erkenntnistheoretischen Überlegungen zugrunde, die Gott nach wie vor für eine denkbare Kategorie halten. Angesichts des Wunsches, an einem vom Bösen freien und in seiner Macht begrenzten göttlichen Bereich festzuhalten, gelangen wir mit einigem Unbehagen zu dem Schluß, daß hier, so sehr Jonas das Gegenteil will, ein gnostisches Gottesverständnis unvermeidbar aufscheint.12 Die Auseinandersetzung mit der Idee einer göttlichen Allmacht birgt eine Überraschung. Jonas behauptet, Gott habe sich die Begrenzung seiner Macht selbst auferlegt. Er schlägt die Vorstellung
einer bewußten „Zurückhaltung“ oder „Einschränkung Gottes“ um der Freiheit des Lebens auf Erden willen vor. Die absolute Freiheit, die gewöhnlich Gott zugeschrieben wird, wird hier auf die Menschheit übertragen, wobei die einzige Grenze der Dialektik der Macht in der Bedrohung des Menschen durch die totale Vernichtung der Erde liegt. Die Übertragung absoluter Freiheit auf den Menschen beruht auf der bewußten Selbstbeschränkung der göttlichen Welt. Im Falle von Auschwitz wäre es allerdings schwierig zu begründen, weshalb Gott, der doch die absolute Güte widerspiegelt, hinsichtlich der menschlichen Freiheit keine Ausnahme gemacht hat. Die Vorstellung, daß Gott auch während der Schoah im freiwilligen Exil blieb und sich absichtlich zurückhielt, obwohl er hätte eingreifen können, deutet nicht nur auf einen Bruch des Bundes, sondern zugleich auf die Existenz des Bösen innerhalb Gottes hin: Er wußte, daß es böse war, hielt es aber nicht auf. Parallel zur Argumentation mit Hilfe der Idee des freiwilligen Rückzugs, die der lurianischen Vorstellung des unfreiwilligen zimzum entgegensteht, behauptet Jonas, Gott habe gerade nicht geschwiegen, obwohl er hätte reden können, sondern weil er nicht reden konnte. Die Vorstellung einer freiwilligen Selbstbegrenzung göttlicher Allmacht hebt die Fähigkeit zur absoluten Güte auf. Es ist offenkundig, daß nicht alle drei Attribute – Güte, Allmacht, Verstehbarkeit – miteinander vereinbar sind, denn jede positive Verbindung von zweien davon schließt das dritte aus.13 Jonas muß zwischen Allmacht und Verstehbarkeit wählen: „Nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor behaupten, daß eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (in ihrem Weltregiment, worin allein wir sie erfassen können) total unverständlich wäre.“14 Diese Art der Mathematik wäre für die mittelalterlichen Theologen unverständlich gewesen: Sie hätten es für undenkbar gehalten, das Gute und Verstehbare anzunehmen und dafür auf die Vorstellung der Allmacht und des Vollkommenen zu verzichten. Dort, wo ein innerer Widerspruch zwischen der Idee, Gott sei weniger als allmächtig, und der Annahme seiner bleibenden Vollkommenheit besteht, zieht Jonas einen verstehbaren Gott einem allmächtigen vor. Die Vorstellung, Gott entdecke sich selbst in der Geschichte und sei daher in seiner
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Macht begrenzt, beruht auf dem Gedanken, es gebe etwas an Gott, was ihm selbst verborgen bleibe. Jonas bezeichnet dies mit dem Begriff „göttlicher Unerforschlichkeit, d. h. Rätselhaftigkeit.“ Dieser Teil der Argumentation ist notwendig, um die Behauptung aufrechtzuerhalten, Gott sei allmächtig (da er sich nur um der Freiheit willen zurückgezogen habe), zugleich sei aber kein Teil von ihm bewußt böse. In dieser Konstellation ist Gottes Unvollkommenheit nicht ein Zeichen des Bösen, sondern Ausdruck seines eigenen Werdens: Die Aussage des Gegenteils – Gott sei zugleich allmächtig und vollkommen – würde nämlich bedeuten, daß er unverstehbar ist. Jonas spricht sich gegen einen vollständig verborgenen Gott aus, das heißt gegen einen der Vernunft unzugänglichen Gott, der aus seiner Sicht ein „unannehmbarer Begriff nach jüdischer Norm“, wenn nicht sogar problematisch für jede Religion wäre.15 Die Vorstellung, die Wege Gottes seien unerforschlich, bietet eine alternative Erklärung für Auschwitz und ist innerhalb des Judentums ein vertrautes Argument. Hier wird die Unterscheidung zwischen göttlichem und profanem Bereich betont: Daß Gottes Wege für uns unerforschlich sind, meint in Wirklichkeit nicht die Auffassung eines irrationalen Gottes. Unerforschlichkeit und Irrationalität sind nicht dasselbe, sondern werden einander nur in dem Augenblick ähnlich, in dem unser Handeln für Gottes Existenz bedeutsam ist. Wäre Gottes Wille nicht zu allen Zeiten gültig, so wäre er fehlbar. Seine Partikularität würde bedeuten, daß man die Gebote eher als Vorschläge betrachten sollte. Jonas möchte daran festhalten, daß Gott in seinem Handeln verstehbar sei, und ringt deshalb zwangsläufig mit einem unverkennbaren Widerspruch: „Wenn aber Gott auf gewisse Weise und in gewissen Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht all-mächtig ist.“16 In seinem Aufsatz zu Ehren von Rudolf Bultmann griff Jonas das Problem der „zwei Mächte im Himmel“ auf, das Bultmann in seiner Auseinandersetzung mit Jonas’ Vorstellung von der „Unsterblichkeit“ vorweggenommen hatte. Dieses Problem ergibt sich aus der Vorstellung, daß Gott das Böse in einem begrenzten Sinn von sich selbst scheidet, daß also das „Handeln
Gottes als nicht ‚zwischen’ weltlichen Ereignissen […], sondern als ‚in’ ihnen verborgene[s] Geschehen“ zu verstehen ist.17 Wenn Gott mit dem Bösen verhandeln muß, liegt es mit Sicherheit außerhalb seiner selbst. Diese Aussage ist offenkundig dazu gedacht, den Beweis zu stärken, wonach Gott gut, aber nicht allmächtig ist. Allerdings liegt hier ein Zwiespalt vor: Um seine Güte zu bewahren, wird das Böse in Gott nach außen verlagert: Er verhandelt mit dem Bösen. In jedem Augenblick innerhalb der Zeit ist seine Güte von genau dem Bösen gefährdet, das er nach außen verlagert und dem er Freiheit gewährt hat, so daß er es fortan nicht mehr zu kontrollieren vermag: Dabei handelt es sich um eine plausible Deutung eines zentralen Textes über die Theodizee im Judentum – der Geschichte Hiobs. Gottes Unfähigkeit, die Welt zu beherrschen, würde zugleich seine Ohnmacht bedeuten, ein Attribut in sich aufrechtzuerhalten: Um die Idee der absoluten Güte zu bewahren, müßte man auch den Begriff der absoluten Allmacht beibehalten.
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III. Nur wenige bestreiten heute, daß die Schoah stattgefunden hat. Die Bemühungen zweier Generationen von Historikern, denen es gelungen ist, einen Großteil der inneren Vorgänge in NaziDeutschland aufzudecken, haben die Wahrnehmung dieser Geschehnisse für alle Zeit verändert. Die Schoah ist dadurch nicht nur Geschichte und ein Teil unseres Geschichtsverständnisses, sie hat auch zweifellos die Geschichte des jüdischen Volkes verändert. Die Frage, welche Jonas’ „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ aufwirft, lautet jedoch, ob die Schoah auch als ein theologisches Ereignis betrachtet werden kann. Kommt ihr auch theologische Bedeutung zu? Erklärt die Schoah die göttliche Absicht, oder ist sie durch sie zu erklären? Theologen sind gewiß weltliche Geschöpfe und werden von weltlichen Ereignissen ebenso überrascht wie Historiker. Doch macht das Faktum ihrer Existenz als Subjekte ihren Gegenstand historisch? R. G. Collingwood definiert historische Ereignisse in The Principles of History als in Gedanken verkörperte Handlungen. Er 179
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verwendet den Begriff res gestae, um menschliches Handeln von Naturereignissen und vom Gottesgeschehen zu unterscheiden: „Traditionell sagen Historiker, die Geschichte vermittle Erkenntnisse über res gestae, die im Sinne menschlicher Taten verstanden wurden. Hinter dieser Formel verbirgt sich die Vorstellung, die Geschichtswissenschaft strebe nur insofern nach Erkenntnis der Ereignisse, als diese Handlungen die Rationalität verkörperten und zum Ausdruck brächten, die – gemäß einer parallelen Tradition – dem Menschen unter den Lebewesen auszeichne.“18 Collingwood ist sich mit den europäischen Naturwissenschaften hinsichtlich der Prämisse einig, daß sich die Menschen von der übrigen natürlichen Welt durch die Fähigkeit unterscheiden, der sie umgebenden Welt etwas hinzuzufügen, den Charakter ihrer Umwelt und Kultur grundsätzlich zu verändern: „Der Mensch“, schreibt er, „ist nicht nur animal, sondern animal rationale, und es geschieht kraft seiner Rationalität, daß er nicht nur ißt, sondern speist, nicht nur begattet, sondern heiratet, nicht nur stirbt, sondern auch begraben wird.“19 Die Fähigkeit, Gedanken in Handlungen zu fassen, bedeutet, sie mittels der Sprache auszudrücken – eine Gabe, die menschliches Handeln zusätzlich als in weltliche Ausdrucksformen übersetzte Gedanken auszeichnet. Gestae Dei werden auf Grund eines ähnlichen Prinzips erkannt. Während sich die Menschen dadurch von der Natur unterscheiden, daß sie ihre Geschichte durch Handlungen vorantreiben, die Gedanken verkörpern, stellt das Handeln Gottes den ungehinderten Ausdruck göttlichen Willens dar. So wie die Natur den res gestae ausgesetzt ist, ohne die aktive Fähigkeit zur Rücksprache und Wechselseitigkeit zu besitzen, vollziehen sich auch die gestae Dei unabhängig vom menschlichen Willen und Handeln. Wo sich die Handlungen Gottes auf menschliche Angelegenheiten auswirken oder durch menschliche Handlungsträger ausgeführt werden, betreten sie den Bereich der Geschichte und sind der Geschichte unterworfen. Und genau hier entsteht das Problem: Die Handlungen Gottes selbst unterliegen nicht menschlichem Denken, denn sie vollziehen sich entweder unabhängig von unserem Wissen, oder sie sind vollständig auf unser Verstehen begrenzt, wären dann aber nicht mehr heilig. Halten wir die Kategorie der res gestae und der gestae Dei um der Geschichte als Gegenstand
des Menschlichen und um der Theologie als der Erforschung des göttlichen Willens willen aufrecht, so müssen wir zwischen Geschichte und Theologie unterscheiden. Die Behauptung liegt nahe, daß die historische Hypothese der Theologie der Schoah sich nicht mit einem denkbaren Gottesbegriff in Einklang bringen läßt. An dieser wichtigen Wegmarke teilen sich die Wege der Geschichte und der Theologie. Theologen sind historische Wesen, die Hermeneutik der Theologie ist eminent historisch, doch nicht die Wissenschaft von Gott. Sind wir bereit, die Geschichte von der Theologie zu trennen und zu behaupten, daß die Denkbarkeit des Gottesbegriffs unmittelbar mit etwas Universalem zusammenhängt, so kann auch nicht von einem zeitlichen Gott die Rede sein. Mit Blick auf die Auswirkung der Schoah auf die jüdische Theologie gilt es dann zu fragen, ob das Geschehen von Auschwitz als andere Kategorie der Katastrophe gelten kann als die Zerstörung der jüdischen Theokratie und Souveränität im Jahre 70 u. Z. oder als die Vertreibung der Juden aus Spanien 1492. Waren dies für das jüdische Volk weniger zerstörerische und entmenschlichende Ereignisse? Wie könnten res gestae göttliche Vorsehung zur Wirkung bringen oder unsere Gotteserkenntnis grundsätzlich verändern? Von Gott zu reden heißt Kenntnis von einem nicht an die Zeit gebundenen Wesen zu suchen. Es ist daher offenkundig, daß sich Gottes Wahrnehmung des Leids nicht verändern kann. Aller Kummer und alles Leid müssen Gott auf dieselbe Weise betreffen. Während die Historiker die Anzahl der Züge und die Menge des Goldes berechnen – und jeder Gerechtigkeitsbegriff beharrt darauf, daß dies fortzusetzen ist, bis alle Täter zur Rechenschaft gezogen wurden –, bleibt Gott der Schoah gegenüber zwangsläufig gleichgültig. Die Gleichgültigkeit der göttlichen Welt gegenüber dem menschlichen Leid beruht auf der gleichen Problematik wie die Frage nach dem Gebet und der Erfüllung der Verpflichtungen. Gott steht beiden gleichgültig gegenüber. Wenn die zehn Gebote keine Vorschläge sind, so ist die göttliche Vorsehung auch nicht für Veränderungen offen: Unsere Welt ist die Erfüllung eines sich entfaltenden göttlichen Plans. Alles andere würde Gott unseren Launen und Wünschen unterwerfen. Der Einwand Martin
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Luthers gegen die Vorstellung eines Heils durch irdische Reue stellt zugleich ein Problem für die Idee der Verdammnis dar. Das Problem ist das der Theurgie: der Fähigkeit der Menschen, den göttlichen Plan durch ihr eigenes Handeln zu ergänzen. Die res gestae überholen die gestae Dei. Gott brauchte die Schoah nicht, so wie er weder die Inquisition noch die Zerstörung des Zweiten Tempels brauchte. War es der Zweck der Schoah, Gott aus dem Bereich des Handelns zu verdrängen und ihn durch die Epoche von Auschwitz zu ersetzen, so könnte man wagen zu behaupten, daß ihn das gesamte Unterfangen nicht beeindruckte. Ausgehend von einer allmächtigen Kraft konnte die Schoah ihn nicht zum Rückzug bewegen oder dazu, den umgekehrten Kurs einzuschlagen. Hätte der unbewegte Beweger beschlossen umzuziehen, so wäre er, wie einst Kafka bemerkte, in ein höheres Stockwerk gezogen, und dies hätte längst vor der Schoah stattgefunden. Das Hauptergebnis mit Blick auf die Schoah und das Judentum hat nichts mit Gott zu tun, da dieser nicht den Gesetzen und Bräuchen des Judentums unterliegt, sondern dem jüdischen Volk und seiner Theologie. Mit der Bedrohung der Existenz des jüdischen Volkes und der daraus folgenden Frage nach der fortdauernden Gültigkeit des Bundes hat die Theologie der Schoah ein wichtiges Thema neu aufgegriffen: die Zerstörung der jüdischen Theokratie. Das Wissen um den Vorgang der Vernichtung und der unkontrollierte Patriotismus im jüdischen Staat haben die Glaubensfrage durch andere Formen historischer Aktivität ersetzt. Die Theologie des Überlebens des jüdischen Volkes hat die Wissenschaft von Gott an Bedeutung überholt. Mit der Entstehung und der Entwicklung zweier Alternativen zum jüdischen Glauben – Patriotismus und Geschichte, Israel oder Auschwitz – sind wir Zeugen einer stetigen Reduzierung der jüdischen Theologie auf eine neue Religion im Dienste des Staates und einer komplexeren Form politischer Theologie geworden. Im Gegensatz zur Theologie der Schoah postuliert Hans Jonas’ Essay „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ keinen historischen oder politischen Ersatz. Allerdings setzt er den Gottesbegriff einem Bereich aus, in dem wir Auschwitz zu verstehen versuchen.
Hans Jonas gründet seinen Gottesbegriff auf eine lange Tradition historischen Einflusses auf die jüdische Theologie. Mit dem Leitmotiv des Essays, dem Mythos des Rückzuges, bringt er uns bemerkenswert nahe an die von der lurianischen Kabbala vertretene Theorie einer göttlichen Katastrophe. Eine Dreiteilung der göttlichen Attribute in Güte, Allmacht und Verstehbarkeit erweist sich als unvereinbar mit einem denkbaren Gottesbegriff. Jonas gibt der Güte und Verstehbarkeit den Vorzug vor der Allmacht, doch er ist nicht imstande, sich gegen die Vorstellung einer zweiten Macht im Himmel abzusichern. Es wird ziemlich deutlich, daß Jonas mit Hilfe einer sorgfältig ausgearbeiteten Analyse der göttlichen Attribute und der Anwendung des Mythos auf der Suche nach einer göttlichen Erklärung der Schoah ist, und zwar nicht – jedenfalls nicht allein – vom Standpunkt der Vernunft aus, sondern aus dem Inneren des Judentums heraus. Ein Mensch, der innerhalb des Judentums Antworten auf historische Erscheinungen sucht, mag ein Jude oder ein Philosoph sein, doch sein Gegenstand ist jüdische Philosophie.
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Henrix: Machtentsagung Gottes?
II. Hans Jonas – eine jüdische Stimme in finsterer Zeit
Hans Hermann Henrix
Machtentsagung Gottes? Eine kritische Würdigung des Gottesverständnisses von Hans Jonas1 I. Von der Wahrheit authentischer und fiktiver Texte Unter den jüdischen Wortmeldungen, die dem abgrundtiefen Schrecken von Auschwitz ein Echo und dem Entsetzen über die Schoa Ausdruck verliehen, gibt es viele ergreifende und authentische Texte. Für den Menschen, der von der Frage umgetrieben wird, wie denn angesichts der Wirklichkeit von Auschwitz überhaupt von Gott zu denken und zu reden sei, erlangen Texte, die im Blick auf die Schoa nach der Existenz und dem Verstehen Gottes fragen, lebens- und glaubensbestimmende Bedeutung. So hat sich dem einen jener Bericht unvergeßlich in das Herz und den Sinn eingebrannt, den Elie Wiesel über den sich qualvoll langsamen Tod des Knaben Pipel am Galgen auf dem Appellplatz von Auschwitz schrieb und der die Frage stellt: „Wo ist Gott?“2 Der andere greift immer neu zum Text „Jossel Sohn des Jossel Rackower aus Tarnopol spricht zu Gott“, zu jenem „schönen und wahren Text, wahr, wie nur Fiktion es sein kann“, der sich als Dokument der letzten Stunden des Widerstands des Warschauer Gettos gibt.3 Und ein dritter, der das Angerührtsein durch literarische Zeugnisse des Gottesringens nach Auschwitz fürchtet und deshalb die denkerisch-intellektuelle Auseinandersetzung sucht, hält sich vielleicht an Emil Fackenheims „Gebietende Stimme von Auschwitz“4 – einen Text, der in der Schwebe zwischen Theodizee und Anthropodizee verharrt und dem jüdischen Volk als Imperativ, der von Auschwitz ausgeht, ein neues elftes Gebot vermitteln möchte, nämlich das jüdische Volk und den jüdischen Glauben zu bewahren, um Hitler nicht noch einen postumen Sieg zu verleihen. 184
Gehört zu diesen Texten auch Hans Jonas’ Gottesbegriff nach Auschwitz5? Der Autor versteht seine Wortmeldung als „eine jüdische Stimme“ in „finsterer Zeit“. Ohne Umschweife nennt er seinen Vortrag „ein Stück unverhüllt spekulativer Theologie.“6 Es ist Theologie als Theodizee, und dies weniger als Theodizeefrage denn mehr als eine Antwort, mit der Gott von der Anklage freigesprochen scheint, für das Böse in der Welt und darin Auschwitz verantwortlich zu sein. An diesem Charakter seiner Wortmeldung mag es liegen, daß Hans Jonas’ Vortrag eigene Würdigungen in der deutschsprachigen christlichen Theologie und Philosophie erfahren hat7 – eine Aufmerksamkeit, welche die christliche Theologie den anderen genannten jüdischen Stimmen nur zögernd widmet.8 Was ist das Besondere seines Gottesbegriffs nach Auschwitz? Wer Hans Jonas von seinen natur- und technikphilosophischen sowie seinen ethischen Arbeiten her kannte, vermutete bei ihm nicht ohne weiteres ein theologisches und religionshistorisches Interesse. Seine philosophischen Arbeiten atmen eine erkennbare Skepsis gegenüber dem Gottesbegriff, die in den Kontext des neuzeitlichen Nihilismus plaziert wurde; seine Ethik entwirft einen Begründungshorizont, in dem Gott nicht vorkommt.9 Und doch hat ihn die Gottesfrage nie losgelassen. Für die deutschsprachige Öffentlichkeit wurde dies offenkundig, als er für die Dankesrede zur Verleihung des Dr.-Leopold-Lucas-Preises der EvangelischTheologischen Fakultät Tübingen 1984 das Thema „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ wählte und seinen Entwurf erneut einem großen Auditorium beim Münchener Katholikentag im gleichen Jahr vorstellte. Der Spannung zwischen der methodisch-nihilistischen Skepsis in seinen philosophischen Arbeiten und dem fortgeführten Interesse an der Gottesfrage ist er in seinen letzten Lebensjahren mehrfach nachgegangen.10 Hans Jonas „drängte“ sich das Thema seiner Tübinger Dankesrede „unwiderstehlich“ auf, weil es das gemeinsame Schicksal seiner eigenen Mutter und der Mutter des Stifters des ihm verliehenen Preises war, in Auschwitz ermordet worden zu sein. Die Wahl des Themas geschah „mit Furcht und Zittern“ und hatte 185
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Henrix: Machtentsagung Gottes?
existentielle Tiefe: „Ich glaubte es jenen Schatten schuldig zu sein, ihnen so etwas wie eine Antwort auf ihren längst verhallten Schrei zu einem stummen Gott nicht zu versagen.“11 Der Schrei der Ermordeten klingt nach in der Klage des Überlebenden, die mit dem Wort vom stummen Gott eingestimmt scheint. Jonas’ Antwort auf den verhallten Schrei der Ermordeten ist ein Vortreiben des zutiefst Menschlichen und Existentiellen ins Philosophische bzw. Theologische. Diesen Lebenszusammenhang gilt es sich bewußt zu machen, wenn man feststellt, daß seinen Überlegungen ein deutlicher Zug des Spekulativen eignet, der wie abgehoben scheint vom Menschlichen. „Was hat Auschwitz dem hinzugefügt, was man schon immer wissen konnte vom Ausmaß des Schrecklichen und Entsetzlichen, was Menschen anderen Menschen antun können und seit je getan haben?“12 Auschwitz provoziert für Hans Jonas diese Frage. Er beantwortet sie indirekt, indem er ausführt, daß überlieferte Antworten auf die Gottesfrage nach Auschwitz keinen Bestand mehr haben. Göttliche Heimsuchung des untreuen Bundesvolkes kann für ihn ebensowenig eine Bedeutungserhellung der Schoa sein, wie die in der Makkabäerzeit artikulierte Idee der Zeugenschaft des Leidenden, des Märtyrers, dessen Opfer und Lebenshingabe die Verheißung der Erlösung durch den kommenden Messias bekräftigte. Demgemäß kann auch nicht mehr die mittelalterliche Märtyrerfrömmigkeit der „Heiligung des Namens“ (Kidduschhaschem) verfangen. „Von alledem wußte Auschwitz nichts, das auch die unmündigen Kinder verschlang […]. Kein Schimmer des Menschenadels wurde den zur Endlösung Bestimmten gelassen, nichts davon war bei den überlebenden Skelettgespenstern der befreiten Lager noch erkennbar.“13 Für den Juden, dem das Diesseits Ort göttlicher Schöpfung, Offenbarung und Erlösung ist, gilt Gott als Hüter dieses Ortes und Herr der Geschichte. Und da stellt Auschwitz denn für den gläubigen Juden „den ganzen überlieferten Gottesbegriff“ in Frage. Es fügt „der jüdischen Geschichtserfahrung ein Niedagewesenes hinzu“, das mit den alten theologischen Kategorien nicht zu meistern ist.14 Diese Feststellung ist Proömium, Vorspann des Credo Hans Jonas’, der vom Gottesbegriff nicht lassen will. Er kann die Vorentscheidung zu seinem Credo in der Form einer neuen, allem zum Trotz dennoch mit
Gott rechnenden Antwort auch anders ausdrücken: „Den ‚Herrn der Geschichte’ wird er dabei“ – so lautet die vorweggenommene Konsequenz des Credos von Hans Jonas – „wohl fahrenlassen müssen“.15 Jonas fragt unter theologisch-religionsphilosophischem Aspekt gleichsam nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Geschichte, in der Auschwitz geschehen konnte. Ein Gott, der „mit starker Hand und ausgestrecktem Arm“ in die Geschehnisse der Geschichte eingreift, zählt für ihn nicht zu den denkbaren Voraussetzungen einer Geschichte, in der es zur Schoa kommen konnte. Gott im Angesicht von Auschwitz zu denken, heißt für ihn, Gottes Verhältnis zur Geschichte neu zu bestimmen, ja, bereits Gott den Schöpfer anders zu denken. Den Begriff des Schöpfergottes bestimmte Hans Jonas in der Tat so, „daß die Erfahrung von Auschwitz theologisch artikulierbar wird.“16 Für diesen transzendental bestimmten Gottesbegriff greift Hans Jonas zu einem „selbsterdachten Mythos“.17
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III. Hans Jonas’ selbsterdachter Mythos und seine theologische Bedeutung „Im Anfang, aus unerkennbarer Wahl, entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich: Da sie einging in das Abenteuer von Raum und Zeit, hielt die Gottheit nichts von sich zurück; kein unergriffener und immuner Teil von ihr blieb, um die umwegige Ausformung ihres Schicksals in der Schöpfung von jenseits her zu lenken, zu berichtigen und letztlich zu garantieren. Auf dieser bedingungslosen Immanenz besteht der moderne Geist. Es ist sein Mut und seine Verzweiflung, in jedem Fall seine bittere Ehrlichkeit, unser In-der-Welt-Sein ernst zu nehmen: die Welt als sich selbst überlassen zu sehen, ihre Gesetze als keine Einmischung duldend, und die Strenge unserer Zugehörigkeit als durch keine außerweltliche Vorsehung gemildert. Dasselbe fordert unser Mythos von Gottes In-der-Welt-Sein. Nicht aber im Sinne pantheistischer Immanenz […]. Vielmehr, damit Welt sei, und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; er entkleidete sich seiner Gottheit, um sie zurückzuempfangen von der Odyssee der
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Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch sie. In solcher Selbstpreisgabe göttlicher Integrität um des vorbehaltlosen Werdens willen kann kein anderes Vorwissen zugestanden werden als das der Möglichkeiten, die kosmisches Sein durch seine eigenen Bedingungen gewährt: Eben diesen Bedingungen lieferte Gott seine Sache aus, da er sich entäußerte zugunsten der Welt.“18
In seinem Mythos verfolgt Hans Jonas das Geschick des sich in die Welt hinein entäußernden Gottes durch den Lauf der Zeiten. Und er denkt diesen Zeitenlauf evolutiv. In den Äonen vor der Regung von Leben bedeutet die Welt noch keine Gefährdung ihres Schöpfers, der sich ihr anheimgegeben hat. Diese hebt erst mit dem immer mannigfacher und intensiver werdenden Streben biologischer Evolution an: Die Ewigkeit gewinnt „Kraft, füllt sich mit Inhalt um Inhalt von Selbstbejahung, und zum erstenmal kann der erwachende Gott sagen, die Schöpfung sei gut.“19 Mit dem Leben kam aber auch der Tod; Sterblichkeit ist also der Preis für die höhere Form des Seins, das in der Schwungkraft evolutiver Entwicklung den Menschen hervorbringt. Die Heraufkunft des Menschen hat auch für Gott ihren Preis, nämlich jenen, daß seine Sache nun „fehlgehen kann“.20 Die Unschuld des Lebens macht nunmehr „Platz für die Aufgabe der Verantwortung unter der Disjunktion von Gut und Böse. Das Bild Gottes […] geht mit dieser letzten Wendung in die fragwürdige Verwahrung des Menschen über, um erfüllt, gerettet oder verdorben zu werden durch das, was er mit sich und der Welt tut.“21 Gottes Geschick vollzieht sich also im bangenden und hoffenden Beobachten, Mitgehen und Verfolgen des menschlichen Tuns oder, wie Jonas es selbst formuliert: Die Transzendenz „begleitet hinfort sein [des Menschen] Tun mit angehaltenem Atem, hoffend und werbend, mit Freude und mit Trauer, mit Befriedigung und Enttäuschung und, wie ich glauben möchte, sich ihm fühlbar machend, ohne doch in die Dynamik des weltlichen Schauplatzes einzugreifen.“22 Hans Jonas’ Mythos besitzt Originalität, Sprachgewalt und spekulative Kraft. Sein Ausdrucksmittel ist das Bildliche. Man spürt sogleich das Folgenreiche dieses Entwurfs für das Gottesverständnis traditioneller Prägung. Nach eigenem Bekenntnis ist 188
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Jonas dies erst allmählich bewußt geworden, und – als Jude, der an seinem Judentum festhielt – sah er sich genötigt, seinen Entwurf „mit der verantwortlichen Überlieferung jüdisch-religiösen Denkens zu verknüpfen.“23 Implizit spricht Jonas’ mythologische Spekulation zugleich von einem leidenden, einem werdenden und einem sich sorgenden Gott. Die biblische „Vorstellung göttlicher Majestät“24 widerspricht nur auf den ersten Blick der Rede vom leidenden Gott; kann doch die Hebräische Bibel durchaus beredt vom Kummer, von der Reue und von der Enttäuschung Gottes gegenüber dem Menschen und besonders seinem erwählten Volk sprechen. Der Gedanke eines werdenden Gottes mag der klassischen, von griechischer Philosophie angestoßenen theologischen Attributenlehre und ihrer Aussage von der Unveränderlichkeit Gottes zuwiderlaufen, ist aber aus Jonas’ Sicht „in der bloßen Tatsache“ begründet, daß Gott „von dem, was in der Welt geschieht, affiziert wird, und ‚affiziert’ heißt alteriert, im Zustand verändert. Also, wenn Gott in irgendeiner Beziehung zur Welt steht, dann hat hierdurch allein der Ewige sich ‚verzeitlicht’.“25 Eine nähere inhaltliche Bestimmung der „Verzeitlichung“ Gottes vollzieht die Aussage vom sich sorgenden Gott: „Daß Gott um und für seine Geschöpfe Sorge trägt, gehört natürlich zu den vertrautesten Grundsätzen jüdischen Glaubens.“26 Soweit hält Hans Jonas seinen Mythos nach eigener Aussage für mit der jüdischen theologischen Tradition vermittelbar. Unvereinbar mit ihr erscheint ihm jedoch die Verneinung der göttlichen Omnipotenz, zu der er sich philosophisch genötigt sieht. „Der kritischste Punkt in unserem spekulativen Wagnis ist: Dies ist nicht ein allmächtiger Gott! In der Tat behaupten wir, um unseres Gottesbildes willen und um unseres ganzen Verhältnisses zum Göttlichen willen, daß wir die althergebrachte (mittelalterliche) Doktrin absoluter, unbegrenzter göttlicher Macht nicht aufrechterhalten können.“27 Die Zurückweisung der Vorstellung von der Allmacht Gottes leitet er, noch bevor er sie von Auschwitz her kritisch in den Blick nimmt, zunächst aus Aporien her, die grundsätzlich schon aus Gründen der Logik mit dem Begriff selbst verbunden sind: Da Allmacht als „absolute Alleinmacht“ in ihrer Einsamkeit keinen Gegenstand besitze, auf den sie wirken könne, wäre sie ohnehin widerstandslose und daher machtlose 189
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Macht.28 Theologisch wendet er ein: „Göttliche Allmacht kann mit göttlicher Güte nur zusammenbestehen um den Preis göttlicher Unerforschlichkeit, d. h. Rätselhaftigkeit. […] Allgemeiner gesagt, die drei Attribute […] absolute Güte, absolute Macht und Verstehbarkeit stehen in einem solchen Verhältnis, daß jede Verbindung von zweien von ihnen das dritte ausschließt.“29 Die Güte und die Verstehbarkeit Gott absprechen zu wollen, hieße, seine Gottheit zu destruieren und einen „nach jüdischer Norm“ ganz unannehmbaren Begriff Gottes zu statuieren.30 Deshalb läßt sich einzig der Begriff der Allmacht, der schon in sich selbst als zweifelhaft befunden wurde, zur Disposition stellen. Die Verabschiedung göttlicher Allmacht im absoluten Sinn ließe sich aber, so Jonas, durchaus noch „in Kontinuität mit dem jüdischen Erbe“ theologisch aussagen, sofern man die Begrenzung göttlicher Macht als „ein Zugeständnis von Gottes Seite“ interpretiert – als ein Zugeständnis, „das er [Gott] widerrufen kann, wann es ihm beliebt.“31 Doch die Idee einer – auf Widerruf – selbstgewählten Begrenzung göttlicher Allmacht überzeugt Jonas nicht, ließe sie doch die faktisch geschehene Geschichte unbegriffen: Auschwitz bliebe theologisch ungedacht, und Gott würde ohne Hinsicht auf Auschwitz verstanden. Aus Jonas’ Perspektive ließe eine frei gewählte, widerrufbare Selbstbegrenzung Gottes in seiner Macht „erwarten, daß der gute Gott die eigene Regel selbst äußerster Zurückhaltung seiner Macht dann und wann bricht und mit dem rettenden Wunder eingreift. Doch kein rettendes Wunder geschah; durch die Jahre des AuschwitzWütens schwieg Gott. Die Wunder, die geschahen, kamen von Menschen allein: die Taten jener einzelnen, oft unbekannten Gerechten unter den Völkern, die selbst das letzte Opfer nicht scheuten, um zu retten, zu lindern, ja, wenn es nicht anders ging, hierbei das Los Israels zu teilen. […] Aber Gott schwieg. Und da sage ich nun: nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein.“32 Jonas kann also Auschwitz und Gott nur um den Preis des Verzichts auf die Rede von einem Gott „mit starker Hand und ausgestrecktem Arm“ zusammendenken. Im Angesicht von Auschwitz ist „die Ohnmacht Gottes“ in bezug auf das Physische zu proponieren. Diese Ohnmacht hat ihren Ursprung jedoch nicht in einer erst im Verlauf der Geschichte
getroffenen Entscheidung, sondern im Wollen einer Schöpfung selbst. Schöpfung aus dem Nichts war schon in sich Selbstbegrenzung, „Selbstbeschränkung, die Raum gibt für die Existenz und Autonomie einer Welt. Die Schöpfung war der Akt der absoluten Souveränität, mit dem sie um des Daseins selbstbestimmter Endlichkeit willen einwilligte, nicht länger absolut zu sein.“33 Einen Anknüpfungspunkt für sein spekulatives Wagnis, den Gottes- und Schöpferbegriff so zuzuspitzen, erblickt Hans Jonas – mit Blick auf die jüdische Tradition – in den „hochoriginelle[n] und sehr unorthodoxe[n] Spekulationen“ der Kabbala über den Gedanken des zimzum. Als „Kontraktion, Rückzug, Selbsteinschränkung“ verstanden, ist der Akt des göttlichen zimzum Bedingung der Möglichkeit für die Schöpfung der Welt: „Um Raum zu machen für die Welt, mußte […] der Unendliche sich in sich selbst zusammenziehen und so außer sich die Leere, das Nichts entstehen lassen, in dem und aus dem er die Welt schaffen konnte. Ohne diese Rücknahme in sich selbst könnte es kein anderes außerhalb Gottes geben.“34 Mit seinem Verweis auf dieses Element der jüdischen Mystik vermag Jonas seinen Mythos von der Machtentsagung Gottes zu stützen, der jedoch im Vergleich zur lurianischen Kabbala des sechzehnten Jahrhunderts radikalisiert erscheint. Im Zuge des kabbalistisch verstandenen zimzum bewahrt Gott seine Souveränität gegenüber der Schöpfung. Er bleibt souveränes Gegenüber zur Welt, da es sich lediglich um eine partielle Kontraktion und Selbstentäußerung handelt. Jonas dagegen postuliert eine totale Entäußerung, eine Zusammenziehung, die Gott zwar nicht auf ein Nichts reduziert, aber seine bedingungslose Immanenz zur Folge hat:35 Das Unendliche entäußert sich seiner Macht nach „als Ganzes“ ins Endliche und überantwortet sich ihm damit unwiderruflich.36 Daß er dabei nichts als Unergriffenes und Immunes für sich behält,37 wirft jedoch die Frage auf: „Läßt das noch etwas übrig für ein Gottesverhältnis?“ Transzendenz scheint in Jonas’ Mythos restlos in Immanenz aufgelöst und eingetaucht. Ob – paradox genug – aus der Immanenz die Transzendenz wieder auftaucht, bleibt, wie Jonas in seiner Antwort auf die von ihm selbst formulierte Frage geltend macht, dem Menschen anheimgegeben: „Nachdem er [Gott] sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts
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mehr zu geben: Jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben.“ Der Mensch aber tut dies, wenn er darauf achtet, daß es Gott nicht um die Schöpfung der Welt gereuen muß. „Dies“, so meint Hans Jonas, „könnte wohl das Geheimnis der unbekannten ‚sechsunddreißig Gerechten’ sein, die nach jüdischer Lehre der Welt zu ihrem Fortbestand niemals mangeln sollen“.38 Der Philosoph rechnet mit der Möglichkeit, daß es welterhaltende Gerechte auch „in unserer Zeit“ und also in Auschwitz gab; dabei denkt er an die von ihm erwähnten „Gerechten aus den Völkern“, die in der Abgrundtiefe der Schoa ihr Leben für Israel gaben. In den sechsundreißig Gerechten tritt die ganz in der Immanenz verborgene Transzendenz als „Heiligkeit“ hervor, die „es vermag, zahllose Schuld aufzuwiegen, die Rechnung einer Generation gleichzustellen und den Frieden des unsichtbaren Reiches zu retten.“39 Auschwitz erscheint bei Jonas zugleich als Ort des Scheiterns des Wagnisses Gottes, der sich mit seiner Selbstbegrenzung in der Schöpfung selbst aufs Spiel setzte, sowie als Ort, wo aus der Asche der gescheiterten Sache Gottes die unkenntlich gewordene Transzendenz Gottes als Heiligkeit in der Gestalt der Gerechten hervortritt. Der selbsterdachte Mythos ist hier zuletzt ins Existentielle übersetzt.
aber Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht allmächtig ist.“41 Dieses Kriterium der Verstehbarkeit sieht Jonas ganz zentral in der jüdischen Tradition verankert: „Der deus absconditus, der verborgene Gott (nicht zu reden vom absurden Gott) ist eine zutiefst unjüdische Vorstellung.“42 Wie strittig diese Prämisse innerjüdisch ist, zeigt jedoch etwa ein Glaubensverständnis, das sich von der „Akeda“ herleitet, von der Prüfung Abrahams durch Gottes Forderung, seinen Sohn Isaak zu opfern. So kann Michael Wyschogrod konstatieren: „Der jüdische Glaube ist […] von Anbeginn an Glaube, daß Gott tun kann, was menschlich unbegreifbar ist“, und mit Blick auf Auschwitz formulieren: „In unserer Zeit schließt das den Glauben ein, daß trotz Auschwitz Gott Seine Verheißung erfüllen wird, Israel und die Welt zu erlösen. Kann ich verstehen, wie das möglich ist? Nein.“43 Diese Position verweigert sich der neuzeitlichen Variante der Theodizee, weil sie implizit den Ausweis der Rede von Gott vor dem Gerichtshof der Vernunft als nicht entscheidend betrachtet. Jonas entscheidet sich aber mit seinem leitenden Kriterium der Verstehbarkeit für einen Diskurs im Kontext der neuzeitlichen Theodizeefrage. Er findet dabei für das, was er zu sagen hat, sehr wohl die jüdischen Worte.44 Mit Kategorien jüdischer Tradition vermittelt und zugleich „selbsterdacht“45, entwickelt sein Mythos den Gottesbegriff auf eigene Rechnung und Gefahr. Jonas weiß darum und entfernt sich nach eigenem Bekunden „weit von ältester jüdischer Lehre.“46 Ist Hans Jonas damit automatisch noch einmal weiter von christlicher Lehre entfernt? Der christliche Leseeindruck wird nicht vorschnell auf einen einfach bündigen Befund gehen können. Vielmehr kommt er vom Doppeleindruck der Nähe und der Differenz nicht los. Die Nähe mag versuchsweise mit Hans Urs von Balthasars Wort von der „formalen Christologie“ assoziiert werden.47 Differenz aber besteht, da es eine „Christologie ohne Christus“ wäre. Jonas’ Mythos mit dem Wort von der „formalen Christologie“ in Verbindung zu bringen, findet bei ihm selbst Entsprechung. Mehr als zwanzig Jahre vor seiner Tübinger Dankesrede hatte Jonas seinen Mythos innerhalb einer Vorlesung mit
IV. Zur Würdigung des Gottesverständnisses bei Hans Jonas Hans Jonas’ Mythos ist ein bewegender, herausfordernder Entwurf. Er wägt die überkommene Rede von Gott, möchte von ihm angesichts der Schoa sprechen und tut dies in der Zuspitzung auf die neuzeitliche Theodizeeproblematik: Die Rede von Gottes Güte und Allmacht steht im Angesicht von Auschwitz auf dem Prüfstand, insofern sie der Forderung nach der Verstehbarkeit Gottes standzuhalten hat. Die prinzipielle Verstehbarkeit Gottes wird hier zum leitenden Kriterium, vor dem sich jegliche Rede von Gott ausweisen muß. Darin hat sie ihr forensisches Moment, das ein solches der Vernunft ist.40 Jonas drängt nicht auf eine Verstehbarkeit in dem Sinne, daß der Mensch ihn vollständig durchschauen kann, besteht aber darauf, „daß wir Gott verstehen können, nicht vollständig natürlich, aber etwas von ihm […]. Wenn 192
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dem Titel „Unsterblichkeit und heutige Existenz“48 zum ersten Mal skizziert und seinem Lehrer und Freund Rudolf Bultmann vorgelegt. In einem sich anschließenden Briefwechsel mit letzterem49 kennzeichnete Jonas das Abenteuer Gottes, sich ganz auf die Welt und Geschichte einzulassen, durchgängig mit einem ganz und gar christlichen Begriff: Vor seinem christlichen Gesprächspartner scheute er sich nicht, von „totaler ‚Inkarnation’“, vom „vollen Wagnis“ oder vom „Opfer der Inkarnation“ zu reden, ja, er ließ sich sogar die Interpretation gefallen, sein Mythos sei ein „nicht-trinitarischer Inkarnationsmythos.“50 Um solche Charakterisierung wissend, warnte Jonas zwanzig Jahre später seine Tübinger Hörerschaft vor der Verwechslung seines Mythos mit der christlichen Bedeutung: „Er [sein Mythos] spricht nicht, wie jener christliche Ausdruck vom leidenden Gott es tut, von einem einmaligen Akt, durch den die Gottheit zu einer bestimmten Zeit, und zu dem besonderen Zweck der Erlösung des Menschen, einen Teil ihrer selbst in eine bestimmte Leidenssituation sandte.“ Vielmehr sei das geradezu inkarnatorische Verhältnis Gottes zur Welt „vom Augenblick der Schöpfung an“ als eine für Gott leidvolle Beziehung zu verstehen.51 Daß die Warnung vor Verwechslung ausgesprochen und die Unterscheidung verdeutlicht werden mußte, spricht allerdings bereits für eine gewisse Nähe. Nähe zur christlichen Theologie, die gewiß weder Einheit noch Einverständnis besagt, zeigt sich außerdem darin, daß auch christlicherseits der klassische Gottesbegriff in die Krise geraten ist, ja, daß diese Krise des christlich-theistischen Gottesbegriffs vornehmlich eine Krise des Begriffs göttlicher Allmacht ist.52 Die an hellenistischer Philosophie geschulte Dogmatik hat nicht zuletzt aus den von Hans Jonas angesprochenen Gründen der zeitgenössischen Erfahrung die „menschlichen“ Züge im biblischen Gottesbild wiederentdeckt. Die Prädikationen des Mitleidens und Schmerzes Gottes werden in der christlichen Theologie wieder verstärkt entfaltet und führen zu neuen Interpretationen der Allmacht Gottes als Macht der Liebe Gottes. Bereits vor der Wortmeldung von Hans Jonas deutete Jürgen Moltmann – bezeichnend genug – Gottes Schöpfermacht in Aufnahme des jüdischkabbalistischen Gedankens des zimzum und postulierte eine Selbstbegrenzung des allmächtigen und allgegenwärtigen Gottes,
die der Schöpfung vorausgehe: „Gott schafft, […] indem und weil er sich zurücknimmt.“ Die machtvolle Schöpfung sei als „eine Selbsterniedrigung Gottes in die eigene Ohnmacht“ zu denken, als „ein Werk göttlicher Demut und göttlicher Einkehr in sich selbst. Gott handelt an sich selbst, wenn er schöpferisch handelt. Seine Aktion ist in seiner Passion begründet.“53 Schöpfungstheologisch nötigte der Entwurf von Jonas auch Eberhard Jüngel zu einer Präzisierung des Begriffs ursprünglichen Anfangens „im Sinne einer göttlichen Selbstbegrenzung.“54 Die kabbalistische zimzum-Vorstellung als Bezugspunkt der Schöpfungsinterpretation regte die genannten Theologen ebenso an wie Hans Jonas. Solche Nähe beschränkt sich nicht allein auf den Begriff der göttlichen Schöpfungsmacht und des Schöpfergottes. Sie stellt sich auch ein, wenn man nach christlichem Verständnis der göttlichen Macht in ihrem Bezug zur Geschichte fragt. In den Spuren des Mythos von Jonas begleitet Gott das menschliche Tun mit „angehaltenem Atem, hoffend und werbend“,55 hat Gott sich für die „Zeit des fortgehenden Weltprozesses“, das heißt für die Geschichte, „jeder Macht der Einmischung in den physischen Verlauf der Weltdinge begeben.“ Gott antwortet „dem Aufprall des weltlichen Geschehens auf sein eigenes Sein […] nicht ‚mit starker Hand und ausgestrecktem Arm’ […], sondern mit dem eindringlich-stummen Werben seines unerfüllten Zieles.“56 Analog zum Wort vom Werben Gottes kann auch eine Strömung christlicher Theologie das Verhalten des mächtigen Gottes zur Geschichte und zum Handeln der Menschen in ihr deuten. Die amerikanische Prozeßtheologie, welche Gott von der Liebe her als sensibel, berührbar, ja abhängig denkt, möchte den Begriff der Allmacht Gottes dahingehend modifizieren, daß „Gott seine Macht nur in werbenden und überzeugenwollenden Impulsen ausübt, die einen Erfolg nicht erzwingen können. So geht Gott in seiner Liebe zu der von ihm geschaffenen Welt Risiko und Wagnis ein.“57 Man muß nicht die umstrittenen theologischen Voraussetzungen und Folgerungen der Prozeßtheologie mitvollziehen, um aus christlicher Sicht die Einflußnahme Gottes und seiner Macht auf die Geschichte unter dem Vorzeichen göttlichen Werbens zu verstehen. Johannes B. Brantschen etwa kann im Anschluß an das neutestamentliche Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15) Gottes
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Allmacht als Macht und Ohnmacht der Liebe zugleich in folgender Weise deuten: „Das ist das Unerhörte: Gott, der souveräne Herr des Himmels und der Erde, bettelt um unsere Liebe, aber der allmächtige Vater ist ohnmächtig, solange wir nicht aus freiem Herzen auf seine zuvorkommende Liebe antworten – denn Liebe ohne Freiheit bleibt ein hölzernes Eisen. Diese Ohnmacht der Liebe empfinden wir heute als Schweigen Gottes oder vielleicht besser: als Diskretion Gottes. Gott ist diskret, bisweilen gar beängstigend diskret. […] Gott hat in seiner diskreten Liebe genug Licht in seine Zeichen gesetzt, so daß er von denen gefunden werden kann, die ihn suchen wollen. Gott nimmt uns ernst. Er ist diskret, weil er liebt. Das ist göttliche Delikatesse […], Gott leidet, so lange seine Liebe nicht verstanden wird […]. Dieses Warten ist Gottes Schmerz.“58 Brantschen formuliert seine Gedanken vor allem im Blick auf die Krankheits- und Leidenserfahrungen des einzelnen Menschen und weniger im Angesicht von Auschwitz. Das gibt ihnen einen paränetisch-pastoralen Ton und führt leicht auf das Feld des Ästhetischen. Bemerkenswerterweise richtete Rudolf Bultmann die kritische Frage an Hans Jonas, ob sein Mythos nicht doch „im Ästhetischen“ bleibe, ob also sein Begriff Gottes nicht letztlich „ein ästhetischer Begriff“ sei.59 In seiner Entgegnung beharrte Hans Jonas darauf, daß die Überantwortung des Geschicks Gottes an den Menschen diesem kein ästhetisches, sondern ein ethisches Interesse abverlange.60 Dennoch wird man an Jonas die Frage stellen müssen, ob seine Bestimmung der Antwort Gottes auf das weltliche Geschehen als ein „eindringlich-stummes Werben“ nicht vielleicht doch zu sehr in der Kategorie des Ästhetischen verbleibt, die statt eines Gebotseinen Werbecharakter enthält. „Die Zeit ist das Warten Gottes, der um unsere Liebe bettelt“ – so hat einmal Simone Weil geäußert. Emmanuel Levinas, mit dieser Aussage konfrontiert, korrigierte spontan: „Die Zeit ist das Warten Gottes, der unsere Liebe befiehlt.“61 Statt auf die Werbung Gottes zielt diese Deutung auf seinen Befehl, statt auf ästhetische „Lockung“ auf eine ethische Vorladung vor das Tribunal unendlicher Verantwortung. Eine weitere Anfrage ergibt sich aus der Zuordnung von Immanenz und Transzendenz Gottes im Mythos von Hans Jonas. Wenn der göttliche Seinsgrund keinen unergriffenen und immunen
„Teil“ für sich behält, sondern völlig und bedingungslos in die Immanenz eingeht, dann wird die Transzendenz nicht nur gnoseologisch unkenntlich, sondern auch ontologisch aufgelöst. Die radikal ernstgenommene totale Immanenz des Transzendenten ist letztlich einsame Immanenz, in der ein eindringlich-stummes Werben der Transzendenz nicht mehr stattfinden und aus der ein Aufsteigen, eine Epiphanie des Transzendenten nicht mehr erwartet werden kann. Christliche Theologie beantwortet die denkerische Schwierigkeit des Mythos von Hans Jonas mit der trinitarisch gedachten Inkarnation: Der Sohn geht ein in die Geschichte und Welt, und als Vater, der seinen Sohn im Geist sendet, bleibt Gott auch Gegenüber zur Welt.62 Eine formale Christologie ohne Christus im Sinne des Mythos von Hans Jonas wird das Denkproblem in der Zuordnung von Transzendenz und Immanenz kaum lösen.63 Nicht jede jüdische Deszendenz- oder Kenosis-Theologie ist von diesem Einwand getroffen. Die klassische jüdische Tradition göttlicher Herabneigung bezieht sich auf Gott, „der in der Höhe thront“ und „in die Tiefe schaut, den Schwachen aus dem Staub emporhebt“ (vgl. Ps. 113,6f.). Die nachbiblische Tradition schärft ein: „Überall, wo du die Größe des Heiligen, gepriesen sei Er, findest, findest du auch seine Demut. Dies ist in der Tora geschrieben, bei den Propheten wiederholt und kehrt in den Schriften zum dritten Mal wieder“ (Babylonischer Talmud, Traktat Megilla 31a). Die Verknüpfung zwischen dem Gott des Herabsteigens und der Höhe ist untrennbar, so daß sich die Transzendenz nicht in der Immanenz auflöst. Die denkerisch-formale Schwierigkeit des Mythos von Hans Jonas, der aus dem Widerspruch von völliger Immanenz und dennoch behaupteter Transzendenz nicht herausfindet, kehrt auf der Ebene seiner existentiell geprägten Redeweise wieder. Jonas stellt im Blick auf Auschwitz einerseits fest: „Kein rettendes Wunder geschah; durch die Jahre des Auschwitz-Wütens schwieg Gott.“ Andererseits fährt er fort: „Die Wunder, die geschahen, kamen von Menschen allein: die Taten jener einzelnen, oft unbekannten Gerechten unter den Völkern, die selbst das letzte Opfer nicht scheuten.“64 Nun spricht Jonas diesen „Gerechten aus den Völkern“ zu, daß „ihre verborgene Heiligkeit es vermag, zahllose Schuld aufzuwiegen.“65 Muß aber die Heiligkeit der Gerechten
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nicht im Zusammenhang der mythologischen Redeweise von Hans Jonas als vom göttlichen Grund hervorgelockte Rettung der Sache Gottes,66 als Echo seines eindringlich-stummen Werbens, ja letztlich als seine Präsenz- und Redeweise selbst verstanden werden? Ist es von Jonas’ eigenen Voraussetzungen her dann nicht Gott selbst, der in der Heiligkeit der Gerechten redet? Stünden wir dann aber nicht vor einer Spannung zwischen der Abwesenheit des Wunders und dem gleichzeitigen Geschehen der Wunder, zwischen dem Schweigen Gottes und seinem in der Heiligkeit der Gerechten implizierten Reden? Schließlich gilt es nach dem Ertrag des Entwurfs von Hans Jonas für die Theodizee zu fragen. Sein Gottesbegriff statuiert einen ohnmächtigen Gott. Es ist ein Gott der Wehrlosigkeit, über den nachzudenken christliche Theologie allen Anlaß hat. In einem Gespräch mit Emmanuel Levinas hat Bischof Klaus Hemmerle höchst eindrücklich von Gottes Wehrlosigkeit gesprochen, die darin besteht, daß Gott in seiner Selbstentäußerung bis zu dem Punkt geht, wo er den Menschen nur um seine Liebe bitten kann. Daraufhin entgegnete Levinas: „Die Wehrlosigkeit hier kostet sehr viele leidende Menschen. Darf man das so sagen? Wir sind nicht in einer Disputatio über das Mitleiden Gottes. Wissen Sie, ich verstehe diese Wehrlosigkeit nicht, heute nach Auschwitz. Manchmal scheint mir das, was in Auschwitz passiert ist, einen Sinn zu haben, als ob der liebe Gott eine Liebe verlangt, die ganz ohne Versprechen ist. Das denke ich mir so. Der Sinn von Auschwitz ist ein Leiden, ein Glauben ganz ohne Versprechen. Das heißt: tout à fait gratuit. Und dann sage ich mir: aber das kostet doch zuviel – nicht den lieben Gott, sondern die Menschheit. Das ist meine Kritik, mein Unverständnis gegenüber der Wehrlosigkeit. Diese ohnmächtige Kenose kostet den Menschen allzuviel.“67 So sehr Levinas’ Einwurf jüdische Kritik am christlichen Verständnis göttlicher Selbstentäußerung in Jesus Christus ist, so gewiß scheint Jonas’ Mythos vom sich ganz in die Immanenz entäußernden Gott davon mitbetroffen. Auch dort ist Gott eine ohnmächtige Kenose eingegangen, die „den Menschen allzuviel kostet“. Der Preis der Wahrheit des Mythos von Hans Jonas erscheint als zu hoch. In dem Einwurf, daß die ohnmächtige Kenose Gottes den Menschen allzuviel kostet, ist sachlich ein
Verständnis reklamiert, das – nun über Levinas hinaus – die Verheißung einer Gerechtigkeit auch für jene enthält, die in Auschwitz umgekommen sind. Eine solche Gerechtigkeit einzuklagen, heißt einen Platz für die „klagende Rückfrage des Menschen an Gott angesichts der Greuel in seiner Schöpfung“ zu erstreiten. Das ist die Pointe der Theodizeefrage, wie sie von Johann Baptist Metz so beharrlich hervorgekehrt wird.68 Und hier wirkt Hans Jonas’ Entwurf beklemmend verheißungslos. Sein Ruf der Gottesrede vor den Gerichtshof der Verstehbarkeit und in die Schranken diesseitiger Geschichte führt zum Abschied von der Prädikation der Allmacht Gottes und hinterläßt eine Leere an Verheißung für die Leidenden der Vergangenheit und die Toten der Schoa.69 Jonas hat aber noch einen anderen Gerichtshof für die Rede von Gott. Er weist das Klagerecht gegenüber Gott zurück. Er stellt es gleichsam still, um – und hier erlangt das andere Attribut Gottes den Vorrang und die Dignität eines Gerichtshofes – die Güte Gottes zu retten. Jonas will – wie er an anderer Stelle sagen kann – Gott keine Allmacht zuschreiben, „weil im Welt- und Geschichtsverlauf zu Gräßliches geschieht, als daß wir es seiner Absicht zutrauen und ihn dafür verantwortlich machen könnten.“70 Müssen wir die Rede von der Allmacht Gottes wirklich verabschieden? Ist Gottes Machtentsagung unabwendbar zu statuieren? Müssen wir der Sehnsucht nach dem mächtigen Gott tatsächlich entsagen? Sagen uns die in Auschwitz als gerecht Bewährten, die Heiligen in der Schoa, daß das Ersehnenswerte, das heißt die rettende Allmacht Gottes, nach einem anderen Wort von Emmanuel Levinas, in der Sehnsucht „getrennt bleiben [muß], als ersehnenswert – nahe, aber unterschieden – heilig“? Gottes Allmacht weckt unsere Sehnsucht nach ihr, ruft eine Bewegung auf sie hervor und scheint diese Bewegung in dem Augenblick, wo die göttliche Allmacht am notwendigsten wird, abzubiegen auf den anderen, den Nächsten – in eine Verantwortung, die bis zur Stellvertretung für den anderen gehen kann und bei den Heiligen in der Schoa tatsächlich so weit gegangen ist. Es wäre ein Getrenntbleiben der Allmacht Gottes bis zu ihrer Abwesenheit. Es wäre eine „Intrige“ des allmächtigen Gottes, der mir den Nächsten anbefiehlt. Die „Intrige“ Gottes wäre eine Selbstbegrenzung, die den Menschen in eine unbegrenzte Verantwortung
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für den anderen ruft.71 Die Rede von der Allmacht Gottes und der in ihr liegenden Sehnsucht72 muß durch die Feuerprobe der ethischen Anforderung. Darin hat sie für die jeweilige Gegenwart ihren ersten Sinn, sofern sie keinen ethische Dispens zu erteilen beabsichtigt. Darin könnte man den prospektiven Sinn der Rede von der Allmacht Gottes sehen: Es ist ihr ethischer Gehalt. Zugleich hat sie ein „Darüber hinaus“, das besonders jenen gilt, die des Menschen je gegenwärtige Verantwortung nicht erreichen kann: die Leidenden und die Toten der Geschichte. Die Rede von Gottes Allmacht ist über ihren gleichsam prospektiven Sinn hinaus Anruf der Rettermacht Gottes und appelliert an ihn, wirksam und mächtig für jene zu sein. Man könnte vom memorativ-appellativen Sinn der Rede von Gottes Allmacht sprechen. Eine Rede von Gott ohne Appell an ihn und Verheißung für jene wird durch die von Johann Baptist Metz pointierte Theodizeefrage aufgestört, und solche Aufstörung trifft auch den Entwurf von Hans Jonas. So sehr mit Recht nach dem Hoffnungsvermerk für die Toten von Auschwitz im Gottesverständnis des Philosophen gefragt wurde und so ernst die Frage nach einer Auflösung Gottes als Gegenüber (und damit nach einer bleibenden Möglichkeit des Gebets) an seinen Mythos und seine theologische Explikation zu stellen ist, so angemessen ist der Hinweis, daß Jonas seinen denkerischen Entwurf mit einem ganz persönlichen Bekenntnis umgreift, das zwar gewiß einem anderen Genus menschlicher Äußerung angehört, aber Ausdruck des Empfindens des Menschen Hans Jonas ist. Sein Entwurf atmet ein ausgeprägtes Pathos der Redlichkeit und fordert Verstehbarkeit, um leben zu können. Es ist eine Forderung aufrechter Autonomie des Menschen Jonas, der zugleich sehr demütig sein kann. Seine im Mythos gegebene Antwort auf die Theodizeefrage ist „der des Buches Hiob entgegengesetzt: Die beruft die Machtfülle des Schöpfergottes; meine seine Machtentsagung.“ Beide Antworten sind für Jonas – ihre Gegenläufigkeit in die Klammer des Gemeinsamen spannend – „zum Lobe“. Von seinem „armen Wort“ des Lobes möchte er hoffen, „daß es nicht ganz ausgeschlossen sei von dem, was Goethe im ‚Vermächtnis altpersischen Glaubens’ in die Worte faßte: ‚Und was nur am Lob des Höchsten stammelt, / Ist in
Kreis’ um Kreise dort versammelt’.“73 Hierbei handelt es sich um ein persönliches Bekenntnis zu einem Gott, der Höhe, Gegenüber und also lobenswert ist. Darauf ist hinzuweisen, um die kritische Anfrage an den denkerischen Entwurf nicht als Kritik des Denkers zu überdehnen. Hans Jonas hat mit seinem Mythos dem verhallten Schrei seiner in Auschwitz ermordeten Mutter Echo gegeben. Von Auschwitz her hat er im Gestus der Spekulation auf Gott hin gefragt. Die hier versuchte Würdigung seines andrängenden Entwurfs folgte ihm im Gestus der Spekulation, auf der Ebene des Denkens und Argumentierens. Von ihr gilt noch mehr, was Hans Jonas von seinem Entwurf sagte: „All dies ist Gestammel.“74 Die vorliegenden Gedanken sind Gestammel in Zustimmung und Anfrage. Die Zustimmung machte Gemeinsamkeiten mit christlicher Theologie heute aus. Die Anfrage konfrontierte mit möglichen Einwänden von außen und prüfte das Gottesverständnis von Hans Jonas auf seine innere Stimmigkeit. Die Würdigung sah ihr Amt nicht darin, einen Gegenentwurf mit innerer Schlüssigkeit vorzulegen. Noch weniger war sie darauf aus, in das Geschehen von Auschwitz einen Sinn tragen zu wollen. Auch sie wollte – wie Hans Jonas selbst – von der Idee Gottes nicht lassen. Ja, sie wollte vom Gedanken des mächtigen Gottes nicht lassen und sich zur Sehnsucht nach der Allmacht Gottes bekennen. Es ist eine Sehnsucht, die der Feuerprobe ethischer Anforderungen nicht entraten kann und vor der Herausforderung steht, sich nicht selbst zu trösten, sondern von der Hoffnung für die anderen zu leben.
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Wiese: „Weltabenteuer Gottes“ und „Heiligkeit des Lebens“
alle über die zeitgebundenen, privaten, persönlichen Stellungnahmen hinaus, die wir geistig und bewußt vollziehen, bindet.“1
Christian Wiese
„Weltabenteuer Gottes“ und „Heiligkeit des Lebens“. Theologische Spekulation und ethische Reflexion in der Philosophie von Hans Jonas I. „Mein Verhältnis zum Judentum war von der Zeit an, in der ich eigenständig zu denken begann, von jener zwiespältigen Art, die wahrscheinlich generell das Verhältnis eines modernen zeitgenössischen Juden zur jüdischen Erbschaft kennzeichnet, jedenfalls dann, wenn man sie nicht einfach preisgibt und vergißt. […] Wie weit diese Zugehörigkeit zum Judentum mit meinem allgemeinen Weltbild verbunden ist, ist mir selbst […] immer etwas unklar geblieben. Einerseits nahm ich Kenntnis von dem, was die moderne Naturwissenschaft über die Welt zu sagen hatte, andererseits war ich mehr und mehr von dem bindenden Charakter durchdrungen, den das Judenschicksal darstellte. Aber beides bestand nebeneinander. […] Dabei hätte ich nicht angeben können, wem ich mich da verpflichtet fühlte. Die personale Angabe ‚der Gott unserer Väter’ konnte ich nicht mehr richtig nachvollziehen – der Verweis auf den Glauben unserer Vorväter genügt ja im Grunde nicht. Es geht vielmehr um den Gehalt der Sache selbst: Ich sah immer wieder etwas Einzigartiges, Rätselhaftes, Mysteriöses und Bindendes in der jüdischen Geschichte und der zufälligen Zugehörigkeit des im Jahre 1903 in einer rheinischen Industriestadt geborenen Hans Jonas zu diesem Kontext – etwas, was sogar weit tiefer und endgültiger ist als mein zionistisches Bekenntnis. Ich könnte mir vorstellen, meinen Zionismus zu revidieren, aber mich wirklich vom ‚brit’ – vom Bunde zwischen Gott und Israel – loszusagen, erscheint mir undenkbar, selbst wenn mir die Vorstellung des göttlichen Partners dieses Bündnisses vollkommen nebelhaft geblieben ist. Es gibt ein Geheimnis, das uns
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Bei dieser Passage aus Hans Jonas’ jüngst erschienenen Erinnerungen handelt es sich um seine wohl persönlichste Charakterisierung seiner Stellung zum Judentum und zur jüdischen Religion. Er scheute dabei nicht davor zurück, den Zwiespalt zur Sprache zu bringen, den er im Spannungsfeld zwischen jüdischer Zugehörigkeit, Zweifel an Grundelementen der religiösen Tradition des Judentums und der Faszination angesichts des nicht klar greifbaren „Geheimnisses“ einer transzendenten Wirklichkeit empfand. Auch wenn er nicht im traditionellen Sinne gläubig war, erschien ihm die Alternative des Atheismus oder auch nur der Distanzierung vom Judentum undenkbar. Im Grunde teilte Jonas damit die Ambivalenz vieler jüdischer Intellektueller in der modernen säkularen Gesellschaft und Kultur, die zwar überlieferten Glaubensinhalten und Lebensformen entfremdet waren, aber dennoch am Judentum festhielten und auf schöpferische Weise ihre je eigene Gestalt jüdischer Identität und Vision der Relevanz des Jüdischen für ihre Gegenwart entwickelten. Als Zionist, der trotz einer gewissen Distanz gegenüber traditionellen Formen jüdischer Identität seine tiefe Verwurzelung im Judentum zeitlebens auch als intellektuell bindend empfand, und als nach Palästina entkommener deutscher Jude, dessen Mutter von den Nazis ermordet wurde, beschäftigte sich Jonas immer wieder mit jüdischer Geschichte, der traumatischen Erfahrung der Schoa und dem jüdischen Denken seiner Zeit. Für die Interpretation seines philosophisch-ethischen Denkentwurfs ist wichtig, daß er sich dennoch nicht als „jüdischer Philosoph“ verstand, sondern überzeugt war, Philosophie sei der universalen Vernunft verpflichtet und müsse völlig frei von religiösen „Bindungen und ererbten Voraussetzungen“ sein. „Daß man zusammen Philosoph und Jude ist“, so formulierte Jonas in einer späten Selbstreflexion seiner jüdischen Lebensgeschichte, „darin liegt eine gewisse Spannung, das ist keine Frage. Mein erwählter Beruf war nun wirklich das philosophische Nachdenken, bei dem man gar nichts anderes gelten lassen darf, als was die Erkenntnismittel der Philosophie selber einem zeigen können.“ 2 203
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Wiese: „Weltabenteuer Gottes“ und „Heiligkeit des Lebens“
Diese Diagnose einer Spannung zwischen jüdischer Identität und philosophischer Wirksamkeit sowie das Bekenntnis zum „Atheismus der Methode“, mit dem Jonas dem Verdacht begegnen wollte, er habe sich seine philosophische Neigung „zu einer Metaphysik mit eher theistischer Vermutung“ von seinen „jüdischen Voraussetzungen […] einflüstern lassen“,3 werfen Fragen nach der Rolle und Funktion jüdischer Elemente in seinem Denken auf, die sich nur sehr differenziert beantworten lassen.4 Gerade der Begriff der Spannung weist dabei auf unterschiedliche Pole seiner Identität und seines Denkens hin, und die Formulierung „zusammen Philosoph und Jude“ läßt eben nicht auf eine Dichotomie, sondern auf ein differenziertes Wechselspiel zwischen dem Pol des Judeseins und jenem der Vernunftphilosophie schließen, so gewiß Jonas unbestreitbar der Philosophie den Vorrang gab. Getreu diesem Selbstverständnis verstand er theologische Spekulation als „Luxus der Vernunft“, als das Stellen von Fragen, zu denen sich der menschliche Geist genötigt sehe, die er aber letztlich nur mit „Vermutungen“ beantworten könne – im besten Falle hoffend, daß seine Aussagen über die Dimension des Transzendenten mit dem übereinstimmen, was er auch aus dem immanenten Zeugnis der Natur erkennen könne. Allerdings nahm er diesen „Luxus“ durchaus immer wieder in Anspruch. Sein Denkweg führte ihn von der antiken Religionsgeschichte und dem deutschen Existentialismus über eine anti-existentialistische Ontologie des Organischen zur Ethik ökologischer Verantwortung im technologischen Zeitalter und schließlich zu einer Deutung der conditio humana, ja der conditio divina nach Auschwitz. Als geheimes, in allen Phasen untergründig wirksames Thema verbirgt sich in seinem vielseitigen Werk ein unablässiges denkerisches Bemühen um die Frage nach dem Wesen menschlichen und natürlichen Daseins in der Welt als „Schöpfung“ und als Gegenstand menschlicher Verantwortung, wie sie die „Heiligkeit des Lebens“ gebietet, gleichgültig ob man sie im religiösen oder in einem säkularen Sinne versteht. Dieses Grundelement seiner Philosophie wirft sodann unwillkürlich auch die Frage nach Gott auf, die es jedoch vor der neuzeitlichen Infragestellung aller Metaphysik und der Erfahrung von Auschwitz zu verantworten gilt, die jegliche göttliche Existenz ins Undenkbare zu verbannen scheint.
Jonas’ „theologische“ Überlegungen sind jedoch keine Spekulationen um ihrer selbst willen, sondern stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der Erkenntnis, wie gefährdet das Dasein der Natur und des Menschen auf Grund seiner langfristig wirksamen technologischen Eingriffe in das System des Lebens auf dem Planeten Erde ist, und mit seinem leidenschaftlichen ethischen Plädoyer für die menschliche Verantwortung für die „Schöpfung“. Als zentrales Element jüdischer Überlieferung, das in Jonas’ Werk immer wieder zum Tragen kommt, gehört das Motiv der „Schöpfung“ – mitsamt dem impliziten Anspruch der dem „Geschöpf“ Mensch aufgetragenen Achtung vor ihrer Integrität – zu den entscheidenden Aspekten seines Denkansatzes. In ethischer Hinsicht konzentriert sich der Bezug auf die „Schöpfung“ bei Hans Jonas namentlich auf die „Heiligkeit des Lebens“. In seinen späten Reflexionen über Materie, Geist und Schöpfung führte er daher als verborgenes Motiv seines Philosophierens das liturgische Gottesprädikat rozeh ba-chajim – „der das Leben Wollende“ – an, dem auf menschlicher Seite die Freiheit und Verantwortung des Geschöpfes entspricht, die Würde und Unversehrtheit jeglichen Lebens zu achten und seiner Zerstörung zu widerstehen.5 Dieses Überlieferungselement, welches das Christentum dank des ihm im Kern zugrundeliegenden Jüdischen aufgenommen und in die westliche Philosophie hinein verlängert habe, versteht er als wertvollstes Erbe des Judentums für die Epoche der technologisch-ökologischen Krise. Die theologische Sprache oder die Verwendung theologischer Chiffren scheinen dabei zunächst in einer nur schwer verständlichen Spannung zur Argumentation zu stehen, mit der Jonas in seinem ethischen Entwurf Das Prinzip Verantwortung das philosophische Fundament für eine ernsthafte Gegenwirkung gegen die Zerstörung des Lebens auf der Erde liefern wollte. Obwohl es ihm selbst fraglich erschien, „ob wir ohne die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen, die am gründlichsten durch die wissenschaftliche Aufklärung zerstört wurde, eine Ethik haben können, die die extremen Kräfte zügeln kann, die wir heute besitzen“, begründete er seine Zukunftsethik bewußt unter Verzicht auf jegliche theologische Argumentation. „Aber eine Religion, die nicht da ist, kann der Ethik ihre Aufgabe nicht abnehmen; und
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während sich von jener sagen läßt, daß es sie als menschenbestimmende Tatsache gibt oder nicht gibt, gilt von der Ethik, daß es sie geben muß.“6 Vieles spricht dafür, daß sich Jonas im Prinzip Verantwortung vor allem auch deshalb der Mühe unterzogen hat, eine universal plausible, vernunftgemäße „Letztbegründung“ der Pflicht zur Verantwortung zu leisten, weil er sich in besonderer Weise des schwindenden Vertrauens in die Selbstevidenz und ethische Relevanz des Religiösen bewußt war. Er wollte nicht nur der Gefahr entgehen, daß sein Entwurf als „jüdische Ethik“ abgestempelt und somit ernsthaft in seiner Breitenwirkung beeinträchtigt würde. Es war vielmehr auch Teil seines philosophischen Ethos, sich nicht auf eine scheinbar unangreifbare, weil religiöser Bindung verpflichtete Position zurückzuziehen. Darüber hinaus scheint dieser Ansatz Teil seines Kampfes gegen die Versuchung des Nihilismus zu sein: Der Nihilist könnte, leugnete er die Existenz eines guten Gottes, dessen Geschöpfe die Menschen sind, der Selbstzerstörung der Gattung Mensch gleichgültig oder fatalistisch zuschauen. In einem unveröffentlichten Vortrag zum Thema „Wie können wir unsere Pflicht gegen die Nachwelt und die Erde unabhängig vom Glauben begründen?“ skizzierte Jonas diese denkbare Haltung folgendermaßen: „Aber es kann doch jemand daherkommen und sagen, daß der Mensch, dies Wesen mit einer Laufbahn so zweifelhafter Bilanz, die jetzt gar alles Übrige gefährdet, der Erhaltung gar nicht wert ist, die übrige Natur aber, die schon bisher ihre Fülle wahl- und wertblind hervorgebracht und dabei immer wieder große Teile davon auf der Strecke gelassen hat, um neuen Formen Platz zu machen, auch den Menschen überleben wird samt den von ihm angerichteten Verwüstungen und zu ihrer Zeit (wovon sie eine Menge hat) die Lücken ebenso blind und unbekümmert wieder mit neuen Wesen ausfüllen wird.“7 Jonas bestritt daher, daß lediglich der Glaube, Natur und Mensch seien von Gott geschaffen und der Mensch sei zum Wächter und Verwalter der Schöpfung eingesetzt, den Imperativ der Verantwortung begründen könnte. Für ihn läßt sich „die Frage des Seinsollens einer Welt“ trennen „von jeder These bezüglich ihrer Urheberschaft, eben mit der Annahme, daß auch für einen göttlichen Schöpfer ein solches Seinsollen gemäß dem Begriff des Guten der Grund für sein Schaffen war: er wollte sie,
weil er fand, daß sie sein sollte. Ja, es läßt sich behaupten, daß die Wahrnehmung von Wert in der Welt einer der Beweggründe dafür ist, auf einen göttlichen Urheber zu schließen, und nicht umgekehrt die Vorwegsetzung des Urhebers der Grund, seiner Schöpfung Wert zuzuerkennen. Unser Argument ist also nicht, daß die Metaphysik erst mit dem Schwund des Glaubens eine Aufgabe übernehmen mußte, sondern daß diese Aufgabe schon immer die ihre war, und ihre allein – unter den Bedingungen des Glaubens so gut wie des Unglaubens, deren Alternative die Natur der Aufgabe gar nicht berührt.“8 Die Existenz Gottes ist also aus Jonas’ Sicht für die Ethik nicht entscheidend, weil auch „vom immanenten Anspruch eines An-sich-Guten auf seine Wirklichkeit“ ein „gebietender Wille“ ausgeht,9 sich also die Ontologie der Natur und das daraus folgende Gebot verantwortlicher Selbstbegrenzung des Menschen auf der Grundlage bloßer Vernunft begründen läßt. Hans Jonas konnte auf diesem Hintergrund in seinen Reflexionen über die Gefahren der Biogenetik auch von nicht-religiösen Menschen fordern, wieder „Furcht und Zittern […] und, selbst ohne Gott, die Scheu vor dem Heiligen“ zu lernen.10 Trotz dieser Säkularisierung des Konzeptes der „Heiligkeit des Lebens“ deutet jedoch vieles darauf hin, daß die Gottesfrage und die daraus resultierenden anthropologischen wie ethischen Fragen den Philosophen spätestens seit den sechziger Jahren intensiv beschäftigten.11 Bereits vor seiner öffentlichen Auseinandersetzung mit dem „Gottesbegriff nach Auschwitz“ entfaltete er in anderen Zusammenhängen Perspektiven seines ethischen Denkens unter Rückgriff auf Elemente der jüdischen Tradition. Das Motiv der „Geschöpflichkeit“ allen Lebens, das die Forderung nach Achtung vor der Integrität, Freiheit und Würde allen Lebens in sich birgt, spielte dabei eine entscheidende Rolle. Der theologische Bezug auf die Schöpfung und die „Heiligkeit des Lebens“ stellt dabei nicht etwa ein später hinzugetretenes Motiv dar, sondern war von Beginn an wirksam. Er ist aber offenbar im Zuge des Entwurfs einer autonomen Zukunftsethik zurückgetreten, um deren universale philosophische Plausibilität nicht zu gefährden. Jonas’ Metaphysik bietet, anders gesagt, eine auf der Prämisse einer inneren Teleologie der Evolution basierende nicht-theologische Interpretation
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des Schöpfungsgedankens der jüdisch-christlichen Tradition. Trifft dies zu, so ist es gerechtfertigt, die Substanz der jüdischen Überlieferung auch bei der Deutung seines ethischen Denkens stärker als bisher zu gewichten. Am eindrucksvollsten ist das Zusammenspiel von rationaler Philosophie und jüdischem Denken in einem Vortrag aus dem Jahre 1970 greifbar, der erst 1994 unter dem Titel „Aktuelle ethische Probleme aus jüdischer Sicht“ in deutscher Sprache erschienen ist.12 Jonas geht darin von einer grundlegenden Kritik des „Glaubens“ eines auf der Bestreitung der Idee der Geschöpflichkeit der Welt beruhenden pseudo-wissenschaftlichen Welt- und Menschenbildes aus. Durch die Entzauberung der Welt mittels einer modernen Naturwissenschaft, die keinen Raum für die Ehrfurcht vor dem kosmischen Mysterium lasse, sei ein metaphysisches Vakuum entstanden, dem die moderne philosophische Ethik nichts entgegenzusetzen habe. An die Stelle der Lehre der Tora von der transzendenten Ursache der Welt, die den Menschen in die Verantwortung rufe, seien in der Moderne der ethische Relativismus und die Indifferenz getreten. Vor allem die Bestreitung der grundlegenden Aussage der Gottesebenbildlichkeit des Menschen – „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig“ (Lev. 19,2) –, die zugleich den Verlust der ethischen Konsequenz einer transzendenten Verantwortung mit sich gebracht habe, führt aus Jonas’ Sicht dazu, daß der seiner metaphysischen Würde entkleidete moderne Mensch dem Zwiespalt zwischen der maßlosen Macht seiner Handlungsmöglichkeiten und einer fundamentalen ethischen Orientierungslosigkeit, zuletzt aber auch der Schutzlosigkeit einer Existenz in einem moralisch indifferenten Kosmos, also gleichsam einer radikalisierten Form gnostischnihilistischer Weltverzweiflung, rettungslos ausgeliefert ist. Die Verbindung der „Erbärmlichkeit“ des Menschen, der jegliche Spur einer Ehrfurcht vor der Natur verloren habe, mit der technologischen Macht, die Ehrfurcht und Scheu vernichte und dem Menschen das Empfinden gebe, als Schöpfer und „Macher neuer Welten“ in Gottes Fußstapfen getreten zu sein, stelle die wichtigste philosophische Herausforderung der Gegenwart dar, so daß das Judentum „angesichts dessen nicht schweigen kann und darf“.13 Aus Jonas’ Sicht war es legitim, sich dem eigenen religiösen Erbe
zuzuwenden und sich im Widerspruch gegen die rein naturwissenschaftliche Welterklärung auf das von der bloßen Vernunfterklärung unwiderlegbare, im Wissen um die Grenzen der Erkenntnis glaubend angenommene mythische Konzept einzulassen, demzufolge der unvollkommene, sterbliche Mensch „im Bilde Gottes“ geschaffen und die Natur nicht einfach Objekt seines Willens sei, sondern ihrerseits Ehrfurcht gebiete. Erscheint der Nihilismus als Ausdruck des von der Tradition entfernten Menschen, der das Hören auf den im Bild des „Bundes“ erfaßten Dialog zwischen Gott und Mensch verlernt hat, so kann die jüdische Tradition Juden, gleichgültig ob liberal oder konservativ, lehren, mit Stolz zur Geltung bringen, daß „das Judentum Grenzen auferlegt“, und der Ausbeutung der Erde wie der unbegrenzten Nutzung technologischer Macht den Respekt vor der Würde allen Lebens entgegenzusetzen. Auch in diesem Zusammenhang findet sich – nun in theologischer Sprache – die Warnung vor einer unkontrollierten Gentechnik, die Jonas „das Bild der Schöpfung selbst, einschließlich des Menschen“ auf dramatische Weise zu gefährden schien: „Der ältere und tröstliche Glaube, daß die menschliche Natur sich gleich bleibt und daß Gottes Ebenbildlichkeit in ihr sie verteidigen wird gegen alle menschlichen Anstrengungen, sie zu ‚entmenschlichen’, wird unwahr, wenn wir diese Natur genetisch-technisch in den Griff bekommen und selbst zu Zauberern (oder Zauberlehrlingen) werden, die die Zukunftsrasse von Golems herstellen.“ Vehement setzte der Philosoph dem utopischen „Jonglieren mit den Genen“ die Einsicht in die Würde des Menschen entgegen, der nicht als vollkommenes Wesen, sondern gerade in seiner Verletzlichkeit und Sterblichkeit gottebenbildlich sei, und berief sich dabei auf die uralte, schlichte jüdische Überlieferung, die es dem technologischen Wahn der modernen Gesellschaft entgegenzuhalten gelte: „Wir haben Weisheit dann am nötigsten, wenn wir am wenigsten daran glauben.“14
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II. Jonas’ philosophische Reflexion über die ethische Relevanz jüdischer Überlieferung und existentieller Erfahrung gewann dort ihre größte Eindringlichkeit, wo er das, was er selbst in seinem Spätwerk als metaphysische und kosmogonische „Vermutungen“ bezeichnete, sein intellektuelles Ringen mit der Frage nach Gott und der Geschöpflichkeit des Lebens, vor der Erfahrung der Schoa zu verantworten versuchte. Die Erinnerungen des Philosophen spiegeln eindrucksvoll wider, wie er sich, mit der Trauer über das Schicksal seiner Mutter und dem Entsetzen über den Völkermord der Nazis im Herzen, über Jahrzehnte in verschlungenen Ansätzen an seine Interpretation herangetastet hat – eine „Ausschweifung“, wie er gesteht, mit der er den „erlaubten Boden der Philosophie verließ“.15 Wie ist diese eigenwillige Beschäftigung mit theologisch-metaphysischen Fragen, in denen am deutlichsten jüdische Elemente eine Rolle spielen, in sein Gesamtwerk einzuordnen? Ein Blick auf die Chronologie verrät, daß die fraglichen Texte in der Zeit anzusiedeln sind, als sich Jonas intensiv mit Fragen der Naturphilosophie und Ethik befaßte. Dachte Jonas 1963 in „Unsterblichkeit und heutige Existenz“ über die transzendente Wirkung menschlichen Handelns nach,16 so versuchte er in seinem 1976 anläßlich der akademischen Gedenkfeier für Rudolf Bultmann gehaltenen Vortrag „Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens“ eine Konzeption vom „Handeln Gottes“ im Einklang mit der Naturwissenschaft zu entwickeln.17 Der Essay Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme (1984) verantwortet die Rede von Gott vor dem singulären Geschehen der Schoa, während Materie, Geist und Schöpfung (1988) Jonas’ naturphilosophische Erkenntnisse mit kosmogonischen „Vermutungen“ verbindet. Es handelt sich um eine höchst interessante Reflexion über die Entstehung des Kosmos und des Lebens, die die moderne Naturwissenschaft mit philosophischen Deutungen des Verhältnisses von Materie und Geist ins Gespräch bringt und die Frage nach dem „anfänglichen, schöpferischen Willen“ hinter der Evolution aufwirft.18 Welchen Anspruch und welche Grenzen Hans Jonas selbst mit seinen theologischen Reflexionen verband, 210
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nachdem er, wie er nicht ohne Selbstironie bekannte, „so naseweis“ gewesen war, „das tiefe Bedürfnis, an einen Gott oder etwas Göttliches in der Welt glauben zu können, mit meinen philosophischen Einsichten und Überzeugungen in Einklang zu bringen“, wird in folgender Formulierung sichtbar: „Ich will niemanden überzeugen und keine theologische Theorie vertreten, die ich nun weiter durchfechten muß. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich mich selbst überzeugt habe. Aber das ist das bescheidene Maximum, was ich an Göttlichem – das früher einmal alles überstrahlt hat und an das jetzt immer schwerer zu glauben möglich ist – in Verbindung mit dem Gesamtbefund der Dinge, einschließlich meines wissenschaftlichen Wissens von der Welt, dem Universum und dem Leben auf Erden für mich noch akzeptieren kann. Ich bin jedoch zutiefst davon überzeugt, daß der reine Atheismus falsch ist, daß es darüber hinaus etwas gibt, was wir nun vielleicht nur noch mit Hilfe von Metaphern zur Sprache bringen können, ohne das jedoch die Gesamtsicht des Seins unverständlich wäre. Obwohl mir scheint, daß eine philosophische Metaphysik keinen direkten Gottesbegriff entwickeln kann, sondern daß dieser Weg seit der kantischen Vernunftkritik verschlossen ist – deshalb mein Rückgriff auf den Mythos –, glaube ich, daß es einer rationalen oder philosophischen Metaphysik nicht verboten ist, ‚Vermutungen’ über das Göttliche in der Welt anzustellen. Vielmehr scheint mir, daß die philosophische Seinslehre zumindest einen Raum für das Göttliche offenlassen darf. Es ist ein fragwürdig tastender Versuch, für den ich nie einen Wahrheitsanspruch gestellt habe […]. Das [die mythologische Redeweise, derer sich Jonas bedient, C. W.] ist vielleicht der einzige Weg, der uns noch offensteht, uns über diese Dinge zu äußern – andeutend, ohne Wahrheitsanspruch, und doch dem Überweltlichen in der Welt Raum lassend. Denn daß es ein Überweltliches im Weltgetriebe gibt, dafür scheint mir der Menschengeist ein Zeugnis zu sein.“19
Innerhalb des vielstimmigen theologischen und religionsphilosophischen Diskurses über das Verständnis jüdischen Glaubens nach Auschwitz ist Jonas’ 1984 gehaltener Vortrag Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme ein ganz eigentümliches 211
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Werk. In Übereinstimmung mit den vielen jüdischen Stimmen der vergangenen Jahrzehnte, die angesichts der vollendeten Sinnlosigkeit des Geschehenen eine geschichtstheologische Deutung der Schoa mit Hilfe jüdischer Traditionen zu formulieren versuchten, empfand Jonas die tiefe Aporie, die darin besteht, daß Sprache angesichts der abgründigen Sinnlosigkeit von Auschwitz immer neu zu zerbrechen scheint.20 Seine Deutung stellt daher gerade nicht die Theodizee, sondern das Scheitern der Menschen ins Zentrum: Unbegreiflicher als Gottes Schweigen scheint das Schweigen all derer, die zu- oder weggeschaut und so das jüdische Volk einer unsagbaren Einsamkeit preisgegeben haben. Das Faszinierende seiner „mit Furcht und Zittern“21 entworfenen Gedanken liegt in der Mischung aus Erschütterung über Gottes Schweigen angesichts des einzigartigen Völkermordes, philosophischer Strenge im Zerbrechen der Vorstellung eines allmächtigen Herrn der Geschichte und der sprachlichen wie gedanklichen Schönheit und Tiefe seines erdichteten „hypothetischen Mythos“ über den werdenden, leidenden Gott, der sich bei der Erschaffung des Lebens „seiner Gottheit [entkleidete], um sie zurückzuempfangen von der Odyssee der Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch sie“.22 Die nach Auschwitz offenbarte Undenkbarkeit eines Gottes, der „zugleich absolut gut und absolut allmächtig ist und doch die Welt duldet, wie sie ist“,23 zwingt ihn, Gottes Machtverzicht zu denken und statt dessen den Menschen in die Verantwortung für den Ausgang des „Weltabenteuers Gottes“ zu rufen. Jonas verwandelt das Leiden am Schweigen Gottes angesichts der Vernichtung seines erwählten Volkes radikal in die Frage nach der Anthropodizee, der Rechtfertigung des von Gott zur Freiheit geschaffenen Menschen. Er entwirft dabei ein Gottesbild, das den Glauben an die Güte des Schöpfers als nach wie vor gültige Denkmöglichkeit erweist – ohne die Realität des Bösen wegzudeuten, aber auch ohne den Schöpfer der Welt im gnostischen Sinne ins Unrecht zu setzen. Anders als etwa Adorno, der entschieden jeden Theodizeeversuch ablehnte, „weil, was geschah, dem spekulativen metaphysischen Gedanken die Basis seiner Vereinbarkeit mit der Erfahrung zerschlug“,24 glaubte Jonas es den „Schatten“ der Ermordeten, darunter seiner Mutter, „schuldig zu
sein, ihnen so etwas wie eine Antwort auf ihren längst verhallten Schrei zu einem stummen Gott nicht zu versagen“.25 Alle traditionellen jüdischen Antworten auf die Hiobsfrage, darunter auch die des Kiddusch-ha-schem, des Martyriums um Gottes willen, schienen allerdings auch ihm angesichts des unvorstellbaren Ausmaßes der Entmenschlichung in den Vernichtungslagern der Nazis endgültig gescheitert: „Nichts von alledem verfängt mehr bei dem Geschehen, das den Namen ‚Auschwitz’ trägt.“26 Um einen diesem Geschehen angemessenen Gottesbegriff zu formulieren, ließ sich Jonas vor allem von den Ideen des mittelalterlichen Mystikers Isaak ben Luria und seiner Vorstellung von einer Selbstkontraktion Gottes (zimzum) anregen. Dabei handelte es sich, modern gesprochen, um den Versuch, die Autonomie der Welt wie des Menschen zu begründen und die theologische Grundlage für die Erfahrung der Wirklichkeit des Bösen und der menschlichen Freiheit und Verantwortung diesem gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Auf der Grundlage dieser mystischen Spekulation entfaltete Jonas in seinem Mythos einen Prozeß der Theo- und Kosmogonie, in dem sich Gott im Zuge des Schöpfungsvorganges völlig in sich selbst zurückzieht, seine Allmacht nicht nur einschränkt, sondern vollkommen preisgibt und die Welt, aber auch das Schicksal seiner eigenen werdenden, von Glück und Leid des Lebens zutiefst affizierten Gottheit dem Handeln des vollständig autonomen Menschen überläßt. Gott schwieg in Auschwitz, weil er sich im Verlaufe des evolutionären Werdens des Lebens und der Heraufkunft des Menschen jeglicher Macht entäußert hatte, um ihm die Freiheit zu verantwortlichem Handeln zu eröffnen. Seither ist er selbst dem menschlichen Handeln ausgeliefert – das „Bild Gottes“ geht „in die fragwürdige Verwahrung des Menschen über, um erfüllt, gerettet oder verdorben zu werden durch das, was er mit sich und der Welt tut“.27 Jonas verstand seinen Mythos als „ein Stück unverhüllt spekulativer Theologie“, als „Gestammel“28 – das heißt als einen allenfalls tastenden Versuch, angesichts der vollendeten Sinn- und Trostlosigkeit der Schoa die Vorstellung eines gerechten, sich sorgenden Gottes zu bewahren. Der Mythos bot Jonas eine Sprachform, die es ihm ermöglichte, metaphorisch auszusagen, was ihm die Sprache philosophischer Vernunft als Wahrheit zu formulieren
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verwehrt hätte. „Das letzte Geheimnis“ der Gottheit, davon war er – vermutlich auf Grund seiner Vertrautheit mit der gnostischen Mythenwelt – fest überzeugt, „könnte wohl besser in den Symbolen des Mythos als in den Begriffen des Denkens geschützt sein. Wo das Mysterium rechtens zu Hause ist, da ‚sehen wir dunkel in einem Spiegel’. Was heißt ‚dunkel in einem Spiegel’? In mythischer Gestalt. Es ist leichter, die offenbare Dichtigkeit des Mythos irgendwie für das Unsagbare durchscheinend zu halten als die scheinbare Transparenz des Begriffs, die hier letztlich so undurchsichtig ist, wie jede Sprache es sein muß“.29 Aus christlicher wie jüdischer Perspektive hat Jonas’ Nachdenken über den Gottesbegriff nach Auschwitz gleichermaßen Würdigung und Kritik erfahren. Der Einspruch, den es sicher am meisten ernst zu nehmen gilt, kreist um die Frage, ob das Konzept einer radikalen Ohnmacht Gottes vom Menschen nicht einen zu hohen Preis fordert und in Trost- und Verheißungslosigkeit endet.30 Für eine gerechte Bewertung ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, zu bedenken, daß Jonas seine kosmogonischen Spekulationen nicht um ihrer selbst willen oder mit dem Ziel der Tröstung, sondern mit klarer ethischer Zielrichtung verfolgte. Es gilt sie demnach stets mit seiner Philosophie der Verantwortung zusammenzuschauen. Die zentrale Erkenntnis, um die es Jonas geht, besteht darin, daß das „Schicksal des göttlichen Abenteuers“ in die Hände des Menschen gelegt ist. Die Spekulation über den ohnmächtigen Gott dient also dazu, auf dramatische Weise die unbedingte menschliche Verantwortung gegenüber dem Leben dringlich zu machen, und schärft ein, „daß wir jetzt die von uns gefährdete göttliche Sache in der Welt vor uns schützen, der für sich ohnmächtigen Gottheit gegen uns selbst zu Hilfe kommen müssen. Es ist die Pflicht der wissenden Macht – eine kosmische Pflicht, denn es ist ein kosmisches Experiment, das wir mit uns scheitern lassen, in uns zuschanden machen können“.31 Ohne daß der Begriff fällt, steht dahinter eine – wie im Falle des zimzum – extrem radikalisierte, philosophisch umgedeutete Interpretation der kabbalistischen Vorstellung des tikkun olam, der Fähigkeit und Pflicht des Menschen, als Partner der Schöpfung Gottes an der Vervollkommnung und Erlösung der Schöpfung mitzuwirken. In der lurianischen Kabbala hat diese Vorstellung
eine eindeutig messianische Zielrichtung: Sie steht im Zentrum des kosmischen Dramas des „Zerbrechens der Gefäße“ und des Exils des göttlichen Lichts in der Materie, das dem Menschen im Heilsprozeß die große Aufgabe und Würde verleiht, durch das Tun der Tora und durch Gebet die Heilung des Bruches der Gefäße und die Heimführung Gottes aus dem Exil wesentlich zu beeinflussen. Das Kommen des Messias, der die zerstreuten Juden in das Land Israel führt, ist dann das sichtbare Zeichen dafür, daß die Wiederherstellung des Zerbrochenen, die Erlösung der ganzen Schöpfung zu ihrem Ziel gelangt sei. Gott liefert sich gemäß diesem mythologischen Gedankengebilde in gewisser Weise dem Menschen aus, zieht sich zum Zwecke der Schöpfung zurück und ist nun darauf angewiesen, daß ihm der Mensch durch den kosmischen Prozeß hindurch zurückgibt, was er durch seine Selbstentäußerung und den „Bruch der Gefäße“ preisgegeben hat. Diese Tradition gibt Jonas die Möglichkeit, Gottes radikale Angewiesenheit auf die Verantwortung des Menschen auszusagen. Der messianische Aspekt der Erlösung, der im traditionellen Konzept des tikkun olam eine zentrale Rolle spielt, weil es um ein Zusammenspiel zwischen Gott und Mensch geht, das auch für Israel und die Menschheit eine Verheißung birgt, fällt in Jonas’ Interpretation dagegen weg, da die von ihm gedachte Gottheit „nichts mehr zu geben hat“. An die Stelle der Erlösung der Welt tritt die Pflicht zur Bewahrung des Geschaffenen und der Verantwortung für Gott: „Obwohl kein ewiges Leben unser wartet, noch eine ewige Wiederkehr des Hier, kann uns doch Unsterblichkeit im Sinne liegen, wenn wir während unserer kurzen Spanne die bedrohten sterblichen Anliegen versehen und dem leidenden unsterblichen Gotte Helfer sind.“32 Ein kurzer Seitenblick auf Gershom Scholems Essay „Einige Betrachtungen zur jüdischen Theologie in dieser Zeit“ aus dem Jahre 197333 wirft ein interessantes Licht auf diese Umdeutung der kabbalistischen Tradition. Auch bei Scholem finden sich höchst skeptische Überlegungen über den Sinn der Rede von Gottes Allmacht und Vorsehung, die zur „menschlichen Freiheit der sittlichen Entscheidung“, mit der die Ethik des Judentums stehe und falle, „in bitterstem Widerspruch“ stehe. Unter allen Lehren der jüdischen Tradition sei sie die für modernes Denken am
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wenigsten einleuchtende These, zumal nach den Geschehnissen des zwanzigsten Jahrhunderts.34 In diesem Zusammenhang zog Scholem ebenfalls die kabbalistische Vorstellung des zimzum heran und konfrontierte sie – einschließlich des mit der lurianischen Spekulation verbundenen messianischen Elementes des tikkun olam – mit der Schoa. Anders als Jonas, der diese mystische Tradition unmittelbar radikalisiert und seiner messianischen Aspekte entkleidet, betonte der Kabbalaforscher zunächst ihren Charakter als gnostisch inspiriertes Erlösungsdrama – „ein Drama von Verfehlung und Wiederherstellung, die aber in Wirklichkeit erst das eigentlich in ihr Angelegte, noch nie Dagewesene zustande brachte. Erlösung war hier nicht nur Ziel der Geschichte, das ihr also Sinn verlieh, sondern das Ziel der Welt überhaupt“.35 Diese religionsgeschichtliche Perspektive zeigt noch einmal deutlich, wie sehr Jonas – und zwar bewußt – die auf Erlösung aus einem kosmischen Exil zielende Vorstellung der Mitwirkung des Menschen an der Vollendung der Schöpfung umdeutete, um sie als Grundlage seiner These einer Verantwortung des Menschen für einen machtlosen, zur Erlösung der Welt völlig unfähigen Gott verwenden zu können. Auch Scholem ging jedoch davon aus, daß das Weltverständnis der Kabbala unwiederbringlich zerbrochen sei. Ziele die Idee des zimzum eben gerade nicht auf Gottes Verzicht auf Einwirkung auf die Welt, sondern auf die Hoffnung auf Gottes Vorsehung und stetige Erneuerung der Schöpfung, so widerspreche das zutiefst den modernen Erfahrungen der Geschichte. Zimzum sei ursprünglich nicht als einmaliger Akt gedacht gewesen, sondern als sich stetig wiederholender Vorgang, in dem „in das Nichts ein Strom, ein Etwas von Gott“ fließe. „Dies freilich ist der Punkt, wo die grauenvolle Erfahrung der Abwesenheit Gottes in unserer Welt mit der Lehre von der sich erneuernden Schöpfung unversöhnlich und katastrophal zusammenstößt. Von diesem Strahl, von dem die Mystiker sprechen und der die Offenbarung Gottes in der Schöpfung verbürgen soll, vermag die Verzweiflung nichts mehr wahrzunehmen. Die Entleerung der Welt zum sinnlosen Nichts, in das kein Strahl von Sinn, von Richtung fällt, ist die Erfahrung dessen, den ich den frommen Atheisten nennen möchte.“36 Wie Hans Jonas zog auch Gershom Scholem aus der Schoa nicht die Konsequenz des
Atheismus, antwortete auf die radikale Infragestellung jüdischen wie christlichen Glaubens jedoch mit einer erkennbaren Verlagerung des Schwerpunktes jüdischer Überlieferung von allen Formen messianischer Erlösungshoffnung auf die Sinnhaftigkeit und den ethischen Anspruch der Schöpfung Gottes. Wie er Jonas’ Reflexionen über die Ohnmacht Gottes empfunden hätte, kann man allenfalls vermuten. Daß Jonas den Verzicht auf messianische Hoffnung mit dem Widerspruch gegen alle Träume einer Selbsterlösung des Menschen auf dem Wege technologischen Fortschrittes verband und ihr die nüchterne Bejahung der ganz und gar unvollkommenen und doch „guten“ Schöpfung Gottes entgegenhielt, hätte er jedoch in jedem Falle gutgeheißen. Der tiefe innere Zusammenhang zwischen Jonas’ theologischem Ringen mit dem „Zivilisationsbruch“ von Auschwitz und seiner philosophischen Ethik wird endgültig sichtbar, wenn man bedenkt, daß sein Mythos ursprünglich im Kontext seiner antinihilistischen Reflexionen über die Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens entstand: in dem Essay „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, in dem er die Funktion einer bildhaften Begründung eines ethischen Weltverhältnisses erfüllte. Bereits hier, als Kern einer neuen, vor dem Plausibilitätsverlust religiöser Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tode und der Anerkennung der definitiven Sterblichkeit allen organischen Lebens verantworteten Interpretation des Begriffes der „Unsterblichkeit“, trat der Mythos ins Gespräch mit Symbolen aus der jüdischen Überlieferung, um erstmals die Verantwortung des Menschen nicht nur für die Erde, sondern auch für ihren Schöpfer zu begründen. Die in der Symbolik der Hohen Feiertage verwurzelte Vorstellung vom „Buch des Lebens“, in dem die Namen der Menschen und ihre Taten verzeichnet werden, erfuhr eine Umdeutung im Sinne einer „Unsterblichkeit der Taten“, die den Gedanken der über das individuelle sterbliche Leben hinausgreifenden transzendenten Bedeutung menschlichen Handelns auszusagen half. Interessanterweise griff Jonas darüber hinaus auf ein gnostisches Motiv zurück, das ihm aus mandäischen und manichäischen Quellen vertraut war: auf das Gleichnis „von dem transzendenten ‚Bilde’, das Zug um Zug aus unserm zeitlichen Tun ersteht“, so daß „wir verantwortlich sind für die spirituelle Totalität der Bilder, die immer wachsend
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Wiese: „Weltabenteuer Gottes“ und „Heiligkeit des Lebens“
die Summe gelebten Seins zusammenfaßt und anders sein wird durch unsere Tat“. Insbesondere die kollektive Spielart der Bildnissymbolik in solchen gnostischen Texten („Zum Schluß, bei der Auflösung der Welt, wird der Gedanke des Lebens sich selbst einsammeln und seine Seele gestalten zur Form des Letzten Bildes“) – gleichsam eine Umkehrung der Gottesebenbildlichkeit – erlaubte es Jonas, seine Spekulation über ein unsterbliches göttliches Wesen zu entfalten, das sich im Prozeß der Evolution an die „Dunkelheit und Gefahr des Werdens“ des stofflichen Universums auslieferte. Im zeitlichen Geschehen der Welt tritt Gottes Antlitz langsam hervor, „wie seine Züge eingezeichnet werden von den Freuden und Leiden, den Siegen und Niederlagen des Göttlichen in den Erfahrungen der Zeit […]. Nicht die Handelnden, die stets vergehen, sondern ihre Handlungen gehen ein in die werdende Gottheit und formen unauslöschlich ihr nimmer entschiedenes Bild“. Jonas bedient sich dieser gnostisch inspirierten Symbolik jedoch, um – gegen gnostische Weltverneinung und ethische Indifferenz – „die transzendente Wichtigkeit unseres Tuns, der Art, wie wir unser Leben leben“, zur Geltung zu bringen, die Verantwortung des Menschen nicht allein für das kreatürliche Leben, sondern auch für das Schicksal der Gottheit, dessen Antlitz durch menschliches Unrecht entstellt wird.37 Angesichts der Erniedrigten und Ermordeten von Auschwitz, vor allem der vergasten und verbrannten Kinder, „die sich niemals in das Buch des Lebens eintragen konnten“, dachte Jonas bereits zwanzig Jahre vor Der Gottesbegriff nach Auschwitz über die transzendente Wirkung der Schoa nach – in der Hoffnung, daß das Leid der Opfer nicht einfach vergessen sei. „Und dies möchte ich glauben: daß Weinen war in den Höhen über die Verwüstung und Entweihung des Menschenbildes; daß ein Stöhnen dem aufsteigenden Schrei unedlen Leides antwortete – und Zorn dem entsetzlichen Unrecht, das an der Wirklichkeit und Möglichkeit jeden so frevelhaft hingeopferten Lebens begangen wurde – jedes von ihnen ein vereitelter Versuch Gottes.“ Er verband dies mit der Mahnung, daß seither „die Ewigkeit finster auf uns niederblickt, selbst verwundet und verstört in den Tiefen“, und es die Pflicht der Menschheit sei, durch ethische Anstrengung und Ehrfurcht vor dem Leben den Schatten zu überwinden, der über ihr und
über Gottes Antlitz liege.38 Mit dem Gedanken des leidenden, verletzbaren Gottes wollte Jonas letztlich dem Zwang zur Flucht in manichäisch-dualistische Deutungen der Frage nach dem malum, die jüdischem Glauben radikal widerspräche, entgehen und einprägen, daß die eigentliche Herausforderung nicht jene der Theodizee sei, sondern einzig die menschlich verschuldete „Schmach von Auschwitz“, die „wir Menschen“ durch ethische Anstrengung und Ehrfurcht vor dem Leben wieder „von unserem entstellten Gesicht, ja vom Antlitz Gottes, hinwegwaschen“ müssen.39 Bei allen Vorbehalten, die man angesichts dieser bewußt subjektiv-meditativen Spekulationen über Gottes Ohnmacht formulieren kann, wird man urteilen dürfen, daß es sich um einen eindrucksvollen Versuch handelt, an der Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz festzuhalten, ohne sich theologisch über die Erschütterung jeglicher Gottesrede durch die Schoa hinwegzusetzen. Für das Ganze der Philosophie von Hans Jonas ist entscheidend, daß seine ethisch-philosophische Deutung der Herausforderungen der Gegenwart, inspiriert von einem in der jüdischen Tradition wurzelnden Glauben an die Geschöpflichkeit und Heiligkeit des Lebens, nicht isoliert von seiner existentiell-intellektuellen Auseinandersetzung mit dem in Auschwitz offenbarten Abgrund an Inhumanität und von seiner Überzeugung der transzendenten Verantwortung des Menschen zu verstehen ist. Daß mit der Existenz und humanen Gestaltung der Welt wie des menschlichen Lebens in einer Zeit der Genozide und der technologischen Selbstzerstörungskraft auch „Gottes Bild“ in Gefahr sei, erweist sich als geheimes Leitmotiv der kosmogonischen „Vermutungen“, die Jonas’ philosophisch-ethischem Entwurf mit ihrer bildhaft-beschwörenden Sprache eine so bezwingende Kraft verleihen. Seine Formulierungen zielen letztlich darauf, seinen leidenschaftlichen Widerspruch gegen die diagnostizierte verantwortungslose Entwertung des Lebens und gegen jeglichen Fatalismus zur Sprache zu bringen, den er als Verrat an der mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen aufgetragenen Verantwortung für das „Weltabenteuer Gottes“ verstand: „Daß hierbei, zusammen mit der zeitlichen, auch eine ewige Sache auf dem Spiel steht – dieser Aspekt unserer Verantwortung kann uns Schutz sein vor
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II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff
Wiese: „Weltabenteuer Gottes“ und „Heiligkeit des Lebens“
der Versuchung fatalistischer Apathie und vor dem schlimmeren Verrat des ‚Nach uns die Sintflut’. In unsern unsichern Händen halten wir buchstäblich die Zukunft des göttlichen Abenteuers auf Erden, und wir dürfen Ihn nicht im Stiche lassen, selbst wenn wir uns im Stiche lassen wollten.“40 Hans Jonas’ komplexe Verhältnisbestimmung von Philosophie und Judentum ist, so gewiß sie sich vor allem seinem Selbstverständnis als der universalen Vernunft verpflichteter Philosoph verdankt, zugleich im Horizont der vielstimmigen innerjüdischen Debatte über die Relevanz des Judentums für die moderne, säkulare Weltgesellschaft zu verstehen. In diesem Zusammenhang hat Jonas an der herausragenden ethischen Bedeutung der jüdischen Schöpfungstheologie festgehalten und den Versuch unternommen, ihre Konsequenz der Würde und Heiligkeit des Lebens auf dem Wege der Vernunft einzuholen. Daß er sich in seinen Spekulationen vielfach eklektisch auf solche Traditionselemente bezog, die ihm halfen, seiner Ethik der Verantwortung besondere Dringlichkeit zu verleihen und das „Geheimnis“ des Lebens zur Sprache zu bringen, spiegelt sein zwiespältiges Verhältnis zum Ganzen der jüdischen Überlieferung wider, ändert aber nichts daran, daß sein Werk ohne Wissen um sein Judesein und um jüdisches Denken im zwanzigsten Jahrhundert nur partiell zu verstehen ist. „Daß man zusammen Philosoph und Jude ist“ – die in dieser Formulierung enthaltene spannungsvolle Polarität ist nicht aufzulösen, ja, alle Zeugnisse sprechen dafür, daß Hans Jonas sie gar nicht aufheben wollte, sondern als Gegebenheit seiner Biographie verstand. Seine Erinnerungen zeigen ebenso wie sein Werk, wie er beide Grundtöne seiner Existenz – die Bindung an das Judentum und das intellektuelle Streben nach autonomer Vernunft und Erkenntnis – zwar nicht in völligen Einklang zu bringen, aber doch so in seinem Denken und Fühlen zu vereinen vermochte, daß sie einander gegenseitig auf faszinierende Weise zum Klingen brachten. Die von den Brüchen des vergangenen Jahrhunderts bestimmte eigenwillige, nicht selten irritierend unorthodoxe Form des Zwiegespräches von Elementen jüdischer Tradition und philosophischer Suche zeugt dabei eben nicht von einer rein privaten Bindung an eine im Grunde irrelevante religiöse Überlieferung, sondern davon, daß er dem Judentum die theologische und
ethische Kraft zutraute, in einer Zeit höchster Gefährdung die Würde menschlicher Existenz bewahren zu helfen – als „Weisheit“ von verdanktem Leben und bejahter Sterblichkeit, als Kraftquelle gegen die Anfechtung nihilistischer Verzweiflung, als Widerspruch gegen Unmenschlichkeit und als Erinnerung an die Verantwortung, so zu leben, daß es Gott nicht „um das Werdenlassen der Welt gereuen muß“.41
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III. Philosophie des Organischen und Ethik der Verantwortung
Gereon Wolters
Hans Jonas’ „philosophische Biologie“1 I. Einleitung: Vorhut und Nachhut in der Philosophie der Biologie Die Philosophie der Biologie scheint in diesen Tagen die am meisten florierende, spezielle Wissenschaftstheorie zu sein. Ihr Aufstieg begann jedoch erst in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese Entwicklung fällt mit dem (vielleicht nur scheinbaren) Niedergang des logischen Empirismus zusammen, der über Jahrzehnte hinweg die vorwärts treibende und herrschende Konzeption der Wissenschaftsphilosophie gewesen war. Im Rahmen des logischen Empirismus hatte es bis in die frühen siebziger Jahre kaum so etwas wie eine Philosophie der Biologie gegeben, so wie wir sie heute kennen. Dasselbe gilt auch für die anderen speziellen Wissenschaftsphilosophien – mit Ausnahme der Philosophie der Mathematik und der Philosophie der Physik. Natürlich hatte es den einen oder anderen logischen Empiristen gegeben, der sich mit der Philosophie der Biologie befaßte. Dabei waren aber nur drei Themen von Interesse gewesen: (1) die Reduzierbarkeit der Biologie auf die Physik, (2) die Axiomatisierung biologischer Theorien, (3) der Streit zwischen Vitalismus und Materialismus. Bei letzterem ging es um die Frage, ob man in lebendigen Organismen Substanzen oder Kräfte finden könne, die sich von den aus der unbelebten Welt bekannten unterscheiden.2 Die gewissermaßen strategische Stoßrichtung derjenigen logischen Empiristen, die sich überhaupt für die Philosophie der Biologie interessierten, war antimetaphysisch. Im Grunde wollten sie nachweisen, daß die Biologie nichts anderes als ein Zweig der Physik sei (auch wenn sich mit einer solchen Auffassung ernste Probleme verbanden) 225
III. Philosophie des Organischen und Ethik der Verantwortung
und daß das Lebendige nichts anderes als Unbelebtes von höherem Komplexitätsgrad darstelle. Im logischen Empirismus gab es allerdings nicht nur keine echte Philosophie der Biologie, auch die allgemeine Wissenschaftsphilosophie war ganz nach dem Vorbild von Mathematik und Physik gestaltet. Sie war kaum mehr als eine Verallgemeinerung von Methoden, die aus diesen beiden Disziplinen stammten. Das alles begann sich in den siebziger Jahren zu ändern, und zwar auf Grund der wachsenden Einsicht, daß sich die Begriffsbildung, die Theoriestruktur und die Methodologie der biologischen Wissenschaften in wichtigen Hinsichten von denen der Physik unterscheiden. Diese Wende ist verknüpft mit den Namen von Philosophen und Biologen wie Morton Beckner, Michael Ghiselin, Thomas A. Goudge, David Hull, Ernst Mayr, Michael Ruse. Trotz des anti-logisch-empiristischen Neuanfangs hielten alle diese Forscher an der strikt erkenntnistheoretischen Orientierung fest, die den logischen Empirismus ausgezeichnet hatte. Michael Ruse, einer der Väter der neuen Philosophie der Biologie, klagt in einem teilweise selbstkritischen Rückblick: „Das Schlimmste an der frühen Philosophie der Biologie […] bestand aus meiner Sicht darin, daß sie das, was als angemessenes Diskussionsthema gelten durfte, sehr begrenzte. Es ging nur um die Epistemologie der Wissenschaft in einem sehr engen Sinne. Es gab keine Humanbiologie. Es gab keine Ethik. Es gab keine Überlegung über das Verhältnis von Wissenschaft und Religion. […] Nun, es gab schlicht überhaupt nicht viel anderes als die begrenzten Studien zur Logik der Rechtfertigung und so weiter.“3 Szenenwechsel: Am 2. Juli 1991 erhielt Hans Jonas die Ehrendoktorwürde der Universität Konstanz. In seiner Ansprache am Ende der Feier gab er eine kurze Beschreibung seiner philosophischen Position und ihrer Zeitgemäßheit im Blick auf die analytische Philosophie. Er ging richtigerweise davon aus, daß, wie ich selbst, auch die übrigen Konstanzer Philosophen eher analytisch orientiert seien. Seine Ansprache ist für seine Philosophie so charakteristisch und so voller ironischen Humors und womöglich sachlicher Trefflichkeit, daß ich der Versuchung nicht widerstehen kann, ein längeres Zitat daraus zu geben:
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Wolters: Hans Jonas’ „philosophische Biologie“
„Irgendwann Anfang der siebziger Jahre unternahm der Dekan der ‚Graduate Faculty of Political and Social Science’ in New York eine Rundreise durch die tonangebenden Stätten akademischer Weisheit oder jedenfalls Macht in Amerika, um sich Urteile über die Zusammensetzung und Ratschläge für die Ergänzung seiner verschiedenen ‚departments’ einzuholen, wozu auch meines, das philosophische, gehörte. Es war einer jener Anfälle von Selbstprüfung, denen unsere etwas außenseiterische, stark mitteleuropäisch besetzte Institution periodisch ausgesetzt war. Zwischen dem Dekan und mir bestand ein Vertrauensverhältnis, und er erzählte mir, was er an einer der renommierten Universitäten von einem renommierten Vertreter des Faches Philosophie über mein ‚department’ gehört hatte. Sie gehen nicht fehl, wenn Sie in dem ‚renommierten’ Fachvertreter sofort einen Sprecher der analytischen Philosophie oder des logischen Positivismus vermuten, die damals die Szene völlig beherrschten und es noch heute tun. Aber dieser war weitherzig. ‚Sie haben da (so soll er gesagt haben) ein interessantes Department: Hannah Arendt, Hans Jonas und so weiter – sehr gut. Freilich, Philosophie ist das nicht. Philosophie, müssen Sie wissen, ist heutzutage eine Spezialwissenschaft mit einem wohldefinierten, sehr formalen Gegenstand und einer wohldefinierten Methode, und davon ist bei Arendt und Jonas nichts zu merken. Was sie tun, ist wichtig; es wäre schade, wenn es dafür nicht auch einen Platz auf der akademischen Szene gäbe […] man müsste einen Namen dafür erfinden […]’. An diesem Punkt des Berichtes brach ich in schallendes Gelächter aus. Da hatte der arme Pythagoras vor zweieinhalbtausend Jahren sich solche Mühe gegeben, einen Namen für das Denkabenteuer zu finden, an dessen Anfängen er stand, und war mit dem Vorschlag ‚philosophia’ auf den Plan getreten! Und heute müssen sich die späten Erben jener Anfänge, die unter eben diesem Namen mit wechselndem Glück und immer strittigem Ergebnis durch die Jahrhunderte fortgegangen waren, nach einem neuen Namen umsehen, weil der alte neuerdings von einer Unterabteilung, der formalen Logik, die immer als Hilfsdisziplin oder ‚Organon’ betrachtet wurde, in Beschlag genommen worden war. […] Die Komik der Sachlage, der mein Gelächter galt, ist natürlich kein Argument gegen die Sache selbst, die hier nicht zur Verhandlung steht; aber meine persönliche Stellung darf ich vielleicht mit einer weiteren Anekdote aus meinen Erinnerungen beleuchten.
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III. Philosophie des Organischen und Ethik der Verantwortung
Von mir sehr gewogener Seite, die mein immer sichtbarer werdendes Einzelgängertum mit einem Gemisch von Glauben und Sorge begleitete, mußte ich manchmal hören: ‚Aber du kannst doch nicht einfach ignorieren, was um dich herum in der Philosophie vorgeht!’ In einem Moment des Übermuts antwortete ich hierauf einmal: ‚Paß auf, ich bin so weit hinten in der Nachhut, ja unter den versprengten Nachzüglern des philosophischen Heerhaufens, daß ich mich eines Tages umdrehe und hinter mir die inzwischen verjüngte Vorhut aufrücken sehe.’ […] [Diese Voraussage] drückte nicht ernsthaft eine Erwartung, sondern scherzhaft die Unbekümmertheit aus, die ich der Zeitgemäßheit gegenüber empfand. […] Bestimmt wollte ich mir nicht von denen, die partout auf Nummer Sicher gehen wollen, vorschreiben lassen, worüber zu denken erlaubt oder verboten ist. […] So gefeit gegen unvernünftige Erwartung und unvermeidliche Enttäuschung zugleich, betrete ich mit einer gewissen Fröhlichkeit das einsam gewordene Feld, bereit, dort auf die schon so oft totgesagte Metaphysik zu stoßen, von der zu neuer Niederlage sich verleiten zu lassen besser ist, als ihren Gesang gar nicht mehr zu hören. […] Die anachronistische Metaphysiksüchtigkeit ist teils getadelt, teils um anderer Verdienste willen mir verziehen worden. Von sich zugesellenden Weggefährten ist mir bislang nichts bekannt. Doch vielleicht habe ich mich nur noch nicht genügend nach der stille aufrückenden Vorhut umgesehen.“4
Nach dieser langen Einleitung ist die Bühne für das vorbereitet, was in diesem Aufsatz diskutiert werden soll. Der nächste Anschnitt stellt die Grundzüge von Hans Jonas’ philosophischer Biologie dar, während der dritte Abschnitt schließlich der Frage nachgeht, ob seine kühne Erwartung eingetreten ist, daß nämlich die Avantgarde einer philosophischen Neuorientierung bereits zu seinem scheinbar unzeitgemäßen Denken aufzuschließen im Begriffe sei.
II. Die philosophische Biologie von Hans Jonas Bekanntlich konzentriert sich das philosophische Denken von Hans Jonas auf drei große Themen: (1) die Interpretation der 228
Wolters: Hans Jonas’ „philosophische Biologie“
Gnosis, (2) die Konzeption einer philosophischen Biologie und (3) die Ethik der Verantwortung für das technologische Zeitalter. Entgegen dem ersten Anschein stehen diese Themen zueinander in enger Beziehung. Jonas’ philosophische Biologie ist ein Versuch, den Dualismus zu überwinden, das heißt jene Entfremdung des Menschen von der Welt, die sowohl das gnostische Denken als auch den Heideggerschen Existentialismus kennzeichnet.5 In letzterem hatte Jonas die interpretativen Gesichtspunkte für die Erkenntnis des Wesens der Gnosis gewonnen. Der Dualismus von Mensch und Welt führt in beiden Konzeptionen zur Verachtung oder wenigstens zur Vernachlässigung der Natur. Diesem Verlust der Dimension des Natürlichen entspricht der Verlust der Dimension des Ethischen. Auf seiten der Gnosis gibt es keine Ethik, weil es in einer Welt, in der die Menschen der Gewalt teuflischer Mächte ausgeliefert sind, keine Freiheit gibt. Im Existentialismus hingegen wird die Ethik überflüssig, weil es nach der Toderklärung Gottes durch Nietzsche keine legitimen Normen mehr gibt, woraus etwa Sartre den Schluß zog, daß jetzt „alles erlaubt“ sei. Der Versuch, den Dualismus von Mensch und Welt zu überwinden, bildet das Herzstück von Jonas’ Philosophie. In zwei Schritten unternimmt er es, erstens in der Welt einen ontologischen und anthropologischen Ort für den Menschen zu finden und zweitens auf der so gefundenen ontologischen Basis eine ihr gemäße Ethik zu entwickeln. Philosophische Biologie bedeutet also für Jonas mehr als das Unterfangen, sich mit der Biologie nun auf die gleiche Weise philosophisch zu befassen, wie man es mit der Physik, Chemie oder Soziologie tun könnte. „Philosophische Biologie“ ist somit nicht bloß „Philosophie der Biologie“. Denn erstens soll Jonas’ philosophische Biologie eine Einsicht in das Phänomen des Lebendigen vermitteln, die mehr ergibt als eine schlichte erkenntnistheoretische Untersuchung. Philosophische Biologie versteht sich darüber hinaus als einen methodisch ebenso eigenständigen wie inhaltlich bedeutsamen Ansatz der Erkenntnis des Lebendigen als eines Sonderphänomens. Zweitens ist philosophische Biologie nicht als eine Alternative zur wissenschaftlichen Biologie angelegt, sondern als wünschbare oder gar notwendige Ergänzung zu ihr. Bei der Entwicklung seiner philosophischen Biologie zielt Jonas 229
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drittens darauf ab, dem Menschen einen Platz im Reich des Lebendigen zuzuweisen, der nicht bloß darin besteht, ihn irgendwo in die Ordnung der Primaten einzugliedern. Leider hat Hans Jonas seine Konzeption nicht systematischdetailliert ausgearbeitet. Gewiß, es gibt Organismus und Freiheit. Dieses Buch besteht aber nur aus Teilen, die bereits früher in Artikelform publiziert worden waren. Jonas ist so ehrlich, nicht den Anschein zu erwecken, als biete er „eine fertige Theorie“ der „organischen Tatsachen des Lebens“ oder der „Selbstdeutung des Lebens im Menschen.“6 In Organismus und Freiheit gibt er eine Begründung für diese zurückhaltende Einstellung: Das Buch enthält lediglich „verschiedene Facetten einer noch unfertigen Philosophie des Organismus und des Lebens. Deren systematische Vorlage traut sich der Verfasser noch nicht zu.“7 Andererseits stellt Hans Jonas’ philosophische Biologie mehr als eine rhapsodische Sammlung verstreuter Gedanken über das Lebendige dar. Erstens geht seine Beschäftigung mit der Biologie auf die frühen vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück, als er in der britischen Armee diente. Fern aller Bibliotheken und aller Möglichkeit zu akademischem Austausch schrieb er seine Reflexionen als „Lehrbriefe“ nieder, welche die „Liebesbriefe“ an seine Frau Eleonore begleiteten. Unter Rückgriff auf die Fragen und kritischen Bemerkungen seiner Frau entstand so Schritt für Schritt jene Konzeption philosophischer Biologie, die in den zwei Nachkriegsjahrzehnten detaillierter ausgearbeitet wurde.8 Zweitens arbeitete Hans Jonas nicht nur zwei Jahrzehnte lang am Projekt einer philosophischen Biologie. Es gibt auch ein Buchmanuskript, aus dem er teilweise das Material für seine ab 1950 publizierten Artikel herausnahm bzw. in das er diese Artikel integrierte. Diese Essays bilden wiederum später das Buch The Phenomenon of Life (1966) bzw. dessen deutsche Fassung Organismus und Freiheit (1973). Es ist zu bezweifeln, daß das besagte Manuskript bereits die endgültige Form von Jonas’ Theorie darstellen sollte, aber es bringt vielleicht auf bessere Weise als die publizierten Werke das „sich entfaltende Wesen“ der Theorie zum Ausdruck und dokumentiert „zugleich einige Schritte auf dem Weg zu ihrer Entwicklung.“9
Hans Jonas war nicht der erste, der eine wissenschaftliche Erklärung des Lebendigen anstrebte, die vom Ansatz der Naturwissenschaften verschieden ist. Goethe ist das vielleicht bekannteste Beispiel für ein solches Projekt. Allerdings steht Goethes Ansatz in einer gewissermaßen strategischen Differenz zu dem von Jonas. Denn Goethe verstand seine Konzeption des Lebendigen im allgemeinen und seine Morphologie der Pflanzen im besonderen nicht als eine Ergänzung zur ‚mechanistischen’ Orientierung der Standard-Naturwissenschaft seiner Zeit, sondern vielmehr als eine Alternative zu ihr. Goethes Einstellung zur mechanistischen Naturwissenschaft des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts läßt sich durch eine Reihe von Oppositionen charakterisieren: (1) Erkenntnis ist für Goethe ein eher anschaulich-synthetisches Verfahren als ein diskursiv-analytisches.10 (2) Erkenntnis der Natur ist Erkenntnis der phänomenalen Natur, das heißt Erkenntnis der Natur, so wie sie vom Menschen wahrgenommen wird.11 (3) Goethe möchte die lebendigen Phänomene „darstellen“ und sie nicht – wie die Naturwissenschaften – „erklären“.12 (4) Goethes „Wissenschaft“ zeigt an Wirkursachen nur ein geringes Interesse. Sie ist vielmehr an den formalen Bedingungen (dem „reinen Phänomen“) interessiert, die sich etwa in der „Gestalt“ oder dem „Bauplan“ der Pflanze ausdrücken.13 (5) Entsprechend geht es Goethe nicht um Naturgesetze, in denen die Ursachen der Dinge ausgedrückt würden; ihm geht es vielmehr um die Entdeckung von „Gestalten“ und deren Bedingungen.14
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Trotz ihrer unterschiedlichen allgemeinen Strategie – bei Jonas Ergänzung der Standard-Biologie, bei Goethe eine Alternative zu ihr – steht Jonas doch mehr in der Nachfolge Goethes als er vielleicht dachte. Wie oben bemerkt, liegt ihm nichts an der Etablierung einer Alternative zur Standard-Biologie. Anders als Goethe will Jonas also nicht selbst zum Biologen werden. Er behauptet lediglich, daß Organismen auch dann noch nicht voll verstanden seien, wenn wir alles über sie wüßten, was man mit den Mitteln der Standard-Biologie über sie in Erfahrung bringen könnte. 231
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Goethe ging von einer ähnlichen Überzeugung aus und kam zu dem Schluß, daß die Wissenschaft ihre Methoden ändern müsse, um dem Manko abzuhelfen. Jonas hingegen ist der Meinung, daß unsere Unzufriedenheit auch mit der besten Standard-Biologie nicht mit Hilfe einer anderen Wissenschaft behoben werden könne, sondern vielmehr durch philosophische Reflexion des Lebendigen. Obgleich eine solche philosophische Reflexion „nur“ eine Ergänzung der Wissenschaft darstellt, besteht Jonas darauf, daß ein angemessenes wissenschaftliches Verständnis des Lebendigen ebenso sehr einer philosophischen Ergänzung bedarf wie angemessene philosophische Reflexion entsprechender wissenschaftlicher Basiskompetenz.15 Unsere Unzufriedenheit mit der biologischen Wissenschaft gründet letztlich – dies ist ein wiederkehrendes Thema im Denken von Hans Jonas – in der dualistischen Trennung von res extensa und res cogitans, in der dualistischen Trennung mithin von Physischem und Mentalem, die von René Descartes im siebzehnten Jahrhundert in die Wissenschaft und die Philosophie eingeführt wurde und seither eine der Grundunterscheidungen der modernen Wissenschaft, ja des modernen Denkens überhaupt darstellt. In dieser Unterscheidung wird die nicht-menschliche lebendige Natur als eine Ansammlung von Maschinen betrachtet, die von Gott, dem größten aller Ingenieure konstruiert wurden. Der Mensch wiederum wird in dieser Perspektive zu einem Geistwesen, das von der organischen Substanz, die ihn einschließt und trägt, mehr oder weniger unabhängig ist. Gegen diesen dualistischen Grundzug der Neuzeit besteht Jonas darauf, daß die lebendige Natur mehr ist als physikalische Natur, und gleichzeitig, daß die ‚Seele’ oder ‚das Mentale’ (wie man heute vorzugsweise sagt) mehr sind als einfach reiner Geist. Physisches und Mentales lassen sich nicht trennen, wenn die lebendige Natur betroffen ist. „Die Tatsache des Lebens als körperlich-seelischer Einheit, wie sie im Organismus da ist, macht die Trennung illusorisch.“16 Entsprechend ist für Jonas der Glaube an ein angemessenes wissenschaftliches Verstehen des Lebendigen mittels der Methoden der physikalischen Wissenschaften allein ebenso illusorisch wie eine vollkommen idealistische Philosophie des Geistes. In ihren jeweiligen monistischen Ansätzen scheitern sowohl der Materialismus
als auch der Idealismus – und sie scheitern beide aus dem gleichen Grund. Sie bauen nämlich beide auf Abstraktionen auf, die „nur unter der Voraussetzung durchgehalten werden, daß die beiden Erscheinungsfelder wenigstens qua Erscheinungen in sich geschlossen sind und sich nicht durch den eigenen Gehalt transzendieren: daß also jedes für sich und ohne das andere intakt beschrieben werden kann. Doch eben der lebendige Leib, der Organismus, stellt eine solche Selbsttranszendierung nach beiden Seiten dar und macht deshalb die methodologische epoché zuschanden. Er muß sowohl als ausgedehnter und träger wie als fühlender und wollender beschrieben werden – aber keine der beiden Beschreibungen kann ohne Grenzüberschreitung in die andere und ohne sie zu präjudizieren zu Ende geführt werden.“17 Auf diese Weise müssen die Reflexionen der philosophischen Biologie im Sinne von Jonas die „partikulären Abstraktionen“ des materialistischen ebenso wie des idealistischen Monismus überwinden. Sie leisten dies, indem sie sich „dem verborgenen Grunde ihrer Einheit annähern und also jenseits aller Alternativen einen integralen Monismus auf höherer Stufe wieder anstreben.“18 Der integrale Monismus der Jonasschen Philosophie des Lebens umfaßt zwei Teile: die Philosophie des Organismus und die Philosophie des Geistes. Das ist „ein erster Satz der Philosophie des Lebens“ in Form einer dieser Philosophie „vorgreifenden Hypothese, die sie im Verlauf ihrer Durchführungen wahrzumachen hat.“19 Das bedeutet, „daß das Organische schon in seinen niedersten Gebilden das Geistige vorbildet, und daß der Geist noch in seiner höchsten Reichweite Teil des Organischen bleibt.“20 Wie Jonas treffend bemerkt, ist letzteres, das heißt die Betrachtung des Mentalen als Teil des Organischen, „im Einklang mit dem modernen Denken“, wogegen eine Sicht, die Vorstufen des Mentalen bereits bei den „untersten“ Gestaltungen des Organischen sieht, „dem antiken Denken gemäß“ war, aber ganz offensichtlich in Widerspruch zum modernen Paradigma steht.21 Für die philosophische Biologie schlägt Jonas nun eine Art methodologischen Gestaltwechsel vor, der uns zu den Alten zurückbringt. Er beginnt seine Überlegungen mit einer metaphorisch ausgedrückten Beobachtung: „Unser Denken heute steht unter
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Wolters: Hans Jonas’ „philosophische Biologie“
der ontologischen Dominanz des Todes.“22 Methodologisch gewendet bedeutet dies den Reduktionismus: Die biologische Wissenschaft hat die lebendigen Dinge mittels der gleichen Methoden zu untersuchen und zu erklären, die sie im Bereich des Unbelebten anwendet. Dies wiederum impliziert, daß die unbelebten Objekte den gewissermaßen normalen und verstandenen, oder doch wenigstens verstehbaren Bereich darstellen, wogegen das Lebendige mit Hilfe des Wissens über das Unbelebte zu erklären ist. Oder daß – anders gesagt – der normale und gewissermaßen natürliche und deswegen verständliche Zustand der Dinge im Bereich des Unbelebten realisiert ist, wogegen im Reich des Lebendigen auf die Spezialwirkung von Kräften in Verbindung mit sehr besonderen Anfangs- und Randbedingungen zu achten ist. In einem gewissen Sinne strebt Jonas eine Rückkehr zur Methodologie der antiken Philosophie an. Dort bestand, etwa bei Aristoteles, der Normalzustand der Dinge in ihrem Lebendigsein. Diese Sicht auf die Welt wurde durch den einfachen und naheliegenden Gedanken begründet, daß wir selbst lebendig sind und deswegen vermutlich besser verstehen, was es heißt zu leben, als was es heißt, nicht zu leben. In Aristoteles’ Naturphilosophie findet man zahlreiche Beispiele, in denen nicht-organische Prozesse mit Hilfe von Modellen erklärt werden, in denen die „organische Entwicklung als Paradigma für die Erklärung aller stofflichen Wandlungen“ genommen werden.23 So erklärt Aristoteles etwa Prozesse außerhalb lebender Körper, in denen Wärme das „Reifen“ und „Kochen“ der Dinge verursacht, mit dem organischen Modell der Verdauung. Jonas’ philosophischer Ansatz ist demjenigen des Aristoteles ‘ ‘ ,24 also ηµιν analog, das heißt, er beginnt mit dem γνωριµωτερον mit dem, was uns von unserer eigenen menschlichen Erfahrung her am besten bekannt ist. Jedoch ist sein Ansatz vom aristotelischen insofern verschieden, als Jonas nicht daran denkt, physiologische Modelle für nicht-physiologische Prozesse einzuführen. Ihm geht es vielmehr darum, das Lebendige in der Perspektive des Mentalen zu verstehen oder – wie oben bereits zitiert – zu zeigen, „daß das Organische schon in seinen niedersten Gebilden das Geistige vorbildet.“25 Jonas versucht dies mit Hilfe einer Art phänomenologischen Betrachtung der Tatsachen des Lebens, wie sie
uns von der biologischen Wissenschaft vorgestellt werden. Diese phänomenologische Reflexion kann in zwei erkenntnistheoretischen Richtungen erfolgen. Für die erste liefert Jonas’ Theorie des Stoffwechsels das beste Beispiel. Seine Theorie des Sehens hingegen folgt der zweiten. Beginnen wir mit der Theorie des Stoffwechsels. Man findet sie in der am besten ausgearbeiteten Form im fünften Kapitel von Organismus und Freiheit („Ist Gott ein Mathematiker? Vom Sinn des Stoffwechsels“).26 Jonas beginnt mit einem Gedankenexperiment, in dem er den Leser einlädt, „die Schöpfung mit den Augen des mathematischen Gottes anzusehen und herauszufinden, welche Gegenstände er erfassen und welche er nicht erfassen würde: welche er daher (da sein Denken die Ursache aller Dinge sein soll) erschaffen und welche er nicht erschaffen haben könnte.“27 Das Ergebnis dieses Gedankenexperiments ist aufregend: Gott würde natürlich alles über die Verdauung wissen, was die Wissenschaft bislang herausgefunden hat, und noch eine ganze Menge mehr, nämlich all das, was diese noch nicht weiß. Aber Gottes „Gegenstandssicht“ wäre immer noch in einem gewissen Sinne weniger wahr als unsere eigene Innensicht, denn „dank dem Umstand, daß wir selber lebende Körper sind, verfügen wir über Kenntnis von innen her. Kraft der unmittelbaren Zeugenschaft unseres Leibes können wir sagen, was kein körperloser Zuschauer zu sagen imstande wäre: daß dem mathematischen Gott in seiner homogenen analytischen Sicht der entscheidende Punkt entgeht – der Punkt des Lebens selber: daß es nämlich selbst-zentrierte Individualität ist, für sich seiend und in Gegenstellung gegen alle übrige Welt, mit einer wesentlichen Grenze zwischen Innen und Außen.“28 Diese „aktive Selbstintegration“ des Organismus äußert sich auf zweifache Art in seinem „Verhältnis […] zu seiner stofflichen Substanz“: Auf der einen Seite fällt der Organismus mit der augenblicklichen „faktischen Ansammlung“ seiner materiellen Teilchen zusammen, auf der anderen aber ist er „an keine einzelne Ansammlung in der Folge der Augenblicke gebunden, sondern nur an deren Form, die er selber ist“. Der Organismus ist mithin für sein Funktionieren zwar grundsätzlich abhängig von materiellen Teilchen, aber unabhängig davon, daß es die in einem bestimmten
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Wolters: Hans Jonas’ „philosophische Biologie“
Augenblick tatsächlich vorliegenden sind: „Seine eigene funktionale Identität fällt nicht mit ihrer substantiellen Identität zusammen.“ Diese dialektische Beziehung der organischen Form zur stoffwechselnden Materie, aus der sie gebildet wird, beschreibt Jonas als „Verhältnis bedürftiger Freiheit (der organischen Form) zum Stoffe.“29 Auf der einen Seite benötigt der Organismus also Materie zur Aufrechterhaltung seines Lebens und seiner Individualität, auf der anderen Seite aber ist er frei bei der Auswahl der bestimmten Materie, mit der er dieses Ziel erreichen will. Es ist hier nicht der Ort, die Details von Jonas’ subtiler Beschreibung dieser Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit auszubreiten, die man bereits bei den einfachsten Organismen findet. Es genügt die Feststellung, daß die phänomenologische Betrachtung des Organismus bereits in dessen einfachsten Formen Spuren von Freiheit ausmachen kann, das heißt Spuren von dem, was in einem wesentlichen Sinne das menschliche Leben kennzeichnet. Dies wiederum bedeutet, daß Freiheit, die in den dualistischen Konzeptionen von Descartes oder Kant zur res cogitans (Descartes) bzw. zur „noumenalen“ Welt der reinen Vernunft (Kant) gehört, in Wirklichkeit ihre Grundlage im organischen Leben besitzt. Die Tatsachen des Lebens selbst stellen mithin eine ontologische Widerlegung des Dualismus als einer irreführenden Abstraktion von der organischen Realität dar. Die erkenntnistheoretische Reflexionsrichtung von Jonas’ Theorie des Stoffwechsels geht von der Freiheit aus zum Stoffwechsel hin, das heißt wir verstehen das Phänomen des Stoffwechsels auf der schlichten Basis unserer menschlichen Selbsterfahrung der Freiheit in einer umfassenderen und tieferen Weise als sie die bloß wissenschaftliche Betrachtung oder auch der göttliche Mathematiker zu liefern vermöchten. Dieser erkenntnistheoretische Zugang zur organischen Form von der Seite des Mentalen her zeigt gleichzeitig das Mentale als ontologisch vermittelt mit dem Organischen, das heißt dem Physischen. In seiner Theorie des Sehens wählt Jonas die umgekehrte erkenntnistheoretische Reflexionsrichtung.30 Es ist hier nicht der biologische Vorgang des Sehens, der nur durch Rekurs auf die menschliche Erfahrung des Sehens angemessen verstanden werden könnte, so wie oben der biologische Stoffwechsel unter
Rekurs auf Freiheit tiefer und umfassender erkannt wurde. Die Reflexionsrichtung ist vielmehr umgekehrt. In der Theorie des Sehens wird das Geistige umfassender verstanden, indem man auf seine organismisch-materielle Basis rekurriert. Nur so verstehen wir die „einzigartige Auszeichnung des Sehens“ richtig. Diese Auszeichnung manifestiert sich in unserer Kultur im Begriff der theoria (ein Wort, das vom griechischen θεωραν [sehen]) abgeleitet ist). Interkulturell und allgemein anthropologisch entspricht dem die von Jonas so genannte „Bild-Leistung“. Die BildLeistung hat drei Merkmale: Das erste ist „Simultaneität in der Darstellung eines Mannigfachen“,31 also die Fähigkeit des Sehens, den Augenblick der Gegenwart zu konstituieren, mithin den Augenblick der „Ruhe“ im beständigen Fluß der Dinge. Dies wiederum ist die Basis der „Unterscheidung zwischen dem, was sich ändert, und dem, was bleibt, und damit zwischen Werden und Sein.“32 Die zweite Komponente der Bild-Leistung besteht in der „Neutralisierung der Kausalität der Sinnesaffektion.“33 Das bedeutet, daß wir die einzelnen Photonen, die auf unsere Netzhaut treffen, nicht empfinden. Erst das Resultat ihrer Einwirkung wird wahrgenommen. Das aber liefert, wie Jonas in einer faszinierenden Analyse zeigt, die organische Basis unserer Begriffe von Objektivität und von Theorie. Die beiden ersten Merkmale der Bild-Leistung setzen das Element der Distanz voraus. „Um die richtige Ansicht zu gewinnen, nehmen wir den richtigen Abstand, der für verschiedene Gegenstände und verschiedene Zwecke variieren mag.34 Abstand im Sehfeld erweist sich so zum einen als die organische Basis intellektueller Distanz und zweitens als Grundlage des Begriffs des Unendlichen, der begründet ist im „indefinite(n) ‚Undsoweiter’, mit dem die visuelle Wahrnehmung durchtränkt ist, ein stets bereites Potential für Aktualisierung.“35 Wie oben gesagt, ist die erkenntnistheoretische Reflexionsrichtung im Fall des Sehens verschieden vom Fall des Stoffwechsels. Im Fall des Stoffwechsels trägt die mentale oder intellektuelle Seite zum umfassenden Verständnis des Physischen bei. Im Fall des Sehens ist es hingegen die intellektuelle oder kulturelle Seite, die erkenntnistheoretischen Vorteil aus einer phänomenologischen Reflexion des Physischen zieht.
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III. Vorhut und Nachhut Die eingangs zitierten Jonasschen Metaphern von Vorhut und Nachhut legen es nahe, die Philosophiegeschichte als eine Abfolge von Kreisläufen zu betrachten, also anzunehmen, daß es so etwas wie eine ewige Wiederkehr von Denkweisen gibt. Hieran ist etwas Wahres. Es sei an die oben angeführte Klage von Michael Ruse über die Engführung der Standardform der philosophischen Biologie erinnert. Gewiß, der Jonassche Ansatz enthält all jene Themen, die Ruse vermißt. Ich bezweifle jedoch, ob analytische Philosophen so einfach Jonas’ Denkergebnisse zu akzeptieren geneigt sind. Denn diese Ergebnisse verdanken sich auf der einen Seite der phänomenologischen Einstellung und bestehen auf der anderen in der Anwendung eines großen Reichtums an kulturellen und historischen Assoziationen. Letztere stehen nicht jedermann zur Verfügung und ersteres ist nicht nach jedermanns methodologischem Geschmack. Die analytische Methode in der Philosophie strebt nach der Intersubjektivität und Objektivität ihrer Resultate in so ziemlich der gleichen Weise wie die Naturwissenschaften. Der Preis, den sie dafür zu zahlen hat, ist – wie bei den Naturwissenschaften – ein Mangel an Umfassendheit. Andererseits hat aber auch die Phänomenologie ihren Preis: Für den Gewinn an Umfassendheit ist der Preis geringerer Intersubjektivität und Objektivität zu zahlen. Dabei ist die Phänomenologie gewiß weit davon entfernt, willkürlich zu sein. Auch sie hat ihre Methoden und Regeln. Auch sie ist ein diskursives und argumentatives Unternehmen und qualifiziert sich so als Philosophie. Auch die Phänomenologie führt oft zu Resultaten, die weithin akzeptiert werden können. Jedoch ist sie der analytischen Philosophie in folgender Hinsicht unterlegen: Je „interessanter“ die Resultate eines phänomenologischen Ansatzes, um so weniger intersubjektiv und objektiv und um so stärker kulturgebunden sind sie. Was für Jonas’ phänomenologischen Ansatz zur Erforschung des Lebendigen gilt, das gilt mutatis mutandis auch für andere Sichten auf das Lebendige, etwa die ästhetische, die politische oder – gewiß nicht für jeden akzeptabel – die religiöse. Jede dieser Annäherungen ans Lebendige muß ihre Regeln und Verfahren besitzen, um zu kognitiv akzeptablen Resultaten zu gelangen. 238
Wolters: Hans Jonas’ „philosophische Biologie“
Kein solcher Ansatz läßt sich durch einen anderen ersetzen. Sie alle tragen auf ihre Weise zu einem möglicherweise volleren Verständnis des Lebendigen bei. Ich möchte diese pluralistische methodologische Konzeption die „Multiperspektivität“ des Lebendigen nennen. Die Multiperspektivität des Organischen besteht meines Erachtens nicht einfach in der Möglichkeit, aus unterschiedlichen methodologischen Perspektiven den Organismus zu betrachten, das heißt in etwas, das man tun, aber auch lassen kann. Die unterschiedlichen Perspektiven sind vielmehr auf unentwirrbare Weise miteinander verwoben. Wenn man in der einen Perspektive voranschreitet, kann man plötzlich auf Probleme stoßen, die aus einer anderen stammen und von einer Bedeutung sind, die zur Folge hat, daß man sie nicht einfach außer acht lassen kann. Hier einige Beispiele aus der zeitgenössischen Forschung, die ganz auf einer Linie mit Jonas’ zentralen Intentionen liegen. Das erste bezieht sich auf seinen integralen Monismus des Mentalen und des Physischen. In den letzten Jahren wurde die sogenannte Theorie des eingekörperten Geistes (theory of the embodied mind) entwickelt, unter anderem mit dem Ziel, die Bedeutung der grundlegenden arithmetischen und mengentheoretischen Begriffe durch Rekurs auf ihre evolutionären, leiblichen Ursprünge zu erklären.36 Trotz vieler gravierender Mängel liegt dieser Ansatz generell auf der gleichen Linie wie Hans Jonas’ Überzeugung, daß einige philosophische Grundbegriffe ihren Ursprung in leiblichen Vorgängen haben, so wie er dies in „Der Adel des Sehens“ gezeigt hat. Ein anderes Beispiel enthüllt eine Analogie zu Jonas’ Konzeption der Rolle der Freiheit unter Bezug auf den Stoffwechsel sowie seine Theorie der „aktiven Selbstintegration“ des Organismus. In seiner „Medawar Lecture“ von 1986 sprach sich Karl Popper für das aus, was er „aktiven Darwinismus“ nannte. Die Position des aktiven Darwinismus „geht davon aus, daß sehr früh in der Geschichte des Lebens auf der Erde die lebenden Organismen […] gewisse Verhaltensmerkmale erwarben: Sie wurden aktive Kundschafter […], die neugierig nach neuen Umwelten suchten, […], nach neuen Lebensräumen, bisweilen lediglich nach leicht veränderten Lebensweisen und vor allem nach probeweisem Verhalten. […] Solche geistähnlichen [Hervorhebung nicht im Original, G. W.] und aktiv darwinistischen Kräfte werden mit 239
III. Philosophie des Organischen und Ethik der Verantwortung
Wolters: Hans Jonas’ „philosophische Biologie“
der Zeit ebenso wichtig wie die passiv darwinistischen Kräfte, häufig sogar wichtiger.“37 Ich möchte Poppers Ideen hier keiner Kritik unterziehen, sondern nur bemerken, daß sie sofort eine Reaktion des Biologen Max Perutz hervorgerufen haben, der zu den Hörern von Poppers Vorlesung zählte. Perutz verweist in seiner Stellungnahme darauf, daß – anders als Popper es sehe – „aktiver Darwinismus“ stets einen Teil der Standardkonzeption der Evolutionstheorie ausgemacht habe.38 Wie auch immer, es scheint klar, daß zentrale Gedanken von Jonas gegenwärtig diskutiert werden, aber leider so, daß er nicht einmal erwähnt wird. Das gleiche gilt für ein Beispiel aus der neueren analytischen Philosophie. Man erinnere sich, daß das, was Jonas die „Innerlichkeit“ des Organismus nennt, also das, was nicht einmal der göttliche Mathematiker wissen kann, einen zentralen Punkt seiner Philosophie des Stoffwechsels darstellt.39 In einem inzwischen klassischen Artikel fragt der New Yorker Philosoph Thomas Nagel: „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ (What is it like to be a bat?). Seine Antwort lautet: Wir wissen es nicht und können es prinzipiell nicht wissen. Für Nagel gibt es Tatsachen der inneren phänomenalen Erfahrung, die für Wesen mit anderer Artzugehörigkeit – ja nicht einmal für Wesen der gleichen Art – zugänglich sind, „Tatsachen, die einen partikularen Standpunkt verkörpern.“40 So können wir beispielsweise nicht wissen, wie es für eine Fledermaus ist, an einem Balken unter dem Dach zu hängen. Was wir allenfalls wissen können, ist, wie es für uns wäre, unter dem Dach zu hängen. Es gibt einen subjektiven Grundzug aller Erfahrung, der „essentiell mit einem einzigen Standpunkt verbunden ist“, und „es scheint unvermeidlich, daß eine objektive physikale Theorie diese Perspektive aufgeben wird.“41 Nagels Grundgedanke stellt eine Herausforderung für jede physikalistische Theorie des Mentalen dar. Trotz einer beinahe nicht mehr überschaubaren Literatur zu diesem Thema habe ich bisher nicht den Eindruck gewonnen, daß der Physikalismus in der Philosophie des Geistes die von Nagel identifizierte begriffliche Hürde zwischen dem Blick der ersten und dem der dritten Person genommen hätte. Meiner Meinung nach zeigt die Idee der Multiperspektivität biologischer Phänomene mit ihrem Ineinander-Verwobensein
unterschiedlicher Perspektiven, daß Hans Jonas’ philosophische Biologie alles andere als ein unzeitgemäßes und anachronistisches Unternehmen darstellt. Dies gilt sowohl für seine Methoden wie auch für seine Resultate. Wo auch immer Hans Jonas tatsächlich stand, als er sich 1991 in der Nachhut des „philosophischen Heerhaufens“ oder in der Vorhut einer neuen Orientierung in der Philosophie lokalisierte, in diesen Tagen scheint sich seine philosophische Biologie mitten im philosophischen Gefechtsfeld zu befinden oder sollte jedenfalls dort angesiedelt sein.
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Müller: Organismus und Verantwortung
Wolfgang Erich Müller
Organismus und Verantwortung. Hans Jonas’ Begründung der Ethik in der Philosophie des Lebens Die folgenden Ausführungen unternehmen den Versuch, in einem werkimmanenten Ansatz aufzuzeigen, daß der auf den ersten Blick erstaunliche Weg des Gnosisforschers Hans Jonas zum Verantwortungsethiker unmittelbar aus den Implikationen seines eigenen Werkes folgt. In diesem Zusammenhang spielt das 1966 in New York veröffentlichte Werk The Phenomenon of Life. Towards a Philosophical Biology1 eine besonders wichtige Rolle, weil es den in der religionsgeschichtlichen Erscheinung der Gnosis vernachlässigten Sachverhalt des Lebens reflektierte und so die Voraussetzung für den Entwurf einer Ethik schuf.
I. Grundsätzlich deutete Jonas die Gnosis in seinen religionsgeschichtlich-philosophischen Arbeiten im Sinne eines Dualismus, „der die Metaphysik und Religion von jeher verführt hatte; aber mehr noch existentiell als Extremfall einer Krise menschlichen Selbst- und Seinsverständnisses, einer Entzweiung von Mensch und Welt, Natur und Geist, Welt und Gott.“2 Aus dieser existenzanalytischen Perspektive erscheint die Gnosis vor allem als eine antike Form des Nihilismus. In seinem 1952 erstmals publizierten Aufsatz „Gnosticism and Modern Nihilism“, der in Organismus und Freiheit wieder abgedruckt ist,3 wandte Jonas sein Verständnis der Gnosis auf den modernen Existentialismus an und gelangte auf diese Weise zu einer erstaunlichen Parallele, insofern er beide Geistesströmungen als dualistischen Nihilismus interpretierte, wenn auch mit einer wichtigen Differenz: „Ein kardinaler 242
Unterschied zwischen gnostischem und existentialistischem Dualismus ist nicht zu übersehen: Der gnostische Mensch ist geworfen in eine widergöttliche und daher widermenschliche Natur; der moderne in eine gleichgültige. Erst letzteres bedeutet das absolute Vakuum, den wirklich bodenlosen Abstand […]. Daß die Natur sich nicht kümmert, ist der wahre Abgrund. Daß nur der Mensch sich kümmert, in seiner Endlichkeit mit nichts als den Tod vor sich, allein mit seiner Zufälligkeit und der objektiven Sinnlosigkeit seiner Sinnentwürfe, ist wahrlich eine präzedenzlose Lage.“4 War der gnostische Dualismus wenigstens widerspruchslos, weil die Idee einer dämonischen Idee, gegen die das Ich sich zu gewinnen hatte, sinnvoll ist, so ist aus der Sicht des Existentialismus die Natur vollkommen indifferent, was dann auch für das von ihr hervorgebrachte Sein des Menschen gilt. Damit aber ist die Menschlichkeit des Menschen zutiefst in Frage gestellt. Um diese Konsequenz zu vermeiden und zu einem den Dualismus überwindenden Neuansatz zu kommen, erinnerte Jonas zunächst an Martin Heidegger: „Wenn aber die tiefere Einsicht Heideggers richtig ist, daß angesichts unserer Endlichkeit wir finden, daß es uns darum geht, nicht nur daß wir, sondern auch wie wir existieren, dann muß die bloße Tatsache, daß es ein solches Interesse irgendwo in der Welt gibt, auch die Ganzheit qualifizieren, die diesen Tatbestand erhält; und erst recht, wenn sie ihn hervorgebracht hat.“5 Damit stellte Jonas auf ganz neue Weise die Frage nach einer den Menschen verpflichtenden Ordnung der Natur, die er in der philosophischen Biologie erarbeitet hatte und die später zum Fundament seiner Ethik werden sollte.
II. In der Tradition der europäischen Geistesgeschichte, von Platon bis Leibniz, hat man die Natur als von Gott geschaffen vorgestellt.6 Ihr zufolge kann man in dem Buch der Natur lesen, um die Gedanken Gottes mit seiner Schöpfung zu erfahren. Diese integrierende Ordnung der Natur hat bereits Johannes Kepler verlassen, indem er den Begriff des Erkennens nicht mehr auf die Betrachtung der Ordnung des Seins bezog, sondern auf den Vergleich von 243
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Messungen. Betonte die Antike noch die vorgegebene Ordnung, in die sich das Einzelne integriert, so geht die Moderne den umgekehrten Weg vom Einzelnen zum Ganzen. Daraus leitet Jonas für die Moderne kritische Konsequenzen ab: „Da das Ganze nun aus den Teilen erklärt wird, bedeutet Verstehbarkeit jetzt Rückführbarkeit auf dasjenige, was, als elementar, im alten Sinne am wenigsten verstehbar ist, weil es im eigenen Vollzug am wenigsten Verstand verrät, d. h. am blindesten ist. Mit einem Wort also, für die moderne Idee des Naturverständnisses wird das Unintelligenteste das Intelligibelste, das Vernunftloseste das Vernunftgemäßeste. Am Grunde aller Rationalität der Naturordnung liegt die bloße Tatsache quantitativer Konstanten im Verhalten der Materie, oder das Prinzip der Gleichförmigkeit als solcher, das seine erste Feststellung im Trägheitsgesetz fand – gewiß kein Zeugnis immanenter Vernunft.“7
Die Idee einer dem Gesetz unterworfenen Natur hat aus Jonas’ Sicht ihre weiterreichenden Konsequenzen durch das Denken Descartes’ erhalten, denn hier ist die Wirklichkeit in die denkende und die ausgedehnte Substanz differenziert. Die denkende Substanz (res cogitans), das Ich, tritt der Natur, der res extensa, gegenüber. Da sie nicht mehr mit dem Intelligiblen verbunden ist, wird sie zur selbstgenügenden Materie reduziert. Diese Trennung von Vernunft/Bewußtsein und Materie wirkt sich geisteswissenschaftlich in der Durchsetzung des Materialismus aus. Die Materie, das Geist- und Leblose, wird darin zum „Maßstab aller Verstehbarkeit“ – auch für das Organische.8 Gegen diese Sicht wollte Jonas den Aspekt des Lebens wiedergewinnen. Zu diesem Zweck bezog er sich, um die seit Descartes nicht mehr vermittelbaren Bereiche von Geist und Natur zu einen, auf die unmittelbare „Zeugenschaft unseres Leibes“ mit Blick auf das Leben.9 Was das Individuum betrifft, das von der Erfahrung der eigenen Leibhaftigkeit ausgeht, konnte er nunmehr aussagen, das Leben sei nicht von der vorfindlichen Materie abhängig, letztere aber sei für den Prozeß des Lebens notwendig:
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Müller: Organismus und Verantwortung
„Dies ontologische Individuum, seine Existenz in jedem Augenblick, seine Dauer und seine Selbigkeit im Dauern, sind also wesentlich seine eigene Funktion, sein eigenes Interesse, seine eigene stete Leistung. In diesem Prozeß selbsterhaltenden Seins ist das Verhältnis des Organismus zu seiner stofflichen Substanz zwiefacher Art: die Materialien sind wesentlich für ihn der Art nach, zufällig der Diesheit nach; er fällt mit ihrer faktischen Ansammlung im Augenblick zusammen, ist aber an keine einzelne Ansammlung in der Folge der Augenblicke gebunden, sondern nur an deren Form, die er selbst ist: abhängig von ihrer Verfügbarkeit als Material, ist er unabhängig von ihrer Selbigkeit als diese; seine eigene funktionale Identität fällt nicht mit ihrer substantialen Identität zusammen. Mit einem Wort: die organische Form steht in einem Verhältnis bedürftiger Freiheit zum Stoffe.“10
Der Organismus ist also auf die Verfügbarkeit der Materie angewiesen, behält aber seine eigene funktionale Identität, die nicht mit der Substanz zusammenfällt. Diese Besonderheit des Lebens im Gegenüber zur Materie brachte Jonas mit Hilfe der metaphysischen Unterscheidung von Form und Stoff zum Ausdruck: Die selbständige Form als „Wesenscharakter des Lebens“11 bewirkt eine bestimmte Ansammlung von Materie. Gleichzeitig aber bedarf sie der Materie, um am Sein Anteil zu haben. Die „lebendige Form“ ist „nur eine raum-zeitliche Durchgangsstation für die Stoffe, die auf Zeit und nach eigenem Gesetz in ihren Grenzen weilen.“12 Die Form bindet damit die Materie aktiv an sich und baut diese auf. Als Grundmodell, welches es gestattet, die Priorität der Form in ihrer gleichzeitigen Angewiesenheit auf den Stoff zu denken, erkannte Jonas den Stoffwechsel, den er als „Emanzipation der Form […] von der unmittelbaren Identität mit dem Stoffe“ interpretiert.13 Da er diese Emanzipation zugleich als „Freiheit“ bezeichnete, konnte er sie im Lebensprozeß selbst verankert sehen.14 Sie kennzeichnet den Übergang von der leblosen zur lebendigen Materie, wobei jedoch der Grund dieser Transgression als „Werdegeheimnis […] unzugänglich“ bleibt.15 Damit erscheint die Freiheit als „ontologischer Grundcharakter des Lebens.“16 Die Freiheit der Form ist mit dem Stoff antinomisch verbunden: „Der Stoffwechsel also, die auszeichnende Möglichkeit 245
III. Philosophie des Organischen und Ethik der Verantwortung
Müller: Organismus und Verantwortung
des Organismus, sein souveräner Vorgang in der Welt der Materie, ist zugleich seine zwingende Auferlegung. Könnend, was er kann, kann er doch nicht, solange er ist, nicht tun, was er kann. Im Besitze des Vermögens muß er es betätigen, um zu sein, und kann nicht aufhören, dies zu tun, ohne aufzuhören zu sein: eine Freiheit des Tuns, aber nicht des Unterlassens.“17 Die Polaritäten von Stoff und Form haben jedoch nur miteinander Anteil am Sein. Oder anders gesagt: Das Leben besitzt nur solange seine Freiheit, wie es der Notwendigkeit des Stoffwechsels folgt. Es ist auf den in der Welt vorfindlichen Stoff bezogen und damit weltbezogen. Diese dialektische Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit ist nach Jonas „durch das Vermögen des Welthabens überboten“: „Die Selbsttranszendierung des Lebens in Richtung auf Welt, die in der Sinnlichkeit zum Gegenwärtighaben einer Welt führt, entspringt mit all ihrem Versprechen höherer und umfassenderer Stufen der primären Antinomie der Freiheit und Notwendigkeit, die im Sein des Organismus als solchen wurzelt.“18 Diese Bedürftigkeit des Lebens weist auf seine fortwährende Selbsttranszendierung hin, „die in den höheren Stufen dem Selbst eine immer weitere Welt eröffnet.“19 Da das Leben an seinem eigenen Dasein Interesse hat, wohnt ihm keine blinde Dynamik, sondern eine selektiv vorgehende, durch ihre eigene Subjektivität gekennzeichnete Bewegung inne. Damit ist der Horizont der Zeit mitgenannt, doch nicht nur jener der Vergangenheit, sondern auch jener der Zukunft. Leben kommt nicht nur von etwas her, sondern ist in weit höherem Maße auf das gerichtet, „was es sein wird und gerade sich anschickt zu werden.“ Darin sah Jonas die Zweckbezogenheit des Lebens hervortreten: „‚Zweckhaftigkeit’ ist in erster Linie ein dynamischer Charakter einer gewissen Weise zu sein, zusammenfallend mit der Freiheit und Identität der Form relativ zum Stoff, und erst in zweiter Linie ein Faktum der Struktur oder physischen Organisation, wie es im zweckdienlichen Verhältnis der organischen Teile (‚Organe’) zum Ganzen und in der funktionellen Tauglichkeit des Organismus überhaupt vorliegt.“20 Die Besonderheit des Lebens umfaßt somit ihre teleologische Zweckhaftigkeit, welche die zukünftige Möglichkeit von Sein selbst in sich mitsetzt. Diese teleologische Ausrichtung ist mit dem Vorhandensein des Organismus gegeben und zeichnet
das Lebendige aus: „Aber immer ist die Zielstrebigkeit des Organismus als solchen da und sein Drang zum Leben: wirksam schon in aller vegetativen Tendenz, erwachend zu urtümlichem Gewahrsein in den dunklen Reflexen, in der antwortenden Reizbarkeit niedriger Organismen; mehr noch in Drang und Mühe und Lust und Angst tierischen, mit Bewegung und Sinnlichkeit begabten Lebens; schließlich zu reflexiver Helle gelangend in Bewußtsein, Wille und Denken des Menschen – all dies sind innerliche Aspekte der teleologischen Seite in der Natur der ‚Materie’.“ Kurz: „Es gibt keinen Organismus ohne Teleologie.“21 Die Teleologie wird von der modernen Wissenschaft diskreditiert, seitdem Bacon sie zu den dem Menschen angeborenen Vorurteilen gerechnet hat. Dagegen vertrat Jonas die Auffassung, der Dualismus Descartes’ lasse sich nur dann überwinden, wenn man „die res cogitans in ihrer organischen Fundierung“ als „Teil und Produkt der einheitlichen Natur“ verstehe.22 Die moderne Verbannung der Teleologie führe dazu, „den Menschen sich selbst zu entfremden und der Selbsterfahrung des Lebens die Echtheit abzusprechen.“23 Daß Jonas die Teleologie als „Kausalmodus der Natur“24 und als Garant der wirklichen Lebensauffassung beschrieb,25 bedeutet nicht, daß er das Leben als determiniert verstanden wissen wollte. Vielmehr erblickte er im „Begriff der Freiheit“ einen „Leitbegriff für die Interpretation des Lebens.“26 Zielbestimmtheit und Freiheit verbinden sich, da sich Leben nicht zwingend entwickelt hat. Gleichzeitig ist die Freiheit in ihrem Charakter antinomisch, denn sie ist zur eigenen Realisation auf den Stoff angewiesen, der sich nur in der jeweiligen Subjektivität eines bestimmten Weltbezuges des Lebens darstellt.
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III. Damit hat Jonas eine immanente Teleologie des Lebendigen herausgearbeitet, die als bestehende Naturordnung anzuerkennen ist. Im Epilog seines Werkes Organismus und Freiheit hob er die Verbindung von philosophischer Biologie und Ethik hervor: „Durch die Kontinuität des Geistes mit dem Organismus und des Organismus mit der Natur wird die Ethik ein Teil der Philosophie 247
III. Philosophie des Organischen und Ethik der Verantwortung
Müller: Organismus und Verantwortung
der Natur.“27 Hierin deutet sich das Prinzip einer Ethik an, „das letztlich weder in der Autonomie des Selbst noch in den Bedürfnissen der Gesellschaft begründet wäre.“28 Dieses Prinzip läßt sich auch nicht mehr auf eine göttliche Autorität zurückführen, sondern muß in der Natur der Dinge selbst gründen, wie sie in der Naturordnung der Teleologie deutlich wird. Jonas deutete demnach die in Organismus und Freiheit postulierte Naturordnung als Absolutum, von dem her das Sein ethisch angemessen verstanden werden müsse. Im Prinzip Verantwortung legte er dann die metaphysische Denkstruktur dar, mit deren Hilfe er die tragende Bedeutung der Naturordnung für eine Ethik in der technologischen Zivilisation hervorzuheben vermochte. Entgegen der modernen Ablehnung der Metaphysik verwies Jonas auf die Bilanz unseres gefährdeten Lebens und die daraus erwachsende Notwendigkeit zu handeln. Letztere erfordere zwingend, die Basis des Handelns zu begründen – eine äußerst schwierige Aufgabe: Angesichts der technischen Möglichkeiten der Gegenwart und der Tatsache, daß es in der heutigen, durch den Nihilismus gekennzeichneten Zeit keine höchste Entscheidungsinstanz mehr gibt, die imstande wäre, einen absoluten Wert als objektive Wahrheit zu benennen, wäre – als Ausdruck menschlicher Verantwortung – eine neue „Demut“ dringend nötig,29 die dazu veranlaßt, gewisse Dinge nicht zu tun, sich mit Blick auf die Zukunftsfolgen technologischen Handelns zu beschränken. Doch auf welche Kraft soll die angemessene Reflexion der Zukunft und des zukünftigen Seins bauen, wenn die Grundlagen, von denen sich Normen ableiten lassen, fortgespült und entsprechend auch nicht in der politischen Verfaßtheit der Gegenwart gegeben sind? „Es ist die Frage, ob wir ohne die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen, die am gründlichsten durch die wissenschaftliche Aufklärung zerstört wurde, eine Ethik haben können, die die extremen Kräfte zügeln kann, die wir heute besitzen und dauernd hinzuerwerben und auszuüben beinahe gezwungen sind.“30 Da aber auch eine „Religion“, die der ethischen Reflexion diese Aufgabe der Fundierung einer „Ordnung der Handlungen und für die Regulierung der Macht“ abnehmen könnte,31 nicht mehr selbstverständlich plausibel ist, gilt es für die neu zu formulierende Ethik der Verantwortung eine andere
Basis zu finden: „Die Begründung einer solchen Ethik, die nicht mehr an den unmittelbar mitmenschlichen Bereich der Gleichzeitigen gebunden bleibt, muß in die Metaphysik reichen, aus der allein sich die Frage stellen läßt, warum überhaupt Menschen in der Welt sein sollen: warum also der unbedingte Imperativ gilt, ihre Existenz für die Zukunft zu sichern. Das Abenteuer der Technologie zwingt mit seinen äußersten Wagnissen zu diesem Wagnis äußerster Besinnung. Eine solche Grundlegung wird hier versucht, entgegen dem positivistisch-analytischen Verzicht der zeitgenössischen Philosophie. Ontologisch werden die alten Fragen nach dem Verhältnis von Sein und Sollen, Ursache und Zweck, Natur und Wert neu aufgerollt, um die neu erschienene Pflicht des Menschen jenseits des Wertsubjektivismus im Sein zu verankern.“32 Die Metaphysik stellt somit die letzte Möglichkeit dar, unter gegenwärtigen Bedingungen noch zu einer Handlungsautorität zu gelangen. Wie aber gelangt man nun zu einem Vorbild für das eigene Handeln? Für „die Bestimmung von Leitbildern“ muß eine Autorität „behauptet“ werden, die sich allein auf unsere eigene „wesenhafte Zugänglichkeit unseres innerweltlichen Gewordenseins“ stützen kann. „Diese Zulänglichkeit der Menschennatur, die als Voraussetzung aller Ermächtigung zu schöpferischer Schicksalslenkung zu postulieren und nichts anderes ist, als die Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Freiheit, ist aber ein Ungeheures im Fluß des Werdens, aus dem es emportauchte und den es mit seinem Wesen übersteigt, von dem es aber auch wieder verschlungen werden kann.“33 Jonas wollte die Handlungsautorität nicht von außen im Sinne einer gebietenden Instanz begründen, sondern aus der wesenhaften Integrität des Menschen ableiten. Letztere verstand er inhaltlich als seine Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Freiheit, die ihn zu schöpferischem Handeln ermächtigt. Ihr Besitz „besagt also, daß es ein Unendliches in dem Flusse zu bewahren, aber auch ein Unendliches zu verlieren gibt.“34 Die Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Freiheit ist ein Unendliches, das bewahrt werden muß, damit es nicht verlorengeht. Durch die Folgen der Technologie steht das menschliche Sein auf dem Spiel und mit ihm „ein, bei aller physischen Herkünftigkeit, metaphysischer Tatbestand“, ein „Absolutum,
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das als höchstes und verletzliches Treugut uns die höchste Pflicht der Bewahrung auferlegt.“ Dabei steht etwas auf dem Spiel, „das sein Heil von keiner Zukunft zu erwarten hat, da es schon ‚heil’ in seiner Anlage ist.“35 Das Sein ist das Absolutum, jener metaphysische Tatbestand, der vom Menschen selbst mit seiner gewachsenen Macht vernichtet werden kann, den es aber unbedingt zu bewahren gilt.
nicht im Sinne einer Antwort auf die Frage nach der kontingent bleibenden Verursachung verstanden wissen, doch er schrieb dem Bekenntnis zu Gott als Schöpfer eine wichtige Funktion zu, die sich jetzt nicht mehr auf die Hervorbringung der Welt bezog, sondern auf deren Relation zu Gott. Das Buch Genesis der Hebräischen Bibel und Platons Timaios belegten aus seiner Sicht gleichermaßen die Vorstellung, daß Gott die Welt als etwas Gutes gewollt habe. Die Welt entstammt also keinem blinden Wollen, vielmehr gilt, „daß er sie wollte, weil ihre Existenz gut ist, nicht daß sie gut ist, wie er sie wollte.“39 Es ging Jonas in erster Linie um das Seinsollen der Welt. Die Frage nach dem Urheber ist davon zu trennen, denn auch dem „göttlichen Schöpfer“ war „ein solches Seinsollen gemäß dem Begriff des Guten“ vorgegeben und damit „der Grund für sein Schaffen.“ Dieses Gute, diese „Wahrnehmung von Wert in der Welt“, deutete Jonas zugleich als einen möglichen Beweggrund, auf einen göttlichen Urheber der Welt zurückzuschließen. Er wollte also die Vorstellung vom Guten als Grund des Seinsollens der Welt unabhängig von theologischer Reflexion metaphysisch begründen. Aufgabe der Metaphysik sei es, das Seinsollen der Welt zu formulieren, wenn auch nicht im Sinne der Angabe ihres ursächlichen Warum, sondern im „Sinne rechtfertigender Norm“ – also der Frage, warum Etwas „im Vorrang zum Nichts sein soll“ oder warum etwas „wert“ ist, zu sein.40 Die ursprüngliche metaphysische Frage nach dem Grund des Seins hat sich damit in jene nach dem Vorrang des Seins vor dem Nichtsein verwandelt.
IV. Das gefährdete Leben als metaphysischer Tatbestand erlegt demnach die Pflicht zu seiner eigenen Bewahrung auf. Damit wäre das der Pflicht implizierte Sollen metaphysisch begründet. Doch gibt es heute noch die Möglichkeit einer Metaphysik? Jonas bejahte diese Frage nicht nur, sondern konnte sogar von einer „Notwendigkeit der Metaphysik“ zur Begründung der Ethik sprechen. Da die Metaphysik – im Gegensatz zum verläßlichen Glauben – „von jeher ein Geschäft der Vernunft“ war, läßt sie sich auf „Anforderung bemühen.“ Jonas forderte vom säkularen Philosophen, sofern dieser ebenfalls der Meinung sei, daß das Rationale nicht ausschließlich von der positiven Wissenschaft bestimmt werden solle, das Zugeständnis der „Möglichkeit einer rationalen Metaphysik.“36 Er ging daher von der metaphysischen Frage nach dem Grund des Seins aus – und zwar in Gestalt der schlichten Frage: „Soll der Mensch sein?“37 Sie wird in der Folge zu der Frage verallgemeinert, ob überhaupt etwas sein soll im Gegensatz zum Nichts. Wie aber läßt sich der Vorrang des Seins gegenüber dem Nichts begründen? Diese Frage, verstanden als Frage nach dem Seinsollen des Seins, versuchte Jonas anhand der klassischen metaphysischen Grundfrage Leibniz’ – „Warum ist etwas und nicht nichts?“ – zu beantworten.38 Dabei wollte Jonas das erfragte Warum nicht auf die Ursächlichkeit der kausalen Hervorbringung der Welt durch Gott beziehen, denn er fürchtete einen unendlichen regressus, da die hervorbringende Ursache selbst zum Seienden gehört und ihre Kausalität dann wiederum der gleichen Frage ausgesetzt sein könnte. In diesem Zusammenhang griff Jonas die religiöse Schöpfungsvorstellung auf. Zwar wollte er sie 250
V. Hans Jonas sah sich im Widerspruch zu theoretischen Aussagen, es gebe keine metaphysische Wahrheit und auch keinen Weg vom Sein zum Sollen. Zu Beginn seiner gegenläufigen Argumentation bezeichnete er die Trennung von Sein und Sollen – auf Wilhelm von Ockham verweisend – selbst als eine Metaphysik, die eine minimale Aussage vom Sein mache, während die Aussage von der Verneinung metaphysischer Wahrheit selbst einen Begriff von Wissen voraussetze. Jonas zufolge ist wissenschaftliche Wahrheit, 251
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die sich auf physische Gegenstände bezieht, nicht über metaphysische Gegenstände erlangbar. Dennoch bestritt er, daß damit der gesamte Bereich der Wahrheit bereits erschöpft sei. Dann aber kann die Frage nach der Metaphysik noch nicht als erledigt betrachtet werden, sondern verlagert sich auf die Ebene des Wissens. Jonas umging also in dieser Gedankenfolge die Entscheidung für oder gegen die Metaphysik, indem er seine positive Auffassung – gegenüber der minimalen Ockhams – als „anspruchsvollere Annahme“ bezeichnete, die auf Grund der deutlich werdenden Gefährdungen durch moderne Technologie eine Überprüfung verdiene.41 Jonas selbst führte eine gefühlsmäßige Begründung für den Vorrang des Seins an. Am Beispiel der Existenz des Menschen und seiner Permanenz auf der Erde führt er aus:
sollensmäßigen Vorrang des Seins gegenüber dem Nichts zur Sprache. Wie aber kann dieses Sollen, das Jonas als wert zu sein bestimmte, einen Anspruch auf Existenz formulieren? Der Philosoph folgerte aus dem Seinsollen den Wert dessen, das auf Existenz dringt, also selbst einen Seinsanspruch ausdrückt: „Denn Wert oder das ‚Gute’, wenn es dergleichen gibt, ist ja das Einzige, das von sich her aus der bloßen Möglichkeit auf Existenz dringt (oder aus gegebener Existenz rechtmäßig auf Weiterexistenz) – also einen Anspruch auf Sein, ein Seinsollen begründet und, wo das Sein von wahlfreiem Handeln abhängt, es diesem zur Pflicht macht.“ Der besagte Vorrang des Seins gegenüber dem Nichts ist bereits durch diese „Zusprechbarkeit von Wert an Seiendes“ entschieden.44 Damit aber wohnt bereits der Möglichkeit zu einem Wert ein Anspruch auf Sein inne.
„Wir fühlen […] im Falle des Menschen […], daß er und was er aus sich gemacht hat, nicht verschwinden darf. Dies Gefühl muß um seine Richtigkeit wissen, schon um nicht zu leicht den Anfechtungen vermeintlicher Unabwendbarkeit des Schicksals zu erliegen. […] Wir müssen wissen, daß der Mensch sein soll. Das schon vorgefundene Fühlen dafür zum Wissen zu erheben, ist nur durch sein erneutes Wissen um das Wesen des Menschen und seine Stellung im All möglich, das uns auch sagt, was im künftigen Menschenzustand zuzulassen und was unbedingt zu vermeiden ist. Einem solchen Wissen wieder einen Boden über dem Bodenlosen zu verschaffen und damit der Forderung allmenschlicher Solidarität und besonders der Verpflichtung zur ferneren Zukunft der Art eine Autorität zu geben, die keine pragmatisch-utilitaristische Erwägung allein ihr geben kann – das wäre eine Aufgabe für die philosophisch in Verruf geratene Metaphysik, die man denn wohl auch zu den Werten für die Welt von morgen rechnen möchte.“42
Dieses Fühlen begründet sich aus der Zustimmung zur aufgefundenen Naturordnung, denn Jonas leitet die hier ausgesagte Verantwortung für die Welt aus der implizierten Zielhaftigkeit ab, die dem Menschen eine Seinsverpflichtung auferlegt und die sich gegen den Augenschein der rein kausalen Welterklärung wendet.43 Die metaphysisch begründete Naturordnung bringt den 252
VI. Faßt man diesen Gedankengang zusammen, so wird deutlich, daß Jonas von der Erfahrung eines Wertes als etwas Gutem in der Welt ausging. Diese Erfahrung, so postulierte er, macht wohl jeder Mensch. Die Metaphysik lehrt, daß etwas, was ist, deshalb sein soll, weil es zu sein wert ist. Also birgt alles Seiende einen entsprechenden Wert in sich. Die Pflicht zur Verantwortung gegenüber dem Fortbestand des Lebens beschreibt infolgedessen das Verhalten des Menschen zu einer derart verstandenen Metaphysik. Denn wenn etwas sein soll, dann muß es der Mensch zwingend akzeptieren und ist gefordert, zu seiner Verwirklichung beizutragen, sofern dessen Existenz von seinem wahlfreien Handeln abhängt. Allerdings kann sich der Mensch auch verweigern und ist – wie sein technisch geprägtes Handeln, sein Wille zur Bemächtigung der Welt zeigt – nur allzusehr dazu geneigt. Es geht hier also nicht um eine Determination ethischen Handelns, sondern um die Vorstellung eines Handlungsrahmens. Jonas’ These lautet, daß sich, sofern seine metaphysische Begründung des Seinsollens des Lebens allgemein akzeptiert und die daraus gefolgerte Ethik realisiert würde, die von der gegenwärtigen Technologie ausgehenden Gefahren vermeiden ließen. Da sich das Leben auf 253
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der Welt entfaltet hat und dem Menschen als Treugut anvertraut ist, hat dieser die Pflicht, es auch in Zukunft zu bewahren. Dabei ist die Frage der Religion nach dem Schöpfergott zurückgetreten – es geht um das Leben, das sich im Zuge der Evolution gebildet hat. Jonas zielte also auf eine universal plausible, von jeder Religion unabhängige Begründung menschlicher Verantwortung, um seinen ethischen Entwurf nicht von vornherein durch die Voraussetzung bestimmter Glaubenssätze zu begrenzen. Der Mensch muß vielmehr das durch die Naturordnung entstandene Leben anerkennen und bewahren. Damit ist die Naturordnung ihrerseits, im Sinne Jonas’, metaphysisch begründet. Seine ganze Begründung basiert dabei allerdings auf der Voraussetzung, daß die Natur wirklich Werte hegt. Den Zweckgedanken aufnehmend, interpretierte Jonas das Leben als Zweck der Natur, das heißt „als ein ihr ursprünglich eigenes Prinzip“,45 eine innere Tendenz des Daseins.46 Mit dem Leben ist ein „Zweck überhaupt in der Natur beheimatet.“47 Da Jonas die Erfüllung eines Zweckes, die Tauglichkeit, als Wert verstand, konnte er aus dem Vorhandensein von Zwecken in der Natur ableiten, daß sie Werte habe. Offen blieb an dieser Stelle die Frage, ob der Mensch verpflichtet sei, dieser „Wertentscheidung beizupflichten“, weil die von der Natur „und für sie gesetzten Werte auch wertvoll sind (oder auch nur das Werte-Haben als solches!) – in welchem Fall allein die Beipflichtung Pflicht wäre.“48 Faktisch bejahte Jonas diese Frage jedoch, denn ihm schien zwar die Distanzierung von den Werten der Natur für untrennbar mit der Möglichkeit menschlicher Freiheit verbunden, doch er war davon überzeugt, ein solches Tun wäre nur dann rechtmäßig, wenn man sich auf eine transzendente Instanz neben der Natur berufen könnte, die im Sinne eines dualistischen, gnostischen Systems mit einem Gegenprinzip der Schöpfung arbeiten müßte, während man unter „monistischen Bedingungen […] legitimer Dissident nur im Einzelnen, nicht im Ganzen“ sein könnte. Damit aber sprach sich Jonas de facto für die Unmöglichkeit legitimer Verneinung“ der Zwecke der Natur aus.49 Hierin wird noch einmal deutlich, daß es seine Kritik des Dualismus der Gnosis war, die den Philosophen folgerichtig dazu führte, nach einem integralen Monismus zu suchen, wie er ihn in Organismus und
Freiheit gegen Descartes geltend macht,50 während es in der darauf gründenden ethischen Reflexion um die Darlegung der Verantwortung für das gefährdete Leben ging. Die bleibende Bedeutung des Philosophen liegt in der Konsequenz, mit der er sein in der Konfrontation mit Gnosis und Nihilismus entwickeltes antidualistisches Denken zu einer sowohl theoretischen wie praktischen Ethik ausarbeitete, die jeglichem Fatalismus angesichts der komplexen Zukunftsfolgen menschlichen Handelns in der Gegenwart die Alternative eines entschieden behutsamen Umgangs mit den Ressourcen des Lebens auf der Erde entgegenzusetzen vermag.
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Spinelli: Hans Jonas und das Problem der Freiheit
Emidio Spinelli
Hans Jonas und das Problem der Freiheit Der folgende Essay präsentiert erste Ergebnisse einer neuen Forschungsarbeit,1 die aus der Entdeckung eines unveröffentlichten Manuskripts resultieren, das im reichen Nachlaß von Hans Jonas aufbewahrt wird. Es handelt sich um eine der Vorlesungen des Philosophen, die von seiner erfolgreichen Lehrtätigkeit an der New School for Social Research zeugen. Die aus vierzehn Vorträgen bestehende Vorlesung aus dem Frühjahr 1970 trägt den Titel „Problems of Freedom“.2 Ursprünglich hatte Jonas eine breitere Behandlung des Themas im Sinn, als er sie dann tatsächlich durchgeführt hat. Davon zeugen Notizen und bibliographische Bemerkungen, die dem Manuskript angefügt wurden.3 Sie kündigen den Kurs unter dem Titel „Problems of Human Freedom in Philosophy and Religion“ an und führen eine Liste von Autoren und Texten an, die vom griechischen und christlichen Altertum (Platon, Aristoteles, Stoiker, Epikureer, Cicero, Paulus, Augustinus, Boetius) über die Neuzeit (Hobbes, Spinoza, Locke, Hume, Reid, Kant, Schopenhauer, Mill) bis in die Gegenwart reicht (James, Ryle, Ayer, Austin). Offensichtlich aus Zeitmangel gelang es Jonas jedoch nicht, seinen anspruchsvollen Plan zu verwirklichen, der nicht weniger als die Entstehung und die Entwicklung des Problems der Freiheit in der gesamten Geschichte des abendländischen Denkens zum Gegenstand hatte.4 Deshalb beschränkte er sich darauf, die wichtigsten Positionen hinsichtlich dieses schwierigen und umstrittenen Begriffs von seinem griechischen Ursprung bis auf Augustinus zu erforschen. Offenbar empfand er diese Beschränkung seines Forschungsfeldes jedoch nicht als eine Einschränkung oder als Auswahl zweiter Klasse. Darauf deutet jedenfalls die folgende selbstironische, aber gewiß ehrliche Behauptung in einem der Aufsätze von Technik, Medizin und Ethik hin: 256
„Aber es gibt dann immer solche Reaktionäre wie mich, die daran festhalten, daß aus der klassischen Philosophie doch was zu lernen ist darüber, wie man fragen und denken kann.“5 In ihrem auf die Antike begrenzten zeitlichen Rahmen weisen Jonas’ Vorlesungen jedenfalls eine Homogenität auf, die sowohl mit seiner einheitlichen Perspektive auf den Gegenstand als auch mit dem zweifellos organischen Charakter des behandelten Themas zusammenhängt. Zunächst stellt sich die Frage, weshalb sich Jonas dafür entschied, ausgerechnet das Thema „Freiheit“ zum Gegenstand seines Kurses zu machen. Im folgenden soll diese Frage plausibel, wenn auch zugegebenermaßen spekulativ beantwortet werden, ohne damit den Anspruch zu erheben, eine endgültige Lösung vorzutragen. Dabei lassen sich die in diesem Essay formulierten Hypothesen von der Absicht leiten, Jonas’ Text an seinem historischen Ort zu lokalisieren.6 Es bedarf keiner vertieften Spekulationen, um festzustellen, daß das Problem der menschlichen Freiheit für die Jonassche Philosophie seit ihren allerersten Anfängen entscheidende Bedeutung besaß. Sichtbar wird dies bereits in seinem philosophischen Erstlingswerk Augustin und das paulinische Freiheitsproblem sowie in seiner Dissertation Der Begriff der Gnosis, aus der dann das klassische Werk Gnosis und spätantiker Geist entstand.7 Trug die Augustinus-Schrift den Freiheitsbegriff bereits im Titel, so wurde die Gnosisforschung für Jonas nicht allein eine „Frage des historischen Interesses“, insofern sie „zu unserem Verständnis einer entscheidenden Epoche der westlichen Menschheit beiträgt, sondern zugleich zu einer Frage eines immanenten philosophischen Interesses“, insofern sie „uns unmittelbar mit einer der radikaleren Antworten des Menschen auf seine Zwangslage sowie mit den Erkenntnissen konfrontiert, die allein diese radikale Position hervorzubringen vermochte, und auf diese Weise unser menschliches Verstehen überhaupt bereichert.“8 Weitere Reflexionen und Bezugnahmen, die in die gleiche Richtung weisen, findet man übrigens ohne Schwierigkeiten im gesamten Werk von Jonas, insbesondere seit der bezeichnenden Wahl des deutschen Titels einer seiner interessantesten Schriften, in der er seine neue Philosophie der Biologie entfaltete: Organismus und Freiheit.9 257
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Des weiteren steht zu vermuten, daß Jonas mit der Wahl seines Themas zu der weitreichenden und weitverbreiteten Diskussion über das Problem der Willensfreiheit Stellung nehmen wollte, die in Büchern und Aufsätzen einflußreicher Mitglieder der anglophonen philosophischen Gemeinschaft (vor allem in den USA, aber auch in anderen Ländern) in der Zeit vom Ende der fünfziger Jahre bis zum Ende der sechziger Jahre dokumentiert ist.10 Zudem entsprachen das Freiheitsproblem – ein moralisches Grundproblem – und die Frage nach seinen geschichtlichen Wurzeln der neuen Richtung, die Jonas’ Philosophie nahm, nachdem er begonnen hatte, über die enormen Gefahren des technologischen Zeitalters und die neue Form menschlichen „Sollens“ nachzudenken, die sich mit der Realität des „entfesselten Prometheus“ verbinden. Das beste Zeugnis dieser ethischen Wende findet sich in der Einleitung zu Jonas’ Philosophical Essays: „So kam es, daß ich mich seit den späten sechziger Jahren – auf Grund einer von dem Druck der Ereignisse und noch stärker durch die sich bedrohlich am Horizont abzeichnenden Möglichkeiten erzwungenen Wendung von der ‚theoretischen’ zur ‚praktischen’ Vernunft – mit Fragen der ethischen Theorie und schließlich mit der Suche nach den Grundlagen einer Ethik beschäftigte, die den Fragestellungen angemessen ist, über die wir jetzt oder bald zu entscheiden haben.“11 Nicht zuletzt erweist sich ein weiteres autobiographisches Zeugnis als nützlich, das sich auf die letzte Phase jener Periode bezieht, in der Jonas sich besonders mit der philosophischen Analyse „des Organischen“ beschäftigte:
Auf dem Hintergrund dieser Hypothesen über die Jonassche Themenwahl gilt es nun, die Struktur und die Bedeutung seiner Vorlesungen über die Freiheit durch eine – schematische, aber vollständige – Vorstellung ihres Inhalts herauszuarbeiten.13 Dabei werden die – als Einleitung konzipierte – erste sowie die zweite und dritte Vorlesung, die im Hauptteil dieses Aufsatzes zur Sprache kommen, zunächst ausgespart. Mit Blick auf die vierte Vorlesung verdient die von Jonas aufgeworfene wichtige Frage nach der Entstehung und Entwicklung des Begriffs „Schicksal“ besondere Aufmerksamkeit. Nach einer ausführlichen Rekonstruktion der verschiedenen Teile der stoischen Philosophie und ihrer wechselseitigen inneren Beziehungen widmet er dem „stoischen Determinismus“ eine spezielle Untersuchung (S. 77–108)14 und beschäftigt sich besonders mit der schwierigen Problematik des Unterschieds zwischen dem, was in des Menschen Macht steht und was nicht (S. 108–140). Seine aufmerksame Analyse bedenkt natürlich auch die stoische Idee des kosmos, die schicksalhafte Verknüpfung der Ursachen, deren Struktur er charakterisiert, sowie die unmittelbar damit verbundene Frage nach der Rolle der menschlichen Freiheit in einem fatalistischen System (S. 140–161). In der siebten Vorlesung wendet sich Jonas der jüdisch-christlichen Tradition zu und betont ihren Unterschied zum klassisch-griechischen Bild vom Wesen des Menschen und der Welt, vor allem in seinen vom Stoizismus beeinflußten Aspekten. Dabei unterstreicht er vor allem die Rolle des biblischen Schöpfungsbegriffs und das Dogma von der Erbsünde und räumt dabei den vielgestaltigen Argumenten des Apostels Paulus besonderen Raum ein (S. 162–187). Nachdem er die stoischen und die christlichen Positionen zum Problem der menschlichen Freiheit sowohl auf der historischen als auch auf der philosophischen Ebene sorgfältig dargestellt und mit den Quellen verglichen hat (S. 187–200), analysiert Jonas ausführlich die paradoxe Lehre des Paulus (S. 200–205). Aus seiner Sicht bietet das Studium des paulinischen Denkens die beste Einführung zu der in diesen Vorlesungen wirklich zentralen Figur des Augustinus. Sein biographisches und historisches Profil wird in gedrängter Form beschrieben, wobei Jonas sich einerseits besonders auf einige spezielle Einflüsse in der philosophischen Ausbildung des
„Zum Leitfaden der Interpretation wurde mir der Begriff der Freiheit, die ich keimhaft schon im Stoffwechsel als solchem zu entdecken glaubte, in der tierischen Entwicklung zu physisch und psychisch höheren Stufen aufsteigen und im Menschen auf die Spitze getrieben sah. Auf ihr wird das Wagnis der Freiheit, das die Natur mit dem Leben und seiner Hinfälligkeit einging, zur verantwortlichen Sache der Subjekte selbst. Damit öffnete sich die Dimension des Sittlichen, die als Lehre vom Sollen über die Lehre vom Sein hinausreicht, aber immer noch auf ihr fußt.”12
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Kirchenvaters (hier wird etwa die „traditionelle Reihe“: skeptische Akademie – Manichäismus – Neuplatonismus erwähnt) konzentriert und anderseits die Originalität der augustinischen Forschungen zu einer radikal neuen christlichen Lösung hervorhebt (S. 205–233). Einen sorgfältigen Kommentar widmet Jonas einigen wichtigen Stellen aus Augustinus’ Werken De libero arbitrio und Ad Simplicianum, die zwischen seiner antimanichäischen Phase und der vorpelagianischen beziehungsweise der pelagianischen Phase schwanken. Auf diese exegetischen Bemerkungen folgt sodann eine kurze Zusammenfassung der Lehre des Pelagius und seiner Begriffe der menschlichen Freiheit und der göttlichen Gnade, die er der entschiedenen Überzeugung des Augustinus von der überragenden Bedeutung des grundlos geschenkten Heilswirkens Gottes gegenübergestellt (S. 233–279). Jonas beschränkt sich jedoch nicht darauf, die Debatte auf eine externe und „neutrale“ Weise zu rekonstruieren. Vielmehr analysiert er das Problem und betont, daß Augustinus die Lehre des Pelagius mißversteht und dessen wirkliche Botschaft verfehlt. Um dieses pointierte Urteil zu verteidigen, unternimmt er eine vergleichende Analyse der wichtigsten Unterschiede zwischen diesen beiden christlichen Denkern und hebt in diesem Zusammenhang vor allem einige Schlüsselbegriffe hervor (etwa Gnade, Liebe – agape – eros, vocatio, adpetitus usw., S. 279–301). In der letzten Vorlesung denkt Jonas über die „merkwürdige Objektivierung der existentiellen Sphäre“ nach, welche ihm die Debatte über den freien Willen zwischen Augustinus und Pelagius zu enthalten scheint. Man müsse davon ausgehen, daß das zentrale oder besser: das nicht weichen wollende Problem für Augustinus in der Erklärung der Rolle der menschlichen Subjektivität vor dem Hintergrund der christlichen Lehre darstellt. Man dürfe seine Lösung nicht unterschätzen, weil sie mit fester Hand „die Problematik des Willens als des Ortes des menschlichen Willens“ begründe und – nach dem sehr komplizierten Weg vom Heidentum bis zum Christentum – die erste radikale Antwort auf diese Frage formuliere (S. 302–331). Viele der hier zusammengefaßten Reflexionen des Philosophen sind aus unterschiedlichen Perspektiven und Lesarten von Interesse und müßten eingehender untersucht werden. In diesem Rahmen
ist es jedoch lediglich möglich, auf die ersten drei „Kapitel“ von „Problems of Freedom“ einzugehen, die meines Erachtens die interessantesten sind, weil sie sowohl unter theoretischen als auch unter methodischen Gesichtspunkten eine sehr originelle Perspektive liefern.15 In principio erat methodus. Bei der Einführung seines Themas vermeidet Jonas sorgfältig die „deduktive“ Methode. Das heißt, er hält es nicht für zwingend, zunächst eine allgemeine Definition der Freiheit (und grundlegender damit verbundener Begriffe, etwa des Willensbegriffs) zu formulieren und danach die konkreten Beispiele aufzusuchen, die gewissermaßen als Nachweis oder empirische Bestätigung dieser Definition fungieren könnten. Es findet sich keine ausdrückliche Rechtfertigung oder Verteidigung dieser methodischen Entscheidung, aber man kann sinnvollerweise vermuten, daß Jonas keinen einzelnen, eindeutigen und ausschließlichen Begriff der Freiheit auf die lange Geschichte des griechischen und römischen Denkens beziehen will. Es wäre in der Tat auch zu fragen, welcher Begriff dies überhaupt leisten könnte. Jonas scheint im Gegenteil bereit, bewußt davon auszugehen, daß man über eine Vielzahl voneinander verschiedener, ja einander widersprechender Begriffe von Freiheit im Altertum sprechen muß. In seinen vorbereitenden Notizen für den Kurs16 verweist er auf eine kleine bibliographische Liste, mit der er verdeutlicht, daß über Freiheit „in vielen Zusammenhängen und Bedeutungen“ gesprochen wird, etwa im „politisch-juridischen“ und „moralischen“ Sinn, der auf menschliches Handeln, die soziale Ordnung sowie auf die Begriffe von Recht und Macht verweist, oder auch im „physischen“, „natürlichen“ oder „physiologischen“ Sinn, der mit der Fähigkeit und den Kräften des organischen Seins verbunden ist, oder – zuletzt – im „metaphysischen“ Sinne, der insbesondere in der „Willensfähigkeit“ und damit in der langen, historisch bestimmten Auseinandersetzung zwischen Determinismus und Mechanizismus verankert ist. Deshalb scheint die Forschungsmethode von Jonas auf einer „offenen“ Auswahl zu beruhen, die dem antiken und aristotelischen Motto „pollachos legesthai“ entspricht und die dank einer bedeutsamen Auswahl verschiedener Freiheitstheorien verstärkt werden kann. Das heißt nicht, daß sich bei Jonas kein interpretatorisches
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Vor-Urteil findet. So vermeidet er es offenbar nicht, einen jener weitverbreiteten Gemeinplätze vorauszusetzen, die für umfassende und, so könnte man sagen, allzu systematische Interpretationen des Altertums typisch sind. Um diese stillschweigende hermeneutische Voraussetzung zu klären, ist es zweckmäßig, Jonas’ Worte zu Beginn der ersten Vorlesung zu zitieren:
gestattet es ihm nicht nur, kurz die Rolle zu untersuchen, die diese Unterscheidung auf einer vor-politischen Ebene spielt (das heißt auf der Ebene der Familie und des Dorfes, die von Aristoteles am Anfang seiner Politik untersucht wird), sondern auch noch einmal zu betonen, daß sein zentrales Interesse an diesem Punkt der Geschichte der antiken Gesellschaft nicht einem vagen Begriff geistiger Freiheit („freedom of the spirit“) gilt (vielleicht verfolgt Jonas hier auch eine antihegelianische Intention).19 Indem er seine Aufmerksamkeit explizit „dem Zeitalter der griechischen Polis“ widmet, erklärt Jonas:
„Auf Grund einer langen Tradition sind wir gewohnt, das Problem der menschlichen Freiheit mittels des Problems des freien Willens zu kommentieren, und zum Teil hatte die Entwicklung, mit der wir uns befassen und in der Augustinus eine so entscheidende Rolle spielt, die jedoch im wesentlichen durch die Ankunft des Christentums als solchen eingeführt wurde, viel damit zu tun, daß die menschliche Freiheit und die Frage nach dem Willen des Menschen auf irgendeine Weise gleichgesetzt wurden. Zumindest auf den ersten Blick ist zwischen diesen beiden Vorstellungen eine beinahe spontane Verbindung wirksam.“ (S. 1)17
Diese traditionelle Perspektive stellt allerdings noch nicht Jonas’ „letztes Wort“ über die griechische und römische Freiheit dar. Unmittelbar nach der zitierten Stelle liest man die folgende Aussage, die er in seiner ganzen Analyse anwendet, um zu interpretieren, was ich den äußeren Begriff der Freiheit nennen möchte (im Unterschied zu ihrem inneren Begriff, der typisch für das hellenistische und posthellenistische Zeitalter ist)18: „Das ist jedoch keineswegs die ursprüngliche Bedingung, die mit Blick auf den Begriff der Freiheit Geltung hat, der ursprünglich nichts mit der Frage nach dem freien Willen des Menschen zu tun hat. Die Idee oder der Begriff der Freiheit entstand zuerst im politischen Bereich, man könnte auch sagen: im sozialen Bereich, was ziemlich auf dasselbe hinausläuft. Sozial gilt es zwischen jenen zu unterscheiden, die über sich selbst verfügen, und jenen, die dies nicht können.“ (S. 1)
Die Bedeutung, die Jonas dieser Unterscheidung beimißt, die jede isolierte Behandlung der bloß „organischen [das heißt biologischen und neuro-physiologischen] Selbstbestimmung“ ausschließt, 262
„Wir sprechen von der Freiheit, die ich besitze, zu gehen, wenn ich es so entscheide, anstatt zu bleiben, oder in diese statt in jene Richtung zu gehen oder dieses zu tun und nicht etwas anderes. Sklaven besitzen diese Freiheit nicht, und die grundlegende Voraussetzung, welche die Idee der Freiheit überhaupt hervorrief, ist die Unterscheidung zwischen freien Menschen und Sklaven.“ (S. 4)20
Leider haben die Seiten unseres unveröffentlichten Manuskripts weder Fußnoten noch bieten sie bibliographische Bemerkungen zur Stützung der Ausführungen (außer den Passagen antiker Texte, die von Mal zu Mal zitiert und diskutiert werden). Auch in der Archivmappe, die „Problems of Freedom“ enthält,21 finden wir wenig, nämlich lediglich die Fotokopien des von Richard Taylor unterschriebenen Stichworts „determinism“ in der Encyclopedia of Philosophy22 (mit vielen Unterstreichungen und handschriftlichen Randbemerkungen von Jonas). Kurze Notizen von Jonas’ Hand erlauben die Vermutung, daß er vor allem mit Bezug auf den Begriff des Zwangs auch das Stichwort „freedom“ (verfaßt von P. H. Partridge) in der gleichen Enzyklopädie gelesen und studiert hatte.23 Darüber hinaus können wir annehmen, daß er die allgemeinen oder anthologischen Werke von Mortimer J. Adler, Sidney Morgenbesser/James Walsch, Herbert Morris, Paul Edwards/Arthur Pap, Alexander Bain, Sydney Hook und David F. Piers gelesen und sorgfältig analysiert hatte. Diese Werke werden in der bereits erwähnten bibliographischen Liste empfohlen.24 Mehr als diese mageren Überlegungen und Hypothesen sind nicht möglich. Wir besitzen also nicht genügend Material, 263
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um vollständige und absolut zuverlässige, gleichsam „genetische“ Rechenschaft über die Werke zu geben, die Jonas konsultierte und benutzte. Dennoch scheint es auf der interpretativen Ebene nützlich und produktiv, seine gesellschaftliche und politische Interpretation des Phänomens der Freiheit in den poleis mit der Pionierleistung von Moses I. Finley zu vergleichen, die kurz vor den Jonasschen Vorlesungen publiziert wurde. In seinem Aufsatz „Between Slavery and Freedom“ beschäftigt sich Finley mit der „Erfindung“ des Begriffs der Freiheit und beschreibt die geschichtlichen Bedingungen, unter denen diese stattfand.25 Dabei betont er die besondere Rolle, die in diesem Zusammenhang der griechischen Gesellschaft im Zeitalter des Perikles zukommt. Jonas dagegen ist kein Historiker, wollte dies wohl auch nicht sein. Offenbar war er auch nicht an historischen Detailfragen interessiert, sondern zog es vielmehr vor, einerseits die dialektische Beziehung zwischen Sklaven und Herren und andererseits die juristischen Probleme zu untersuchen, welche diese Beziehung mit sich brachte. Trotz des möglichen Einflusses von Hegels bekannten Ausführungen in der Phänomenologie des Geistes, die die Beziehung von Herrn und Knecht thematisieren, scheint es, als habe Jonas hier eher die konkreten juristischen Fälle zunächst der griechischen und dann der römischen Rechtspraxis im Sinn gehabt. Was die griechische Rechtspraxis betrifft, so ist bedeutsam, daß Jonas hier die Diskussion in Platons Eutyphron zur Unterstützung in die Debatte einführt (S. 5f). Obgleich sich diese synthetische und hauptsächlich theoretische Annäherung an die Frage unter dem Aspekt einer erschöpfenden geschichtlichen Rekonstruktion als sehr dürftig beurteilen ließe, verdient Jonas’ Ansatz eine positive Bewertung, ja auf Grund seiner Originalität eine außerordentliche Wertschätzung, da er in der Tat darauf zielt, „dem Begriff der Freiheit im griechischen Leben wirkliche Substanz zu verleihen“: „Der grundlegende Unterschied, den es zu bedenken gilt, ist jener zwischen dem Menschen, der sein eigener Herr ist, oder der nicht jemand anderem gehört oder der – abgesehen von seinen politischen Pflichten – nicht dem Willen eines anderen unterworfen ist, sowie dem Sklaven, der das Eigentum eines anderen ist und keinerlei
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Recht auf freie Entscheidung mit Blick auf irgendeine seiner Bewegungen besitzt.“ (S. 7)
Einige der besten Untersuchungen zum Thema der Freiheit im Altertum stehen im vollen Einklang mit Jonas’ Interpretation. Es sei nur an ein einziges Beispiel erinnert. In der bis heute besten Monographie über die „Erfindung der Freiheit“ dringt Kurt Raaflaub – vielleicht in polemischer Absetzung von den geistesgeschichtlichen Visionen von Max Pohlenz26 – darauf, daß es vorläufig richtig sei, den griechischen Begriff der Freiheit nicht als ein eigentümliches oder internes Phänomen der Philosophiegeschichte oder der Wechselfälle des sogenannten Geistes, sondern „als zentralen Begriff des sozialen und politischen Lebens“ zu interpretieren, indem man seine ursprüngliche, beständige und bedeutsamste Funktion berücksichtige.27 In ihrem weiteren Verlauf handelt die Vorlesung von Hans Jonas von den politischen Grenzen der Freiheit, die auch für den Herrn gelten, dessen Macht sich demnach als nicht unbegrenzt erweist. Der Begriff der Freiheit scheint einem komplizierten Mechanismus „russischer Puppen“ immer ähnlicher zu werden. Man versteht diesen Mechanismus richtig, wenn man die folgende Alternative unterstellt: entweder „eine Skala niedrigerer und höherer Grade der Freiheit entsprechend den Graden der Macht“ (S. 9) oder allgemeiner jenes grundlegende Kunstwerk, „das […] man Zivilisation nennt, dessen eines wichtiges Element die Schaffung von Gesellschaften, das andere die Technologie darstellt.“ (S. 10) Um diese Idee zu untermauern, wonach der frühe antike Begriff der Freiheit außerhalb des Horizonts der politischen Gemeinschaft der griechischen poleis unverständlich wäre, betont Jonas – unter Verweis auf einige Bemerkungen in Platons Staat und in der Politik Aristoteles’ – einige wesentliche Merkmale dieser Gemeinschaft, darunter die Arbeitsteilung und insbesondere den Gebrauch der Sprache. Dank der Sprache können unsere Handlungen „vorgebildet“ und somit Gegenstand von Beratung und Entscheidung werden. Wir bewegen uns hier in einem vertrauteren philosophischen Bereich.28 Sowohl die Terminologie des Aristoteles als auch sein begrifflicher Rahmen scheinen als wirksame Werkzeuge zu fungieren, um „das Geheimnis des 265
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griechischen Begriffs des freien Menschen“ zu interpretieren, und sie ermöglichen es zugleich, die inneren und äußeren Aspekte der griechischen Freiheit miteinander zu versöhnen. Jonas kann daher abschließend bemerken, daß „im griechischen Denken logisches Denken, sozio-politische Ordnung und Handeln eng miteinander verbunden sind.“ (S. 19) Diese Schlußfolgerung läßt sich nicht nur ohne weiteres akzeptieren, weil sie vor allem den sozialgeschichtlichen Hintergrund der griechischen Wurzeln des Begriffs der Freiheit ins rechte Licht rückt, sondern rechtfertigt auch vollkommen die Zusammenfassung seiner bisherigen Resultate, die Jonas zu Beginn der zweiten Vorlesung anbietet:
„(a) Vorausgesetzt, ich besitze das Vermögen, zu handeln, und vorausgesetzt, mein Wille bestimmt mein eigenes unmittelbares Handeln – worin besteht meine Handlungsvollmacht in der Ordnung der Dinge? Wird mein Handeln letztlich etwas bewirken? Wenn ich Kontrolle über mein Tun ausübe, kontrolliere oder beeinflusse ich mit meinem Tun mein Schicksal? (b) Vorausgesetzt, ich tat, was ich gerade tun wollte, geschah mein Wünschen in voller Kontrolle meiner selbst? War mein Ich Herr im eigenen Haus? War ich in meinem Handeln womöglich eher besessen und fortgetrieben als aktiv? Anders gesagt: Wenn eine Handlung frei genannt wird, weil sie gewollt ist, war dann auch der Wille frei, sie zu wollen?“ (S. 25)
„Negativ gesprochen bedeutet Freiheit, nicht dem Willen eines anderen unterworfen zu sein. Positiv gesprochen bedeutet sie, der eigene Herr und möglicherweise Herr über andere zu sein. Der eigene Herr zu sein heißt, Herr über das eigene Handeln zu sein, und Freiheit besteht somit im wesentlichen in der Macht, zu handeln – und unverblümt gesprochen: zu tun, was man möchte –, und dazu gehört auch die Macht, nicht zu handeln, das heißt die Macht, faul zu sein.“ (S. 23)
Jonas erklärt sogleich, daß der klassische Fatalismus – er wird auch als „Vor-Determinismus“ bezeichnet – sehr wohl von jenem völlig bewußten und voll entwickelten Determinismus zu unterscheiden sei, der aus dem modernen wissenschaftlichen Denken stammt und sich in ihm durchsetzt. Der klassische Fatalismus gibt, so Jonas, auf die erste Frage eine eindeutig negative Antwort. Niemand kann die Dekrete des Schicksals ändern, auch wenn damit nicht jede menschliche Handlungsmacht bestritten ist und auch wenn dies nicht auf irgendeine Form der Resignation oder des Quietismus hinausläuft. Die Antwort auf die zweite Frage ist komplexer. Sie betrifft die Unterscheidung von Vernunft und Leidenschaft, und zwar vor allem die Idee einer Vernunft, die in der Lage ist, die Leidenschaften zu beherrschen. Die Reflexion über den Autonomieraum menschlichen Wollens erzeugt einen vollkommen innerlichen Freiheitsbegriff eines rationalen Selbst, der beansprucht, sogar mit einer starken Form des deterministischen Fatalismus vereinbar zu sein. In Übereinstimmung mit dem eben diskutierten binären Schema und noch vor der Auseinandersetzung mit den hellenistischen und nachhellenistischen Lösungen des Freiheitsproblems faßt Jonas die beiden Glieder der Alternative wie folgt zusammen:
Ohne je die grundsätzlichen Beschränkungen zu vergessen, die einem jeden menschlichen Wesen von den Naturgesetzen auferlegt werden (etwa Geburt, Tod, leibliche Bedürfnisse usw.) arbeitet Jonas also jenen Eigenraum freien Handelns in der Zivilisation heraus, der aus seiner Sicht „eine interessante ‚Dialektik’ zwischen Freiheit und Muße und somit zwischen den von Freiheit und Muße auferlegten Gefahren“ entfaltet. (S. 24f.) Neben der Klarheit, mit der die historische Dimension in der Entstehung der antiken Reflexion über die Freiheit festgestellt und analysiert wird, besteht eines der Verdienste des Jonasschen Ansatzes in der Eindeutigkeit, mit der er die „systematischen“ Probleme der Freiheit identifiziert. Sie lassen sich in zwei Fragen zusammenfassen, die die antike Debatte beeinflussen, aber ohne weiteres auch für die zeitgenössische Reflexion zum Thema der moralischen Verantwortlichkeit aktuell sind:
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„So haben wir zwei Aspekte des Begriffs der Freiheit vor uns, einen inneren und einen äußeren. Der äußere Aspekt betrifft mein Vermögen, zu handeln und etwas durch mein Handeln zu verändern –
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letztlich das Schicksal zu verändern oder die Umstände der Dinge substantiell zu ändern. Der innere Aspekt betrifft mein Vermögen, mich durch mein Wissen selbst zu bestimmen. Dieses Wissen mag sogar beinhalten, daß ich äußerlich nicht frei bin und keine Macht besitze, mein Schicksal zu verändern. Doch indem ich dieses Wissen und nicht meine vergeblichen Wünsche mein Verhalten bestimmen lasse, bin ich innerlich frei. Es ist wichtig, festzuhalten, daß beide klassischen Aspekte des Problems der Freiheit eines gemeinsam haben, nämlich daß Freiheit als eine Frage der Macht oder des Vermögens und ihres Erfolgs verstanden wird und nicht als eine theoretische Möglichkeit. Die Frage lautet nicht, ob die Idee der Freiheit mit der kausalen Natur der Wirklichkeit als solcher zu vereinbaren ist, sondern ob man tatsächlich Freiheit gegen eine widerstreitende Kraft innerhalb der Wirklichkeit erlangen kann.“ (S. 27f.).29
Damit sind die Probleme und theoretischen Knotenpunkte benannt, vor denen Jonas steht.30 Er glaubt sie vor allem im Stoizismus wiederzufinden, der „die Stellung des Menschen innerhalb seiner Umwelt und letztlich innerhalb des Universums neu deutet.“ (S. 49) Die Hauptursache für diese unterschiedliche Wahrnehmung des Universums macht er an der zutiefst unterschiedlichen politischen Situation fest, die durch die Krise der griechischen poleis und die erfolgreiche Machtbehauptung durch Alexander den Großen und seine Nachfolger verursacht wurde. Diese Ereignisse, die wohl unter starkem Einfluß von Gustav Droysens bekannten Thesen zur Bedeutung der historiographischen Kategorie des „Hellenismus“ interpretiert werden (von Jonas in der Tat als „diese nützliche Konvention“ bezeichnet, S. 49),31 bestimmen den Bedeutungsverlust des klassischen Tugendbegriffs sowie die Idee des privaten Individuums (idiotes: vgl. S. 52).32 Die Ursache selbst des Glücks und der freien Verwirklichung des Menschen geht jetzt über die Grenzen der lokalen, öffentlichen, politischen oder – in einem breiteren Sinne – äußeren Sphäre hinaus. Aus diesem Klima, in dem auch Persönlichkeiten und Philosophen nicht-griechischer Herkunft gedeihen, wie etwa der Begründer der stoischen Schule, Zenon von Kition, ergeben sich zwei Gesichtspunkte, die der Beachtung wert sind: 268
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1. Man schafft erstens Raum für eine stark kosmopolitische Vision, die dann auch wirklich vertreten wird. Sie verbindet sich mit einem diffusen kulturellen Synkretismus, der imstande ist, (a) orientalische Denkmotive aufzunehmen, (b) das Instrument der Allegorie auch im Blick auf eine Wiederannäherung von mythos und logos auf eine neue Weise zu verwenden, sowie (c) eine substantielle Kontinuität mit der Vergangenheit zu beanspruchen, oder besser: eine feste Grundlage in einem wirklichen und echten consensus generis humanis (vgl. S. 69–74). 2. Zweitens akzeptiert man die Verflechtung von zwei unterschiedlichen Bewertungen des logos: Einerseits verbindet man die Fähigkeit, die Rede zu verwenden, mit einer entschiedenen allgemeinen Verstärkung des Gewichts der Rhetorik, die als ein „ästhetisches Ornament“ verstanden wird. Andererseits behält der logos seine theoretische Kraft, verwandelt sich allerdings von einem Instrument der Forschung und des wissenschaftlichen Beweises in ein wirksames Mittel philosophischer Ermahnung. Das geschieht vor allem bei den Stoikern, die damit eine Tendenz aufgreifen und weiterführen, die bereits von den Kynikern begonnen worden war. Letztere stellten sich als ursprüngliche Interpreten des sokratischen Ideals dar, und zwar im Sinne der Preisgabe jeglicher Art von Untersuchung der äußeren physis und eines absoluten Vorrangs strikt praktischer Aspekte, der mit der beständigen Suche nach dem tugendhaften Leben als Garantie des Glücks zusammenhängt. Mehr noch: Nach Jonas „gingen die Kyniker einen Schritt darüber hinaus. Sie erklärten jede Form des Wissens, die nicht Wissen um das ist, was den Menschen glücklich macht, für irrelevant, zu einer Sache bloßer eitler Neugierde. […] Die Kyniker sprachen sich für einen strikt individualistischen Begriff persönlicher Tugend aus: die Erlangung größtmöglicher eigener Glückseligkeit und Tugend im Sinne eines vorbildhaften, nicht aber notwendigerweise kooperativen, engagierten oder verantwortlichen (das heißt für andere verantwortlichen) Menschen“. (S. 64f.)
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Dieses moralische Ideal beruht bei den Kynikern auf dem Schlagwort „Nach der Natur leben!“ und verbindet sich, über einen ungebremsten Gebrauch der Redefreiheit (parrhesia) hinaus, mit einer Art von „Primitivismus“, in dem Jonas eine Nähe zu jenem Jean-Jacques Rousseaus erkennt. Dieser Primitivismus wendet sich in der Tat gegen die Formen und die angeblichen guten Seiten der zivilisierten Gesellschaft, insofern diese eine beständige Bedrohung der wirklichen Freiheit und Unabhängigkeit des Menschen darstellen. Um ihrer Lehre einen wirksameren Erfolg zu sichern, geben die Kyniker darüber hinaus jegliche Form gebildeten oder ausgefeilten Schreibens auf und verlassen sich vor allem auf Beispiele und die Darstellung von Modellen beispielhaften Verhaltens. Auf diese Weise schaffen sie Raum für eine Art „populäre“ Philosophie, die alles andere als „akademisch“ ist (vgl. S. 65–68). Die wichtigste und folgenreichste Wende besteht allerdings in der kynischen Entscheidung, das innere Leben, den privaten Bereich des Selbst, als das einzige Mittel der Selbstverwirklichung zu pflegen (vgl. S. 74f.). Dazu gehört, daß sich die äußere Sphäre der direkten Kontrolle der Individuen entzieht und vielmehr zum Reich der tyche, des Zufalls und vor allem des Schicksals wird. Dieses Bild verkennt also nicht, daß die menschliche Freiheit immer unter der Drohung des „großen Unbekannten“, das heißt des Unvorhersehbaren steht. Jonas lenkt die Aufmerksamkeit auf die Rolle dieser dunklen Macht, die ständig über unseren Häuptern schwebt. Sie war im Altertum unter verschiedenen Namen bekannt (Zufall, tyche, Schicksal, moira, ananke usw.) und läßt sich „hinter vielen Ausdrucksformen des griechischen Geistes des klassischen Zeitalters“ (S. 22) erkennen. Um „einen wirklichen theoretischen Begriff universaler Notwendigkeit“ zu finden (ebd.), muß man aber bis zur nachklassischen Periode warten, genauer: bis zum hellenistischen Zeitalter und bis zur Debatte über (und gegen) den stoischen Determinismus.33 In dieser Epoche wird auf dem Hintergrund der Reflexion über das Problem der Freiheit die Beziehung zwischen menschlicher Selbstbestimmung und Fatalismus zum Hauptthema:
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menschliche Freiheit zueinander in Beziehung gesetzt werden. Eine der wichtigsten Aufgaben, die sich die stoische Philosophie – auf Grund ihres Geistes und der Voraussetzungen ihres Denkens – gestellt hatte, bestand in der Versöhnung der Idee des Schicksals (der universalen Determination) mit der Idee der Tugend (SelbstBestimmung). Es gibt keine Tugend ohne Selbstbestimmung, und dies wirft – unter den Gegebenheiten universaler Determination – besondere Probleme auf“. (S. 76) Es ist hier nicht möglich, ausführlich das Gewicht und die theoretischen Zusammenhänge der Probleme zu diskutieren, die vor allem in der vierten Vorlesung von „Problems of Freedom“ entwickelt werden.34 Abschließend bleibt jedoch zu bemerken, daß Hans Jonas – im Gegensatz zu vielen Gelehrten, die in diesem Fall dem Werk und dem Denken des Aristoteles einen Vorrang einräumen – überzeugt zu sein scheint, daß wir im Stoizismus „die erste philosophische Schule“ vor uns haben, „die ihre Aufmerksamkeit ausdrücklich der Freiheit als Problem und Ziel des Menschen widmet“ (S. 77). Diese Beziehung zwischen menschlicher Selbstbestimmung und Fatalismus stellt jedoch kein rein philosophiegeschichtliches Thema dar, das im Sinne einer archäologischen Untersuchung zu analysieren ist. Vielmehr beinhaltet es gerade in der Gegenwart eine besondere Aktualität, die Jonas in seinen ethischen Reflexionen mit ihrem entschiedenen Widerspruch gegen jeglichen Fatalismus deutlich vor Augen stand.35 Insofern gehört seine Vorlesung mit in den Horizont seines nach wie vor herausfordernden Entwurfs Das Prinzip Verantwortung.
„Es ist von höchster Bedeutung, zu bedenken, auf welche Weise gemäß der Vorstellung der Stoiker universales Schicksal und
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Hirsch Hadorn: Prinzip Verantwortung oder intergenerationelle Gerechtigkeit?
Gertrude Hirsch Hadorn
Prinzip Verantwortung oder intergenerationelle Gerechtigkeit? Zur Position von Hans Jonas in der zukunftsethischen Debatte Zukunftsethik wird sowohl in der Fachphilosophie als auch im öffentlichen Bewußtsein als ein Problem intergenerationeller Gerechtigkeit verstanden. Dazu hat nicht zuletzt das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung beigetragen, welches fordert, die Bedürfnisse der heute Lebenden so zu befriedigen, daß dadurch die Möglichkeiten künftiger Generationen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, nicht beschnitten werden.1 Versteht man Zukunftsethik als das Problem, auf welche Weise Güter im weitesten Sinne zwischen Generationen unparteilich verteilt werden sollen, so stellen sich keine grundlegend neuen Fragen normativer Ethik. Intergenerationelle Gerechtigkeit wird dann im Ausgang von Positionen und Problemen intragenerationeller Gerechtigkeit diskutiert.2 Zukunftsethik bewegt sich gemäß diesem Ansatz im aktuellen moralphilosophischen Mainstream und den dabei diskutierten Fragen: Was ist unter Gerechtigkeit zu verstehen? Wie verhalten sich verschiedene Gerechtigkeitsauffassungen zueinander? Auf welche Subjekte und auf welche Güter soll sich Gerechtigkeit erstrecken? Im Kontext nachhaltiger Entwicklung sind dabei ökonomische und politikwissenschaftliche Ansätze von Verteilungsgerechtigkeit prominent vertreten.3 Spezifische Probleme ergeben sich dadurch, daß die Bedürfnisse und Handlungsmöglichkeiten künftiger Generationen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil unbekannt sind und daß diese ihre Interessen nicht selbst vertreten können.4 Hans Jonas, der zentrale Probleme der Zukunftsethik ins öffentliche und fachphilosophische Bewußtsein gehoben hat, vertrat eine andere Auffassung. Im Jahre 1979, gewissermaßen am 272
Vorabend des Entwurfs des Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung, legte er eine Zukunftsethik vor, die eine kategorische Pflicht, welche die Zukunft des Menschseins betrifft, begründen soll. Diese Pflicht lautet: „Handle so, daß die Wirkungen Deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“5 Im folgenden wird zunächst beschrieben, warum Jonas nicht im gerechtigkeitstheoretischen Mainstream schwimmt, sondern sich statt dessen an einem „Tractatus technologico-ethicus“ versucht,6 der „einem höchst zeitgemäßen Gegenstand mit einer durchaus nicht zeitgemäßen, fast schon archaischen Philosophie zu Leibe“ rückt.7 Anhand einer Analyse von Jonas’ Begründungskonzeption sollen wesentliche Differenzen zwischen seiner ontologischen Verantwortungsethik und den subjektivitätstheoretisch orientierten Gerechtigkeitstheorien in der Zukunftsethik aufgezeigt werden. Dabei handelt es sich in erster Linie um Differenzen in bezug auf den Begriff des Guten. Jonas legt in seinen Reflexionen über das „Prinzip Verantwortung“ einen ontologischen Begriff des Guten dar. Doch auch in den gerechtigkeitstheoretischen Debatten hat sich inzwischen gezeigt, daß Gerechtigkeit nicht an die Stelle des Begriffs des Guten tritt, sondern einen solchen voraussetzt. Die Analyse schließt mit einige Bemerkungen, die deutlich machen, weshalb die im Titel dieses Aufsatzes aufgeworfene Frage nicht einfach alternativ zu beantworten ist.
I. Die ethische Relevanz des menschlichen Handlungspotentials in der technologischen Zivilisation In seiner Zukunftsethik unterscheidet Jonas drei Aufgaben: (1) ethische Grundlagenfragen, die eine moraltheoretische Prinzipienlehre zu beantworten hat, (2) Fragen des moralischen Urteils bezüglich technischer Handlungsmöglichkeiten, welche empirisches Wissen über mögliche Folgen und Szenarien möglicher Entwicklungen erfordern, sowie (3) Fragen der Berücksichtigung dieser Urteile im realpolitischen Handeln, wobei Jonas psychische Faktoren wie die Rolle von Gefühlen für die Handlungsbereitschaft betont und verschiedene Staatsformen diskutiert.8 273
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Zur ersten Aufgabe gehört, Inhalt und Begründung des zukunftsethischen Imperativs aufzuzeigen, doch kann dies nicht unabhängig von den beiden anderen Aufgaben geklärt werden. „Keine überlieferte Ethik belehrt uns […] über die Normen von ‚Gut’ und ‚Böse’, denen die ganz neuen Modalitäten der Macht und ihrer möglichen Schöpfungen zu unterstellen sind“,9 schreibt Jonas im Vorwort seines Werkes Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Neu an diesen Modalitäten der Macht und ihrer möglichen Schöpfungen ist das Ausmaß ihres Gefährdungspotentials, mit dem nach Jonas’ Einschätzung die künftige Existenz der Menschheit als humane Wesen auf dem Spiel steht.10 Hier handelt es sich um ein Problem, das sich eigentlich im zweiten Aufgabenfeld der Zukunftsethik stellt, aber, so Jonas, auch die moralische Prinzipienlehre selbst mit einem neuen Problem konfrontiert. Es ist neu, weil nicht – wie bis dahin – menschliche Individuen, sondern die Menschheit als Ganze bedroht ist. Angesichts dieser Dimension der Bedrohung bedarf es des Nachweises, warum Existenz und Wesen der Menschheit nicht gefährdet werden dürfen.11 Jonas ist der Auffassung, daß eine Ethik der Achtung menschlicher Individuen nicht in der Lage ist, der Gefährdung der Menschheit Rechnung zu tragen. Entsprechend kommentiert er den kategorischen Imperativ seiner ontologischen Zukunftsethik mit den Worten: „So sind wir denn mit diesem ersten Imperativ gar nicht den künftigen Menschen verantwortlich, sondern der Idee des Menschen, die eine solche ist, daß sie die Anwesenheit ihrer Verkörperungen in der Welt fordert.“12 Mit dieser These distanziert sich Jonas von der moralphilosophischen Tradition der Neuzeit und somit von gerechtigkeitstheoretischen Konzeptionen einer Zukunftsethik. Um der historischen Richtigkeit willen muß erwähnt werden, daß es nicht das Bewußtwerden von Risiken der technologischen Zivilisation im reifen Alter ist, welche ihn zu dieser „fast schon archaischen Philosophie“ anstieß,13 sondern die Herausforderung durch die Lektüre von Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten während der Gymnasialzeit,14 genauer: von Kants Begriff des ethisch Guten in seiner berühmten Formulierung: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was
ohne Einschränkung könnte für gut gehalten werden, als allein ein guter Wille.“15 Erst nach langen Umwegen, in seiner Spätphilosophie, legte Jonas selbst eine ontologische Konzeption des Guten vor. Diese steht in der Tradition einer aristotelisch orientierten Ontologie und ist wesentlich durch das Studium bei Heidegger sowie durch die Auseinandersetzung mit der frühchristlichen Gnosis beeinflußt, gewinnt aber ihre konkrete Gestalt und pragmatische Ausrichtung als Zukunftsethik unter dem Eindruck der Umweltkrise.16 Dies besagt jedoch, daß Jonas’ These, die technologische Zivilisation erfordere eine neue Ethik, mit Vorbehalt zu lesen ist, denn für ihn ist Ethik nur als ontologische Ethik möglich. Der Bezug zur Gefährdung der Menschheit ist vor allem für die dritte Aufgabe der Zukunftsethik relevant, nämlich für die Entwicklung entsprechender Handlungsmotivationen. Die folgenden Überlegungen gelten dem Inhalt und der Begründung des zukunftsethischen Imperativs. Auf entstehungsgeschichtliche Zusammenhängen und systematischen Bezüge wird nur am Rande eingegangen.
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II. Inhalt und Begründung des zukunftsethischen Imperativs Auch wenn Jonas von einer Deduktion und der stringenten Entwicklung eines Argumentes spricht, ist die Begründung der Verantwortungsethik ihrer Methode nach eine hermeneutische Explikation dessen, was der Inhalt des zukunftsethischen Imperativs besagt. Die Idee des Menschen, das heißt für Jonas: seine metaphysische Natur, wird nämlich, wie schon zitiert, so ausgelegt, „daß sie die Anwesenheit ihrer Verkörperungen in der Welt fordert.“17 Die Ausführungen dazu in Das Prinzip Verantwortung sind sehr komplex und mit weitreichenden Überlegungen zu den Voraussetzungen verbunden, während der später veröffentlichte kleine Aufsatz „Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik“ knapp und konzentriert die Grundgedanken vorstellt. Unter der metaphysischen Natur des Menschen, wie sie in ethischer Hinsicht relevant ist, versteht Jonas die Fähigkeit zu Verantwortung. Das bedeutet, qua Mensch befähigt zu sein, „zwischen Alternativen des Handelns mit Wissen und Wollen zu 275
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wählen“,18 wobei der oberste Maßstab für die richtige Wahl darin besteht, diese Fähigkeit zur Verantwortung auch in Zukunft zu bewahren. Diesen Maßstab erblickt Jonas in der Pflicht, unter der Voraussetzung menschlicher Handlungsfreiheit so zu handeln, daß das oberste moralische Schutzgut, nämlich die Fähigkeit zu Verantwortung, weder direkt noch indirekt gefährdet wird. Der Maßstab besteht also in der Pflicht zur Verantwortung, die „als die ethische Vermittlung“19 zwischen „der menschlichen Freiheit und der Werthaftigkeit des Seins“ steht.20 Jonas versteht den skizzierten Gedankengang als „metaphysische Deduktion einer bestimmten Verantwortungspflicht, nämlich jener für die Zukunft des Menschen, aus dem Phänomen der Verantwortung selbst – ein scheinbar zirkuläres ‚ontologisches Argument’, die Herausziehung einer Existenzsetzung aus dem formalen Wesen: aus Verantwortungsfähigkeit Verantwortungspflicht zur Erhaltung von Verantwortungsfähigkeit überhaupt, wobei letztere selbst das ursprüngliche Erfahrungsdatum ist.“21 Wie er selbst bemerkt, ist dies zwar kein leeres Argument, aber auch kein Beweis, weil damit noch nicht gezeigt ist, warum Verantwortungsfähigkeit als moralisches Schutzgut – und gar das höchste – gelten soll. Für Jonas lautet die Grundfrage der ontologischen Ethik „Soll der Mensch sein?“22 Der Sinn dieser Frage ist von der Leibnizschen Grundfrage der Metaphysik her zu verstehen, „warum schlechthin ‚etwas und nicht nichts’ ist“,23 die Jonas dahingehend auslegt, es müsse einen metaphysischen Vorrang des Seins vor dem Nichts geben und somit einen Grund dafür, das Sein dem Nichts vorzuziehen. Gibt es einen solchen Grund, so bedeutet das dann, daß Sein ein Wert ist, der als ein Gut – und dies ist eine zusätzliche These – die moralische Pflicht des Menschen konstitutiert, dieses Gut nicht zu gefährden. Das uneingeschränkte Gutsein von Handlungen soll sich deshalb an dem Guten als ihr Zweck bemessen und nicht etwa an der Universalisierbarkeit ihrer Maximen. Dies ist jedoch nicht nur ein hinreichender Grund für den Menschen, durch sein Handeln das Sein weder direkt noch indirekt zu gefährden. Jonas vertritt darüber hinaus die These, daß „für einen göttlichen Schöpfer ein solches Seinsollen gemäß dem Begriff des Guten ein Grund für sein Schaffen war.“24 Die Werthaftigkeit der Welt verdankt sich ihrem Sein und nicht
göttlicher Urheberschaft: Gott schuf sie, weil sie gut im Sinne eines Seinsollens ist. Dieses Programm erfordert einen Begriff des Guten, den Jonas in einer umfangreichen, nicht leicht nachvollziehbaren hermeneutischen Explikation des Seinsbegriffes im Rahmen einer aristotelisch orientierten Ontologie zu entwickeln sucht. Unter dem Guten versteht Jonas das, was von sich aus sein soll, womit er den Begriff des Guten auf einen bestimmten Seinsbegriff zurückführt: „Sein“ verstanden als Sein-Sollen. Er formuliert seine werttheoretische Grundthese in den Worten, daß „Wert oder das ‚Gute’, wenn es dergleichen gibt, […] das Einzige [ist], das von sich her aus der bloßen Möglichkeit auf Existenz dringt […] – also einen Anspruch auf Sein, ein Seinsollen begründet und, wo das Sein von wahlfreiem Handeln abhängt, es diesem zur Pflicht macht.“25 Jonas verwendet „Sein“ in einem doppeldeutigen Sinne: Zum einen ist damit ein einheitliches Entwicklungsprinzip einer Vielfalt gemeint, zum andern das Sein von etwas, also ein Seinsmodus. Verantwortung als ontologisches Merkmal bezieht sich auf einen spezifischen Seinsmodus des Menschen, während es sich beim Begriff des Guten als ein Seinsollen um die erste Bedeutung von „Sein“ handelt: „Sein“ als ein einheitliches Prinzip der Verwirklichung in der Vielfalt des Existierenden. Die Begründungsidee, die Jonas nun für die ontologische Zukunftsethik verfolgt, besteht darin, zu zeigen, daß Verantwortungsfähigkeit nicht nur der in moralischer Hinsicht relevante Seinsmodus des Menschen ist, sondern auf Grund seiner Struktur zugleich auch ein einheitliches Prinzip der Verwirklichung menschlicher Existenz und damit ein Gut im terminologischen Sinne, das die Menschen verpflichtet, seine Weiterexistenz nicht zu gefährden. Die substantielle Begründungslast der ontologischen Wertethik hängt somit an diesem ontologischen Begriff des Guten. Die Bestimmung des Guten als eine Möglichkeit, die von sich aus auf Wirklichkeit drängt, erinnert von der Struktur her an den aristotelischen Begriff der Form als Entelechie, das heißt als Möglichkeit, die nach Wirklichkeit strebt und damit ihr telos erreicht, wobei das Streben nach Wirklichkeit als ein Tätigsein der Seele zu verstehen ist. Aristoteles bestimmt das menschliche Gute als tätige Wirksamkeit der Seele gemäß der Tugend.26 Doch nimmt Jonas
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gerade diejenige Bestimmung von Aristoteles, die das Tätigsein als ein moralisches und damit spezifisch menschliches Attribut auszeichnet, nicht auf: daß es sich nämlich um ein Tätigsein gemäß der Tugend handelt. Jonas versteht unter dem Guten im Sinne des Seinsollens, was die Struktur einer Entelechie hat, ein Tätigsein als Verwirklichung eines inneren Prinzips. Das hängt damit zusammen, daß Jonas das Gute als Wert an sich in einem Strukturprinzip des Seinsganzen begründen will, das heißt in einer allgemeinen Ontologie des sich selbst erhaltenden Organismus und nicht in einer Anthropologie. Die ontologischen Studien in den frühen Aufsätzen zu einer „Philosophie des Lebens“ skizzieren eine solche allgemeine Ontologie des Organismus auf der Grundlage einer Neuinterpretation der aristotelischen Unterscheidung von Form und Materie.27 Für diese Neuinterpretation nimmt Jonas Bezug auf Plotins Freiheitsbegriff und auf Heideggers Daseinsanalyse, die er in eigener Weise auslegt.28 Der Anspruch dabei ist, Zweckhaftigkeit überhaupt als Seinsmodus alles Lebendigen aufzuweisen und sodann innerhalb des Lebendigen spezifische Stufen von Seinsmodi zu unterscheiden, die durch verschiedene Arten und Grade der Freiheit im Lebensvollzug bestimmt werden. Zweckhaftigkeit als Seinsmodus alles Lebendigen bildet die Grundlage des Wertrealismus, da Zweck „über alles Bewußtsein hinaus, menschliches wie tierisches, in die physische Welt als ein ihr ursprüngliches eigenes Prinzip ausgedehnt“ ist.29 Für die Explikation des Begriffs des Guten unterscheidet Jonas terminologisch zwischen Zweck, Wert und Gut. Zweck versteht er dabei im Sinne einer aristotelischen Finalursache als Ziel: Ein Zweck antwortet auf die Frage „Wozu?“, er „ist das, um dessentwillen eine Sache existiert und zu dessen Herbeiführung oder Erhaltung ein Vorgang stattfindet oder eine Handlung unternommen wird.“30 Ein Zweck kann von subjektivem oder objektivem Wert sein. Im Falle subjektiver Zwecke erfolgt die Wertung durch Subjekte,31 im Falle objektiver Zwecke liegt der Wert im Sein, „in der Natur der Dinge“,32 und ist damit ein objektiver Wert oder Wert an sich. Objektive Werte nennt Jonas auch das unabhängige Gute – unabhängig deshalb, weil ein objektiver Wert nicht von den Neigungen von Subjekten abhängt und auch kein „bloßes
Geschöpf des Willens“ ist.33 Aus Jonas’ Sicht bestimmt nicht der freie Wille das Gute, sondern der freie Wille wird umgekehrt vom Guten bestimmt. Dies bringt Jonas in der positiven Umschreibung des unabhängigen Guten als des ontologischen Prinzips der Verantwortungsethik auch explizit zum Ausdruck: „Erst seine Gründung im Sein stellt es [das Gute] dem Willen gegenüber. Das unabhängige Gute verlangt, Zweck zu werden. Es kann den freien Willen nicht dazu zwingen, es zu seinem Zweck zu machen, aber es kann ihm die Anerkennung abnötigen, daß dies seine Pflicht wäre.“34 Dieser Begriff des Guten teilt mit Kants Begriff des guten Willens das Absehen von partikularen Zwecken. Er unterscheidet sich von Kants Konzeption jedoch darin, daß er zudem auf eine Objektivität konstituierende Theorie menschlicher Subjektivität verzichtet und statt dessen eine Theorie der Subjektivität im Seinsganzen der Natur anstrebt. Daraus ergibt sich auch die grundlegende Differenz zu gerechtigkeitstheoretischen Ansätzen der Zukunftsethik. Denn Gerechtigkeit als moralisches Prinzip unparteilicher Entscheidung bei Interessenkonflikten setzt eine Objektivität konstituierende Theorie menschlicher Subjektivität voraus, die sich – nun im Unterschied zu Kants Begriff des guten Willens – nicht jenseits jeglicher menschlicher Interessen positionieren kann. Das Programm der ontologischen Ethik besteht hingegen darin, Wert als Gut an sich und mit dem Anspruch auf ein Seinsollen in hermeneutischer Explikation als Prinzip des Seinsganzen aufzuweisen. Der erste Schritt in diesem Programm beinhaltet die These, daß Sein auf Grund seines Zweckcharakters einen Vorrang vor dem Nichts hat und deshalb ein Wert ist. Für den kategorischen Imperativ der ontologischen Zukunftsethik von Bedeutung ist, daß primär dem Sein als ontologischer Bestimmung, also dem Seinsmodus als zweckhafter Tätigkeit, Wert zugesprochen wird und nicht den Individuen, in deren Existenz sich dieser Seinsmodus verwirklicht. Daß subjektives – das heißt partikulares – bewußtes Wollen oder noch unbewußtes Streben von Individuen in der lebendigen Natur allgemein vorkommt, begründet, wie Jonas zu Recht sieht, noch keine menschliche Pflicht gegenüber der Natur, denn es „ist die Prärogative menschlicher Freiheit, zur Welt Nein sagen zu
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können: Daß die Welt Werte hat, folgt zwar direkt daraus, daß sie Zwecke hat […], aber ich brauche ihre ‚Werturteile’ nicht zu teilen und kann sogar befinden ‚Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.’“35 Eine Pflicht ist nicht durch die universelle Tatsache von subjektiven, das heißt partikularen Wertungen begründet, sondern erfordert einen Objektivitätsnachweis, der sich der Konzeption der ontologischen Wertethik zufolge auf den Inhalt der Handlung beziehen muß. An dieser Stelle würde man nun eine materiale Wertethik erwarten, was Jonas auch als ein Desiderat nennt. Er ist sich jedoch der damit verbundenen Schwierigkeiten bewußt: „Die Metaphysik nötig haben heißt noch nicht, sie auch zu haben.“36 Er entwickelt deshalb einen formalen Begriff des Guten im Ausgang von seiner werttheoretischen These, als Gut seinem Begriffe nach habe dasjenige zu gelten, „dessen Möglichkeit die Forderung nach seiner Wirklichkeit enthält.“37 Zwar gilt dies nicht für bestimmte Zwecke, weil diese, wie oben ausgeführt, partikular sind, aber es gilt Jonas zufolge für Zweckhaftigkeit selbst als ontologische Verfassung des Lebendigen. Dieser Abstraktionsschritt von bestimmten Zwecken zur Zweckhaftigkeit als solcher führt zwar zu einem formalen Konzept, doch noch nicht zu einem Konzept des Guten. Entsprechend nimmt Jonas auch nicht nur einen Abstraktionsschritt vor, sondern führt darüber hinaus noch eine weitere These ein. Erst diese Zusatzthese liefert das Argument dafür, daß Zweckhaftigkeit selbst – als allgemeines ontologisches Charakteristikum alles Lebendigen – ein Gut ist. Jonas zufolge können wir nämlich „in der Zielstrebigkeit als solcher […] eine grundsätzliche Selbstbejahung des Seins sehen, die es absolut als das Bessere gegenüber dem Nichtsein setzt.“38 Erst die Selbstbejahung macht den Vorrang des Seins vor dem Nichtsein aus, ein Vorrang, der unabhängig von subjektiven Zwecken und deshalb absolut ist. Entscheidend ist, daß mit dieser These dem Sein selbst eine Selbstbejahung zugesprochen wird – im Unterschied zu Heidegger in Sein und Zeit,39 der dort mit Blick auf das Dasein als individuelle Existenz sagt, es gehe ihm um sein Sein. Dem Sein Selbstbejahung zuzusprechen ist aber notwendig, weil der Vorrang sonst von subjektiven Zwecksetzungen abhängig und damit
nicht absolut wäre. Doch wird damit zugleich Sein hypostasiert, das heißt, selbst zu einem Subjekt objektiviert. Jonas vollzieht diese Hypostasierung in Das Prinzip Verantwortung ohne expliziten Kommentar, sie kommt lediglich sprachlich in der Explikation von Zweckhaftigkeit als Gut deutlich zum Ausdruck. Ich zitiere diese Explikation ausführlich, da sie für die weitere Analyse relevant ist:
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„Das heißt, die bloße Tatsache, daß das Sein nicht indifferent gegen sich selbst ist, macht seine Differenz vom Nichtsein zum Grundwert aller Werte, zum ersten Ja überhaupt. Diese Differenz liegt also nicht so sehr im Unterschied eines Etwas vom Nichts […], sondern im Unterschied eines Zweckinteresses überhaupt von der Indifferenz, als deren absolute Form wir das Nichts ansehen können. Ein indifferentes Sein wäre nur eine unvollkommenere, weil mit dem Makel der Sinnlosigkeit behaftete, Form des Nichts und eigentlich unvorstellbar. Daß es dem Sein um etwas geht, also mindestens um sich selbst, ist das erste, was wir aus der Anwesenheit von Zwecken in ihm über es lernen können. Dann wäre die Maximierung von Zweckhaftigkeit, das heißt der Reichtum erstrebter Ziele und damit möglichen Gutes oder Übels, der nächste Wert, der sich aus dem Grundwert des Seins als solchen in Steigerung seiner Differenz vom Nichtsein ergibt. Je mannigfaltiger der Zweck, umso größer die Differenz; je intensiver er ist, umso emphatischer die Bejahung und gleichzeitig deren Rechtfertigung: in ihm macht das Sein sich selber seines Aufwandes wert.“40
Die Hypothese, daß Jonas hier gar keine Hypostasierung des Seins vollziehen will, sondern lediglich eine Verwechslung der Heideggerschen Terminologie von Sein und Dasein zur Charakterisierung der ontologischen Differenz vorliegt, halte ich für unwahrscheinlich, weil eine Selbstbejahung des Daseins als partikularer Wert nicht Grund eines absoluten Gutes sein kann. Daß Jonas diese Hypostasierung aber nicht eigens kommentiert, scheint mir kein Zufall zu sein, denn für das Programm der ontologischen Zukunftsethik ergibt sich daraus ein ernsthaftes Problem: Aus dem ontologischen Begründungsprogramm wird eine theologische Begründung der Zukunftsethik, was Jonas aber, wie 281
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schon zitiert, dezidiert ablehnt.41 Obwohl es auch in den früheren Schriften bereits Hinweise dazu gibt,42 thematisiert Jonas den theologischen Kern seiner Zukunftsethik erst in seinen letzten Essays explizit,43 insbesondere in „Materie, Geist und Schöpfung“, der auf seinen Eröffnungsvortrag zum Internationalen Kongreß „Geist und Natur“ der Stiftung Niedersachen 1988 in Hannover zurückgeht. In diesem Aufsatz skizziert er eine „kosmogonische Vermutung: Machtverzicht Gottes zugunsten kosmischer Autonomie und ihrer Chancen“,44 auf welche er dann explizit seine Verantwortungskonzeption stützt. Er faßt ihren Grundgedanken dort folgendermaßen zusammen:
Gottes, mit der die göttliche Sache bzw. die Wirklichkeit des Seins als Leben ganz dem Menschen anvertraut und damit durch ihn gefährdet ist,49 hat es die ontologische Verantwortung in dreifacher Weise mit dem Sein zu tun: Verantwortungsfähigkeit charakterisiert den Seinsmodus von Menschen, das Sein ist Gegenstand von Verantwortung, und das Seinsganze ist die Instanz, vor der die Verantwortung besteht und die sie zur Pflicht macht,50 „weil sein Wert ein Recht auf mich hat.“51 Zwar geht dieses Recht nicht auf den Willen eines persönlichen Schöpfergottes zurück,52 aber auf die Machtentäußerung eines kosmogonischen Gottes. Verantwortung als ontologische Idee und Pflicht betrifft daher „die Determinierung des Zu-Tuenden“, das heißt die Sorge für „das Abhängige in seinem Eigenrecht“,53 sofern es im Wirkungsbereich der Macht eines Handlungssubjektes liegt. Auch für die ontologische Verantwortungsethik gilt somit, daß die Verantwortungspflicht durch ein Recht konstitutiert wird, doch handelt es sich nicht um ein vertraglich eingegangenes wechselseitiges, sondern um ein ontologisch konstitutiertes Verhältnis.54 Das Abhängige in seinem Eigenrecht ist das Sein, insbesondere das Sein von Menschen, das als imago Dei von sich aus Anspruch auf Wirklichkeit hat. Deshalb ist der erste Imperativ der Zukunftsethik nicht künftigen Menschen, sondern der Idee des Menschen verpflichtet. Jonas versteht die Idee des Menschen jedoch nicht platonisch, sondern von einem aristotelischen Formbegriff her, was besagt, daß die Idee des Menschen an die Existenz von Menschen gebunden ist und keine unabhängige Wirklichkeit hat. Die Idee des Menschen ist ethisch gesehen somit das eigentliche oder primäre Schutzgut, die Menschen selbst das sekundäre. Jonas betont, daß mit dieser kosmogonischen Vermutung Wissen unvermeidlich in Glauben übergeht.55 Dies bedeutet jedoch, daß er den in Das Prinzip Verantwortung formulierten Anspruch: „Die Frage eines möglichen Seinsollens ist unabhängig von der Religion zu beantworten“, weil sie sich „von jeder These bezüglich ihrer Urheberschaft“56 trennen läßt, am Ende nicht eingelöst hat. Nun ist diese kosmogonische Vermutung aber nicht erst ein Resultat der Spätphilosophie, sondern sie findet sich der Sache nach bereits in frühen Schriften, so in einem 1961 gehaltenen Vortrag, der unter dem Titel „Unsterblichkeit und heutige
„Und da ergibt sich denn aus unserer kosmogonischen Hypothese, die sich uns vom kosmologischen Befund her aufdrängte – aus der Kombination also einerseits vom urgründlichen Gewolltsein des Geistes im Strome des Werdens und andererseits der Machtentsagung des so wollenden Urgeistes eben um der unvorgreiflichen Selbstheit endlicher Geister willen –,daß in unsere unsteten Hände, jedenfalls in diesem irdischen Winkel des Alls, das Schicksal des göttlichen Abenteuers gelegt ist und auf unseren Schultern die Verantwortung dafür ruht.“45
Erst diese kosmogonische Vermutung macht die oben bereits zitierte verantwortungsethische These einsichtig: „Zwischen diesen zwei ontologischen Polen also, der menschlichen Freiheit und der Werthaftigkeit des Seins, steht die Verantwortung als die ethische Vermittlung. Sie ist komplementär zur einen und zur andern und die gemeinsame Funktion beider. Dies ist grundlegend dafür, was Verantwortung, wie ich sie verstehe, ihrem Wesen nach ist.“46 Die moralische Verantwortungspflicht des Menschen für das Sein ergibt sich nämlich dann als gemeinsame Funktion der Freiheit des Menschen und der Werthaftigkeit des Seins, wenn – dem beschriebenen kosmogonischen „Gottesbegriff nach Auschwitz“ folgend – die Menschen „Gott helfen müssen“,47 weil Gott sich in der Welt als ihr Seinsprinzip entäußert und um der Menschen Selbstheit und Freiheit willen aller Macht entsagt hat. Die ontologische Verantwortungsethik erweist sich damit als eine OntoTheologie.48 Auf Grund der vollständigen Selbstentäußerung 282
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Existenz“ publiziert worden ist.57 Jonas entwirft dort einen Schöpfungsmythos, der die Selbstentäußerung Gottes zugunsten der Welt postuliert. Dieses Bild trägt in gewisser Weise die Philosophie von Jonas. Sein philosophisches Selbstverständnis bildet sich mit dem von Rudolf Bultmann beeinflußten Versuch,58 die Schriften der frühchristlichen Gnosis anhand der Kategorien von Heideggers Daseinsanalyse auszulegen. Es handelt sich dabei um den Versuch einer existentialen Hermeneutik als Entmythologisierung, wie Jonas dieses Philosophieren in seiner Arbeit Augustin und das paulinische Freiheitsproblem selbst nennt.59 Mit dem Aufsatz „Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung“ wird klar, daß auch die ontologische Verantwortungsethik letztlich einen Versuch existentialer Hermeneutik als Entmythologisierung darstellt. Das Prinzip Verantwortung als Entwurf einer existentialen Hermeneutik scheitert jedoch am philosophischen Anspruch, der mit der Entmythologisierung verbunden ist. Diesen Anspruch formuliert Jonas in seinem Text „Heidegger und die Theologie“ als Kritik an Heideggers geschichtsontologischem Verständnis von Sein nach der sogenannten Kehre. Jonas insistiert zunächst darauf, daß Heideggers Beschreibung des Seins als unabhängige Spontaneität in einer „eminent ontischen, objektivierenden und somit metaphysischen Sprache“ Sein hypostasiert.60 Ich möchte diese Kritik ausführlich zitieren, weil die ontologische Verantwortungsethik ebenfalls unter diese Kritik fällt: „Denn unbestreitbar, ein ‚Sein’ das handelt, muß sein; das, was Initiative hat (wie es vom Sein im Verhältnis zum Denken heißt), muß existieren; was sich entbirgt, hatte ein Vorher, da es sich verbarg, und damit ein Sein jenseits des Aktes der Entbergung; was sich zeigen kann, ist von dem verschieden, dem es sich zeigt – und verschieden nicht im Sinne der ontologischen Differenz, sondern ontisch, als Hier und Dort, als Gegenüber, als Anderes. In der Tat, wie kann man reden von der Aktivität des Seins und der Rezeptivität des Menschen, davon, daß jenes Schicksal hat und Schickung wird, daß es geschieht und daß dies sein Geschehen nicht nur Denken ermöglicht, sondern Denken gibt, sich in solchem Denken lichtet oder verdunkelt, daß es Stimme hat, den Menschen ruft, dem Menschen
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sich ereignet, den Menschen sendet, sich seiner Hut vertraut und ihn in seine Huld nimmt, seine Andacht, Treue und Dankbarkeit verdient, ihn aber auch braucht – wie kann man all dies dem ‚Sein’ zusprechen, es sei denn, man versteht es als ein Seiend-Tätiges und eine Macht, als irgendeine Art Subjekt?“61
Jonas erachtet nun „Heideggers Zuschiebung der Initiative an das Sein“ als die „enormste Hybris in aller Geschichte des Denkens“62, doch beinhaltet Jonas’ Begründung des Seins als Gut aber ebenfalls eine Zuschiebung der Initiative an das Sein, wenn er, wie oben ausführlicher zitiert, argumentiert: „Daß es dem Sein um etwas geht, also zumindest um sich selbst, ist das erste, was wir aus der Anwesenheit von Zwecken in ihm über es lernen können.“63 Das gilt auch für seine Kritik an Heideggers Zuschiebung der Initiative an das Sein, diese besage „nicht weniger als des Denkers Anspruch, daß durch ihn das Wesen der Dinge selbst spricht, und damit den Anspruch auf eine Autorität, die kein Denker jemals beanspruchen soll. […] Unser menschliches Denken sei das Geschehen der Selbstlichtung des Seins – nicht unser eigener irrender Versuch zur Wahrheit! Der Mensch sei der Hirte des Seins – nicht etwa seiender Geschöpfe, sondern des Seins!“64 Ich sehe in dieser Hinsicht keinen relevanten Unterschied zu Jonas’ Formulierung, „daß in unsere unsteten Hände, jedenfalls in diesem irdischen Winkel des Alls, das Schicksal des göttlichen Abenteuers gelegt ist und auf unseren Schultern die Verantwortung dafür ruht.“65 Karl-Otto Apel hat meines Erachtens Recht mit seinem Urteil, daß in Jonas’ kosmogonischem Mythos dieselbe metaphysische Vision wie in Heideggers Rede vom Menschen als dem „Hirten des Seins“ nach der Kehre zu finden ist,66 welche sich auch in der ontologischen Verantwortungsethik findet, insofern sie einen Versuch existentialer Hermeneutik als Entmythologisierung darstellt..
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III. Prinzip Verantwortung oder intergenerationelle Gerechtigkeit? Die zukunftsethische Diskussion ist heute dem Gedanken intergenerationeller Gerechtigkeit verpflichtet, auch dort, wo von Verantwortung gegenüber künftigen Generationen die Rede ist.67 Gerechtigkeit betrifft das richtige Handeln bei Interessenkonflikten angesichts knapper Güter wie natürlicher Ressourcen, materieller Güter, Mitbestimmungschancen usw. Gerechtigkeit setzt wie Verantwortung menschliche Handlungsfähigkeit voraus. Im Vordergrund stehen heute jedoch Fragen der objektiven Gerechtigkeit, das heißt die Problematik, wie Institutionen, die das Handeln regeln, beschaffen sein sollen, und weniger die subjektive Gerechtigkeit als Tugend, das heißt die Bereitschaft der Individuen, gerecht zu handeln. So geht es in den Debatten um das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung um politische, ökonomische und soziale Institutionen, welche die Verteilung von Gütern im weitesten Sinne regeln,68 wobei die institutionellen Verfahrensweisen zur Verteilung oder das Resultat der Verteilung gerecht sein sollen. Gerechtigkeit selbst kann distributiv oder korrektiv verstanden werden. Für beide Gerechtigkeitstypen gibt es unterschiedliche Konzepte. Ökonomische Nachhaltigkeitstheorien sind häufig einem Maximierungsprinzip wie etwa dem Nutzensummenprinzip verpflichtet, demzufolge die Produktion und Verteilung von Gütern dann gerecht ist, wenn künftige Generationen so besser oder zumindest nicht schlechter gestellt sind als die heutige. Gerecht kann aber auch bedeuten, daß jeder soviel bekommt, wie zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse nötig ist, und daß denjenigen zu helfen ist, die ihre Grundbedürfnisse nicht aus eigener Kraft befriedigen können. Gerechtigkeit kann zudem bedeuten, die Interessen anderer dadurch zu schützen, daß sich die Nutzung innerhalb der Tragekapazität der Ökosysteme bewegt. Ferner wird Gerechtigkeit oft auch als Teilnahmegerechtigkeit ausgelegt, das heißt, daß Vereinbarungen dann als gerecht gelten, wenn alle Interessierten und Betroffenen an der Entscheidung mitbestimmend beteiligt sind, wie dies in Projekten der lokalen „Agenda 21“ mit der Partizipation von Akteuren versucht wird. Aber es 286
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geht auch darum, ob und wie bestehende Ungerechtigkeiten zu korrigieren sind: durch Umverteilung – etwa der Energieressourcen – mittels Ausgleich, indem neue Technologien als Ersatz für die aufgebrauchten nicht erneuerbaren Ressourcen entwickelt werden. Es ist der Gedanke der Unparteilichkeit, dem Gerechtigkeitstheorien seit Platon und Aristoteles einen Platz in der Moralphilosophie verdanken. Unparteilichkeit besagt, daß bei Verteilungsfragen unter Absehung von der Person zu entscheiden ist, Was es positiv bedeutet, unparteilich zu entscheiden, ist hingegen schwieriger. John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit69 ist ein Versuch, Gerechtigkeit als Egalitarismus zu begründen, der in der Gleichverteilung von Gütern im weiten Sinne besteht. Die seit einigen Jahren sich abzeichnende Renaissance einer Ethik des guten Lebens reagiert auf die Schwächen einer rein prozedural und formal verstandenen Gerechtigkeitsmoral. Die Kritik am Egalitarismus, wie sie in jüngerer Zeit prominent von Harry Frankfurt formuliert wird, macht hier geltend, daß der moralische Wert nicht der Gleichheit selbst als einem komparativen und formalen Begriff zugesprochen werden kann: „Es kommt darauf an, ob Menschen ein gutes Leben führen, und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht.“70 Auch wenn Gleichheit nicht um ihrer selbst willen moralisch erstrebenswert ist, enthält der Gedanke der Gleichheit eine moralisch relevante Intuition. Sie besteht darin, daß Menschen unter gleichen Voraussetzungen auch gleich behandelt werden sollen und deshalb die Abweichung von Gleichheit begründungspflichtig ist, nicht die Gleichheit. Doch kann es sich sinnvollerweise nur um Gleichheit und Ungleichheit bezüglich moralisch relevanter Tatbestände oder Regeln handeln und nicht bezüglich Gütern schlechthin. Die Frage „Gerecht in bezug worauf?“ ist nicht hinfällig geworden, wie der Egalitarismus meinte. Vielmehr setzen Gerechtigkeitstheorien weitere Moralprinzipien voraus, insbesondere ein Konzept des Guten. Durch Gerechtigkeitskonzepte sollen Menschenrechte geschützt werden, die sich je nach ihrer ethischen Auslegung aus der Achtung der Würde des Menschen, seiner Personalität oder seinem Subjektstatus sowie den dafür relevanten Bedingungen ergeben, jedoch allesamt den Menschen als Individuum zum primären Schutzgut erheben. 287
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Hirsch Hadorn: Prinzip Verantwortung oder intergenerationelle Gerechtigkeit?
Hans Jonas’ Begriff des Guten hingegen ist im Kern der Versuch einer Weiterführung des aristotelischen Begriffes der Entelechie. Die Kernfrage einer subjektivitätstheoretischen Interpretation von Entelechie besteht darin, was im Tätigsein zur Wirklichkeit kommt: allgemeine Form oder individuelle Identität? Während es einer Zukunftsethik als intergenerationeller Gerechtigkeit um die Achtung personaler Identität und Individualität künftiger Menschen geht, das heißt um den Selbstzweckcharakter des Individuums, versteht sich die ontologische Verantwortungsethik als Sorge um das in seiner künftigen Existenz gefährdete Menschenbild, also um ein die endliche individuelle Existenz transzendierendes Sein als Selbstzweck. Auf Grund dieser Unterschiede in bezug auf den Begriff des Guten habe ich in einer früheren Arbeit die These vertreten, daß Jonas’ kategorischer Imperativ nicht transzendental rekonstruierbar, sondern nur durch eine transzendentale Zukunftsethik ersetzbar ist.71 Trotzdem ist die Frage „Prinzip Verantwortung oder intergenerationelle Gerechtigkeit?“ damit nicht einfach beantwortet. Die Ontologie von Jonas ist nämlich als eine Ontologie des selbständigen Individuums konzipiert. Sein ist für Jonas nicht transzendent, sondern nur als Sein eines Individuums wirklich, das heißt aber als Selbstzweckcharakter von Individuen. Das macht die Rede vom Guten bei Jonas zutiefst doppeldeutig. Diese Doppeldeutigkeit findet sich bereits in Aristoteles’ Ontologie. Aristoteles bezieht seine Theorie vom Naturzweck einerseits eindeutig auf die jeweilige Natur im einzelnen Naturseienden, spricht andererseits aber auch von einem transzendenten Zweck des Zeugens. Ingeborg Craemer-Ruegenberg sieht darin zu Recht „einen Konflikt zwischen dem ‚Physiker’ und dem ‚Theologen’ in Aristoteles, einen nicht thematisierten und unaufgelösten Konflikt.“72 Dieser Konflikt läßt sich aber nicht so leicht auflösen, weil die metaphysische Komponente aus dem Begriff der Person nicht einfach gestrichen werden kann. Entsprechende Schwierigkeiten zeigen sich in der jüngeren Diskussion um die moralische Relevanz des guten Lebens, welche eine Bestimmung dessen, was die Würde des Menschen, seine Personalität oder seinen Subjektstatus ausmacht, nicht umgehen kann. Naturalistische Bestimmungen empirischer oder metaphysischer Art sind zu einem hohen Grad
kontextuell abhängig. Ferner bleibt damit die Frage, warum dies moralisch gut ist, offen und das Begründungsproblem somit ungelöst. Die Renaissance einer Theorie des guten Lebens in der Moralphilosophie hat daher eine Schwierigkeit, die sich mit einer Formulierung von Jonas so umschreiben läßt: Eine Theorie des Guten nötig haben heißt noch nicht, sie auch zu haben. Mißt man die philosophische Bedeutung eines Autors an den Fragen, die er aufwirft, und nicht an den Antworten, die er dazu vorschlägt, dann hinkt die zukunftsethische Debatte Jonas gewissermaßen hinterher.
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Löwy: „Prinzip Hoffnung“ und „Prinzip Verantwortung“
Michael Löwy
Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ versus Hans Jonas’ „Prinzip Verantwortung“1 Es war mir vergönnt, Ernst Bloch persönlich kennenzulernen. Unsere Begegnung fand 1974 in seiner Tübinger Wohnung statt, unweit der Schule, an der – wie er sich in seinen Schriften häufig gerne erinnerte – 1789 Hegel, Schelling und Hölderlin als Jugendliche zur Feier der Französischen Revolution einen Baum pflanzten. Er war bereits neunundachtzig Jahre alt, praktisch blind, aber von eindrucksvoller geistiger Klarheit. Eine seiner Bemerkungen im Verlauf unseres Gesprächs hat mich besonders beeindruckt, weil sie die hartnäckige Treue eines ganzen Lebens zur Idee der Utopie zusammenfaßte: „Die Welt, so wie sie existiert, ist nicht wahr. Es gibt einen zweiten Begriff der Wahrheit, der nicht positivistisch ist, der nicht auf einer Feststellung des Tatsächlichen beruht […], sondern wertgeladener ist, wie etwa der Begriff ‚ein wahrer Freund’ oder Juvenals Ausdruck tempestas poetica – das heißt ein Unwetter, wie es sich im Buch findet, ein „poetisches Gewitter“, wie es die Wirklichkeit niemals gekannt hat, ein auf die Spitze getriebenes Unwetter, ein radikales Gewitter. Also ein wahres Gewitter, in diesem Fall in bezug auf die Ästhetik, auf die Poesie, im Fall des Ausdrucks ‚ein wahrer Freund’ dagegen in bezug auf den moralischen Bereich. Und wenn das nicht den Tatsachen entspricht – und für uns Marxisten sind Tatsachen nichts als verdinglichte Momente eines Prozesses –, dann um so schlimmer für die Tatsachen, wie der alte Hegel zu sagen pflegte.“2 Auch wenn die angeführten Verweisstellen lateinisch oder deutsch sind, kommt man beim Lesen dieser Worte kaum umhin, an eine alte jüdische Eigenschaft zu denken, die mit dem bekannten hebräischen oder jiddischen Begriff der chuzpa oder chuzpe 290
hervorragend beschrieben ist, was in nur sehr ungenauer deutscher Übersetzung „Frechheit“, „Unverschämtheit“ oder „Herausforderung“ bedeutet. Der Wachtraum der Utopie steht seit Blochs ersten Schriften – Der Geist der Utopie (1918) und Thomas Münzer als Theologe der Revolution (1921) – im Zentrum seines Denkens. Sein Denken schöpft aus vielfältigen philosophischen, literarischen und religiösen Quellen, unter denen jene des jüdischen Messianismus einen besonderen Raum einnimmt. In einem mit dem Titel „Symbol: Die Juden“ überschriebenen Kapitel von Der Geist der Utopie rühmte Bloch das Judentum als jene Religion, welche die essentielle Kraft besitze, „auf den Messias, auf das Rufen des Messias“ zu hoffen.3 Es sei dieser Glaube, der die historische Kontinuität des „Volkes der Psalmen und der Propheten“ ausmache und der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts das Wiedererwachen des „Stolz[es] Jude zu sein“4 inspiriert habe. Laut Bloch war Jesus zwar ein wahrer jüdischer Prophet, jedoch nicht der wahre Messias: Der „ferne Messias“, der Heiland, der „letzte, unbekannte Christus“ ist noch nicht gekommen.5 Die revolutionäre Utopie bei Bloch ist, wie bei Walter Benjamin, untrennbar mit einem messianischen oder chiliastischen Begriff der Zeit verbunden, der jeglichem Gradualismus des Fortschritts entgegensteht. Mit Blick auf Thomas Münzer und den Bauernkrieg des sechzehnten Jahrhunderts bemerkt er: „Nicht für bessere Tage, sondern für das Ende aller Tage wurde hier gekämpft […], nicht für die Überwindung irdischer Schwierigkeiten in einer eudämonistischen, uneingebauten Zivilisation, sondern für ihre Entrealisierung am Durchbruch des Reichs.“ Sein Gedankengang ist sonderbar „synkretistisch“, zugleich jüdisch und christlich – etwa in jener anderen Passage im Buch über Münzer, die das „dritte, letzte Evangelium“ des Joachim di Fiore mit dem Chiliasmus der anabaptistischen Bauern und dem Messianismus der Kabbalisten von Safed vergleicht, die nördlich des Sees Genezareth „den messianischen Retter“ erwarteten, „der Kaisertum und Papsttum stürzt […] und Olam-ha-Tikkun, das wahre Gottesreich, herbeizwingen wird.“ Das ist nicht nur historische Reflexion: Bloch glaubte 1921 an einen bevorstehenden revolutionären Wandel in Europa, den er in einer jüdisch291
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messianischen Sprache beschrieb, wie die Prinzessin Schabbat, die noch hinter einer „dünnen, knisternden Mauer“ verborgen schien, während hoch „über die Trümmer und zerbrochenen Kultursphären dieser Welt der Geist unvorstellbarer Utopie“ hereinscheint.6 Das Prinzip Hoffnung ist das wichtigste Buch Ernst Blochs und zweifellos eines der bedeutendsten Werke emanzipatorischen Denkens im zwanzigsten Jahrhundert. Mit seinem monumentalen Umfang von mehr als sechzehnhundert Seiten hat es seinen Verfasser einen großen Teil seines Lebens beschäftigt: Während des Exils in den Vereinigten Staaten – zwischen 1938 und 1947 – verfaßt, wurde es 1953 und dann 1959 ein zweites Mal überarbeitet. Nach Blochs Verurteilung als „Revisionist“ durch die Behörden der DDR verließ dieser das Land zur Zeit der Errichtung der Berliner Mauer (1961).7 Niemand hat jemals ein solches Buch geschrieben, das – mit demselben visionären Atem – die Vorsokratiker und Hegel, die Alchemie und die Novellen E. T. A. Hoffmanns, die ophitische Häresie und den Messianismus eines Sabbatai Zvi, Schellings Philosophie der Kunst und den marxistischen Materialismus, Mozarts Opern und die Utopien Charles Fouriers miteinander ins Gespräch bringt. Öffnen wir zufällig eine Seite: Sie handelt von der Vorstellung der Materie bei Paracelsus und Jakob Böhme, von der „Heiligen Familie“ bei Marx, von der Erkenntnislehre Giordano Brunos und von Spinozas Buch Über die Verbesserung des Verstands. Bloch besaß ein solch enzyklopädisches Wissen, daß nur wenige Leser auf der Grundlage von Sachkenntnissen jedes in den drei Bänden des Buches entfaltete Thema zu beurteilen vermögen. Sein Stil ist häufig hermetisch, besitzt jedoch ein hohes Maß an Suggestivkraft: Es obliegt dem Leser, zu lernen, die von der poetischen, bisweilen esoterischen Feder des Philosophen verstreuten Kostbarkeiten herauszufiltern.8 Im Gegensatz zu so vielen Denkern seiner Generation, etwa zu seinem Freund Georg Lukács, blieb Bloch den Intuitionen seiner Jugend treu und verleugnete nie die revolutionäre Romantik seiner ersten Schriften. Man begegnet daher im Prinzip Hoffnung zahlreichen Verweisen auf den Geist der Utopie, insbesondere auf die Idee der Utopie als antizipatorisches Bewußtsein, als Figur des „Vor-Scheins“. Ernst Blochs grundlegende Zielsetzung war
folgende: Die Philosophie sollte das Bewußtsein von morgen besitzen, Partei für die Zukunft ergreifen und das Wissen der Hoffnung pflegen, da sie sonst überhaupt kein Wissen mehr haben werde. Aus seiner Sicht war es der Wille zur Utopie, der der Antrieb zu allen Befreiungsbewegungen der Menschheitsgeschichte gebildet hatte: „Auch alle Christen kennen es in ihrer Art, mit schlafendem Gewissen oder mit Betroffenheit, aus den Exodus- und messianischen Partien der Bibel.“9 Blochs Philosophie der Hoffnung ist vor allem eine Theorie des „Noch-Nicht-Seins“ in seinen vielfältigen Erscheinungen: des „Noch-Nicht-Bewußten, Noch-Nicht-Herausgebrachten, Herausmanifestierten in der Welt.“10 Denn seiner Überzeugung nach ist die Welt voller Angelegt-Sein auf etwas hin, voller Tendenz hin zu etwas, voller Latenz, und das „etwas“, dem sie zuneigt, ist die Verwirklichung des utopischen Ziels – einer von unwürdigem Leid, von Angst und Entfremdung freien Welt. In seiner Suche nach den antizipatorischen Funktionen des menschlichen Geistes spielt der Traum eine wichtige Rolle – von der alltäglichsten Form, dem Wachtraum, bis zum von den Wunschbildern inspirierten „Traum nach vorwärts“.11 Das zentrale Paradox des Prinzips Hoffnung besteht darin, daß dieser machtvolle, dem Horizont der Zukunft, der Front und des novum, des noch nicht Bestehenden zugewandte Text fast nichts über die Zukunft sagt. Er versucht praktisch nirgends, sich das kommende Antlitz der menschlichen Gesellschaft auszumalen, es vorauszusehen oder auch nur anzudeuten, es sei denn im klassischen Sinne der marxistischen Perspektive: eine klassenlose Gesellschaft ohne Unterdrückung. Science-fiction oder die moderne Futurologie interessieren Bloch in keiner Weise. In Wirklichkeit handelt es sich bei seinem Buch, abgesehen von den theoretischeren Kapiteln, um eine ungeheure, faszinierende Reise durch die Vergangenheit – auf der Suche nach den in den sozialen, medizinischen, architektonischen, technischen, philosophischen, religiösen, geographischen, musikalischen und künstlerischen verstreuten Sehnsuchtsbildern und Hoffnungslandschaften. Diese ganz besondere Form einer typisch romantischen Dialektik von Vergangenheit und Zukunft zielt auf die Entdeckung der Zukunft in den Bestrebungen der Vergangenheit, in Gestalt
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der unerfüllten Verheißung: „Die starren Scheidungen zwischen Zukunft und Vergangenheit stürzen so selber ein, ungewordene Zukunft wird in der Vergangenheit sichtbar, gerächte und beerbte, ermittelte und erfüllte Vergangenheit in der Zukunft.12 Es geht demnach nicht darum, sich in eine träumerische, melancholische Kontemplation der Vergangenheit zu versenken, sondern darum, daraus eine lebendige Quelle für die revolutionäre, auf die Verwirklichung der Utopie gerichtete Praxis zu gewinnen. Das notwendige Pendant zum der zukünftigen Welt zugewandten antizipatorischen Denken ist der kritische Blick auf die gegenwärtige Welt: Die heftige Kritik an der industriell-kapitalistischen Zivilisation und ihren schlimmen Folgen stellt eines der – häufig übersehenen – Hauptmotive des Prinzips Hoffnung dar. Bloch prangert das „rein Niederträchtige“ und die „schonungslose Gemeinheit“ dessen an, was er als „heutiges Geschäftsleben bezeichnet – einer „durchweg vergaunerten“ Welt, in der „die Gier nach Profit […] sämtliche menschliche Regungen“ überschattet.13 Auch kämpft er gegen die kalten, funktionellen modernen Städte an, die keine „Heimat“ mehr darstellen (eines der Schlüsselmotive des Buches), sondern „Wohnmaschinen“, welche die Menschen auf den Zustand „genormter Termiten“ reduzieren.14 Jedes Ornament und jede organische Linie verneinend, das gotische Erbe des Lebensbaums bestreitend, erinnern die modernen Bauten an den von den ägyptischen Pyramiden verkörperten Todeskristall. Letztlich „reflektiert und verdoppelt“ die funktionelle Architektur „die eiskalte Automatenwelt der Warengesellschaft, ihrer Entfremdung, ihrer arbeitsgeteilten Menschen, ihrer abstrakten Technik.“15 Unter diesen Formen des antizipatorischen Bewußtseins nimmt die Religion einen privilegierten Platz ein, da sie aus der Sicht Blochs die Utopie par excellence verkörpert, die Utopie der Vollendung, die Totalität der Hoffnung. Dennoch gilt es zu präzisieren, daß es sich bei der Religion, auf die sich Bloch beruft, um eine „atheistische Religion“ handelt – eine seiner Lieblingsparadoxien. Es geht um ein Reich Gottes ohne Gott, das den Herrn der Welt von seinem himmlischen Thron stürzt und durch eine „mystische Demokratie“ ersetzt: „Atheismus ist folglich so wenig der Feind religiöser Utopie, daß er deren Voraussetzung bildet:
ohne Atheismus hat Messianismus keinen Platz.“16 Indessen bestand Bloch darauf, seinen religiösen Atheismus ganz klar von jeglichem vulgären Materialismus abzugrenzen, von dem „schlecht Entzauberten“,17 wie es die platteste Spielart der Aufklärung – das, was er als „Aufkläricht“ im Gegensatz zur „Aufklärung“ bezeichnete – und die bürgerlichen Lehren der Säkularisation beförderten. Es geht nicht darum, dem Glauben die Banalitäten des freien Denkens entgegenzusetzen, sondern darum, die Schätze der Hoffnung und die Inhalte der Sehnsucht der Religion zu retten, indem man sie ins Immanente verlagert – Schätze, unter denen man – in diversen Formen – die kommunistische Idee findet: vom Urkommunismus der Bibel (ein Erbe der nomadischen Gemeinschaften) über den mönchischen Kommunismus des Joachim di Fiore bis zum Kommunismus der chiliastischen Häresien (der Albigenser, Hussiten, Taboriten und Wiedertäufer). Um die Wirksamkeit dieser Tradition im modernen Sozialismus nachzuweisen, beendete Bloch sein Kapitel über Joachim di Fiore schelmisch mit einem wenig bekannten, recht erstaunlichen Zitat des frühen Friedrich Engels: „Das Selbstbewußtsein der Menschheit, der neue Gral, um dessen Thron sich die Völker jauchzend versammeln … Das ist unser Beruf, daß wir dieses Grals Templeisen werden, für ihn das Schwert um die Lenden gürten und unser Leben fröhlich einsetzen in den letzten heiligen Krieg, dem das Tausendjährige Reich der Freiheit folgen wird.18 Was der Marxismus neu geltend macht, ist die docta spes (wissende Hoffnung), die Wissenschaft von der Wirklichkeit, das aktive Wissen, das sich der die Welt verwandelnden Praxis und dem Horizont der Zukunft zuwendet. Im Gegensatz zu den abstrakten Utopien der Vergangenheit, die sich darauf beschränkten, der bestehenden Welt ihr Wunschbild entgegenzusetzen, geht der Marxismus von den Tendenzen und Möglichkeiten der Wirklichkeit selbst aus: Diese Meditation des Wirklichen gestattet erst die Herbeiführung der konkreten Utopie. Im übrigen verwechselte Bloch – trotz seiner vor 1956 erkennbaren Bewunderung für die Sowjetunion und seinem Mangel an Kritik am bürokratischdiktatorischen System der Ostblockstaaten – den „real existierenden Sozialismus“ nicht mit dieser konkreten Utopie, die
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seinem Verständnis nach eine unerreichte Tendenz oder Latenz, ein noch nicht verwirklichtes Wunschbild blieb. Sein philosophisches System beruhte ganz auf der Kategorie des Noch-nichtSeins, nicht auf der rationalen Legitimation irgendeines „wirklich bestehenden“ Staates. Blochs Marxismus war ziemlich heterodox: Während Marx sich von der Utopie verabschiedete und Engels in einer berühmten Schrift aus dem Jahre 1888 den Übergang des Sozialismus „von der Utopie zur Wissenschaft“ pries, zögerte Bloch nicht, diese Ordnung umzukehren. Gewiß, er bestritt nicht die Notwendigkeit der Wissenschaft: Der Sozialismus vermag seine revolutionäre Rolle nur in der untrennbaren Einheit von Nüchternheit und Phantasie, von Vernunft und Hoffnung, von Unnachsichtigkeit des Detektivs und Enthusiasmus des Träumers zu spielen. Gemäß einer berühmten Formulierung gilt es den „Kältestrom“ und den „Wärmestrom“ des Marxismus, beides gleichermaßen unverzichtbare Erscheinungen, miteinander zu verbinden. Indessen stellte Bloch eine klare Hierarchie zwischen beiden Elementen her: Der „Kältestrom“ existiert um des „Wärmestroms“ und ist ihm zu Diensten.19 Der „Wärmestrom“ des Marxismus inspirierte das, was Bloch als seinen „militanten Optimismus“ bezeichnete, seine aktive Hoffnung auf das novum, auf die Verwirklichung der Utopie. Hans Jonas hat diesen „erbarmungslosen Optimismus“ Blochs der Kritik unterzogen,20 und es trifft zu, daß der Verfasser des Prinzips Hoffnung dieser Schwäche verfallen zu sein scheint. Die Gerechtigkeit erfordert jedoch, zu bedenken, daß er sehr nachdrücklich kritisierte, was er als „banalen, automatischen Fortschritts-Optimismus“ bezeichnete. In dem Wissen, daß dieser falsche Optimismus auf gefährliche Weise dazu neigt, zum neuen Opium für das Volk zu werden, meinte er sogar, daß „selbst ein Schuß Pessimismus dem banal-automatischen Fortschrittsglauben an sich vorziehbar wäre. Denn ein Pessimismus mit realistischem Maß ist immerhin nicht so hilflos überrascht von Fehlschlägen und Katastrophen“ Konsequent beharrte er auf der „objektiven Ungarantiertheit“ der utopischen Hoffnung.21 In einer Hommage an Ernst Bloch machte Theodor W. Adorno, einer der pessimistischsten Denker des Jahrhunderts, geltend, der Verfasser des Prinzips Hoffnung sei einer der überaus seltenen Philosophen
unserer Zeit, die niemals den Gedanken einer Welt ohne Herrschaft und Hierarchie aufgegeben hätten.22 Anders als Hans Jonas nahezulegen scheint, besteht kein notwendiger Gegensatz zwischen dem „Prinzip Hoffnung“, wie es Bloch formuliert, und dem „Prinzip Verantwortung“ im Sinne der Erhaltung der Umwelt für zukünftige Generationen. Sieht man von einer recht naiven Vision von den Chancen der zivilen Nuklearenergie ab, steht Bloch, wie wir gesehen haben, der technologisch-industriellen Zivilisation relativ kritisch gegenüber. Seine Gesellschaftsutopie ist untrennbar mit dem Traum von einer anderen, mitwirkenden, nicht-zerstörerischen Beziehung des Menschen zur Natur verbunden. Es geht mir hier nicht darum, Jonas’ Kritik an Ernst Bloch in Frage zu stellen, zumal ein solches Unterfangen ein ganzes Buch erforderte. Nur eine Bemerkung: Jonas wirft den Marxisten im allgemeinen und Bloch im besonderen Anthropozentrismus und einen Mangel an Sensibilität für die Naturromantik vor.23 Wahrscheinlich würde sich Bloch, was die erste Beschuldigung betrifft, schuldig bekennen: In der Tat zielt das „Prinzip Hoffnung“ auf das Glück des Menschengeschlechts. Bedenkt man jedoch, daß sich dieses Glück nicht in einer geschädigten natürlichen Umwelt verwirklichen läßt, widerstreitet der utopische Anthropozentrismus oder Humanismus gar nicht der Sorge um das ökologische Gleichgewicht, im Gegenteil. Was den zweiten Kritikpunkt betrifft, so würde ihn Bloch ohne Zögern zurückweisen: Ist er doch zweifellos unter allen marxistischen Denkern derjenige, der am meisten von der romantischen Naturphilosophie geprägt ist. Die Kritik Blochs an der modernen Technik ist vor allem von der romantischen Forderung nach einer harmonischeren Beziehung zur Natur motiviert. Die gegenwärtige Technik, die er als „bürgerlich“ bezeichnet, zeichnet sich lediglich durch ein von Marktüberlegungen bestimmtes, im wesentlichen feindliches Verhältnis zur Natur aus: „Unsere bisherige Technik steht in der Natur wie eine Besatzungsarmee in Feindesland.“24 Wie die Intellektuellen der Frankfurter Schule vertritt der Verfasser des Prinzips Hoffnung die Auffassung, der „kapitalistische Begriff der Technik insgesamt“ zeige gegenüber der Natur einen Willen zur „Domination, die Haltung eines „Sklavenaufsehers“.25 Es geht
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nicht darum, die Technik als solche zu verneinen, sondern darum, der in den modernen Gesellschaften existierenden Technik die Utopie einer „Allianztechnik“ entgegenzusetzen, „eine mit der Mitproduktivität der Natur vermittelte“ Technik,26 eine Technik „als Entbindung und Vermittlung der im Schoß der Natur schlummernden Schöpfungen“ – eine Formel, die Bloch – wie so oft ohne Quellenangabe – bei Walter Benjamin entlehnt hat.27 Diese Sensibilität, die man als „vor-ökologisch“ bezeichnen könnte, ist unmittelbar von der romantischen Naturphilosophie mitsamt ihrer qualitativen Vorstellung der natürlichen Welt inspiriert. Laut Bloch ist es der Aufstieg des Kapitalismus, des Wertes des Umsatzes und des marktwirtschaftlichen Kalküls, der zum „Vergessen des Organischen“ und zum „Verlust der Qualität“ in der Natur beiträgt. Goethe, Schelling, Franz von Baader, Joseph Molitor und Hegel sind einige der Vertreter einer Rückkehr zum Qualitativen, die sich als Reaktion auf dieses Vergessen entwickelt. Jürgen Habermas hat nicht zu Unrecht Ernst Bloch als „marxistischen Schelling“ bezeichnet, insofern dieser versuchte, eine einzigartige Verbindung von romantischer Naturphilosophie und historischem Materialismus zu formulieren.28 Ernst Blochs Prinzip Hoffnung erschien 1959, Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung zwanzig Jahre später. Seitdem hat sich die ökologische Krise – eine tiefe Krise der Zivilisation – unendlich verschärft, und am Horizont der kommenden Jahrzehnte zeichnet sich die Drohung einer Umweltkatastrophe von unvorhersehbarem Ausmaß ab. Die gesamte kapitalistisch-industrielle Zivilisation sowie ihr 1989 gescheitertes bürokratisches Abbild mit seinem rasenden Produktivismus sind nicht nur für das exponentielle Anwachsen der Verschmutzung der Luft, der Erde und des Wassers, sondern auch für die möglicherweise irreversiblen Schädigungen des ökologischen Systems des Planeten verantwortlich. Es geht nicht mehr allein um die Verantwortung für die zukünftigen Generationen, an die Jonas dachte, sondern bereits um Verantwortung für unsere eigene Generation. Die klimatischen Umwälzungen, die sich etwa aus dem Treibhauseffekt ergeben, machen sich bereits bemerkbar und drohen schon in naher Zukunft dramatische Folgen für die gesamte Menschheit zu
zeitigen. Das „Prinzip Verantwortung“ darf sich nicht nur auf „die Natur“ im abstrakten Sinne beziehen, sondern muß die natürliche Umwelt des menschlichen Lebens im Blick haben: Der Anthropozentrismus wird hier synonym zum Humanismus. Die vom Baconschen Ideal inspirierten wissenschaftlichen Utopien, die Bloch in seinem opus magnum auf wenig kritische Weise feierte,29 oder die wirtschaftlichen Utopien, die auf dem „Prinzip Wachstum“ beruhen, das auf eine unbegrenzte Entwicklung der Produktion sowie auf eine unbegrenzte Steigerung des Konsums zielt, sind aus dieser Perspektive ethisch „unverantwortlich“, weil sie im Widerspruch zum ökologischen Gleichgewicht des Planeten stehen. Nun haben die halbherzigen Maßnahmen, die ökologischen Reformen und die internationalen Konferenzen auf Regierungsebene weithin ihre Grenzen und ihre Wirkungslosigkeit bewiesen. Vorschläge wie der „Markt der Verseuchungsrechte“ zielen nur auf die Verewigung des Bestehenden zugunsten der großen Umweltverschmutzer, vor allem der Vereinigten Staaten. Wie soll man sich eine wirkliche, das heißt radikale Lösung der ökologischen Krise vorstellen, ohne die gegenwärtige Form der Produktion und des Konsums von Grund auf zu verändern, die für die schreienden Ungerechtigkeiten und die katastrophalen Schäden verantwortlich sind? Wie soll man die zunehmende Schädigung der Natur verhindern, ohne mit einer wirtschaftlichen Logik zu brechen, die lediglich das Gesetz des Marktes, des Profits und der Anhäufung von Vermögen kennt? Wie soll das möglich sein ohne ein utopisches Projekt des gesellschaftlichen Wandels, das die Produktion nicht-ökonomischen Kriterien unterwirft, die auf demokratischem Wege von der Gesellschaft bestimmt werden? Und wie soll man sich ein solches Projekt ausmalen, ohne – als eines seiner wichtigsten Aspekte – eine neue Haltung gegenüber der Natur zu entwickeln, die von Achtung vor der natürlichen Umwelt getragen ist? Das „Prinzip Verantwortung“ ist unvereinbar mit einem kalten Konservativismus, der sich weigert, das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in Frage zu stellen, und der jede Suche nach Alternativen als „unrealistisch“ bewertet. Die beiden Prinzipien – jenes der Hoffnung und jenes der Verantwortung, schließen sich demnach nicht gegenseitig aus,
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vielmehr sind sie unmittelbar und untrennbar miteinander verbunden, hängen voneinander ab und ergänzen sich auf dialektische Weise gegenseitig. Ohne das „Prinzip Verantwortung“ kann die Utopie nur zerstörerisch sein, und ohne das „Prinzip Hoffnung“ ist die Verantwortung nichts als eine konformistische Illusion.
Dietrich Böhler/Horst Gronke
In dubio pro responsabilitate. Die Orientierungskraft des Verantwortungsprinzips im ökologischen und bioethischen Diskurs I. Die neuartigen Herausforderungen der Verantwortungsethik Wir leben weder in einer bloßen ökologischen „Krise“ noch einfach in einer „Risiko“-Gesellschaft, sondern in einer hochtechnologischen Zivilisation, deren Innovationen mehr zerstören könnten, als sich prognostizieren und gegenüber künftigen Generationen verantworten läßt. In dieser Hinsicht ist sie eine Gefahrenzivilisation und Zukunftsgefährdungsgesellschaft, scheint es doch ihr Gesetz zu sein, daß sie permanent kumulative Langzeitwirkungen hervorbringt, welche die Fortdauer „echten menschlichen Lebens auf Erden“ in Frage stellen, weil sie mit den ökologischen und soziokulturellen Lebensgrundlagen auch Freiheitsund Verantwortungsbedingungen künftiger Generationen fortwährend zu verschlechtern oder gar zu vernichten drohen. Hans Jonas’ von „Furcht und Zittern“ begleitete Anstrengung, die menschheitliche Verantwortung für die Fortdauer oder aber die Zerstörung einer menschenwürdigen, nämlich ihrerseits verantwortungsfähigen Zukunft zu denken, ist nicht frei von Spuren einer spekulativen Theologie. Im wesentlichen handelt es sich jedoch um eine autonome säkulare Ethik der Mitverantwortung sowohl der Individuen als auch der Gesellschaft für das Schicksal der Menschengattung: Wir alle sind selbst mitverantwortlich dafür, ob und unter welchen Umständen künftig Menschheit möglich ist. Dabei gewinnt Jonas seine neue Verantwortungsethik aus drei traditionskritischen Erweiterungen des ethischen Blickwinkels und Problembewußtseins:
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1. Die herkömmliche Perspektive unserer Ethik war räumlich und zeitlich eingeschränkt, nämlich auf das Verhalten zwischen Personen, also auf eine soziale Mikro-Dimension, und dann – politisch-ethisch – auf das Verhältnis zwischen Daten und Völkern, in der politischen Meso-Dimension. Nun führt aber die technische Praxis neuartige Faktoren in die „moralische Gleichung“ ein – die hochtechnologische „Unumkehrbarkeit im Verein mit ihrer zusammengefaßten Größenordnung“ und zweitens ihren kumulativen Charakter: Die Wirkungen technologischen Handelns addieren sich, so daß „die Lage für späteres Handeln und Sein nicht mehr dieselbe ist wie für den anfänglich Handelnden, sondern zunehmend davon verschieden und immer mehr ein Ergebnis dessen, was schon getan ward.“ Demgegenüber rechnete „alle herkömmliche Ethik […] nur mit nicht-kumulativem Verhalten.“1 2. Auch die traditionelle Orientierung des ethischen Urteils war naiv. Sowohl die aristotelisch-thomasische Tradition der Wertethik des guten Lebens als auch die normative Ethik seit Kant gingen ganz selbstverständlich von der Voraussetzung aus: Da die sittlichen Probleme aus dem mir jeweils vertrauten „Nahkreis des Handelns“ entspringen, kann ich auch jeweils auf Grund meines alltagsweltlichen Erfahrungswissens und meines Common sense wissen, was moralisch richtig oder praktisch gut ist.2 Demgegenüber betont Jonas, daß die kumulative technologische Veränderung der Welt „lauter präzedenzlose Situationen“ schaffe, für die „die Lehren der Erfahrung ohnmächtig“ seien. Daraus zieht er folgende Konsequenz: „Unter solchen Umständen wird Wissen zu einer vordringlichen Pflicht […], und das Wissen muß dem kausalen Ausmaß unseres Handelns größengleich sein.“3 Wir sehen uns also dem neuen Imperativ gegenüber, uns bestmögliches Folgenwissen zu beschaffen. Freilich gelangt Jonas sogleich zu dem ernüchternden Resultat, daß dieses Folgenwissen in nicht-geschlossenen Systemen, nämlich ein Folgewissen für die geschichtliche Welt und für die Biosphäre der Erde, nie das der bedingten Prognose sein könne, also stets unzulänglich bleibe. 3. Aus der Nichtprognostizierbarkeit der ökosozialen Technologiefolgen ergibt sich das scheinbar paradoxe Ausgangspro302
Böhler/Gronke: Die Orientierungskraft des Verantwortungsprinzips
blem einer Verantwortungsethik im technologischen Zeitalter: „Daß das vorhersagende Wissen hinter dem technischen Wissen, das unserem Handeln die Macht gibt, zurückbleibt, nimmt selbst ethische Bedeutung an. Die Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns erzeugt ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik.“4
II. Verantwortungsethischer Diskurs als Gedankenexperimente: Heuristik der Furcht und Risiko-Wette Um angesichts der neuartigen Herausforderungen einer Verantwortungsethik zu konkreten Handlungsorientierungen zu gelangen, schlägt Jonas zwei Wege ein: das Aufsuchen und Ausarbeiten moralischer Intuitionen und die Durchführung von Gedankenexperimenten. Mit dem Gedankenexperiment der „Heuristik der Furcht“ nimmt er die moralische Intuition auf, man solle den Standpunkt der Betroffenen berücksichtigen, und konkretisiert sie verfahrensförmig. Es hat die Form eines negativen Wert-Tests: Überlege zunächst, welche Folgen deiner Handlung dir, dessen Wollen in die Richtung des Guten geht, aus dem Blickwinkel der Betroffenen Furcht einflößen würden. „Was wir nicht wollen, wissen wir viel eher, als was wir wollen. Darum muß die Moralphilosophie unser Fürchten vor unserm Wünschen konsultieren, um zu ermitteln, was wir wirklich schätzen.“5 Seinerseits vorsichtig im Denken, betont Jonas jedoch, das wertethische Gedankenexperiment der vorgestellten schlechten Fernwirkungen, gleichsam das Worst-case-Szenario, sei kein hinlänglicher Kompaß, sondern bloß eine erste Klärung, eine bloße Heuristik. Jonas führt es denn auch nur als „Heuristik der Furcht“ ein6 und zeichnet sie als „einleitende Pflicht“ der Zukunftsethik oder der „Ethik der Fernverantwortung“ aus,7 denn es sei unsere Pflicht, uns von dem – erst vorauszudenkenden – Unheil und Heil künftiger Generationen affizieren zu lassen.8 Eine solche Pflicht gehe zurück auf ein „ethisches Grundprinzip, das schon erkannt und bejaht sein muß, damit dergleichen als von ihm befohlen, d. h. eben als Pflicht, anerkannt werde.“9 303
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Böhler/Gronke: Die Orientierungskraft des Verantwortungsprinzips
Jonas’ zweites Gedankenexperiment reflektiert über das Risiko, über „das Element des Glücksspiels oder der Wette […], das in allem menschlichen Handeln hinsichtlich des Ausgangs wie der Nebenwirkungen enthalten ist.10 Hierbei handelt es sich im Grunde um ein stilisiertes moralisches Selbstgespräch oder einen praktischen Diskurs, den ein bereits moralisch orientierter und hinsichtlich der technologischen Folgendimension aufgeklärter Projektbefürworter mit sich selbst führt. Jonas setzt hier – insofern komplementär zum vorausgegangenen Gedankengang – bei der Perspektive eines Handelnden in der technologischen Zivilisation ein, der bereits weiß, daß seine Handlungen eine kaum begrenzbare Auswirkungsdimension haben können und daß eine Prognose ihrer Auswirkung unsicher bleibt.11 In die von Jonas angespielte Form eines moralischen Selbstgesprächs gebracht, können wir sein Diskurs-Gedankenexperiment folgendermaßen beginnen lassen. „Du, der du Interesse an einer technischen Innovation hast, überlege dir, welchen Einsatz deine technologische Wette haben darf und stelle dir die Frage: ‚Darf ich die Interessen Anderer in meiner Wette einsetzen?’ Deine erste Antwort ergibt sich aus deiner moralischen Intuition, daß ‚man, streng genommen, um nichts wetten darf, was einem nicht gehört’12. Allerdings erkennst du sofort, daß sich jene Antwort nicht absolut nehmen läßt, weil all dein Handeln das Schicksal Anderer in Mitleidenschaft zieht, so daß du, wenn du daraus ein direktes Handlungsprinzip machtest, gar nicht mehr handeln dürftest. Das Risiko gehört in gewisser Weise zu den notwendigen Voraussetzungen menschlichen Handelns. Die Berechtigung jener ersten Antwort liegt daher in einer Qualifizierung des Wettverbots. ‚Der Einsatz darf nie das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen sein, vor allem nicht ihr Leben.’13 Nun magst du hiergegen wiederum einwenden, es gebe doch Krisensituationen, in denen sich das drohende größte Übel nur durch den höchsten Einsatz, hier des Lebens Vieler, abwenden lasse. Demnach ist also auch das neue Prinzip, das die Unverfügbarkeit des Gesamtinteresses der Betroffenen geltend macht, nicht unbedingt gültig, sondern gleichsam nur in mittleren Problemlagen, nicht in der Alternative Sein oder Nichtsein; welche vielmehr zur Notwehr und zum höchsten Noteinsatz berechtigt.“ Aber trifft das Extrembeispiel
auf denjenigen zu, der das Interesse eines technologischen Fortschritts geltend macht? Die heutigen „großen Wagnisse der Technologie“ werden doch nicht, so schließt Jonas das diskursive Gedankenexperiment, „zur Rettung des Bestehenden oder Behebung des Unerträglichen unternommen, sondern zur stetigen Verbesserung des je Erreichten, das heißt für den Fortschritt. […] Also gewinnt hier, wohin der Schutz des Proviso nicht reicht, der Satz, daß mein Handeln nicht ‚das ganze’ Interesse der mitbetroffenen Anderen (die hier die Zukünftigen sind) aufs Spiel setzten darf, wieder Kraft.“14 Mit diesen Gedankenexperimenten erweitert Jonas die phänomenologische und ontologische Perspektive des Prinzips Verantwortung, indem er auf das Selbstgespräch eines Vernünftigen zurückgeht. Dieser ist sorgsam darauf bedacht, das Moralprinzip der gleichberechtigten Berücksichtigung der Interessen anderer ins Spiel zu bringen. Jonas’ technologischer Interessent hat, kraft seiner moralischen Intuitionen, sowohl Kenntnis vom Moralprinzip als auch den guten Willen, es im Diskurs zu konkretisieren und sich in diesem Sinne zu orientieren. Folglich leistet dieses diskursbezogene Gedankenexperiment der Wette wohl nichts für die Begründung, daß jeder und jede überhaupt unabweisbare moralische Verpflichtungen habe, aber es klärt und rekonstruiert den Gehalt einer schon mitgebrachten Verpflichtungsintuition. Indem Jonas allgemeine lebensweltliche Moralintuitionen rekonstruiert und diese direkt auf die neuartige technologische Problem- bzw. Handlungssituation bezieht, gewinnt seine Verantwortungsethik eine zugleich motivierende und orientierende Kraft, wiewohl er es mit einer äußerst unübersichtlichen und unseren Common sense weit übersteigenden Problematik zu tun hat: Schließlich muß er für mögliche Zukünfte orientieren.
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III. Jonas’ Verantwortungsprinzip: „Die Permanenz echten menschlichen Lebens“ – Bewahren der Gattung und zugleich Fortschritt in der Gerechtigkeit? Wenn Jonas auf unsere lebensweltlichen moralischen Intuitionen zurückgeht, tut er das als behutsamer Phänomenologe – situa305
III. Philosophie des Organischen und Ethik der Verantwortung
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tionsbezogen und sinnkritisch. Im Unterschied zu Ernst Blochs utopischer Metaphysik, die Jonas im sechsten Kapitel von Das Prinzip Verantwortung einer unerbittlichen Sinnkritik unterwirft,15 bezieht er sich nicht auf Wunschträume, Paradiesvorstellungen oder Unsterblichkeitsphantasien, sondern auf konkrete Intuitionen mit normativem Gehalt, den Anspruch eines „Du sollst!“, wie wir ihn in archetypischen Appellsituationen mitverstehen. Genauer gesagt: Sofern wir bereits ein Vorverständnis des Moralprinzips besitzen und dieses schon im vorhinein anerkannt haben, verstehen wir gewisse asymmetrische Appellsituationen als Inpflichtnahme unserer selbst, als Appell an unser Verantwortungsgefühl, als Herausforderung unserer Verantwortungsbereitschaft. Das vorausgesetzte Grundprinzip führt Jonas als „ontologische Verantwortung für die Idee des Menschen“ ein.16 Was er dabei im Sinn hat, ist mehr als das pure Faktum der menschlichen Existenz, nämlich „wirkliches Menschentum“17 oder „echtes menschliches Leben“, das als solches Moralfähigkeit und Verantwortungsfähigkeit einschließt. In diesem Sinne formuliert er seinen Imperativ: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“18 Bei der Entfaltung des Imperativs nimmt Jonas vor allem eine Bewahrungsperspektive ein: „Daß eine Menschheit sei“, gilt ihm als „der erste Imperativ“, den eine kollektive Prinzipienethik im technologischen Gefahrenzeitalter geltend zu machen habe.19 Ist aber diese Bewahrungsperspektive zureichend? Müßte sie nicht durch eine moralische Emanzipations- und Entwicklungsperspektive im Sinne einer Kantischen regulativen Idee erweitert werden? Dafür spricht, von Jonas her geurteilt, daß er selbst in der praxisbezogenen Fortführung seiner Reflexionen über Das Prinzip Verantwortung (1979) – in Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung (1985) – das echte menschliche Leben als das menschenwürdige, mithin verantwortungsfähige Leben versteht. Hier argumentiert er denn auch vom Grundsatz der zu achtenden Menschenwürde her. Auf die Frage, wie sich die Bemühung, diese Achtung des Lebens zu realisieren, denken läßt, darauf hat Karl-Otto Apel
geantwortet, der bereits seit 1973 für eine Ethik der solidarischen Menschheitsverantwortung eingetreten war.20 Im Diskurs mit Jonas brachte er die Überlegung ins Spiel, „ob das Dasein und die Würde des Menschen durch bloßes Bewahren des jetzigen Zustandes überhaupt zu retten sind. Genauer: Ist die Natur des Menschen und seiner, längst schon technisch und sozio-kulturell umgeformten, Umwelt nicht so beschaffen, daß sie ohne eine regulative Idee des technischen und des sozialen Fortschritts nicht bewahrt werden können? Ist zumal die Möglichkeit einer ethischen Bewahrung der Würde des Menschen nicht apriori an die Bedingung geknüpft, daß sie auch immer noch erst realisiert werden muß – insbesondere im Sinne einer weltweiten Herstellung menschenwürdiger sozialer Verhältnisse?“21 Unter Rückgriff auf Kant führte Apel die soziale Emanzipations- und moralische Fortschrittsperspektive als „regulative Idee einer Realisierung der Gerechtigkeit im planetarischen Maßstab“ ein.22 Die neue Form der praktischen Vernunft, der argumentative Diskurs über Zukunftsverantwortung, läßt sich mit Blick auf zwei regulative Ideen, die einander wechselseitig voraussetzen, undogmatisch und zureichend bestimmen. So setzt Jonas’ Postulat einer Bewahrung der Schöpfung die Idee einer intakten Umwelt des Menschen voraus. Angesichts einer Jahrtausende währenden Kultivierung und Veränderung der außermenschlichen Natur wissen wir aber, daß eine intakte Umwelt eben eine Idee und keine Gegebenheit ist, eine beständige Aufgabe und kein Besitz. Zugleich erfahren wir durch Umweltzerstörungen, daß eine lebensdienliche, zuträgliche Umwelt auch Vorbedingung für Gerechtigkeit unter den Zeitgenossen wie auch zwischen uns und den künftigen Generationen ist. In diesem Sinne ergibt sich folgende zweifache Bestimmung des Postulats der Zukunftsverantwortung: Ein Verhalten im Sinne der regulativen Idee einer intakten Umwelt ermöglicht erst die Herstellung gerechter Verhältnisse im Weltmaßstab. Andererseits schließt die regulative Moral-Idee einer bestmöglichen weltweiten Gerechtigkeit und Achtung der Menschenwürde die regulative Seins-Idee einer intakten Umwelt ein. Das eine können wir nicht ohne das andere anstreben. Und beide Ziele sind nunmehr ständige Aufgaben, die stets über das Erreichte hinausweisen.
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Man kann sich die regulative Dialektik zwischen moralischer Bewahrungs- und Fortschrittsperspektive gut am Beispiel der Verantwortungsdimensionen klarmachen, die es im umweltethischen Diskurs hinsichtlich sozioökologischer Problemlagen und der Wirkungen und Nebenwirkungen technologisch-industrieller Entwicklungen zu berücksichtigen gilt. Hier geht es zunächst darum, die Bedürfnisse und Interessen aller Menschen – insbesondere auch der potentiellen Bedürfnisse und Interessen der zukünftigen Generationen durch die heutigen Generationen – zu berücksichtigen. Das enthält die Verpflichtung, die Naturgüter gerecht zu verteilen. Da die Menge der Naturgüter begrenzt ist, ergibt sich als Minimalforderung die Bemühung um einen schonenden Umgang mit den Naturressourcen. Weiterhin geht es darum, die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen zu erhalten und zu verbessern, die es den Heutigen und den Zukünftigen erlauben, ihr Leben in einem vertretbaren Rahmen nach ihren individuell und kulturell je verschiedenartigen Vorstellungen zu gestalten. Das wiederum bedeutet, die Eingriffe in die Umwelt möglichst so zu begrenzen, daß die damit einhergehenden Veränderungen der Ökosphäre nicht zu langfristig festgelegten Einschränkungen sowohl der natürlichen als auch der sozialen Lebensbedingungen führen. Wenn neben der Berücksichtigung von Bedürfnissen und Interessen auch die moralischen Handlungsmöglichkeiten des Menschen selbst zu einem Verantwortungsgegenstand werden, dann ergibt sich als unbedingtes Gebot, die Existenz der Menschheit und damit die Existenz des Moralischen nicht aufs Spiel zu setzen. Die heutigen Technologien, die solche Wirkungen zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit auslösen können, dürfen aus diesem Grunde, wenn überhaupt, nur mit großer Vorsicht eingesetzt werden. Das Gefährdungspotential einer Totalvernichtung der Menschheit kann es erforderlich machen, daß auf den Einsatz einer Technologie ganz verzichtet wird, auch dann, wenn er den essentiellen Lebensinteressen und auch den Gerechtigkeitsvorstellungen einzelner Bevölkerungsgruppen dienlich sein könnte. Schließlich verpflichtet die Forderung nach Respektierung zukünftiger Moralität dazu, die personalen und institutionellen Bedingungen zu bewahren und zu verbessern, die
es den Zukünftigen erlauben, selbstverantwortlich zu handeln. Verantwortung, auch Verantwortung im Sinne des Strebens nach einer intakten Umwelt, setzt Verantwortungsfreiheit voraus.
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IV. Idee der Menschenwürde und Prinzip der Öffentlichkeit: Verantwortung als Fürsorge und als Rechtfertigung im Diskurs? Verantwortungsfreiheit setzt auch ein Sein voraus, das der Verantwortung Sinn gibt. Es besteht daher die unbedingte Pflicht, dieses Sein, nämlich die normative Idee des Menschen und die Existenz der Gattung sowie die Existenz der Natur, zu bewahren. Um dieser Pflicht gerecht zu werden, hat Hans Jonas unter bestimmten Umständen auch einen zeitweiligen Dispens der Demokratie und die Errichtung einer Diktatur für sinnvoll gehalten. Wenn sich, wie zumal heute, das Dilemma zwischen Zukunftsverantwortung und demokratischer Politik, die zum Interessenopportunismus neigt, dramatisch zuspitze, müsse der Philosoph „durchaus den Mut haben, zu sagen, Demokratie ist höchst wünschbar, aber kann nicht selber die unabdingbare Bedingung dafür sein, daß ein menschliches Leben auf Erden sich lohnt.“23 Diese Ansicht, die der regulativen Emanzipationsidee zuwiderzulaufen scheint, hat Jonas heftige Kritik eingetragen. Dies geschah freilich dort zu Unrecht, wo nicht genügend zwischen faktischer öffentlicher Meinung bzw. Mehrheitsentscheidung und normativer Legitimität differenziert wurde. Denn eine Ethik, die zu einer unbedingten Verpflichtung kommen soll, steht und fällt damit, daß sie keine faktische Übereinkunft – weder einen empirischen Konsens von Beteiligten noch gar einen Mehrheitsentscheid – als Geltungsgrund für die gesuchte Verantwortlichkeit oder Richtigkeit akzeptieren darf. Was wir benötigen, ist ein nicht-relativierbarer Maßstab, damit wir einen irgendwie zustande gekommenen Konsens und erst recht eine Mehrheitsentscheidung jeweils auf ihre moralische Gültigkeit hin überprüfen können. Diese Auffassung vereint Jonas’ ontologische und intuitionistische Wertethik mit der dialogreflexiven normativen Diskursethik.24 Beide kommen darin überein, daß jener Maßstab in dem Umkreis zu finden sein müßte, der sich mit zwei normativ 309
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geladenen Begriffen zum Ausdruck bringen läßt: „Idee der Menschenwürde und des moralfähigen Menschen“ sowie „Verantwortung dafür, daß künftige Generationen diesen Ideen noch gerecht werden können, indem sie sich ihrerseits verantwortlich und moralisch verhalten“. Beide Begriffe enthalten eine in ihrer Verbindlichkeit unbedingte, aber gleichsam regulative Pflicht, welche die anzustrebende Richtung des Verhaltens weist, der immer nachzustreben sei. Wenn nun aber die Durchsetzung kurzfristiger Nahinteressen mittels Demokratie jener Richtungspflicht gefährlich zuwiderläuft, dann gehört auch die Demokratie auf den Prüfstand: Entweder müßte sie verändert werden, oder es stünde, falls die Veränderung scheitert, als Ultima ratio ein zeitweiliger Dispens der Demokratie an. „Was ich [aber] mit der potentiellen Möglichkeit einer Tyrannei als äußerste Rettungsmaßnahme gemeint habe, ist einzig dem vergleichbar, was sein wird, wenn ein Haus brennt oder ein Schiff untergeht. Dann nämlich kann man keine Abstimmung mehr machen, und dann kann man nicht die normalen Gesetzesverfahren laufen lassen, sondern es müssen gewisse Notmaßnahmen ergriffen werden“. Freilich würde Jonas die Demokratie „mit großem Kummer verschwinden sehen und würde ausschließlich akzeptieren, daß sie zeitweilig, sagen wir mal, suspendiert würde.“25 Um für dieses Problem klare Kriterien zu erarbeiten, ergänzen die Diskursethiker Jonas’ Ansatz durch die moralstrategische Perspektive einer politischen Erfolgsverantwortung in der sozialökologischen Krise.26 Soweit leuchtet Jonas‘ Relativierung der demokratischen Regierungsform ein. Gleichwohl verbirgt sich in der Kritik an ihr ein wahrer Kern, und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund liegt in Jonas’ zu unmittelbarer und zu begrenzter Bezugnahme auf Demokratie als Mehrheitsherrschaft. Die Kritik der faktischen politischen Praxis muß bei dem rechtsstaatlichen Rahmen der Demokratie, dem modernen Verfassungsstaat, ansetzen. Zu diesem gehören Prinzipien, von deren Kerngehalt sich zeigen läßt, daß er reflexiv letztbegründbar ist. Denn es handelt sich, wie die reflexive Diskurspragmatik27 nachgewiesen hat, um Prinzipien, die sich nicht mit einem sinnvollen Dialogbeitrag bezweifeln lassen, so daß sie von uns allen als verbindlich anerkannt werden sollten. Wir alle haben diese Prinzipien – auch dann, wenn wir sie
mit Argumenten zu bestreiten versuchen – durch unsere Argumentationsrolle, durch unser notwendigerweise dialogförmiges Argumentieren, schon selbst in Anspruch genommen und insofern unausdrücklich anerkannt. Welche Prinzipien sind das? Einmal handelt es sich um das rechtsethische Prinzip, wonach die Würde, nämlich die Unverletzlichkeit und Freiheit alles menschlichen Lebens, grundsätzlich zu achten ist.28 Sodann geht es um das rechtspolitische Prinzip, keine Beschlüsse und Maßnahmen in Kraft zu setzen oder anzuerkennen, die im geheimen zustande kommen, sondern allein solche, die der öffentlichen Kritik ausgesetzt und der öffentlichen Zustimmungsfähigkeit unterworfen worden sind; also um das Prinzip der Öffentlichkeit.29 Erst diese rechtsstaatlichen Prinzipien, die ihren Grund der Verbindlichkeit aus einer sinnkritischen Selbstaufklärung der Vernunft gewinnen, bieten eine legitime Grundlage für die Orientierung der gesellschaftspolitischen Praxis. Jonas hingegen kann dem hohen Begründungsanspruch, den einschneidende Maßnahmen wie ein Dispens der Demokratie erfordern, nicht gerecht werden. Er begründet den ethischen Verpflichtungsgehalt auf metaphysisch-ontologischem Wege und damit in einer Weise, die nicht ohne ein Erschleichen des Beweisgrundes durch Unterstellung des Gesuchten (petitio principii) auskommt.30 Die Bedenken gegen Jonas’ Demokratiekritik richten sich zudem gegen seine Unterbestimmung des Verantwortungsbegriffs. Wenn es nicht nur um eine Perspektive der Bewahrung von Lebens- und Umweltbedingungen, sondern auch um die Perspektive der fortschreitend anzustrebenden Gerechtigkeit und Achtung der Menschenwürde geht, dann wird klar, daß der Verantwortungsbegriff nicht allein im Sinne einer Fürsorge (für den zu hütenden Verantwortungsgegenstand) bestimmt werden kann, sondern daß er auch einen kritischen Rechtfertigungssinn haben muß. Denn die oder der Verantwortliche müßte ja durch seine Verhaltensweisen den „Rechts-Anprüchen“ der faktischen und der potentiell zu erwartenden Menschen gerecht werden.31 Bei Jonas spielt das Kantische Prinzip der Öffentlichkeit keine grundlegende Rolle, weil er „die universale Verantwortung gegenüber allem lebendigen Sein ‚monologisch’ aus dessen werthafter Struktur selbst“ gleichsam abliest bzw. intuitiv abschaut.32 „Sieh hin und Du weißt“,33
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wofür Du verantwortlich bist, nämlich für das schutzbedürftige, werthafte, organische Leben um Dich herum – sagt Jonas intuitionistisch: Du weißt es, so wie Eltern, die ihren schutzbedürftigen Kindern gegenüberstehen, „normalerweise“ (!) wissen, daß sie ihnen Fürsorge und Vorsorge zu gewähren haben. Aber wie wichtig auch ein solches moralisches Wertempfinden und unmittelbares Verpflichtungsgefühl für unseren Umgang mit anderen und für unsere eigene Identität ist, ein Geltungsgrund für die Pflicht, Fürsorge und Vorsorge zu leisten, kann dieses Beispiel eines archetypischen Moralmotivs nicht aufweisen. Jonas konzentriert sich auf die organische Natur als den Gegenstand der Verantwortung und bewertet sie als ein schutzbedürftiges, aber durch die Menschheit dramatisch gefährdetes Gut, das an jene, denen es ausgeliefert ist, appelliert. Jonas denkt dabei nur die eine Seite des Verantwortungsbegriffs, den werthaften Gegenstandsbezug: Ein Handlungsmächtiger steht einem wertvollen, mehr oder minder handlungsschwachen Wesen gegenüber, das an die Fürsorge des Mächtigen appelliert. So kann Verantwortungsgefühl geweckt werden und das asymmetrische, nämlich stellvertretende, fürsorgende Handeln dessen ins Spiel kommen, der sich als verantwortlich erfährt. Dieses asymmetrische Verhältnis arbeitet Jonas heraus. Dabei hat er einerseits recht, andererseits unrecht. Recht hat er als Phänomenologe, insoweit er zeigt, worin die Ausgangslage und die direkte praktische Aufgabe der Verantwortung besteht – nämlich darin, stellvertretend, fürsorgend für ein schutzbedürftiges Wesen zu handeln. Logisch gesehen aber ist Jonas im Unrecht. Denn symmetrisch ist sowohl die Situation der Prinzipienbegründung, in der einer dem anderen im argumentativen Dialog demonstriert, daß man prinzipiell zur Mitverantwortung für schutzbedürftige Wesen verpflichtet sei, als auch die konkrete Rechtfertigungssituation des verantwortlich Handelnden. Muß dieser doch, in einem symmetrischen Dialog, mit Argumenten begründen können, daß auch sein konkretes Fürsorgen jenen legitimen Ansprüchen gerecht wird bzw. gerecht geworden ist, die man im Namen seines Betreuten geltend machen kann. Das ist die zweite Aufgabe der Verantwortung, die konkrete Rechtfertigung der Mittel und Wege: Der Fürsorgende muß sich konkret verantworten können gegenüber anderen bzw.
gegenüber den Ansprüchen des Adressaten seiner Fürsorge. Das gilt auch dann, wenn der Fürsorgegegenstand faktisch selbst keine Ansprüche erheben, aber ein „moralisches Mandat“ beanspruchen kann.34
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VI. Dialogreflexive Fundierung und Ergänzung des „Prinzips Verantwortung“ In welcher Weise vermag es die transzendentale Diskurspragmatik und die in ihr fundierte Diskursethik der Mitverantwortung, den Gehalt und den Verpflichtungssinn von Jonas’ „Prinzip Verantwortung“ einzuholen? Möglich wird dies durch die Selbstbesinnung darauf, was wir als Argumentierende immer schon in Anspruch nehmen müssen, damit unsere Argumentationshandlungen als solche gelingen und wir als glaubwürdige Diskurspartner zur Verfügung stehen können. Aus den unbezweifelbaren Pflichten, die wir im Miteinanderargumentieren voraussetzen, ergibt sich das dialogbezogene Prinzip der Moral – der Diskursgrundsatz (D) –, welches bereits den Menschenwürdegrundsatz einschließt: „Bemüht euch um reale argumentative Dialoge und um solche Entscheidungen, die alle sinnvollen Argumente zum Problem zu berücksichtigen erlauben, so daß sie die begründete Zustimmung aller verdienen!“ Im Lichte dieses Prinzips der Universalisierbarkeit von Argumenten ergibt sich die verantwortungsethische Beurteilung: Wir fragen, ob die vorgeschlagenen Ziele, Mittel und möglichen Folgen vereinbar sind mit unseren Pflichten als Dialogpartner und erhalten von dem Diskursgrundsatz (D) die Antwort: Dies ist dann und nur dann gegeben, wenn dadurch die Möglichkeit der Verantwortung gewährleistet wird. Darüber hinaus kann die verantwortungsreflexive Erörterung der Erkenntnis den Weg bereiten, daß auch die Diskussion von Grenzfällen und möglichen legitimen Ausnahmen ihrerseits nur sinnvoll, wahrheitsfähig und geltungswürdig ist, wenn sie das Prinzip in dubio pro vita quia semper pro responsabilitate als ihren normativen Bezugsrahmen anerkennt, das heißt als ihr moralisches Fundament, das es bei der Problemlösung zu konkretisieren gilt. Denn die Diskussion und die Bestimmung von 313
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Ausnahmen muß – als argumentativer Diskurs – dem „Diskursgrundsatz“ entsprechen, der nicht allein das absolute Dialoggebot darstellt, sondern auch für seine eigene Anwendung auf die non-dialogischen Verhältnisse harter Realitäten sorgt – seien es solche einer ungeselligen Sozialrealität, die einer kontingenten Lebensentwicklung oder jene einer depravierten Ökologie. Denn der Diskursgrundsatz (D) fordert, allein sinnvolle sowie universal konsenswürdige Argumente und demgemäß in Anbetracht der harten Realität nur solche Argumente gelten zu lassen, deren Umsetzung oder deren wißbare Auswirkungen die gegebenen Realisierungsbedingungen des Sich-Verantwortens zumindest bewahren – nach Möglichkeit aber verbessern, so daß diese der uneingeschränkten Dialogizität einer universalen Argumentationsgemeinschaft näherkommen. Entsprechend enthält der Diskursgrundsatz seine eigene Anwendungsregel.35 Das macht ihn zu einem Diskurs-Verantwortungsgrundsatz, der die Entscheidungsfindung in Zweifelsfällen bzw. Normenkonflikten orientiert und normiert, indem er den Richtungssinn der Anwendung des Diskursgrundsatzes unter harten Realitätsbedingungen festlegt. Demnach läßt er sich als zweistufiger dialogischer Verantwortungsimperativ formulieren: „Handle im Zweifel so, daß die absehbaren Wirkungen deiner Handlung die gegebenen Realisierungsbedingungen des Sich-Verantwortens bewahren. Prüfe deine Handlungsweise alsdann und ergänze sie mit dem Ziel, die Realisierungsbedingungen des Sich-Verantwortens gemäß der Idee des unbegrenzten argumentativen Dialogs zu verbessern.“ Was heißt das nun praktisch? Mit Blick auf die Rechtfertigungsebene bedeutet das zweierlei: Erstens sind allein solche Entscheidungen zu rechtfertigen, deren Ziele, Mittel und Folgen revisionsfähig, also fehler-vereinbar bzw. korrigierbar sind. Es sollen keine Entscheidungen getroffen werden, die „das Ganze“ der Interessen Betroffener – ihre Menschenwürde als das Recht auf Rechte oder gar ihr Leben – zerstören könnten. Aus dieser Prämisse lassen sich bereichsrelative und -differenzierende Realisierungsprinzipien ableiten, so etwa für die ökologische Ethik ein natur- bzw. umweltethisches Unterlassungsprinzip: „Unterlasse alle Handlungen, treffe keine Entscheidungen, die Folgen und Nebenwirkungen hervorrufen könnten, von denen mit guten
Gründen zu befürchten ist, daß sie den Naturbestand zerstören, der für das Überleben, für das verantwortliche und selbstbestimmte Leben und für die materielle und kulturelle Befriedigung der Interessen sowie der Ausgestaltung der Wertorientierungen heutiger und zukünftiger Generationen unerläßlich ist.“ Zweitens ist festzuhalten, daß allein solche Entscheidungen rechtfertigungsfähig sind, deren Ziele, Mittel und Folgen mit den Realisierungsbedingungen von Diskursen verträglich sind. Genauer gesagt: Sie müssen vereinbar sein mit den (nicht sinnvoll bezweifelbaren) Aufgaben, die sich aus unserer Rolle als Diskurspartner ergeben. Dabei handelt es sich um elementare Aufgaben in der Bemühung um Ermöglichung, Durchführung und Sicherung freier Diskurse. So kann ich nicht gleichzeitig glaubwürdiger Diskursteilnehmer sein, also etwas argumentativ geltend machen wollen, und dennoch bezweifeln, daß man (unter Einschluß meiner selbst, hier und jetzt) verpflichtet ist, sich um die Fortexistenz der Menschheit (als Substrat und Subjekt des Diskurses) sowie um Öffentlichkeit und demokratischen Rechtsstaat (als kommunikativer Rahmen für Diskurse) zu bemühen. Was den Gegenstandsbezug der Verantwortung betrifft, so besagt die von ‚D‘ gegebene Orientierung, daß im Falle eines Dissens über die Ansprüche des Diskursgegenstands ein dialogverantwortliches Dissens-‚Management‘ erforderlich ist. Das folgt aus der Einsicht in die prinzipielle Irrtumsanfälligkeit unserer Argumentationen. Wir können als Diskurspartner einzig glaubwürdig sein und bleiben, wenn wir im Diskurs unsere Endlichkeit ernst nehmen, genauer gesagt, wenn wir unsere möglichen Diskursfehler und den möglichen Diskursdissens ernst nehmen, statt Gott zu spielen oder vom Weltanschauungs- und Technologiestaat auszugehen, dem alles verfügbar ist. Ein glaubwürdiger Diskurspartner ist man nur dann, wenn man die eigene konkrete Irrtumsanfälligkeit ernst nimmt und daher allein solche Projekte vorschlägt oder Entscheidungen trifft, von denen gilt: Sie dürfen irren, weil sie weder „das Ganze der Interessen Anderer“36 aufs Spiel setzen noch die Bedingungen für Diskurse (jetzt, überall und künftig) gefährden. In solchen Fällen läßt sich Jonas’ ethischer Orientierungsweg einer „Heuristik der Furcht“ als Beweislastverteilung im Dialog interpretieren. Die Beweislast fällt stets der
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Position zu, die den moralischen Anspruchsstatus des möglichen Verantwortungsgegenstandes bestreitet. Sodann – wenn trotz aller Diskursbemühungen weiterhin Unsicherheit besteht, wenn etwa begründeter Dissens darüber besteht, wann und wo menschliches Leben beginnt, ab wann also auch Anwartschaftsrechte zugesprochen bzw. anerkannt werden sollten – muß diejenige Auffassung zurücktreten, die keinen Irrtum verträgt, die nicht revisionsfähig ist, weil sie moralisch verwerflich sein kann. Und sie ist es, wenn sie sich etwa über den Beginn des menschlichen Lebens irrt.
Leben gehört, als unverletzlich zu achten. Sie verbietet es kategorisch, ihn Interessen Dritter zu unterwerfen, und seien es auch dringende Überlebensinteressen: in dubio pro vita. Im Zweifel gilt es für die Vermutung menschlichen Lebens und somit für die Erhaltung der Verantwortungsmöglichkeit einzutreten. Solange nach ernsthafter argumentativer Prüfung weiterhin Unsicherheit über den Status eines Lebewesens besteht – und im Übergangsbereich zwischen Leben und Tod sind unserem Wissen prinzipielle Grenzen gesetzt –, sind wir grundsätzlich zur Lebenserhaltung verpflichtet. Dieses Prinzip wirkt sich zum Beispiel auf die Debatte über die Hirntoddefinition aus. Hier darf auf keinen Fall eine willkürliche „Definition“, die überzogene Exaktheitsansprüche stellt, zum Maßstab einer Seinsbestimmung erhoben werden. Wo nicht sämtliche Lebensfunktionen ausgesetzt haben, dürfen wir keine Todesfestlegung vornehmen:
VII. Bio- und Medizinethik als dialogreflexive Verantwortungsethik Damit sind die geltungslogischen und handlungsorientierenden Voraussetzungen geschaffen, um den neuartigen moralischen Herausforderungen des technologischen Fortschritts zu begegnen, die gegenwärtig vor allem in der Bio- und Medizintechnik zutage treten. Sie versetzt uns immer häufiger in Problemlagen, in denen unser moralisches Urteilen im Grenzbereich von Leben und Tod selbst an Sinngrenzen stößt, deren Überschreitung einer irrationalen Anmaßung gleichkommt. Wie aber läßt sich innerhalb eines Diskurses, der sich im Rahmen seiner Sinn- und Geltungsbedingungen hält, die biotechnische Forschung und die medizinische Praxis verantwortlich orientieren? Hans Jonas’ medizin- und bioethische Argumente gründen auf der Idee der Menschenwürde als Explikat der Bestimmung „echtes menschliches Leben“, für die er den Anspruch absoluter Gültigkeit erhebt. Der dialogreflexive Aufweis des normativen Gehalts von Dialoghandlungen kann diesem Anspruch gerecht werden. Mit ihm liegt eine Geltungsbasis vor, von der aus sich eine fundierte Kritik an der möglichen Instrumentalisierung von Menschen – etwa von Sterbenden oder von Noch-nicht-Geborenen – als beliebiger Forschungs- oder Transplantationsobjekte sowie an medizinischen Menschenversuchen üben läßt.37 So verpflichtet die Idee der Menschenwürde dazu, auch die Würde des sterbenden Menschen, dessen Sterben zu seinem 316
„Nach alledem ist mein Argument sehr einfach, es ist dies: Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod ist nicht mit Sicherheit bekannt, und eine Definition kann Wissen nicht ersetzen. Der Verdacht ist nicht grundlos, daß der künstlich unterstützte Zustand des komatösen Patienten immer noch ein Restzustand von Leben ist (wie er bis vor kurzem auch medizinisch allgemein angesehen wurde). Das heißt, es besteht Grund zum Zweifel daran, daß selbst ohne Gehirnfunktion der atmende Patient vollständig tot ist. In dieser Lage unaufhebbaren Nichtwissens und vernünftigen Zweifels besteht die einzig richtige Maxime für das Handeln darin, nach der Seite vermutlichen Lebens hinüberzulehnen.“38
Das diskursbezogene In-dubio-Prinzip, das Jonas hier geltend macht, folgt aus dem Verantwortungsbegriff selbst, weil es von dem Tätigkeitsausdruck vorausgesetzt wird, der dem Ausdruck „Verantwortung“ erst Sinn gibt und Sinn geben kann, nämlich den Sinn der dialogischen Rechtfertigungs- und Prüfungspraxis „sich für etwas verantworten“, indem man anderen gegenüber für eine Absicht, eine Rede oder eine Tat (einschließlich deren wißbarer Auswirkungen) Rede und Antwort steht. Im Unterschied zu einer Heiligkeitsethik, deren Axiom die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Menschenlebens als solchem wäre, zielt Jonas’ 317
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Argument stets auf das Leben als Existenzbedingung des Sichverantworten-Könnens. Seine Medizinethik legt genau den Grundsatz nahe, den die Ethik der Dialog-Verantwortung als moralisch verbindlich erweist: in dubio pro vita quia semper pro responsabilitate. Verantwortlich sein heißt zuallererst, die Möglichkeit von Verantwortung zu gewährleisten und damit die Möglichkeit, sich im Dialog gegenüber allen möglichen anderen mit Argumenten zu rechtfertigen; also auch all diese möglichen anderen soweit wie möglich und solange wie möglich als Anspruchssubjekte „mir“ gegenüber zu erhalten und als „meine“ Dialogpartner zu achten. Zu diesen anderen gehören unbedingt auch diejenigen, welche nicht realiter dialogfähig sind, die es aber werden könnten (etwa pluripotente menschliche embryonale Stammzellen und Embryonen oder noch gar nicht existente aber mögliche künftige Menschengenerationen), und ebenso all jene, die einmal dialogund verantwortungsfähig gewesen sind (etwa bewußtlose, vermutlich dauerhaft bewußtlose und auch als „hirntot“ diagnostizierte Patienten). 39 Wir sind mit dieser diskursreflexiven Interpretation von Jonas’ bio- und medizinethischer Argumentation über das hinausgegangen, was sie ausdrücklich geltend macht. Freilich läßt sich aus seiner Argumentation nicht nur ein impliziter diskursiver Richtungssinn des Verantwortungsbegriffs herauslesen, sondern es werden darin zuweilen schon Ansätze eines expliziten Rückgangs auf die dialogreflexive Einstellung des Sich-im-Dialog-Verantwortens erkennbar. Das ist besonders in dem Essay „Laßt uns einen Menschen klonieren. Von der Eugenik zur Gentechnologie“ der Fall. Hans Jonas ergänzt hier seine ontologisch-phänomenologische Einstellung durch einen Rückgang auf die dialogreflexive des Sich-im-Dialog-Verantwortens. Den Übergangspunkt bildet Kants Menschenwürdepostulat als kategorischer Imperativ, die Menschheit als Zweck an sich zu achten, mithin kein menschliches Wesen bloß als Mittel zu brauchen. Einer solchen Instrumentalisierung komme das Klonen eines Menschen gleich. Denn „definitionsgemäß wird keines der Erzeugnisse erfinderischer biologischer Technik um seiner selbst willen erzeugt worden sein: Nützlichkeit war die einzige Regel seiner Erdenkung. Unwiderstehlich wird sich von da die Absicht ausbreiten, daß Menschen
überhaupt für den Nutzen von Menschen da sind, und niemand bleibt ein Zweck an sich selbst. Wenn aber kein Mitglied der Gattung, warum dann die Gattung? Das Dasein der Menschheit um ihrer selbst willen verliert seinen ontologischen Grund.“40 Hierbei handelt es sich um eine motivierende Argumentation: Sieh hin, ist das nicht unser aller, auch dein, Verständnis von „echtem menschlichen Leben“, daß es um seiner selbst willen existieren soll, also nicht vorgefaßten Zwecken oder Nutzenerwägungen Dritter unterworfen werden und als Mittel in deren Kalkül eingesetzt werden darf? Jonas wirbt damit für eine genuin moralische Einstellung. Um nun für eine Einstellung nicht allein zu werben, sondern einen allgemeinen Grund dafür anzugeben, daß diese Einstellung richtig ist, muß Jonas über die ontologische Theorie hinausgehen. Das tut er, indem er – an entscheidender Stelle – die geltungsmäßige Reziprozität, die argumentative Gegenseitigkeit des Anderen-Rechenschaft-Gebens, zum Angelpunkt macht. Hinsichtlich des zukunftsethisch weitreichendsten Problemgebietes, der rekombinierenden DNA-Forschung, macht Jonas die dialogische Gegenseitigkeitsstruktur des Sich-Verantwortens direkt als das normative Fundament der Beurteilung geltend: Um angesichts der Schrecken, die darin liegen, willkürlich Menschen zu klonieren, nicht die Kategorien des Heiligen und der Ehrfurcht bemühen zu müssen, will er, „mit Bezug auf das ganze Gebiet biologischer Manipulation, nur auf das nüchternste moralische Argument zurückgreifen“: „Taten an anderen, für die man diesen nicht Rechenschaft zu stehen braucht, sind unrecht. Das sittliche Dilemma jeder menschlich-biologischen Manipulation, die über das rein Negative der Verhütung von Erbmängeln hinausgeht, ist eben dies: daß die mögliche Anklage des Nachkommen gegen seine Hervorbringer keinen mehr findet, der Antwort und Buße leisten könnte, und kein Instrument der Wiedergutmachung.“41 Freilich ist mit dieser Formulierung noch nicht der volle Sinn dialogischer Verantwortungs-Gegenseitigkeit getroffen. Sie verwechselt die direkte Gegenseitigkeit zwischen mir und dir mit der verallgemeinerbaren Diskurs-Gegenseitigkeit, die zwischen meinem Grund für meine Tat und der Geltungsinstanz der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft bestehen sollte. Ob eine Tat recht
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oder unrecht ist, bemißt sich ja nicht daran, ob ihr Gegenstand bzw. ihr Opfer noch da ist und den Täter anklagen kann oder aber nicht, sondern vielmehr daran, ob es eine Instanz des Verklagens und des Urteilens gibt. Unrecht sind alle Taten, deren Rechtfertigungsversuch im argumentativen Dialog scheitern muß, weil „ich“ sie nicht als glaubwürdiger Diskurspartner vertreten kann. Da „ich“ aber als ein Diskurspartner meinerseits das Recht in Anspruch genommen habe, von den anderen als Gleichberechtigter geachtet und nicht etwa nach ihrem Kalkül manipuliert zu werden, darf ich auch nicht für eine solche Manipulation argumentieren und nicht in diesem Sinne entscheiden.
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Anhang
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Anmerkungen
I. Der Philosoph im zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext
Christian Wiese
Abschied vom deutschen Judentum. Zionismus und Kampf um die Würde im politischen Denken des frühen Hans Jonas 1
Vgl. etwa M. Brenner, Die Renaissance jüdischer Kultur in der Weimarer Republik, München 2000. 2 Vgl. H. Jonas, Erinnerungen, nach Gesprächen mit R. Salamander hg. von C. Wiese, Frankfurt a. M. 2003, S. 70ff. 3 H. Jonas, Erkenntnis und Verantwortung, Göttingen 1991, S. 29 und S. 34. 4 Jonas bezieht sich wohl auf eine Eintragung Lassalles in seinem Tagebuch vom 2. Februar 1840, vgl. F. Lassalle, Tagebuch, hg. von F. Hertneck, Berlin o. J., S. 31: „In der Tat, ich glaube, ich bin einer der besten Juden, die es gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu achten. Ich könnte […] mein Leben wagen, die Juden aus ihrer jetzigen drückenden Lage zu reißen. Ich würde selbst das Schafott nicht scheuen, könnte ich sie wieder zu einem geachteten Volk machen. Oh, wenn ich meinen kindischen Träumen nachhänge, so ist es immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der Juden, mit der Waffe in der Hand, sie selbständig zu machen.“ 5 Vgl. S. Freud, Die Traumdeutung, Frankfurt am Main 1972 (Studienausgabe Bd. 2), S. 207f. 6 Jonas, Erinnerungen, S. 77f. 7 Ebd., S. 53. 8 Vgl. ebd., S. 85. 9 H. Jonas, „Die Idee der Zerstreuung und Wiedersammlung bei den Propheten“, in: Der Jüdische Student 4 (1922), S. 30–43, hier: S. 30. 10 Ebd., S. 35. 11 Ebd., S. 41. 12 Jonas, Erinnerungen, S. 122ff, hier: S. 123.
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Anmerkungen
Anmerkungen
13 Vgl. ebd., S. 287–294 und C. Wiese, Hans Jonas – „Zusammen Philosoph und Jude“, Frankfurt a. M. 2003, S. **-**. 14 Jonas, Erinnerungen, S. 132f. 15 Jonas, Erkenntnis und Verantwortung, S. 59f. 16 Übersetzt aus der hebräischen Fassung in der Zeitschrift Turim (1938). 17 Nachlaß Hans Jonas, Philosophisches Archiv der Universität Konstanz, HJ 13-40-37. 18 Ein Exemplar dieses Textes liegt im Jonas-Nachlaß in Konstanz (HJ 5-9-40) und im Leo-Baeck-Institute New York unter der Signatur AR 2241 addenda. Ich habe ihn erstmals veröffentlicht in: Jüdischer Almanach 2001/5751 des Leo Baeck Instituts, hg. von A. Birkenhauer, Frankfurt a. M. 2000, S. 79–91; zitiert wird im folgenden nach Jonas, Erinnerungen, S. 186–199. 19 Jonas, Erinnerungen, S. 186f. 20 Wiese, Hans Jonas, S. **-**. 21 Zur Vor- und Entstehungsgeschichte der Jewish Brigade Group vgl. Y. Gelber, Jüdische Freiwillige aus Palästina in der britischen Armee während des Zweiten Weltkriegs [hebr.], 2 Bde., Jerusalem 1979/ 1981. Zur Geschichte der Brigade vgl. M. Beckman, The Jewish Brigade. An Army with Two Masters 1944–45, Staplehurst 1988. 22 Jonas, Erinnerungen, S. 193. 23 Ebd., S. 188. 24 Ebd., S. 189. 25 Ebd., S. 192f. 26 Ebd., S. 194. 27 Der Brief liegt im Nachlaß von Hans Jonas, Philosophisches Archiv der Universität Konstanz, HJ 13-40-38. Der im folgenden auszugsweise wiedergegebene Text wurde von mir aus dem Englischen übersetzt. 28 Vgl. Jonas, Erinnerungen, S. 136ff. und S. 220ff., hier: S. 139. 29 Ebd., S. 204–214. 30 Ebd., S. 215f. 31 Ebd., S. 216. 32 Alle Zitate ebd., S. 194. Vgl. H. Jonas, „Jüdische und christliche Elemente in der philosophischen Tradition des Westens“, in: Evangelische Theologie 28 (1968), S. 27–39.
33 Vgl. Jonas, Erinnerungen, S. 348–383. 34 Hans Jonas, „Rassismus im Lichte der Menschheitsbedrohung“, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, S.19–29, hier: S. 24. Zu den Erfahrungen 1945 in Udine vgl. Jonas, Erinnerungen, S. 212ff.
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Vittorio Hösle
Hans Jonas’ Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie 1
Jonas’ Einfluß reicht bis in das Staatsrecht – vgl. J. Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip: rechtsphilosophische und verfassungsrechtliche Betrachtungen zur Verantwortungsethik von Hans Jonas, Baden Baden 1998. 2 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979, S. 10f. 3 Ebd., S. 267. 4 J. Passmore, Man’s Responsibility for Nature, New York 1974. 5 D. Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart 1988. 6 V. Hösle, Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984. Bestätigung hat meine These auch durch Robert Brandoms und John McDowells gegenwärtige Varianten des objektiven Idealismus erhalten, die in manchem komplementär zu der Jonasschen Philosophie sind, in die logische, erkenntnistheoretische und sprachphilosophische Themen ebensowenig wie der Stil der analytischen Philosophie Eingang gefunden haben. 7 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 405. 8 Ebd., S. 55f. 9 H. Jonas, Erkenntnis und Verantwortung, Göttingen 1991, S. 58. Das Buch enthält Jonas’ Gespräch mit Ingo Hermann in der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“. 10 Ich denke an die eindrucksvolle Biographie von R. Norton, Secret Germany. Stefan George and His Circle, Ithaca, NY 2002.
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Anmerkungen
11 Jonas, Erkenntnis und Verantwortung, S. 81. 12 V. Hösle, „Ontologie und Ethik bei Hans Jonas“, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, S. 105–125. 13 K.-O. Apel, Der Denkweg von Charles S. Peirce, Frankfurt a. M. 1975. 14 Vgl. etwa K.-O. Apel, „Metaphysik und die transzendentalphilosophischen Paradigmen der Ersten Philosophie“, in: Metaphysik, hg. von V. Hösle, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 1–29. 15 Vgl. L. Sturlese, Die deutsche Philosophie im Mittelalter: von Bonifatius bis zu Albert dem Großen (748–1280), München 1993. 16 Die Zugehörigkeit von Jonas’ philosophischer Theologie zu dieser Tradition ist offenkundig. Vgl. Th. Schieder, Weltabenteuer Gottes. Die Gottesfrage bei Hans Jonas, Paderborn 1998 und meine Kritik in: „Theodizeestrategien bei Leibniz, Hegel, Jonas“, in: Leibniz und die Gegenwart, hg. von F. Hermanni und H. Breger, München 2002, S. 27–51. 17 Zu Heidegger vgl. meine genaueren Analysen in: V. Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, München 1990, S. 87ff.; „Heideggers Philosophie der Technik“, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 23 (1991), S. 37–53; „Sein und Subjektivität. Zur Metaphysik der ökologischen Krise“, in: Prima Philosophia 4 (1991), S. 519–541; „The Intellectual Background of Reiner Schürmann’s Heidegger Interpretation“, in: Graduate Faculty Philosophy Journal 19/20 (1997), S. 263–285. 18 Wenn man einen Denker auch an seinen Früchten erkennen kann, dann muß man Heidegger zugute halten, daß er vier originelle, teils sogar große jüdische Schüler gehabt hat. Vgl. R. Wolin, Heidegger’s Children: Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas, and Herbert Marcuse, Princeton 2001. 19 Die beste Gesamtdarstellung des impliziten Systems des späten Heidegger findet sich m. E. bei R. Schürmann, Heidegger on Being and Acting: From Principles to Anarchy, Bloomington 1987. 20 Zu Heidegger und Jonas vgl. E. Jakob, Martin Heidegger und Hans Jonas. Die Metaphysik der Subjektivität und die Krise der technologischen Zivilisation, Tübingen 1996. 21 Vgl. Jonas, Erkenntnis und Verantwortung, S. 100f. 22 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 187ff.
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Anmerkungen
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Ebd., S. 185. Ebd., S. 226. Ebd., S. 242. Ebd., S. 198. H. Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, S. 292ff. Vgl. H. Jonas, Wandel und Bestand. Vom Grunde der Verstehbarkeit des Geschichtlichen, Frankfurt a. M. 1970. Vgl. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 4. Vgl. etwa mein – gedruckt nur in italienischer Übersetzung vorliegendes – Interview mit Hans Jonas: „Anima & corpo. Conversazione di Vittorio Hösle con Hans Jonas“, in: Ragion pratica 15 (2000), S. 53–64. H. Marcuse, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1932. Vgl. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 164ff. Ebd., S. 12f. Vgl. dazu mein Buch Hegels System, Hamburg 1987, 2 Bde., Bd. II, S. 320ff. Vgl. Jonas, Erkenntnis und Verantwortung, S. 101. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 16. Vgl. dazu Jonas, Erkenntnis und Verantwortung, S. 28. H. Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, Frankfurt a. M. 1988, S. 53. H. Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, Frankfurt a. M. 1981, S.62ff. Ein Bewußtsein der transzendentalen Differenz zwischen einer Sache und den Bedingungen ihrer Möglichkeit findet sich in ders., Prinzip Verantwortung, S. 74. Ebd., S. 35ff. und S. 167ff. Jonas, Erkenntnis und Verantwortung, S. 28. In diesem Zusammenhang erwähnt Jonas auch die jüdischen Propheten, in denen Cohen zu Recht Vorläufer des Kantischen Universalismus erkannt hat. In der Tat fühlt man im Prinzip Verantwortung einen gewissen prophetischen Duktus. John Rawls versucht dagegen, seine Theorie intergenerationeller Gerechtigkeit, die einige Jahre vor der Jonasschen veröffentlicht wurde, durch die Fiktion eines Urzustandes auf ein Gleichgewicht rational-egoistischer Wesen zurückzuführen. Vgl. meine Kritik in V. Hösle, Moral und Politik, München 1997, S. 787ff.
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Anmerkungen
43 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 84ff. Allerdings verwechselt Jonas hypothetische Imperative und bedingte Gebote. 44 Ebd., S. 89. 45 Ebd., S. 36. 46 Vgl. etwa die kritische Sicht von K-O. Apel, „Verantwortung heute – nur noch Prinzip der Bewahrung und Selbstbeschränkung oder immer noch der Befreiung und Verwirklichung von Humanität?“, in: ders., Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a. M. 1988, S. 179–216, bes. S. 195f. 47 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 234ff. 48 Ebd., S. 143. 49 Ebd., S. 154. 50 Ebd., S. 149. 51 Vgl. ebd., S. 29f. und S. 95. 52 Ebd., S. 245.
Konrad Paul Liessmann
Verzweiflung und Verantwortung. Koinzidenz und Differenz im Denken von Hans Jonas und Günther Anders 1
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Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um eine erste Annäherung, die eine dringend notwendige umfassende systematisch-vergleichende Untersuchung der Philosophien von Hans Jonas und Günther Anders nicht ersetzen können. H. Jonas, Erinnerungen, nach Gesprächen mit R. Salamander hg. von C. Wiese, Frankfurt a. M. 2003, S. 85. Ebd., S. 167. Ebd., S. 130. Ebd., S. 283. Vgl. dazu den Hans-Jonas-Nachlaß im Philosophischen Archiv der Universität Konstanz (http://www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/philarchiv/bestaende/Jonas.htm); im Günther-Anders-Nachlaß in Wien finden sich allerdings keine Spuren dieses Briefwechsels. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979, S. 35. Ebd., S. 36.
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Anmerkungen
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Ebd., S. 36f. Ebd., S. 99. Ebd., S. 154ff. G. Anders, Besuch im Hades, München 1979, S. 195. Vgl. dazu G. Anders, Mensch ohne Welt. Schriften zur Kunst und Literatur, München 1984, S. XIV und K. P. Liessmann, Günther Anders. Philosophieren im Zeitalter der technologischen Revolutionen, München 2002, S. 30ff. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 432f. G. Anders, Ketzereien, München 1982, S. 258. G. Anders, Über Heidegger, hg. von G. Oberschlick, mit einem Nachwort von D. Thomä, München 2001, S. 89. Anders, Besuch im Hades, S. 211. G. Anders, Philosophische Stenogramme, München 1993, S. 48ff. Anders, Ketzereien, S. 197f. Anders, Antiquiertheit Bd. II, S. 390. G. Anders, Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen, München 1981, S. 105. Anders, Antiquiertheit Bd. II, S. 290. Ebd., S. 260f. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956 (durch ein Vorwort erweiterte, 5. Aufl. 1980), S. 296. Ebd., S. 298. Vgl. dazu ebd., S. 97ff. und H. Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1987. Jonas, Erinnerungen, S. 346f. Epikur, Von der Überwindung der Furcht. Katechismus – Lehrbriefe – Spruchsammlung – Fragmente, übertragen von O. Gigon, München 1983, S. 136. Anders, Ketzereien, S. 33f. Ebd., S. 104f. H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M. 1987, S. 7. Ebd., S. 39 Ebd., S. 41
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Anmerkungen
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Ebd., S. 41f. Jonas, Erinnerungen, S. 341f. Anders, Über Heidegger, S. 249f. Anders, Antiquiertheit Bd. II, S. 387f. Ebd., S. 385f. Jonas, Erinnerungen, S. 347.
Christian Wiese
Zwiespältige Freundschaft: Reflexionen über Hans Jonas und Gershom Scholem 1
2 3
4 5 6 7 8 9
Nachlaß G. Scholem, Jewish National and University Library, Jerusalem (JNUL) 401599. Als Anlaß der Präsentation dieses Textes ist vermerkt: „Verlesen auf der Geburtstagsfeier für GERSHOM SCHOLEM im Hause Schocken in Jerusalem am 15. August 1940 von Hans Jonas“. Möglicherweise handelt es sich bei der Datierung um einen Irrtum bei der späteren Archivierung des Textes, da Scholem am 5. Dezember geboren wurde. H. Jonas, Erinnerungen, nach Gesprächen mit R. Salamander hg. von C. Wiese, Frankfurt a. M. 2003, S. 97. Vgl. die Korrespondenz und das Gutachten Scholems vom 4. Januar 1934 im Nachlaß G. Scholem, JNUL 401599. Die Texte sind abgedruckt in: C. Wiese, Hans Jonas. „Zusammen Philosoph und Jude“, Frankfurt a. M. 2003, S. 000ff. Jonas, Erinnerungen, S. 150–161. Eine maschinenschriftliche Abschrift der beiden Widmungen befindet sich im Nachlaß G. Scholem, JNUL 401599. Ebd. Jonas, Erinnerungen, S. 270. Th. W. Adorno, „Gruß an Gershom G. Scholem. Zum 70. Geburtstag“, in: Neue Zürcher Zeitung v. 2.12.1967. E. Simon, „Über einige theologische Sätze von Gershom Scholem“, in: Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkas Europa v. 8.12.1972, S. 3ff., und v. 15.12.1972, S. 4ff.
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Anmerkungen
10 G. Scholem, „Es gibt ein Geheimnis in der Welt“, Tradition und Säkularisation. Ein Vortrag und ein Gespräch, Frankfurt a. M. 2002, S. 7–48 und S. 49–109. 11 Ebd., S. 105. 12 Ebd., S. 108. 13 Ebd., S. 105f. 14 Vgl. Jonas, Erinnerungen, S. 339ff. 15 Ebd., S. 7f. Vgl. H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M. 1987. Zu Scholems und Jonas’ theologischen Reflexionen nach Auschwitz vgl. meinen Beitrag „‚Weltabenteuer Gottes’ und ‚Heiligkeit des Lebens’“ in diesem Band. 16 Vgl. dazu Wiese, Hans Jonas, passim. 17 Scholem, „Es ist ein Geheimnis in der Welt“, S. 23. 18 Vgl. H. Jonas, „Jüdische und christliche Elemente in der philosophischen Tradition des Westens“, in: Evangelische Theologie 28 (1968), S. 27–39. 19 Jonas, Erinnerungen, S. 346. 20 Vgl. dazu Wiese, Hans Jonas, S. 000 21 Vgl. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979, S. 316–393. 22 Vgl. Interview mit Hans Jonas, in: H. Koelbl, Jüdische Portraits. Photographien und Interviews, Frankfurt a. M. 1998, S. 168–171, bes. S. 171. 23 Scholem, „Es gibt ein Geheimnis in der Welt“, S. 24f. 24 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 97f. 25 Scholem, „Es gibt ein Geheimnis in der Welt“, S. 26. 26 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 57f. 27 Scholem, „Es gibt ein Geheimnis in der Welt“, S. 38. 28 Vgl. dazu V. Hösle, „Ontologie und Ethik“, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, S. 104–125. 29 H. Jonas, „Mikroben, Gameten und Zygoten. Weiteres zur neuen Schöpferrolle des Menschen“, in: ders., Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1985, S. 204–218, hier: S. 218. 30 Scholem, „Es gibt ein Geheimnis in der Welt“, S. 39.
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Anmerkungen
31 Vgl. H. Jonas, „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, in: ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1963, S. 44–62. 32 Scholem, „Es gibt ein Geheimnis in der Welt“, S. 39 33 Vgl. H. Jonas, „Aktuelle ethische Probleme aus jüdischer Sicht“, in: Scheidewege 24 (1994/95), S. 3–15. 34 Jonas, Erinnerungen, S. 341. 35 Scholem, „Es gibt ein Geheimnis in der Welt“, S. 109. 36 Jonas, Erinnerungen, S. 268ff. Als Dokumentation der Kontroverse vgl. Wiese, Hans Jonas, S. 000. 37 Vgl. dazu auch C. Wiese, „Revolte wider die Weltflucht“, in: H. Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, Frankfurt a. M.1999, S. 401–429. 38 Zur Problemgeschichte insgesamt bis zur Gegenwart vgl. N. Deutsch, The Gnostic Imagination, Gnosticism, Mandaeism and Merkabah-Mysticism, Leiden 1995, S. 1–18; J. Dan, „Jewish Gnosticism?“, in: Jewish Studies Quarterly 2 (1995), S. 309–328. 39 Vgl. C. Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule. Darstellung und Kritik ihres Bildes vom gnostischen Erlösermythos, Göttingen 1961. 40 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Bd. I, Göttingen 1988, S. 228f. sowie Bd. 2, Göttingen 1993, S. 340ff. 41 Ebd., Bd. 2, S. 354. 42 M. Brumlik, Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen, Frankfurt a. M. 1992, S. 20. 43 G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1980, bes. S. 43–86; vgl. auch ders., Jewish Gnosticism, Merkabah Mysticism, and Talmudic Tradition, 2. verb. Aufl., New York 1965. Zur Wirkungsgeschichte gnostischer Mythologoumena in der Kabbala und zu einer kritischen Anfrage an Scholems Konzept vgl. etwa M. Idel, Kabbalah. New Perspectives, New Haven 1988 und ders., „Subversive Catalysts. Gnosticism and Messianism in Gershom Scholem’s View of Jewish Mysticism“, in: D. N. Myers/D. Ruderman (Hg.), The Jewish Past Revisited. Reflections on Modern Jewish Historians, New Haven/London 1998, S. 39–76. 44 Vgl. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Bd. 2, S. 356f. Zu Gemeinsamkeiten und Trennendem in der Gnosisdeutung von Jonas und Scholem vgl. auch E. Hamacher, Gershom Scholem und die
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Anmerkungen
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49 50 51
Allgemeine Religionsgeschichte, Berlin/New York 1999, S. 184–195. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Bd. 2, S. 352ff. H. Jonas, „Response to G. Quispel’s ‚Gnosticism and the New Testament’: 1. The Hymn of the Pearl. 2. Jewish Origins of Gnosticism?“, in: J. P. Hyatt (Hg.), The Bible in Modern Scholarship, Nashville 1965, S. 279–293, bes. S. 287ff. Brief von H. Jonas an G. Scholem vom 19. Mai 1966, Nachlaß G. Scholem, JNUL 401599. Brief von H. Jonas an G. Scholem vom 14. September 1977, in: G. Scholem, Briefe III. 1971–1982, hg. von I. Shedletzky, München 1999, S. 392f. Brief von G. Scholem an H. Jonas vom 14. November 1977, in: ebd., S. 160. Brief von H. Jonas an G. Scholem vom 23. Januar 1978, Nachlaß G. Scholem, JNUL 401599. Brief von H. Jonas an F. Scholem vom 24. Februar 1982, in: Scholem, Briefe III, S. 462.
II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff nach Auschwitz Kurt Rudolph
Hans Jonas und die Gnosisforschung aus heutiger Sicht 1
2
Ursprünglich Vortrag an der Universität Konstanz am 15. Mai 1998 unter dem Titel „Hans Jonas als Gnosisforscher“ anläßlich der Eröffnung des dortigen Hans-Jonas-Archivs; abgedruckt in der estnischen Zeitschrift TRAMES, vol. 5 (55/50), 2001, S. 291–301. Neubearbeitet und ergänzt für die Ringvorlesung an der Universität Oldenburg am 29. November 2001. Vgl. jetzt W. E. Müller (Hg.), Hans Jonas – von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik, Stuttgart 2003 (Judentum und Christentum 10), S. 25–39. A. v. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1, Freiburg 41909, S. 243ff.
333
Anmerkungen
Anmerkungen
Beide Aufsätze sind abgedruckt in: R. Bultmann, Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. von E. Dinkler, Tübingen 1967, S. 10–35 und S. 55–104. 4 Vgl. B. Jaspert (Hg.), Sachgemäße Exegese. Die Protokolle aus Rudolf Bultmanns neutestamentlichen Seminaren 1921–1951, Marburg 1996 (Marburger Theologische Spuren), S. 39. 5 Diese Arbeit ist identisch mit Einleitung und Kapitel 1 von H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist. 2. Teil: Von der Mythologie zur mystischen Philosophie, hg. von K. Rudolph, Göttingen 1993; vgl. H. Jonas, Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Eine philosophische Studie zum pelagianischen Streit, 2. Aufl. mit einer Einleitung von J. M. Robinson, Göttingen 1965 (FRLANT 44), S. 15; K. Rudolph, „Der Mandäismus in der neueren Gnosisforschung“, in: B. Aland (Hg.), Gnosis. Festschrift für Hans Jonas, Göttingen 1978, S. 244–277, bes. S. 245. 6 Vgl. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 2, S. 224ff. 7 Ebd., S. 377–418. 8 H. Jonas, The Gnostic Religion. The Message of the Alien God and the Beginnings of Christianity, 2. rev. Ausg., Boston 1963 (ND 1991); zitiert nach der deutschen Übersetzung: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, hg. von C. Wiese, Frankfurt a. M. 1999, S. 16. 9 H. Jonas, „Gnosticism“, in: Encyclopedia of Philosophy, Bd. 3, hg. von P. Edwards, New York/London 1967 (ND 1972), S. 336–342: 10 Abgedruckt in Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 2, S. 224–327 (Fragmente zu Plotin). 11 H. Jonas, „Response to G. Quispel’s Gnosticism and the New Testament: 1. The Hymn of the Pearl. 2. Jewish Origins of Gnosticism“, in: J. P. Hyatt (Hg.), The Bible in Modern Scholarship. Papers read at the 100th Meeting of the Society of Biblical Literature – Dec. 28–30, 1964, Nashville, TN 1965, S. 279–293; abgedruckt in ders., Gnosis und spätantiker Geist, Teil 2, S. 346359. 12 H. Jonas, „Deliminations of the Gnostic Phenomenon. Typological and Historical“, in: U. Bianchi (Hg.), Le Origini dello Gnosticismo, Colloquio di Messina, 13–18 Aprile 1966, Leiden 1967, S. 90–104; dt. in: K. Rudolph (Hg.), Gnosis und Gnostizismus, Darmstadt 1975 (Wege der Forschung 262), S. 626–645.
13 H. Jonas, „Gnosticism, Nihilism and Existentialism“, in: Social Reearch 19 (1952), S. 430–452; ders., „Gnosis, Existentialismus und Nihilismus“, in: Kerygma und Dogma 6 (1960), S. 155–171. 14 Abgedruckt in: A. D. Nock, Essays on Religion and the Near East, hg. von Z. Stewart, Oxford 21986, S. 444– 451; dt. Übersetzung in: Rudolph (Hg.), Gnosis und Gnostizismus, S. 374–386. 15 Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 16. 16 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, 1. Teil: Die mythologische Gnosis, Göttingen 41988 (FRLANT 51), S. 90f. 17 Ebd., S. 73f.; Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 46 und 62. 18 Zur Rolle Spenglers bei Jonas vgl. M. Waldstein, „Hans Jonas’ Construct ‚Gnosticism’: Analysis and Critique“, in: Journal of Early Christian Studies 8 (2000), S. 341–372, bes. S. 352ff. Allerdings berücksichtigt dieser ausführliche Beitrag nicht die kritischen Bemerkungen von Jonas selbst, wie er überhaupt die eigentliche Zielrichtung im Kontext der zeitgenössischen Gnosisforschung zu wenig zur Kenntnis nimmt. Jonas wollte keine philologisch-historische Untersuchung vorlegen, sondern erstmalig in den gnostischen Quellen gegenüber den häresiologischen Verunglimpfungen und den religionshistorischen Versuchen, mit dem Schlagwort „Synkretismus“ weiterzukommen, einen zusammenhängenden, „wesentlichen“ Hintergrund erfassen. Daß er dazu die ihm durch Heidegger vermittelten Deutungskategorien und „Daseinsanalysen“ – wie auch Spenglers Anregungen – verwendete, sollte ihm heute nicht zum Vorwurf gemacht werden. Jedenfalls hat er damit fruchtbringend auch für die religionshistorische Forschung gewirkt, die auf Jonas’ Interpretationen nicht mehr verzichten sollte. 19 Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, S. 1–91. 20 Ebd., S. 21f. 21 Ebd., S. 77. 22 Ebd., S. 27–49. 23 Ebd., S. 49–58. 24 Ebd., S. 58ff. 25 Ebd., S. 70ff. 26 Ebd., S. 77, Anm. 1. 27 Ebd., S. 80f. 28 Ebd., S. 64.
3
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335
Anmerkungen
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43 44
Ebd., S. 88f. Ebd., S. 74. Ebd., S. 214–251. Ebd., S. 210ff., 238ff., 251ff.; Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 2, S. 24–65. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, S. 328f. Ebd., S. 262–283. Ebd., S. 283. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 2, S. 3f. Ebd., S. 99ff., 155ff. Vgl. meinen Gedenkartikel „Hans Jonas und die Manichäismusforschung“, in: K. Rudolph, Gnosis und spätantike Religionsgeschichte. Gesammelte Aufsätze, Leiden 1996 (Nag Hammadi and Manichaean Studies XLII), S. 773–781. Auch Waldstein, „Hans Jonas’ Construct ‚Gnosticism’“, S. 342 und 370f. bezieht sich natürlich darauf, ohne näher auf die damit aufgeworfenen Probleme einzugehen. M. A. Williams, Rethinking „Gnosticism“. An Argument for Dismantling a Dubious Category, Princeton, NJ 1996, S. 51 und S. 265f. Ebd., S. 218. Vgl. jetzt auch K-W. Tröger, Die Gnosis. Heilslehre und Ketzerglaube, Freiburg/Br. 2001, S. 33. Auch Waldstein, „Hans Jonas’ Construct ‚Gnosticism’“, scheint überhaupt eine „Entweltlichungstendenz“ in der Gnosis zu bestreiten, was meines Wissens nicht möglich ist. Die dafür zum Schluß kurz angeführten Züge des Apokryphon Johannis (ebd., S. 370ff.) überzeugen keineswegs, da sie durchaus anders interpretiert werden können als im Lichte des von Waldstein bemühten neuplatonischen Modells eines „ideosyncratic eddy in the broad stream of Hellenistic Judaism“ (ebd., S. 372). Damit fällt die Forschung tatsächlich in die oben beschriebene Periode vor Jonas zurück und verkennt den typischen Charakter der gnostischen Quellen. Es sei an die immer noch lesenswerten Interpretationen von Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, S. 377–418 erinnert. Ebd., S. 74. Vgl. z. B. M. Brumlik, Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen, Frankfurt a. M. 1992; M. Pauen,
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Anmerkungen
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47 48 49 50 51 52 53 54
55
Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne, Berlin 1994; W. Baum, Gnostische Elemente im Denken Martin Heideggers? Eine Studie auf der Grundlage der Religionsphilosophie von Hans Jonas, Neuried 1997; zu Brumlik vgl. die Besprechung von M. Pauen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (1993), S. 777f. So Baum, Gnostische Elemente, S. 114. Vgl. K. Jaspers, Notizen zu Martin Heidegger. Hg. von Hans Saner, München 1978 (21989), Register s.v. Gnosis; Th. Rentsch, Martin Heidegger. Das Sein und der Tod, München 1989, S.97ff., 185ff.; Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S.255ff.; Baum, Gnostische Elemente, S. 124ff. Vgl. Rentsch, Martin Heidegger, S. 156f., 158ff. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, S. 106f. Ebd., S. 107. H. Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen 1987, S. 19. Ebd., S. 18. Vgl. dazu Baum, Gnostische Elemente, S. 115ff., 246f. Vgl. dazu Rudolph, „Hans Jonas und die Manichäismusforschung“, S.163ff., 170ff., 183ff. H. Jonas, „A Retrospective View“, in: Proceedings of the International Colloquium on Gnosticism, Stockholm August 20–25, hg. von G. Widengren, Stockholm 1977, S.13. Zu diesen Zusammenhängen bei Jonas vgl. N. Frogneux, Hans Jonas ou la vie dans le monde, Paris/Brüssel 2001. Ein Resümee davon findet sich im Bulletin annuel de la Société belgo-luxembourgeoise d´Histoire des Religions, No. 2 (2000), S. 47–49.
Joseph Dan
Von Hans Jonas zu Umberto Eco: Der Mythos der Gnosis1 1 2
Aus dem Englischen von C. Wiese. H. Jonas, The Gnostic Religion. The Message of the Alien God and the Beginnings of Christianity, Boston 1958 (dt.: Gnosis. Die
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Anmerkungen
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16
Botschaft des fremden Gottes, hg. von C. Wiese, Frankfurt a. M. 1999). M. A. Williams, Rethinking „Gnosticism“: An Argument for Dismantling a Dubious Category, Princeton, N.J. 1996. U. Eco, Baudolino, München 2001. Ebd., S. 488f. Ebd., S. 489ff. Ebd., S. 493f. Ebd., S. 496ff. E. M. Yamauchi, Pre-Christian Gnosticism: A Survey of the Proposed Evidence, Grand Rapids, MI 1983 (1. Aufl. 1973). S. Petremont, Le Dieu séparé, les origines du gnosticisme, Paris 1984; vgl. auch ihr früheres Werk zu dieser Thematik: dies., Le Dualisme chez Platon, les gnostiques et les Manichéens, Paris 1947. Vgl. E. E. Urbach, The Sages. Their Concepts and Beliefs, Jerusalem 1979, S. 471–482. Der wichtigste relevante Text wurde analysiert von G. Reeg, Die Geschichte von den Zehn Märtyrern, Tübingen 1985; vgl. J. Dan, „Samael and the Problem of Jewish Gnosticism“, in: A. L. Ivri/E. R. Wolfson/A. Arkush (Hg.), Perspectives on Jewish Thought and Mysticism, Amsterdam 1998, S. 257–276; ders., Jewish Mysticism, Bd. 3, Northvale, N.J. 1999, S. 253–414. Vgl. H. Odeberg, Third Enoch or the Hebrew Book of Enoch, Cambridge 1928; P. Alexander, „Hebrew Apocalypse of Enoch“, in: J. Charlesworth (Hg.), The Old Testament Pseudepigrapha, Bd. 1, Garden City, N.Y. 1983, S. 223–315. Vgl. J. Dan, „Armilus: The Jewish Antichrist and the Origins and Dating of the Sefer Zerubavel“, in: P. Schäfer/M. Cohen (Hg.), Toward the Millenium. Messianic Expectations from the Bible to Waco, Leiden 1998, S. 73–104. J. Dan, „Yaldabaoth and the Language of the Gnostics“, in: H. Cancik u. a. (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion. Festschrift für Martin Hengel, Tübingen 1996, S. 557–564. Vgl. dazu G. Scholem, „Gut und Böse in der Kabbala“, in: Eranos Jahrbuch 30 (1961), S. 29–67.
338
Anmerkungen
Micha Brumlik
Ressentiment – Über einige Motive in Hans Jonas’ frühem Gnosisbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist. Erster Teil: Die mythologische Gnosis, Göttingen 1934. Vgl. H. Jonas, Gnosis, die Botschaft des fremden Gottes, hg. und mit einem Nachwort versehen von C. Wiese, Frankfurt a. M. 1999. Vgl. H. Jonas, Erinnerungen, nach Gesprächen mit R. Salamander hg. von C. Wiese, Frankfurt a. M. 2003, S. 116f. Vgl. K. Rudolph (Hg.) Gnosis und Gnostizismus, Darmstadt 1975, S. 859. Zitiert in: M. Brumlik, Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen, Berlin 32000, S. 5 Vgl. H.-G. Gadamer, „Die Marburger Theologie“, in: ders., Heideggers Wege, Tübingen 1983, S. 29–40. H. J. Schoeps, „Zur Standortbestimmung der Gnosis“, in: Rudolph (Hg.) Gnosis und Gnostizismus, S. 468. Jonas, Erinnerungen, S. 236. Ebd., S. 117. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, S. 36. M. Heidegger, Sein und Zeit, 11., unveränderte Auflage, Tübingen 1967, S. 45. Ebd., S. 48. Ebd., S. 50. In: M. Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 60, II. Abteilung: Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1995. Ebd., S. 82. Ebd., S. 87. Ebd., S. 105. M. Heidegger, „Die Grundbegriffe der Metaphysik“, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 29/30, Frankfurt a. M. 1983, S. 255. M. Heidegger, „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 65, Frankfurt a. M. 1989, S. 405f. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, S. X. Ebd., S. 12. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15.
339
Anmerkungen
Anmerkungen
24 F. C. Bauer, „Die Gnosis“, in: Rudolph (Hg.), Gnosis und Gnostizismus, S. 1–16. 25 R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Göttingen 1941. 26 Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, S. 13. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 14. 29 Ebd. 30 H. Marcuse, „Über konkrete Philosophie“, in: ders., Der deutsche Künstlerroman. Frühe Aufsätze, Frankfurt a. M. 1978, S. 385–406; J. Habermas, „Die große Wirkung“, in: ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a. M. 1973, S. 76–84. 31 Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, S. 89. 32 Ebd., S. 65. 33 Jonas, Erinnerungen, S. 262. 34 Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, S. 214. 35 H. Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen 1987, S. 9f. 36 R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994, S. 113f. 37 Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, S. 173. 38 A. v. Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, Leipzig 1924. 39 Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, S. 173. 40 Ebd., S. 228. 41 F. Nietzsche, „Die Genealogie der Moral“, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 5, München 1988, S. 245–412, bes. S. 76. 42 Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, S. 231. 43 Ebd., S. 233. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 234. 46 Ebd., S. 234. 47 Ebd. 48 Jonas, Erinnerungen, S. 116f. 49 C. Andresen (Hg.), Die Gnosis. Erster Band: Zeugnisse der Kirchenväter, Zürich/München 1979, S. 401. 50 Jonas, Erinnerungen, S. 114. 51 Ebd., S. 114f.
52 E. Young-Bruehl, Hannah Arendt, Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a. M. 1986; Safranski, Ein Meister aus Deutschland, S. 166f; E. Ettinger, Hannah Arendt und Martin Heidegger, München 1994; H.Arendt/M.Heidegger, Briefe 1925–1975, Frankfurt a. M. 1998. 53 Safranski, Ein Meister aus Deutschland, S. 161. 54 Ebd., S. 171; Arendt/Heidegger, Briefe, S. 59. 55 Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, S. 409. 56 Vgl. „Das wahre Evangelium“, in: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von K. Berger und C. Nord, Frankfurt a. M. 1999, S. 1050–1065. 57 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984, S. 347f. 58 Jonas, Erinnerungen, S. 124.
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David J. Levy
Mythische Wahrheit und die Kunst der Wissenschaft. Hans Jonas und Eric Voegelin über Gnosis und das Unbehagen der Moderne1 1 2
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Aus dem Amerikanischen von C. Wiese. E. Voegelin, The New Science of Politics: An Introduction, Chicago 1952 (dt.: Die neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, München 1959). E. Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959; ders., „Religionsersatz. Die gnostischen Massenbewegungen unserer Zeit“, in: Wort und Wahrheit 15 (1960), S. 5–18. H. Jonas, „Gnosticism and Modern Nihilism“, in: Social Research 19 (1952), S. 430–452 (dt.: „Gnosis und moderner Nihilismus“, in: Kerygma und Dogma 6 (1960), S. 155–171). H. Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, hg. von C. Wiese, Frankfurt a. M. 1999. Der Spiegel, Heft 23, 31. Mai 1976. Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, S. 59ff. E. Voegelin, Die politischen Religionen, Wien 1938. H. U. v. Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen, 3 Bde., Salzburg u. a. 1937–1939.
341
Anmerkungen
10 K. Vondung, „Eric Voegelin, the Crisis of Western Civilization, and the Apocalypse“, in: S. A. McKnight/G. L. Price (Hg.), International and Interdisciplinary Perspectives on Eric Voegelin, Columbia, MO 1997, S. 117–134. 11 E. Voegelin, Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966. 12 E. Voegelin, Order and History, Bd. 5: In Search of Order, Baton Rouge, La 1987. 13 R. Haardt, Gnosis: Character and Testimony, Leiden 1971, S. 1. 14 Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 62. 15 E. Voegelin, „Equivalences of Experience and Symbolization in History“, in: ders., Collected Works, Bd. 12: Collected Essay, 1966–1985, hg. von E. Sandoz, Baton Rouge, La 1990, S. 115–133. 16 H. Jonas, „Wandel und Bestand. Vom Grunde der Verstehbarkeit des Geschichtlichen“, in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 50–80, hier: S. 63f. 17 Vgl. D. J. Levy, „‚The Religion of Light’: On Mani and Manichaeism“, sowie, als Gegensatz, ders., „‚The Good Religion’: Reflections on the History and Fate of Zoroastrianism“, in: ders., The Measure of Man: Incursions in Philosophical and Political Anthropology, St. Albans 1993, S. 170–206. 18 H. Jonas, Philosophical Essays. From Ancient Creed to Technological Man, Chicago/London 1974, S. XI. 19 H. Jonas, Augustin und das paulinische Freiheitsproblem, Göttingen 1930. 20 Vgl. dazu D. J. Levy, Hans Jonas. The Integrity of Thinking, Columbia, MO 2002 und R. Wolin, Heidegger’s Children: Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas, and Herbert Marcuse, Princeton, N.J. 2001, S. 101–133. 21 M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 199, zit. nach: Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 391. 22 Jonas, ebd., S. 287–344. 23 M. A. Williams, Rethinking „Gnosticism“: An Argument for Dismantling a Dubious Category, Princeton, N.J. 1996. 24 Vgl. Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 345–376. 25 Vgl. R. Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Darmstadt 51986, vor allem die letzten beiden Kapitel
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Anmerkungen
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29
über das urchristliche Bild der „Situation des Menschen in der Welt“ (S. 205–213) und über die urchristliche Vorstellung von der Erlösung (S. 213–228). Ebd., S. 211 und S. 207. Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 294. H. Jonas, „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, in: ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1963, S. 44–62, hier: S. 59. In diesem bemerkenswerten Essay bezieht sich das Zitat auf „eine Wahrheit […], die notwendig unerkennbar und sogar, in direkten Begriffen, unsagbar ist, dennoch aber durch Selbstbekundungen in unserer tiefsten Erfahrung unsere Fähigkeit in Anspruch nimmt, indirekt Rechenschaft von ihr zu geben in widerruflichen, anthropomorphen Bildern“ (ebd.). Obwohl sie in diesem Kontext auf die Frage nach der Unsterblichkeit bezogen ist, läßt sich diese Vorstellung eines Mythos, die Platons Idee eines „wahren Mythos“ ähnelt, mit Recht auch auf die kosmologische Spekulation in Materie, Geist und Schöpfung anwenden, in deren Gesamtsicht man ein Echo des stoischen Mythos von einem logos identifizieren kann, der sowohl die Struktur des Kosmos als auch die existentiell angemessene Form menschlichen Verhaltens prägt; vgl. ders., Materie, Geist und Schöpfung, Frankfurt a. M. 1988. Als kurze Darstellung seiner Position vgl. H. Jonas, „Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik“, in: ders., Philosophische Untersuchungen, S. 128–147.
Eric Jacobson
Hans Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz1 1 2
3
Ich danke Christian Wiese für die sorgfältige Hilfe. Vgl. A. Marmorstein, The Old Rabbinic Doctrine of God, Bd. 1, Oxford 1927; G. Scholem, „Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala“, in: Judaica, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1984, S. 7–70. L. Wittgenstein, Werkausgabe. Bd. 5: Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung, Frankfurt a. M. 1984; W. Benjamin, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2/1, Frankfurt a. M. 1997, S. 140–157.
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Anmerkungen
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H. Jonas, „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“, in: ders. Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1994. S. 190–208. Aus Jonas’ Sicht erscheint der deus absconditus als „unannehmbarer Begriff nach jüdischer Norm“ (S. 203). Der Gedanke von Gottes „verborgenem Antlitz“ ist jedoch zu einer zentralen Kategorie der Theologie der Schoah geworden. Interview mit H. Jonas, in: Herlinde Koelbl, Jüdische Portraits. Photographien und Interviews, Frankfurt a. M. 1998, S. 166–171, hier: S. 170f. Vgl. C. Wiese, Hans Jonas. „Zusammen Philosoph und Jude“, Frankfurt a. M. 2003. Vgl. G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Haupströmungen, Frankfurt a. M. 1980, S. 266–314. Gegen Ende von „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ (S. 206) bezieht sich Jonas ausdrücklich auf Scholem und seine Studie zur lurianischen Kabbala. Der lurianische Ursprung seines Mythos wird jedoch nicht offengelegt, wo er erstmals im Werk von Jonas auftaucht, vgl. H. Jonas, „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, in: ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1963, S. 44–62, bes. S. 55–58. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Ebd. Jonas, „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, S. 202. Vgl. ebd., S. 205. Ebd., S. 203. Ebd., S. 204. Ebd., S. 203. Ebd., S. 204. H. Jonas, „Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens. Erinnerungen an Rudolf Bultmann und Betrachtungen zum philosophischen Aspekt seinen Werkes“, in: O. Kaiser (Hg.), Gedenken an Rudolf Bultmann, Tübingen 1977, S. 41–70. hier: S. 59 R. G. Collingwood, The Principles of History, Oxford 1999, S. 70. Ebd., S. 46.
344
Anmerkungen
Hans Hermann Henrix
Machtentsagung Gottes? Eine kritische Würdigung des Gottesverständnisses von Hans Jonas1 1
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4
Bei diesem Essay handelt es sich um eine überarbeitete Fassung eines früheren Artikels mit dem Titel: „Auschwitz und Gottes Selbstbegrenzung. Zum Gottesverständnis bei Hans Jonas“, in: Theologie der Gegenwart 32 (1989) S. 129–143. E. Wiesel, Die Nacht zu begraben, Elischa, Esslingen o. J., S. 93f. So nach E. Levinas, „Die Tora mehr zu lieben als Gott“ (1955), in: M. Brocke/H. Jochum (Hg.), Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust, München 1982, S. 213–217 (jetzt auch in anderer Übersetzung zugänglich in: E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt a. M. 1992, S. 109–113), der die vielleicht bedeutendste Interpretation des Textes bietet. Weitere Interpretationen: U. Bohn, „Thora in der Grenzsituation“, in: P. von der Osten-Sacken (Hg.), Treue zur Thora, Berlin 1977 (FS Günther Harder), S. 124–134; P. Lenhardt/P. von der Osten-Sacken, Rabbi Akiva, Berlin 1987, S. 332ff.; H. Luibl, „Wenn der Herr sein Gesicht von den Betenden abwendet. Zu Zwi Kolitz: ‚Jossel Rackower spricht zu Gott’“, in: Orientierung 52 (1988) S. 5–8. Der Text selbst ist mehrfach in deutscher Fassung veröffentlicht worden, u. a.: Almanach für Literatur und Theologie 2, Wuppertal 1986, S. 19–28; M. Stöhr (Hg.), Erinnern – nicht vergessen, München 1979, S. 107–118; P. von der Osten-Sacken (Hg.), Das Ostjudentum, Berlin 1981, S. 161–168; Judaica 39 (1983) S. 211–220; Z. Kolitz, Jossel Rackower spricht zu Gott, NeuIsenburg 1985. Vgl. aber auch den Versuch strophischer Nachdichtung von R. Brandstaetter, in: K. Wolff (Hg.), Hiob 1943. Ein Requiem für das Warschauer Getto, Berlin 1983, S. 274–276. E. L. Fackenheim, „Die gebietende Stimme von Auschwitz“ (1970), in: Brocke/Jochum, Wolkensäule, S. 73–100 (Übersetzung aus: ders., God’s Presence in History. Jewish Affirmations and Philosophical Reflections, New York 1970, S. 67–98). Fackenheim hat seine Position in seinen weiteren Werken wiederholt: Encounters between Judaism and Modern Philosophy, New York 1973; The Jewish Return to History, New York 1978; To Mend the World, New York 1982; Was ist Judentum? Eine Deutung für die Gegenwart, Berlin
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Anmerkungen
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1999; The Jewish Bible after Auschwitz. A Re-reading, New York 1990. Stellungnahmen zu Fackenheim finden sich bei B. Dupuy, „Un theologien juif de l’Holocauste, Emil Fackenheim“, in: Foi et Vie 73 (1974), No. 4, S. 11–21; E. Z. Charry, „Jewish Holocaust Theology. An Assessment“, in: Journal of Ecumenical Studies 18 (1981), S. 128–139; M. J. Morgan, The Jewish Thought of Emil Fackenheim. A Reader, Detroit 1987; G. Niekamp, Christologie nach Auschwitz, Freiburg 1994, S. 131–135; Ch. Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh 1995, bes. S. 266ff.; G. Taxacher, Nicht endende Endzeit. Nach Auschwitz Gott in der Geschichte denken, Gütersloh 1998, passim; B. Petersen, Theologie nach Auschwitz? Jüdische und christliche Versuche einer Antwort, Berlin 1998, passim; D. Pollefeyt, „Das jüdische Denken Emil L. Fackenheims oder die Begegnung von Athen und Jerusalem in Auschwitz“, in: J. Valentin/S. Wendel (Hg.), Jüdische Traditionen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2000, S. 196–213. Der Text wurde an mehreren Orten publiziert: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“, in: O. Hofius (Hg.), Reflexionen in finsterer Zeit. Zwei Vorträge von Fritz Stern und Hans Jonas, Tübingen 1984, S. 61–86; „Von Gott reden in Auschwitz?“, in: Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Hg.), Dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt. 88. Deutscher Katholikentag vom 4. bis 8. Juli 1984 in München. Dokumentation, Paderborn 1984, S. 235–246 (gekürzt); H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M. 1987 (die Seitenangaben im fortlaufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe) sowie in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1992, S. 190–208 Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 7. Vgl. E. Jüngel, „Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung. Ein Beitrag zum Gespräch mit Hans Jonas über den ‚Gottesbegriff nach Auschwitz’“, in: H. Deuser u. a. (Hg.), Gottes Zukunft – Zukunft der Welt, München 1986 (FS Jürgen Moltmann), S. 265–275; W. Oelmüller, „Hans Jonas. Mythos – Gnosis – Prinzip Verantwortung“, in: Stimmen der Zeit 113 (1988), S. 343–351; H. Kreß, „Philosophische Theologie im Horizont des neuzeitlichen Nihilismus. Philosophie und Gottesgedanke bei
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Anmerkungen
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Wilhelm Weischedel und Hans Jonas“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 88 (1991), S. 101–120; H. Küng, Das Judentum, München/Zürich 1991, S. 714ff.; W. Oelmüller (Hg.), Worüber man nicht schweigen kann. Neue Diskussionen zur Theodizeefrage, München 1992, passim; W. Groß/H. J. Kuschel, „Ich schaffe Finsternis und Unheil!“ Ist Gott verantwortlich für das Übel?, Mainz 1992, S. 170–175; C. Thoma, Das Messiasprojekt. Theologie jüdisch-christlicher Begegnung, Augsburg 1994, S. 394ff.; G. Schiwy, Abschied vom allmächtigen Gott, München 1995, S. 10ff., 36f.,76–85, 92–98, u.ö.; Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben, passim; Petersen, Theologie nach Auschwitz?, passim; Th. Schieder, Weltabenteuer Gottes. Die Gottesfrage bei Hans Jonas, Paderborn 21998; J. Wohlmuth, Im Geheimnis einander nahe. Theologische Aufsätze zum Verhältnis von Judentum und Christentum, Paderborn 1998, S. 78ff., 148ff.; V. Lenzen, Jüdisches Leben und Sterben im Namen Gottes. Studien über die Heiligung des göttlichen Namens (Kiddusch HaSchem), München/Zürich 22002, S. 141ff. Zum Werk von E. Wiesel vgl. R. McAfee Brown, Elie Wiesel. Zeuge für die Menschheit, Freiburg 1990; Groß/Kuschel, „Ich schaffe Finsternis und Unheil!“, S. 135–153; E. Schuster/R. BoschertKimmig (Hg.), Trotzdem hoffen. Mit Johann Baptist Metz und Elie Wiesel im Gespräch, Mainz 1993; R. Boschki, Der Schrei. Gott und Mensch im Werk von Elie Wiesel, Mainz 1994; G. Langenhorst, Hiob unser Zeitgenosse. Die literarische Hiob-Rezeption im 20. Jahrhundert als theologische Herausforderung, Mainz 1994, passim; D. Mensink/R. Boschki (Hg.), Das Gegenteil von Gleichgültigkeit ist Erinnerung. Versuche zu Elie Wiesel, Mainz 1995; Petersen, Theologie nach Auschwitz?, passim; N. Reck, Im Angesicht der Zeugen. Eine Theologie nach Auschwitz, Mainz 1998, passim; B. Klappert, Miterben der Verheißung. Beiträge zum jüdisch-christlichen Dialog, Neukirchen-Vluyn 2000, passim. So Kreß, „Philosophische Theologie“, S. 109ff. und ähnlich W. Lesch, „Ethische Argumentation im jüdischen Kontext. Zum Verständnis von Ethik bei Emmanuel Levinas und Hans Jonas, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 38 (1991), S. 443–469, bes. S. 464. Vgl. auch die Selbstaussage von Jonas in: H. Koelbl, Jüdische Portraits. Photographien und Interviews, Frankfurt a. M. 1989, S. 120–123, bes. S. 123.
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Vgl. die Arbeiten in: Jonas, Philosophische Untersuchungen. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 7. Ebd., S. 10. Ebd., S. 12. Ebd., S. 14. Ebd. Jüngel, „Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung“, S. 269. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 15. Ebd., S. 15ff. Ebd., S. 18. Ebd., S. 20. Ebd., S. 23. Ebd., S. 23f. Ebd., S. 24. Ebd., S. 26. Ebd., S. 28f. Ebd., S. 31. Zu den entsprechenden Aussagen der jüdischen Traditionsliteratur vgl. nur: P. Kuhn, Gottes Selbsterniedrigung in der Theologie der Rabbinen, München 1968; A. M. Goldberg, Untersuchungen über die Vorstellung der Schekhinah in der frühen rabbinischen Literatur, München 1972; P. Kuhn, Gottes Trauer und Klage in der rabbinischen Überlieferung, Leiden 1978; H. Ernst, „Rabbinische Traditionen über Gottes Nähe und Gottes Leid“, in: C. Thoma/M. Wyschogrod (Hg.), Das Reden vom einen Gott bei Juden und Christen, Berlin 1984, S. 157–177; C. Thoma/S. Lauer, Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster und zweiter Teil, Bern 1986/ 1992; E. E. Urbach, The Sages. Their Concepts and Beliefs, Cambridge, Mass. 1987, S. 37–79; M. E. Lodahl, Shekhinah/Spirit. Divine Presence in Jewish and Christian Religion, New York/ Mahwah 1992; Thoma, Messiasprojekt, S. 78ff., S. 409ff. u.ö. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 33. Ebd., S. 33ff. Ebd., S. 38. Die jüdische Diskussion der Vermittelbarkeit dieser drei Attribute Gottes fand im Mittelalter als Versuch der Vermittelbarkeit von Gottes Allmacht, Güte und Vorsehung statt; vgl. dazu die Studie von B. S. Kogan, „‚Sorgt Gott sich wirklich?’ – Saadja Gaon, Juda Halevi und Maimonides über das Problem des Bösen“,
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in: H. H. Henrix (Hg.), Unter dem Bogen des Bundes. Beiträge aus jüdischer und christlicher Existenz, Aachen 1981, S. 47–73. Als Beispiel früher christlicher Diskussion dieses Vermittlungsproblems vgl. nur: Laktanz, Vom Zorne Gottes, Darmstadt 21971 (Texte zur Forschung 4), S. 45ff. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 38f. Ebd., S. 40. Ebd., S. 41f. Ebd., S. 45. Ebd., S. 46. Jonas folgt in seiner Darstellung des zimzum-Gedankens G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1967, S. 285ff.; ders., „Schöpfung aus Nichts und Selbstbeschränkung Gottes“, in: ders., Über einige Begriffe des Judentums, Frankfurt a. M. 1970, S. 53–89; vgl. auch ders., Art. „Kabbalah”, in: Encyclopaedia Judaica, Bd. X, Jerusalem 41978, Sp. 489–653, 588–597 sowie M. Fritz, „A Midrash: The SelfLimitation of God“, in: Journal of Ecumenical Studies 22 (1985) S. 703–714. Vgl. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 16. Ebd., S. 46. Ebd., S. 16. Ebd., S. 47. Vgl. zu dieser Vorstellung G. Scholem, „Die 36 verborgenen Gerechten in der jüdischen Tradition“, in: ders., Judaica, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1968, S. 216–225; ders., Artikel „Lamed Vav Zaddikim“, in: Encyclopaedia Judaica, Bd. X , Sp. 1367f. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 48. Diesen Gerichtshof der Vernunft fordert C.-F. Geyer in seinen Arbeiten zur Begriffsgeschichte der Theodizee, um ihren Begriff sinnvoll anzuwenden, etwa in: Oelmüller (Hg.), Worüber man nicht schweigen kann, S. 209–242. Kritisch diskutiert diese Position G. Neuhaus, Theodizee – Abbruch oder Anstoß des Glaubens?, Freiburg 1993, S. 144ff. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 38f. Ebd., S. 38. M. Wyschogrod, „Gott – ein Gott der Erlösung“, in: Brocke/ Jochum, Wolkensäule, S. 178–194, hier: S. 185. Vgl. auch Lenzen, Jüdisches Leben und Sterben im Namen Gottes, S. 141.
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Anmerkungen
Anmerkungen
44 So im Anschluß an F. Rosenzweig und seine Einlassung, inwieweit sein Stern der Erlösung ein jüdisches Buch sei: „Das neue Denken“ (1925), in: ders., Zweistromland (= F. Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften Bd. III), Dordrecht 1984, S. 139–161, bes. S. 155. 45 Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 15. 46 Ebd., S. 42. A. Goldberg („Ist Gott allmächtig? Was die Rabbinen Hans Jonas antworten könnten“, in: Judaica 47 (1991) S. 51–58) prüft Jonas’ Selbsteinschätzung. Er hält einen partiellen Machtverzicht Gottes nach rabbinischem Verständnis für vertretbar; der absolute Machtverzicht Gottes ist rabbinisch nicht mehr gedeckt, weil er zur Aufgabe des „Dogmas“ vom göttlichen Gericht nötigen würde, was Jonas selbst (Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 42) bereits festgestellt hatte. Ebenso problematisiert Goldberg unter Hinweis auf Jesaja 45,7 und dessen tägliche Rezitation im Morgengebet die Voraussetzung der zweifelsfreien Güte Gottes bei Jonas: „Wer behauptet, daß nur das Gute von Gott ausgehen könne, der leugnet eines der wenigen Dogmen des Judentums“ („Ist Gott allmächtig?“, S. 56). Zur Provokation biblischer Rede von Gott als Schöpfer der Finsternis und des Unheils vgl. vor allem: Groß/ Kuschel, „Ich schaffe Finsternis und Unheil!“ und M. Görg, Der unheile Gott. Die Bibel im Bann der Gewalt, Düsseldorf 1995. 47 H. U. von Balthasar kennzeichnete Israel als „formale Christologie“ in seiner Buber-Schrift: Einsame Zwiesprache. Martin Buber und das Christentum, Köln/Olten 1958, S. 83. Er entfaltet allerdings in seinem Gesamtwerk zu wenig die Positivität solcher Kennzeichnung; zur Kritik dazu H. H. Henrix, „‚Israel ist seinem Wesen nach formale Christologie’. Die Bedeutung H. U. von Balthasars für F.-W. Marquardts Christologie“, in: Berliner Theologische Zeitung 9 (1993), S. 135–153. 48 H. Jonas, „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, in: ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1963, S. 44–62, bes. S. 55ff. 49 Ebd., S. 63–72; zu Jonas’ Gebrauch des Begriffs der Inkarnation vgl. S. 68–71. 50 Ebd., S. 71. 51 Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 25.
52 Der Begriff der Allmacht Gottes, generationenlang fester Bestandteil christlicher Gottes- und Attributenlehre, wird in heutigen Schuldogmatiken und Lexika oft übergangen oder tritt auffallend zurück, z. B. in: Mysterium Salutis, Bde. 1 bis Ergänzungsband, Einsiedeln/ Zürich/Köln 1965–1981; Lexikon der katholischen Dogmatik, Freiburg 1987; P. Eicher (Hg.), Neue Summe Theologie, 2 Bde., Düsseldorf 1992. Anders freilich J. Auer, Gott – der Eine und Dreieine, Regensburg 1978 (Kleine Katholische Dogmatik II), S. 422–431; vgl. auch O. John, „Die Allmachtsprädikation in einer christlichen Gottesrede nach Auschwitz“, in: E. Schillebeeckx (Hg.), Mystik und Politik. Theologie im Ringen um Geschichte und Gesellschaft, Mainz 1988 (FS Johann Baptist Metz), S. 202–218 und Th. Pröpper, Artikel „Allmacht Gottes“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1, Freiburg 31993, S. 412–417. 53 J. Moltmann, Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, München 1980, S. 124f. 54 Jüngel, „Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung“, S. 271. Vgl. aber auch die beherzigenswerte Kritik dieser schöpfungstheologischen Reflexion bei Küng, Das Judentum, S. 717ff. 55 Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 23. 56 Ebd., S. 42. 57 So nach der Skizze bei H. Vorgrimler, Theologische Gotteslehre, Düsseldorf 1985, S. 150ff. 58 J. B. Brantschen, „Die Macht und Ohnmacht der Liebe. Randglossen zum dogmatischen Satz: Gott ist veränderlich“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 27 (1980), S. 224–246, hier: S. 238f. Vgl. die Bezugnahmen auf dasselbe neutestamentliche Gleichnis in der Reflexion von Gottes Macht bei Neuhaus, Theodizee, S. 264ff. und H. Fronhofen, „Ist der christliche Gott allmächtig?“, in: Stimmen der Zeit 117 (1992), S. 519–528, bes. S. 523. 59 R. Bultmann, in: Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 66f. 60 Ebd., S. 70f. 61 So laut Manuskript eines Gesprächs, das in gekürzter Form veröffentlicht wurde: E. Levinas, „Judentum und Christentum nach Franz Rosenzweig. Ein Gespräch“, in: G. Fuchs/H. H. Henrix (Hg.), Zeitgewinn. Messianisches Denken nach Franz Rosenzweig,
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Frankfurt a. M. 1987, S. 163–183 (Hervorhebung nicht im Original, H. H. Henrix). Ganz ähnlich die Einwände von Jüngel, „Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung“, S. 272f. und Oelmüller, „Hans Jonas“, S. 346. Vgl. die in Anm. 26 aufgeführte Literatur sowie W. Orbach, „The Four Faces of God: Toward a Theology of Powerlessness“, in: Judaism 32 (1983) 236–247; E. Levinas, „Judaisme et Kénose“, in: Archivi di Filisofia LIII (1985) Nr. 2/3 (Ebraismo. Ellenismo. Cristianesimo), S. 13–28 und R. Neudecker, Die vielen Gesichter des einen Gottes, München 1989, S. 69–105. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 41. Ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 23f. Levinas, Judentum und Christentum, S. 170. J. B. Metz, „Karl Rahners Ringen um die theologische Ehre des Menschen“, in: Stimmen der Zeit (1994), S. 383–393, hier: S. 391; vgl. ders., „Theologie als Theodizee?“, in: W. Oelmüller (Hg.), Theodizee – Gott vor Gericht?, München 1990, S. 103–118; ders., „Plädoyer für mehr Theodizee-Empfindlichkeit in der Theologie“, in: Oelmüller (Hg.), Worüber man nicht schweigen kann, S. 125–137; ders., „Die Rede von Gott angesichts der Leidensgeschichte der Welt“, in: Stimmen der Zeit 117 (1992), S. 311–320. Das Moment der Verheißungslosigkeit für die Leidenden der Geschichte bleibt auch in G. Schiwys Plädoyer für den „Abschied vom allmächtigen Gott“ eigenartig ausgeblendet. H. Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen 1987, S. 67. Zum hier auf die Allmacht applizierten Gedanken der „Intrige“ Gottes und seiner Transzendenz vgl. E. Levinas, „Gott und die Philosophie“, in: B. Casper (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg/München 1981, S. 81–123, bes. S. 104ff. Dies in Nähe zu den Gedanken von Küng, Das Judentum, S. 731ff und John, „Die Allmachtsprädikation …“. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 48f. Ebd., S. 48.
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Anmerkungen
Christian Wiese
„Weltabenteuer Gottes“ und „Heiligkeit des Lebens“. Theologische Spekulation und ethische Reflexion in der Philosophie von Hans Jonas 1 2
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H. Jonas, Erinnerungen, nach Gesprächen mit R. Salamander hg. von C. Wiese, Frankfurt a. M. 2003, S. 339ff. Interview mit H. Jonas, in: H. Koelbl, Jüdische Portraits. Photographien und Interviews, Frankfurt a. M. 1998, S. 166–171, hier: S. 170f. Ebd., S. 171. Vgl. dazu jetzt C. Wiese, Hans Jonas. „Zusammen Philosoph und Jude“, Frankfurt a. M. 2003. H. Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, Frankfurt a. M. 1988, S. 57. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979, S. 57f. Nachlaß H. Jonas, Philosophisches Archiv der Universität Konstanz, HJ 5-9-5, S. 4f. Ebd., S. 6f. Ebd., S. 9. H. Jonas, „Mikroben, Gameten und Zygoten: Weiteres zur neuen Schöpferrolle des Menschen“, in: ders., Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt a. M. 1985, S. 204–218, hier: S. 218. So erschien etwa eine erste Fassung von Jonas’ „The Concept of God after Auschwitz“ bereits in den späten sechziger Jahren, in: A. H. Friedlander (Hg.), Out of the Whirlwind. A Reader of Holocaust Literature, New York 1968, S. 465–476. H. Jonas, „Aktuelle ethische Probleme aus jüdischer Sicht“, in: Scheidewege 24 (1994/95), S. 3–15. Ebd., S. 8. Ebd., S. 14f. Jonas, Erinnerungen, S. 343. H. Jonas, „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, in: ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1963, S. 44–62. H. Jonas, „Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens. Erinnerungen an Rudolf Bultmann und Betrachtungen zum philosophischen
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Aspekt seines Werkes“, in: O. Kaiser (Hg.), Gedenken an Rudolf Bultmann, Tübingen 1977, S. 41–77. Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, passim. Jonas, Erinnerungen, S. 344f. und S. 347. Vgl. u. a. C. Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh 1995, A. H. Friedlander, Das Ende der Nacht. Jüdische und christliche Denker nach dem Holocaust, Gütersloh 1995; B. Petersen, Theologie nach Auschwitz? Jüdische und christliche Versuche einer Antwort, Berlin 1996. H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M. 1987, S. 7. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 37. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1970, S. 352. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 7. Ebd., S. 12. Ebd., S. 23. Ebd., S. 7 und S. 48. H. Jonas, „Heidegger und die Theologie“, in: Evangelische Theologie 24 (1964), S. 621–642, hier: S. 641f. Vgl. u. a. E. Jüngel, „Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung. Ein Beitrag zum Gespräch mit Hans Jonas über den ‚Gottesbegriff nach Auschwitz’“, in: H. Deuser (Hg.), Gottes Zukunft – Zukunft der Welt. Festschrift für Jürgen Moltmann zum 60. Geburtstag, München 1986, S. 265–275; W. Oelmüller, „Hans Jonas. Mythos – Gnosis – Prinzip Verantwortung“, in: Stimmen der Zeit 206 (1988), S. 343–351; Arnold Goldberg, „Ist Gott allmächtig? Was die Rabbinen Hans Jonas entgegnen würden“, in: Judaica 47 (1991), S. 51–58; H. H. Henrix, „Machtentsagung Gottes? Ein Gespräch mit Hans Jonas im Kontext der Theodizeefrage“, in: J. B. Metz (Hg.), Landschaft aus Schreien. Zur Dramatik der Theodizeefrage, Mainz 1996, S. 118–143; Th. Schieder, Weltabenteuer Gottes. Die Gottesfrage bei Hans Jonas, Paderborn 21998, passim. Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, S. 58f. Jonas, „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, S. 62.
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Anmerkungen
33 Abgedruckt in: G. Scholem, „Es gibt ein Geheimnis in der Welt“, Tradition und Säkularisation. Ein Vortrag und ein Gespräch, Frankfurt a. M. 2002, S. 7–48. 34 Ebd., S. 28f. 35 Ebd., S. 33. Zu Scholems historischer Interpretation der lurianischen Kabbala vgl. auch G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1980, S. 267–314. 36 Scholem, „Es gibt ein Geheimnis in der Welt“, S. 30f. 37 Ebd., S. 44–62, Zitate S. 50, S. 53ff. und S. 59. 38 Jonas, „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, S. 61. 39 Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, S. 53. 40 Jonas, „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, S. 62. 41 Ebd., S. 60.
III. Philosophie des Organischen und Ethik der Verantwortung Gereon Wolters
Hans Jonas’ „philosophische Biologie“1 1
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Bei diesem Beitrag handelt es sich um die teilweise überarbeitete deutsche Fassung eines Vortrags, der aus Anlaß des „Hannah Arendt/Wolfgang Schürmann Symposiums“ an der New School for Social Research, New York im Herbst 2000 unter dem Titel „Hans Jonas’ Philosophical Biology“ gehalten und in deren Graduate Faculty Philosophy Journal 23 (2001), S. 85–98 veröffentlich wurde. Das Symposion war der Philosophie von Hans Jonas gewidmet. Vgl. G. Wolters, „Wrongful Life: Logico-Empiricism’s Philosophy of Biology“, in: M. C. Galavotti/A. Pagnini (Hg.), Experience, Reality, and Scientific Explanation, Dordrecht 1999, S. 187–208. M. Ruse, „Booknotes 15.3“, in: Philosophy and Biology 15 (2000), S. 465–473, hier: S. 473.
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Anmerkungen
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H. Jonas, Hans Jonas zu Ehren. Reden aus Anlaß seiner Ehrenpromotion durch die Philosophische Fakultät der Universität Konstanz am 2. Juli 1991, Konstanz 1992, S. 41f. Auf die Unterschiede zwischen der Heideggerschen „Existenzphilosophie“ und dem „Existentialismus“ französischer Prägung (vor allem J.-P. Sartre) soll es hier nicht ankommen. H. Jonas, The Phenomenon of Life: Toward a Philosophical Biology, Westport, Conn. 1966, S. 6. H. Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, S. 17f. Man kann diese Entwicklung im Jonas-Nachlaß im „Philosophischen Archiv“ an der Universität Konstanz genau nachverfolgen: http://www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/philarchiv/index2.htm. Ich danke der Archivarin, Dr. Brigitte Uhlemann, für ihre vielfältige Unterstützung. Jonas, Phenomenon of Life, S. 6. In seinem kurzen Text „Anschauende Urteilskraft“ bezieht sich Goethe auf diese Kantische Unterscheidung und bemerkt, daß Kant anschauliche Erkenntnis für Gott zu reservieren scheine. Das stört Goethe aber nicht weiter. Da wir uns nach Kant im Reich der Moral „in eine obere Region erheben“ sollen (und können), „so dürft’ es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur, zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten“ (J. W. von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 13 (Naturwissenschaftliche Schriften I), hg. von D. Kuhn und R. Wankmüller, München 1994, S. 30f.). So sind Farben für Goethe nicht Eigenschaften äußerer Objekte, die (nach Newton) durch Brechung weißen Lichts in Prismen entstehen, sondern Farbe ist vielmehr „ein elementares Naturphänomen für den Sinn des Auges, das sich wie die übrigen alle, durch Trennung und Gegensatz, durch Mischung und Vereinigung, durch Erhöhung und Neutralisation, durch Mitteilung und Verteilung usw. manifestiert und unter diesen allgemeinen Naturformeln am besten angeschaut und begriffen werden kann“ (ebd., S. 324f.). Vgl. J. W. von Goethe, „Betrachtung über Morphologie überhaupt“ (ebd., S. 120–127, hier: S. 123). So etwa in „Erfahrung und Wissenschaft“ (ebd., S. 23ff., hier: S. 24f.).
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Anmerkungen
14 Vgl. W. Troll, „Gestalt und Gesetz“, in: ders., Gestalt und Urbild. Gesammelte Aufsätze zu Grundfragen der organischen Morphologie (= Bd. 2 von Die Gestalt. Abhandlungen zu einer allgemeinen Morphologie), Halle/Saale 21942. Troll und andere deutsche Botaniker versuchten in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts eine Wiederbelebung der idealistischen Goetheschen Morphologie. Leider bedienten sie sich nach 1933 nationalsozialistischer Propagandaformeln bei der Gegenüberstellung eines angeblich idealistischen und ganzheitlichen, deutschen Gestalt-Denkens und des angeblich oberflächlichen kausal-mechanistischen Denkens der französischen und angelsächsischen Wissenschaft. 15 Vgl. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 31f. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 32. 18 Ebd., S. 33. 19 Ebd., S. 11. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 25. 23 S. Toulmin/J. Goodfield, Materie und Leben, München 1970, S. 87. 24 Aristoteles, Physik A1, 184a16. 25 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 11. 26 Ebd., S. 107–144. 27 Ebd., S. 119. 28 Ebd., S. 124. 29 Ebd., S. 124f. 30 Der entscheidende Text ist H. Jonas, „Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne“, in: ders., Organismus und Freiheit, S. 198–225. 31 Ebd., S. 199. 32 Ebd., S. 210. 33 Ebd., S. 199. 34 Ebd., S. 216. 35 Ebd., S. 217.
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Anmerkungen
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Wolfgang Erich Müller
Organismus und Verantwortung. Hans Jonas’ Begründung der Ethik in der Philosophie des Lebens 1
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Auf deutsch erschien dieses Werk unter dem Titel Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973; eine Neuausgabe erschien 1994 unter dem Titel Das Prinzip Leben. Da die erste Ausgabe stärker rezipiert wurde, zitiere ich nach dieser. H. Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen 1987, S. 17f. H. Jonas, „Gnosis, Existentialismus und Nihilismus“, in: ders., Organismus und Freiheit, S. 292–316. Ebd., S. 315. Ebd., S. 316. H. Jonas, „Ist Gott ein Mathematiker?“, in: ders., Organismus und Freiheit, S. 107–150. Ebd., S. 113. Ebd., S. 118. Ebd., S. 124. Ebd., S. 125. Ebd. Ebd., S. 127. Ebd., S. 128. Hier zeigt sich, wie treffend der Titel „Organismus und Freiheit“ Jonas’ Intention beschreibt. Ebd., S. 130. Ebd., S. 131. Ebd., S. 132. Ebd., S. 133. Ebd., S. 134. Ebd., S. 137. Ebd., S. 142. Die Frage, wie sich diese Finalität zur Kausalität ihres Hervorbringens verhält, kann Jonas nicht lösen: „Wie dieser Finalismus in derselben Welt mit der mechanischen Kausalität zusammengeht, deren Wirklichkeit ebensowenig geleugnet werden kann, ist ein Problem, das nicht dadurch zu lösen ist, daß man eine Evidenz (die Zielstrebigkeit) einem Theorem (der Ausschließlichkeit der causa
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efficiens), das durch Generalisierung von einer anderen Evidenz abgeleitet wurde, zum Opfer bringt, sondern, wenn überhaupt, nur dadurch, daß man es als das tief herausfordernde und noch vollkommen ungelöste Problem behandelt, das es ist. Auf jeden Fall ist die teleologische Anlage und Verhaltung des Organismus nicht just eine alternative Wahl der Beschreibung, sondern nach dem Zeugnis der einen organischen Gewahrheit eines jeden von uns die äußere Manifestation der Innerlichkeit der Substanz“ (ebd., S. 142). Ebd., S. 58 Ebd., S. 59. Ebd., S. 53. Die Teleologie ist nicht transzendent und auf einen Schöpfer zurückführbar. Vielmehr verdeutlicht sich die Teleologie des Lebendigen an der Richtung oder Bestimmung eines Organes, denn aus der rein mechanischen Kausalitätsanalyse läßt sich dessen Besonderheit und Eigentümlichkeit nicht ableiten: Die Vorgänge eines Auges in Konstruktion und Funktion darzulegen, ist sinnlos, wenn es nicht dem Sehen – als seinem telos – zugeschrieben wird. Diese Teleologie liegt in der Zweckhaftigkeit der Form, aber auch in dem Verhältnis der Teile zum Ganzen und der Funktionalität des Organismus vor (vgl. ebd., 137–141). Ebd., S. 130. Ebd., S. 340. Ebd., S. 341. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979, S. 55. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Ebd., S. 8. Ebd., S. 73f. Ebd., S. 74. Ebd. Ebd., S. 94. Ebd., S. 96. Ebd., S. 97. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. Ebd., S. 94.
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42 H. Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1985, S. 74. 43 „Obwohl also in aller kausalen Einzelerklärung das reduktive Naturschema sein Recht behält, so ist doch für das Ganze dahinter eine geheime Richtungstendenz zu ahnen, die auf etwas zielte, ein Anliegen, dem es um etwas ging. Wenn aber der Mensch berechtigt ist, in seinem Erkenntnisdrang und seinem Sittlichkeitsbemühen eine Kulmination dieser naturimmanenten Tendenz zu sehen, und zwar nicht aus Eitelkeit, sondern nach Kriterien der erkannten Lebensstufen selbst, die er in der Natur als Wegstationen einer Entwicklung findet, dann sieht er sich damit unter eine Seinsverpflichtung gestellt, als Mandatar sozusagen eines Wollens der Natur“ (ebd., S. 85). 44 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 100. 45 Ebd., S. 145. 46 „Aber möge immerhin der erste Anfang, das Zusammentreten zu organischen Molekülen, reiner Zufall gewesen sein, dem keine sich darin erfüllende Tendenz voranging […] – von da an jedenfalls wird Tendenz immer sichtbarer: und ich meine nicht nur Tendenz zur Evolution (die beliebig lange ruhen kann), sondern vor allem Tendenz des Daseins in ihren Erzeugnissen“ (ebd., S. 144). Oder in einer anderen Formulierung: „Das Werdegeheimnis selbst ist uns unzugänglich: so bleibt es eine Vermutung – für mich persönlich eine starke Hypothese –, daß schon das gründende Prinzip des Überganges von lebloser zu lebender Substanz eine so zu bezeichnende Tendenz in den Tiefen des Seins selber war“ (Jonas, Organismus und Freiheit, S. 130). 47 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 142. 48 Ebd., S. 150. 49 Ebd., S. 149. 50 „Der Erfolg der ‚existentialistischen’ Lesung der Gnosis lud zu einer quasi ‚gnostischen’ Lesung des Existentialismus und mit ihm des modernen Geistes ein. Da kam besonders der lange Umgang mit dem Dualismus einer Überprüfung der ganzen deutschen Bewußtseinsphilosophie zugute, in der ich erzogen war und die im Festhalten an der kartesianischen Trennung von Geist und Natur an einer eigentümlichen Weltlosigkeit litt“ (Jonas, Wissenschaft, S. 18). Während Organismus und Freiheit anhand des Sachverhaltes des
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Stoffwechsels die Weltbezogenheit des Lebens herausstellt, geht es im Prinzip Verantwortung um die Möglichkeit des zukünftigen Weltbezuges, um die „Weiterwohnlichkeit der Welt“.
Emidio Spinelli
Hans Jonas und das Problem der Freiheit 1
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Eine erste, gekürzte Version dieses Beitrags wurde anläßlich eines von Dietrich Böhler organisierten Kongresses zum Thema „Aspekte des Prinzips Mit-Verantwortung: Aktuelle Forschungsperspektiven im Anschluß an Hans Jonas und Karl-Otto Apel“ in Berlin vom 11. bis 14. Juli 2000 vorgetragen. Besonderer Dank gilt Dr. Brigitte Uhlemann, der Archivarin des „Philosophischen Archivs“ an der Universität Konstanz, für die beständige Unterstützung meiner Arbeit sowie meinem Freund Gereon Wolters, Direktor des „Philosophischen Archivs“, der mit mir den Inhalt dieses Artikels diskutiert und ihn teilweise ins Deutsche übersetzt hat. Mein Dank geht ferner an Frau Eleonore Jonas, die die Erlaubnis zur Publikation dieser und anderer Inedita von Hans Jonas gegeben hat. Das im „Philosophischen Archiv“ der Universität Konstanz aufbewahrte maschinenschriftliche Manuskript hat insgesamt 331 Seiten, die Vorträge sind unterschiedlich lang. Das Typoskript von 1970 besteht aus zwei Teilen, die die Signatur HJ 1-3-1 bzw. HJ 1-3-2 tragen. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß es unter den Materialien des Archivs auch noch eine frühere Version dieser Vorlesungen gibt, die Jonas unter dem gleichen Titel im Frühjahr 1966 gehalten hat. Ihr Typoskript (Signatur: HJ 1-15-6) umfaßt 355 Blätter. Seine größere Länge verdankt sich jedoch allein der Tatsache, daß zu Beginn und am Ende einiger Vorlesungen auch Fragen von Studenten oder Hörern des Kurses mit den entsprechenden Antworten von Jonas festgehalten wurden. Von diesen Hinzufügungen abgesehen, sind die beiden Texte jedoch im wesentlichen inhaltlich und vielfach sogar wörtlich identisch. Dennoch erscheint die Version von 1970 in vielen Fällen die Frucht einer Art Überarbeitung des früheren Kurses darzustellen, da sie Redundanzen und Wiederholungen beseitigt sowie überflüssige oder
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schwerfällige Übergänge oder Verbindungen zwischen verschiedenen Abschnitten des Textes glättet. In der Version von 1966 fehlen schließlich völlig die Argumentation stützende Textbelege oder Notizen sowie eine einführende Erklärung der Ziele des Kurses. Seit dem Beginn der fünfziger Jahren interessierte Jonas sich jedenfalls für das Thema der Beziehung zwischen „causality“ and „free will“, wie noch einmal ein unpubliziertes Manuskript zeigt: vgl. deshalb H. Jonas, „Causality and Free Will“ (Signatur: HJ 1-7-20). Im kurzen (nur neun Seiten umfassenden) Text dieser Konferenz, gehalten am 8.12.1950 (Carleton College, Ottawa/Canada), finden wir einige „Ur-Reflexionen“, die in einigen Fällen mit denen unserer Vorlesungen völlig und wörtlich identisch sind: vgl. dazu E. Spinelli, „Tra fisica ed etica. Causalità e libertà in Hans Jonas“, in: G. Galeazzi (Hg.), Filosofia e scienza nella società tecnologica. Alcune questioni epistemologiche, etiche e didattiche, Atti del Convegno nazionale della Società Filosofica Italiana, Ancona 25–27 aprile 2003 (im Druck). Vgl. HJ 1-3-4d. Für eine ausgewählte Anthologie einiger wichtigen philosophischen Positionen zum Thema der Freiheit vgl. A. Hatzenberger, La liberté, Paris 1999. H. Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1985, S. 316. Vgl. dazu auch V. Hösle, „Ontologie und Ethik bei Hans Jonas“, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, S. 105–125, bes. S. 105f. Für ein gelungenes autobiographisches Panorama der unterschiedlichen „Etappen“ der philosophischen Entwicklung von Jonas vgl. insbesondere H. Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen 1987 und ders., Erkenntnis und Verantwortung. Gespräch mit Ingo Hermann in der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“, hg. von I. Hermann, Göttingen 1991; ferner D. Böhler, „Hans Jonas – Stationen, Einsichten und Herausforderung eines Denklebens“, in: ders. (Hg.), Ethik für die Zukunft, S. 45–67. Als interessante Rekonstruktion, die den Begriff der Freiheit als Leitfaden des gesamten Jonasschen Werkes präsentiert, vgl. jetzt M.-G- Pinsart, Jonas et la liberté. Dimensions théologiques, ontologiques, éthiques et politiques, Paris 2002.
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H. Jonas, Augustinus und das paulinische Freiheitsproblem. Ein philosophischer Beitrag zur Genesis der christlich-abendländischen Freiheitsidee, Göttingen 1930 (2., neubearb. u. erw. Aufl.: Augustinus und das paulinische Freiheitsproblem. Eine philosophische Studie zum pelagianischen Streit, Göttingen 1965); ders., Der Begriff der Gnosis. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Philosophischen Fakultät der PhilippsUniversität zu Marburg, Göttingen 1930 (Teildruck); ders., Gnosis und spätantiker Geist. Teil 1. Die mythologische Gnosis, Göttingen 1934. 8 H. Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, hg. von C. Wiese, Frankfurt a.M. 1999, S. 16. 9 Das Buch wurde ursprünglich auf Englisch unter dem Titel The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology publiziert (New York 1963); der Titel der ersten deutschen Ausgabe (Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973) wurde zu Recht in der italienischen Übersetzung aus dem Jahre 1999 respektiert. Anders hingegen die neue deutsche Ausgabe, deren Titel Das Prinzip Leben (Frankfurt a.M. 1994) wegen seines offensichtlichen Versuchs einer Verbindung mit Das Prinzip Verantwortung (Frankfurt a.M. 1979) vielleicht einnehmender klingt, aber keinesfalls einschlägig ist, was Jonas’ Absichten und Kompositionsmotive betrifft. Hierzu vergleiche man die Überlegungen von Paolo Becchi in H. Jonas, Organismo e libertà. Verso una biologia filosofica, a cura di P. Becchi, Torino 1999, S. XXI. 10 Vgl. die lange Liste der Werke zum Thema Willensfreiheit in diesem Zeitraum, die von H. Ofstad im American Philosophical Quarterly zusammengestellt und ausführlich kommentiert wurde (Ofstad zitiert 223 Titel, erklärt aber, daß einige Aufsätze und kleinere Artikel nicht aufgenommen wurden); vgl. H. Ofstad, „Recent Work on the Free-Will Problem“, in: American Philosophical Quarterly 4 (1967), S. 179–207. 11 H. Jonas, Philosophical Essays. From Ancient Creed to Technological Man (1974), ND Chicago 1980, S. XVI (Übersetzung von C. Wiese). 12 Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 25f.; zu dieser Phase im Denken von Jonas vgl. jetzt die Reflexionen von D. J. Levy, Hans Jonas: The Integrity of Thinking, Columbia/London 2002,
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bes. S. 35–61 sowie von R. Globokar, Verantwortung für alles, was lebt. Von Albert Schweitzer und Hans Jonas zu einer theologischen Ethik des Lebens, Rom 2002, bes. S. 253–341. Die Seitenangaben in runden Klammern beziehen sich hier und im folgenden auf die Paginierung des Typoskripts. In die Zitate aus „Problems of Freedom“ sind z. T. Korrekturen oder Einfügungen von Jonas selbst sowie Hinzufügungen von mir eingeflossen, die den Text korrigieren und/oder besser verständlich machen sollen. Die deutsche Übersetzung der Zitate stammt von C. Wiese. Als italienische Übersetzung dieser vierten Vorlesung und einen ersten Kommentar dazu vgl. H. Jonas, Problems of Freedom, c. 4, in: Paradigmi 59 (2002), S. 149–164 und E. Spinelli, „Hans Jonas: libertà e determinismo nel mondo antico“, in: ebd., S. 165–181. Für eine erste Analyse der beiden Eröffnungskapitel von „Problems of Freedom“ vgl. E. Spinelli, „Hans Jonas: le radici greche del concetto di libertà“, in: Ragion Pratica 15 (2000), S. 65–74. HJ 1-3-4c. Zu dieser Problemstellung vgl. A. Dihle, The Theory of Will in Classical Antiquity, Berkeley/Los Angeles/London 1982. Als Gegenposition vgl. vor allem C. H. Kahn, „Discovering the Will. From Aristotle to Augustine“, in J. M. Dillon/A. A. Long (Hg.), The Question of „Eclecticism“. Studies in Later Greek Philosophy, Berkeley/Los Angeles/London 1988, S. 234–259; T. H. Irwin, „Who Discovered the Will?“, in: Philosophical Perspectives 6 (1992), S. 453–473; J. Mansfeld, „The Idea of the Will in Chrysippus, Posidonius, and Galen“, in J. J. Cleary (Hg.), Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy, Bd. VII (1991), Lanham/New York/London 1993, S. 107–145; zum Ursprung des „free-will concept“ vgl. auch M. Frede, „Introduction“, in: ders./G. Striker (Hg..), Rationality in Greek Thought, Oxford 1996, bes. S. 26–28. Vgl. auch HJ 1-3-4c. Man könnte vermuten, daß sich die Jonassche Beobachtung auch gegen die Hegelsche Konzeption einer allumfassenden „Geistesgeschichte“ richtet, die den Gedanken einer Entwicklung des Begriffs der Freiheit in der sogenannten Weltgeschichte verteidigt. Letztere soll in einer Art Stadium der Vollendung kulminieren, als welches, wie bekannt, in den Vorlesungen zur Philosophie der
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Geschichte das Christentum in den „germanischen Nationen“ identifiziert wird. Zur Erklärung dieses Punktes zitiert Jonas in seinem Notizblock – vgl. HJ 1-3-4c – die aristotelische Definition des freien Menschen (Metaphysik, I 2, 982b25: „wer lebt für sich und nicht [wie der Sklave] für andere“). Vgl. HJ 1-3-4b. Encyclopedia of Philosophy, Bd. 2, New York 1967, S. 359–73. Vgl. HJ 1-3-4c. Vgl. HJ 1-3-4d. Vgl. M. I. Finley, „Between Slavery and Freedom“, in: Comparative Studies in Society and History 6 (1963/64), S. 233–249. Vgl. bes. M. Pohlenz, Griechische Freiheit. Wesen und Werden eines Lebensideals, Heidelberg 1955. Vgl. K. Raaflaub, Die Entdeckung der Freiheit, Zur historischen Semantik und Gesellschaftsgeschichte eines politischen Grundbegriffes der Griechen, München 1985. Hier ist nur auf die theoretische Aporie zu verweisen, die hinter dieser Meinungsverschiedenheit liegt und die auch in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion jede Aufmerksamkeit verdient: auf den Konflikt zwischen zwei Auffassungen der Freiheit, einerseits als Willensfreiheit und andererseits als Handlungsfreiheit. Zu diesem Thema vgl. auch M. De Caro, „Libertà metafisica e responsabilità morale“, in: Paradigmi 567 (1999), S. 519–546. In diesen Zusammenhang könnte man vielleicht auch von einer Kontinuitätslinie sprechen, die von dieser Wertschätzung der Rolle der Sprache und dem absolut grundlegenden Gewicht, das Jonas ihr beimaß, bis hin zu seinen letzten Schriften und auch zu Kontexten führt, die stärker „metaphysisch“ ausgeprägt sind; vgl. etwa H. Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a.M. 1992, bes. S. 232f., Anm. 1 und S. 252ff. Trotz seiner Beteuerung, „das moderne Freiheitsproblem“ nicht im Detail behandeln zu wollen, verweist Jonas an dieser Stelle zu Recht auf den diesbezüglichen radikalen Perspektivenwechsel, der mit dem Auftreten der modernen Wissenschaft seit dem siebzehnten Jahrhundert begann: „Im System der modernen Naturwissenschaft wurde das Problem stattdessen eines der theoretischen Folgerichtigkeit und der Frage, ob die Vorstellung als solche irgendeinen
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Raum in der begrifflichen Ordnung einer kausalen Interpretation der Wirklichkeit besitzt. Die Antwort lautet dann: ‚nein’. Die Naturwissenschaft wähnt sich auf Grund ihrer eigenen Prinzipien gezwungen, die Möglichkeit der Freiheit in beiderlei Sinn, sei es dem äußeren oder dem inneren – als Vermögen, zu handeln, und als Vermögen, die eigenen Gedanken zu beherrschen, zu bestreiten. In der Sphäre des Äußeren nimmt diese Leugnung die Gestalt des physischen Mechanismus an, in der Sphäre des Inneren dagegen die Gestalt des psychologischen Determinismus“ (S. 30). Zu Jonas’ Beziehung mit der modernen Wissenschaft vgl. jetzt auch: R. Löw, „Zur Wiederbegründung der organischen Naturphilosophie durch Hans Jonas“, in: Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft, S. 68–79; C. Colpe, „Verdunkelung im ‚Buch der Natur’. Konsequenzen ökologischer Selbsterkenntnis aus dem Ende der Physikotheologie“, in: ebd., S. 80–104; F. J. Wetz, Hans Jonas zur Einführung, Hamburg 1994, bes. Kap. 4; Levy, Hans Jonas: The Integrity of Thinking, bes. Kap. 3 und 4; P. Becchi, „Hans Jonas: Der Philosoph und die Wissenschaft“, in: H. Burckhart/H. Gronke (Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, Würzburg 2002, S. 137–150. Um seine Rekonstruktion zu vollenden und gleichzeitig zu festigen, zitiert Jonas im zweiten Teil der zweiten Vorlesung (S. 31–48) einige Passagen aus Platons Staat (vgl. z.B. X, 617ff.) und vor allem aus dem dritten Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (vgl. insbesondere 1109b30, 36; 1110a4, 8, 11, 15, 20, 24, 26; 1110b1, 7, 9, mit sorgfältigen Hinweisen auf die Polemik gegen den ethischen Intellektualismus des Sokrates; 1111a21, 32; 1111b4; 1114a20) und liefert kurze Kommentare zu diesen Zitaten. Als interessante Rekonstruktion der komplexen und differenzierten These Droysens vgl. L. Canfora, Ellenismo, Roma/Bari 21995. Diese Ebenenverschiebung scheint in der Tat, wie Jonas unterstreicht, die Stoiker zu autorisieren, die Definition des Menschen als zoon politikon zugunsten der weiteren (und vielleicht auch unschärferen) Definition als zoon koinonikon (vgl. Diog. Laert. VII 123=SVF III 628; vgl. auch SVF III 629) zu korrigieren. Vgl. dazu vor allem die vortreffliche Monographie von S. Bobzien, Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, Oxford 1998.
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34 Vgl. noch einmal Spinelli, „Hans Jonas: libertà e determinismo nel mondo antico“, bes. S. 173–181. 35 Vgl. H. Jonas, „Fatalismus wäre Todsünde“, in: Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft, S. 455f.
Gertrude Hirsch Hadorn
Prinzip Verantwortung oder intergenerationelle Gerechtigkeit? Zur Position von Hans Jonas in der zukunftsethischen Debatte 1 2
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Vgl. Our Common Future, hg. von der World Commission on Environment and Development (WCED), Oxford 1987, S. 43. Vgl. B. Barry, „Sustainability and Intergenerational Justice“, in: A. Dobson (Hg.), Fairness and Futurity. Essays on Environmental Sustainability and Social Justice, Oxford 1999, S. 93–117. Vgl. Dobson (Hg.), Fairness and Futurity. Vgl. D. Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generation, Stuttgart 1988. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979, S. 36. Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 61ff. und S. 256ff; H. Jonas, „Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik“ (1986), in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 128–146. Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 7. Ebd., S. 7, 15ff., 26ff., 55, 70ff., 221ff.; vgl. Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1987. Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 80ff. Ebd., S. 91. Ebd., S. 11. H. Jonas, Erkenntnis und Verantwortung, Gespräch mit Ingo Hermann in der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“, hg. von I. Hermann. Göttingen 1991, S. 28.
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15 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), hg. von K. Vorländer, Hamburg 1965, S. 10. 16 G. Hirsch Hadorn, Umwelt, Natur und Moral. Ein Kritik an Hans Jonas, Vittorio Hösle und Georg Picht, Freiburg 2000, S. 57ff. 17 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 91. 18 H. Jonas, „Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik“ (1986), in: ders., Philosophische Untersuchungen, S. 128–146, hier: S. 131. 19 Ebd., S. 133. 20 Ebd., S. 132. 21 Ebd., S. 138f. 22 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 96. 23 Ebd., S. 98. 24 Ebd., S. 99. 25 Ebd., S. 100. 26 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. von Eugen Rolfes, hg. von Günther Bien, Hamburg 1985, 1098a7–16. 27 H. Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, S. 11. 28 Hirsch Hadorn, Umwelt, Natur und Moral, S. 134ff. 29 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 144f. 30 Ebd., S. 105. 31 Vgl. ebd., S. 160. 32 Ebd., S. 146. 33 Ebd., S. 161. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 148. 36 Jonas, „Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik“, S. 137. 37 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 153; vgl. auch ders., „Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik“, S. 132. 38 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 155. 39 M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 1979. 40 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 155f. 41 Vgl. auch ebd., S. 99. 42 Vgl. ebd., S. 392f.; Jonas, „Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik“, S. 146.
43 H. Jonas, „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ (1984), in: ders., Philosophische Untersuchungen, S. 190–208; ders., „Materie, Geist und Schöpfung“ (1988), in: ebd., S. 209–255. 44 Ebd., S. 245. 45 Ebd., S. 264. 46 Jonas, „Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik“, S. 132f. 47 Jonas, „Materie, Geist und Schöpfung“, S. 247. 48 Vgl. A. Gethmann-Siefert, „Ethos und metaphysisches Erbe. Zu den Grundlagen von Hans Jonas’ Ethik der Verantwortung“, in: H. Schnädelbach/G. Keil (Hg.), Philosophie der Gegenwart – Gegenwart der Philosophie, Hamburg 1993, S. 171–215, bes. S. 193ff. 49 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 334. 50 Vgl. Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 174ff., 184f., 232; ders., „Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik“, S. 130f. 51 Ebd., S. 131. 52 Ebd., S. 131f. 53 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 174f. 54 Ebd., S. 177ff. 55 Vgl. Jonas, „Materie, Geist und Schöpfung“, S. 230. 56 Ebd., S. 99. 57 H. Jonas, „Unsterblichkeit und heutige Existenz“, in: ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1963, S. 44–62, bes. S. 55–58. 58 Vgl. Jonas, Erkenntnis und Verantwortung, S. 50f. 59 H. Jonas, Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Ein philosophischer Beitrag zur Genesis der christlich-abendländischen Freiheitsidee, Göttingen 1930. 60 H. Jonas, „Heidegger und die Theologie“, in: G. Noller, (Hg.), Heidegger und die Theologie. Beginn und Fortgang der Diskussion, München 1967, S. 316–340, hier: S. 331. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 335f. 63 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 156. 64 Jonas, „Heidegger und die Theologie“, S. 335f. 65 Jonas, „Materie, Geist und Schöpfung“, S. 246.
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66 Vgl. K.-O. Apel, „Die ökologische Krise als Herausforderung für die Diskursethik“, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, S. 369–404, hier: S. 386. 67 Vgl. Birnbacher, Verantwortung; ders., „Verantwortung für künftige Generationen – Reichweite und Grenzen“, in: R. Mokrosch/A. Regenbogen (Hg.), Was heißt Gerechtigkeit? Ethische Perspektiven zu Erziehung, Politik und Religion, Donauwörth 1999, S. 62–81. 68 Vgl. A. Dobson (Hg.), Fairness and Futurity, passim. 69 Vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1979. 70 H. Frankfurt, „Gleichheit und Achtung“, in: A. Krebs (Hg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt a. M. 2000, S. 38–49, hier: S. 41. 71 Vgl. G. Hirsch Hadorn, „Verantwortungsbegriff und kategorischer Imperativ der Zukunftsethik von Hans Jonas“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 54 (2000), S. 218–237 (wiederabgedruckt in: W. E. Müller (Hg.), Hans Jonas. Von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik, Stuttgart 2003, S. 101–119). 72 I. Craemer-Ruegenberg, „Das Naturverständnis von Aristoteles“, in: L. Schäfer/E. Ströker (Hg.), Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft und Technik. Bd I: Antike und Mittelalter, Freiburg 1993, S. 85–106, hier: S. 101.
Michael Löwy
Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ versus Hans Jonas’ „Prinzip Verantwortung“1 1 2
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Aus dem Französischen von C. Wiese. Ich habe diese Unterhaltung im Anhang zu meinem Buch Pour une sociologie des intellectuels révolutionnaires. L’évolution politique de Lukács 1909–1929, Paris 1976, veröffentlicht. E. Bloch, Geist der Utopie, München/Leipzig 1918, S. 330f. Ebd., S. 319. Ebd., S. 323 und S. 331f. Vgl. dazu das schöne Buch von A. Münster, Figures de l’utopie chez Ernst Bloch, Paris 1985.
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E. Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Frankfurt a. M. 1985, S. 63f., S. 58, S. 228f. Hans Jonas wirft dem Marxismus überhaupt und speziell Bloch ihren Messianismus vor, ihre „säkularisierte Eschatologie“, ihren Chiliasmus und ihr maßloses Streben nach einer „Umwandlung des Menschen“, die aus seiner Sicht mit der Verweigerung einer „bloßen Verbesserung“ auf der Grundlage eines vernünftigen, effizienten „Reformprogramms“ einhergeht (H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979, S. 313–315, S. 386). Im Dezember 1956 schrieb das offizielle Parteiorgan Neues Deutschland, „Blochs Philosophie habe objektiv reaktionären politischen Zielsetzungen gedient“ (zit. nach A. Münsters Einführung in E. Bloch, Tagträume von aufrechtem Gang. Sechs Interviews mit E. Bloch, Frankfurt a. M. 1978, S. 11). Vgl. die Besprechung J. Zipes’ von W. Hudsons Buch The Marxist Philosophy of Ernst Bloch, New York 1982, in: Telos 58 (1983/84), S. 227–231. Zur fraglichen Seite vgl. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1959, hier: Bd. 2, S. 996f. Ebd., Bd. 1, S. 6. Ebd., S. 12. Ebd., S. 10. Ebd., S. 7. Ebd., S. 171. Ebd., Bd. 2, S. 861. Ebd., S. 869. Ebd., Bd. 3, S. 1413. Ebd., S. 1519. Ebd., Bd. 2, S. 598. Ebd., Bd. 3, S. 1616–1621. Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 386. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, S. 228 und Bd. 3, S. 1624. Th. W. Adorno, Noten zur Literatur, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1971, S. 150. Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 370. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, S. 814. Ebd., S. 783. Ebd., S. 807. Ebd., S. 813.
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Anmerkungen
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28 Vgl. J. Habermas, „Ernst Bloch. Ein marxistischer Schelling“, in: ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a. M. 31984., S. 141–159. 29 Vgl. die ziemlich fragwürdige Passage über „Bacons ars inveniendi“, in: Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, S. 758–763.
20 K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a. M. 1988, S. 179–216. 21 Ebd., S. 184f. 22 Ebd., S. 185. 23 H. Jonas, „Naturwissenschaft versus Natur-Verantwortung. Hans Jonas im Gespräch mit Eike Gebhardt“, in: Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft, S. 197–212, hier: S. 210. 24 Aus der Berliner Begegnung mit Hans Jonas ist der bereits zitierte Band Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas hervorgegangen. In ihm tritt das reflexive Denken des Diskurses und der Diskursethik in einen Dialog mit Jonas’ phänomenologisch-metaphysischem Denken. 25 Jonas, „Naturwissenschaft versus Natur-Verantwortung“, S. 210f. 26 Für eine Einführung dieser Problemstellung (nach Max Weber und Hans Jonas) vgl. D. Böhler, „Das Dilemma von moralischer Zukunftsverantwortung und pragmatisch-politischer Erfolgsverantwortung“, in: ders./R. Neuberth (Hg.), Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren, Münster, 1992, S. 57–61. Vgl. die Erörterung des Problems in: Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft, S. 259, Fn. 28, S. 309, 329f. und 425ff.; vgl. ders., „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“, in: Th. Bausch/ D. Böhler u. a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft, Berlin 2000 (Ethik und Wirtschaft im Dialog 3), hier bes. S. 63ff. 27 Den aktuellen Forschungsstand der Diskurspragmatik bündelt der Band von H. Burckhart/H. Gronke (Hg.) Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, Würzburg 2002. 28 D. Böhler, „Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung“, in: K.-O. Apel/M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht, Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1992, S. 201–231; ders., „Menschenwürde und Diskursethik. Nachwort“, in: Th. Rusche (Hg.), Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik, Münster 2002 (Ethik und Wirtschaft im Dialog 4), hier: S. 247ff. 29 Vgl. D. Böhler, „Studieneinheit 26: Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit“, in: ders./K.-O. Apel, Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik, Bd. 3, Weinheim/Basel 1984, S. 845–886. 30 Vgl. Gronke, „Epoché der Utopie“, S. 416f.
Dietrich Böhler/Horst Gronke
In dubio pro responsabilitate. Die Orientierungskraft des Verantwortungsprinzips im ökologischen und bioethischen Diskurs 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
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H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979, S. 27. Ebd., S. 23ff. Ebd., S. 28. Ebd. Ebd,, S, 64. Ebd., S. 63ff. Ebd., S. 65, 63. Ebd., S. 65. Ebd. Ebd., S. 77. Ebd., S. 76. Ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Ebd., S. 79. Ebd. S. 316ff. Unter einer Aufhebungsperspektive wird Jonas’ Utopiekritik diskutiert in H. Gronke, „Epoché der Utopie. Verteidigung des ‚Prinzips Verantwortung’ gegen seine liberalen Kritiker, seine konservativen Bewunderer und gegen Hans Jonas selbst“, in D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, S. 407–427. Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 91f. Ebd., S. 89. Ebd., S. 36. Ebd., S. 90f.
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Anmerkungen
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31 Apel, Diskurs und Verantwortung, S. 196. 32 Vgl. M. Werner, „Dimensionen der Verantwortung. Ein Werkstattbericht zur Zukunftsethik von Hans Jonas“, in: Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft, S. 332, vgl. S. 314–318. 33 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 235. 34 J. P. Brune, „Menschenwürde und Potentialität: Eine diskursethische Skizze“, in: Burckhart/Gronke (Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs, S. 425–446, bes. S. 443. 35 Zur Ableitung des Verantwortungsgrundsatzes als Orientierungsrichtschnur unter harten Realitätsbedingungen: H. Gronke, „Apel versus Habermas. Zur Architektonik der Diskursethik“, in: A. Dorschel u. a. (Hg.), Transzendentalpragmatik, Frankfurt a. M. 1993, S. 273–296. 36 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 78. 37 H. Jonas, Technik. Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1985, Kap. 6 bis 11. Vgl. auch ders., „Brief an Hans-Bernhard Würmeling“ (1992), in: J. Hoff/J. in der Schmitten (Hg.) Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium, Reinbek 1994, S. 21ff. 38 Jonas, Technik, Medizin und Ethik, S. 233 39 Es gibt natürlich auch bei der Bestimmung des Kreises möglicher Anspruchssubjekte, denen gegenüber wir unbedingt zur responsorischen Verantwortung verpflichtet sind, und bei der Bestimmung, in welchem Grade wir es sind, eine Grenze des Wissens. Unter diesem Vorbehalt ließe sich ein vielversprechender Vorschlag von Gunnar Skirbekk aufgreifen und dessen dialogreflexive Vertiefung durch Jens Peter Brune berücksichtigen, den sinnvollen und gebotenen Anwendungsbereich des Menschenwürde- und des Lebensschutzgebotes abzustecken (G. Skirbekk, „Ethischer Gradualismus: jenseits von Anthropozentrismus und Biozentrismus?“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), S. 419–434; ders., „Verantwortungspflichten – Wem gegenüber?“, in: Burckhart/ Gronke (Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs, S. 407–424; vgl. J. P. Brune, „Menschenwürde und Potentialität“, in: ebd., bes. S. 432ff.). Beide Autoren diskutieren Potentialitätsüberlegungen anhand des Dialog-Verantwortungsgrundsatzes. Zu prüfen ist dann, ob die Behauptung, wir hätten eine Verantwortungspflicht gegenüber Wesen, die zwar überhaupt keine Ansprüche vorbringen können
(wie etwa ein dauerhaft Bewußtloser) aber doch die Naturanlage zur Dialogfähigkeit mitbringen (also die Möglichkeit der Möglichkeit), sich durch einen sinnvollen Dialogbeitrag zurückweisen läßt oder nicht. Wenn nämlich nicht, dann gilt absolut: „Auch das der Menschengattung zugehörige aber z. B. dauerhaft bewußtlose Wesen W, auch ein der Menschengattung zugehören könnender Foetus F ist aufgrund seiner natürlichen Anlage (physisches In-MöglichkeitSein) als möglicher Dialogteilnehmer anzuerkennen und daher als gleichberechtigtes Anspruchssubjekt, dem die jetzt Diskursfähigen Rechtfertigung schulden, so daß sie ihm Lebensschutz und Achtung der menschlichen Würde zuteil werden lassen.“ 40 Jonas, Technik, Medizin und Ethik, S. 199. 41 Ebd., S. 200.
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Autorinnen und Autoren
Autorinnen und Autoren
Dietrich Böhler, geboren 1942, Professor für praktische Philosophie und Ethik an der Freien Universität Berlin und Direktor des dortigen HansJonas-Zentrums. Veröffentlichungen u.a.: Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion (Frankfurt a. M. 1985); Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas (Hg., München 1994); Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel (Frankfurt a. M. 2003). Micha Brumlik, geboren 1947, Direktor des Fritz-Bauer-Instituts und Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt am Main. Veröffentlichungen u.a.: Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen (Frankfurt a. M. 1992); Deutscher Geist und Judenhaß. Das Verhalten des philosophischen Idealismus zum Judentum (München 2000); Vernunft und Offenbarung. Religionsphilosophische Versuche (Berlin 2001); Bildung und Glück. Versuch einer Theorie der Tugenden (Berlin 2002). Joseph Dan, geboren ****, Gershom-Scholem-Professor für Kabbalah an der Hebräischen Universität Jerusalem. Veröffentlichungen u.a.: Ancient Jewish Mysticism (Tel Aviv 1977); Gershom Scholem and the Mystical Dimension of Jewish History (New York 1986); Jewish Mysticism and Jewish Ethics (Seattle/London 1986); Jewish Mysticism (2 Bde., Northvale, NJ/London 1998); The „Unique Cherub“ Circle. A School of Mystics and Esoterics in Medieval Germany (Tübingen 1999). Horst Gronke, geboren 1955, 1996–2002 wiss. Assistent am Lehrstuhl Praktische Philosophie der Freien Universität Berlin, seit 2002 Coaching, Training und Beratung für Dialog – Kommunikation – Neue Sokratik (pro argumentis). Veröffentlichungen u.a.: Das Denken des Anderen. Führt die Selbstaufhebung von Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität zur transzendentalen Sprachpragmatik? (Würzburg 1999); Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung (Hg., Würzburg, 2001); Philosophieren aus dem Diskurs (mit H. Burckhart, Würzburg 2002).
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Hans Hermann Henrix, geboren 1941, Direktor der Katholischen Akademie Aachen, Vorsitzender des Leiterkreises der Katholischen Akademien in Deutschland und Konsultor der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum beim Päpstlichen Rat für die Einheit der Christen. Veröffentlichungen u.a.: Verantwortung für den Anderen – und die Frage nach Gott. Zum Werk von Emmanuel Levinas (Aachen 1984); Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945 bis 1985 (Hg. mit R. Rendtorff, Paderborn/München 32001); Die Kirchen und das Judentum. Band II: Dokumente von 1986 bis 2000 (Hg. mit W. Kraus, Paderborn/Gütersloh 2001). Gertrude Hirsch Hadorn, geboren ****, wissenschaftliche Adjunktin am Departement für Umweltnaturwissenschaften der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und Lehrbeauftragte für Philosophie an der Universität Konstanz. Veröffentlichungen u.a.: Umwelt, Natur und Moral. Eine Kritik an Hans Jonas, Vittorio Hösle und Georg Picht (Freiburg/München 2000). Vittorio Hösle, geboren 1960, Paul-Kimball-Professor of Arts and Letters an der University of Notre Dame, USA. Veröffentlichungen u.a.: Wahrheit und Geschichte (Stuttgart/Bad Cannstatt 1984); Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und Probleme der Intersubjektivität (München 1987); Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie (München 1990); Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge (München 1991); Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert (München 1997); Woody Allen. Versuch über das Komische (München 2001). Eric Jacobson, geboren 1969, Dozent für Judaistik an der Universität von Sussex und Leiter des dortigen Programms für Critical Religous Studies. Veröffentlichungen u.a.: Metaphysics of the Profane. The Political Theology of Walter Benjamin and Gershom Scholem (New York 2003). David J. Levy, geboren ****, Gastprofessor für Sozialtheorie und Philosophie an der Middlesex University in London. Veröffentlichungen u.a.: Political Order. Philosophical Anthropology, Modernity, and the Challenge of Ideology (Baton Rouge, LO 1987); The Measure of Man. Incur-
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Autorinnen und Autoren
Autorinnen und Autoren
sions in Philosophical and Political Anthropology (St. Albans 1993); Hans Jonas. The Integrity of Thinking (London 2002).
(Napoli 1995); Sesto Empirico. Contro gli astrologi (Napoli 2000); I filosofi antichi nel pensiero del Novecento (Hg., Napoli 1998); H. Jonas, La domanda senza risposta. Alcune riflessioni su scienza, ateismo e la nozione di Dio (Hg., Genova 2001).
Konrad Paul Liessmann, geboren 1953, Professor der Philosophie an der Universität Wien. Veröffentlichungen u.a.: Philosophie des verbotenen Wissens. Friedrich Nietzsche und die schwarzen Seiten des Denkens (Wien 2000); Günther Anders. Philosophieren im Zeitalter der technologischen Zivilisation (München 2002); Kitsch oder warum der schlechte Geschmack der eigentlich gute ist (Wien 2002). Michael Löwy, geboren 1938, Forschungsdirektor des Pariser Centre National de la Recherche Scientifique und Gastdozent an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris. Veröffentlichungen u.a.: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft (Berlin 1997); Avertissement d’incendie. Walter Benjamin (Paris 2001); Romanticism against the Tide of Modernity (mit R. Sayre, Durham, NC 2001). Wolfgang Erich Müller, geboren 1947, Professor für Systematische Theologie an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen u.a.: Der Begriff der Verantwortung bei Hans Jonas (Frankfurt a. M. 1988); Evangelische Ethik (Darmstadt 2001); Argumentationsmodelle der Ethik. Positionen philosophischer, katholischer und evangelischer Ethik (Stuttgart 2003); Hans Jonas – von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik (Hg., Stuttgart 2003).
Christian Wiese, geboren 1961, wiss. Assistent am Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Erfurt. Veröffentlichungen u.a. Wissenschaft des Judentums und Protestantische Theologie im Wilhelminischen Deutschland. Ein „Schrei ins Leere“? (Tübingen 1999); H. Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes (Hg., Frankfurt a. M. 1999); H. Jonas, Erinnerungen (Hg. nach Gesprächen mit R. Salamander, Frankfurt a. M. 2003); Hans Jonas. „Zusammen Philosoph und Jude“ (Frankfurt a. M. 2003). Gereon Wolters, geboren ****, Professor für Philosophie und Geschichte der Wissenschaften an der Universität Konstanz; Veröffentlichungen u.a.: Basis und Deduktion. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Methode bei J. H. Lambert (1728–1777) (Berlin 1980); Mach I, Mach II, Einstein und die Relativitätstheorie. Eine Fälschung und ihre Folgen (Berlin 1987); Concepts, Theories and Rationality in the Biological Sciences (Hg., Konstanz 1995).
Kurt Rudolph, geboren 1929, em. Professor für Religionswissenschaften an der Universität Marburg. Veröffentlichungen u.a.: Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion (Göttingen 31990); Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft (Leiden 1992); Gnosis und spätantike Religionsgeschichte. Gesammelte Aufsätze (Leiden 1996); H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Zweiter Teil: Von der Mythologie zur mystischen Philosophie (Hg., Göttingen 1993). Emidio Spinelli, geboren 1960, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der „Sezione Pensiero Antico-ILIESI/CNR, Roma“ und Professor mit Lehrauftrag für Geschichte der antiken Philosophie in Rom (Università „La Sapienza“). Veröffentlichungen u.a.: Sesto Empirico. Contro gli etici
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