Weisheit 9783170224247, 9783170290204, 9783170290211, 9783170290228, 3170224247

Erstmals führt der vorliegende Kommentar alle Aspekte zusammen, die für die Interpretation dieser Spätschrift des Alten

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German Pages 559 Year 2018

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Table of contents :
Deckblatt
Titelseite
Inhalt
Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber
Vorwort des Autors
Einleitung
Ein einzigartiges Buch
Text und Übersetzungen
Die Einheit des Buches
Die literarische Struktur
Sprache und Stil
Sprache
Stil
Die literarische Gattung: zwischen genus epideiktikon und Midrasch
Das Buch der Weisheit: ein Protrepticus
Das Buch der Weisheit: ein Enkomion
Der midraschartige Stil
Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung
Verfasser
Datierung
Ort der Abfassung
Das Buch der Weisheit und die Schrift
Das Buch der Weisheit und die frühjüdische Tradition
Das Buch der Weisheit und der Hellenismus
Das Buch der Weisheit und die christliche Überlieferung
Die Beziehungen zum Neuen Testament
Das Problem der Kanonizität und die Verwendung des Buches im christlichen Altertum
Einleitung zum ersten Buchteil (Weish 1,1 - 6,25)
Literarische Struktur
Die literarische Gattung: Weish 1-6 und das Enkomion
Weish 1,1-15: Liebt die Gerechigkeit!
Zur literarischen Struktur von Weish 1,1-15
Weish 1,1-5: Gerechtigkeit, Weisheit und Geist
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 1,6-10: Die Weisheit ist ein menschenfreundlicher Geist
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 1,11-12: Sucht nicht den Tod!
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 1,13-15: Gott hat den Tod nicht erschaffen!
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 1,1-15
Weish 1,16 - 2,24: Die Gottlosen rufen den Tod mit Händen und Worten herbei
Zur literarischen Struktur von Weish 1,16 - 2,24
Weish 1,16 - 2,5: Der Tod als Verbündeter und als Schicksal - Das Leben ist sinnlos
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 2,6-9: Lasst uns das Leben genießen!
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 2,10-16: Lasst uns den Gerechten unterdrücken!
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 2,17-20: Wir wollen sehen, ob der Gerechte Sohn Gottes ist!
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 2,21-24: Die Geheimnisse Gottes
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 1,16 - 2,24: Die Identität der Gottlosen und die der Gerechten
Weish 3-4: Gerechte und Gottlose zwischen Leben und Tod: Vier Gegenüberstellungen
Zur literarischen Struktur von Weish 3-4
Erstes Diptychon: Das Schicksal der Gerechten gegenüber dem der Gottlosen (Weish 3,1-12)
Weish 3,1-9: Die Gerechten sind in der Hand Gottes und werden Völker richten
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 3,10-12. Die Gottlosen und ihre Nachkommenschaft
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Zweites Diptychon: die Kinderlose, der Eunuch und die Unfruchtbarkeit der Gottlosen (Weish 3,13-19)
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
3,13-15: Seligpreisung der Kinderlosen und des Eunuchen
3,16-19: Die Kinder der Gottlosen
Diachrone Analyse
Drittes Diptychon: Tugend und Kinder (Weish 4,1-6)
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Viertes Diptychon: Der vorzeitige Tod des Gerechten und der traurige Tod der Gottlosen (Weish 4,7-20)
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
4,7-16: Der zu frühe Tod des Gerechten
4,17-20: Der traurige Tod des Gottlosen
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 3-4
Weish 5: Abschließende Gegenüberstellung von Gerechten und Gottlosen vor dem Hintergrund des Kosmos
Zur literarischen Struktur von Weish 5
Weish 5,1-3: Einleitung in die zweite Rede der Gottlosen
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 5,4-13: Die Rede der Gottlosen
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 5,14-23: Die vergebliche Hoffnung der Gottlosen und das selige Geschick der Gerechten; der Kosmos als Verbündeter Gottes
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 5
Weish 6,1-21: Neue Mahnung an die Adressaten des Buches
Zur literarischen Struktur von Weish 6
Weish 6,1-11: Hört, ihr Könige!
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 6,12-21: Die Weisheit geht auf die Suche nach denen, die sie suchen
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 6,22-25: Ich werde euch darlegen, was die Weisheit ist
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 6
Einleitung zum zweiten Buchteil (Weish 7-9)
Weish 7-8: Das Lob der Weisheit
Zur literarischen Struktur von Weish 7-8
Weish 7,1-6: Die Schwachheit "Salomos"
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 7,7-12: Die Weisheit lieben
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 7,13-22a: Die Gaben der Weisheit
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 7,22b-8,1: Das Wesen der Weisheit
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Die theologische Bedeutung von Weish 7,22b-23 im Blick auf seine Quellen
Weish 8,2-9: Die Weisheit als Braut, Freundin und Ratgeberin
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
8,2-4: Die Weisheit, Freundin und Ratgeberin
8,5-8: Die Weisheit übertrifft jedes Gut
Diachrone Analyse
Weish 8,10-16: Erwartungen und Hoffnungen Salomos
Synchrone Analyse
8,10-12: Die von der Weisheit angebotenen Gaben
8,13: Die Gabe der Unsterblichkeit
8,14-16: Die Weisheit und die Kunst der guten Regierung
Diachrone Analyse
Weish 8,17-21: Beten, um die Weisheit zu erlangen
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 7-8
Weish 9: Das Gebet zur Erlangung der Weisheit
Zur literarischen Struktur von Weish 9
Erste Strophe: Die Weisheit, die Schöpfung und die menschliche Schwachheit (Weish 9,1-6)
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Zweite Strophe: Die Weisheit und Gott (Weish 9,7-12)
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Isis und die Weisheit
Dritte Strophe: Die Weisheit, der Wille Gottes und das Heil (Weish 9,13-18)
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 9
Einleitung zum dritten Buchteil (Weish 10-19)
Weish 10: Das Wirken der Weisheit in der Geschichte von Adam bis Mose
Zur literarischen Struktur und zur Gattung von Weish 10
Weish 10,1-4: Adam, Kain und Abel, Noah
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 10,5-9: Abram; Lot und seine Frau
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 10,10-12: Jakob
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 10,13-14: Josef
Anmerkung zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 10,15-21: Mose
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 10
Weish 11,1-14: Die erste Gegenüberstellung
Zur literarischen Struktur von Weish 11,1-14
Weish 11,1-5: Einleitung zu den sieben Gegenüberstellungen
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 11,6-14: Erste Gegenüberstellung: Das in Blut verwandelte Wasser; das Wasser aus dem Felsen
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 11,15 - 12,27: Die Menschenliebe Gottes
Zur literarischen Struktur von Weish 11,15 - 12,27
Weish 11,15 - 12,2: Die Milde Gottes gegenüber Ägypten
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 12,3-21: Die Milde Gottes gegenüber den Kanaanäern und die Lehren daraus
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 12,22-27: Barmherzigkeit Gottes und Tierverehrung
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 11,15 - 12,27
Weish 13-15: Die Kritik am Götzendienst
Zur literarischen Struktur von Weish 13-15
Weish 13,1-9: Die Religion der Philosophen
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 13,10 - 15,13: Die Kritik an der Götzenverehrung
Weish 13,10-19: Die Entstehung eines Götzenbildes
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 14,1-10: Das Floß der Vorsehung
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 14,11-31: Ursprung und Folgen der Götzenverehrung
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
14,11-14: Die Unhaltbarkeit der Götzenbilder
14,15-21: Die Entstehung von Götzenbildern aus plötzlicher Trauer und aus dem Herrscherkult
14,22-31: Die Entstehung der Sittenlosigkeit
Diachrone Analyse
Weish 15,1-6: Die Treue Gottes, die Treue des Volkes
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 15,7-13: Die Torheit des Götzendienstes
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 15,14-19: Die Kritik der ägyptischen Tierverehrung
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 13-15
Weish 16: Drei Gegenüberstellungen: Gott bestraft und erweist Wohltaten; sein Wort ist Nahrung
Zur literarischen Struktur von Weish 16
Die zweite Gegenüberstellung: Die Tierplage und die Wachteln (Weish 16,1-4)
Zur literarischen Struktur von Weish 16,1-4
Text
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Die dritte Gegenüberstellung: Die eherne Schlange (Weish 16,5-14)
Zur literarischen Struktur von Weish 16,5-14
Text
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 16,5-14
Die vierte Gegenüberstellung: Hagel und Manna (Weish 16,15-29)
Zur literarischen Struktur von Weish 16,15-29
Der erste Teil des Diptychons: Weish 16,15.16-19.20-23
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Der zweite Teil des Diptychons: Weish 16,24-29
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 16,15-29
Weish 17,1 - 18,4: Die fünfte Gegenüberstellung: Finsternis und Licht
Zur literarischen Struktur von Weish 17,1 - 18,4
Weish 17,1-6: Eine Nacht der Angst
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 17,7-11: Die Zauberer und das Gewissen
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 17,12-15: Eine höllische Angst
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 17,16-21: Gefangene der Angst
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 18,1-4: Weisheit und Gesetz, Licht für die Welt
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von 17,1-18,4
Weish 18,5-25: Die sechste Gegenüberstellung: die Paschanacht
Zur literarischen Struktur von Weish 18,5-25
Weish 18,5-9: Die Paschanacht
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 18,10-13: Die Totenklage der Ägypter
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 18,14-19: Der strafende Logos
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 18,20-25: Die Prüfung der Israeliten und die Fürbitte Aarons
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 18,5-25
Weish 19,1-22: Die siebte Gegenüberstellung und die erneuerte Schöpfung
Zur literarischen Struktur von Weish 19
Weish 19,1-5: Die siebte Gegenüberstellung: Der Durchzug durch das Meer
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 19,6-12: Der Durchzug durch das Meer und die Schöpfung im Dienst der Kinder Gottes
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 19,13-17: Ägypter und Sodomiter: die Bürgerrechte der Juden in Alexandria
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Weish 19,18-21.22: Die erneuerte Schöpfung. Abschluss des Buches
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Diachrone Analyse
Synthese von Weish 19: Die Theologie von Kap. 19 und der Schluss des Buches der Weisheit
Verzeichnisse
Literatur
1. Kommentare
2. Sekundärliteratur zum Buch der Weisheit
3. Weitere Literatur
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Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament (IEKAT) Herausgegeben von: Walter Dietrich, David M. Carr, Adele Berlin, Erhard Blum, Irmtraud Fischer, Shimon Gesundheit, Walter Groß, Gary Knoppers, Bernard M. Levinson, Ed Noort, Helmut Utzschneider und Beate Ego (apokryphe/deuterokanonische Schriften)

Umschlagabbildungen: Oben: Teil einer viergliedrigen Bildleiste auf dem Schwarzen Obelisken Salmanassars III. (859–824 v. u. Z.), welche die Huldigung des israelitischen Königs Jehu (845–817 v. u. Z.; 2Kön 9f.) vor dem assyrischen Großkönig darstellt. Der Vasall hat sich vor dem Oberherrn zu Boden geworfen. Hinter diesem stehen königliche Bedienstete, hinter Jehu assyrische Offiziere sowie, auf den weiteren Teilbildern, dreizehn israelitische Lastträger, die schweren und kostbaren Tribut darbringen. © Z. Radovan/BibleLandPictures.com Unten links: Eines von zehn Reliefbildern an den Bronzetüren, die das Ostportal (die sog. Paradiespforte) des Baptisteriums San Giovanni in Florenz bilden, geschaffen 1424–1452 von Lorenzo Ghiberti (um 1378–1455): Ausschnitt aus der Darstellung ‚Adam und Eva‘; im Mittelpunkt steht die Erschaffung Evas: „Und Gott der HERR baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und brachte sie zu ihm.“ (Gen 2,22) Fotografiert von George Reader. Unten rechts: Detail der von Benno Elkan (1877–1960) geschaffenen Menora vor der Knesset in Jerusalem: Esra liest dem versammelten Volk das Gesetz Moses vor (Neh 8). Die Menora aus Bronze entstand 1956 in London und wurde im selben Jahr von den Briten als Geschenk an den Staat Israel übergeben. Dargestellt sind in insgesamt 29 Reliefs Themen aus der Hebräischen Bibel und aus der Geschichte des jüdischen Volkes.

Luca Mazzinghi

Weisheit

Verlag W. Kohlhammer

Aus dem Italienischen übersetzt von Helmut Engel.

1. Auflage 2018 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-022424-7 E-Book-Formate: pdf: ISBN 978-3-17-029020-4 epub: ISBN 978-3-17-029021-1 mobi: ISBN 978-3-17-029022-8 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt .................

15

Vorwort des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Ein einzigartiges Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Text und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einheit des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die literarische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die literarische Gattung: zwischen genus epideiktikon und Midrasch . . . . . Das Buch der Weisheit: ein Protrepticus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Buch der Weisheit: ein Enkomion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der midraschartige Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ort der Abfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Buch der Weisheit und die Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Buch der Weisheit und die frühjüdische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . Das Buch der Weisheit und der Hellenismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Buch der Weisheit und die christliche Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . Die Beziehungen zum Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem der Kanonizität und die Verwendung des Buches im christlichen Altertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 19 21 23 24 24 24 27 27 27 29 30 30 31 33 34 37 40 44 44

Einleitung zum ersten Buchteil (Weish 1,1 – 6,25) . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

Literarische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die literarische Gattung: Weish 1–6 und das Enkomion . . . . . . . . . . . . . . . .

48 49

Weish 1,1–15: Liebt die Gerechigkeit! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Zur literarischen Struktur von Weish 1,1–15 . . . . . . . . . . . Weish 1,1–5: Gerechtigkeit, Weisheit und Geist . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 1,6–10: Die Weisheit ist ein menschenfreundlicher Geist Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 1,11–12: Sucht nicht den Tod! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . .

51 52 52 53 58 60 60 61 64 66 67

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

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6 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 1,13–15: Gott hat den Tod nicht erschaffen! Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von Weish 1,1–15 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

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67 70 70 70 72 74

Weish 1,16 – 2,24: Die Gottlosen rufen den Tod mit Händen und Worten herbei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

Zur literarischen Struktur von Weish 1,16 – 2,24 . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Weish 1,16 – 2,5: Der Tod als Verbündeter und als Schicksal – Das Leben ist sinnlos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Weish 2,6–9: Lasst uns das Leben genießen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Weish 2,10–16: Lasst uns den Gerechten unterdrücken! . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Weish 2,17–20: Wir wollen sehen, ob der Gerechte Sohn Gottes ist! . . . . . . 92 Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Weish 2,21–24: Die Geheimnisse Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Synthese von Weish 1,16 – 2,24: Die Identität der Gottlosen und die der Gerechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Weish 3–4: Gerechte und Gottlose zwischen Leben und Tod: Vier Gegenüberstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Zur literarischen Struktur von Weish 3–4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstes Diptychon: Das Schicksal der Gerechten gegenüber dem der Gottlosen (Weish 3,1–12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 3,1–9: Die Gerechten sind in der Hand Gottes und werden Völker richten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 3,10–12. Die Gottlosen und ihre Nachkommenschaft . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 105 . 109 . . . . . . .

109 110 112 116 121 121 121

7

Inhalt

Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Diptychon: die Kinderlose, der Eunuch und die Unfruchtbarkeit der Gottlosen (Weish 3,13–19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3,13–15: Seligpreisung der Kinderlosen und des Eunuchen . . . . . . . . . . 3,16–19: Die Kinder der Gottlosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drittes Diptychon: Tugend und Kinder (Weish 4,1–6) . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viertes Diptychon: Der vorzeitige Tod des Gerechten und der traurige Tod der Gottlosen (Weish 4,7–20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4,7–16: Der zu frühe Tod des Gerechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4,17–20: Der traurige Tod des Gottlosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von Weish 3–4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122 123 123 125 125 127 128 130 130 132 134 136 137 139 139 142 144 148

Weish 5: Abschließende Gegenüberstellung von Gerechten und Gottlosen vor dem Hintergrund des Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Zur literarischen Struktur von Weish 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 5,1–3: Einleitung in die zweite Rede der Gottlosen . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 5,4–13: Die Rede der Gottlosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 5,14–23: Die vergebliche Hoffnung der Gottlosen und das selige Geschick der Gerechten; der Kosmos als Verbündeter Gottes . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von Weish 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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150 151 152 152 154 154 155 157 161

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163 164 165 169 171

Weish 6,1–21: Neue Mahnung an die Adressaten des Buches . . . . . . . . . 173 Zur literarischen Struktur von Weish 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 6,1–11: Hört, ihr Könige! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 6,12–21: Die Weisheit geht auf die Suche nach denen, die sie suchen Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173 175 176 176 180 183 183

8 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 6,22–25: Ich werde euch darlegen, was die Weisheit ist Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von Weish 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

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184 187 188 188 189 191 192

Einleitung zum zweiten Buchteil (Weish 7–9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Weish 7–8: Das Lob der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Zur literarischen Struktur von Weish 7–8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 7,1–6: Die Schwachheit „Salomos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 7,7–12: Die Weisheit lieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 7,13–22a: Die Gaben der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 7,22b-8,1: Das Wesen der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die theologische Bedeutung von Weish 7,22b-23 im Blick auf seine Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 8,2–9: Die Weisheit als Braut, Freundin und Ratgeberin . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8,2–4: Die Weisheit, Freundin und Ratgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8,5–8: Die Weisheit übertrifft jedes Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 8,10–16: Erwartungen und Hoffnungen Salomos . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8,10–12: Die von der Weisheit angebotenen Gaben . . . . . . . . . . . . . . . . 8,13: Die Gabe der Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8,14–16: Die Weisheit und die Kunst der guten Regierung . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 8,17–21: Beten, um die Weisheit zu erlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von Weish 7–8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

196 199 199 200 201 203 204 204 206 208 208 210 213 216 217 218 222 226 231 232 232 232 235 237 240 240 240 242 242 243 245 246 246 250 253

9

Inhalt

Weish 9: Das Gebet zur Erlangung der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Zur literarischen Struktur von Weish 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Strophe: Die Weisheit, die Schöpfung und die menschliche Schwachheit (Weish 9,1–6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweite Strophe: Die Weisheit und Gott (Weish 9,7–12) . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Isis und die Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dritte Strophe: Die Weisheit, der Wille Gottes und das Heil (Weish 9,13–18) Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von Weish 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

255 257 257 257 260 261 262 266 267 269 269 270 273 277

Einleitung zum dritten Buchteil (Weish 10–19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Weish 10: Das Wirken der Weisheit in der Geschichte von Adam bis Mose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Zur literarischen Struktur und zur Gattung Weish 10,1–4: Adam, Kain und Abel, Noah . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 10,5–9: Abram; Lot und seine Frau . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 10,10–12: Jakob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 10,13–14: Josef . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkung zu Text und Übersetzung . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 10,15–21: Mose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von Weish 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

von Weish 10 ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ...........

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282 284 285 286 288 288 289 290 291 292 292 293 296 296 296 297 298 299 299 302 305

Weish 11,1–14: Die erste Gegenüberstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Zur literarischen Struktur von Weish 11,1–14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Weish 11,1–5: Einleitung zu den sieben Gegenüberstellungen . . . . . . . . . . . 307 Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

10 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 11,6–14: Erste Gegenüberstellung: Das in Blut verwandelte Wasser; das Wasser aus dem Felsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

. . 308 . . 309 . . . .

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310 310 311 313

Weish 11,15 – 12,27: Die Menschenliebe Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Zur literarischen Struktur von Weish 11,15 – 12,27 . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 11,15 – 12,2: Die Milde Gottes gegenüber Ägypten . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 12,3–21: Die Milde Gottes gegenüber den Kanaanäern und die Lehren daraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 12,22–27: Barmherzigkeit Gottes und Tierverehrung . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von Weish 11,15 – 12,27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

314 316 317 319 324 328 329 331 337 340 340 341 342 343

Weish 13–15: Die Kritik am Götzendienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Zur literarischen Struktur von Weish 13–15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 13,1–9: Die Religion der Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 13,10 – 15,13: Die Kritik an der Götzenverehrung . . . . . . . . . . . . . . . Weish 13,10–19: Die Entstehung eines Götzenbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 14,1–10: Das Floß der Vorsehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 14,11–31: Ursprung und Folgen der Götzenverehrung . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14,11–14: Die Unhaltbarkeit der Götzenbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14,15–21: Die Entstehung von Götzenbildern aus plötzlicher Trauer und aus dem Herrscherkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14,22–31: Die Entstehung der Sittenlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

345 349 349 351 355 358 358 359 360 362 363 363 364 367 370 371 372 372 374 376

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Inhalt

Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 15,1–6: Die Treue Gottes, die Treue des Volkes . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 15,7–13: Die Torheit des Götzendienstes . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 15,14–19: Die Kritik der ägyptischen Tierverehrung Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von Weish 13–15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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381 385 385 386 388 389 390 391 393 395 396 396 397 398

Weish 16: Drei Gegenüberstellungen: Gott bestraft und erweist Wohltaten; sein Wort ist Nahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Zur literarischen Struktur von Weish 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zweite Gegenüberstellung: Die Tierplage und die Wachteln (Weish 16,1–4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur literarischen Struktur von Weish 16,1–4 . . . . . . . . . . . . . . Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die dritte Gegenüberstellung: Die eherne Schlange (Weish 16,5–14) Zur literarischen Struktur von Weish 16,5–14 . . . . . . . . . . . . . Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von Weish 16,5–14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vierte Gegenüberstellung: Hagel und Manna (Weish 16,15–29) Zur literarischen Struktur von Weish 16,15–29 . . . . . . . . . . . . Der erste Teil des Diptychons: Weish 16,15.16–19.20–23 . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der zweite Teil des Diptychons: Weish 16,24–29 . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von Weish 16,15–29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . 400 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Weish 17,1 – 18,4: Die fünfte Gegenüberstellung: Finsternis und Licht

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401 401 402 402 403 405 406 406 406 407 409 415 419 420 420 421 422 422 425 427 427 428 429 431 432

Zur literarischen Struktur von Weish 17,1 – 18,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Weish 17,1–6: Eine Nacht der Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434

12 Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 17,7–11: Die Zauberer und das Gewissen . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 17,12–15: Eine höllische Angst . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 17,16–21: Gefangene der Angst . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 18,1–4: Weisheit und Gesetz, Licht für die Welt Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von 17,1–18,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

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Weish 18,5–25: Die sechste Gegenüberstellung: die Paschanacht . . . . . . 462 Zur literarischen Struktur von Weish 18,5–25 . . . . . . . . . . . . . . Weish 18,5–9: Die Paschanacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 18,10–13: Die Totenklage der Ägypter . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 18,14–19: Der strafende Logos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 18,20–25: Die Prüfung der Israeliten und die Fürbitte Aarons Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von Weish 18,5–25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Weish 19,1–22: Die siebte Gegenüberstellung und die erneuerte Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Zur literarischen Struktur von Weish 19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 19,1–5: Die siebte Gegenüberstellung: Der Durchzug durch das Meer Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 483 486 . 486 . 487 . 490

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Inhalt

Weish 19,6–12: Der Durchzug durch das Meer und die Schöpfung im Dienst der Kinder Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 19,13–17: Ägypter und Sodomiter: die Bürgerrechte der Juden in Alexandria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weish 19,18–21.22: Die erneuerte Schöpfung. Abschluss des Buches . . . . . . Anmerkungen zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese von Weish 19: Die Theologie von Kap. 19 und der Schluss des Buches der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

492 492 493 496 499 500 501 503 506 507 507 510 513

Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärliteratur zum Buch der Weisheit 3. Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlagwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis griechischer Wörter . . . . . . . . . Bibelstellenverzeichnis (in Auswahl) . . . . . . Außerbiblische Quellen (in Auswahl) . . . . .

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Editionsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber Der Internationale Exegetische Kommentar zum Alten Testament (IEKAT) möchte einem breiten internationalen Publikum – Fachleuten, Theologen und interessierten Laien – eine multiperspektivische Interpretation der Bücher des Alten Testaments bieten. Damit will IEKAT einer Tendenz in der gegenwärtigen exegetischen Forschung entgegenwirken: dass verschiedene Diskursgemeinschaften ihre je eigenen Zugänge zur Bibel pflegen, sich aber gegenseitig nur noch partiell wahrnehmen. IEKAT möchte eine Kommentarreihe von internationalem Rang, in ökumenischer Weite und auf der Höhe der Zeit sein. Der internationale Charakter kommt schon darin zum Ausdruck, dass alle Kommentarbände kurz nacheinander in englischer und deutscher Sprache erscheinen. Zudem wirken im Kreis der Herausgeber und Autorinnen Fachleute unterschiedlicher exegetischer Prägung aus Nordamerika, Europa und Israel zusammen. (Manche Bände werden übrigens nicht von einzelnen Autoren, sondern von Teams erarbeitet, die in sich bereits multiple methodische Zugänge zu dem betreffenden biblischen Buch verkörpern.) Die ökumenische Dimension zeigt sich erstens darin, dass unter den Herausgeberinnen und Autoren Personen christlicher wie jüdischer Herkunft sind, und dies wiederum in vielfältiger religiöser und konfessioneller Ausrichtung. Zweitens werden bewusst nicht nur die Bücher der Hebräischen Bibel, sondern die des griechischen Kanons (also unter Einschluss der sog. „deuterokanonischen“ oder „apokryphen“ Schriften) ausgelegt. Auf der Höhe der Zeit will die Reihe insbesondere darin sein, dass sie zwei große exegetische Strömungen zusammenführt, die oft als schwer oder gar nicht vereinbar gelten. Sie werden gern als „synchron“ und „diachron“ bezeichnet. Forschungsgeschichtlich waren diachrone Arbeitsweisen eher in Europa, synchrone eher in Nordamerika und Israel beheimatet. In neuerer Zeit trifft diese Einteilung immer weniger zu, weil intensive synchrone wie diachrone Forschungen hier wie dort und in verschiedensten Zusammenhängen und Kombinationen betrieben werden. Diese Entwicklung weiterführend werden in IEKAT beide Ansätze engstens miteinander verbunden und aufeinander bezogen. Da die genannte Begrifflichkeit nicht überall gleich verwendet wird, scheint es angebracht, ihren Gebrauch in IEKAT zu klären. Wir verstehen als „synchron“ solche exegetischen Schritte, die sich mit dem Text auf einer bestimmten Stufe seiner Entstehung befassen, insbesondere auf seiner Endstufe. Dazu gehören nicht-historische, narratologische, leserorientierte oder andere literarische Zugänge ebenso wie die durchaus historisch interessierte Untersuchung bestimmter Textstufen. Im Unterschied dazu wird als „diachron“ die Bemühung um Einsicht in das Werden eines Textes über die Zeiten bezeichnet. Dazu gehört das Studium unterschiedlicher Textzeugen, sofern sie über Vorstufen des Textes Auskunft geben, vor allem aber das Achten auf Hinweise im Text auf seine schrittweise Ausformung wie auch die Frage, ob und wie er im Gespräch steht mit älteren biblischen wie außerbiblischen Texten, Motiven, Traditionen, Themen usw. Die diachrone Fragestellung gilt somit

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Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

dem, was man die geschichtliche „Tiefendimension“ eines Textes nennen könnte: Wie war sein Weg durch die Zeiten bis hin zu seiner jetzigen Form, inwiefern ist er Teil einer breiteren Traditions-, Motiv- oder Kompositionsgeschichte? Synchrone Analyse konzentriert sich auf eine bestimmte Station (oder Stationen) dieses Weges, besonders auf die letzte(n), kanonisch gewordene(n) Textgestalt(en). Nach unserer Überzeugung sind beide Fragehinsichten unentbehrlich für eine Textinterpretation „auf der Höhe der Zeit“. Natürlich verlangt jedes biblische Buch nach gesonderter Betrachtung und hat jede Autorin, jeder Autor und jedes Autorenteam eigene Vorstellungen davon, wie die beiden Herangehensweisen im konkreten Fall zu verbinden sind. Darüber wird in den Einführungen zu den einzelnen Bänden Auskunft gegeben. Überdies wird von Buch zu Buch, von Text zu Text zu entscheiden sein, wie weitere, im Konzept von IEKAT vorgesehene hermeneutische Perspektiven zur Anwendung kommen: namentlich die genderkritische, die sozialgeschichtliche, die befreiungstheologische und die wirkungsgeschichtliche. Das Ergebnis, so hoffen und erwarten wir, wird eine Kommentarreihe sein, in der sich verschiedene exegetische Diskurse und Methoden zu einer innovativen und intensiven Interpretation der Schriften des Alten Testaments verbinden. Im Herbst 2012

Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Vorwort des Autors Das Buch der Weisheit findet neuerdings ein erhöhtes Interesse, da es einerseits tief verwurzelt ist in den Schriften Israels, andererseits eine bemerkenswerte Brücke zwischen der jüdischen und der hellenistischen Welt bildet. Der vorliegende Kommentar stützt sich auf zwei Werke, die grundlegende Bedeutung für die Auslegung des Buches der Weisheit haben: die jeweils drei Bände von Chrysostome Larcher (La sagesse de Salomon ou le livre de la Sagesse, 1983‒1985) und von Giuseppe Scarpat (Libro della Sapienza, 1989‒1999). Das Werk von Larcher, das er 1969 mit seiner Pionierarbeit Etudes sur le livre de la Sagesse begonnen hatte, bildet die beste vorhandene Veröffentlichung zum Buch der Weisheit im Sinne der herkömmlichen historisch-kritischen Exegese. Die Arbeit von Scarpat ihrerseits bietet eine umfassende philologische Analyse des Buches der Weisheit, die kaum zu übertreffen ist. Dennoch haben die Forschungen der letzten zwanzig Jahre dazu beigetragen, einige grundlegende Aspekte herauszustellen, die die Arbeiten von Larcher und Scarpat ergänzen und weiterführen: vor allem die Aufdeckung der durchdachten literarischen Struktur, mittels derer der Verfasser des Buches eine präzise theologische Botschaft zu vermitteln beabsichtigt (Maurice Gilbert, Paolo Bizzeti); sodann eine weitergreifende, gründliche Erfassung des Stils und der literarischen Eigenart des Buches, die ebenfalls im Dienst der Botschaft stehen, die der Verfasser seiner Leserschaft vorlegen will; außerdem eine eingehendere Würdigung der Beziehung, die das Buch einerseits zur biblischen und jüdischen, andererseits zur hellenistischen Welt zeigt, sowie eine genauere Betrachtung der alexandrinischen Umwelt gegen Ende des 1. Jh. v. Chr.; schließlich eine größere Aufmerksamkeit auf die dem Verfasser eigene theologische Perspektive, die zwar in den Studien von Larcher auch betrachtet wird, aber von anderen hervorragenden Kommentatoren (Giuseppe Scarpat, aber auch David Winston) nicht ausreichend erhellt wird; dies gilt besonders für den dritten Teil des Buches (Weish 10‒19), der erst seit den neunziger Jahren wiederentdeckt wurde. Dies alles eröffnet den Raum für einen neuen Kommentar zum Buch der Weisheit, der gewiss knapper ist als ein großer Teil seiner Vorgänger und der mit der eigentlich exegetischen Analyse eine größere Aufmerksamkeit auf die oben genannten drei Fragestellungen richtet: die Struktur und literarische Eigenart, die Beziehung zur biblischen (und jüdischen) Welt und zum Hellenismus, die theologische Perspektive des Verfassers.

Einleitung1 Ein einzigartiges Buch Das Buch der Weisheit wurde auf Griechisch verfasst und bietet neuartige Züge, die es im Vergleich zu anderen Texten seiner Zeit zu einem einzigartigen Werk machen. Es wurde gegen Ende des 1. Jh.s v. Chr. von einem Juden in Alexandria erstellt, der mit seiner tiefen Kenntnis der Bibel Treue zu den Überlieferungen Israels verband. Das Buch bildet von seiner Entstehungssituation her eine wichtige Berührungsstelle der biblischen Welt mit der weitverzweigten Welt des Hellenismus. Das Buch erweist sich auch als inhaltlich neuartig: Die starke eschatologische Perspektive, die mit der Ankündigung des künftigen Schicksals der Gerechten und der Gottlosen beginnt (Weish 1‒6), ist mit einer Betrachtung der Vergangenheit Israels verbunden, der sich der Schlussteil zuwendet (Weish 10‒19), wo die Eschatologie mit der Geschichte mittels der Rolle des Kosmos verknüpft ist. In der Mitte des Buches steht der Lobpreis der Weisheit, der Vermittlerin zwischen Gott und Mensch (Weish 7‒9). Das Buch wird in den griechischen Handschriften als ΣΟΦΙΑ ΣΑΛΟΜΩΝΟΣ (S*), Titel des oder als ΣΟΦΙΑ ΣΑΛΟΜΩΝ (Bc) oder ΣΑΛΟΜΩΝΤΟΣ (A) bezeichnet;2 in den Kodizes der Buches Vetus Latina lautet der Titel Liber Sapientiae Salomonis oder manchmal Sapientia Salomonis, oder einfach Liber Sapientiae. Das Buch ist in die lateinische Übersetzung der Vulgata und von ihr her in die modernen Übersetzungen als „Buch der Weisheit“ eingegangen. Da der Verfasser sich im Mittelteil des Buches (Weish 7‒9) mit dem König Salomo zu identifizieren scheint ‒ wenn auch diese Identifikation nie ausdrücklich geschieht ‒, ist es nicht unwahrscheinlich, dass er selber seinen eigenen Text „Weisheit Salomos“ benannt hat. Dies entspricht einem in der Antike nicht seltenen und in der jüdischen Tradition häufigen Brauch, Salomo einen Großteil der Weisheitsschriften zuzuschreiben: Sprichwörter, Kohelet, das Hohelied. Schon seit der Zeit der Kirchenväter war jedoch klar, dass die Zuschreibung an Salomo pseudepigraphisch war: Diese Auffassung äußern bereits neben anderen Origenes, Augustinus und Hieronymus.3

Text und Übersetzungen4 Den griechischen Text des Buches der Weisheit überliefern die drei bedeutendsten Griechischer Unzialkodizes, die nach Joseph Ziegler den bestmöglichen Text enthalten, in gu- Text 1 2 3 4

Ausgangspunkt für eine umfassende Einleitung zum Buch der Weisheit stellt immer noch LARCHER, Etudes sur le livre de la Sagesse (1969) dar; knapper, aber auch umfassend ist die Einleitung von GILBERT („Sagesse de Salomon“) aus dem Jahre 1986. ZIEGLER, Sapientia, 95. ORIGENES, Comm. Jo. 20,4 (PG XIV, 581); HIERONYMUS, Praef. in libros Sal. (PL XVIII, 1307); AUGUSTINUS, Civ. 18, 20 (PL XLI, 554). LARCHER, Sagesse I, 53–74; ZIEGLER, Sapientia, 7–64; GILBERT, „Sagesse“, 58–65. Eine Pionierarbeit ist das Werk von F. FELDMANN, Textkritische Materialien

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Vetus Latina und Vulgata

Originalsprache

Einleitung

tem Zustand: der Vaticanus (B), der Sinaiticus (S) und der Alexandrinus (A); die übrigen Unzialhandschriften (insbesondere die Kodizes V und C) und die verschiedenen Minuskeln haben geringere Bedeutung. Vom Buch der Weisheit sind auch einige Papyrusfragmente erhalten. Die patristischen Zitate und die Florilegien sind gelegentlich für die Textkritik interessant.5 Die von Ziegler erstellte Edition hat den größten Teil der Probleme des Textes geklärt, so dass er einer der am besten verständlichen Texte des Alten Testaments darstellt.6 Die bedeutendste der alten Übersetzungen ist die Vetus Latina. Sie entstand in Nordafrika wahrscheinlich gegen Ende des 2. Jh.s n. Chr. und ging etwa im 5. Jh. in die Vulgata ein.7 Hieronymus übersetzte nämlich das Buch der Weisheit nicht, da er es nicht für kanonisch hielt.8 Die lateinische Übersetzung ist wenigstens zwei Jahrhunderte älter als die älteste erhaltene Handschrift (B) und erweist sich für die Rekonstruktion besonders schwieriger Textstellen als sehr nützlich. Wahrscheinlich übersetzte die Vetus Latina einen griechischen Text, der von dem der großen Unzialen verschieden ist, ziemlich ähnlich dem Text von S* (vgl. z.B. die in 2,9a erhaltene Lesart nullum pratum, die wahrscheinlich die ursprüngliche ist).9 Die anderen alten Übersetzungen, die Peshitta, die verschiedenen koptischen Übersetzungen, die armenische, arabische und äthiopische Übersetzung sind sämtlich jünger als die großen Unzialen und haben für die Textkritik nur geringere Bedeutung. Die Vermutung, das Buch der Weisheit sei ursprünglich auf Hebräisch (oder Aramäisch) verfasst und dann ins Griechische übersetzt worden, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten.10 Zwar gibt es im Buch der Weisheit eine Reihe von Hebraismen wie die stete Verwendung des Parallelismus membrorum,11 aber der Hinweis darauf dürfte nicht als Argument ausreichen, dass man deshalb das Griechisch des Weisheitsbuches als Übersetzung eines semitischen Originals betrachten könnte. Diesbezüglich formuliert Joseph Reider „it [the book of Wisdom] is written in the purest form of Alexandrinian Greek, free from the Hebraisms and anomalies of 5 ZIEGLER, Sapientia, 10–11; GILBERT, „Sagesse“, 58–59; zu dem Kölner Papyrus, der den Text Weish 17,5–20b enthält, s. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 310. 6 Zu einigen kleinen Problemen im Text von ZIEGLER s. GILBERT, „Sagesse“, 59; vgl. auch den Beitrag von ENGEL, „Sophia Salomonis“. 7 GRIBOMONT, „L’édition Vaticane de la Vulgate“. 8 Vgl. Praefatio Hieronymi de translatione graeca: Biblia Sacra XI (Rom: Ausgabe Typis Polyglottis Vaticanis 1957), 6 (PL XXIX, 427–428). 9 Der Kommentar von G. SCARPAT enthält in einem Anhang zu jedem der drei Bände den ganzen lateinischen Text des Buches der Weisheit mit einem entsprechenden philologischen Kommentar und bildet den besten Bezugspunkt. Vgl. DE BRUYNE Donatien D., „Etude sur le texte latin de Sagesse“; RBén 41 (1929) 100–133; nach der Meinung von De Bruyne war der lateinische Übersetzer seiner Aufgabe nicht gewachsen (130); SKEHAN, „Note on the Latin Text of the Book of Wisdom“. Der Text der Vetus Latina zum Buch der Weisheit findet sich in THIELE, Vetus Latina XI,1. 10 LARCHER, Sagesse I, 91–95; GILBERT, „Sagesse“, 61–65. Unter den Pionieren der diesbezüglichen Forschung sind zu nennen GÄRTNER, Komposition und Wortwahl des Buches der Weisheit (1912), und FOCKE, Die Enstehung der Weisheit Salomos (1913); letzterer vertrat allerdings noch die Auffassung, Weish 1‒5 seien ursprünglich auf Hebräisch verfasst worden (65–66). 11 Vgl. WINSTON, Wisdom of Solomon, 15.

Die Einheit des Buches

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the Septuagint and full of passages which combine the richest vocabulary with genuine rhetorical eloquence. Compared with the Septuaginta, Wisdom appears to be an original and independent work“.12

Die Einheit des Buches13 Schon um die Mitte des 19. Jh. hielt Carl L. W. Grimm die Frage der literarischen Einheit des Buches für endgültig geklärt: Das Buch der Weisheit war für den großen deutschen Kommentator zweifellos das Werk eines einzigen Verfassers. Dennoch ließen sich noch bis ins 20. Jh. einige Stimmen vernehmen, die dem widersprachen.14 Einige neuere Autoren nehmen zwar auch die Einheit des Verfassers an, vermuten aber eine Komposition zu verschiedenen Zeiten; insbesondere Weish 11‒19 sei erst später geschrieben worden, wenn auch vom selben Verfasser wie das übrige Buch.15 Die stilistische Einheit des Buches und damit verbunden die Verwendung der gleichen literarischen Gattung (s.u.) sind starke Argumente dafür, nicht nur einen einzigen Verfasser, sondern auch die Einheit der Komposition anzunehmen. Im Licht der Beiträge von Addison G. Wright, Paolo Bizzeti und Maurice Gilbert ist das Hauptargument für die Einheit des Buches der Weisheit jedoch die Beobachtung einer präzisen literarischen Struktur (s.u.), die es sehr schwierig macht, an eine nicht einheitliche Komposition zu denken. Einige Autoren wollten auch noch genaue zahlenmäßige Entsprechungen innerhalb des Buches finden; allerdings überzeugen die von Wright vorgelegten Zahlen nicht ganz.16

12 REIDER, The Book of Wisdom, 25–26. Andererseits meint derselbe Reider, das Buch der Weisheit sei durch „some ignorance and poverty of diction“ gekennzeichnet (27); vgl. ein ähnliches Urteil bei LARCHER, Sagesse I, 102. Zu den Problemen der Originalsprache des Buches vgl. LARCHER, Sagesse I, 95 und vor allem GILBERT, „Sagesse“, 62‒63; er merkt jedoch an, dass es schwierig ist zu beweisen, dass das Griechisch in Weish nicht in Wirklichkeit eine geniale Übersetzung eines Autors ist, der die griechische Sprache vollkommen beherrschte. Die Arbeit von REESE, Hellenistic Influence, scheint aber wenig Zweifel daran zu lassen, dass der Text schon ursprünglich auf Griechisch verfasst wurde. Ein anderes, kaum zu lösendes Problem besteht darin, die Existenz möglicher hebräischer oder aramäischer Quellen, die der Autor benutzt hätte, zu beweisen. 13 VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 22–29; GILBERT, „Sagesse“, 87–91; ENGEL, „Sapientia“, 135–137, stellt den gegenwärtigen Konsens bezüglich der Einheit des Buches fest. 14 GRIMM, Weisheit, 9–15; für die Forschungsgeschichte im 18. und 19. Jh. vgl. VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 21–24. 15 SKEHAN, „Text and Structure“, 5; LARCHER, Sagesse I, 95–119. 16 SKEHAN, „Text and Structure“, passim; er zählt in Weish 1–9 insgesamt 500 Stichoi; in Weish 10,1 – 11,1 im Ganzen 60 Stichoi und in Weish 11,2 – 19,22 weitere 561 Stichoi; vgl. GILBERT, „Sagesse“, 89–90, der die Zählungen von Skehan bestätigt. WRIGHT (“Numerical Patterns“, 524–538) meint, das Buch der Weisheit sei nach dem sog. „Goldenen Schnitt“ aufgebaut, d.h. in der Proportion x/y = y/x+y; zu einer kritischen Diskussion dieser Auffassung vgl. GILBERT, „Sagesse“, 89.

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Flashbacks

Das ganze Buch durchziehende Themen

Einleitung

Zwei weitere Gründe, die für einen einzigen Verfasser und für die Einheit der Komposition sprechen, sind die Beobachtung der sogenannten flashbacks sowie von Themen und Motiven, die sich durch das ganze Buch hindurchziehen. James M. Reese hebt innerhalb des dritten Buchteils (Weish 11‒19) wörtliche Bezugnahmen auf die beiden ersten Teile des Weisheitsbuches und spezifische mit ihnen gemeinsame Themen hervor. Reese bezeichnet als flashback „a short repetition of a significant word or groups of words or distinctive ideas in two different parts of Wis“.17 Reese stellt wenigstens 45 flashbacks fest, deren Anzahl jedoch noch erweitert werden könnte.18 Dabei handelt es sich nicht um einfache literarische Bezugnahmen; denn sehr oft nimmt der Verfasser im dritten Teil des Buches ein thematisches Element aus dem ersten oder zweiten Buchteil auf und erweitert dabei dessen Bedeutung (vgl. z.B. Weish 17,20–21 als flashback zu Weish 7,29–30; siehe den Kommentar zu 17,20–21).19 Dies alles bestätigt die tiefgehende kompositorische Einheit, die das ganze Buch der Weisheit kennzeichnet. Eine aufmerksame Analyse des Buches der Weisheit lässt schließlich eine Reihe von Themen erkennen, die im ganzen Buch, jeweils fest in den Kontext eingebunden, immer wiederkehren. Deren Beobachtung bekräftigt die Annahme einer festen inneren Einheit des Werkes.20 Ein wichtiges Thema, das sich durch das ganze Buch hindurch zieht, ist das der Gerechtigkeit, die für einige Autoren geradezu die tragende Achse des ganzen Werkes ist. Von daher betrachtet, könnte das Buch der Weisheit wie eine wirkliche Abhandlung politischer Theologie gelesen werden.21 Die Weisheit, die im Mittelteil des Buches gepriesen wird (Weish 7–9) ist das Mittel, das den Regierenden zur Verfügung gestellt wird, um zu lernen, was Gerechtigkeit ist (Weish 1 und 6). Das Gericht Gottes steht bereit, die Gesetzlosen zu treffen, insbesondere die Götzenverehrer (Weish 13-15), den Gerechten aber stellt es ewiges Heil in Aussicht. Die Tragweite des Themas der Gerechtigkeit im Innern des Buches der Weisheit soll nicht unterschätzt werden, aber im Zentrum des Buches ragt eher das Thema der Weisheit heraus. Ein anderes Thema ist der Kosmos, der vom Anfang bis zum Ende des Buches eine wichtige Rolle spielt. Gott hat alles für das Leben erschaffen (1,13–14); die Weisheit, die Werkmeisterin der Welt, ist der Berührungspunkt zwischen Gott und Mensch, gerade wegen ihrer Gegenwart im Kosmos (vgl. 7,1.6.21.24.27); der Kosmos selbst dient als Instrument an der Seite Gottes, um die Gerechten zu belohnen und die Gottlosen zu bestrafen (5,17-20), wie es schon in der Vergangenheit geschah (16,17.24). Das Buch der Weisheit schließt dann mit der Perspektive einer erneuerten Schöpfung (19,18–21).

17 REESE, Hellenistic Influence, 124; eine umfassende Liste von flashbacks s. dort 122–145. 18 GILBERT, „Sagesse“, 89–90. 19 „The flashbacks reminded his readers that the past wonders of God’s providence are an assurance that future rewards are awaiting the just“; REESE, Hellenistic Influence, 124. 20 GILBERT, „Sagesse“, 90–91. 21 So die Kommentare von ALONSO SCHÖKEL, Sabiduría, und von VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 114–119; vgl. BRETÓN, „Libro de la Sabiduría o libro de la justicia?“.

Die literarische Struktur

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Die literarische Struktur22 Das Buch der Weisheit zeigt eine sorgfältige literarische Struktur. Durch die Verwendung von Stichwortverklammerungen und Inklusionen, von oft kunstvoll angelegten konzentrischen Konstruktionen und anderen Stilfiguren bietet der Verfasser seinen Adressaten einen ansprechenden Text, in dem die literarische Struktur im Dienst eines bestimmten theologischen Entwurfs steht. Wir folgen hier weithin den Vorschlägen von Paolo Bizzeti und Maurice Gilbert.23 Zunächst stellen wir eine Gesamtsicht des Buches vor; eine detaillierte literarische Struktur steht dann im Kommentar jeweils den einzelnen Textabschnitten voran. Das Buch der Weisheit kann in drei große Teile gegliedert werden:24 Der erste Teil bis Kap. 6 (zum Problem von 6,22–25 siehe die Einleitung zu Weish 6) ließe sich als „Buch der Eschatologie“ bezeichnen. Den zweiten Teil des Buches, Weish 7–9, könnte man als das eigentliche „Buch der Weisheit“ betrachten. Auf den Lobpreis der Weisheit (Kap. 7-8) folgt das Herzstück des ganzen Buches, das Bittgebet Salomos um die Gabe der Weisheit (Kap. 9).25 Den dritten Buchteil, Weish 10–19, könnte man das „Buch der Geschichte“ nennen. Der Verfasser sinnt nach über die Gegenwart der Weisheit in der Geschichte seines Volkes (Weish 10) und insbesondere über die Ereignisse beim Auszug aus Ägypten, und zwar in sieben vergleichenden Gegenüberstellungen von Ägyptern und Israeliten. Dabei zeigt sich das Wirken Gottes, der sich seiner Schöpfung bedient, um die einen zu bestrafen und die anderen zu retten. In diesem dritten Buchteil zeichnen sich zwei ausführliche Exkurse ab: Weish 11,15 – 12,27 über die Menschenfreundlichkeit Gottes und Weish 13–15 über die Götzenverehrung. Die Teile des Buches folgen weder einer logischen noch einer chronologischen, Ein theologisondern eher einer theologischen Ordnung. Denn das Buch wird eingeleitet durch scher Entwurf eine großartige Ankündigung des Heils, das den Gerechten erwartet (Weish 3–4; aber auch 1,13–15; 2,21–24). Der Leser wird von Anfang an eingeladen, sich für eine Zukunft voller Hoffnung zu öffnen. Eine solche Zukunft ist an den Empfang der Gabe der Weisheit gebunden (Weish 7–9), aber ihrerseits gewährleistet durch die Verlässlichkeit des Wirkens Gottes in der Geschichte Israels (Weish 10–19). Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft berühren einander in einer geistreichen Verknüpfung: Die Hoffnung auf die Zukunft spornt das Leben des Gerechten an, und gleichzeitig ist es die vergangene Geschichte, die eine solche Hoffnung begründet. Das Verbindungsstück zwischen Vergangenheit und Zukunft ist demnach die Weisheit, die dem Menschen von Gott geschenkt wird und die im Kosmos gegenwärtig ist; denn aus der Schöpfung kommt das Heil.

22 Zum Stand der Forschung bezüglich des ganzen Problems siehe GILBERT, „Literary Structure“. 23 BIZZETI, Il libro della Sapienza; Gilbert, „Sagesse“, 65–77. 24 ENGEL, „Sapientia“, 136: „Die grundsätzliche Dreiteilung des Buches steht heute nicht mehr in Frage“. 25 Für die Zugehörigkeit von Kap. 10 zum dritten Buchteil siehe die Einleitung zu Weish 10-19.

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Einleitung

Sprache und Stil Sprache Der Wortschatz des Buches der Weisheit zeigt, dass der Verfasser ein ganz eigengeprägtes Griechisch verwendet: Von den insgesamt 1734 verschiedenen Wörtern kommen 1303 nur ein einziges Mal vor, davon sind 335, also ca. 20%, hapax legomena in der LXX26 (nach Chrysostome Larcher 315), weitere 126 begegnen nur in späten Texten wie Sir und 3–4Makk. Im Buch der Weisheit gibt es ca. 20 hapax legomena totius graecitatis (Wörter, die in der gesamten erhaltenen griechischen Literatur nur hier vorkommen), die zeigen, dass der Verfasser wirklich sprachschöpferisch tätig war.27 Viele der im Buch der Weisheit verwendeten Ausdrücke entstammen einem gelehrten Vokabular aus Philosophie und dichterischer Literatur, manchmal auch aus der Medizin und der Naturwissenschaft. Der Verfasser liebt zusammengesetzte Wörter, die im Buch überaus zahlreich vorkommen,28 darunter 59 seltene Adjektive, zum Teil aus der Dichtkunst, und viele mit einem α-privativum gebildete Wörter.29 Wenn auch einige stilistische Aspekte an ein hebräisches Original denken lassen könnten (vgl. den Gebrauch von ὅτι causale besonders in Weish 1–2.530), sind andere, wie die Verwendung des Infinitivs31 oder der Personalpronomina,32 bemerkenswert vom Stil der LXX verschieden und erweisen sich als original griechisch.

Stil Forschungsge- Seit dem Altertum haben die Kommentatoren die Besonderheit des im Buch der schichte Weisheit verwendeten Stils bemerkt, der zutiefst griechisch ist und sich darin

vom größten Teil der übrigen Bücher der LXX deutlich unterscheidet. Hieronymus schrieb: „Ipse stylus graecam eloquentiam redolet.“33 Das Urteil des Hieronymus wurde von den modernen Autoren aufgenommen: Broke Foss Westcott hielt das Buch der Weisheit für typisch „of the style of composition which would be produ26 Die Wörter im Buch der Weisheit, die ἅπαξ λεγόμενα in der LXX sind, werden in diesem Kommentar durch einen davor stehenden Asteriskus * gekennzeichnet. 27 SCARPAT, „Ancora sull’autore“; GILBERT, „Sagesse“, 63; MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 274 (δυσδιήγητος, 17,1; περικομπέω, 17,4; ἐφύβριστος, 17,7; φυλακίζω, 18,4). 28 FOCKE, Entstehung, 61; WINSTON, Wisdom, 14–15, mit vielen Beispielen. 29 FOCKE, Entstehung, 60–61. 30 SOLLAMO, Raija, Renderings of Hebrew Semipropositions in the Septuagint, AASF B Diss 19 (Helsinki: Helsinki Academia Scientiarum Fennica / Suomalainen Tiedeakatemia 1979), 296. RUPPERT hielt noch an der Existenz eines semitischen Originals für Weish 2,12–20; 5,1-7 fest: vgl. „Gerechte und Frevler“. 31 SOISALON-SOININEN, Ilmari, Die Infinitive in der Septuaginta, AASF B 132,1 (Helsinki: Helsinki Academia Scientiarum Fennica / Suomalainen Tiedeakatemia 1965), 193. 32 WIFSTRAND, Albert, Die Stellung der enklitischen Personalpronomina bei den Septuaginta, Lund: Lund University Press 1950, 63. 33 Praef. in libros Sal. (PL XXVIII, 1242).

Sprache und Stil

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ced by the sophistic schools of rhetoric“.34 Henry Barclay Swete meint: „No other book in the Greek Bible is so manifestly Alexandrian in tone and style“.35 Schon Carl L. W. Grimm hatte eine Liste typisch griechischer Stilelemente im Buch der Weisheit zusammengestellt.36 Insbesondere James M. Reese hat dem Stil des Buches seine Aufmerksamkeit zugewandt.37 Seine Schlussfolgerung ist eindeutig: „This survey of the vocabulary and style of Wis shows that the sacred writer was trained in Greek rhetoric and was subject to a wide variety of hellenistic influences“.38 Die Kommentare von Larcher und Scarpat bestätigen die Schlussfolgerungen von Reese. Aber die Forschung zum Stil des Buches der Weisheit lässt noch Fragen offen. Erst vor kurzem (2011) erschien die erste Studie, die ausschließlich dem Stil des Buches gewidmet ist: Alexis Léonas beobachtet im Buch der Weisheit „a conscious attempt to imitate the Septuagint style and idiom, rejecting it when not conform to the Greek literary use“.39 Der Stil des Buches der Weisheit lässt unübersehbar die Verwendung der klassischen Rhetorik erkennen. Das zweifellos bezeichnendste Element in Bezug auf die Anordnung der Wörter sind sorgfältig formulierte Satzperioden, eine der Grundeigenarten griechischen Stils, wie z.B. in 12,3–7.27; 13,11–15; 15,7; 17,16–19. Auf diesem Gebiet fällt auch der wiederholte Gebrauch des hyperbaton (gespreizte Wortstellung) auf, das sonst in der LXX eher selten ist, aber in Weish ca. 240 mal vorkommt, besonders in Weish 10–19, gelegentlich, wie in Weish 14,18, als doppeltes hyperbaton.40 Die Verwendung des hyperbaton hat nicht nur stilistische, sondern auch inhaltliche Gründe, z.B. wenn es darum geht, einen bestimmten Ausdruck besonders hervorzuheben, vgl. in 17,2a (νύκτα) oder 17,21b (σκότους). Der Verfasser will sich an sein Publikum auch mittels der Schönheit der literarischen Gestaltung wenden. Der gepflegte Stil und die Nähe zur griechischen Rhetorik und Dichtung machen das Buch der Weisheit für diejenigen Juden von Alexandria ansprechend, die sich gerade von der hellenistischen Welt angezogen fühlten. Die Tradition Israels wird so derartigen Lesern in einer Sprache neu vorgetragen, die ihnen vertraut ist. Der Verfasser des Buches zeigt eine gute Kenntnis der Formen der klassischen Rhetorische Rhetorik. Die Häufigkeit solcher Wendungen ist auffällig größer als bei den Bü- Wendungen chern der LXX, die aus dem Hebräischen übersetzt sind.41

34 WESTCOTT, Broke Foss, „Wisdom of Solomon“, in: Smith’s Dictionary of the Bible 4 (Cambridge: Cambridge University Press 1872), 3547. 35 SWETE, Henry Barclay, An Introduction to the Old Testament in Greek, Cambridge: Cambridge University Press 19142 (repr. New York: KTAV 1968), 268. Swete fügt hinzu: „In the style of the originally Greek books [of the LXX] there is little to remind us of the Semitic origin of the writers“ (313). 36 GRIMM, Weisheit, 6–9. 37 REESE, Hellenistic Influence, 25–31. 38 REESE, Hellenistic Influence, 30. 39 LÉONAS, „The Poetics of Wisdom. Language and Style in the Book of Wisdom“, 124. 40 REESE, Hellenistic Influence, 26–27; MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 278. 41 ROWE, „Style“, in: PORTER, Stanley E., Handbook of Classical Rhetoric in the Hellenistic Period. 330 B. C. – A. D. 400 (Leiden/New York/Köln: Brill 1997), 121–157; vgl. auch DENNISTON John Dewar, Greek Prose Style, Oxford: Clarendon 1952.

26 –

– – – – – – – –

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Einleitung

Die Metapher: Als einziges Beispiel sei auf die Metapher der Finsternis hingewiesen, die während des ganzen fünften Diptychons (17,1 – 18,4) zugleich in kosmologischem, psychologischem, moralischem und eschatologischem Sinne verwendet wird. Die Litotes (Ersetzung eines Ausdrucks durch Verneinung des Gegenteils zur Bekräftigung des Gemeinten): Weish 1,2a (τοῖς μὴ πειράζουσιν); 1,11b; 3,11bc; 11,7b; 12,9a.10.13b; 17,4a; 18,2a; 19,22b (οὐχ ὑπερεῖδες). Die Anapher (Wiederholung desselben Wortes oder derselben Wortgruppe am Anfang mehrerer aufeinanderfolgender Sätze oder Satzglieder): Weish 10 (mehrfach wiederholtes αὕτη); 11,18a-d; 17, 18c-19d. Die Paronomasie (Wiederholung desselben Wortstamms in anderer syntaktischer Funktion): Weish 5,3b.10c; 6,10a; 12,25–26; 13,19b; 14,5a. Häufig begegnen auch Wortspiele: 11,14–15; 17,12–13a.21; 18,4. Die Isokolia (ἰσοκωλία: Gleichheit oder -klang von Satzgliedern): 18,1b. Die Antithese (Gegenüberstellung von Konträrem): 3,5a; 4,16; 7,6; 9,16; 18,7b. Die accumulatio (Worthäufung: mehrere Begriffe derselben Kategorie werden aneinandergereiht): Vgl. die 22 Attribute der Weisheit, die in Weish 7,22–23 aufgeführt werden. Das Asyndeton (die ohne Konjunktion aufgereihten Wörter oder Satzteile sind grammatikalisch und inhaltlich gleichgestellt und nicht gesteigert) wird häufig in Weish verwendet, um einen neuen Gesichtspunkt anzuzeigen, vgl. 4,10.20; 10,12. Das Homoioteleuton (Wiederholung der gleichen oder einer ähnlichen Endsilbe in unmittelbar aufeinanderfolgenden Wörtern, hier in aufeinander folgenden Kola): 1,1.4; 2,3–4; 4,10. Die Form des sorites (σωρείτης: Ketten- oder Häufelschluss) wird in Weish 6,17– 20 verwendet.42

Ein letzter Aspekt des für das Buch der Weisheit typischen Stils ist die Verwendung von Versenden, die auf die klassische Metrik verweisen. Beispiele von jambischen oder hexametrischen Rhythmen waren schon von John A. F. Gregg (1906) beobachtet worden und noch aufmerksamer von Henry S. J. Thackeray (1909), der bis heute als einziger, wenn auch erst anfanghaft, die poetische Eigenart des Buches der Weisheit erforscht hat. Ein Beispieltext ist Weish 17,1 – 18,4, in dem sich, außer der Beobachtung eines typisch „asianischen“ Stils, hin und wieder, wenn auch nicht systematisch, die Verwendung klassischer Metrik feststellen lässt.43

42 Weitere Beispiele in WINSTON, Wisdom, 15–17; REESE, Hellenistic Influence, 27–28; LARCHER, Sagesse I, 107–108. 43 Vgl. GREGG, The Wisdom of Solomon, xv; THACKERAY, „Rhythm in the Book of Wisdom“; zu Weish 17,1 – 18,4 siehe MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 277–280, und 163–165 zur poetischen Eigenart von Weish 17,16–21.

Die literarische Gattung: zwischen genus epideiktikon und Midrasch

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Die literarische Gattung: zwischen genus epideiktikon und Midrasch44 Das Buch der Weisheit: ein Protrepticus Unter den Argumenten für die Einheit des Buches der Weisheit hat die Diskussion über die literarische Gattung des Buches, die große Bedeutung für das Verständnis des Textes hat, ein beträchtliches Gewicht gewonnen. Denn die Beachtung der literarischen Gattung eines Buches bedeutet, sich in die Sichtweise des Verfassers zu begeben und besser zu verstehen, welche Aussageabsicht seinem Werk zugrunde liegt. James M. Reese hat eine Anregung von Friedrich Focke45 aufgenommen und vorgeschlagen, das Buch der Weisheit der literarischen Gattung des logos protreptikos zuzuordnen, der schon Aristoteles vertraut war und später in der patristischen Literatur verwendet wurde. Der logos protreptikos vereinte in sich Elemente des genus deliberativum und des genus epideiktikon; er lud dazu ein, einer bestimmten Lebensweise zu folgen und zeigte den Wert und die Vorzüge der vom Redner empfohlenen Lebensführung auf. Reese nimmt jedoch auch die Existenz verschiedener Untergattungen innerhalb der verschiedenen Buchteile an.46 Das Hauptproblem bei dieser Zuordnung besteht darin, dass uns kein vollständiges Exemplar eines logos protreptikos aus dieser Zeit vorliegt und ebenso wenig eine vollständige Beschreibung oder Abhandlung dazu. Winston formuliert deshalb eher zurückhaltend: „It is thus extremely difficult to determine whether Wis is an epideicteic composition with an admixture of protreptic, or essentially a protreptic with a considerable element of epideicteic“.47

Das Buch der Weisheit: ein Enkomion Seit den Studien von Paul Beauchamp (1963) und vor allem dank der Arbeiten von Paolo Bizzeti und Maurice Gilbert wandte sich die Forschung in immer überzeugenderer Weise dem genos epideiktikon zu.48 44 Die Diskussion zur literarischen Gattung des Buches der Weisheit fand ihren Höhepunkt im Werk von BIZZETI, Il libro della Sapienza, 113–180, der die Überlegungen von Gilbert, „Sagesse“, 77–87, aufnimmt und weiterführt; vgl. Larcher, Le livre de la Sagesse, 109– 114, der jedoch das Vorhandensein mehrerer literarischer Gattungen in den verschiedenen Teilen des Buches der Weisheit annimmt. 45 FOCKE, Entstehung, 86. 46 REESE, Hellenistic Influence, 90–121. WINSTON (Wisdom of Solomon, 18–20) stimmt dem Vorschlag von Reese zu, wenn auch mit einigem Vorbehalt; vgl. die Bemerkungen von Winston zum Buch von Bizzeti in seiner Rezension in CBQ 48 (1986) 525–527. ENGEL, „Sapientia“, 138– 142, betrachtet das Buch der Weisheit als Protrepticus, der sich an junge alexandrinische Juden wendet und für die Gerechtigkeit im Sinne jüdischer Lebensführung wirbt. 47 WINSTON, „A Century of Research on the Book of Wisdom“, 5. 48 Vgl. Fußnote 44. Für BEAUCHAMP vgl. De libro Sapientiae Salomonis, 1–40; er greift diese These nochmals auf in „Epouser la Sagesse“, 358–360. Vgl. die Kritik an Bizzeti bei REESE, „A Semiotic Critique“; Reese hebt die Schwierigkeit hervor, das Buch der Weisheit nur innerhalb einer einzigen literarischen Gattung zu verstehen.

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Einleitung

Nach den Regeln der klassischen Rhetorik lassen sich die Gattungen der Gerichtsrede (genos dikanikon), der Beratungs- oder politischen Entscheidungsrede (genos symbuleutikon, lat. genus deliberativum) und der Lob- und Festrede (genos epideiktikon, lat. genus demonstrativum oder laudativum) unterscheiden (vgl. Aristoteles, Rhet. 1358b). Die Gerichtsrede handelt von der Vergangenheit und wird vor Gericht verwendet, um Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bestimmen. Die Beratungsrede dagegen blickt in die Zukunft, was wir tun sollen oder nicht tun dürfen. Die Lob- oder Festrede wird von der Rhetorica des Aristoteles an bis zu den Rhetorikabhandlungen Ciceros und Quintilians als Gattung beschrieben, die sich eher auf die Gegenwart bezieht: Eine bestimmte Tugend soll gepriesen oder eine Unsitte gerügt werden, vgl. die Paradoxa Stoicorum Ciceros, die Schriften Philons von Alexandria Quod omnis probus liber est und De nobilitate, das Werk De clementia von Seneca. In der epideiktischen Gattung wird pädagogisch und schulmäßig formuliert, sie wendet sich also an junge Menschen, sucht sie zu überzeugen durch die Kraft von Beweisen und vor allem durch die Preisung (enkomion) der Tugend, die lobend hervorgehoben werden soll. Der fiktive „Salomo“, der in Weish 7–8 spricht, betont sein Jungsein; vgl. z.B. Weish 8,10 und auch die Bezugnahme auf den Traum von Gibeon (1Kön 3) in Weish 9. Auch die nachdrückliche Verwendung der Metapher des Königtums, die deutlich auf einen stoischen Hintergrund verweist, setzt junge Menschen als Adressaten voraus (s.u.). Ein Vergleich zwischen einem klassischen Enkomion und dem Buch der Weisheit kann uns das Vorhaben des Verfassers noch besser entschlüsseln. Das Enkomion beginnt in der Regel mit einem exordium, in dem die Zuhörer aufgefordert werden, einer bestimmten Tugend zu folgen, während zugleich die Gegner widerlegt werden, indem ihnen Beispiele von Menschen, die mit gerade dieser Tugend gelebt haben, entgegengehalten werden. So geschieht es im ersten Teil des Buches (Weish 1–6) mit einer an die Zuhörer gerichteten Aufforderung, die Gerechtigkeit und die Weisheit aufzunehmen (Weish 1 und 6). Eine Widerlegung der Auffassungen der Gegner (Weish 2 und 5) umrahmt eine Reihe von Gegenüberstellungen (Weish 3–4), die beispielhaft die Hauptaussage über das Schicksal der Gerechten und der Gottlosen illustrieren und die Richtigkeit der Aufforderung bestätigen, der Weisheit und der Gerechtigkeit zu folgen. Das klassische Enkomion fährt dann mit dem eigentlichen Lob fort, in dem die Tugend, der die betreffende Schrift gewidmet ist – hier die Weisheit –, gepriesen wird. Die Herkunft (τὸ γένος), das Wesen (ἡ φύσις) und die Werke und Wirkungen (ἡ πρᾶξις) werden dargelegt. Dies geschieht im Mittelteil des Buches der Weisheit: In 6,22–25 kündigt der Verfasser an, dass er über die Herkunft und das Wesen der Weisheit sprechen wird (Weish 7–8), deren Werke und Wirkungen in Weish 10 aufgezeigt werden. In Bezug auf Weish 7–8 hat Alexis Leproux vorgeschlagen, diese beiden Kapitel nach Art eines rhetorischen Elogiums auf eine bestimmte Person zu lesen, wie es seit der Kaiserzeit besonders in Schriften der zweiten Sophistik verbreitet war.49 Den Schlussteil des klassischen Enkomions bildet die σύγκρισις (comparatio). Mittels einer Reihe von Beispielen aus der Vergangenheit will der Redner seine Zuhörer-

49 LEPROUX, Un discours de Sagesse, 73–116. Beim Vorschlag von Leproux liegt eine gewisse Schwierigkeit darin, dass die von ihm beigebrachten Beispiele großenteils aus dem 1. Jh. n. Chr. stammen (vgl. seine Überlegungen zur Datierung des Buches der Weisheit, 81–82).

Die literarische Gattung: zwischen genus epideiktikon und Midrasch

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schaft von der Vorzüglichkeit der von ihm gepriesenen Tugend, Eigenschaft oder Person überzeugen. Nicht selten bezieht er dabei Exkurse ein zu Themen, die mit dem Hauptthema verwandt sind. So geschieht es im dritten Teil des Buches (Weish 10– 19): Die vergleichenden Gegenüberstellungen Gerechte/Gottlose werden entlang den biblischen Erzählungen von Exodus und Wüstenzug vorgenommen, erweitert um zwei ausführliche Erörterungen: über die Menschenfreundlichkeit Gottes (11,15 – 12,27) und über die Götzenverehrung (13–15). Das Enkomion schließt mit einem Epilog, in dem der Verfasser seine Argumente zusammenfasst und Folgerungen zieht, so am Ende des Buches in Weish 19,10–22.

Der midraschartige Stil Der Gegenstand des Enkomions innerhalb des Buches der Weisheit ist nicht eine moralische Eigenschaft oder eine menschliche Tugend wie in einem klassischen Enkomion, sondern die Weisheit, die von Gott kommt. Im Zentrum des Buches erscheint außerdem ein Text, der keinerlei Entsprechung in klassischen Enkomien hat: das Gebet um Weisheit (Weish 9), in dem Salomo sich unmittelbar an Gott wendet. Außerdem tritt in den Gegenüberstellungen in Weish 11–19 den beiden Gegenspielern Israel und Ägypten ein drittes Vergleichselement an die Seite, das ebenfalls im klassischen Enkomion nicht vorhanden ist: der Kosmos. In Weish 9 sind es nicht mehr seine Adressaten, an die sich der Verfasser wendet, sondern unmittelbar Gott, an den er auch im dritten Buchteil (Weish 11–19) mehrfach die direkte Anrede richtet. Bereits Joseph Heinemann hatte die Unterschiede hervorgehoben zwischen Weish 11–19 und der klassischen griechischen σύγκρισις, in der die Entsprechung bei den verglichenen Personen, Eigenschaften oder Gegenständen selbst liegt und nicht bei einem dritten Element, wie es in Weish 11–19 geschieht, wo die unterschiedlichen Wirkungen des Kosmos auf die Gerechten und die Gottlosen bzw. die Israeliten und die Ägypter miteinander verglichen werden.50 Der Hintergrund des Buches der Weisheit ist durchgehend die Heilige Schrift (s.u.), die der Verfasser unablässig neu liest und seiner Hörerschaft vorträgt, wenn auch durch die Brille der zeitgenössischen hellenistischen Kultur betrachtet. Dadurch ändert sich die typisch griechische literarische Gattung des Enkomions in eine Vorgehensweise, die charakteristisch ist für jüdische Literatur und als Midrasch bezeichnet wird. Es existiert eine Vielzahl von Möglichkeiten, einen Midrasch zu definieren. Man kann ihn beschreiben als eine Haltung, eine Denkweise, eine bestimmte Art zu schreiben in einem dem Judentum eigenen Stil, der dessen Umgang mit der Heiligen Schrift charakterisiert.51 Möchte man von einer breiten Definition ausgehen, so ist Midrasch die „Suche“ nach dem Sinn der Schrift, die geleitet wird von der Überzeugung, dass die Schrift ihren Lesern gleichzeitig ist und für sie eine andauernde Aktualität besitzt. Die Verfasser eines Midrasch bemühen sich, diese Aktualität zu erforschen, indem sie den biblischen Text in ihre eigene und die 50 HEINEMANN, „Synkrisis oder äußere Analogie“. Heinemann hebt hervor, dass in Weish 11–19 der jüdische Einfluss sehr deutlich ist und nicht zugunsten des griechischen Einflusses heruntergespielt werden darf. 51 LE DÉAUT, Roger, „A propos d’une définition du Midrash“: Bib 50 (1969) 395–413.

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Lebenssituation ihrer Hörer hereinholen. Die Wahrnehmung der Einheit der Schrift und ihrer andauernden Aktualität für jeden, der sie hört, stellen deshalb die besonderen Züge jedes midraschartigen Kommentars dar, der also zugleich einen volkstümlichen und homiletischen Charakter besitzt. In so verstandener Weise ist es möglich, vom midraschartigen Charakter des Buches der Weisheit zu sprechen, insbesondere des dritten Buchteils (Weish 10–19), der die Exoduserzählung aufnimmt. Aber auch der erste Teil (Weish 1–6) weist einen derartigen midraschartigen Stil auf.52 Denn das Ziel des Verfassers ist es, die Einheit der Schrift und zugleich ihre Aktualität für die Leser seiner Zeit zu zeigen, und er erreicht so, was Roger Le Déaut in einer glücklichen Formulierung ein „Zum Klingen-Bringen der Geschichte“53 genannt hat. Was das Buch der Weisheit zu einem völlig originellen Werk macht, ist gerade diese enge Verbindung des midraschartigen Stils mit einer griechischen literarischen Gattung, dem Enkomion. Die Genialität des alexandrinischen Weisen liegt darin, in einer griechischen literarischen Form einen zutiefst jüdischen Inhalt auszudrücken. Dem Verfasser des Buches ist es so gelungen, seinen Hörern einen Text vorzutragen, der zwar der biblischen Tradition treu bleibt, diese aber in einer ihnen viel leichter zugänglichen Sprache formuliert.54 Man kann also sagen, dass im Buch der Weisheit eine Art griechischer Midrasch zu den Schriften Israels vorliegt.55

Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung Verfasser Der Verfasser des Buches verbirgt sich unter der Maske Salomos. Dies wird in den Kapiteln 7–8 und insbesondere in dem Gebet Weish 9 deutlich, wenn auch der Name Salomo nie ausdrücklich genannt wird. Einige Kirchenväter dachten noch an die historische Person Salomos; das Muratorische Fragment (Z. 69–71) denkt eher an Freunde: ab amicis Salomonis in honorem eius scripta.56 Hieronymus erwähnt auch die Auffassung, die er selbst nicht zu teilen scheint, dass Philon von Alexandria der Verfasser des Buches der Weisheit gewesen sei; von daher entstand eine

52 SCHABERG, „Major Midrashic Traditions in Wisdom 1,1 – 6,25“. 53 LE DÉAUT, „A propos d’une définition“, 406 (s.o. Fußnote 51). 54 „He (the Sage) employs what Ricoeur calls distanciation because he was able to ‘decontextualize’ the biblical text and to ‘re-contextualize’ it in a way that would appeal to readers in a different culture. In a sense he did for a group of Jews what early Christian preachers did for their fellow believers by reinterpreting figures received from the written Hebraic and Hellenistic cultures in regard to Jesus“, REESE, „Can Paul Ricoeur’s Method Contribute to Interpreting the Book of Wisdom?“, 390. 55 Schon FREUDENTHAL, Hellenistische Studien: Alexander Polyhistor, Breslau: Barth und Comp. 1875, 65–68, sprach von einem hellenistischen Midrasch; vgl. WEINGREEN, From Bible to Mishna: the Continuity of Tradition, Manchester: Manchester University Press 1976. 56 Eine Liste von patristischen Texten, die Salomo als Verfasser des Buches der Weisheit bezeichnen, bieten VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 53 Anm. 8; HORBURY, „Christian Use“, 189.

Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung

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Legende über einen vermuteten christlichen Philon.57 Die Stellung des Buches der Weisheit im Kanon ließ andererseits und wohl natürlicherweise an Ben Sirach oder an seinen Neffen, den Übersetzer des Sirach-Buches als Verfasser denken. Diese Vermutung wurde bereits von Augustinus vorgebracht in Doctr. chr. II, 8,13, später aber von ihm wieder zurückgezogen (Retract. II, 30[4]. 2).58 In der Folgezeit dachte man auch an den Hohenpriester Onias, an den Philosophen Aristobulos, an den in der Apostelgeschichte (Apg 18) erwähnten Apollo aus Alexandria – sämtlich rein hypothetische Annahmen.59 Eine genaue Identifikation des Verfassers ist in Wirklichkeit unmöglich. Wir müssen uns damit begnügen, an einen anonymen Juden griechischer Muttersprache in Alexandria zu denken, der eine umfassende Kenntnis der Schrift besaß, tief verwurzelt war in der jüdischen Überlieferung, aber zugleich der kulturellen und geistigen Umwelt in der Stadt Alexandria eng verbunden.

Datierung Die Abfassungszeit des Buches der Weisheit stellte lange ein weiteres Rätsel für Regierungsdie Forschung dar;60 die in der Vergangenheit dafür vorgeschlagenen Daten bewe- zeit Caligulas? gen sich vom Beginn des 2. Jh. v. Chr. bis zur Zeit Caligulas (37–41 n. Chr.).61 Argumente von der Sprache des Buches her nötigen nicht zu einer Datierung in die Zeit Caligulas;62 bei dieser Datierung spielen die möglichen Beziehungen zu Philon von Alexandria ein Rolle; wenn man nämlich annimmt, der Verfasser habe Philon gekannt, muss die Abfassung des Buches der Weisheit in einer diesem nahen Zeit angesetzt werden. Die Regierungszeit Caligulas stellt einen plausiblen Hintergrund für die Verfolgungen von Juden dar, auf die der Text von Weish 2 anzuspielen scheint; gerade auf Caligula könnte auch der Text von Weish 14,15– 17 anspielen, der von der Vergöttlichung des Herrschers spricht.63 Abschnitte wie 57 HIERONYMUS, Praef. in libros Sal. (PL XXVIII, 1308). Vgl. BRUNS, Peter E., „Philo Christianus: the Debris of a Legend“, HTR 66 (1973) 141–145. Zum Fragmentum Muratori s. HORBURY, „The Wisdom of Solomon in the Muratorian Fragment“, JTS 45 (1994) 149–159. 58 LA BONNARDIÈRE, Biblia augustiniana, 46–57; 144–145. 59 LARCHER, Sagesse I, 125–139; WINSTON, Wisdom, 12–14. 60 LARCHER, Sagesse I, 141–161; er denkt an verschiedene Zeiten der Abfassung für die verschiedenen Teile des Buches, und zwar ab 31/30 v.Chr. bis 15–10 v. Chr. für den dritten Teil; eine jüngere Sicht tragen GILBERT, „Sagesse“, 91–93, und VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 59–70 vor; VÍLCHEZ LÍNDEZ bietet drei Anhänge, die dem Buch der Weisheit einen Ort im alexandrinischen Milieu am Ende des 1. Jh.s v. Chr. geben (Sapienza, 544– 607). 61 Vgl. WINSTON, Wisdom of Solomon, 20–25; SCARPAT vertrat mit Nachdruck eine Datierung des Buches der Weisheit in der Zeit Caligulas: „Ancora sull’autore“, bes. 180–184, und nochmals in: „Ancora sulla data“. 62 SCARPAT, „Ancora sull’autore“, passim; Scarpat merkt an, dass solche Argumente nur beweisen, dass der terminus a quo der Abfassung des Buches der Prinzipat des Octavianus ist; vgl. ähnliche Beobachtungen in WINSTON, Wisdom, 22–23 mit Fußnote 33; er führt dort 35 Wörter aus dem Buch der Weisheit auf, die in der übrigen griechischen Literatur nicht vor dem 1. Jh. n. Chr. auftauchen. 63 Vgl. das in PERDUE, The Sword and the Stylus, 292–309, gezeichnete historische Bild.

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Zeit des Augustus

Weish 19,13– 17 und die Frage der Bürgerrechte

Einleitung

Weish 5,16–23 würden eine historisch tatsächlich verzweifelte Situation voraussetzen, die erst zur Zeit Caligulas bestand.64 Dazu ist jedoch anzumerken, dass die Ähnlichkeiten zwischen dem Buch der Weisheit und Philon auch durch die gemeinsame kulturelle Umwelt erklärt werden können, denn Weish scheint das Werk Philons nicht tatsächlich gekannt zu haben. In Bezug auf die möglichen Anspielungen auf Judenverfolgungen ist zu bemerken, dass Weish 2 eher eine typische Situation der Verfolgung des Gerechten durch die Gottlosen vorauszusetzen scheint als eine aktuelle Verfolgungssituation; vielleicht will der Verfasser sich auf frühere Verfolgungen von Juden beziehen, sei es in Ägypten selbst oder in Judäa (s.u.). Im Innern des Buches lassen sich Anzeichen finden, die eher eine Datierung während der Zeit des Octavianus Augustus bestätigen, d.h. zwischen 30 v. Chr. und 14 n. Chr., wahrscheinlich in der letzten Phase des Prinzipats. Die Untersuchung des Vokabulars des Buches erlaubt es nicht mehr, seine Abfassung vor der Augustuszeit anzusetzen. Das klassisch gewordene Argument ist das Vorkommen des Ausdrucks κράτησις „Machtübernahme“ in Weish 6,3: Dieser terminus technicus bezeichnet die Inbesitznahme Ägyptens durch die Römer im Jahre 30 v. Chr. im Anschluss an die Seeschlacht von Aktium. Maurice Gilbert hat gezeigt, dass der Ausdruck τῆς καίσαρος κρατήσεως, der in Bezug auf die Eroberung Ägyptens durch Octavianus verwendet wurde, nach dem Tod des Kaisers 14 n. Chr. völlig außer Gebrauch geriet. Das Vorkommen von κράτησις stellt also nicht nur einen terminus a quo dar, sondern ist auch als terminus ad quem für die Datierung des Buches zu betrachten.65 Ein weiteres, im Buch der Weisheit auffindbares Anzeichen, dass seine Abfassung der augusteischen Zeit zuzuordnen ist, ist der Text von Weish 14,22, in dem ironisch wohl auf die von Octavianus Augustus im Jahre 9 v. Chr. verkündete pax romana angespielt wird, wobei der ganze Abschnitt 14,16–22 auf den entstehenden Kaiserkult Bezug nehmen könnte, den es bereits zur Zeit Octavians gab und nicht erst seit Caligula. Die Feindseligkeit, die das Buch gegenüber den Ägyptern zeigt, kann gelesen werden als ein Anzeichen der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse nach der Ankunft der Römer und vor allem als Ausdruck der unter den Juden in Alexandria entstandenen Unzufriedenheit infolge der sogenannten laographía, der Einführung einer Kopfsteuer, die Rom seit den ersten Jahren der Herrschaft des Augustus von allen erhob, die, wie die Juden, nicht die vollen alexandrinischen Bürgerrechte genossen. In Weish 19,13–17 spiegelt sich das konfliktreiche Problem, dass die Juden in Alexandria nicht die vollen Bürgerrechte genossen. Der Kampf für die Bürgerrechte lässt aber auch einen viel weiter reichenden Anspruch zutage treten: Die Juden in Alexandria kämpfen gleichzeitig für ihre gesellschaftliche Integration und für die Anerkennung ihrer Besonderheit. Während der reiche und gutsituierte Philon sich den Griechen sehr nahe fühlt und nachdrücklich die Gleichstellung der Juden von Alexandria mit dem griechischen Bevölkerungsteil fordert, betrachtet der Verfasser des dritten Makkabäerbuches den Versuch, die alexandrinischen Bürgerrechte zu erwerben, oder überhaupt die Bemühung um irgendeine politi-

64 „A desperate historical situation“, so WINSTON, Wisdom, 23. 65 GILBERT, „Your sovereignity comes from the Lord. Wis 6,4“; in: DERS., La Sagesse de Salomon, 121–140 [bes. 127–129].

Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung

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sche und gesellschaftliche Integration als Verrat an der eigenen Religion „um des Bauches willen“ (3Makk 7,11). Denn die Juden sind λαὸς ἐν ξένῃ γῇ ξένος „ein Volk, fremd in fremdem Land“ 3Makk 6,3.66 In 3Makk 3,3–4 werden als wirklich treue Juden diejenigen betrachtet, die zwar gegenüber den Königen aufrichtige Loyalität (εὔνοιαν καὶ πίστιν ἀδιάστροφον) wahren, jedoch nach dem Gesetz ihres Gottes leben (πολιτευόμενοι) „und deshalb einigen hassenswert erschienen“. Es ist klar, dass eine volle Integration in die griechische Gesellschaft, angefangen von einem Eintritt ins Gymnasium, dem größten Teil der Juden unüberwindbare religiöse Probleme bereitet hätte. Wäre es also möglich, eine Integration in die griechische Umwelt anzustreben und gleichzeitig die eigene Religion zu bewahren? Mit verschiedenen Nuancen und in oft gegensätzlicher Weise (so Philon gegenüber dem dritten Makkabäerbuch) wollen die Juden von Alexandria Bürger und zugleich andersartig sein. Der Verfasser des Buches der Weisheit möchte einen Mittelweg gehen zwischen der ablehnenden Betrachtungsweise des dritten Makkabäerbuches und der Aufgeschlossenheit, die kurze Zeit später Philon kennzeichnet. Die Haltung, für die das Buch der Weisheit in Bezug auf die Rechte der Juden in Alexandria eintritt, ist ein Judentum, das sich seiner Besonderheit bewusst ist, aber gleichzeitig eine gewisse Integration sucht.67 Wie im ganzen übrigen Buch gibt der Verfasser auch in Weish 19,13–17 nie der Versuchung nach, die eigene Religion aufzugeben. Sogar die Ägypter, wenn sie auch ungläubig waren, hatten Vorteile von der Anwesenheit der Israeliten; dabei waren gerade sie es doch, die die Gäste und Fremden hassten. In dieser Betrachtungsweise steckt sicher ein gewisser Idealismus: Wir möchten unsere volle religiöse Identität bewahren, so scheint der Verfasser zu sagen, und zugleich die dem griechischen Bevölkerungsteil der Stadt zuerkannten allgemeinen Rechte erhalten. Für die Griechen werden so die Juden hassenswerte Privilegierte bleiben, wie Flavius Josephus den Apion sagen lassen wird: „Warum also, wenn sie Bürger sind, ehren sie nicht dieselben Götter wie die Alexandriner?“ (Apion. 2,65). Für das Buch der Weisheit jedoch geht es darum, eine gute Beziehung zu den Griechen aufrecht zu erhalten und dabei doch dem eigenen Gesetz treu zu bleiben.68

Ort der Abfassung Dass bei der Abfassung des Buches der Weisheit Ägypten den Hintergrund bildet, erscheint unbestreitbar: Die Ägypter zusammen mit den Israeliten sind die Hauptfiguren im ganzen dritten Teil des Buches, der sich zwar auf eine relecture der Exoduserzählungen stützt, aber ständig auf die historische Situation Ägyptens in 66 Zum Problem der ἰσοπολιτεία (bürgerrechtliche Gleichstellung) in 3Makk vgl. PASSONI DELL’ACQUA, Anna, „Terzo Libro dei Maccabei“, in: SACCHI, Paolo (Hg.), Apocrifi dell’Antico Testamento (Brescia: Queriniana 2000), 605–609. 67 „To ask for the advantages of Greek citizenship and then to repudiate some of its obligations as incompatible with their national religion was to attempt to make the best of both worlds“, SMALLWOOD, E. Mary, The Jews under Roman Rule. Studies in Judaism in Late Antiquity (Leiden: Brill 19812), 14. 68 Vgl. MAZZINGHI, „Wis 19,13–17 and the Civil Rights of Alexandrinian Jews“, passim.

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hellenistisch-römischer Zeit anspielt. Der oben angeführte Text von Weish 19,13– 17 lässt wenige Zweifel bezüglich der Herkunft des Verfassers aus Ägypten. Die Darstellung der Gottlosen in Weish 2 findet ihre natürlichste Erklärung, wenn sie auf dem Hintergrund des Lebens in der Stadt Alexandria betrachtet wird. Mit ihren berühmten Einrichtungen, der Bibliothek und dem Museum, ist Alexandria ein kulturelles und religiöses Zentrum. Seit ihrer Gründung besteht in dieser Stadt die auch zahlenmäßig bedeutendste Ansiedlung von Juden außerhalb des Landes Israel. Sie ist der wahrscheinlichste Ort für die Abfassung des Buches.69

Das Buch der Weisheit und die Schrift70 Der Verfasser des Buches der Weisheit zeigt eine große Vertrautheit mit den Schriften Israels und setzt bei seinen Hörern deren umfassende Kenntnis voraus. Das Buch folgt oft der griechischen Übersetzung der Septuaginta, wenn auch ein Rückgriff auf den hebräischen Text nicht völlig auszuschließen ist.71 Ein besonderes Merkmal des Verfassers ist es, dass er nie ausdrücklich einen biblischen Text zitiert, sondern ihn nur andeutet oder darauf anspielt und so seiner Hörerschaft die Mühe (aber auch die Freude) der Entdeckung überlässt.72 Hier soll nur eine allgemeine Übersicht gegeben werden, die einer ersten Orientierung dient, in welcher Weise der Verfasser den heiligen Text verwendet hat. Im ersten Teil des Buches (Weish 1–6) beschäftigt sich der Verfasser mit den auch Weish 1–6 von Ijob und von Kohelet gestellten Fragen der Vergeltung: Wie verhält es sich mit der Gerechtigkeit Gottes, wenn der Gerechte leidet und stirbt, während der Gottlose Erfolg zu haben scheint?73 Die Antwort, die das Buch der Weisheit anbie69 Zu Alexandria in Ägypten siehe FRASER, Peter Marshall, Ptolemaic Alexandria, 1–2, Oxford: Clarendon Press 1972; HAAS, Christopher, Alexandria in Late Antiquity. Topography and Social Conflict, Baltimore (MD): The John Hopkins University 1997; ENGSTER, Dorit, „Alexandria als Stadt der Forschung und Technik“, BN 147 (2010) 50–66; NESSELRATH, HeinzGünther, „Das Museion von Alexandria“, BN 147 (2010) 66–82; TANASEANU-DÖBLER, Ilinca, „Philosophie in Alexandria. Der Kreis um Ammonios Sakkas“, BN 147 (2010) 82–103. Über die Anwesenheit von Juden in Alexandria siehe TCHERIKOVER, Victor A. in: TCHERIKOVER, Victor A. / FUKS, Alexander (eds.), Corpus Papyrorum Judaicarum, I, Cambridge (Mass.): Harvard University Press 1957, 2–93; DERS., Hellenistic Civilization and the Jews, Philadelphia: The Jewish Publications Society of America 1962; KASHER, Ariey, The Jews in Hellenistic and Roman Egypt, Tübingen: J. C. B. Mohr 1985; BARCLAY, John M. G., Jews in the Mediterranean Diaspora from Alexander to Trajan (323 BCE – 117 CE), Edinburgh: T&T Clark 1996; MÉLÈZE MODRZEJEWSKI, Joseph, Les Juifs d’Egypte de Ramses II à Hadrien, Paris: Presses Universitaires de France 1997. 70 Eine Übersicht hierzu bieten LARCHER, Etudes, 85–103; GILBERT, „Sagesse“, 93–95; DERS., „Wisdom of Solomon and Scripture“; ADINOLFI, „Il senso dell’economia paleotestamentaria“; SKEHAN, Studies in Israelite Poetry and Wisdom, 143–236. 71 FICHTNER, „Der AT-Text der Sapientia Salomonis“, passim. 72 „L’auteur ne facilite pas l’enquête …“: GILBERT, „Sagesse“, 93. 73 D’ALARIO, „La réflexion sur le sens de la vie en Sg 1–5. Une réponse aux questions de Job et de Qohélet“.

Das Buch der Weisheit und die Schrift

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tet, nämlich die ewige Glückseligkeit des Gerechten und das traurige Los des Gottlosen beim Endgericht, wird aus einer kühnen relecture von Gen 1–3 heraus entwickelt:74 Der ursprüngliche Plan Gottes für den Menschen, der in dem Genesistext ausgedrückt ist, wird neu gelesen, besonders in Weish 1,13–15 und 2,23–24, im Sinne von Unvergänglichkeit. Die Texte von Gen 1–3 finden sich ziemlich über das ganze Buch verstreut; darin zeigt sich das grundlegende Interesse des Verfassers an einer Schöpfungstheologie: Der Kosmos ist bestimmt zum Leben (Weish 1,13– 14; 2,23–24); das Heil (Weish 19,6–12) wird gerade in einer erneuerten Schöpfung bestehen. Der Götzendienst stellt eine Verkehrung des Sinnes der Schöpfung dar (Weish 13,13; 15,8.11). Die Darstellung der Gottlosen in Weish 2,1–20 nimmt viele biblische Themen auf, z.B. aus dem Buch Ijob und den Psalmen; aber schon in Weish 1,10–11 war das Murr-Motiv aus den Exoduserzählungen aufgetaucht. In der Beschreibung des leidenden Gerechten (Weish 2,10–20) unternimmt der Verfasser eine relecture von Ps 22 und besonders von Jes 53, dem vierten Gottesknechtlied.75 In der Formulierung der angekündigten Glückseligkeit der Gerechten (Weish 3–4 lassen sich Texte eschatologischen Charakters entdecken wie Ps 2, der von Weish 1,1 an verwendet wird neben Dan 7 und 12; die Danieltexte werden innerhalb eines weisheitlichen Rahmens und ohne ihren messianischen Bedeutungsgehalt vorgetragen und zu einer eigentlichen weisheitlichen Anthropologie umgestaltet.76 In den Kapiteln 3 und 4 ist dem Verfasser das Jesajabuch ständig gegenwärtig; vgl. Weish 5,17–20 gegenüber Jes 59,16–17. Das Jesajabuch ist eine der Hauptquellen des Verfassers, während Jeremia und Ezechiel in viel geringerem Ausmaß verwendet sind.77 Die Neuheit dessen, was der Verfasser über die Unsterblichkeit der Gerechten lehrt, stammt vor allem aus seinem tiefen Nachdenken über Jesajatexte (vgl. Weish 2,23 und Jes 54,16–17). Im zweiten Teil des Buches (Weish 7–9 bilden vor allem die beiden klassischen Weish 7–9 Texte über das Gebet Salomos um Weisheit den Ausgangspunkt: 1Kön 3,5–15 und 2Chr 1,7–12 (vgl. 1Kön 5,13). Sie liegen insbesondere Weish 9 zugrunde, wo auch Echos von Texten aus der Genesis, den Exoduserzählungen und den Prophetenbüchern wiederkehren. Bei der Beschreibung der Liebe Salomos zur Weisheit werden außer vielen anderen biblischen Texten auch verschiedene Abschnitte des Sprüchebuches78 verwendet: Weish 7–8 greift neben anderem auf Spr 8,22–30 zurück (vgl. Weish 7,12.21; 8,6), aber auch auf Sir 24. Im dritten Teil des Buches (Weish 10–19) ist die Reihe der acht Gerechten von Weish 10–19 Adam bis Mose, die in Weish 10 dargestellt werden, eine genaue und umfangreiche

74 GILBERT, „La relecture de Genèse 1 à 3 dans le livre de la Sagesse“. 75 SUGGS, „Wisdom of Solomon: a Homily based on the Fourth Servant Song“. 76 „Apocalypse is transformed into a philosophical stance and an offering of a revelation of the ultimate structure of reality, of the basic plan of God for humanity“, SCHABERG, „Major Midrashic Traditions“, 90. 77 SKEHAN, „Isaiah and the teaching of the Book of Wisdom“; BEENTJES, „Wisdom of Solomon 3,1 – 4,19 and the Book of Isaiah“. 78 CLIFFORD, „Proverbs as a source for the book of Wisdom“; vgl. auch SKEHAN, „The literary relationship“, passim. Nur das Hohelied wird überraschenderweise nicht herangezogen, Gilbert, „Wisdom of Solomon and Scripture“, 617.

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Wiederaufnahme vieler Abschnitte aus den Büchern Genesis und Exodus; die Aufstellung in Kap. 10 erinnert auch an das Lob der Väter in Sir 44–50.79 Die sieben Gegenüberstellungen (Weish 11,1–14; 16,1 – 19,9) halten sich eng an die Überlieferungen von Exodus und Wüstenzug (besonders in Ex und Num),80 nehmen aber auch die relecture dieser Überlieferungen auf, die sich bereits in Ps 78, 105 und 107 finden. Diese Psalmen wirken nicht als solche auf die Struktur des Buches ein, jedoch ist das ganze Buch der Weisheit von Anspielungen auf Psalmtexte und Zitate aus den Psalmen durchzogen.81 Weniger präsent sind das Buch Leviticus (denn der Verfasser hat kein starkes kultisches Interesse) und das Deuteronomium (vgl. jedoch Weish 6,7a.b mit Dtn 1,7 und Weish 16,26 mit Dtn 8,3). Für den Verfasser hat die Tora nicht in erster Linie als Gesetzestext Bedeutung, auch Ex–Num haben ihre Vorzugsstellung im Buch vor allem als Erzähltexte. Die Exoduserzählungen werden durchgehend in aktualisierender Weise dargeboten und im Licht der Situation der Juden in Alexandria am Ende des 1. Jh.s v. Chr. neu gelesen. In der ersten eingeschalteten Überlegung (Weish 11,15 – 12,27) erwägt das Buch der Weisheit, weshalb Gott die Ägypter nicht so streng bestraft, wie er es mit den Kanaanäern tun wird. Die Erzählungen des Pentateuchs und des Buches Josua werden hier vor allem dazu benutzt, die Menschenfreundlichkeit Gottes hervorzuheben. In der eingeschalteten Überlegung zur Götzenverehrung (Weish 13–15) nimmt der Verfasser Texte aus der Propheten- und Psalmentradition auf, die gegen die Götzenverehrung polemisieren. Insbesondere ragt die Verwendung der Götzenpolemik in Jes 40–55 (vgl. Jes 44,9–20, aber auch in Ps 113,1–16 heraus. Der Schlussabschnitt (Weish 19,10–22) ist großenteils eine gewagte relecture der Schöpfungserzählung von Gen 1,1 – 2,4a und dient dazu, die Hauptthese des Verfassers darzulegen: die tiefe Verbindung der Heilsgeschichte mit der Schöpfung. Die Ereignisse beim Exodus werden hier vor dem Hintergrund der Schöpfungserzählung in Gen 1 neu dargestellt. Dieses Ineinanderlesen der Exodusund der Schöpfungserzählungen ergibt das Vorausbild einer erneuerten Schöpfung.82 Das Buch der Weisheit erscheint also tief durchwoben von ständigen Bezugnahmen auf biblische Texte. Dabei handelt es sich nicht einfach um ein Mosaik von Anspielungen auf Stellen, wo solche notwendig sein könnten. Gerade dadurch, dass er niemals einen Text direkt zitiert, lässt der Verfasser seiner Hörerschaft vor allem die Freiheit, jede gefundene Bezugsstelle wieder in ihren ursprünglichen Kontext einzufügen und so tiefer den Sinn zu durchdringen, den dieser Text ihr vermitteln will. Der Verfasser ist tief überzeugt von der Einheit der biblischen Schriften, daher sein anthologisches Vorgehen: Ein biblischer Text verweist immer zugleich auf 79 Vgl. GILBERT, „The Review of History in Ben Sira 44–50 and Wisdom 10–19“; zu einem Vergleich zwischen Sir und Weish s. auch DI LELLA, „Conservative and Progressive Theology: Sirach and Wisdom“. 80 SCHWENK-BESSLER, Sapientia Salomonis als ein Beispiel frühjüdischer Textauslegung. Die Auslegung des Buches Genesis, Exodus 1–15 und Teilen der Wüstentradition in Sap 10–19; CHEON, Exodus in the Wisdom of Solomon; Enns, Exodus Retold. 81 SKEHAN, „Borrowings from the Psalms in the Book of Wisdom“. 82 Vgl. die Schlussüberlegungen bei GILBERT, „La relecture de Genèse 1–3“, 343–344.

Das Buch der Weisheit und die frühjüdische Tradition

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einen anderen. Die Schrift wird von ihm als ein Wort Gottes verstanden, das ein Bedeutungsgefüge erzeugt. Bei der Verwendung der biblischen Texte beachtet der Verfasser sorgsam deren Kontext und zeigt sich zugleich ausgesprochen kreativ im Sinne einer eindrucksvollen Aktualisierung eben dieser Texte. Auf diese Weise macht der Autor seiner Hörerschaft deutlich, dass das Wort Gottes für sie immer lebendig und aktuell ist, wenn sie verstehen, es in neuen Kontexten zu lesen wie hier in ihrer Umwelt von Alexandria. Darin liegt die Eigenart der Schriftverwendung durch den Verfasser.83

Das Buch der Weisheit und die frühjüdische Tradition84 Das Buch der Weisheit fügt sich sowohl in die biblische als auch in die jüdische Literatur seiner Zeit ein. Ein Vergleich mit zeitgenössischen Texten wie einigen Teilen der Henoch-Bücher und den Qumranhandschriften zeigt, dass der Verfasser die darin vorkommenden Traditionen kennt oder in einigen Fällen vielleicht sogar diese zeitgenössischen Werke selbst. 1. Die Henoch-Überlieferung.85 Der Verfasser könnte den sog. Henoch-Brief (1 Hen 91–105; vgl. auch 1 Hen 108) gekannt haben, der wahrscheinlich in der gleichen Zeit geschrieben wurde. Ein größerer Teil dieses Briefes handelt von der Offenbarung des „Geheimnisses“ der eschatologischen Belohnung der Gerechten (vgl. 1 Hen 104,2) und der Bestrafung der Gottlosen. Vielleicht kannte der Verfasser des Buches der Weisheit auch die Einleitung des Henoch-Buches (1 Hen 1–5), wo bereits das Gericht Gottes angekündigt wird, das die Bestrafung der Gottlosen im Gegenüber zur Herrlichkeit der Gerechten mit sich bringt. Der Henoch-Brief ist dadurch gekennzeichnet, dass er eine spezifisch weisheitliche Perspektive in eine entschieden apokalyptische theologische Betrachtungsweise integrieren kann. Demgegenüber bietet das Buch der Weisheit eine weisheitliche Eschatologie, die nicht mit der Apokalyptik verbunden ist und sich deutlich vom für die HenochÜberlieferung bezeichnenden Dualismus, Determinismus und Pessimismus fernhält. 2. Qumran. Im Blick auf die Qumran-Literatur behandelt das Buch der Weisheit Themen, die sie mit dieser gemeinsam hat: die Beachtung der eschatologischen Dimension, das Thema der Verherrlichung der Gerechten und der Bestrafung der Gottlosen, die Vorstellung einer Auferstehung, das offenbarte göttliche „Geheim-

83 Vgl. DIMANT, Devorah, „Use and Interpretation of Mikra in the Apocrypha and Pseudepigrapha“ in: MULDER, Martin Jan (Hg.), Mikra: Text, Translation, Reading and Interpretation of the Holy Bible in Ancient Judaism and Early Christianity (Assen: Van Gorcum 1988), 409– 415. Vgl. auch MAZZINGHI, „La figura di Abramo in Sap 10,5“. 84 GILBERT, „Sagesse“, 95–98; LARCHER, Etudes, 103–112; 302–305 (Weish und Henochliteratur); 112–132 (Weish und Qumran); 132–151 (Weish und hellenistisches Judentum). 85 GRELOT, „L’eschatologie de la Sagesse et les apocalyptiques juives“; Grelot sieht eine Nähe zwischen der Eschatologie von Weish und der in Qumran. Vgl. auch COLLINS, Jewish Wisdom, 182–185.

Weisheit und Henoch

Weisheit und Qumran

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Das Buch der Weisheit und die jüdischpalästinischen Überlieferungen

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nis“.86 Das wachsende Interesse der Forscher für die Qumrantexte, die einer weisheitlich-apokalyptischen Strömung angehören, die sog. Weisheitlichen Unterweisungen (“Sapiential works“ oder „Instructions“: 1Q26; 4Q415–418a; 4Q423; vgl. auch 4Q419 und 4Q424, zu denen die Texte 1Q27 und 4Q299–301 hinzuzufügen sind; hinzuweisen ist auch auf das Buch der Geheimnisse) bieten heute die Möglichkeit, tiefgehender die Beziehung zwischen dem Buch der Weisheit und einer Form von „apokalyptischer“ Weisheit, die in diesen Qumrantexten bezeugt ist, zu erfassen.87Der Verfasser konnte sicherlich die Umwelt und die Theologie der Gemeinschaft vom Toten Meer kennen und vielleicht sogar einige ihrer Texte. Man denke an die qumranische Sicht in Bezug auf das Los der Gerechten und die Auferstehung, vgl. 4Q521 5ii7: „… wenn der, der lebendig macht, die Toten seines Volkes [aufer]weckt…“; vgl. auch den Text 4Q 418 69 ii 4–15, der zu den weisheitlichen Unterweisungen gehört, in dem sich das ewige Los der Gerechten deutlich von dem der Gottlosen unterscheidet, wie es ebenso im Buch der Weisheit geschieht. Das Thema des endzeitlichen Kampfes, wie er in Weish 5,17–23 beschrieben wird, kann verglichen werden mit der Darstellung in 1QH XIV 32–39.88 Auch in Qumran ist die Verwendung der Geschichte Israels, insbesondere des Exodus, als Argument in der weisheitlichen Unterweisung bezeugt, vgl. 4Q 185 1–2i14–15.89 Und dennoch ist die theologische Perspektive in Weish durchaus verschieden von der qumranischen; denn in Weish fehlt jedes Anzeichen von Dualismus und Determinismus, und die Betrachtungsweise der Schöpfung in Weish ist durch und durch positiv, ohne irgendwelchen Pessimismus (vgl. 1,14). 3. Die jüdisch-palästinischen Überlieferungen. Was in einem alexandrinischen Text wie dem Buch der Weisheit vor allem überrascht, ist die Nähe zu Traditionen des palästinischen Judentums, die uns aus den Targumim, den Midraschim und der rabbinischen Literatur der späteren Jahrhunderte bekannt sind. In Weish 10– 19 stimmen die Auslegungen der Texte aus der Genesis und dem Buch Exodus nicht selten mit den in den Targumim vorgenommenen Deutungen überein, die später auch in den Midrasch-Überlieferungen bezeugt sind. In einigen Fällen scheint das Buch der Weisheit sogar der älteste Zeuge von Bibelauslegungen zu sein, die die Targum- und Midrasch-Literatur kennzeichnen; vgl. die Verknüpfung der Abraham- mit der Babel-Erzählung in Weish 10,5, die Überlieferung in Weish 10,21 über die Kinder, die Gott beim Durchzug durch das Meer loben;90 die Traditionen über die Plage der Finsternis in Ex 10,21–23, die in Weish 18,1–4 im „Licht des Gesetzes“ neu gelesen werden. So zeigt sich das Buch der Weisheit tief verwurzelt in den Überlieferungen Israels gerade in dem Moment, in dem es sich dem Hellenismus öffnet. 86 MAZZINGHI, „I misteri di Dio: dal libro della Sapienza all’Apocalisse“. Während die Gemeinschaft am Toten Meer die Kenntnis der Geheimnisse nur ihren Mitgliedern vorbehält, tritt das Buch der Weisheit dafür ein, dass die Geheimnisse Gottes allen zugänglich sind (vgl. Weish 2,21; 6,21–25). 87 Vgl. COLLINS, „The Mysteries of God“, passim. 88 PUECH, „The Book of Wisdom and the Dead Sea Scrolls“, passim. 89 Dieser Qumrantext spiegelt ein Stadium der Weisheitstradition, in dem sich die Berufung auf die Überlieferungen Israels mit apokalyptischen Begriffen verbindet und das Ganze Teil einer weisheitlichen Lehre wird, vgl. COLLINS, Jewish Wisdom, 117. 90 GRELOT, „Sagesse 10,21 et le Targum de l’Exode“.

Das Buch der Weisheit und die frühjüdische Tradition

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4. Die Literatur des griechischsprachigen Judentums. Die Nähe des Buches der Weisheit zur jüdisch-alexandrinischen griechischen Literatur ist sehr groß, da das Buch im gleichen kulturellen Kontext entstanden ist. Das Buch der Weisheit zeigt Kenntnis des Aristeasbriefes, mit dem es die universalistische Perspektive und die Hochschätzung der Dialogform teilt, besitzt aber eine viel festere Bindung an die biblische Überlieferung und zeigt nie eine so deutliche apologetische Tendenz wie der Aristeasbrief. Auf der Ebene des Wortschatzes gibt es eine bemerkenswerte Nähe zum Dritten und Vierten Makkabäerbuch, wenn es auch schwierig ist, eine tatsächliche Abhängigkeit in der einen oder anderen Richtung zu beweisen. Beachtliche Kontakte bestehen zwischen dem Buch der Weisheit und den Testamenten der 12 Patriarchen; aber auch hierbei ist es schwierig zu beweisen, in welcher Richtung eine mögliche Abhängigkeit verläuft. Von alexandrinischem Judentum zu sprechen, bedeutet vor allem, von Philon zu reden. Meistens wird die Frage einer Beziehung zwischen dem Buch der Weisheit und Philon negativ beantwortet, außer wenn man die Entstehung des Buches der Weisheit erst nach dem jüdisch-alexandrinischen Philosophen bzw. der Abfassung seiner Werke ansetzt (so David Winston und Giuseppe Scarpat).91 Es bestehen thematische Bezüge und ein gemeinsamer Wortschatz zwischen Weish und Philon, die sich in Wirklichkeit der gemeinsamen religiösen und kulturellen Umwelt verdanken. Wie Philon beunruhigt auch das Buch der Weisheit die politische Situation der Juden in Alexandria (vgl. 19,13–17). Dennoch geht dabei Weish einen anderen Weg als Philon. Der Verfasser verwendet nicht die allegorische Auslegung der biblischen Texte, die so charakteristisch ist für Philon, er scheint eine solche Methode nicht einmal zu kennen.92 Das Anliegen des Buches der Weisheit ist eher eine relecture der Exodusereignisse mittels eines weisheitlichen Theologie der Schöpfung und zugleich damit in einer deutlich eschatologischen Perspektive. Auch wo der Verfasser mit der griechischen Philosophie in einen Dialog tritt, ist deren Einfluss in Weish viel weniger erheblich als im Werk Philons. Zum Beispiel fehlen im Buch der Weisheit der ständige Bezug auf die platonische Ideenlehre, die sich so häufig bei Philon findet, oder die Überlegungen Philons zu den Kräften (δυνάμεις) Gottes.

91 Eine Gesamtsicht s. in LARCHER, Etudes, 151–178, der annimmt, das Philon das Buch der Weisheit gekannt habe. WINSTON (Wisdom, 59–63) neigt aufgrund seines Datierungsvorschlags zu einer Abhängigkeit des Buches der Weisheit von Philon, betont aber, dass in Weish keine allegorische Auslegung der biblischen Texte zu beobachten ist. 92 Zur Verwendung der Allegorie bei Philon vgl. LAPORTE, Jean, „Philo in the Tradition of Biblical Wisdom Literature“, in: WILKEN, Robert L., (Hg.), Aspect of Wisdom in Judaism and Early Christianity (Notre Dame (IN): University of Notre Dame 1975), 103–143 (Laporte nimmt an, dass Philon das Buch der Weisheit gekannt habe); CAZEAUX, Jacques, „Philon: l’allégorie et l’obsession de la totalité“, in: KUNTZMANN, Raymond – SCHLOSSER, Jacques (Hg.), Etudes sur le judaïsme hellénistique (Paris: Cerf 1984), 267–320.

Das Buch der Weisheit und das griechischsprachige Judentum

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Einleitung

Das Buch der Weisheit und der Hellenismus Wenn Philon von der Stadt Alexandria spricht, bezeichnet er sie als eine μεγαλόπολις oder auch als eine πολύπολις (Flacc. 163), eine Weltstadt, aber nie nennt er sie eine μετρόπολις. Alexandria ist demnach eine Stadt, in der viele Völker zusammen leben, aber Philon empfindet sie nicht als eine Heimatstadt für die Juden, auch wenn sie dort wohnen. Die Beziehung zwischen Juden und Griechen in Alexandria ist schwierig. Das Judentum in Alexandria konnte inmitten einer Umwelt, die von ihm völlig verschieden war, nicht tolerant sein. Von Anpassung zu sprechen bedeutet an sich nicht, von Abfall zu sprechen. Dennoch macht Philon auf das Vorhandensein von Apostaten vom Judentum aufmerksam (vgl. Virt. 182; Spec. I, 54–57; Mos. II, 193– 208). Das Problem gab es also, auch wenn Apostasie unter den alexandrinischen Juden nicht vorherrschend war.93 Wir müssen uns darum fragen, welche Stellung das Buch der Weisheit gegenüber der hellenistischen Welt einnimmt. In der Vergangenheit neigten einige Autoren (Paul Heinisch; Johannes Fichtner) dazu, nur einen ganz geringen Einfluss des Hellenismus auf Weish anzunehmen. Auch heute wird noch die Meinung vertreten, der Verf. von Weish wende sich gegen den Hellenismus.94 Neuere Studien haben jedoch klargestellt, dass die Beziehung von Weish zur hellenistischen Welt in Wirklichkeit sehr vielschichtig und jedenfalls positiv ist.95 Die Beziehung von Weish zur griechischen Philosophie ist tiefgründig und Weish und griechische zeigt, dass der Verfasser viel mehr ist als ein Eklektiker.96 Im Lob der Weisheit Philosophie (bes. in Weish 7–8) ist die Verwendung stoischer Begriffe offensichtlich: vgl. Weish 93 Zum griechischsprachigen Judentum s. das klassische Werk von HENGEL, Martin, Judentum und Hellenismus, Tübingen: J. C. B. Mohr 1969; vgl. MOMIGLIANO, Arnaldo D., Alien Wisdom. The limits of Hellenization, Cambridge: Cambridge University Press 1969; vgl. auch R. KUNTZMANN – J. SCHLOSSER (Hg.), Etudes sur le judaïsme hellénistique; BASLEZ, Françoise-Marie, Bible et histoire. Judaïsme, hellénisme, christianisme, Paris: Fayard 1999. 94 Vgl. BARCLAY, Jews in the Mediterranean Diaspora, 181–192; in Bezug auf das Buch der Weisheit spricht er von „cultural antagonism“. Vgl. das Urteil von HANHART: „Hellenistisches Judentum bedeutet darum nicht Israels Öffnung für die hellenistische Welt und die Umgestaltung seines Wesens (…), sondern die kritische, leidende Auseinandersetzung mit dieser Welt auf Grund dessen, was Israels schon war und jenseits dieser Grenzen bleiben musste“, in: HANHART, Robert, „Die Bedeutung der Septuaginta für die Definition des ‘Hellenistischen Judentums’ „, in: KRATZ, Reinhard Gregor (Hg.), Studien zur Septuaginta und zum Hellenistischen Judentum (FAT 24), Tübingen: Mohr Siebeck 1999, 76. 95 Für einen status quaestionis vgl. LARCHER, Etudes, 179–201 (Weish und die griechische Kultur); 201–223 (Weish und die griechische Philosophie); 222–236 (Weish und hellenistische Quellen); VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 76–86; GILBERT, „Sagesse“, 98–100; DERS., „La Sagesse de Salomon et l’hellénisme“; MAZZINGHI, „Il libro della Sapienza: elementi culturali“. Zur Frage des Einflusses des Hellenismus auf Weish bleibt grundlegend das Werk von REESE, Hellenistic Influence on the Book of Wisdom, bes. 32–89; vgl. auch KEPPER, Hellenistische Bildung. 96 Vgl. LARCHER, Etudes, 201–236, und GILBERT, „Sagesse de Salomon“, 100. Ähnlich bereits FOCKE, Die Entstehung, 90–92. Anders COLLINS, Jewish Wisdom, 202: „The author of Wis. Sol. was not a philosopher (…). Nevertheless there is enough correspondence with Philo to debunk the idea that he was an idiosyncratic amateur making his own superficial use of philosophical terms“.

Das Buch der Weisheit und der Hellenismus

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7,22b-24 und 8,1; der stoische Gedanke eines kosmischen pneuma hilft dem Verfasser, die Gegenwart der Weisheit in der Welt zu beschreiben (vgl. auch 1,6–7; 9,17); in 7,25–26 verbindet sich mit dem Rückgriff auf den Stoizismus eine Verwendung des Platonismus, der auch anderswo im Buch zu bemerken ist (vgl. 8,19–20; 9,15).97 In Weish 18,4 wird der Begriff des nomos in einer Weise eingeführt, die der stoischen Konzeption nicht widerspricht, vielmehr auf sie hinweist. Die Kritik an den Philosophen in 13,1–9 zeigt ein dem Stoizismus gegenüber nicht völlig negatives Vorgehen. Außerdem ist auf die Verwendung stoischer Begriffe wie des Königtums (vgl. den Kommentar zu Weish 1,1) und des aus den neupythagoreischen Traktaten wohlbekannten Verständnisses des Königtums zu verweisen (vgl. dazu Weish 6,1–21) oder auf den Rückgriff auf den in der hellenistischen Welt wohlbekannten Begriff der „Philanthropie“ (vgl. Weish 1,6). Die Beziehung zur hellenistischen Welt betrifft nicht nur die Welt der Philosophie; bereits die Verwendung einer typisch griechischen literarischen Gattung wie des Enkomions ist ein deutliches Anzeichen einer positiven Beziehung zu dieser Welt; erst recht zeigen Stil und Wortschatz eine positive und tiefreichende Beziehung zum Hellenismus. Während Philon seinen Lesern eine wirkliche interpretatio judaica der stoischen Philosophie bieten will, bedient sich das das Buch der Weisheit einiger in seiner Zeit verbreiteter Gedanken – es sind zu einem guten Teil dieselben, die wenig später Philon ebenfalls aufgreifen wird –, um in einer seiner Hörerschaft angepassten Weise das eigene Verständnis der Weisheit Israels auszudrücken. Der Verfasser kennt auch die Alexandria eigene religiöse Einstellung in ihrer viel- Weish und gestaltigen Ausformung. In Weish 14,16b-21 z.B. polemisiert er gegen den Kaiserkult. griechische In vielen Abschnitten des Buches der Weisheit (vgl. 2,21–22; 6,22; 8,2; 9,4.9–10; 12,4; Religion 14,1–10; 17,1 – 18,4) sticht seine Polemik gegen die Mysterienkulte, insbesondere gegen den in Alexandria so verbreiteten Isiskult, hervor. Die Weisheit, wie sie in Weish 7–9 beschrieben wird, wird vom Verfasser im Gewand der Isis vorgestellt nicht nur, um den Juden in Alexandria zu zeigen, dass sie in der Weisheit Israels alles finden können, was Isis ihren Mysten anbietet, sondern auch, um die aus der jüdischen Tradition bekannte Figur der Weisheit in einem Gewand, das seiner Hörerschaft vertrauter war, nämlich dem der Isis, in neuer Lebendigkeit darzustellen.98 Noch schärfer äußert sich der Verfasser gegenüber der Magie, die in seiner Zeit so verbreitet war, vgl. Weish 12,4; siehe besonders den Kommentar zu Weish 17,1 – 18,4.

97 Über den Platonismus in Weish vgl. WINSTON, „A Century of Research“, 9; eine entgegengesetzte Meinung vertritt SCARPAT, Sapienza II, 8. HÜBNER gelangt eher zu der Auffassung, dass der Verfasser eine persönliche Mischung von stoischen und platonischen Gedanken vorlege, indem er z.B. den stoischen Materialismus in Bezug auf das göttliche pneuma durch die Einführung der platonischen Idee der Transzendenz neutralisiere, vgl. „Die Sapientia und die antike Philosophie“, 55–83. 98 Zu den Beziehungen zwischen dem Buch der Weisheit und den Isismysterien vgl. REESE, Hellenistic Influence, 36–50; KLOPPENBORG, „Isis and Sophia“; vgl. auch MACK, Burton L., Logos und Sophia, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973, 62–95; ENGEL, in Bezug auf Weish 7–8: „Was Weisheit ist und wie sie entstand“; MAZZINGHI, „La barca della Provvidenza“ (zu Weish 14,1–10); DERS., „La Sapienza, presente accanto a Dio“ (zu Weish 9,9– 10); DUMOULIN, Entre la Manne et l’Eucharistie, 136–142 (in Bezug auf Weish 16,15 – 17,1); MAZZINGHI, Notte di paura e di luce (in Bezug auf Weish 17,1 – 18,4).

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Die eschatolo- In Bezug auf die Eschatologie erscheint der Entwurf im Buch der Weisheit besongische Per- ders neuartig gegenüber der Vorstellung vom Tod, die die Juden im hellenistischen spektive Ägypten hegten; dies bestätigen Untersuchungen der jüdischen Grabinschriften,

die in Leontopolis gefunden wurden.99 Denn die Überzeugung, die diese Inschriften ausdrücken, erscheint eher griechisch als jüdisch und spiegelt die Annahme eines irgendwie gearteten Überlebens im Hades. Die Inschriften von Leontopolis enthalten oft eine bittere Klage über das Leben, das entflieht, und eine Hinnahme des Todes als unausweichliche Gegebenheit, ohne das Endschicksal der Gerechten von dem der Gesetzlosen zu unterscheiden. Das Thema des vorzeitigen Todes kommt sehr häufig vor (s. dazu unten zu Weish 4,7–17 über den vorzeitigen Tod des Gerechten).100 Aus diesen Inschriften wird deutlich, dass der Tod das Problem des Lebens ist; der Tonfall ist immer sehr traurig, und nur selten erscheint ein spezifisch jüdischer Gedanke. Ganz anders im Buch der Weisheit: Dort ist die Klage über das Leben, das entflieht, den Gottlosen in den Mund gelegt (vgl. Weish 2,1– 6), die im Licht der Inschriften von Leontopolis die Meinung der Mehrheit der zeitgenössischen Juden zu formulieren scheinen! Im Buch der Weisheit wird der Tod wie ein Eindringling in den Plan Gottes gesehen, und das Endschicksal der Gerechten ist ganz verschieden von dem der Gottlosen. Das Buch der Weisheit stellt mehr als eine schlichte Apologie des Judentums Stand der Forschung dar. Im Unterschied zur jüdischen apologetischen Literatur (Demetrios, Artapanos, Eupolemos u.a.) beschränkt Weish sich nicht darauf, das Judentum im Gewand griechischer Begriffe erneut einer Umwelt darzustellen, die es anklagte, asozial und fremdenfeindlich zu sein, ein Volk ἀπάνθρωπος und μισόξενος.101 Thomas Finan Thomas Finan hebt als Grundunterschied zwischen der griechischen und der hebräischen Welt den Anthropozentrismus im Gegensatz zu dem für Israel typischen Theozentrismus hervor: „In the single concept of universally active Wisdom, at once trascendent in its nature and immanent in its effects, the author of Wisdom has found a principle wich, while affirming Jewish universalism (…) so guaranties the unity of truth in its origins and of history in its progress, that the hebrew sage is justified in fusing his theocentric wisdom with greek anthropocentric paideia“.102 Gott, der Urheber des Universums, ist einzigartig mit seinem Prinzip von Ordnung und Vernunft des Kosmos, und dies ist die Weisheit. So gesehen kann man sagen, dass das Buch der Weisheit den transzendenten Gott der Bibel und Schöpfer im Licht des immanenten Logos des Stoizismus beschreibt.

99 Vgl. BLISCHKE, Eschatologie, 233–263. Zu den Inschriften von Leontopolis vgl. NOY, David, „The Jewish Community of Leontopolis and Venosa“, in: VAN HENTEN, Jan Wilhelm – VAN DER HORST, Pieter Willem (Hg.), Studies in Early Jewish Epigraphy (Leiden: Brill 1994), 162– 182. Zu den Texten s. VAN DER HORST, Pieter Willem, Ancient Jewish Epitaphs. An introductory survey of a millennium of Jewish funerary epigraphy (300BCE-700CE), Kampen: Kok Pharos 1991. 100 Vgl. GRIESSMAIR, Ewald, Das Motiv der Mors Immatura in den griechischen Grabinschriften, Innsbruck 1966. 101 So HEKATÄUS von Abdera, zitiert bei DIODORUS Siculus (Bibl. XL, 3,4). Vgl. STERN, Menahem, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism, I-III, Jerusalem: Israel Academy of Science and Humanities 1974–1984; s. vol. I, 26–35. Zur jüdischen apologetischen Literatur vgl. STERLING, Gregory E., Historiography and Self-definition. Josephos, Luke-Acts and Apologetic Historiography (NT Supp. 64, New York/Leiden/Köln: Brill 1996), 137–225. 102 FINAN, „Hellenistic Humanism in the Book of Wisdom“, 47.

Das Buch der Weisheit und der Hellenismus

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James M. Reese bemerkt, dass Weish sich nicht darauf beschränkt, „Griechisch zu sprechen“, d.h. die hebräische Religion in einer Sprache darzustellen, die der griechischen Welt zugänglich ist; die Verwendung eines typisch hellenistischen philosophischen, literarischen und religiösen Wortschatzes ist allzu offensichtlich. Die Verwendung, die Weish vom Hellenismus macht, geht in Wirklichkeit viel tiefer. Reese erkennt an, dass die Grundinspiration des Buches der Weisheit vor allem biblisch ist: Hellenismus und biblische Offenbarung werden nie auf die gleiche Ebene gestellt. Es ist jedoch die Absicht des Buches, sich an die jungen Juden in Alexandria zu wenden, um ihnen zu helfen und sie einzuladen, ihre religiöse Überzeugung in einem bestimmten kulturellen Kontext, nämlich dem griechischen, auszudrücken. „By incorporating hellenistic learning so thoroughly into his work the author intended to actualize revelation in the way that would best encourage them to carry out their responsabilities as believers in a cosmopolitan society“.103 Das Buch der Weisheit macht nach Reese vom Hellenismus vor allem einen „strategischen“ Gebrauch;104 es steht Entwürfen, die aus der griechischen Welt stammen, offen gegenüber, aber derartige Entwürfe werden in den Rahmen der Tradition Israels eingefügt. Denn es ist das Gesetz Israels, das der Welt Licht spendet (18,4), und den Philosophen, die deswegen nur „leicht zu tadeln“ sind, ist es nicht gelungen, Gott zu finden (vgl. 13,1–9). Das Buch der Weisheit will zeigen, dass die Werte der griechischen paideia in der Religion Israels, die sich auf die Bibel gründet, durchaus enthalten sind. In dieser Weise reagiert der Verfasser auf die im Judentum Alexandrias bestehende Neigung, sich gegenüber einer feindlichen Welt zu verschließen, gibt dabei aber nicht die eigene Religion auf. Dieser Versuch, die hellenistische Kultur ernst zu nehmen und sie dazu zu verwenden, das Verständnis der Offenbarung zu erweitern, macht das Buch der Weisheit zu einem ausgesprochen aktuellen Text. Maurice Gilbert geht sogar so weit, von einer eigentlichen „Inkulturation“ zu sprechen, indem er aufzeigt, wie tief die Beziehung des Buches der Weisheit zur griechischen Welt wirklich ist und sich nicht auf Oberflächlichkeiten beschränkt.105 Ohne irgendein Element des biblischen Erbes zu verleugnen, gelingt es dem Buch, dieses neu zu formulieren und es durch die Verwendung griechischer Begriffe zu weiten: „Wie kann man versuchen, denen, die sich von dieser Gemeinschaft entfernt haben, und denen, die sich zwar noch darin befinden, aber der Versuchung und der Faszination des heidnischen Hellenismus erlegen sind, die Augen zu öffnen? Wie anders, als dass man die Mittel eben dieser hellenistischen Kultur zu Hilfe nimmt, ihre Methoden und Ausdrucks- und Denkweisen verwendet, ohne dabei jedoch irgendetwas vom Inhalt der von den Vorfahren ererbten Religion preiszugeben? Dies scheint das Vorhaben des Verfassers gewesen zu sein. Die von ihm vorgenommene Inkulturation scheint von einer echten Besorgtheit um die jüdische Gemeinschaft und ihre religiöse Einheit motiviert zu sein… Der Verfasser fühlt sich nie verpflichtet, seine eigene Vorgehensweise zu verteidigen, indem er sich sozusagen dafür entschuldigen würde, wie die Griechen zu sprechen. Er verfährt in aller Natürlichkeit und ist sich dabei bewusst, ein Werk im

103 REESE, Hellenistic Influence, 155. 104 REESE, Hellenistic Influence, 156. 105 Vgl. GILBERT, „Inculturazione“; DERS., „La Sagesse de Salomon et l’héllenisme“.

James M. Reese

Maurice Gilbert und der Gedanke der „Inkulturation“

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Einleitung Dienst Gottes zu schreiben: In Weish 7,15 erbittet er die Gnade, sich ganz so ausdrücken zu können, wie Gott es will. So wird er ein Vorbild. Mit seiner positiven Haltung zeigt er wohl auch, dass eine so verwirklichte Inkulturation ganz natürlich ist und sich dem, der berufen ist, die unverkürzte religiöse Botschaft weiterzugeben, nahe legt“.106

Das Buch der Weisheit und die christliche Überlieferung Die Beziehungen zum Neuen Testament

Das Buch der Weisheit und Paulus

Das Buch der Weisheit und Johannes

Die Frage nach den Beziehungen des Buches der Weisheit zum Neuen Testament hat bisher noch keine zufriedenstellende Antwort gefunden. Nachdem man lange überwiegend dazu neigte, bei den Verfassern des Neuen Testamentes keine direkte Kenntnis dieses Buches anzunehmen, scheinen neuere Beiträge möglichen Anzeichen, die eine Verwendung des Buches der Weisheit innerhalb der christlichen Schriften bezeugen könnten, eine größere Aufmerksamkeit zu widmen, vor allem bei Paulus und Johannes.107 In den Paulusbriefen gibt es mehrere mögliche Berührungspunkte mit dem Buch der Weisheit: Ein theologisch bedeutsamer Text wie Weish 13,1–9 lässt sich Röm 1,18–23 an die Seite stellen, ohne dass sich jedoch eine tatsächliche Abhängigkeit des Paulus von Weish beweisen ließe. Nach Stanislas Lyonnet enthält der Römerbrief eine ganze Reihe von wichtigen Bezugnahmen auf das Buch der Weisheit;108 insbesondere ist es möglich, die Sichtweise des zeitgenössischen Heidentums in Röm 1 mit der in Weish 13–15 eröffneten Perspektive zu vergleichen. Die Weise, in der Paulus die Exodusereignisse in 1Kor 10,1–4 neu liest, ist der midraschartigen Methode in Weish 11–19 recht nahe. Abschnitte wie 1Thess 5,1–11 lassen viele Berührungspunkte mit der fünften und der sechsten vergleichenden Gegenüberstellung (Weish 17,1 – 18,4 und 18,5–25) erkennen. Solche Beziehungen könnten ihre natürliche Erklärung finden durch die Annahme, Paulus habe tatsächlich das Buch der Weisheit gekannt. Große Aufmerksamkeit wurde der Beziehung zum Johannesevangelium gewidmet: Sowohl Joh als auch Weish erwähnen die Wunder beim Exodus als Vorbilder für die Zeichen, die von der Weisheit (so Weish) und von Jesus (so Joh) gewirkt wurden; sowohl Joh als auch Weish führen diese Zeichen in der gleichen Reihenfolge an, die nicht die der Exoduserzählungen ist: Joh 2,1–11, die Hochzeit in Kana, verweist auf die erste Gegenüberstellung in Weish 11,4–14 mit der Hervorhebung des Durstes; Joh 4,43–54 und 5,1–9a haben die Heilung zum Thema, die in der dritten Gegenüberstellung Weish 16,4–14 erscheint. Die Manna-Erzählung in der vierten Gegenüberstellung (Weish 16,15–28) findet ihre Entsprechung in Joh 6 (das Brot des Lebens). Die vergleichende Darstellung der Finsternis schließlich (Weish 106 GILBERT, „Inculturazione“,15.22; vgl. auch COLZANI, „Il popolo di Dio fra tradizione giudaica e cultura greca“, 47. 107 MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 298–304, mit Bibliografie; eine allgemeine Darstellung des Problems s. in LARCHER, Etudes, 11–36. 108 Vgl. LYONNET, Stanislas, Art. “Epître aux Romains“: Dictionnaire de la Bible. Supplément, VII, 536.

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17,1 – 18,4) kann mit der Erzählung in Joh 9 (der Blindgeborene) in Verbindung gebracht werden, während Joh 11, die Auferweckung des Lazarus, der Gegenüberstellung in Weish 18,5–25 (Tod der ägyptischen Erstgeborenen und die Rettung der Israeliten) entspricht. In Joh ebenso wie in Weish werden die geschichtlichen Ereignisse zu symbolischen, d.h. zu Zeichen einer geistlichen und eschatologischen Wirklichkeit; so ist die Finsternis bei den Ägyptern in Weish 17,1 – 18,4 Zeichen für die Finsternis des Hades, die die Gottlosen befallen wird (Weish 17,20); die Heilung des Blindgeborenen in Joh 9 ist ihrerseits Zeichen für die geistliche Blindheit der Pharisäer; das Licht, das die Welt erleuchtet (Weish 17,20), ist das Licht des Gesetzes (18,4) so wie Jesus selbst das Licht der Welt ist (Joh 8,12; 9,39). Gewiss ist es möglich, das Vorhandensein einer gemeinsamen Midrasch-Tradition zu vermuten, aber es ist ebenso legitim anzunehmen, dass das Johannesevangelium das Buch der Weisheit gekannt und verwendet hat.

Das Problem der Kanonizität und die Verwendung des Buches im christlichen Altertum109 Die Kirchenväter haben das Buch der Weisheit gekannt und verwendet. Das Buch wurde wie eine als inspiriert betrachtete Schrift gebraucht (Irenäus, Cyprian, Eusebius). Jedenfalls war Weish das in den ersten drei Jahrhunderten n. Chr. meistverwendete deuterokanonische Buch.110 In der antiken jüdischen Welt scheint das Buch der Weisheit keine übermäßige Gegnerschaft gefunden zu haben, auch wenn es nicht als ein „kanonischer“ Text betrachtet wurde.111 Der erste, der Weish verwendete, war wohl Clemens von Rom in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth (1 Clem 3,4 spielt auf Weish 2,24a an, 1 Clem 27,5 auf Weish 11,20–21) zusammen mit Melito von Sardes (Peri Pascha 22–23 spielt auf Weish 17 an);112 ihnen folgen später Irenäus von Lyon (Adv. Haer. 4,38.3 spielt auf Weish 6,19 an) und Clemens von Alexandria, der Weish als Heilige Schrift zitiert (Strom. 5,108,2 [Weish 2,12]; 6,92,3 [Weish 9,17–18]. Es wurde vermutet, dass das Buch der Weisheit nicht nur als weisheitliches Buch gelesen wurde, sondern auch als salomonische Prophetie. Diese Weise, das Buch zu lesen, ist vielleicht schon jüdischen Ursprungs.113 In Alexandrien verwendet Origenes das Buch, insbesondere Texte wie Weish 7,25–26, die er auf die Zeugung Christi bezieht (Comm. Jo. 13,25; PG XIV, 444); Christus ist Abbild Gottes wie die Weisheit Mittlerin von Gott her ist. Dabei handelt es sich um einen Schlüsseltext in der Theologie des Origenes.114 109 Vgl. LARCHER, Etudes, 36–85; HORBURY, „The Christian Use“, 185–194. 110 Vgl. STUHLHOFER, Franz, Der Gebrauch der Bibel von Jesus bis Euseb (Wuppertal: R. Brockhaus 1988) 147; LARCHER, Etudes, 36–63. 111 Weish wurde betrachtet als „an acceptable ‚outside book‘“, HORBURY, „The Christian Use“, 187. 112 Über die Beziehungen zwischen Melito und Weish s. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 308. 113 Vgl. HORBURY, „The Christian Use“, 193. 114 Dieser Text wurde auch von anderen alexandrinischen Theologen oft verwendet; vgl. GRANT, „The Book of Wisdom at Alexandria“, passim.

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Einleitung

Vom Ende des 3. Jh.s n. Chr. an werden jedoch abweichende Stimmen laut. Schon Origenes erwähnt einige Bedenken bezüglich der Kanonizität des Buches (Princ. 4,4,6; PG XI, 407); die Gründe dafür scheinen mit der Treue zum hebräischen „Kanon“ zusammenzuhängen, aber möglicherweise auch mit einer gewissen Ratlosigkeit bezüglich der salomonischen Verfasserschaft. Kyrill von Jerusalem verbietet die Lektüre nicht, betrachtet aber die Weisheit Salomos nicht als kanonischen Text (PG XXXIII, 497–501). Athanasius spricht vom Buch der Weisheit als einem nichtkanonischen Text (s. PG XXVI, 1436–1440), auch wenn er an anderen Stellen das Buch als Heilige Schrift zu betrachten scheint.115 Unter den lateinischen Kirchenvätern spricht sich Hieronymus deutlich gegen die Kanonizität des Buches aus; ausgehend vom Kriterium der hebraica veritas beschränkt er sich auf die biblischen Bücher des palästinischen „Kanons“ in hebräischer Sprache und schließt Weish aus dem Kanon der inspirierten Schriften aus (Praef. in libros Sal.; PL XXVIII, 1241–1242; XXIX, 404–405). Das Fragmentum Muratori scheint einen Status des Buches der Weisheit als nichtkanonische Schrift anzuzeigen.116 In den großen Unzialen (B, S, A) steht Weish hinter Spr – Koh – Hld und vor Jesus Sirach, also hinter den zum hebräischen „Kanon“ gehörenden Büchern.117 Vor allem Augustinus verfocht mit Nachdruck die Kanonzugehörigkeit des Buches der Weisheit, indem er sich auf die apostolische Tradition, die liturgische Verwendung und die ununterbrochene kirchliche Überlieferung berief.118 Unter den Kirchenvätern hat Augustinus wohl am ausgiebigsten das Buch der Weisheit benutzt, auch wenn er in seinen Werken nie Texte aus Weish 10–19 zu zitieren scheint. Eine der von Augustinus meistverwendeten Textstellen ist Weish 9,15: Er liest sie nicht pessimistisch, vielmehr drückt sie für ihn die faktische conditio humana aus, die von der Sünde herrührt. Die Weisheit Salomos ist für Augustinus in erster Linie ein theologisches, christologisches und pneumatologisches Lehrstück, vgl. seine Auslegung zu Weish 7,27 und 9,17 (Trinit. IV, 20, 27).119 In einem Brief aus dem Jahre 405 an den Bischof von Toulouse vertritt Papst Innozenz I. in der Kanonfrage die gleiche Ansicht wie Augustinus. Dennoch ist auch weiterhin das Gewicht der Autorität des Hieronymus spürbar, denn es liegt kein Kommentar zum Buch der Weisheit aus patristischer Zeit vor, und die Diskussion über seine Kanonizität bleibt offen bis zur Entscheidung des Konzils von Trient im Jahre 1546, die in der Liste der Bücher des Alten Testaments, die pro sacris et canonicis zu halten sind, auch das Buch der Weisheit aufführt (D 784 = DS/ DH 1502). Später werden die alttestamentlichen Bücher, die die Kirche mit der rabbinischen Synagoge gemeinsam hat, protokanonisch, die nur in der Septuaginta überlieferten Schriften, darunter Weish, deuterokanonisch genannt. Die katho115 Vgl. LARCHER, Etudes 48–49. 116 HORBURY, „The Wisdom of Solomon in the Muratorian Fragment“. 117 „In the broader context of the Salomonic corpus, the new book of Wisdom had redeemed Solomon from the appearance of supporting the Sadducees [vgl. Koh und hebr. Jesus Sirach] and had enrolled him as a partisan of Pharisaic martyrs, an ardent prophet of righteousness, immortality and judgment to come“, HORBURY, „The Christian Use“, 196. 118 Vgl. die in LA BONNARDIÈRE, Biblia Augustiniana, 56–57, zitierten Texte. 119 LA BONNARDIÈRE, Anne-Marie, „Le livre de la Sagesse dans l’oeuvre de Saint Augustin“.

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lische Kirche hat von jeher das Buch der Weisheit in der Liturgie verwendet. Die heute im Römischen Ritus gebrauchten Lektionare bezeugen eine breitgefächerte Verwendung des Buches, vor allem der Kap. 1–9, weniger der Kap. 10–19.120 Die orthodoxen Kirchen haben sich nie bezüglich der Kanonizität des Buches der Weisheit festgelegt; es ist jedoch wegen seiner Zugehörigkeit zur Septuaginta üblicherweise in orthodoxen Bibelausgaben enthalten. Die Kirchen der Reformation haben, nachdem Martin Luther unter dem Einfluss Karlstadts beschlossen hatte, sich auf den hebräischen „Kanon“ zu beschränken, das Buch der Weisheit aus dem Kanon der Heiligen Schriften ausgeschlossen, es jedoch immer hoch geschätzt. Einer der ersten großen neuzeitlichen Kommentatoren von Weish war gerade ein protestantischer Autor, Carl L. W. Grimm (Das Buch der Weisheit, Leipzig 1860). Nichtkatholische Kommentare zu Weish bleiben aber selten, der von Hans Hübner (1999) ist der erste, der seit dem Kommentar von Johannes Fichtner aus dem Jahre 1938 erschienen ist.121

120 Siehe dazu im Einzelnen ENGEL, Weisheit, 315–317: Lesungen und Gesänge aus dem Buch der Weisheit im Gottesdienst. 121 Nach HÜBNER ist das Kriterium der hebraica veritas, das in den Kirchen der Reformation angeführt wird, zur Begründung und Begrenzung der Kanonizität nicht ausreichend: „Ich gehe davon aus, dass die sogenannten Apocryphen essentielle Teile des AT sind und als biblische Bücher zu exegesieren sind“ (HÜBNER, Weisheit, 15).

Einleitung zum ersten Buchteil (Weish 1,1 – 6,25) Die Hauptfiguren des ersten Buchteils sind die Gerechten und die Gottlosen, aber nur die Letzteren werden als aktiv dargestellt; die Gerechten erscheinen dagegen völlig passiv: Sie erleiden Gewalt vonseiten der Gottlosen und finden den Tod (Weish 2). Der Verfasser denkt in dieser Weise über die ewige Realität der Gewalt und des Bösen nach, die schon Ijob zu seiner kühnen Auflehnung und Kohelet zu seinen ernüchterten und bitteren Folgerungen geführt hatte, und will eine Antwort darauf anbieten.1 Das menschliche Leben erscheint wie ein Drama, in dem die Gottlosen als Hauptakteure herausragen;2 aber in der Mitte dieses ersten Buchteils (Weish 3–4) öffnet sich eine völlig neue Perspektive, die weder Ijob noch Kohelet sich vorgestellt hatten: Den Gerechten steht das ewige Leben bevor. Die den Gerechten geschenkte Unsterblichkeit bedeutet zugleich die Niederlage der Gottlosen. Ihrem Plan, der in 1,16 – 2,24 zunächst dargelegt und dann kritisiert wird, tritt in Weish 5 das Bewusstsein des eigenen tragischen Scheiterns gegenüber. Beides, der Plan und die Schlussbeurteilung, werden in Worten der Gottlosen selbst dargestellt. Im äußeren Rahmen des ersten Buchteils (Weish 1,1–15 und 6,1– 25) wendet sich der Verfasser an seine Hörer, die Juden in Alexandria, mit der Ermahnung, der Gerechtigkeit zu folgen und Weisheit zu lernen, um so das Leben zu finden. Gerechtigkeit, Weisheit und Leben werden so zu einem Dreiklang, der das ganze Buch durchzieht: „Gerechtigkeit, Weisheit und Leben sind das Angebot Gottes, wohingegen Unrecht, Irrtum und Tod der Anteil der Gottlosen sind. Nicht umsonst greift der Verfasser zur Form des Dramas und redet in pathetischem Ton“.3

Literarische Struktur Hier sollen nur einige übergreifende Beobachtungen vorgelegt werden, die vor allem auf die ausgefeilte konzentrische Struktur von Weish 1–6 aufmerksam machen: A. Einleitende Ermahnung (1,1–15): Den Abschnitt kennzeichnet eine zweifache inclusio: δικαιοσύνη (vv. 1a.15) und τὴν γῆν/ἐπὶ γῆς (1,1a.14d). Das Buch beginnt mit 1 2 3

Vgl. D’ALARIO, „La réflexion“. MCGLYNN (Divine Judgement, 54–88) spricht in Bezug auf Weish 1 von einem „apokalyptischen Drama“. ALONSO SCHÖKEL, Sabiduría, 83. Armin SCHMITT vergleicht die dramatische Struktur von Weish 1,1 – 6,21 mit der einer griechischen Tragödie: 1,1–15 Exposition; 1,16 – 2,24 und 4,20 – 5,23 das eigentliche Drama; 3,1 – 4,19 eine Art Kommentar, den die griechische Tragödie dem Chor zugeordnet hätte; 6,1–21 Schluss oder „Exodos“, vgl. A. SCHMITT, „Zur dramatischen Form von Weisheit 1,1 – 6,21“.

Die literarische Gattung: Weish 1–6 und das Enkomion

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einem Aufruf zum Hören, der an „die Herrschenden“ gerichtet wird, Gerechtigkeit und Weisheit anzunehmen. B. Der Lebensentwurf der Gottlosen (1,16 – 2,24): inclusio mittels des Ausdrucks τῆς ἐκείνου μερίδος εἶναι/ὄντες „an jenem Anteil haben(d)“ (1,16 und 2,24); das Wort μερίς „Teil, Anteil“ kommt sonst im ganzen Buch nur noch in 2,9c, in der Mitte des Abschnitts, vor. Weish 2,1–20 stellt die Überlegung der Gottlosen dar, gerahmt von der negativen Beurteilung durch den Verfasser in 1,16 und 2,21–24, letztere erinnert zugleich an den Plan Gottes für die Schöpfung (vgl. 1,13–15). C. Weish 3,1 – 4,20 bildet das Mittelstück des ersten Buchteils und enthält vier Gegenüberstellungen, die das unterschiedliche Ergehen des Gerechtung und des Gottlosen hervorheben: C1. Dem ewigen Glück des Gerechten bei Gott (3,1–9) wird das Unglück des Gottlosen gegenübergestellt (3,10–12); das Schlüsselwort ἐλπίς „Hoffnung“ in 3,4.11 verknüpft die beiden Unterabschnitte. C2. Dem Glück der unfruchtbaren, aber tugendhaften Frau und des ebenfalls tugendhaften Eunuchen stellt der Text das Unglück der Kinder von Ehebrechern gegenüber (3,13–19). C3. Kinderlose Tugendhafte gelten mehr als kinderreiche Gottlose (4,1–6). C4. Der vorzeitige Tod des Gerechten ist für ihn Übergang zum ewigen Leben (4,7– 16; inclusio mittels γῆρας „Alter“ in 4,8.16), während das Unglück der Gottlosen schon feststeht, auch wenn sie lange lebten (4,17–20).

B’. Die Schlussbilanz der Gottlosen (5,1–23). Die Gedanken des Verfassers dazu finden sich in den rahmenden Versen 5,1–3 und 5,14–23; v.14 und v.23 fallen durch die Wiederholung des seltenen Wortes λαῖλαψ „Windstoß, Orkan“ auf, das sonst im Buch nicht vorkommt. Die Gedanken des Verfassers rahmen eine der ersten Rede in Kap. 2 entsprechende zweite Rede der Gottlosen (5,4–13), die sich aber nunmehr auf ihr unglückliches Endschicksal beim Gericht bezieht. A’. Schlussermahnung an die „Herrschenden“, der Weisheit zu folgen (6,1–21). Ein Beispiel für ein „Klammer-Wort“ (zur Verbindung zweier aufeinander folgender Abschnitte), das 5,23 mit 6,1 verknüpft, ist τὴν γῆν / γῆς. Zwei inclusiones (ἐξέτασις 1,9 / ἐξετάσει 6,3 „erforsch-“ und das Verb ζητέω „suchen“ in 1,1 / 6,12.16) verbinden die Schluss- mit der Eingangsermahnung (1,1–15). Der Text Weish 6,22–25 bildet den Abschluss des ersten Buchteils und zugleich die Ankündigung des zweiten. Der Verfasser leitet damit seine Ausführungen über die Weisheit, ihr Wesen, ihren Ursprung und ihre Geschichte ein. Die Wörter „Weisheit“ (σοφία 6,22.25) und παιδεύω „erziehen, bilden“ verbinden diese Einleitung zum folgenden Buchteil mit dem vorhergehenden.

Die literarische Gattung: Weish 1–6 und das Enkomion In Bezug auf die hier verwendete literarische Gattung macht David Seeley einen anre- Transumptive genden Vorschlag: Weish 1–5 stelle eine „Transumptive Narration“4 dar, d.h. eine neue Narration Erzählung, die sich auf Geschehnisse und Berichte der Vergangenheit stützt und auf

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SEELEY, „Transumptive Narration“; „Narrative, the Righteous Man and the Philosopher“.

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Die literarische Gattung: Weish 1–6 und das Enkomion die großen Lebensfragen antworten will. Der Verfasser des Buches der Weisheit verbindet ja tatsächlich die Gottesknechtlieder des Jesajabuchs und andere biblische Texte (s. in der Einleitung den Abschnitt „Das Buch der Weisheit und die Schrift“) mit Themen, die in philosophischen Kreisen seiner griechisch-römischen Umwelt erörtert werden. Ein der Philosophie seiner Zeit gemeinsamer Topos ist der Vorwurf an den Epikureismus, er führe von der Genussfreude zur Gewalttätigkeit (s. den Kommentar zu Weish 2,10). Ein anderer Topos ist der des Philosophen, der bekämpft wird, weil er die Gesetze einhält (s. den Kommentar zu Weish 2,12). Der Verfasser zeichnet so die Geschichte eines frommen Juden, der in Wirklichkeit den philosophischen Idealen der hellenistischen Zeit folgt.5

Weish 1–6 als Innerhalb der literarischen Gattung „Enkomion“ stellen die Kapitel 1–6 das exorexordium dium (Einleitung, Anfang) des Enkomions dar:6 Weish 1,1–11 bildet das exordium

im engeren Sinn: Aufruf an die Hörerschaft (1,1–2), Einführung des zu preisenden Gegenstandes (die Weisheit, in großer Nähe zum Geist), der eingefügt ist (1,3–5.6– 11) in eine scharfe Warnung an die Gegner. In Weish 1,(12).13–15 folgt die erste Ankündigung des Themas,um das es in diesem exordium geht: Gott hat den Tod nicht erschaffen, und die Gerechtigkeit ist unsterblich. Danach treten die Gegner, die Gottlosen, auf (2,1b-20), wie es in den exordia einiger klassischer Enkomien geschieht (Cicero lässt in De amicitia die Epikuräer auftreten). Das Urteil des Verfassers (2,21–24) beschließt die Darstellung der Gottlosen und greift dabei auf die Ausführungen in 1,13–15 zurück. Die Abweisung der Auffassungen der Gegner wird durch vier paradoxe Gegenüberstellungen in Weish 3–4 veranschaulicht. Das Paradox ist typisch für die literarische Gattung Enkomion und wird vom Verfasser hier mitten im exordium eingesetzt. Das Kap. 5 mit seiner Darstellung der Gottlosen nach ihrem Tode passt eigentlich nicht in die literarische Gattung Enkomion, bildet aber eine logische Entsprechung zum Kap. 2 innerhalb einer konzentrischen literarischen Struktur (s. unten). Weish 6,1–11 nimmt die Themen von 1,1–11 erneut auf und führt dabei das Grundthema des Buches, die Weisheit, noch ausdrücklicher ein. Weish 6,12–21 verwendet noch die für das exordium typische Sprechweise, aber die im darauf folgenden Lob der Weisheit angesprochenen Themen tauchen bereits auf. Weish 6,22–25 verknüpft den ersten mit dem zweiten Buchteil und kündigt an, dass dieser über das Wesen der Weisheit (τί δέ ἐστιν σοφία 6,22a) und ihre Herkunft (πῶς ἐγένετο) handeln wird, wie es in einem klassischen Enkomion üblich ist, das jeweils mit der Beschreibung der ἀρχή (Anfang) und des γένος (Abstammung, Eigenart) der zu preisenden Person beginnt.7

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Es dürfte jedoch übertrieben sein, mit SEELEY zu folgern, das Buch der Weisheit „becomes a syncretistic story for a syncretistic age“ (“Transumptive Narration“, 248). BIZZETI, Sapienza, 163–168, vergleicht detailliert Weish 1–6 mit dem klassischen Enkomion. BURGESS, Theodore C., „Epideictic Literature“, Studies in Classical Philology 3 (1902) 220– 222.

Weish 1,1–15: Liebt die Gerechigkeit! Zur literarischen Struktur von Weish 1,1–151 Weish 1,1–15 bildet die einleitende Vorrede (προοίμιον) zum ganzen Buch. Sie Proömium des richtet eine Mahnung an die Adressaten des Buches („ihr, die die Erde richten“), Buches die entsprechend der oben genannten konzentrischen Struktur des ersten Buchteils in Weish 6 nochmals aufgenommen wird. Es ist auch nicht verwunderlich, dass in dieser Vorrede schon viele Themen vorweggenommen werden, die dann das ganze Buch durchziehen: die Gerechtigkeit, die Weisheit in großer Nähe zum Geist Gottes, die Gegenwart dieses Geistes im Kosmos, der Gegensatz zwischen Gerechten und Gottlosen, Tod und Unsterblichkeit, der Kosmos. Trotz gelegentlicher polemischer Spitzen ist der Tonfall im Ganzen positiv und gegen Ende sogar freudig: Alles,was existiert, hat einen heilbringenden Wert, und es gibt kein Reich des Todes auf der Erde. 1,1 beginnt mit drei Imperativen (ἀγαπήσατε, φρονήσατε, ζητήσατε). Die Verbform des Imperativs wird in 1,11–12 durch zwei Imperative mit verneinendem Sinn (φυλάξασθε, φείσασθε) und zwei verneinte Imperative (μὴ ζηλοῦτε, μηδὲ ἐπισπᾶσθε) wieder aufgenommen. Weish 1,1–12 bildet so eine Einheit, deren Gliederung folgendermaßen dargestellt werden kann: Weish 1,1–5: Eine dringende Einladung, die Gerechtigkeit und die Weisheit zu suchen. δικαιοσύνη - ἀδικία (1,1a.5c) bilden eine quasi-inclusio. In 1,4a und in 1,5a erscheinen die Wörter σοφία und πνεῦμα getrennt, in 1,6a jedoch unmittelbar nebeneinander, was eine gewisse Zäsur zwischen 1,5 und 1,6 andeutet. Weish 1,6–10: Die Aufmerksamkeit verlagert sich auf den Bereich und das Thema Wort, das diesem kleinen Unterabschnitt Einheit verleiht. Die Wörter γλώσσης (1,6e.11b) und γογγυσμῶν (1,10b) / γογγυσμόν (1,11a) bilden Verklammerungen zum folgenden Unterabschnitt. Weish 1,11–12: Eine abschließende Ermahnung, die mit vier Imperativen (s.o.) auf 1,1 zurückverweist. Zwei der Imperative fordern dazu auf, verfehlte Verhaltensweisen zu meiden (1,11), die beiden anderen Imperative sind ausdrücklich verneint (1,12). Weish 1,13–15 klingen charakteristisch verschieden vom Vorhergehenden. 1,13 hebt sich auch inhaltlich von 1,12 ab.2 Der kleine Unterabschnitt 1,13–15 zeigt eine beachtenswerte Ähnlichkeit mit Weish 2,23–24, der abschließenden Beurteilung der Rede der Gottlosen (Weish 1,16 – 2,20). 1,13 beginnt, ebenso wie 2,23, mit der Wendung ὅτι ὁ θεός, gefolgt von ἐποίησεν (dieses Verb kommt bis Weish 6,7 nicht mehr vor) und ἔκτισεν (wird bis Weish 10,1 nicht mehr verwendet). Weitere Berührungspunkte sind die Wörter κόσμος (vor Weish 5,2 nur in 1,14b und 2,24a) und θάνατος (vor Weish 12,20 nur in 1,13a und 2,24a). Dabei bildet θάνατον 1 2

PERRENCHIO, „Struttura e analisi letteraria di Sap I,1–15“; BIZZETI, Sapienza, 52–53; GILBERT, „Sagesse“, 65–66; KOLARCIK, The Ambiguity of Death, 34–38. GILBERT, „Sagesse“, 66.

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Weish 1,1–5

(1,12a.13a) zugleich ein Klammerwort zum vorhergehenden Unterabschnitt 1,11– 12 ebenso wie ολεθρ- (1,12b.14c). Weish 1,13–15 ist demnach als zusammenfassender Abschluss zu Weish 1,1–12 zu betrachten und zugleich Vorbereitung (Themenankündigung) zum folgenden Abschnitt 1,16 – 2,24.3

Weish 1,1–5: Gerechtigkeit, Weisheit und Geist 1 Liebt die Gerechtigkeit, (ihr), die die Erde regieren, denkt über den Herrn in guter und richtiger Weise, und in Ganzheit des Herzens sucht ihn! 2 Denn er lässt sich finden von denen, die ihn nicht versuchen, und scheint denen auf, die ihm nicht misstrauen. 3 Verkrümmte Gedanken nämlich trennen von Gott, und, auf die Probe gestellt, überführt die Macht (Gottes) die Toren. 4 Denn in eine Böses beabsichtigende Seele wird die Weisheit nicht eintreten und in einem der Sünde verpfändeten Leib nicht Wohnung nehmen. 5 Der heilige Geist der Zucht wird nämlich Falschheit fliehen und sich fernhalten von unverständigen Gedanken und vertrieben werden, wenn Unrecht hinzutritt.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1

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Die drei Imperative im Aorist ἀγαπήσατε, φρονήσατε, ζητήσατε sind zupackender als ein einfacher Imperativ Praesens. Die drei Aoriste drücken „Anweisungen für das Handeln im Einzelfall“ aus im Unterschied zu „allgemeinen Vorschriften über das Verhalten und Tun…. Ingressiv drückt (der Imperativ Aorist) das Zustandekommen des Verhaltens im Gegensatz zum bisherigen aus.“4 Der Beiklang ist: „Beginnt endlich, die Gerechtigkeit zu lieben…!“ Die beiden Kola (Sinnzeilen) sind parallel formuliert. Die Verbform εὑρίσκεται ist in der eigentlichen Bedeutung des Mediums übersetzt durch „er lässt sich finden“ und entspricht dem Nifʽal des hebräischen Verbs ‫מצא‬. Das Präsens hebt die andauernde Geltung der Aussage hervor: Der Herr hat sich immer von denen finden lassen, die ihn suchten. Ἐμφανίζεται wird hier in reflexiver bzw. passiver Bedeutung verwendet (vgl. Weish 16,21; 17,4; 18,18) und ist hier absichtlich gewählt, um einen Gebrauch des Verbs ἀποκαλύπτειν zu vermeiden, das im alexandrinischen Kontext nach Mysteriensprache geklungen hätte. Philon verwendet in Leg. III, 27 ἐμφανίζω in Bezug auf die Selbstoffenbarung Gottes in der Seele des Glaubenden.5

RAURELL, „From ΔΙΚΑΙΟΣΥΝΗ to ΑΘΑΝΑΣΙΑ“, 337 Anm. 18. BDR § 335. 337,1; vgl. auch SCARPAT, Sapienza I, 108–109. SCARPAT, Sapienza I, 74.

Synchrone Analyse

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Zum Text τοῖς μὴ ἀπιστοῦσιν αὐτῷ stellt die Lesart des Kodex A (τοῖς μὴ πιστεύουσιν) wohl eine lectio facilior oder eine Korrektur dar.6 Das Verb ἀπιστέω hat hier die Bedeutung „nicht glauben, nicht trauen, misstrauen“ (vgl. Weish 10,7; 12,17; 18,13). Es kommt in der LXX außer im Buch der Weisheit nur in 2Makk 8,13 in einem Weish 1,2 ähnlichen Zusammenhang vor: Diejenigen, „die nicht auf die Gerechtigkeit Gottes vertrauten (ἀπιστοῦντες)“. Im NT dagegen ist das Verb ἀπιστέω 8 mal verwendet. Das Wort ἐλεγχθήσεται hat schon früh den Kommentatoren Schwierigkeiten bereitet.7 Es ist aber nicht nötig, den Text zu korrigieren (s. den kritischen Apparat bei J. Ziegler). LARCHER neigt zu einer provisorischen Lösung, indem er der Passivform ἐλεγχθήσεται den Sinn einer Medium-Form gibt („er wird sich in einen Ankläger verwandeln“) und das Verb auf das Verhalten des Geistes bezieht, der den Menschen anklagt. VÍLCHEZ LÍNDEZ schlägt vor zu übersetzen „er wird beschuldigt werden“ in dem Sinne, dass der heilige Geist von den Gottlosen beschuldigt wird.8 Demgegenüber erscheint die Lösung von SCARPAT besser, die ἐλεγχθήσεται als Passsivform beibehält und mit „er wird zurückgewiesen werden, er wird vertrieben werden“ übersetzt:9 Der Sinn ist, dass der Geist Gottes verdrängt wird durch menschliche Bosheit.

Synchrone Analyse „Liebt die Gerechtigkeit!“: Kein anderes Buch der Schrift beginnt mit einem Impera- 1,1: Liebt die tiv. Der Verfasser beginnt sein Werk mit zwei Wörtern, von denen das erste (ἀγαπάω) Gerechtigkeit! spezifisch für die LXX ist, das zweite (δικαιοσύνη) jedoch sowohl bei Hebräisch- wie bei Griechischsprechenden vielfältige Assoziationen weckt.10 Das Verb ἀγαπάω hat im Buch der Weisheit immer einen religiösen Beiklang, es bezeichnet die Grundhaltung Gottes zum Menschen (vgl. Weish 11,24).11 Der Imperativ ἀγαπήσατε führt so gleich zu Anfang in das Innere einer Wechselbeziehung der Liebe zwischen Gott und Mensch ein. Das incipit des Buches verweist auf Ps 44,8LXX (ἠγάπησας δικαιοσύνην) und auf Jes 61,8LXX (ἐγὼ γάρ εἰμι κύριος ὁ ἁγαπῶν δικαιοσύνην); vgl. 1Chr 29,17 (δικαιοσύνην ἀγαπᾶς). Darüber hinaus erinnert Weish 1,1a an Ps 2,10LXX, wo πάντες οἱ κρίνοντες τὴν γῆν den hebräischen Ausdruck ‫„ שׁפטי הארץ‬Richter der Erde“ in der Bedeutung „die die Erde Regierenden, die Herrscher über die Erde“ übersetzt. In dieser Weise zeigt sich das Buch der Weisheit von Anfang an als eine Verbindung von subtil miteinander verwobenen Anspielungen auf die Schrift. Dabei wird jedoch kein biblischer Text ausdrücklich zitiert. Der Verfasser setzt bei seiner Leserschaft außer der Fähigkeit, die von ihm verwendeten Texte zu erkennen, ein vorzügliches „biblisches Erinnerungsvermögen“ voraus. 6 LARCHER, Sagesse I, 169; VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 146. 7 Siehe die ausführliche Erörterung in LARCHER, Sagesse I, 176–178, der aber schließlich gesteht, keinen befriedigenden Lösungsvorschlag bieten zu können. 8 VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 155. 9 SCARPAT, Sapienza I, 116–117. 10 SCARPAT, Sapienza I, 47–48.56–57, erörtert die Unterschiede zum Wortgebrauch Philons, der für die Gerechtigkeit im biblischen Sinne in der Regel δίκη verwendet. 11 Weish 4,10; 6,12; 7,10.28; 8,3.7; 11,24; 16,26; vgl. CERESA GASTALDO, Aldo, „Ἀγάπη nei documenti anteriori al Nuovo Testamento“, Aegyptus 31 (1951) 296–306; DE CARLO, „Ami, infatti, gli esistenti tutti“; mit ausführlicher Bibliographie zu ἀγαπάω (s.u. zu Weish 11,24).

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Adressaten des Buches

Den Herrn suchen

Weish 1,1–5

In Weish 6,21 verändet sich die Aufforderung, die Gerechtigkeit zu lieben, in einer großen inclusio am Ende des ersten Buchteils in die Aufforderung an die die Völker Beherrschenden, die Weisheit zu ehren, und die Weisheit ist dann im folgenden Mittelteil des Buches (Weish 7–10) die Hauptfigur. Daher kann man sagen, dass das Buch der Weisheit ein Nachdenken über die Weisheit darstellt, die als „Gerechtigkeit“ verwirklicht wird im täglichen Leben der Weisen. An wen wendet sich der Verfasser? Einige denken an römische Herrscher.12 In diesem Falle müsste die „Gerechtigkeit“ als die politische Tugend verstanden werden. Weish 1,1 (zusammen mit 6,21) reiht sich jedoch in die für die biblische Weisheit typische Königs-Metapher ein, wonach nicht selten die Weisheit die Kunst guter Regierung ermöglicht (vgl. Spr 8,15–16). Es liegt hier also eine Königsfiktion vor, und zwar in einer interessanten Variante zu der Königsfiktion, mit der das Buch Kohelet beginnt (Koh 1,12 – 2,26): Die „Regierenden“ sind also die Adressaten des Buches der Weisheit selbst, die jungen alexandrinischen Juden, die aufgefordert werden, eine „politische“ Tugend zu üben, die Gerechtigkeit, die sie benötigen, um die Leitungsverantwortung in ihrer jüdischen Gemeinde vor Ort zu übernehmen. Dazu kommt, dass in stoischen Erörterungen der Gedanke verbreitet ist, einzig und wahrhaft König sei der Weise, da er frei und Herr seiner selbst sei.13 In dieser Betrachtungsweise werden die Adressaten des Buches dazu eingeladen, weise zu sein, und gerade dadurch auch „Könige“. Weish 1,1b geht vom Thema der Gerechtigkeit über zur religiösen Vorstellungsweise. Die Wendung φρονήσατε περὶ bezieht sich auf die geistige Aktivität des Menschen: „bildet euch eine Vorstellung über“ oder „denkt über“. Normalerweise folgt dieser Wendung ein Adverb, hier jedoch der adverbiale Ausdruck ἐν ἀγαθότητι, ein Semitismus mit modaler Bedeutung (so auch ἐν ἁπλότητι in 1,1c). Es handelt sich um eine Einladung, darüber nachzudenken, wer wahrhaft der Herr ist (περὶ κυρίου): der Gott Israels (vgl. Weish 14,30). Die Titel κύριος und θεός wechseln, wie oft in der LXX, einander ab (vgl. Weish 1,3.6.7.9.13). Die ἀγαθότης bezeichnet das Gutsein der Gesinnung, wie es in Bezug auf Gott in Weish 7,26 und 12,22 ausgesagt wird; bei Philon ist es eine der höchsten Eigenschaften der Gottheit (cher. 27). Bezogen auf den Menschen bedeutet die ἀγαθότης eine gute und richtige Denkweise und Einstellung gegenüber Gott.14 Die Adressaten des Buches werden eingeladen, den Herrn zu „suchen“ (1,1c). Das Kolon ist streng parallel zum vorhergehenden (1,1b) gebaut: (1b) φρονήσατε (Verb) περὶ τοῦ κυρίου (Präpositionalobjekt) ἐν ἀγαθότητι (modale Adverbialbestimmung) || (1c) καὶ ἐν ἁπλότητι καρδίας (modale Adverbialbestimmung) ζητήσατε (Verb) αὐτόν (direktes Objekt). Die Aufforderung „Sucht ihn!“ (ζητήσατε αὐτόν) hat hier das volle Gewicht des in der Schrift häufigen „Gottsuchens“, vgl. Dtn 4,29; Zef 2,31LXX; Am 5,4–6LXX; 1Chr 28,9; 29,17. ζητέω hat im Buch der Weisheit immer einen religiösen Beiklang (s. Weish 6,12.16; 8,2.18; 13,6; 19,17). 12 „The author is clearly addressing the pagan world rulers“, WINSTON, Wisdom, 101; vgl. auch VOLLGER, „Die Adressaten des Weisheitsbuches“. 13 Vgl. SVF III, 155 frg. 597/2; III, 156 frg. 599.603; III,158 frg. 617; III,159 frg. 620; III, 170 frg. 681. 14 LARCHER, Sagesse I, 166. In der LXX kommt das Wort ἀγαθότης außer in Sir 45,23 nur im Buch der Weisheit vor.

Synchrone Analyse

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Des Weiteren fällt die Wendung ἁπλότης καρδίας auf, die die richtige Einstellung bei der Gottsuche benennt.15 Die ἁπλότης bezeichnet das, was nicht doppelt ist; in der LXX gibt das Wort oft hebräisches ‫„ תם‬Ganzheit“ wieder und verweist auf eine Geradheit des Lebens im kultischen und im rechtlichen Sinn, die bezeichnende Eigenschaft dessen, der voll und ganz den Willen Gottes erfüllen will: vgl. 1Makk 2,37; Noah in Gen 6,9; Abraham in Gen 17,1; Ijob in Ijob 1,1. Im Gebet Davids (1Chr 29,17–19LXX: darin war als Eigenschaft Gottes benannt worden [δικαιοσύνην ἀγαπᾷς], wozu im Imperativ von Weish 1,1a aufgefordert wird) drückt sich im Begriff ἁπλότης der Gedanke der Geradheit des Herzens aus, die moralische Integrität, die keine Berechnungen anstellt. Außerhalb der LXX wird die ἁπλότης beschrieben als die Haupttugend der Patriarchen (Test. Rub. 4,1; Test. Levi 13,1) und verweist auf ein Leben in Einfachheit, in Gehorsam gegenüber der Tora. Das „Herz“ bezeichnet hier im Rahmen der biblischen Anthropologie den Sitz der Vernunft, des Willens, des Gewissens, den „Ort“, wo der Mensch seine persönlichsten Entscheidungen trifft. Der Gedankengang in Weish 1,1 ist deutlich: Die Adressaten des Buches werden eingeladen, die Haltung einer hochschätzenden Hingeneigtheit zur göttlichen Gerechtigkeit einzunehmen („lieben“), die gleichzeitig eine persönliche und eine politische Dimension besitzt. Sie werden zu einem anerkennenden Nachdenken aufgefordert, wer wirklich der Herr ist, und eingeladen zu einer „einfachen“, offenen Bereitschaft zum „Suchen“. Von Anfang an also erscheint der κύριος Israels im Mittelpunkt der Überlegungen des Verfassers. Die ersten Worte des Buches klingen auch polemisch zugespitzt. Die Juden Alexandrias werden aufgefordert, den wahren Gott, den Herrn, zu suchen, und zwar in „Einfachheit“, ohne Spekulationen und Einflüssen aus der hellenistischen Welt zu folgen. Der Hintergrund von 1,1 ist biblisch. Die Aufnahme der stoischen Konzeption, Weisheit bedeute Königsein, ist jedoch schon ein erstes Beispiel, wie der Verfasser angesichts der griechischen Kultur auch eine dialogische Haltung einnimmt. Vers 2 ist mit dem vorhergehenden Vers eng durch die Konjunktion ὅτι ver- 1,2 bunden, die hier ganz dem hebräischen ‫ כי‬entspricht.16 Die Verse 2–5 zeichnen vor allem negativ bewertete Verhaltensweisen, die die Adressaten behindern werden, wenn sie der Gerechtigkeit folgen. Erst in 1,16 und später dann in 1,15 erscheinen positive Motivationen für diesen Weg. Gott lässt sich finden (εὐρίσκεται) von denen, die ihn suchen. Die zweifache Verwendung der rhetorischen Figur der Litotes („von denen, die ihn nicht versuchen“; „denen, die ihm nicht misstrauen“) hebt hervor, dass mögliche Hindernisse nur vom Menschen selbst herrühren, wie es beim Volk Israel geschieht, das in der Wüste wiederholt den Herrn auf die Probe stellt. Das Buch der Weisheit verwendet das Wort πειράζω sieben Mal (1,2; 2,17.24; 3,5, 11,9; 12,26; 19,5). Alle diese Vorkommen, bei denen der Mensch (als Subjekt) Gott (als Objekt) „auf die Probe stellt, versucht“, prägt der Gedanke, dass der Augenblick der Probe/Versuchung die wirkliche Einstellung des Menschen gegenüber Gott offenlegt. Die Israeliten selber, die den Herrn auf die Probe stellen, und nicht nichtjüdische Regierende, sind also die wahren Adressaten des Buches.

15 SPICQ, Notes I, 125–130; vgl. auch Scarpat, Sapienza I, 57–61. 16 Zu ὅτι als strukturierendem Element im ganzen Kapitel vgl. REITERER, „Philosophische Lehre“, 132–135.

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Weish 1,1–5

Der Herr offenbart sich demnach denen, die sich nicht weigern, ihm zu trauen, an ihn zu glauben. Die Verwendung von ἀπιστέω soll die Notwendigkeit eines Vertrauensverhältnisses zu Gott hervorheben, ohne das keine Beziehung zum Herrn bestehen kann. Gott zu erkennen bzw. an ihn zu glauben scheint für den Verfasser das Allerwichtigste zu sein: Glaube steht im Rang über der Ethik.17 V. 3 begründet das in V. 1–2 Gesagte und bildet das Zentrum der ganzen 1,3 Argumentation in Weish 1,1–5. Das γάρ am Anfang verbindet ihn mit dem Vorausgehenden. Das erste Kolon hebt mehr das Innere des Menschen hervor, seine „Gedanken“ (λογισμοί), als seine Tätigkeiten. Es ist das erste Anzeichen, welche Bedeutung das Buch der Weisheit dem menschlichen Denken und der Vernunft zuweist. Andererseits ist es gerade das unrichtige, „verkrümmte“ Denken, das den Menschen von Gott trennt und so das Gegenteil zu allem darstellt, wie ein frommer Jude zu leben berufen ist. Diese an den Anfang des Werkes gesetzte Feststellung ist kategorisch. Was aber sind die verkrümmten Gedanken, die der Verfasser im Sinn hat? Sie sind noch nicht klar beschrieben, jedenfalls aber scheint der Verfasser um die Reinheit des Glaubens seiner Gemeinde besorgt zu sein. In 1,3b wird zum ersten Mal „die Macht“ (ἡ δύναμις) genannt. Sie wird dargestellt wie ein personifiziertes Attribut des Wirkens Gottes bzw. wie eine Art wirkender göttlicher Kraft in einer offensichtlich eher hellenistischen als biblischen Betrachtungsweise.18 Diese „Macht“ Gottes bestraft (ἐλέγχει), wenn sie auf die Probe gestellt wird (δοκιμαζομήνη),19 den, der dem Herrn nicht folgt. Der Text von 1,3b ist mit 1,3a durch die Partikel τε verbunden, die hier einen konsekutiven Beiklang gewinnt („so dass“). Die Überlegung des Verfassers scheint zu sein, dass „verkrümmte Gedanken“ von Gott trennen, so dass die Macht Gottes die Toren straft. ἄφρονες (wörtlich: Nicht-Denkende) ist ein Wortspiel mit φρονήσατε (1b: „denkt“). Das Wort ἄφρων kommt in der LXX häufig vor, besonders im Buch der Sprichwörter, und übersetzt meistens das hebräische Wort ‫כסיל‬, das eine unvernünftige Person bezeichnet, geistig beschränkt, verdrehter Gedanken fähig und deshalb sittlich verderbt (vgl. ἄφρονες in Weish 3,2.12; 5,4; 12,24; 14,11; 15,5,14). Die Erwähnung der „Toren“ (1,3b) bereitet das Auftreten der Figur der Weis1,4 heit (σοφία) vor. Sie wird durch die betonte Stellung am Ende des Kolons 1,4a hervorgehoben und durch die Konjunktion ὅτι am Anfang des Kolons mit der „Macht“ Gottes im vorhergehenden Kolon 1,3b in Beziehung gesetzt. Die σοφία, die hebräische ‫חכמה‬, ist eine den damaligen Juden wohlbekannte Größe. In Fortführung der Reden der personifizierten Weisheit in Spr 1–9, in denen die Weisheit eng verbunden erscheint mit Gott und zugleich mit dem Menschen, setzt der Verfasser des Buches der Weisheit die σοφία von vornherein in Beziehung zu Gott, indem er sie mit der gerade zuvor genannten Macht Gottes verknüpft. Gleichzeitig aber erscheint die Weisheit als etwas, das auch das Innere des Menschen betrifft: Die beiden Verben, die das Wirken der Weisheit umschrei17 GILBERT, „La connaissance de Dieu“, bes. 312–314; anders KELLER, „Glaube“. 18 LARCHER, Sagesse I, 171–172; die Lehre von den Eigenschaften Gottes (δυνάμεις) wird insbesondere von Philon entwickelt. 19 Zu δοκιμάζω vgl. SPICQ, Notes, Supp. 160–161; hier scheint dieses Verb synonym zu πειράζω im Sinne von „prüfen, auf die Probe stellen“ verwendet zu werden; zur lateinischen Übersetzung (probata autem virtus), die die Bedeutung des Verbs hier verkennt, vgl. SCARPAT, Sapienza I, 414.

Synchrone Analyse

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ben („eintreten“ und „Wohnung nehmen“), bekräftigen ihre derartige doppelte Ausrichtung. Allerdings wird in 1,4 über die Anwesenheit der Weisheit im Menschen von der Situation ihrer Abwesenheit her gesprochen: Die Weisheit tritt in den, der sie ablehnt, nicht ein, sie nimmt nicht Wohnung bei jemand, der in Sünde lebt. 1,4 ermöglicht eine erste Annäherung an die anthropologische Konzeption des Verfas- Seele und Leib sers. Mit „Seele“ und „Leib“ meint er das Gesamt des Menschen. Die ψυχή scheint als aktives Prinzip sittlicher Handlungen vorgestellt zu sein. Ihr ist hier das Adjektiv κακότεχνος beigefügt, ein poetisches, gelehrtes Wort (vgl. Il. 15,14), das jemanden bezeichnet, der in seinem Metier schlecht arbeitet. In der LXX kommt κακότεχνος (außer in Weish 15,4) nur noch in 4Makk 6,25 vor, dort jedoch in Bezug auf Werkzeuge. In Weish 1,4 kennzeichnet κακότεχνος die Seele selbst, insofern sie sich bewusst entscheidet, Schlechtes zu tun. In der stoischen Philosophie spielt die ψυχή eine wichtige Rolle und wird manchmal zur τέχνη in Beziehung gesetzt, die als Gefüge von Betrachtungsweisen und Fertigkeiten die Erfahrung ergibt und von den Ereignissen und Gegebenheiten des Lebens guten Gebrauch macht.20 Das sehr seltene Wort κακότεχνος gewinnt so den Beiklang eines Oxymorons (Zusammenstellung zweier sich widersprechender Begriffe in einem Kompositum): Das Gefüge von Betrachtungsweisen, das dem griechischen Denken zugrunde liegt, ist „schlecht“ (κακός), wenn es nicht von einer klaren ethischen Perspektive geleitet wird. Das folgende Kolon führt deutlich das Thema der Sünde (ἁμαρτία) ein. Der Leib wird gesehen als etwas Passives, in dem jedoch ebenfalls die Weisheit Wohnung nehmen (κατοικέω) kann. Der Leib σῶμα wird hier bestimmt durch das Adjektiv κατάχρεως21 „verpfändet, verschuldet an, versklavt an“, hier in metaphorischem Sinne. Der „Pfandnehmer, Gläubiger“ ist hier die Sünde (ἁμαρτία; in Weish nur noch in 10,13), die den Leib unterdrückt und ihn geradezu zum Sklaven macht. Der Verfasser spezifiziert nicht, um welche Sünde es sich handelt, aber der unmittelbare Kontext lässt erkennen, dass ein irriges Denken über Gott, Mangel an Vertrauen auf ihn und Glauben an ihn gemeint sind. Der ganze Mensch also, Leib und Seele, erscheint als der Macht der Sünde unterworfen. Unter hellenistischem Einfluss jedoch neigt der Verfasser dazu, die beiden Elemente zu unterscheiden und der Seele einen gewissen, eher psychologischen als ontologischen Vorrang einzuräumen: Die Seele ist imstande, Böses zu begehen, der Leib erscheint eher als Sklave der Sünde. Der Text lässt auch an eine gewisse Art der Personifizierung der Sünde denken, wie einigen Texten des Neuen Testaments eigen ist, z.B. Röm 7,14 oder Joh 8,34. Die Sünde scheint jedoch nicht etwas zu sein, das daher rührt, dass die Seele gewissermaßen, platonisch vorgestellt, Gefangene eines Leibes ist.

Weish 1,5 erläutert (γάρ) die Möglichkeit der Abwesenheit der Weisheit, von der 1,5 in 1,4 die Rede war, durch die Einführung einer neuen Figur, des ἅγιον πνεῦμα παιδείας. Der „heilige Geist der παιδεία“ steht parallel zur σοφία. Das Thema des Geistes taucht in drei aufeinander folgenden Versen auf: in 1,5 und 1,7 allein, in 1,6 in Verbindung mit der Figur der Weisheit. Indem er Weisheit und Geist nebeneinander stellt, hebt der Verfasser die Beziehung zwischen Weisheit und Gott hervor und betont zugleich die Anwesenheit der Weisheit im Menschen. Dass dieser heilige Geist keine Falschheit (δόλος „Hinterlist, Tücke“) erträgt und vor unverständigen Gedanken und vor Unrecht flieht (1,5b.c), unterstreicht den sittli20 Vgl. SVF II, 30 frg. 94.95.96. 21 Beachte die Verwendung der Alliteration: κακότεχνον – κατοικήσει – κατάχρεῳ.

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Weish 1,1–5

chen Anspruch der Weisheit. Die Wendung „unverständige Gedanken“ (λογισμοὶ ἀσύνετοι) greift den in 1,3a verwendeten Ausdruck „verkrümmte Gedanken“ auf. In Weish 11,15 werden die λογισμοί ἀσύνετοι unmittelbar mit dem Unrecht (ἀδικία) verknüpft und beziehen sich auf den Götzendienst. Dies bestätigt, dass mit den verkrümmten oder unverständigen Gedanken in Weish 1,3a.5b irriges Denken über Gott (vgl. 1,1b) gemeint ist. Im Buch der Weisheit nähert sich die Bedeutung von παιδεία in 3,11 und 7,14 der griechischen Vorstellung von „Bildung, Erziehung“; in 2,12 und 17,2 dagegen steht παιδεία in Beziehung zum „Gesetz“: Die ἀπαίδευτοι in Weish 17,1 sind Juden, die die Zucht, die von der Weisheit angebotene Bildung, d.h. das mosaische Gesetz, ablehnen, vgl. Weish 2,12, wo παιδεία und νόμος einander entsprechen. Im Buch der Weisheit ist die Vorstellung der παιδεία eher von einer biblisch-weisheitlichen Sicht geprägt als vom griechischen humanistischen Ideal, obwohl dieses nicht a priori ausgeschlossen erscheint.22 Die wahre Bildung des Menschen ist die vom Herrn selbst mittels seines heiligen Geistes der Bildung erteilte, der in der Weisheit gegenwärtig ist. Im Kontext des ganzen Buches ist der „heilige Geist der Bildung“ der, der den Willen Gottes, der sich im Gesetz ausdrückt, zu erkennen lehrt: Weish 9,17. Aus diesem Grunde flieht der Geist vor dem Unrecht und vor jedem irrigen Denken über Gott.

Diachrone Analyse 1,1a Dass die Aufforderung schon vom Anfang des Buches an (1,1a) an die die Erde

Regierenden ergeht, lässt zunächst an die menschliche Gerechtigkeit denken, wie die griechische Welt sie auffasste. Der mit der Verwendung des Verbs ἀγαπάω gegebene religiöse Hintergrund jedoch lenkt das Verständnis eher auf die Gerechtigkeit Gottes, die ‫צדקה‬, die die biblische Überlieferung sehr oft mit Heil, Wahrheit oder Barmherzigkeit verbindet.23 Es handelt sich um dieselbe „unsterbliche Gerechtigkeit“, die als inclusio in Weish 1,15 genannt wird, offensichtlich also um die göttliche Gerechtigkeit. Wenn der Mensch sie liebt, erlangt er mit ihr alle anderen Tugenden, einschließlich der politischen Tugend der Gerechtigkeit (vgl. Weish 8,7). Während in 1,1c die Bezugnahme auf das „Gutsein“ griechischen Klang hat, 1,1c gehört das Thema der Gottsuche zutiefst zur biblischen Sprechweise. Gott ist nie ein Gegenstand zum bloßen Betrachten oder eine theoretische Wahrheit, die man glauben muss, vielmehr ist er eine lebendige und wirkliche Person, die man suchen muss. Auch das Motiv in 1,1c-2 „den Herrn suchen – finden“ ist ein biblischer Gedanke: vgl. Jes 55,6; 65,1; Jer 29,13; Hos 10,12; 1Chr 28,9; 2Chr 15,2.4.15.

22 „Der Paideia-Begriff des Weisheitsbuches bleibt ganz im Rahmen des Alten Testaments“ (ZIENER, Begriffsprache, 103). Das Ziel der παιδεία ist es hier, die Menschen zu einer richtigen Gotteserkenntnis zu führen. Es handelt sich nicht um eine Bildung mit anthropozentrischer Zielsetzung wie bei den Griechen. Andererseits wird die παιδεία in griechischsprachigen Texten des Judentums wie dem Aristeasbrief zu einem wichtigen Ort der Begegnung zwischen der griechischen und der jüdischen Welt, vgl. BOCCACCINI, Medio Giudaismo, 138–142. 23 Eine vorzügliche Erörterung findet sich in SCARPAT, Sapienza I, 47–48 und 51–57.

Diachrone Analyse

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Das Verb πειράζω (1,2a) verweist auf den Kontext von Ex 17,1–7 und insbesondere auf Ex 17,7, wo die Israeliten Subjekt und der Herr Objekt ist: διὰ τὸ πειράζειν κύριον λέγοντας εἰ ἔστιν κύριος ἐν ἡμῖν ἢ οὔ; vgl. auch Ps 77,41.56LXX und 105,14LXX. Zur Bestätigung, dass Exodus-Texte den Hintergrund bilden, verwendet Weish 1,3b das Verb δοκιμάζω, das sich neben πειράζω auch in Ps 94,9LXX findet, ebenfalls in Bezug auf die Episode von Massa und Meriba: οὗ ἐπείρασαν οἱ πατέρες ὑμῶν ἐδοκίμασαν καὶ εἴδοσαν τὰ ἔργα μου. Auch ἐμφανίζω (vgl. Weish 16,21) verweist auf den Exoduskontext: Ex 33,13LXX: „Wenn ich Gunst gefunden habe in deinen Augen, zeige dich mir!“ (ἐμφάνισόν μοι σεαυτόν). Zusammen mit Weish 1,2 ist dies der einzige Text in der LXX, in dem ἐμφανίζω mit Gott als Subjekt erscheint. Indem der Verfasser in 1,4, wenn auch nur in negierter Weise, von einem „Eintreten“ der Weisheit in die Seele und ihrem „Wohnungnehmen“ im Leib spricht, entwickelt er einen bereits in Spr 2,10; 3,13; 4,7; 7,4; 8,17 angelegten Gedanken weiter. Dort wird die Weisheit als eine weibliche Figur dargestellt, die sich für jeden, der sie sucht, in Reichweite befindet.24 Aber auch Merkmale hellenistischer Religiosität fehlen nicht. Das Thema der „Einwohnung“ der Weisheit im Menschen könnte stoischer Herkunft sein.25 Wenn der Verfasser nach der Erwähnung der Gerechtigkeit (1,1a), der göttlichen Macht (1,3b) und der Weisheit (1,4a) in 1,5 die Figur des heiligen Geistes einführt, weiß er, dass er etwas in der biblischen Tradition Wohlbekanntes benennt, vgl. Ps 50,13LXX; Dan 4,5[8]Th.6[9]Th.15[18]Th; 5,12LXX; 6,4LXX. In Weish 1,5 wird der „heilige Geist“ aber wahrscheinlich im Sinne von Jes 63,10–14 eingeführt, wo der Geist Gottes so beschrieben wird, dass er flieht wegen der Sünden Israels. Neu gegenüber den älteren biblischen Texten über den „heiligen Geist“ ist in Weish 1,5, dass er beschrieben wird als „Geist der παιδεία“, und in 1,6 wird er sogar zum „Geist der Weisheit“

1,2

1,3

1,4.

1,5

Im Griechischen umfasst παιδεία alles, was mit der Ausbildung des Menschen zu tun Paideia hat.26 In der LXX jedoch ist παιδεία ein typisch weisheitlicher Begriff und übersetzt in der Regel das hebräische Wort ‫מוסר‬. Dieses hat eine doppelte Bedeutung:27 Zunächst meint es „Züchtigung, Zurechtweisung, Zucht“ mit Bezug auf die pädagogischen Methoden in der Antike, vgl. Spr 13,24; 22,15; 23,13; Ijob 5,17. In diesem Sinne erscheint ‫ מוסר‬im Buch der Sprichwörter in Verbindung mit ‫„ תוכחת‬Tadel, Mahnung, Warnung“ (Spr 3,11; 5,12; 6,23). Eine zweite Bedeutung ist „Unterweisung, Erziehung, Bildung“ wie in Spr 1,2, wo ‫ מוסר‬in Beziehung zu ‫„ חכמה‬Weisheit“ steht (in Spr 4,1 zu ‫בינה‬ „Einsicht“, in Spr 8,10 zu ‫„ דעת‬Wissen“); in Spr 1,8 steht ‫ מוסר‬in Parallele zu ‫ תורה‬torah,

24 Gleichzeitig scheint der Verfasser auch unter dem Einfluss einiger Strömungen jüdischen Denkens zu stehen, die in den Qumranschriften bezeugt sind. Vgl. LARCHER, Etudes, 123 Anm. 5. 25 LARCHER, Etudes, 253 mit Fußnote 7; WINSTON, Wisdom, 102. Vgl. LARCHER, Sagesse I, 174 für die beachtlichen Nachklänge dieses Verses in der patristischen Literatur. Siehe auch den kritischen Apparat in ZIEGLER, z. St. 26 JÄGER, Werner, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, I-III, Berlin-Leipzig: De Gruyter 1934–1947. 27 BRANSON, Robert D., „jāsar, mûsār“: ThWAT III, 689–697.

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Weish 1,6–10 die hier im Sinne von „(Unter-)Weisung“ zu verstehen ist, nicht so sehr von „Gesetz“. Für die Bedeutung von ‫ מוסר‬als „Erziehung, Ausbildung, Bildung“ ist der Text von Spr 1,2aLXX bezeichnend: τοῦ γνῶναι σοφίαν καὶ παιδείαν. Weisheit und weisheitliche Bildung erscheinen vereint wie in Weish 1,5a.6a.

Weish 1,6–10: Die Weisheit ist ein menschenfreundlicher Geist 6 Ein menschenfreundlicher Geist nämlich (ist die) Weisheit, sie wird jedoch den mit seinen Lippen Lästernden nicht straflos lassen; denn seiner Nieren Zeuge (ist) Gott und seines Herzens wahrer Aufseher und der Zunge Hörer. 7 Denn der Geist des Herrn erfüllt die bewohnte (Erde), und der alles umfassende (Geist) hat Kenntnis von (jeder) Stimme. 8 Deshalb wird keiner, der Unrechtes verlauten lässt, verborgen bleiben, und das anklagende Recht wird nicht an ihm vorübergehen. 9 Zu den Überlegungen eines Gottlosen wird eine Untersuchung stattfinden, von seinen Worten aber wird Kunde zum Herrn gelangen zur Verurteilung seiner Untaten. 10 Denn ein Ohr von Eifer hört alles, und der Lärm des Murrens bleibt nicht verborgen.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 6a Die Kodices A und V und einige Minuskeln zusammen mit der vetus latina (s. den Apparat bei Ziegler) lesen πνεῦμα σοφίας. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine lectio facilior, um den Text dem von 1,5a anzupassen, wo sich die ähnliche Verbindung πνεῦμα παιδείας findet. Bei der Lesart der Mehrzahl der Textzeugen (πνεῦμα σοφία) ist aber die Weisheit das Subjekt des ganzen Satzes 1,6a-b und nähert die Weisheit noch mehr dem Geist an: „Die Weisheit ist ein Geist…“ 7b In der stoischen Terminologie ist συνέχειν ein terminus technicus, der die Macht des göttlichen Logos bezeichnet, der das All „umfasst“, oder besser: „zusammenhält“ (lat. hoc quod continet omnia), vgl. SVF II, 137 frg. 416; II, 144 frg. 439,26; II, 144–145 frg. 440; II, 146 frg. 444; II, 147 frg. 448. In allen diesen Texten bezeichnet συνέχειν die Tätigkeit des pneuma, das dem Kosmos Einheit und Zusammenhalt sichert, vgl. SVF II, 144 frg. 439,26: τὴν μὲν γὰρ πνευματικὴν οὐσίαν τὸ συνέχον …: „das geistige Wesen…das, was zusammenhält“ oder die Kraft des Zusammenhalts, die die Welt durchströmt. Indem der Verfasser aber dem pneuma als Verb πληρόω zuordnet, gibt er zu verstehen, dass συνέχειν hier nicht im stoischen pantheistischen Sinne gemeint ist. Denn der Geist des Herrn ist verschieden vom Geschaffenen, er erfüllt das Geschaffene, ist in der Schöpfung gegenwärtig, aber dennoch davon unterschieden.

Synchrone Analyse

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Synchrone Analyse „Die Weisheit (ist) ein Geist…“: Der Satz klingt wie eine Definition. Die Nebenei- 1,6a nanderstellung von Weisheit und Geist bildet eine der bedeutendsten theologischen Neuheiten, die der Verfasser vorträgt. Weisheit und Geist sind hier Attribute Gottes selbst, insofern er sich den Menschen offenbart. Der Verfasser scheint jedoch beides nicht völlig gleichzusetzen, vielmehr andeuten zu wollen, dass die Aufnahme des menschenfreundlichen Geistes Gottes den Menschen auch zum Besitz der Weisheit führt.28 Ein Jude, der diesen Text hört – φιλάνθρωπον γὰρ πνεῦμα σοφία „denn ein menschenfreundlicher Geist ist die Weisheit“ – , versteht im Licht dessen, was er aus der Bibel weiß, dass die Weisheit, von der die Weisen sprechen und die sie loben als lebenslange Gefährtin (vgl. Spr 8,32–36), nicht geschieden ist von dem „heiligen Geist der Bildung“, der in Weish 1,5 genannt wird und der biblischen Überlieferung wohlbekannt ist als der im Menschen gegenwärtige „Geist Gottes“. Eine solche Nebeneinanderstellung von Weisheit und Geist bewirkt, dass der Weisheit viele Eigenschaften zugeschrieben werden, die nach der Bibel Israels dem Geist Gottes zugehören. Die Weisheit erlangt so eine kosmische Bedeutung (Weish 1,7; 7,22b-23) und wird Zeichen der Gegenwart Gottes in der Welt und aktives Prinzip in der Schöpfung (8,1) und im Menschen als Quelle sittlichen Lebens (7,24.27). Die Weisheit wird eine innere Kraft, die den Menschen befähigt, den Willen Gottes zu erfassen, der im Gesetz ausgedrückt ist, wie es der in Ez 36 angekündigte Geist tut (vgl. Weish 9,17). Von 1,6a zu 1,6b besteht ein offensichtlicher Unterschied zwischen dem men- 1,6b schenfreundlichen Geist und demselben Geist, der den Lästerer nicht ungestraft lässt (ἀθῳόω bedeutet „als unschuldig betrachten“). Das καί zu Beginn von 1,6b hat adversative Bedeutung29 wie z.B. auch in Num 14,18LXX. Der Sinn von 1,6b ist also, dass die Weisheit ein menschenfreundlicher Geist ist, aber den Lästerer nicht ungestraft lässt. Ein βλάσφημος ist vor allem jemand, der das Wirken Gottes, hier die Menschenfreundlichkeit Gottes, in Zweifel zieht. Für ihn gibt es keine Vergebung trotz der Milde der Weisheit. Der Verfasser denkt dabei an die alexandrinischen Juden, die Handeln und Gegenwart des Gottes Israels in Zweifel zogen.30 Die enge Verbindung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes, die das ganze Buch

28 Anders HÜBNER: „Weisheit und heiliger Geist werden demnach identifiziert“, Weisheit, 32. Vgl. ENGEL, Weisheit, 53–54, der die enge Verknüpfung von Gott-Weisheit-Geist in 1,1–5 mittels der literarischen Struktur feststellt und daher Weisheit und Geist als Mitteilungen Gottes von sich selbst an den Menschen betrachtet. Vgl. auch VAN IMSCHOOT, „Sagesse et esprit“; LARCHER, Etudes, 361–376; GILBERT, „L’Esprit Saint dans le livre de la Sagesse“; MAZZINGHI, „La sapienza è uno spirito che ama l’uomo“. 29 Vgl. BDR 442,1; anders LARCHER, Sagesse I, 179–181. 30 „E’ difficile non sentire in questa affermazione del nostro autore un rimprovero verso i suoi concittadini di Alessandria che, fatti oggetto di soprusi da parte dei pagani (Egiziani e Romani), si sfogavano in parole che erano bestemmie contro la Provvidenza…“ (Es ist schwierig, in dieser Aussage des Verfassers nicht einen Vorwurf gegenüber seinen Mitbürgern in Alexandria zu hören, die, als sie Ziel von Übergriffen vonseiten der Nichtjuden [Ägypter und Römer] wurden, in Flüche ausbrachen, die Lästerungen der Vorsehung waren…), SCARPAT, Sapienza I, 118.

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Weish 1,6–10

kennzeichnet, beginnt sich schon abzuzeichnen. Es handelt sich um ein im Judentum jener Zeit sehr lebendiges Problem, das bereits Jesus Sirach hervorgehoben hatte, wenn auch der Zwiespalt „Barmherzigkeit – Gerechtigkeit“ von ihm nur festgestellt, nicht aber gelöst wurde: Die Barmherzigkeit Gottes hebt seine strafende Gerechtigkeit nicht auf (vgl. Sir 16,11–12). Dennoch scheint der Verfasser nicht ein tatsächliches Problem der Theodizee in Angriff nehmen zu wollen, ihm erscheint es völlig natürlich, dass die göttliche Philanthropie auch einen strafenden Aspekt haben kann. Er bemüht sich in keiner Weise, den negativen Eindruck zu mildern, den der Gedanke des Zornes Gottes und der Bestrafung auf seine Zuhörerschaft ausüben könnte; im Gegenteil, gerade das Wissen, dass der Lästerer nicht unbestraft bleiben wird, ist ein deutliches Zeichen, dass der „Geist“ wirklich „menschenfreundlich“ ist. Wie schon in Jes 63,10–14 rettet der Geist des Herrn und bestraft zugleich (vgl. Spr 1,23). Die Menschenfreundlichkeit schließt daher die Gerechtigkeit nicht aus, vielmehr wird der Geist zum Spiegel der Güte und Barmherzigkeit Gottes, auch wenn er den Menschen straft. In diesen drei Kola ist der Kontext immer noch das Gericht. Ab 1,6c wechselt 6c-e unversehens das Subjekt, es ist nicht mehr die Weisheit oder der Geist, sondern Gott selbst, der hier mit drei Substantiven beschrieben wird (μάρτυς, ἐπίσκοπος, ἀκουστής). In dieser Weise werden die Weisheit und der Geist auf Gott zurückgeführt als Aspekte seines Wirkens und als eng mit ihm verbunden gezeigt. Gott wird hier als „Zeuge“ (μάρτυς) bezeichnet: vgl. Gen 31,44; Jer 36,23LXX. Er wird auch ἐπίσκοπος, gründlicher (ἀληθής) „Inspektor“ des „Herzens“, d.h. des Gewissens des Menschen, genannt. In Weish 2,20; 3,7.13 greift der Verfasser dann das Thema der ἐπισκοπή, der eschatologischen Heimsuchung durch Gott, ausdrücklich auf. Gott wird schließlich als „Hörer der Zunge/Sprache“, als aufmerksamer Hörer dessen, was der Mensch spricht, beschrieben. Hier wird ἀκουστής im etymologischen Sinn verwendet: „einer, der hört“. Wenn Gott schon das Innerste des Menschen („Herz und Nieren“) kennt, hört er um so mehr sein Reden, kennt seine Sprache. Die Erwähnung der Zunge/Sprache verweist unmittelbar zurück auf den in 1,6b erwähnten Lästerer, dessen gottloses Reden Gott also nicht entgehen kann. Weish 1,7a beginnt mit einem erläuternden ὅτι und nennt als Begründung zu 1,7 1,6 die universale Gegenwart des „Geistes“, der Subjekt des ganzen Verses ist.31 Er „erfüllt“ τὴν οἰκουμένην, ein Ausdruck, der an sich die von Menschen bewohnte Welt bezeichnet, aber sich auch auf die ganze Welt, das Universum, erstrecken kann. Es ist möglich, dass der Verfasser an Gen 1,2 denkt, wo es bei der Erwähnung des πνεῦμα θεοῦ um die gegenüber der ganzen Schöpfung wohlwollende Gegenwart Gottes geht. Mit dem Ausdruck τὸ συνέχον τὰ πάντα verweist der Autor darauf, dass der Geist Gottes den Zusammenhalt und die Harmonie des Kosmos gewährleistet. Die Tätigkeit des Geistes erstreckt sich insbesondere auf den Menschen; sie geschieht bewusst und hebt die Bedeutung dieser Personifikation noch mehr hervor, denn der Geist , γνῶσιν ἔχει φωνῆς „hat Kenntnis von (jeder) Stimme“. Da der vorausge-

31 Weish 1,7 wird oft bei den Kirchenvätern zitiert und bildet den Introitus an Pfingsten in der katholischen Liturgie, vgl. LARCHER, Sagesse I, 184.

Synchrone Analyse

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hende Vers 1,6 mit der Erwähnung der Figur des Lästerers sich auf die menschliche Rede bezog, erscheint die abschließende Äußerung dazu in 1,7b hier am rechten Platz. Gerade wegen seiner Gegenwart im Kosmos weiß der Geist, was ein Mensch jeweils sagt, und entspricht so dem Tun Gottes, wie es in 1,6e beschrieben wurde (τῆς γλώσσης ἀκουστής). In dieser Weise kann das Buch der Weisheit ein Problem nicht nur der Kosmologie, sondern auch der Anthropologie behandeln, nämlich das der Gegenwart Gottes im Menschen (vgl. 7,24.27 und 9,17). Denn der Geist, der alles zusammenhält, kennt jede Stimme (1,7b). Die Verse 1,8–10 vertiefen das Thema des Redens, das in 1,7b schon genannt 1,8–10 war.32 1,8 ist mit dem vorhergehenden Text durch das einleitende διὰ τοῦτο „deswegen“ eng verknüpft. Niemand, der Unrechtes verlauten lässt (φθεγγόμενος ἄδικα), darf annehmen, er könne vor dem Geist Gottes verborgen bleiben, vgl. Weish 17,3a. Das Gericht Gottes wird nicht nur über das Reden des Gottlosen ergehen, sondern auch über seine Gedanken, die dem Reden zugrunde liegen (1,9). Das Wort διαβούλιον „Überlegung, Entschluss“ wird hier in malam partem verwendet (so auch in Hos 4,9; 7,2) und betont die Machenschaften des Gottlosen. Hier erscheint zum ersten Mal im Buch der Weisheit diese Bezeichnung (ἀσεβής). Über die Gedanken jedes Gottlosen wird vonseiten Gottes (er wird in 1,9b wie schon in 1,1b und 1,7a κύριος genannt) eine Untersuchung stattfinden. Das Wort ἐξέτασις hat einen eschatologischen Beiklang wie auch ἐξετασμός in Weish 4,6 und ἐξετάζειν in 6,3. Den Gedanken des Gottlosen (1,9a) folgen seine Worte (1,9b), und den Worten die Taten (ἀνομήματα 1,9c). Das Buch der Weisheit stellt aufmerksam das innere Voranschreiten der Sünde fest. Die Worte des Gottlosen entgehen dem Herrn nicht (1,9b), so dass seine Sünden (ἀνομήματα 1,9c; vgl. Weish 3,14; 4,20) bestraft werden. Der eschatologische Klang von ἐξέτασις wird in 1,9c verstärkt durch eine Wendung, die im Buch der Weisheit ebenfalls in eschatologischen Kontexten verwendet wird: εἰς ἔλεγχον „zur Verurteilung, Bestrafung“ (vgl. 2,14; 18,5; ἐλέγχω kam schon in 1,8b vor). So wird bereits am Beginn des Buches, wenn auch noch zurückhaltend, ein anderes der großen Leitthemen des Werkes eingeführt: die Reflexion des Endschicksals des Menschen. Von 1,9 allein her ist es allerdings noch nicht möglich zu erkennen, ob der Verfasser, wenn er von „Untersuchung“ und Verurteilung spricht, an ein individuelles oder an ein kollektives Gericht denkt. Der mit einem erläuternden ὅτι eingeleitete V. 10 enthält die Rechtfertigung der beiden vorhergehenden Verse. Die Erwähnung der γογγυσμοί „Murren“ verstärkt die Annahme, dass der Verfasser in den Gottlosen diejenigen zeitgenössischen Juden sieht, die den Glauben an den Gott Israels verloren haben. Solches Murren bleibt Gott nicht verborgen (οὐκ ἀποκρύπτεται). 1,10b spielt damit wiederum auf das Gericht Gottes an. So ist der Wortschatz in Weish 1,6–10 von Gerichtsterminologie geprägt.33 Damit wird ein dramatischer Gegensatz geschaffen zum Geist der Weisheit, der die Menschen liebt und mit seiner Gegenwart die ganze Welt durchzieht.

32 REITERER, „Philosophische Lehre“, 138–139. 33 KOLARCIK, The Ambiguity of Death, 63–68.

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Weish 1,6–10

Diachrone Analyse 1,6 Das Motiv des „heiligen Geistes“, das in Weish 1,6 angeführt wird, verweist in der

hebräischen Bibel auf eine dynamische Realität, die die Beziehung zwischen Gott und Mensch kennzeichnet und in vielen Fällen die Gegenwart Gottes im Menschen, oft im Zusammenhang mit einem bestimmten Auftrag, den der Mensch zu erfüllen berufen ist, ausdrückt (vgl. Jes 11,2; 61,1; Ez 36,26–27). In der Weisheitsliteratur erscheint der „(heilige) Geist“ in Verbindung mit der Weisheit nur in Spr 1,23; dort wird die personifizierte Weisheit so dargestellt, dass sie im Besitz desselben Geistes Gottes ist, der über die Propheten ausgegossen wurde, und dass sie bereit ist, ihn über den, der auf sie hört, auszugießen: „Siehe, ich will meinen Geist über euch ausgießen und euch meine Worte kundtun“.34 Jesus Sirach (Sir 1,8–10) scheint auf die Weisheit anzuwenden, was die Propheten vom Geist Gottes sagten (vgl. Joel 3,1). Während die Propheten eine solche Gabe in der Zukunft erwarteten, ist für Jesus Sirach die Weisheit etwas, das dem Menschen von Gott bereits geschenkt ist. In Weish 1,6a findet sich eine bedeutende Neuheit: Der heilige Geist wird beschrieben als φιλάνθρωπος „menschenfreundlich. Damit nimmt die Weisheit ein typisch griechisches humanistisches Ideal in sich auf, die Philanthropie, die hier, wie schon bei Platon, als eine göttliche Eigenschaft gesehen ist und auch zu einer politischen Eigenschaft wird, die durch die Weisheit jedem Menschen zu eigen werden kann.35 Denn der Gott Israels besitzt tatsächlich einen „menschenfreundlichen Geist“. Aber der einzige Weg, zu diesem Ideal von Freundschaft zu gelangen, ist der, den die Weisheit vorzeichnet. Das in 1,6b verwendete Wort βλάσφημος kommt in der LXX nur selten und immer nur in religiösem Kontext und in Beziehung auf Gott vor: 2Makk 9,28; 10,4.36; Sir 3,16; Jes 66,3. Ähnlich wird es verwendet bei Philon: Gegenüber denen, die das Göttliche lästern (τῶν εἰς τὸ θεῖον βλασφημούντων) gibt es keine Vergebung (Fug. 84). Das Wortpaar „Nieren und Herz“ (1,6c-d) ist ein biblischer Ausdruck, der sich in verschiedenen Texten der LXX findet: vgl. Ps 7,10; 25,2; 72,21; Jer 11,20; 17,10; 20,12. Außer in Ps 72,21 bezieht er sich an allen genannten Stellen auf Gott, der die Nieren und das Herz, d.h. das Innerste des Menschen, prüft und kennt. Die Vorstellung von der Gottheit als „Zeuge“ scheint jedoch griechischer Herkunft zu sein, vgl. Pindar, Pyth. 3,297; Sophokles, Trach. 1248. Die Zeugenschaft der Götter ruft man bei Verträgen oder Eiden an, weil die Götter die wahren Absichten der Menschen kennen. Philon verwendet diese Vorstellung in Cher. 17; Jos. 265; Migr.

34 Der Geist kann jedoch in Spr 1,23 auch in malam partem verstanden werden als Ausdruck des göttlichen Zorns, der den trifft, der auf die Worte der Weisheit nicht hört, vgl. GILBERT, Maurice, „Le discours menaçant de la Sagesse en Proverbes 1,20–33“ in: GARRONE, Daniele / ISRAEL, Felice (Hg.), Storia e Tradizioni d’Israele. Scritti in onore di J. A. Soggin, Brescia: Paideia 1991, 102–106. 35 Vgl. SPICQ, Notes II, 922–926; DERS., „La Philanthropie hellénistique, vertu divine et royale [à propos de Tite III,4]“, ST 12 (1958) 169–191; LE DÉAUT, Roger, „Philanthropia dans la littérature grecque jusqu’au Nouveau Testament [Tite III,4]“, in: Mélanges E. Tisserant. Ecriture Sainte. Ancient Orient, vol. I, Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana 1964, 255–294; GEORGE, „Philanthropie im Buche der Weisheit“, BiLe 11 (1970) 189–198. Vgl. auch SCARPAT, Sapienza I, 82–87.

Diachrone Analyse

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115. Weiterhin wird Gott ἐπίσκοπος „Überprüfer, Aufseher“ genannt, der gründlich (ἀληθής) ins Herz des Menschen, d.h. in sein Gewissen, schaut. Das Wort ἐπίσκοπος kommt in der LXX mit Bezug auf Gott nur in Ijob 20,29 vor, während es in der griechischen Literatur häufiger begegnet um auszudrücken, dass die Gottheit die menschlichen Angelegenheiten kennt und sich damit beschäftigt.36 Diese Vorstellung findet sich schon bei Homer, vgl. Il. 22,225, wo die Wendung μάρτυροι καὶ ἐπίσκοποι in Bezug auf die Götter verwendet wird. Philon benutzt die beiden Ausdrücke, um von Gott zu sprechen (vgl. Leg. III, 43), der tatsächlich ὁ τῶν ὅλων ἐπίσκοπος ist (Somn. I, 91), der alles sieht und dem die Bosheit nicht entkommen kann (vgl. auch Migr. 81, 115, 135 etc.). Die Nennung von drei Teilen des menschlichen Körpers, den Nieren, dem Herz und der Zunge in 1,6c-e, ist typisch für die biblische Redeweise, wie es auch ein biblischer Gedanke ist, dass Gott den ganzen Menschen kennt und sein wahrhafter Richter ist. Demgegenüber lassen die drei dort für Gott verwendeten Bezeichnungen μάρτυς, ἐπίσκοπος und ἀκουστής eher griechischen Einfluss spüren. Der Gedanke in Weish 1,7, dass Gott die Welt erfüllt, ist nicht neu für die 1,7 Bibel, vgl. Jer 23,24LXX: μὴ οὐχὶ τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν ἐγὼ πληρῶ; λέγει κύριος (vgl. Jes 6,3). Möglicherweise hat sich der Verfasser von diesen beiden Texten (Jer und Gen 1,2, s.o. die Synchrone Analyse) anregen lassen. Jedenfalls ist aber hier Ps 103,30LXX zu nennen, in dem das Wirken des Geistes in Bezug auf die Schöpfung hervorgehoben wird, und ebenso Ps 138,7LXX, der die Allwissenheit des Geistes betont (ποῦ πορευθῶ ἀπὸ τοῦ πνεύματός σου;). Das Verb πληρόω bezeichnet bei Philon eine philosophische Reflexion über die Gegenwart Gottes, wird aber nie bei ihm vom πνεῦμα ausgesagt.37 Der in 1,7a ausgedrückte Gedanke erweist sich also als biblisch, auch wenn in keinem Text der Bibel ausdrücklich vom Geist Gottes gesagt ist, dass er die Schöpfung „erfüllt“. Vielleicht erweitert der Verfasser hier einen bereits in Gen 2,7 enthaltenen Gedanken: Gott haucht nicht nur dem Menschen die πνοὴ ζωῆς ein, vielmehr erstreckt sich die Gegenwart seines Geistes auf die ganze Schöpfung, vgl. Weish 7,22–23 und 12,1. Während das erste Kolon von 1,7 gut als eine Reflexion über eine Reihe von biblischen Texten erklärt werden kann, erscheint der griechische Einfluss in 1,7b noch unverkennbarer. Die Verwendung von συνέχω steuert den Gedanken der Einheit und des Zusammenhalts bei. Ein solches Nachdenken über die kosmische Rolle des Geistes entstammt großenteils der Aufgeschlossenheit des Textes für die kulturellen Beiträge des Stoizismus (s. oben). Hier wird in origineller, dynamischer Weise das Handeln Gottes in der Welt umschrieben. Indem der Verfasser des Buches der Weisheit biblische Vorstellungen (1,7a) mit Begriffen griechischer Herkunft vereinte, wollte er das Wirken Gottes in der Welt als eine Art immanenter Kraft darstellen, als einen Geist, der jedoch verbunden bleibt mit Gott als seiner transzendenten Quelle. Wenn er in 1,7b die Aussage von 1,7a über die universale Gegenwart des Geistes zu erklären 36 BEYER, Hermann Wolfgang, ἐπίσκοπος, ThWNT II, 605–606. 609–610. 37 LARCHER, Sagesse I, 183, und die dort genannten Texte. Das Perfekt πεπλήρωκεν bezeichnet eine Tätigkeit in der Vergangenheit, deren Wirkungen in der Gegenwart andauern. Die Variante des Kodex A und einiger Minuskeln ἐπλήρωσε (Aorist!) ist möglicherweise aufgrund eines Rückblicks auf Gen 1,2 (πνεῦμα θεοῦ ἐπεφέρετο [Imperf.!] ἐπάνω τοῦ ὕδατος) entstanden.

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Weish 1,11–12

sucht, möchte er den stoischen Pantheismus gerade vermeiden, und zwar in dessen eigener Terminologie. Die biblische Figur des Geistes, neu formuliert mit Hilfe stoischer Kategorien, gestattet dem Verfasser eine Gegenwart Gottes in der Welt auszusagen, ohne dass Gott mit ihr vermischt wird oder in ihr aufgeht. In 1,8b taucht die Figur der personifizierten göttlichen Gerechtigkeit auf (ἡ 1,8 δίκη), die Griechisches anklingen lässt (vgl. EstLXX E,4 = 8,12d; Apg 28,4); in diese Richtung weist auch das Wortspiel ἄδικα – δίκη. Der Verfasser hat sich möglicherweise auch von Jes 59,13–14LXX in einem ähnlichen Kontext anregen lassen. Die göttliche Gerechtigkeit nimmt hier ein strafendes Aussehen an. Zum Verb ἐλέγχω s.o. die Erläuterungen zu 1,3. παροδεύω „vorbeigehen“ kommt in der LXX außer in Ez 36,34 (für hebr. ‫ )עבר‬nur im Buch der Weisheit vor (2,7; 5,14; 6,22; 10,8). Der biblische Hintergrund zu 1,10 ist offensichtlich, angefangen mit dem Semi1,10 tismus οὖς ζηλώσεως „eiferndes Ohr“ (vgl. πνεῦμα ζηλώσεως in Num 5,14.30). Auch hier bildet der Verfasser ein Wortspiel: οὖς und θροῦς. In der LXX findet sich θροῦς sonst nur noch in 1Makk 9,39, auch dort im Sinne von „Geräusch, Lärm, Gemurmel“. In der Wendung οὖς ζηλώσεως ist nicht nur das biblische Thema des „eifersüchtigen Gottes“ zu erkennen, sondern noch eher das Thema eines aufmerksamen, eifernden Gottes, der kein Murren unbestraft lässt. Das Thema des Murrens (γογγυσμός) verweist wieder auf den Exodus-Hintergrund, der sich bereits am Beginn des Buches zeigte, und stammt aus Texten wie Ex 16,7.9.12; Num 17,20.25 (vgl. auch Ex 15,24; Num 14,2; 17,6), wo vom Murren der Israeliten in der Wüste die Rede ist. In Weish 1,10f. hat das Murren eine der Lästerung fast synonyme Bedeutung. Die Nennung der γογγυσμοί verstärkt die Annahme, dass der Verfasser in den Gottlosen jene jüdischen Zeitgenossen sieht, die den Glauben an den Gott Israels verloren haben. Solches Murren bleibt Gott nicht verborgen (οὐκ ἀποκρύπτεται). Damit wird wiederum auf das Gericht Gottes angespielt. So ist der Wortschatz in Weish 1,6–10 von Gerichtsterminologie geprägt.38 Damit wird ein dramatischer Gegensatz geschaffen zum Geist der Weisheit, der die Menschen liebt und mit seiner Gegenwart die ganze Welt durchzieht.

Weish 1,11–12: Sucht nicht den Tod! 11 Bewahrt euch also vor nichtsnutzigem Murren, und hütet eure Zunge vor übler Nachrede! Denn auch ein heimlicher Laut wird nicht folgenlos dahingehen, ein verleumdender Mund aber nimmt Leben. 12 Bemüht euch nicht eifrig um den Tod auf der Irrfahrt eures Lebens und zieht nicht Verderben herbei durch Werke eurer Hände!

38 KOLARCIK, The Ambiguity of Death, 63–68.

Synchrone Analyse

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Anmerkungen zu Text und Übersetzung 11 Φυλάξασθε (Medium) ist hier mit „hütet euch vor…! bewahrt euch vor…!“ zu übersetzen. Φυλάσσω wird in der LXX im Aktiv wie im Medium mit dem Akkusativ verbunden in der Bedeutung „achten auf, einhalten, sorgsam umgehen mit“, besonders in Bezug auf die Beobachtung des Gesetzes (vgl. Weish 6,4.10). In der Bedeutung „sich hüten vor“ hat das Medium φυλάσσομαι in der LXX einen Ausdruck mit ἀπό (z.B. Ri 13,13; Jer 9,3; Mi 7,5; Sir 4,20; 12,11; 22,13.26; 32,22) bei sich, wie im klassischen Griechisch ist aber auch der bloße Akkusativ möglich (so hier). Φείδομαι ist hier wie im klassischen Griechisch mit einem Genitivobjekt (γλώσσης) verbunden, dazu aber noch semitisierend mit einem präpositionalen Ausdruck (ἀπὸ καταλαλιᾶς), vgl. Ijob 33,18LXX; Ps 18,14LXX; 77,50LXX): „c’est là un exemple caractéristique de la double personalité littéraire de l’auteur“, zugleich griechisch und hebräisch (LARCHER, Sagesse I, 191).

Synchrone Analyse Dieser Vers zieht die Folgerungen (τοίνυν) aus der vorangehenden Reflexion zum 1,11 Thema Wort und steigert den Kontrast zwischen dem Gutsein Gottes und der Sünde des Menschen. Er beginnt mit zwei Imperativen φυλάξασθε … καὶ φείσασθε, die mit den zwei verneinten Imperativen in 1,12 μὴ ζηλοῦτε … μηδὲ ἐπισπᾶσθε zu verbinden sind. Mit dieser neuen Reihe von Imperativen will der Verfasser die Zuhörerschaft darauf aufmerksam machen, dass selbst ihr verborgenes Handeln Konsequenzen hat. Γογγυσμόν bildet eine Verklammerung (mot crochet) zum vorangehenden Abschnitt und verlängert den Exodushintergrund dieser Verse. Neben dem gegen Gott gerichteten Murren, das hier als „nichtsnutzend, nichtsnutzig“ (ἀνωφελής) beurteilt wird, erscheint ein neuer Ausdruck, *καταλαλιά. Von καταλαλεῖν in Num 21,5.7 und Ps 77,19LXX her ist es möglich, καταλαλιά als übles Reden gegen Gott zu verstehen, und man könnte es einfach als Synonym zu γογγυσμός betrachten. Im Blick auf Ps 100,5LXX (τὸν καταλαλοῦντα λάθρᾳ τοῦ πλησίον αὐτοῦ) ist es auch möglich, καταλαλιά hier als die üble Nachrede und Verleumdung eines Mitmenschen zu verstehen. Wie schon in 1,6–10 denkt das Buch der Weisheit nicht nur an eine Schuld gegenüber Gott, sondern auch gegenüber dem Nächsten. Vor solchem Murren und vor solcher üblen Nachrede soll der Mensch sich hüten (φυλάξασθε, φείσασθε). In dieser Weise wird indirekt schon die Rede der Gottlosen (Weish 2,1– 20) vorbereitet. Die Bedeutung, die er dem Thema ›Wort‹ beimisst, veranlasst den Verfasser in 1,11c zu betonen, dass auch „ein geheimer (*λαθραῖος) Laut“ κενὸν οὐ πορεύσεται. Diese Wendung ist eine Eigenprägung: „Er (der geheime Laut) wird nicht leer (d.h. ohne Folgen) gehen (aus dem Mund eines Menschen)“, d.h. das menschliche Wort ist auf der sittlichen Ebene nie neutral. 1,11d führt dann die Figur des Verleumders ein (στόμα *καταψευδόμενον „ein falschaussagender Mund“). Er ist zu verstehen als derjenige, der sich gegen Gott wendet, indem er Lügen gegen ihn, aber zugleich auch gegen Mitmenschen vorbringt, also jeder, der nicht in guter und richtiger Weise über den Herrn denkt (1,1b), der ihn versucht (1,2a), der verkrümmte Gedanken hegt (1,3–5), der lästert (1,6).

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Weish 1,11–12

Am Ende von 1,11 beginnt der Verfasser das Thema Tod vorzubereiten, das er in 1,13–15 entwickeln und dem er das ganze Kapitel 2 widmen wird. Das Ergebnis der Lüge ist so schwerwiegend, dass sie tötet („Seele wegnimmt, zerstört“). Die Verwendung des Präsens nach dem Futur in 1,11c braucht nicht zu überraschen, da πορεύσεται gnomische Bedeutung hat und das Präsens in 1,11d eine unmittelbare Folge der Lüge benennt. In 1,11d ist ἀναιρέω in seiner Bedeutung „töten, ermorden“ wie in Weish 14,24 zu verstehen. Ein vergleichbarer Ausdruck findet sich in Sir 21,2: ὀδόντες λέοντος οἱ ὀδόντες αὐτῆς ἀναιροῦντες ψυχὰς ἀνθρώπων „Löwenzähne sind ihre (=der Sünde) Zähne, sie töten die Seelen/Leben der Menschen“. In diesem Falle ׁ ‫„ נפ‬Seele, Leben“ wiedergegeist mit ψυχή ausreichend klar das hebräische Wort ‫ש‬ ben. Aber auch im Zusammenhang von 1,11 kann ψυχή einfach „Leben“ bedeuten (vgl. Weish 14,5), trotz der Weise, wie der Verfasser ψυχή schon in 1,4 verwendet hat.39 Dennoch ist, gerade im Blick auf 1,4, bei ψυχή eher an die Seele als ein geistiges Prinzip des Menschen und in diesem Sinne als dem „Leib“ gegenüberstehend zu denken; der Text ist vielleicht absichtlich mehrdeutig. Von welchem Tod spricht also Weish 1,11d? Einige Autoren möchten die Bedeutung des Textes lieber unbestimmt lassen, während viele andere an den geistlichen Tod denken, an den Verlust der Freundschaft mit Gott, an einen Tod der Seele, der in gewisser Weise schon den Tod des Leibes vorwegnimmt. Larcher meint, dass hier vom körperlichen Tod als Vorwegnahme des Todes der Seele gesprochen wird.40 Scarpat denkt an den Tod der Seele, verstanden als Verlust der Unsterblichkeit: „Das wahre Leben, das der Seele, wird vernichtet von der Lüge, die als eine der größten Sünden betrachtet wird, so dass hier das für Mörder typische Wort verwendet wird.“41 Winston schlägt einen von Philon herkommenden Gedanken vor, den geistlichen Tod der Seele des Gottlosen: „Der Gottlose ist, auch wenn er lebendig zu sein scheint, tot“, vgl. Det. 49; Spec. I, 345; Fug. 55. Für Philon gibt es Lebende, die tot sind, und Tote, die jedoch leben; die Toren sind tot, auch wenn sie ein hohes Alter erreichen, weil ihnen das mit Tugend gelebte Leben fehlt; die Gerechten dagegen leben, auch wenn sie ihres Leibes beraubt sind, auf ewig.42 Im Unterschied zu der meist vertretenen Deutung legt Engel in einem selten beachteten Artikel dar, dass Weish 1,11d vom Tod anderer, den die Gottlosen verursachen, spricht.43

39 TAYLOR, „Eschatological meaning“, 84–98. 40 LARCHER, Sagesse I, 194–195. So mit unterschiedlichen Nuancen auch CORNELY, Commentarius, 61.70–73; HEINISCH, Das Buch der Weisheit, 21–23; FELDMANN, Das Buch der Weisheit, 28; TAYLOR, „Eschatological meaning“, 106–111; WEISENGOFF, „Death and Immortality“, 112; ZIENER, „Weisheitsbuch und Johannesevangelium“ II, 43–45. ALONSOSCHÖKEL (Sabiduría, 88) zieht es vor, den Text in seiner Mehrdeutigkeit zu belassen, während VÍLCHEZLÍNDEZ (Sapienza, 162–163) dazu neigt, hier eine Bezugnahme auf den Verlust der Freundschaft mit Gott als Folge der Sünde zu sehen. 41 SCARPAT, Sapienza I, 96; vgl. auch I, 127. 42 WINSTON, Wisdom, 107. Zu dieser Konzeption Philons, die dem Buch der Weisheit m. E. nicht ganz fremd ist, vgl. auch den Kommentar zu Weish 17,21. 43 ENGEL, „Wem nimmt unrechtes Denken“ greift auf eine Anregung von Norbert Lohfink hin die Deutung des Mönches Malachias (Ende 14. Jh.) auf und hebt hervor, wie die Darstellung der Gottlosen, bes. in Weish 2,1–20, ausgehend von ihrem unrichtigen Denken gegenüber Gott zu ihrem schlimmen Verhalten gegenüber Mitmenschen führt und schließlich in Gewalttätigkeit und Mord ausartet.

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Synchrone Analyse

Der Text macht folgende Angaben: Es besteht eine sehr enge Verbindung zwischen Tod und Lüge, sei es die gegen Gott gerichtete in der Weise der Lästerung und des Murrens, sei es die gegen den Nächsten gerichtete in der Form der üblen Nachrede und Verleumdung, daran lässt das Verb ἀναιρέω keinen Zweifel. Wenn man nur auf 1,11 schaut, kann man an den Tod von jemand denken, der durch das verleumderische Wort eines anderen „getötet“ wird. Weish 1,16 legt jedoch nahe, dass auch an den Tod des Gottlosen selbst gedacht sein kann (s.u.). Jedenfalls äußert der Verfasser sich mehrdeutig, und diese Mehrdeutigkeit verschwindet auch im Folgenden nicht völlig. Das Wort θάνατος „Tod“, das in 1,12 zum ersten Mal im Buch genannt wird, lässt die Hörerschaft an den physischen Tod denken, aber andererseits scheint gerade 1,12 ihn als Deutung auszuschließen. Die Lektüre von 1,13–14 lenkt dann das Verständnis auf die Vorstellung eines mehrdeutigen Todes. Die auffällige Wendung ἀναιρεῖ ψυχήν meint also einerseits den Tod, den die Gottlosen durch ihr Verhalten verursachen, schließt aber andererseits auch nicht völlig den Gedanken an den Tod des Gottlosen selber aus. Weish 1,12 bildet einen mustergültigen Parallelismus: 1,12 μὴ ζηλοῦτε μηδὲ ἐπισπᾶσθε

θάνατον ὄλεθρον

ἐν πλάνῃ ἐν ἔργοις

ζωῆς ὑμῶν χειρῶν ὑμῶν

Die zwei verneinten Imperative der 2. Person Plural entsprechen den positiven Imperativen in 1,11a.b; die ihnen unmittelbar folgenden Objekte (θάνατος, ὄλεθρον) sind synonym, am Ende beider Kola steht ein präpositionaler Ausdruck (ἐν + Dativ + Genitiv + ὑμῶν), der sich auf das Handeln des Menschen bezieht. Die Imperative im Präsens bezeichnen ein andauerndes Handeln: „Fahrt nicht fort, euch zu bemühen!“ ζηλόω hat hier die übliche Bedeutung „sich anstrengen, sich bemühen um etwas“. Πλάνη bezeichnet den Trug, die Selbsttäuschung, das Sichverirren des Lebens (ἐν πλάνῃ ζωῆς ὑμῶν) gegenüber Gott und dem Guten und verweist auf das in 2,21 und 5,6 verwendete Verb πλανάω.44 1,12a bezieht sich auf den Menschen im Blick auf seine innere Neigung und warnt davor, sich in nutzlosen Bemühungen zu verlieren, die nur weit von Gott wegführen. Mit der Wendung „durch die Werke eurer Hände“ nimmt 1,12b das äußere Verhalten des Menschen in den Blick, parallel zum inneren, von dem im vorhergehenden Kolon die Rede war. Die Vorstellung vom Menschen, der das Verderben45 und den Tod mit seinen eigenen Händen herbeizieht46 (vgl. Weish 1,16), legt nahe, dass der Tod (θάνατος) nur die Gottlosen betreffe; der Verfasser denkt dabei aber wohl kaum nur an den physischen Tod, der ja unterschiedslos alle trifft, die Gerechten wie die Gottlosen. 44 Der Text von Jak 5,20 scheint Weish 1,12 sehr nahe zu stehen, nicht nur im Wortgebrauch, sondern auch inhaltlich: „Wer einen Sünder von seinem Irrweg (ἐκ πλάνης ὁδοῦ αὐτοῦ) umzukehren veranlasst, wird ihn vor dem Tod retten“. 45 ὄλεθρος, d.h. das Ende, der Untergang des Lebens (vgl. Il. 22,325), steht hier offensichtlich parallel zu θάνατος „Tod“. 46 Hier wird das Verb ἐπισπάομαι „zu sich herbeiziehen“ wie in Jes 5,18LXX verwendet. Möglicherweise aber ist dem Verfasser auch der ganze Kontext dieses Weherufes in Jes 5 gegenwärtig, so ENGEL, Weisheit, 57.

70

Weish 1,13–15

Diachrone Analyse 1,12 Das Wort πλάνη in 1,12 lässt an Jer 23,17 oder Ez 33,10 denken, hat aber auch

einen klassischen Anknüpfungspunkt. Der Ausdruck wird von Platon verwendet (vgl. Resp. 444b; Phaidon 81a), um ein Leben zu bezeichnen, das sich von der Tugend entfernt, und hat Anklänge an die Mysterienterminologie (s. die Erläuterungen zu πλανάω in Weish 17,1b). Der Gedanke, dass der Mensch durch sein eigenes Tun den Tod herbeizieht, ist traditionell, s. den verwandten Text Sir 15,11–17, vgl. auch Philon, Det. 122: „Nicht Gott ist die Ursache der Übel, wie einige Gottlose denken, sondern unsere eigenen Hände.“ Vgl. auch 1 Hen 98,4: „Die Sünde wurde nicht auf die Erde geschickt, sondern die Menschen allein haben sie selbst geschaffen.“

Weish 1,13–15: Gott hat den Tod nicht erschaffen! 13 Denn Gott hat den Tod nicht gemacht und freut sich nicht über den Untergang von Lebenden. 14 Er hat nämlich zum Dasein alles erschaffen, und heilbringend sind die Hervorbringungen des Kosmos, und es gibt in ihnen kein Gift des Verderbens noch eine Königsherrschaft der Unterwelt auf der Erde. 15 Die Gerechtigkeit nämlich ist unsterblich.

Synchrone Analyse 1,13 1,13 stellt dem Verhalten der Menschen (1,11–12) dasjenige Gottes (ὁ θεός in em-

phatischer Voranstellung) gegenüber, sowohl von außen betrachtet („er hat den Tod nicht gemacht“) als auch von innen („er freut sich nicht über den Untergang der Lebenden“). So wird in gewisser Weise die Humanität Gottes47 hervorgehoben. ἀπώλεια, „Verderben, Untergang“, ein in der LXX häufiges Wort, verweist auf einen eschatologischen Kontext (vgl. Weish 5,7; 18,7). Dasselbe gilt für ὄλεθρος „Verderben, Zerstörung“, das bereits in 1,12b vorkam. In Weish 1,12.14 steht ὄλεθρος parallel zu θάνατος „Tod“ bzw. zu ᾅδης „Unterwelt, Hades“. Weish 18,13 könnte ein flashback gerade auf diese Stelle sein. 1,13 mit seiner ausdrücklichen Bezugnahme auf die Schöpfung ist also durch und durch biblisch und mit dem Grundgedanken von Gen 1–3 fest verbunden: Gott hat den Tod nicht gewollt, er ist deshalb nicht als etwas von Gott „Geschaffenes“ zu betrachten. Weish 1,13 stellt eine Art negativer Paraphrase der Genesis-Aussage dar: „Gott hat den Himmel und die Erde erschaffen.“48 Aber das Buch der Weisheit

47 RAURELL, „From ΔΙΚΑΙΟΣΥΝΗ“, 344. 48 GILBERT, „La relecture de Genèse 1 à 3“, 324.

Synchrone Analyse

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vertieft, was in Gen 1–3 noch nicht so ausdrücklich gesagt ist: Es ist ein Heilswille Gottes, der den Tod nicht will, denn in der Welt ist gerade ein „menschenfreundlicher Geist“ (1,7) anwesend. Das Buch der Weisheit spielt mit einer Vorstellung von Tod, die mehrdeutig und schillernd ist.49 Denn einerseits scheint der Text von 1,13 vom physischen Tod zu sprechen, auch wegen der engen Beziehung zu Gen 1–3, andererseits aber, von Weish 1,12 und dann 1,16 her gelesen, betrifft der Tod und das Verderben, von dem hier die Rede ist, nur die Gottlosen. 1,14 führt positiv aus, was in 1,13 negativ ausgedrückt wurde: Die Zielsetzung Gottes für die Schöpfung und für den Menschen ist Leben und nicht Tod. Der Hintergrund ist weiterhin Gen 1–3. In 1,14a wie auch in Weish 2,23a wird für „erschaffen“ das Verb κτίζω verwendet, während die LXX im Buch Genesis für das hebräische Fachwort ‫ ברא‬das Verb ποιέω „machen“ (s.o. zu Weish 1,13a) einsetzt. Mit τὰ πάντα „alles“ gibt der Verfasser den Merismus „den Himmel und die Erde“ von Gen 1,1 wieder. Der Ausdruck εἰς τὸ εἶναι betont die Absicht (εἰς) des Schöpfers. Der Verfasser wählt hier einen eher philosophischen Ausdruck, der die Ewigkeit und den Fortbestand der Welt einschließen kann, und zieht deshalb εἶναι mit dem Beiklang „im Sein andauern“ dem Verb γίνεσθαι „zur Existenz gelangen“ von Gen 1,3LXX vor (καὶ εἶπεν ὁ θεός γενηθήτω φῶς καὶ ἐγένετο φῶς; der hebräische Text enthält zweimal eine Form von ‫„ היה‬sein“).50 Die Wendung εἰς τὸ εἶναι ist von Weish 11,17 her zu verstehen: Gott bringt die einzelnen Geschöpfe ins Dasein, indem er sie aus gestaltlosem Stoff heraus erschafft. Diese Aussage des Buches der Weisheit ist verschieden gedeutet worden. Nach David Winston handelt es sich hier um das stoische Prinzip der Selbsterhaltung;51 nach Chrysostome Larcher „bewahren“ die Geschöpfe oder besser: die Hervorbringungen die Welt selbst in ihrem Dasein, indem sie sich reproduzieren.52 Der Text scheint betonen zu wollen, dass die Schöpfung „gut“ ist, indem er aus Gen 1 das Thema „Segen“ und die wiederholte Aussage „Gott sah, dass es [sehr] gut war“ aufnimmt. Es könnte sich auch um eine Polemik gegen Vorstellungen platonischer Herkunft handeln, die dazu neigten, das Gutsein der irdischen Dinge zugunsten einer „anderen“ Welt (der Ideen) abzuwerten, oder gegen gnostische Auffassungen, dass diese Welt verdorben und vergiftet sei.53 Darüber hinaus möchte der Verfasser nahelegen, dass die Schöpfung in sich eine Heilsbedeutung trägt. Wie der ganze dritte Buchteil zeigen wird, ist der Kosmos ein Verbündeter Gottes zugunsten der Gerechten (vgl. 16,24). Auf jeden Fall ist Weish 1,14 eine der wichtigsten grundsätzlichen Aussagen des Buches: Die Rettung erfolgt mittels der Schöpfung. Der Kosmos hat eine entscheidende Rolle im Heilsplan Gottes. Ansatzhaft wird so in diesem Vers schon ein großer Teil des Inhalts des dritten Buchteils (Weish 11–19) vorweggenommen. Das Wort βασίλειον in 1,14d (vgl. Weish 5,16) hat aktive Bedeutung und verweist auf die Vorstellung eines „Königtums“, insbesondere auf dessen Souveränität. Der Text spricht dem Hades, der Unterwelt, ausdrücklich eine selbstän49 50 51 52 53

LARCHER, Sagesse I, 198: Der Verfasser entwickelt eine komplexe Vorstellung vom Tod. GILBERT, „La relecture de Genèse 1 à 3“, 325; FABBRI, Creazione e salvezza, 102–104. „All that has come into existence preserves its being“, WINSTON, Wisdom, 108–109. LARCHER, Sagesse I, 199–200. Zur letztgenannten Auffassung vgl. WINSTON, Wisdom, 109–110.

Mehrdeutigkeit von Tod

1,14

Heilsbedeutung der Schöpfung

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Weish 1,13–15

dige Macht auf der Erde ab. Mit „Hades“ ist also nicht einfach eine Metapher für den Tod und ebenso wenig nur die biblische she’ôl gemeint. Die „Königsherrschaft des Hades“ wird hier wie eine personifizierte Wirklichkeit genannt, hinter der schon die Unterwelt als Ort der ewigen Bestrafung der Gottlosen aufscheint.54 Das kurze Kolon Weish 1,15 scheint keine offensichtliche Verbindung zum 1,15 unmittelbar vorhergehenden Text zu besitzen. Möglicherweise führte eine solchen Überlegung dazu, dass in der lateinischen Übersetzung dem Text ein Kolon hinzugefügt wurde.55 Jedoch verbindet γάρ ausdrücklich 1,15 mit dem Vorhergehenden. Von Weish 8,7 her könnte man denken, dass die Gerechtigkeit, von der hier die Rede ist, eine der vier menschlichen Kardinaltugenden meint, die schon Platon kennt; so verstanden würde der Text nahelegen, dass der Weg der Gottlosen in den Tod führt (1,11–12), der Weg der Gerechten dagegen in die Unsterblichkeit. In Weish 8,7 ist die Gerechtigkeit tatsächlich auch zugleich die Gerechtigkeit Gottes, die in seinem Gesetz ausgedrückt ist; in 8,7 wird ja wie in 1,1 das Verb ἀγαπάω verwendet. Weish 1,15 verstärkt diesen Gedanken. Der Verfasser will ausdrücken, dass nur eine Welt, die von dieser göttlichen Gerechtigkeit geleitet wird, unsterblich ist. Alles, was dieser Gerechtigkeit Gottes zuwider läuft, die sich dann aus δικαιοσύνη in strafende δίκη (Weish 1,8) verwandelt, wird vernichtet (vgl. Weish 5,6). Der Mensch erlangt also die Unsterblichkeit (zur in Weish 3,4 erwähnten ἀθανασία s. u. den Kommentar), wenn er diese „unsterbliche“ Gerechtigkeit „liebt“ (1,1); vgl. dazu auch Weish 15,3.56

Diachrone Analyse 1,13 Der Gedanke, dass Gott sich nicht über den Tod des Sünders freut, ist biblisch,

vgl. Ez 18,32: διότι οὐ θέλω τὸν θάνατον τοῦ ἀποθνῄσκοντος λέγει κύριος.57 Der Verfasser geht jedoch über die Aussagen im Ezechielbuch hinaus: Gott freut sich nicht nur nicht über den Tod des Sünders, vielmehr ist es seine schon mit dem Schöpfungsakt verbundene (vgl. das in der Schöpfungserzählung verwendete Verb ποιέω mit Gott als Subjekt) tiefste Absicht, den Menschen Leben zu geben. 1,14 Das Wort ὄλεθρος wird in den Prophetenbüchern in eschatologischem Sinn verwendet, vgl. Jer 31LXX,3.8.32 (JerMT 48,3.8.32) in Bezug auf den Untergang der

54 MAZZINGHI, „Non c’è regno dell’Ade“, 244–245. Vgl. den Kommentar zu Weish 17,14. 55 „Iniustitia autem mortis est acquisitio“: vgl. SCARPAT, Sapienza I, 131f., der mit guten Gründen den Zusatz der lateinischen Übersetzung ablehnt wegen der geringen Bezeugung und wegen der inclusio zwischen 1,1a und 1,15; vgl. auch RAURELL, „From ΔΙΚΑΙΟΣΥΝΗ“, 348 Anm. 47. 56 Vgl. FABBRI, Creazione e salvezza, 245–246, der die enge Beziehung zwischen 1,13–15 und 15,1–3 hervorhebt. S. auch SCARPAT, Sapienza I, 102–107, mit wichtigen Ausführungen (s.bes. 104). 57 FABBRI, Creazione e salvezza, 59 Anm. 151 und 152, nimmt die Beobachtungen von LARCHER, Sagesse I, 198–199, auf; vgl. dort 199 für die Verwendung von Weish 1,13–14 bei den Kirchenvätern.

Diachrone Analyse

73

Völker; Ez 6,14LXX in Bezug auf den Untergang Israels (vgl. im NT 1Thess 5,3 und 2Thess 1,9). Eine Hilfe zum Verstehen der Mehrdeutigkeit von ›Tod‹ im Buch der Weisheit (s.o. zu Zweifacher Weish 1,13) bietet die Vorstellung Philons von einem zweifachen Tod.58 Für Philon ist Tod der wirkliche Tod nicht der des Körpers, sondern der der Seele (vgl. Leg. I, 105–106). Denn es gibt Lebende, die so existieren, als ob sie tot wären, und Tote, als ob sie lebendig wären (Fug. 55). Beim Nachdenken über Gen 1–4 bemerkt Philon, dass die Tatsache, dass Adam und Eva nach ihrer Sünde nicht tot sind, Beweis dafür ist, dass der wirkliche Tod der der Seele ist. Diese Konzeption dient dazu, einige ernste exegetische Probleme, die aus der Lektüre von Gen 1–4 entstehen, in einer typisch hellenistischen Perspektive zu erklären: Warum Adam und Eva trotz der Sünde nicht sofort sterben, und weshalb Kain von Gott bestraft, aber nicht getötet wird. Die Verbform συναπώλετο „er ging zusammen mit (seinen brudermörderischen Leidenschaften) zugrunde“ bei der Anspielung auf Kain in Weish 10,3–4 lässt gerade an den Tod der Seele denken. Das Buch der Weisheit folgt nicht direkt dem philosophischen Ansatz Philons, macht aber den Eindruck, daraus zwei verschiedene und einander ergänzende Überlegungen in Bezug auf die Vorstellung vom Tod zu verwenden, es handelt sich also um eine vom Verfasser selbst gewollte Mehrdeutigkeit. Denn die Gottlosen sind die Ersten, die sich bezüglich des Todes täuschen, indem sie ihn als unheilbares Ende des Lebens betrachten (2,1–5). Der Verfasser wird in den Kapiteln 3–4 diese falsche Sichtweise der Gottlosen widerlegen (vgl. insbesondere 3,1–9): Der Tod ist für die Gerechten ein Übergang zum Leben. Darum ist zu unterscheiden zwischen der naturhaften Gegebenheit der Sterblichkeit des Menschen, dem mehrdeutigen physischen Tod, und dem ewigen Tod der Gottlosen, der als Bestrafung zu sehen ist. Die naturhafte conditio humana ist, sterblich zu sein (Weish 7,1–2). Das Buch der Weisheit scheint die Sterblichkeit nicht mit der Vorstellung von einer Ursünde des Menschen zu verknüpfen (vgl. 10,1–2), und der Verfasser vermittelt nirgends den Eindruck, er spreche von der naturgegebenen Sterblichkeit des Menschen als einer Strafe infolge einer Sünde. Der physische Tod nimmt nur für die Gottlosen den Charakter einer Strafe Gottes an. Das ist er aber nur deshalb, weil er für die Gottlosen Zeichen eines viel schwerwiegenderen Todes ist, des ewigen, d.h. der Vernichtung und Trennung von Gott. Dieser endgültige Tod ist es, den Gott nicht erschaffen hat (1,13–14) und der durch den Neid des Teufels in die Welt getreten ist (2,24).59 Zusammenfassend kann man sagen: Der physische Tod ist tatsächlich mehrdeutig. Er ist ein Übergang zum ewigen Leben für die Gerechten („sie schienen – in den Augen der Toren – tot zu sein“ 3,2) und zugleich Vorspiel zum ewigen Verderben für die Gottlosen (vgl. Weish 5). Die Sterblichkeit des Menschen wird nicht als Bestrafung betrachtet, sondern als mit der Schöpfung gegeben. Der Gerechte erfährt jedoch den physischen Tod völlig anders als der Gottlose. Bestrafung ist an sich nur der ewige Tod des Gottlosen, dessen Zeichen und Vorwegnahme der physische Tod wird.

Die Wendung αἱ γενέσεις τοῦ κόσμου in Weish 1,14 ist in hellenistischer Zeit im Umkreis der philosophischen Diskussionen über den Ursprung der Welt zum Fachausdruck geworden, vgl. Platon, Tim. 27a, wo γένεσις τοῦ κόσμου die Bildung der Welt durch den Demiurgen bezeichnet. In der stoischen Konzeption wird mit die58 SCARPAT, Sapienza I, 95–102; FABBRI, Creazione e salvezza, 54–55 und vor allem SCARPAT, „La morte seconda“. Über die Vorstellun g von Leben, Tod und Auferstehung im Judentum vgl. AVERY-PECK Alan J. / NEUSNER, Jacob, Judaism in Late Antiquity. Death, Life-after-death, Resurrection and the World-to-Come in the Judaism of Antiquity, Leiden: Brill 2000. 59 KOLARCIK, The Ambiguity of Death, 148–151; 169–170; COLLINS, Jewish Wisdom, 187–189.

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Synthese von Weish 1,1–15

ser Wendung eher der Beginn einer neuen Periode im Leben des Kosmos ausgedrückt (SVF II, 180 frg. 581.582). Der Verfasser des Buches der Weisheit hat aber eher das hebräische ‫„ תולדות‬Zeugungen“, die in der Welt aufeinander folgen und sie am Leben halten, im Sinn.60 Dabei bezeichnen αἱ γενέσεις τοῦ κόσμου die „Zeugungen“ bei den verschiedenen Geschöpfen der Welt: in Weish 16,26 die verschiedenen Arten von Feldfrüchten; in Weish 19,11 eine neue ‘Generation’, Art von Vögeln; d.h. es geht um die ‚Hervorbringungen‘ der Geschöpfe nach Gen 1, die dabei mitwirken, die Welt am Leben zu erhalten. Die weithin übliche Wiedergabe mit „Geschöpfe“ sollte deshalb vermieden werden. Das Adjektiv σωτήριοι hat eine aktive Bedeutung, die auch in der Profangräzität bekannt ist: „heilbringend“, „Rettung bringend“.61 Wenn die Geschöpfe der Welt Träger des Lebens sind, wenn in ihnen kein „Todesgift“ ist, wenn das Reich der Toten nicht auf der Erde herrscht – woher kommt dann der Tod selbst? Etwa aus der Macht des Hades, die ihm doch gerade abgesprochen wurde, oder vom διάβολος, von dem etwas später in Weish 2,23 die Rede ist? In der klassischen Mythologie begegnet oft die Vorstellung eines Hadesreiches als einer Macht, der niemand entfliehen kann. Insbesondere in den griechischen magischen Papyri wird oft der Magier erwähnt, der mit seinen Zauberkünsten die Macht des Hades bezwingen kann (PGM I,177–180; IV,358. 3009–3087 etc.). Weish 1,14 hebt demgegenüber hervor, dass eine solche Unterwelt keinerlei Macht auf der Erde hat (vgl. Weish 17,14) außer über diejenigen menschlichen Wesen, die den Tod suchen und ihn finden wegen ihres bösen Verhaltens.

Synthese von Weish 1,1–15 Die inclusio 1,1 / 1,15 bestimmt den ganzen Anfangsabschnitt des Buches. Die Eingangsaufforderung, die Gerechtigkeit [Gottes] zu lieben, ist an die Verantwortlichen der jüdischen Gemeinschaft gerichtet und gründet auf der Erinnerung an den Weg des Volkes Israel durch die Wüste. Israel darf den Glauben an Gott nicht aufgeben und nicht versuchen, Gott auf die Probe zu stellen (1,2). Es soll nutzloses Murren unterlassen und erst recht Gotteslästerungen, die zum Tod führen (1,11– 12). Nur ein Mensch mit „einfachem Herzen“, der Gott ganz ergeben ist, kann die Weisheit empfangen. Sie erscheint in 1,4 als eine innere Kraft, die nicht mit der Sünde in einem Menschen zusammen wohnen kann. Die Weisheit ist ganz nahe an den heiligen Geist (1,5) gerückt, der ein Freund der Menschen ist (1,6) und die ganze Schöpfung erfüllt (1,7). Daher ist der Kosmos nicht etwas Negatives, sondern gleichsam das Haus der Weisheit. Um die Anwesenheit der Weisheit in der Welt auszudrücken, scheut der Verfasser sich nicht, sich stoischer Begriffe zu bedienen (bes. 1,7). In dieser Weise aktualisiert er die Botschaft der Bibel und bereichert sie durch eine behutsame Verwendung griechischer Philosophie. 60 LARCHER, Sagesse I, 203; FABBRI, Creazione e salvezza, 118–120. 61 SCARPAT, Sapienza I, 129; salutares in der Deutung des Hieronymus; LARCHER zieht es vor zu übersetzen „rettend, bewahrend“ (vgl. I, 202); vgl. auch FABBRI, Creazione e salvezza, 121–126.

Synthese von Weish 1,1–15

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Der Tod, der die trifft, die sich von der Weisheit entfernen, ist aber nicht Teil des Planes Gottes: Im Rückgriff auf die Texte von Gen 1–3 legen die Schlussverse des Abschnitts (1,12.13–15) dar, dass Gott den Tod nicht erschaffen hat, dass vielmehr jedes Geschöpf eine heilbringende Bedeutung besitzt; der Tod und die Unterwelt haben keinerlei Macht auf der Erde. Der Tod zeigt also eine bestimmte Mehrdeutigkeit: Er ist Zeichen der Geschöpflichkeit des Menschen, und er wird zur Strafe für die Gottlosen. Das Gegenstück zur Untreue des Menschen bildet der Plan Gottes, der Heil und Leben anzielt. Auf diese Weise beginnt das Buch in einer ganz positiven Tonlage trotz der negativen und dramatischen Klänge, die das Anfangskapitel durchziehen (vgl. 1,8–10).62 In dieser Perspektive ist die Rede der Gottlosen, die sich nun gleich anschließt (Weish 1,16 – 2,24), zu verstehen: Nur die Gerechtigkeit Gottes, die unsterblich ist, kann den Gottlosen vor dem Tod bewahren (vgl. 1,15).

62 Vgl. die Bezeichnung als „apokalyptisches Drama“ bei MCGLYNN, Divine Judgement, 54– 88.

Weish 1,16 – 2,24: Die Gottlosen rufen den Tod mit Händen und Worten herbei Zur literarischen Struktur von Weish 1,16 – 2,24 Unversehens treten nach dem Proömium, das ganz positiv geendet hatte (s.o. zu 1,13–15), die Gottlosen auf. Mit großem poetischem und rhetorischem Geschick führt der Verfasser sie dramatisch ein, er lässt sie sich mit ihren eigenen Worten selbst vorstellen.1 Die Dramatik des Textes wird noch hervorgehoben durch die ständige Verwendung der Ironie: Die Gottlosen brüsten sich mit ihrem Verhalten und ihrer Lebensweise (Weish 2,1–9), bemerken aber nicht, dass sie in Wirklichkeit auf den Tod zueilen; ihre äußere Fröhlichkeit verbirgt eine tiefe Verzweiflung, das völlige Scheitern ihrer Existenz. Der Text spielt mit dem Gegensatz von Schein und Wirklichkeit: Der Anschein ist die Suche nach dem Vergnügen und dem Genuss eines Lebens, das keinen Sinn zu haben scheint. Die Wirklichkeit jedoch ist, dass eine solche Lebensweise für den, der so lebt, Quelle von Tod und Untergang ist; Heil gibt es dagegen für die von den Gottlosen Verfolgten. Die Gottlosen glauben, den Gerechten anzuschwärzen (2,10–20); aber das Schlechte, das sie von ihm behaupten und die Gewalt, die sie gegen ihn anwenden, verwandelt sich in eine Lobrede auf den Gerechten. So ist der Tod des Gerechten Leben, das Leben der Gottlosen in Wirklichkeit nur Tod. Indem der Verfasser die Gottlosen eine Rede halten lässt, folgt er dem Muster einer Diatribe. Bei dieser literarischen Technik werden oft die vorgestellten Gegner zitiert.2 Eine gewisse Analogie findet sich in der Rede der Sünder in 1 Hen 102,6–11. Der Text ist folgendermaßen gegliedert: 1,16 – 2,1a: Einleitung zur Rede der Gottlosen 2,1b-5.6–9: Erster Teil der Rede 2,10–20: Zweiter Teil der Rede 2,21–24: Beurteilung der Rede durch den Verfasser. Weish 1,16 – 2,1a; 2,21–24 Einleitung der Rede der Gottlosen und abschließende Beurteilung durch den Verfasser Die literarische Struktur des Textes ist klar und geradlinig.3 Am Anfang und am Ende, d.h. vor und nach der Rede der Gottlosen (2,1b-20), steht eine Beurtei1 2 3

Zu der hellenistischen Tendenz, eher eine Rede halten zu lassen als eine Tat zu beschreiben, s. SCHMITT, Armin, Wende des Lebens. Untersuchungen zu einem Situations-Motiv der Bibel (Berlin/New York: De Gruyter 1996), 30. Vgl. REESE, Hellenistic Influence, 90–121, und die Präzisierungen von GILBERT, der darauf hinweist, dass man bei der Diatribe nicht von einer wirklichen literarischen Gattung sprechen kann: „Sagesse“, 78–79. BIZZETI, Sapienza, 54–56; GILBERT, „Sagesse“, 66; KOLARCIK, The Ambiguity of Death, 39–41.

Weish 1,16 – 2,5

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lung durch den Verfasser (1,16 – 2,1a und 2,21–24). Auffällig sind die Inklusionen τῆς ἐκείνου μερίδος εἶναι / ὄντες „zu seiner Partei gehören(d)“ oder/und „ihn als Anteil haben(d)“ (1,16 und 2,24) und die Wiederholung des Verbs λογίζομαι „denken, meinen, überlegen“ (2,1a und 2,21). Das Wort μερίς kommt außer in 1,16 und 2,24 nur noch einmal am Ende von 2,9 vor. Die wörtlichen und inhaltlichen Entsprechungen zwischen den theologisch wichtigen und in engem Bezug aufeinander zu lesenden Abschnitten 1,13–15 und 2,21–24 wurden bereits erwähnt (s.o. Synchrone Analyse zu Weish 1,1–15). Weish 2,1b-5.6–9 Erster Teil der Rede der Gottlosen Die Rede der Gottlosen (2,1b-20) ist leicht – allerdings eher inhaltlich als von literarischen Signalen her – in zwei Teile zu gliedern, und diese wiederum jeweils in zwei Unterabschnitte: In 2,1b-9 stellen die Gottlosen ihren Lebensentwurf vor; dabei beschreiben sie in 2,1b-5 ihre ernüchterte und bittere Sicht des Lebens (Inklusionen ἐν τελευτῇ / τῆς τελευτῆς ἡμῶν 2,1c.5b und ὁ βίος ἡμῶν 2,1b.4c), in 2,6–9 ziehen sie die praktische Konsequenz (οὖν) aus dieser Sichtweise: Lasst uns also dieses so flüchtige Leben genießen! Weish 2,10–16.17–20 Zweiter Teil der Rede der Gottlosen Der zweite Teil der Rede (2,10–20) enthält ebenfalls zwei Unterabschnitte: zunächst die Entscheidung, den Gerechten zu verfolgen, da er lästig ist (2,10–16), und am Ende den Beschluss, ihn zu beseitigen, um die Richtigkeit seiner Behauptungen zu widerlegen (2,17–20; Inklusion: οἱ λόγοι αὐτοῦ / ἐκ λόγων αὐτοῦ). Der Gerechte wird durchgehend passiv dargestellt (δίκαιος ist Objekt in 2,10a.12a., in 2,16c im Plural; nur in 2,18a ist δίκαιος Subjekt). Bemerkenswert ist, dass in 2,1b-20 das Pronomen der 1. Person Plural „wir“ 21-mal vorkommt: Die Gottlosen stehen im Mittelpunkt.

Weish 1,16 – 2,5: Der Tod als Verbündeter und als Schicksal – Das Leben ist sinnlos 1,16 Die Gottlosen aber rufen ihn [den Tod] mit Händen und Worten herbei, als einen Freund betrachten sie ihn und schmelzen hin und schließen einen Bund mit ihm; denn sie sind würdig, zum Anteil von jenem zu gehören. 2,1 Sie sagten nämlich zueinander – sie dachten nicht richtig! –: 1b Kurz ist und traurig unser Leben, und es gibt keine Heilung beim Ende eines Menschen, und man kennt keinen, der aus der Unterwelt befreien könnte. 2 Denn durch Zufall sind wir entstanden, und danach werden wir sein wie (solche, die) nicht existiert haben. Denn Rauch ist der Atem in unserer Nase, und das Denken ein Funke beim Schlag unseres Herzens;

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Weish 1,16 – 2,5

3 verlischt er, wird der Leib zu Asche zerfallen, und der Geist wird verwehen wie dünne Luft. 4 Und unser Name wird mit der Zeit vergessen werden, und niemand wird sich unserer Werke erinnern; und vorübergehen wird unser Leben wie die Spur einer Wolke, und wie Nebel wird es sich auflösen, verscheucht von den Strahlen der Sonne und von ihrer Wärme schwer gemacht. 5 Eines Schattens Vorübergang nämlich ist unsere (Lebens-)Zeit, und es gibt keine Umkehrung unseres Endes; denn sie wurde versiegelt, und keiner kehrt wieder.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 2,1 Die Wendung εἶπον ἐν ἑαυτοῖς kann die Bedeutung von ἐν ἀλλήλοις „sie sagten zueinander, unter einander“ haben, die vom Kontext her vorzuziehen ist;4 oder aber ἐν ἑαυτοῖς und ebenso ἐν αὐτοῖς entsprechen, wie mehrfach in der LXX, hebräischem ‫בלבו‬ „in seinem Herzen, innerlich (sprechen)“. Die alten Übersetzungen verstehen ὁ ἀναλύσας ἐξ ᾅδου intransitiv (Lat: qui sit reversus ab inferis; vgl. die Passivform ἀνελύθη in Weish 5,12).5 Wenn man das Partizip Aorist als vorzeitig übersetzt „keiner, der je aus dem Hades zurückgekehrt ist“, muss man der Wendung einen ironischen Sinn geben: „Falls das Totenreich existiert, ist niemand je von dort zurückgekehrt, um es uns zu beschreiben!“ Das klassische Griechisch kennt nur einen transitiven Gebrauch von ἀναλύω. Außerdem legt die Parallelität zum vorhergehenden Kolon („es gibt keine Heilung beim Ende eines Menschen“) eher einen aktiven Sinn nahe:6 „Niemand ist bekannt, der aus dem Hades befreien könnte“. Dieses Thema kommt mehrfach in der klassischen Literatur vor.7 Eine Bestätigung der vorstehenden Interpretation findet sich in den biblischen Texten, an die der Verfasser gedacht haben mag, insbesondere Ps 48[49MT],8–10 und Ijob 33,23–25. Beide Texte enthalten den Gedanken, dass es niemanden gibt, der den Menschen aus der Totenwelt retten könnte. 2a Das Adverb *αὐτοσχεδίως entspricht dem üblicheren αὐτομάτως, das im epikuräischen Denken das Entstehen des Menschen als ein zufälliges Zusammentreffen von Atomen beschreibt. Für die epikuräische Vorstellung vom Leben als einer zufälligen Anhäufung von Atomen vgl. Lukrez, Rer. Nat. V, 419–431. Flavius Josephus kritisiert die Auffassungen der Epikuräer, die nach seiner Meinung behaupten, dass die Welt sich vom Zufall getrieben (αὐτομάτως) bewegt ohne Führung und Vorsehung (Ant. 10,278). Die im Buch der Weisheit beschriebenen Gottlosen scheinen in Wirklichkeit jedoch keine Anhänger Epikurs zu sein, vielmehr Menschen, die einen Sinn des Lebens verneinen, absolute

4 5 6 7

BDR § 297; vgl. Mk 9,50. Vgl. LARCHER, Sagesse I, 214–215; WINSTON, Wisdom, 115; MAZZINGHI, „Non c’è regno dell’Ade“, 240–242. Vgl. SCARPAT, Sapienza I, 172–173 und 332–333; so schon GRIMM, Weisheit, 67: „der aus der Unterwelt Befreiende ist nicht bekannt geworden“. Siehe die bei WINSTON, Wisdom, 115–116, zitierten Texte und die Verwendung von ἀναλύω in Weish 16,14.

Synchrone Analyse

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Nihilisten. Das menschliche Leben wird nach ihnen beherrscht vom Zufall, es verschwindet, ohne Spuren zu hinterlassen.

Synchrone Analyse Das δέ am Anfang hat adversative Bedeutung, es stellt die Gottlosen der in 1,15 Weish 1,16 – genannten „Gerechtigkeit“ gegenüber und hebt das nun Folgende von Weish 1,1– 2,1a 15 ab. Der „Gerechtigkeit“ stehen jedoch nicht die „Ungerechten“ gegenüber, sondern die „Gottlosen“: Warum? Mit dem Wort ἀσεβής betont der Verfasser nicht nur den moralischen Aspekt, sondern, infolge des religiösen Beiklangs des Wortes, auch die Gegnerschaft der Gottlosen gegenüber Gott. Das Pronomen αὐτόν am Ende von 1,16a könnte sich auf den Hades (1,14d) beziehen, ist aber richtiger wohl von dem in 1,12–13 genanntenTod (θάνατος) her zu verstehen, auf den auch das Adjektiv ἀθάνατος „unsterblich“ in 1,15 hinweist. Die Gottlosen rufen mit ihrem Tun und Reden (ταῖς χερσὶν καὶ τοῖς λόγοις) den Tod herbei, er ist also etwas, das die Gottlosen von sich aus suchen, das nur sie trifft. Hier kehrt die Idee des mehrdeutigen Todes (vgl. 1,14; 2,24) wieder: Der physische Tod ist nur für die Gottlosen wahrer Tod. Die drei gnomischen Aoriste in 1,16a.b.c (in 1,16d folgt εἰσίν im Präsens) zeigen eine Steigerung in der Einstellung der Gottlosen an: Nachdem sie den Tod eingeladen und begehrt haben, haben sie sich gleichsam in ihn verliebt und schließen einen Bund mit ihm. Das Verb τήκω „schmelzen, zerfließen“ wie Wachs wird in Weish 16,22.27.29 von Schnee, Eis und Reif verwendet, hier in 1,16 bezeichnet es ironisch das Dahinschmelzen des Verliebten für die Angebetete, in 6,23 wird das Verb in Bezug auf den Neid gebraucht. Die Gottlosen leben in der Illusion, dem Tod entfliehen zu können, den sie doch mit allen Kräften zu begehren scheinen.8 Die Gottlosen sind würdige (ἄξιοι) Mitglieder der Partei (μερίς) des Todes geworden. In der LXX bezeichnet μερίς mehrfach Israel als „Los, Anteil“ (‫)חלק‬ des Herrn (Dtn 32,9; Sach 2,16; 2Makk 1,26). Demgegenüber werden die Gottlosen polemisch „Anteil“ des Todes genannt. In politischem Sinne verstanden weist μερίς ironisch darauf hin, in welche „Partei“ die Gottlosen sich eingeschrieben haben!9 Der Tod trifft deshalb nur die bei einer solchen Todespartei Eingeschriebenen; erneut scheint der Gedanke auf, dass der Tod nur die erfasst, die ihn suchen. Das vom Verfasser gern verwendete Adjektiv ἄξιος legt indirekt ein Eingreifen Gottes nahe: Die Gottlosen verdienen den Tod.10 Weish 2,1a leitet die Rede der Gottlosen ein: „Sie dachten nicht richtig“. Das unrichtige Denken der Gottlosen verweist zurück auf die σκολιοὶ λογισμοί in Weish 1,3. Noch vor dem Handeln der Gottlosen blickt der Verfasser auf ihre irrige Weise

8 DODSON („Locked-Out Lovers“) vermutet in dieser sich steigernden erotischen Ausdrucksweise eine Übernahme der literarischen Form des παρακλαυσίθυρον: Der Verliebte steht an der verschlossenen Türe und ruft nach der Geliebten. 9 WINSTON, Wisdom, 113, vermutet auch einige Anklänge an Philon; SCARPAT, Sapienza I, 133. Vgl. AMIR, „The Figure of Death“, 157. 10 Zu ἄξιος im Buch der Weish s. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 218.

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2,1b-d

2,2

2,3

2,4

2,5

Weish 1,16 – 2,5

des Denkens in Bezug auf das Leben (2,1–9) und in Bezug auf Gott und den Gerechten, der auf ihn vertraut (2,1–20). Das Leben (ὁ βίος ἡμῶν 2,1b.4c) und der Tod (τελευτή 2,1c.5b) bilden das große Thema des ersten Teils der Rede der Gottlosen; sie verneinen das Leben, sind aber gelähmt durch die Furcht vor dem Tode. Nach der Eingangsfeststellung über die Kürze des Lebens legt der Verfasser den Gottlosen die Wendung οὐκ ἔστιν ἴασις in den Mund. Das Wort ἴασις bedeutet „Heilung“, hier mit dem Beiklang „Heil“. Nach der Bibel wird der Gerechte von Gott geheilt; nach der Meinung der Gottlosen dagegen gibt es keinerlei mögliche Heilung von der Krankheit des Todes, der hier „Ende“ (τελευτή) heißt. Bemerkenswert ist, dass sie den Tod nie mit seinem Namen θάνατος nennen, sondern verschiedene Euphemismen verwenden: Sie haben Furcht vor ihm! „Man kennt niemanden, der aus dem Hades befreien könnte“: Texte wie Ijob 7,9–10LXX und besonders Hos 13,14LXX zeigen, dass θάνατος und ᾅδης austauschbar sind. Der Hades wird hier ganz traditionell als Synonym der Toten- oder Unterwelt verwendet. In Hos 13,14 zeigt sich Gott als der Einzige, der den Menschen aus dem Tod befreien kann. Gerade das aber verneinen die Gottlosen: Nach dem Tod gibt es nichts mehr, es existiert kein Gott, der den Menschen aus der Totenwelt befreien könnte (vgl. Weish 2,13–18). Die Gottlosen verneinen hier jede Form persönlichen Überlebens; sie denken sich das menschliche Dasein als Folge eines blinden und unverständlichen Schicksals und leugnen so einen der Grundpfeiler des biblischen Glaubens, die Existenz eines Schöpfergottes und seiner Vorsehung. Sobald der Herzschlag aussetzt und jener Funke erlischt, bleibt vom Menschen nur „Asche“: τέφρα ist ein gewähltes Wort, das im Griechischen für den Zerfall des Leichnams verwendet wird. Der Gedanke jedoch ist biblisch (Gen 3,19). Allerdings wird in der Genesis an dieser Stelle von γῆ „Erde“ gesprochen, aus der der Mensch bestehe und zu der er zurückkehre, in Weish 2,3a steht dafür „Asche“. In den ersten beiden Kola von Weish 2,4 behaupten die Gottlosen, dass nach dem Tode sowohl der „Name“ als auch die „Werke“ des Menschen vergessen werden. Was die Gottlosen in 2,4a-b sagen, wird sich ironischerweise jedoch bewahrheiten: An die Gottlosen wird es tatsächlich keinerlei Erinnerung geben, während Gott der Gerechten gedenken wird (vgl. 3,1–9). Für die Gottlosen wird das menschliche Leben vorbeiziehen wie die Spur einer Wolke (2,4c), es wird sich auflösen wie Nebel (2,4d; zur Verwendung von διασκεδάννυμι s.o.), wenn die Strahlen der Sonne auf ihn treffen (2,4e) und ihre Wärme ihn schwer macht (2,4f.). Der negative Kontext dieser an sich schönen Bilder lässt vermuten, dass das wissenschaftliche Interesse in Wirklichkeit gegenüber der poetischen Ausmalung überwiegt.11 Die Bilder der Wolke und des Nebels, der sich auflöst durch die Wärme der Sonne, heben den für die Gottlosen flüchtigen, vorübergehenden und nicht dauerhaften Charakter des menschlichen Lebens hervor. Dieser Vers schließt die bittere und ernüchterte Reflexion der Gottlosen über die Kürze des Lebens ab. Die Verwendung von καιρός anstelle von βίος (vgl. dage-

11 Vgl. im Einzelnen LARCHER, Sagesse I, 223–225.

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gen 2,4c) geschieht mit Absicht, die Kürze des Lebens zu betonen, das als eine fest begrenzte Zeit betrachtet wird, aus der es kein Zurück gibt.12 Dieses Bild dient außerdem dazu, einen gewissen Determinismus, der in den Worten der Gottlosen liegt, noch mehr zu betonen: Das Leben streicht vorüber wie ein Schatten, der ja vom festbestimmten Gang der Sonne abhängt. 2,5 endet mit dem Thema, das schon die Rede der Gottlosen eröffnet hatte: Nach dem Tod gibt es nichts mehr, es gibt keine Möglichkeit der Rückkehr (vgl. Sir 38,21 bezüglich der Totenwelt). Wie in 2,1c wird der Tod wieder euphemistisch „Ende“ (τελευτή) genannt. Es bleibt nicht einmal die Möglichkeit eines Wunders, wie es in 2Kön 20.9–11 erzählt wird, als auf die Worte Jesajas hin der Schatten auf der Sonnenuhr sich rückwärts bewegte, wie der König Hiskija es vom Herrn erbeten hatte (vgl. die Anspielung auf diese Erzählung in Sir 48,23, wo das Verb ἀναποδίζειν verwendet wird).13 Der Tod ist so ein unwiderrufliches „Siegel“; zu beachten ist der Gebrauch des Aorists κατεσφραγίσθη; vgl. Apk 20,3 und Mt 27,66 (σφραγίζω). Aus dem Tod kann niemand zurückkehren (οὐδεὶς ἀναστρέφει). Dieses Verb kommt nochmals in Weish 16,14 vor, ebenfalls im Zusammenhang mit dem Tod. An beiden Stellen (Weish 2,5c; 16,14b) hat ἀναστρέφω intransitive Bedeutung. Der bereits in 2,1d geäußerte Gedanke wird damit bekräftigt. Jede andere Aussage über das Jenseits ist für die Gottlosen ein nicht stichhaltiges Märchen.

Diachrone Analyse „Den Tod lieben“ ist ein Thema der Weisheitsliteratur, vgl. Spr 8,36LXX: „Die gegen 1,16 mich sündigen, vergehen sich gegen ihr eigenes Leben (ἀσεβοῦσιν τὰς ἑαυτῶν ψυχάς); die mich hassen, lieben den Tod (ἀγαπῶσιν θάνατον)“. Die Gottlosen haben einen Bund (συνθήκη) mit dem Tod geschlossen. Der Text greift Jes 28,15LXX auf: ἐποιήσαμεν διαθήκην μετὰ τοῦ ᾅδου καὶ μετὰ τοῦ θανάτου συνθήκας. Die bösen Einwohner von Samaria glauben, dem Tod entgehen zu können, da sie ja einen Bund mit ihm geschlossen haben, während die Gottlosen ihn ganz offen suchen. Auch die Beschreibung der Betrunkenen von Ephraim (Jes 28,1– 6) und der sich vergnügenden Priester und Propheten (Jes 28,7–15) könnte die Beschreibung der Lebensweise der Gottlosen angeregt haben. Der Verfasser verlässt allerdings den Kontext des Jesajabuchs im Blick auf die Lebensweise der Juden in Alexandria. Die Verbindung zwischen Gottlosen und Tod ist auch im Buch der Sprichwörter häufig, vgl. Spr 2,18–20; 7,27; 9,18; 11,19. Weish 1,16 nimmt diesen Gedanken auf und führt ihn weiter: Die Gottlosen haben schon den Tod gewählt.14 Einen genaueren Bezugspunkt stellt das Gebaren der Oberschicht Alexandrias dar: Der Verfasser könnte auf die „Gesellschaft vom gemeinsamen Tod“, die Antonius und 12 Viele wichtige Kodizes lesen, wohl als lectio facilior, βίος an Stelle von καιρός, siehe ZIEGLER zu 2,5. 13 Das Wort *ἀναποδισμός in Weish 2,5b ist ein hapax totius graecitatis, vgl. SCARPAT, Sapienza I, 177–178. 14 Vgl. CLIFFORD, „Proverbs as a source“, 262.

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Biblische oder griechische Quellen für Weish 2,1b20? 2,1b

2,1c

2,2

Weish 1,16 – 2,5

Kleopatra in Alexandria nach der Schlacht von Actium gegründet hatten, anspielen.15 Zum Verständnis der Rede der Gottlosen (2,1b-20) ist es wichtig, die Quellen zu erfassen, von denen das Buch der Weisheit sich anregen lässt: von biblischen, griechischen oder beiden? Und in welchem Ausmaß?16 Äußerungen wie die der Gottlosen begegnen mehrfach in der hellenistischen Welt: „Das carpe diem aufgrund der Ungewissheit des Morgen scheint das Thema dieses Hymnus der Juden in der Diaspora zu sein“.17 Dass das Leben „kurz“ ist (2,1b), stellt einen Gemeinplatz sowohl in der Bibel als auch in der klassischen Literatur dar, vgl. Ijob 10,20LXX (ἧ οὐκ ὀλίγος ἐστὶν ὁ χρόνος τοῦ βίου μου;); Ijob 14,1LXX (ὀλιγόβιος). Nicht selten erscheint in der Bibel ein Verweis auf die Trauer (hier: λυπηρός), die mit der Beschreibung der Kürze der Lebenszeit verbunden ist (vgl. Gen 47,9; Ijob 10,18–22; 14,1–2, neben verschiedenen Psalmtexten wie Ps 36[37MT],35–36; 38[39MT],5–6; 89[90MT],9–10 etc.). Aber weder bei Ijob noch in den Psalmen ist der Ton jemals verzweifelt und trostlos bitter wie in diesen Äußerungen der Gottlosen. Ganz anders spricht auch „Salomo“ in dem Gebet in Weish 9,5b, wo er über die Kürze des Lebens nachsinnt, aber zu völlig anderen Ausblicken gelangt. Die Gottlosen beklagen sich zwar wie Ijob über die Kürze des Lebens, sind aber nicht in der Lage, sich an Gott zu wenden, wie es Ijob gelingt und den Betern der Psalmen. Die Wendung οὐκ ἔστιν ἴασις (2,1c) kommt in der LXX mehrfach vor, häufig in einer religiösen Bedeutung, vgl. Spr 29,1LXX. In Jer 17,14LXX wendet der Prophet sich an Gott, um geheilt zu werden: ἴασαί με κύριε καὶ ἰαθήσομαι, vgl. auch Jer 14,19LXX und Weish 16,12. Die ersten beiden Kola von 2,2 verbinden einen griechischen, epikuräisch klingenden Ausdruck (αὐτοσχεδίως; s.o.)18 mit einem unverkennbar biblischen (ἐσόμεθα ὡς οὐκ ὑπάρξαντες; vgl. Ps 38[39MT],14; 102[103MT],16; Ob 16LXX; Ijob 10,19a; Sir 44,9). Weish 2,2c-d stellen ebenfalls eine Verbindung von biblischen und griechischen Motiven dar; πνοή ist Gen 2,7LXX entnommen (vgl. auch Ijob 27,3 und Jes 42,5), und der Grundgedanke ist biblisch (Ps 101[102MT],4; Ijob 27,3; vgl. ‫ הבל‬in Kohelet), die Gottlosen spitzen íhn noch zu: Wir sind nur Hauch und Rauch. Das

15 PLUTARCH, Ant. 71,4–8, berichtet, Antonius und Kleopatra hätten nach der verlorenen Seeschlacht von Actium (31 v. Chr.) den „Klub der Unnachahmlichen“ (σύνοδος Ἀμιμητοβίων) aufgelöst und einen „Klub der gemeinsam auf den Tod Wartenden“ (σύνοδος συναποθανουμένων) gegründet, der seinem Vorgänger an Luxus und Gelagen in nichts nachgestanden habe. Kleopatra habe in dieser Zeit nach möglichst schnell wirkenden und nur wenige Schmerzen verursachenden tödlichen Giften gesucht und sie jeweils an zum Tode Verurteilten ausprobiert.– Über derartige Vereine in Alexandria, in denen das Leben nicht ernst genommen wird, wo vielmehr das Vergnügen zur Suche nach dem Gegenmittel gegen die Furcht vor dem Tod wird, s. LARCHER, Etudes, 289; BASLEZ, „The Author of Wisdom“, 40–41. 16 Vgl. KOLARCIK, The Ambiguity of Death, 114–123. 17 SCARPAT, Sapienza I, 136–137. 18 Vgl. WINSTON, Wisdom, 116; LARCHER, Sagesse I, 215–216. Aber auch die Bedeutung „zufällig“ schwingt mit, vgl. Koh 9,11 (hebr. ‫פגע‬, griech. συνάντημα „Widerfahrnis, Zufall“). Vgl. D’ALARIO, „La réflexion sur le sens de la vie“, 317–318.

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Bild von der Seele, die wie Rauch entweicht, ist griechisch, vgl. Platon, Phaidon 70a: „(Diejenigen, die von Sokrates‘ Ausführungen nicht überzeugt sind, fragen, ob die Seele,) nachdem sie vom Leib getrennt ist, nicht überhaupt nirgends mehr ist, sondern an jenem Tage umkommt und untergeht, an dem der Mensch stirbt, und, sobald sie sich vom Leib trennt, und ausfährt wie ein Hauch oder Rauch, auch zerstoben ist und verflogen und nirgends mehr etwas ist“.19 Die Gottlosen zeigen, dass sie Grundkenntnisse der biblischen Anthropologie haben, sie geben sie aber in ironischer Weise entsprechend den materialistischen Theorien eines Teils der zeitgenössischen Medizin und einigen Äußerungen in der griechischen Philosophie wieder, ohne dass eine bestimmte Theorie identifizierbar wäre. Die mechanistische Verknüpfung des Denkens mit dem Herz in 2,2d ist einem Teil des Stoizismus und einigen medizinischen Theorien eigen:20 Das Denken (λόγος) wird beschrieben als ein warmer Hauch, der aus dem Herzen hervorgeht. Das Leben ist nichts anderes als ein von der Luft, die vom Organismus eingesaugt und im Herzen mit Blut vermischt wird, in Bewegung gesetzter Verbrennungsprozess. Dieser setzt das Denken in Bewegung, das nichts anderes ist als ein „Funke“, der jeweils bald erlischt. Das Bild vom „Funken“ scheint keine Parallele in der klassischen Literatur zu haben und kann als eine poetische Eingebung des Verfassers betrachtet werden.21 Die Verbindung des Erlöschens des Denkens mit dem Aschewerden des Leibes 2,3 könnte verwundern. Die Gottlosen betonen damit ihren radikalen Materialismus: Das Denken ist nichts anderes als einer der zahlreichen „physischen“ Aspekte des menschlichen Lebens. Was andere πνεῦμα nennen, ist für die Gottlosen nur ein „Hauch“ (s.o. Phaidon 70a). In der epikuräischen Vorstellung entweicht die Seele nach dem Tod: tenuis enim quaedam moribundos deserit aura mixta vapore „als eine feine, mit Dunst vermischte Luft verlässt sie die Sterbenden“ (Lukrez, Rer. Nat. III, 232–233). Das in 2,4 genannte Motiv der Unsterblichkeit im Gedenken ist ein weiterer 2,4 Gemeinplatz sowohl in der griechischen als auch in der biblischen Welt. Nach dem Tode im Gedächtnis der Nachwelt zu verbleiben, ist die Belohnung, die den Gerechten zukommt (Ps 111[112MT],6; Sir 37,26). Das Vergessenwerden hingegen bildet die Strafe der Gottlosen. Dies alles erinnert an einige Texte des Kohelet (Koh 2,16; 8,10; 9,5.14–15), der Kontext ist jedoch recht verschieden. Denn bei Kohelet ist der Wegfall jeder Erinnerung an die Gerechten der Beweis, dass es nach dem Tode nichts mehr gibt. Für die Gottlosen im Buch der Weisheit bedeutet dies noch viel mehr: Der Wegfall der Erinnerung ist für sie auch der Beweis, dass es nicht einmal einen Gott gibt, der sich der Menschen erinnert. Weish 2,4a-b ist vielleicht auch eine Parodie von Am 8,7LXX, wo der Herr schwört, die (bösen) Taten Jakobs nicht zu vergessen; dort wird dieselbe Verbform ἐπιλησθήσεται verwendet. Das

19 (περὶ τῆς ψυχῆς) ἐπειδὰν ἀπαλλαγῇ τοῦ σώματος οὐδαμοῦ ἔτι ᾖ ἀλλ’ ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ διαφθείρηται τε καὶ ἀπολλύηται ᾗ ἂν ὁ ἄνθρωπος ἀποθνῄσκῃ εὐθὺς ἀπαλλαττομένη τοῦ σώματος καὶ ἐκβαίνουσα ὥσπερ πνεῦμα ἢ καπνὸς διασκεδασθεῖσα οἴχηται διαπτομένη καὶ οὐδὲν ἔτι οὐδαμοῦ ᾖ. Weish 2,4d verwendet das auch bei Platon hier gebrauchte Wort διασκεδάννυμι. 20 Vgl. LARCHER, Sagesse I, 218. 21 Vgl. KOLARCIK, The Ambiguity of Death, 117 mit Anm. 77.

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Weish 2,6–9

Nichteintreten jenseitiger Bestrafungen gestattet uneingeschränkt die Lebensweise der Gottlosen. In 2,4c-f bleibt der biblische Hintergrund weiter präsent, immer zusammen mit Bezugnahmen auf Griechisches, vgl. Ijob 7,9 in Verbindung mit Ijob 9,26; 14,2; 30,15; Ps 38[39MT],7 etc. In 2,5 wird vielleicht Bezug genommen auf den durch die Sterne festgelegten 2,5 Determinismus, der im hellenisierten Ägypten umlief und der ebenfalls die Unsterblichkeit der Seele ausschloss.22 Hinter dem Ausdruck σκιᾶς πάροδος „Vorübergehen eines Schattens“ steht möglicherweise eine Erinnerung an Pindar: σκιᾶς ὄναρ ἄνθρωπος „der Mensch ist der Traum eines Schattens“ (Pyth. 8,133). Vgl. auch Ijob 14,2.3.5; Ps 101(102MT),12: Das Bild vom Schatten, der die Kürze des Lebens anzeigt, ist weit verbreitet.

Weish 2,6–9: Lasst uns das Leben genießen! 6 Kommt also! Und lasst uns genießen, was es (jetzt) Gutes gibt! Und lasst uns die Schöpfung in vollen Zügen uns zunutze machen, wie (man es) in der Jugend (tut)! 7 Kostbaren Wein und Salböl in Menge wollen wir fließen lassen, und keine Frühlingsblume soll uns entgehen! 8 Bekränzen wir uns mit Rosenkelchen, ehe sie verblühen! 9 Keine Wiese soll unbeteiligt bleiben an unserem Treiben, überall wollen wir Zeichen des Vergnügens hinterlassen; denn das ist unser Anteil und Erbe.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 6b Die Handschriften enthalten verschiedene Varianten zu ὡς νεότητι (s. die Edition von Ziegler), die jedoch die bestbezeugte Lesart zu sein scheint: ὡς ἐν νεότητι (Rahlfs) ist lectio facilior; ὡς νεότητος stellt eine stilistische Korrektur dar (Genitiv mit temporaler Bedeutung); ὡς νεοττίδι „wie ein Freudenmädchen“ (mit Verweis auf den mehrfach belegten Eigennamen Νοσσίς) ist eine unwahrscheinliche und unnötige Konjektur von J. K. Zenner (1898). Alle anderen Varianten lassen sich von ὡς νεότητι herleiten.23 Die Bedeutung von ὡς νεότητι ist „wie in der Jugend“. d.h., wie man sich als Jugendlicher verhält; es handelt sich also nicht, wie Larcher vorschlägt, um einen Vergleich Geschöpfe – Jugend. Die Aufforderung der Gottlosen ist an alle gerichtet, nicht nur an junge Menschen.

22 Vgl. LARCHER, Etudes, 260 Anm. 8. 23 LARCHER, Sagesse I, 229. Vgl. die ausführliche Erörterung bei SCARPAT, Sapienza I, 179– 180.

Synchrone Analyse

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7a Πολυτελής wird in der LXX nur von Edelsteinen gesagt (vgl. Spr 3,15; 8,11; 31,10), im NT auch von Parfüm und Gewand. Als Adjektiv zu Wein erscheint πολυτελής in einigen zeitgenössischen Beschreibungen des Luxus in Alexandria.24 Die ἰταλικὴ πολυτέλεια, der „italische Luxus“, bezeichnet den von den Römern eingeführten Lebensstil. Gegen diesen Luxus wettert Philon: Die πολυτέλεια ist die für Toren typische Lebensweise Opif. 164), der Philon unter dem Einfluss der kynisch-stoischen Diatribe den Aszetismus der Therapeuten, die Weingenuss ablehnen, entgegenhält. Vielleicht ist auch eine implizite Verurteilung der Mähler im Rahmen von Mysterienfeiern, insbesondere der Dionysos-Mysterien, durch den Verfasser nicht auszuschließen. 8 Die Erwähnung der Rose ist ein typisch griechischer Zug.25 Gegenüber der besser bezeugten Lesart ἀέρος ist ἔαρος vorzuziehen.26 Die Fügung ἄνθος ἔαρος scheint nirgends sonst in der griechischen Literatur belegt zu sein, erhält aber in diesem Kontext die der klassischen Literatur vertraute Bedeutung von „Blume/Blüte der Jugend“. Der „Frühling“ ist also als Bezugnahme auf das Vergnügen zu verstehen, besonders das sexuelle, verbunden mit jugendlichem Alter. Nicht zu vergessen ist, dass die im folgenden Kolon erwähnte Rose traditionell flos Veneris ist.27 9a Der größte Teil der Handschriften liest ἡμῶν „(keiner) von uns (soll unbeteiligt bleiben)“, ein kleinerer Teil liest ὑμῶν „(keiner) von euch…“. Demgegenüber hat ein Teil der altlateinischen Übersetzung nullum pratum sit quod non pertranseat luxuria nostra, was eine Lesart λειμών voraussetzt, die jedoch in keiner griechischen Handschrift erhalten ist; Ziegler hat sie jedoch in seine Edition aufgenommen. Scarpat und Busto Saiz haben unabhängig voneinander eine mögliche Erklärung der von der lateinischen Übersetzung bezeugten Lesart λειμών in Weish 2,9a von einer Stelle im Kyklops des Euripides her plausibel gemacht. „Wiese“ ist demnach in einer Sprechweise, die der alexandrinischen erotischen Lyrik bekannt war, eine Metapher für das weibliche Geschlechtsteil. Die Gottlosen wollen also zügellos alle ihre sexuellen Wünsche erfüllen.28 Das Wort ἀγερωχία kann im Griechischen eine positive Bedeutung haben (Kühnheit, Stolz), aber im Kontext gewinnt es hier einen negativen Sinn (in der LXX ebenso in 2Makk 9,7 und in 3Makk 2,3): „Hemmungslosigkeit“, wildes Treiben. In Entsprechung zur oben erläuterten Deutung von „Wiese“ kann man an eine Orgie denken.

Synchrone Analyse Der Vers beginnt mit einer Aufforderung (δεῦτε οὖν), auf die der Kohortativ Aorist 2,6 von ἀπολαύω mit ingressiver Bedeutung folgt: „Kommt also! Genießen wir …!“. Auch die folgenden Kohortative stehen bewusst den Imperativen des 1. Kapitels gegenüber. Die Gottlosen fordern zum Genuss der „vorhandenen guten Dinge“ auf (τῶν ὄντων ἀγαθῶν), die hier und jetzt dem Menschen zur Verfügung stehen. Das folgende Kolon macht klar, dass es sich um die Schöpfung selbst handelt. Das 24 Cf. SCARPAT, Sapienza I, 147–152 und 181; LARCHER, Etudes, 223 und Anm. 1. 25 WINSTON, Wisdom, 119. HÜBNER, Weisheit 41, denkt mit etwas Phantasie an eine Gleichung Rosen –Frauen und verweist auf Goethes Gedicht „Sah ein Knab ein Röslein stehn…“. 26 LARCHER, Sagesse I, 231. 27 Vgl. ROSA, „Note a Sap 2,6–9“; er möchte ἄνθος ἔαρος zu ἄνθος ὥρας ändern, da dies die lateinische Übersetzung flos temporis besser erkläre; zu dieser Übersetzung vgl. SCARPAT, Sapienza I, 427. 28 Vgl. SCARPAT, Sapienza I, 182–183; BUSTO SAIZ, „The Meaning of Wisdom 2:9a“; s. auch GILBERT, „Sagesse“, 61–62; ROSA, „Note a Sap 2,6–9“; TAIT, „Crudité à l’anglaise“. Ablehnend dazu LARCHER, Sagesse I, 232–233.

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Weish 2,6–9

Verb χράομαι „gebrauchen, sich einer Sache bedienen“ ist hier in malam partem zu verstehen mit dem sexuellen Beiklang „missbrauchen“ wie in Gen 19,8LXX (dass diese Erzählung von Lot und den Sodomitern dem Verfasser vertraut war, wird sich in Weish 19,13–17 zeigen). Die Gottlosen beabsichtigen, die Schöpfung zu missbrauchen und ihr Gewalt anzutun, und zwar mit jugendlicher Leidenschaft, und betrachten sich dabei als ewig jung. Dass der Verfasser die Gottlosen von der κτίσις sprechen lässt, könnte seltsam erscheinen, da im Buch der Weisheit κτίσις sonst immer die „Schöpfung“ in religiösem Sinne bedeutet (vgl. 5,17; 16,24; 19,6). Die Verwendung hier ist jedoch ironisch: Tatsächlich lehnen die Gottlosen ja ab, dass das Vorhandene, das sie missbrauchen, „Schöpfung“ sei. Sie halten sie nur für einen Besitz, den sie unbegrenzt ausbeuten und genießen können. Die Schöpfung selbst wird es sein, wie der dritte Buchteil zeigen wird, die sich gegen diese Gottlosen wendet, die ihr die Anerkennung versagt hatten. Die Verwendung von teurem Wein (s.o.) und Parfums während der Festmähler 2,7–8 sowie der Aufruf, sich die Frühlingsblume nicht entgehen zu lassen, d.h. den Frühling der Jugend, sind andere häufige Motive, ebenso der Brauch, sich mit Rosenknospen (*κάλυξιν) zu bekränzen; der Hintergrund ist sicher sexuell (vgl. 2,9). In Weish 2,7–8 wird die ganze Unruhe der Gottlosen angesichts der Kürze des Lebens deutlich, es muss ergriffen werden, „bevor es verblüht“, wie bei den Kränzen aus Rosen, die aus den Knospen gewunden werden, damit sie weniger schnell welken. Demgegenüber ist die Weisheit ἀμάραντος „unverwelklich“ (Weish 6,12a); vgl. auch Weish 19,21. „Hinterlassen wir überall Zeichen des Vergnügens!“ Die „Zeichen“ des Vergnü2,9 gens stehen so im Gegensatz zu den „Zeichen“ der Tugend, die in Weish 5,13 in der „posthumen“ Rede der Gottlosen genannt werden. Zum Motiv des „Anteils“ (μερίς) s.o. zu 1,16.

Diachrone Analyse 2,6 Die Verwendung von ἀπολαύω verweist auf ein „Genießen“ mit sehr negativem

Beiklang. Philon (Spec. III, 113) tadelt diejenigen, die in der Ehe nicht mit ihren Frauen verkehren, um Kinder zu zeugen, sondern nach Art von Schweinen oder Ziegenböcken dem Genuss beim Verkehr nachjagen (θηρώμενοι συῶν ἢ τράγων τρόπον τὴν ἐξ ὁμιλίας ἀπόλαυσιν); vgl. auch Spr 7,18LXX, wo die Prostituierte den jungen Unerfahrenen einlädt, mit ihr zu verkehren: ἐλθὲ καὶ ἀπολαύσωμεν φιλίας… (vgl. Hebr 11,25). Bei der Aufforderung carpe diem, die die Gottlosen aneinander richten, handelt es sich um ein häufiges Motiv in der antiken orientalischen und hellenistischen Literatur; es fehlt auch nicht in der Bibel, vgl. Jes 22,13 und in positiver Formulierung mehrfach bei Kohelet.29 29 Siehe die zahlreichen Zitate bei WINSTON, Wisdom, 118–119 und SCARPAT, Sapienza I, 147. Für Kohelet gilt das Urteil von SKEHAN: „Ecclesiastes is not, therefore, the typical hedonist whom Wis is arranging; nor is there any real warrant from language employed for supposing that Wis is concerned with deliberate misuse of the doctrine of Eccl.“ (“The Literary Relationship“, 228).

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Sich mit Rosen zu bekränzen ist ein ursprünglich kultischer Brauch bei den Sym- 2,7–8 posia, den jedoch die Epikuräer entschieden ablehnen (Lukrez, Rer. Nat. III,912– 915). Horaz (Od. 2,3.13–16) bietet eine ähnliche Zusammenstellung von Wein, Rosen und Parfüms. In der Bibel erwähnt Sir 32,3[35,2] einen Kranz beim Festmahl. 2Makk 6,7 erinnert daran, dass die Juden gezwungen waren, am Dionysosfest mit Efeu bekränzt (κισσοὺς ἔχοντες) am Festzug teilzunehmen. εὐφροσύνη „Freude, Heiterkeit, Vergnügen“ ist in Weish 2,9 polemisch ge- 2,9 braucht. Nach Sir 1,11 entsteht die wahre εὐφροσύνη aus der Gottesfurcht und der Weisheit; in Sir 4,12 werden die, die früh aufstehen, um die Weisheit zu suchen, von εὐφροσύνη erfüllt. In Jes 25,9LXX kommt εὐφραίνω mit Bezug auf Gott vor; vgl. auch Jes 61,7.10LXX (εὐφροσύνη αἰώνιος ὑπὲρ κεφαλῆς αὐτῶν … εὐφροσύνῃ εὐφρανθήσονται ἐπὶ κύριον); Bar 4,29 (ἐπάξει ὑμῖν τὴν αἰώνιον εὐφροσύνην μετὰ τῆς σωτηρίας ὑμῶν); Psal. Sal. 10,8; 14,10. Εὐφροσύνη wird auch in Texten Kohelets, die von der Freude handeln, genannt: Koh 2,26; 5,19; 8,15; 9,7. Nach der Auffassung der Gottlosen besteht die einzig mögliche Freude, die der Mensch erfahren alkann, in ausgelassenen Festmählern und zügelloser Sexualität.30 Dieser Freude, die so verschieden ist von der, die der Gerechte erhofft, wird alles geopfert, sogar das Leben des Gerechten, der den Gottlosen daran hindert, in vollen Zügen ungestört sein Vergnügen zu genießen (vgl. Weish 2,10–20). Μερίς steht hier in 2,9c zusammen mit κλῆρος, der in der LXX einen offensichtlich theologischen Hintergrund besitzt, vgl. Jer 13,25LXX und Jes 57,6LXX (an beiden Stellen μερίς und κλῆρος zusammen). Im Sprachgebrauch des Deuteronomiums bezeichnet κλῆρος das verheißene Land als Erbteil, das dem Volk Israel zukommt. In diesem Sinne wird das Wort häufig im Dtn und in den vom Dtn beeinflussten Büchern verwendet. Im Blick auf Ps 15,5LXX (κύριος ἡ μερὶς τῆς κληρωνομίας μου) wird erkennbar, dass die Gottlosen die biblische Sprache in blasphemischer Weise verdrehen: Ihr „Anteil“ und ihr „ Erbe“ ist ganz anders als der „Anteil“ und das „Erbe“, das der Herr seinen Getreuen verspricht. Diese Art von Wortschatz ist typisch für Kohelet. μερίς ist in der LXX Übersetzung Weisheit und von ‫חלק‬, vgl. Koh 2,10.21; 3,22; 5,17; 9,9. Auch bei Kohelet wird ‫ חלק‬im Vergleich zur Kohelet üblichen Bedeutung des Wortes in der Bibel in ironischem Sinne verwendet.31 Wo Kohelet jedoch von dem „Anteil“ spricht, der dem Menschen zukommt, denkt er nicht an einen materialistischen Lebensgenuss, sondern an die als „Geschenk“ Gottes an den Menschen verstandene Freude. Es ist nicht wahrscheinlich, dass der Verfasser des Weisheitsbuches die Gottlosen als Schüler Kohelets beschreibt. Nun scheint aber Koh 9,7–9 der Abschnitt in der Bibel zu sein, der Weish 2,6–9 am nächsten steht. Nur dort wird die Kürze des Lebens mit dem Motiv des freudigen Genusses (εὐφροσύνη) und vor allem mit dem Motiv des „Anteils“ (μερίς), der dem Menschen zukommt, verknüpft. Der Verfasser legt den Gottlosen einerseits die Worte Ijobs, der sich über die Kürze des Lebens beklagt (Weish 2,8a = Ijob 14,2; Weish 2,9c = Ijob 20,29; 27,13; 31,2–3), in den Mund und andererseits den in Jes 22,13 formulierten Gedanken zusammen mit dem Motiv des „Anteils“ aus Kohelet. Die Gottlosen sind

30 Zu der „fröhlichen Ausgelassenheit“, die die alexandrinischen Klubs kennzeichnet, vgl. BASLEZ, „The Author of Wisdom“, 42–45; die σύμβολα seien gerade die Erkennungszeichen der Dionysos-Kultvereine (ibid., p. 46). 31 Vgl. MAZZINGHI, Luca, Ho cercato e ho esplorato. Studi sul Qohelet (Bologna: EDB 20092), 401–403.

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Weish 2,10–16 also Juden, die die Bibel kennen, aber ihren Inhalt, scheinbar ausgehend von Kohelet, verzerren!32

Weish 2,10–16: Lasst uns den Gerechten unterdrücken! 10 Lasst uns den gerechten Armen unterdrücken, die Witwe nicht schonen und die bejahrten grauen Haare des Greises nicht scheuen! 11 Unsere Kraft sei das Gesetz der Gerechtigkeit! Das Schwache nämlich erweist sich als nutzlos. 12 Lasst uns dem Gerechten auflauern, denn er ist für uns unnütz und steht unserem Tun im Weg und wirft uns Verfehlungen gegen das Gesetz vor und sagt uns Verfehlungen nach gegen unsere Erziehung. 13 Er beansprucht, Gotteserkenntnis zu besitzen, und nennt sich Kind des Herrn. 14 Er wurde uns zu einer (ständigen) Anklage unserer Denkweisen, er ist uns schwer (erträglich), sobald wir ihn nur erblicken. 15 Denn unähnlich ist sein Leben dem der anderen, und ganz verschieden (von ihnen) sind seine Pfade. 16 Als Falschgeld wurden wir von ihm eingeschätzt, und er hält sich von unseren Wegen fern wie von Unreinheiten. Das Endschicksal von Gerechten preist er glücklich, und prahlt, Gott sei sein Vater.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 10c Πρεσβύτου πολιὰς πολυχρονίους: Zu den Varianten πρεσβύτερους und πολυχρονίου s. ZIEGLER z.St. und LARCHER, Sagesse I, 237, der beide zu Recht abweist. Der Ausdruck πολιὰς πολυχρονίους stellt eine Art Hypallage dar (rhetorische Figur: die logische Wortbeziehung wird durch grammatische Zuordnung des Adjektivs zu einem Wort, zu dem es inhaltlich nicht gehört, verschoben): πολυχρονίους „vieljährig, bejahrt“ bezieht sich inhaltlich natürlich auf den Greis, nicht auf seine grauen Haare. 16a Zu εἰς κίβδηλον s. SCARPAT, Sapienza I, 189–190: In der Alltagssprache bezeichnet κίβδηλος eine „falsche, unechte (Münze)“, in der LXX beschreibt es etwas als „falsch“, weil mit heidnischen und unreinen Bräuchen verbunden (1 Hen 10,9.15). In diesem Sinne wird das substantivierte Adjektiv in Weish 15,9 für Götzenbilder verwendet. Der Bezug auf Unreinheit wird in Weish 2,16b deutlich: Die Gottlosen spielen ironisch auf

32 Cf. D’ALARIO, „La réflexion sur le sens de la vie“, 322–323; SKEHAN stellt fest, dass Weish 2,1–9 mehr Wörter mit dem Ijobbuch gemeinsam hat als mit Kohelet (vgl. Anm. 31).

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den jüdischen Brauch an, sich von „Unreinem“ fernzuhalten (vgl. die Anklagen, die von TACITUS, Hist. 5,5 berichtet werden). Die Gottlosen nehmen wahr, dass der Gerechte sie als „ falsche Münze“ betrachtet, als Juden, die keine Juden mehr sind, als etwas Unechtes, das mit Heidnischem und Götzendienerischem verbunden ist.

Synchrone Analyse Der Verfasser zeichnet hier mit großem psychologischem Einfühlungsvermögen einen weiteren Aspekt des Denkens der Gottlosen. Nachdem sie ihre materialistische Auffassung vom Leben dargelegt haben (2,1b-5), bescheiben sie ihr wahres Bestreben: ungezügelt das Leben zu genießen (2,6–9). Der Übergang zur Gewalttätigkeit erscheint zunächst überraschend, aber er ist es nicht. Denn es geht darum, den Gerechten, der sie daran hindert, das Leben zu genießen, wie sie es möchten (2,10–16), aus dem Wege zu räumen. Wer sich ihrer Sicht des Lebens entgegenstellt, hat kein Recht zu leben (2,17–20). In diesen Schlusssätzen erreicht der Text eine hohe theologische Dichte. Machtausübung und Gewalttätigkeit werden als unmittelbare Folge einer rein materialistischen Auffassung des Lebens gesehen. καταδυναστεύω bezeichnet die Unterdrückung eines Niedrigstehenden (κατά) 2,10 durch einen Mächtigen. Die Unterdrückung des „Armen, der gerecht ist“ (δίκαιον ist hier Apposition zu πένητα) ist Zeichen einer ironischen Umkehrung der tiefsten biblischen Werte. Die Belohnung, die Gott den Gerechten in der Bibel verspricht (vgl. Ps 1,1–3; 36[37MT],25; 111[112MT],1–3; Spr 12,21), gibt es nicht. Neben den Armen werden in 2,10b-c die Witwe und der Greis gestellt. Die in der Bibel üblichere Dreiergruppe bilden Armer, Witwe und Waise (vgl. z.B. Jes 10,2). Sie sind die Gruppen der „Schwachen“ in der Bevölkerung, die geschützt werden müssen. Die Erwähnung des fehlenden Respekts vor den Alten kann ein Zeichen dafür sein, dass die Gottlosen, an die der Verfasser denkt, junge Menschen sind oder wenigstens solche Erwachsene, die meinen, es noch zu sein (s.o. zu 2,6–9)! Jedenfalls betrachten sie sich als „stark“, als Personen höheren Standes oder solche, die sich erlauben können, ihre Macht arrogant einzusetzen. „Unsere Kraft sei das Gesetz der Gerechtigkeit“. Für die Gottlosen ist der Ge- 2,11 rechte „nutzlos“ (ἄχρηστος) und „unnütz, lästig“ (δύσχρηστος) und wird deshalb beseitigt, er hat kein Existenzrecht. Auch die Verwendung des Ausdrucks νόμος τῆς δικαιοσύνης „Gesetz der Gerechtigkeit“ geschieht mit Absicht. Denn das tatsächliche Gesetz (Norm, Maßstab) für die Gottlosen ist nicht die Tora, sondern die eigene Stärke. Gott dagegen handelt anders: Eben weil er „stark“ ist, ist er auch barmherzig (vgl. Weish 12,16). Es ist psychologisch gut beobachtet, dass die Gottlosen nicht den Mut haben, 2,12 dem Gerechten Auge in Auge gegenüberzutreten, sondern ihn heimtückisch angreifen. Von jetzt an steht der „Gerechte“ im Blickpunkt. Der Artikel (τὸν δίκαιον) zeigt, dass der Verfasser an einen bestimmten „Gerechten“ denkt (s.u.). Die Gottlosen halten einen solchen Gerechten für einen lebendigen Vorwurf gegenüber ihrer Lebensweise (2,12b), da er ihnen ihre gegen das Gesetz (ἁμαρτήματα νόμου) und gegen ihre Erziehung (ἁμαρτήματα παιδείας ἡμῶν) begangenen Verfehlungen vorhält; ἁμαρτήματα sind ein biblisches Motiv: Der Gedanke einer Verfehlung, Sünde,

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Weish 2,10–16

gegen das Gesetz entspricht nicht griechischem Denken, wo Sünden meist als Ergebnis von Nichtwissen betrachtet werden. Mit dem Gesetz ist wahrscheinlich die mosaische Tora gemeint : Außer dem Fehlen des Artikels weist vor allem die Parallele zu παιδεία in diese Richtung und erinnert an weisheitliches ‫( מוסר‬s.o. den Kommentar zu 1,5). Entscheidend scheint auch das Possessivpronomen „unsere“ Erziehung (παιδείας ἡμῶν). Der Gerechte, ein treuer Israelit, wirft den Gottlosen, die ebenfalls Juden sind, ihre Verfehlungen gegen „unser“ Gesetz, die Tora, und gegen die erhaltene weisheitliche Erziehung vor. Die „Gotteserkenntnis“ (γνῶσιν θεοῦ), die der Gerechte zu besitzen bean2,13 sprucht (ἔχειν ἐπαγγέλλεται), ist nicht als bloße theoretische Anerkennung der Existenz Gottes zu verstehen, die die Gottlosen streng genommen nie geleugnet haben. Der Kontext legt ein Verständnis als praktische, lebendige Erkenntnis Gottes durch den Menschen nahe. Die Gottlosen haben nie eine derartige Gottes“erfahrung“ gemacht. Dabei geht es nicht um eine Erkenntnis esoterischer Art, die wenigen Auserwählten vorbehalten wäre, woran die Wahl des Ausdrucks γνῶσις denken lassen könnte (vgl. 2,21). Die Geheimnisse Gottes (und die der Weisheit, vgl. Weish 6,22) sind allen zugänglich, nicht nur einer Elite. Gotteserkenntnis bedeutet, die „Gerichtstaten“ Gottes, d.h. das Handeln Gottes in der Geschichte, anzuerkennen, vgl. 17,1a. In diese γνῶσις ist die Erkenntnis des künftigen Lebens eingeschlossen (vgl. 2,16c-d und den ganzen Abschnitt 2,21–24). Der Gerechte beansprucht nicht nur, Gott zu „kennen“, sondern „nennt sich selbst Kind des Herrn“. κύριος verweist unmittelbar auf JHWH, den Gott Israels. Die Gerechten rühmen sich, seine „Kinder“ zu sein. Im Blick auf 2,16.18 ist παῖς auf jeden Fall auch in 2,13 als „Kind“ und nicht als „Knecht“ zu verstehen (vgl. Weish 12,7 und 19,6; so haben auch die alten Übersetzungen Weish 2,13 wiedergegeben). Dennoch kann man nicht ausschließen, dass der Verfasser in 2,13 παῖς und nur in 2,18 υἱός verwendet hat gerade wegen der doppelten Bedeutung des Wortes παῖς, das nicht nur an „Kind, Sohn“, sondern auch an „Knecht“ denken lässt. Auf diese Weise erreicht der Verfasser ein doppeltes Ergebnis: Er kann die Figur des Gerechten betrachten im Licht des vierten Gottesknechtliedes im Jesajabuch und zugleich zeigen, dass dieser „Knecht“ in Wirklichkeit „Kind, Sohn“ Gottes ist.33 2,14–15 Der Gerechte ist βαρύς „schwer“, unerträglich (vgl. Weish 17,20) schon, wenn man ihn nur sieht (καὶ βλεπόμενος). Die Beschreibung ist psychologisch gut beobachtet: Die bloße Anwesenheit des Gerechten wirkt auf die Gottlosen als lebendige Anklage und beständige Auflehnung gegen ihre üblen Handlungen. Das Verhalten des Gerechten erscheint verschieden (*ἀνόμοιος) von dem der anderen, seine Lebensgestaltung „ungewöhnlich“; ἐξηλλαγμένος „ausgetauscht“ ist im Sinne von „außergewöhnlich, Verwunderung erregend“ zu verstehen, vgl. Platon, Gorg. 513ab, wonach derjenige, der in der Politik Erfolg haben wolle, der Bevölkerung nicht ἀνόμοιος sein dürfe. Der Bezug auf die Lebensweise des jüdischen Volkes ist deutlich: Er erregt Verwunderung und erscheint verschieden vom Verhalten der Nichtjuden. In gleicher Weise ist die strenge und lautere Lebensführung

33 Für eine mögliche Deutung von παῖς als „Knecht“ s. LARCHER, Sagesse I, 245–246 und SCARPAT, Sapienza I, 188; vgl. GIMÉNEZ GONZÁLEZ, „Si el justo es hijo de Dios“, 260–269; s. auch unten.

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des Gerechten nach dem Gesetz, das sie nicht mehr befolgen, gerade das, was sie als lästig empfinden. Seine Lebensweise unterscheidet den Gerechten von den Anderen und macht ihn zu einem Gegenstand der Verwunderung. Der Gedanke, dass die Gerechten sich von den Gottlosen absondern, ist bib- 2,16 lisch, vgl. Ps 25[26MT],4–5. Wie bereits zu εἰς κίβδηλον bemerkt wurde (s.o. Anm. zu Text und Übersetzung), verdichten sich die Bezugnahmen auf jüdisches Brauchtum, hier die Reinheitsgesetze, immer mehr. 2,16c-d eröffnen eine neue Perspektive: Die Gerechten preisen (μακαρίζω „seligpreisen“, vgl. 3,13) ihre eigenen ἔσχατα glücklich. Mit τὰ ἔσχατα „das Äußerste“ kann im griechischen Sprachgebrauch „das Schlimmste“ bezeichnet werden. In diesem Sinne verstanden, sprächen die Gottlosen in sehr ironischer Weise: Der Gerechte wagt es, sich der Qualen zu rühmen, die wir ihm zufügen! Von Sir 7,36; 28,6; 38,20 her gelesen, können τὰ ἔσχατα jedoch das bezeichnen, was den Menschen nach seinem Tode erwartet; auch anderswo wird τὰ ἔσχατα in diesem Sinne verwendet (vgl. Jes LXX 41,22; 46,10; 47,7). In Weish 2,16c kann ἔσχατα so verstanden werden, dass der Gerechte ganz allgemein daran denkt, am Ende seines Lebens „selig“ zu sein. Die Gerechten erklären für real, was für die Gottlosen bloßer Anschein ist, die Seligkeit am Ende des Lebens. Drittens könnte in den ἔσχατα eine Bezugnahme auf Ijob 42,12LXX gesehen werden: ὁ δὲ κύριος εὐλόγησεν τὰ ἔσχατα Ιωβ. Es ist nicht auszuschließen, dass der Verfasser eine Parallele herstellt zwischen dem „Gerechten“, von dem hier die Rede ist, und dem leidenden Ijob, der am Ende gesegnet wird. Der Gerechte prahlt, Gott zum Vater zu haben; ἀλαζονεύω hat an sich einen Gott als Vater negativen Sinn, vgl. Weish 17,7. Denn für die Gottlosen ist das, was der Gerechte sagt, eine sinnlose Prahlerei. Aber ironischerweise gewinnt das Verb hier eine positive Bedeutung: Das, womit der Gerechte prahlt, ist wahr. Das Vatersein Gottes wird in Verbindung mit der Rede vom Ende des Gerechten gesehen. Trotz seiner Leiden weiß er sich angenommen von einem Vater, der seinen Sohn züchtigt, weil er ihn liebt (Spr 3,12; vgl. Weish 11,10).

Diachrone Analyse Mit der Verknüpfung von Genussstreben und Gewalttätigkeit wird ein Topos der 2,10–16 damaligen Philosophie aufgegriffen, der besonders in den Anschuldigungen gegen die Epikuräer auftaucht. Epiktet äußert mehrfach den Gedanken, dass ein Leben der Vergnügungen zur Gewalttätigkeit führt (vgl. den Fall des Sokrates: Diatr. 2,2,15–20 etc.). Der wahre Philosoph vermeidet sowohl ein Leben der Vergnügungen als auch die Gewalttätigkeit, deshalb wird er bekämpft. Das Verb καταδυναστεύω „unterdrücken“ kommt in der LXX häufig vor und 2,10 kann hier von Hab 1,4 angeregt worden sein (ὃτι ὁ ἀσεβὴς καταδυναστεύει τὸν δίκαιον), von Ez 22,7 oder von Ex 1,13 (καὶ κατεδυνάστευον οἱ Αἰγύπτιοι τοὺς υἱοὺς Ισραηλ βίᾳ). Die Exodusstelle verwendet der Verfasser wieder in Weish 17,2, möglicherweise als flashback auf 2,10. Zur Benachteiligung und Unterdrückung des Armen vgl. Ex 23,6; Dtn 15,12; der Witwe Ex 22,21–22; Dtn 14,28–29, des Greises Jes 47,6; Klgl 5,12; s. auch Lev 19,32; Sir 25,6. Den Gedanken, dass das Gesetz des Stärkeren einziges Maß der Gerechtigkeit 2,11 wird, kennt schon Platon, der ähnliche Überlegungen dem Sophisten Kallikles in

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Weish 2,17–20

den Mund legt: „Gerade die Natur, denke ich, zeigt, dass es gerecht ist, wenn der Bessere sich gegenüber dem Schlechteren durchsetzt, der Starke gegenüber dem Schwächeren“ (Gorg. 483bcd). Ironischerweise stellen sich die Gottlosen auch in Gegensatz zu grundlegenden Worten der Prophetenbücher, siehe z.B. Hos 14,10LXX:34 „Gerade sind die Wege des Herrn, und die Gerechten werden auf ihnen gehen. Die Gottlosen aber werden auf ihnen schwach werden (ἀσθενήσουσιν)“. Weish 2,12 zitiert wahrscheinlich Jes 3,10LXX (δήσωμεν τὸν δίκαιον ὅτι 2,12 δύσχρηστος ἡμῖν ἐστιν),35 die einzige andere Stelle in der LXX, an der das Adjektiv δύσχρηστος vorkommt. Es ist hier in aktivem Sinn zu verstehen „unnütz, hinderlich, lästig“; die lateinische Übersetzung insuavis „unangenehm, peinlich“ zieht eine passive Deutung vor. Die einzige Abweichung in Weish 2,12a vom griechischen Jesajatext besteht im Verb am Anfang ἐνεδρεύσωμεν „lasst uns auflauern, einen Hinterhalt legen“, das gewiss stärker als δήσωμεν „lasst uns fesseln“ in Jes 3,10LXX ist. Bei ἐνεδρεύω kann man an Ps 9,30[10,9MT] denken: Dort legt sich der Sünder in einen Hinterhalt, um den Armen zu fangen, vgl. auch Ijob 24,11LXX; 38,40LXX . Bei der Erwähnung des „Gesetzes“ könnte das Buch der Weisheit auch einen weiteren philosophischen Topos ansprechen: Der Philosoph beobachtet das Gesetz (vgl. Platon, Crit. 50Ass), er hat eine seltsame, schwer erträgliche Lebensweise (Plutarch, Mor. 90E; Epiktet, Diatr. 4,8. 5–12) und sein Schicksal nach dem Tode ist glücklich (Cicero, Tusc. I, 29, 71, in Bezug auf Sokrates). Das Sprechen von Gott als „Vater“ in einem persönlichen Sinn, in Bezug auf Weish 2,16 ein Individuum und nicht auf das Volk, ist in der hebräischen Bibel selten und zeigt sich erst deutlicher innerhalb des Judentums der hellenistischen Zeit, vgl. Sir 23,1.4 ; im Buch der Weisheit s. vor allem 14,3.36 Was für den Gerechten wie ein freudiges Erreichthaben klingt, ist für die Gottlosen nur der Abschluss einer nutzlosen Prahlerei.

Weish 2,17–20: Wir wollen sehen, ob der Gerechte Sohn Gottes ist! 17 Wir wollen sehen, ob seine Worte wahr sind, und erproben, wie es mit ihm ausgeht. 18 Wenn nämlich der Gerechte Gottes Sohn ist, wird er sich seiner annehmen und ihn retten aus der Hand seiner Gegner. 19 Durch Erniedrigung und Folter wollen wir ihn prüfen, um seine Milde kennenzulernen und seine Leidensfähigkeit auf die Probe zu stellen. 34 Vgl. SCARPAT, Sapienza I, 153. 35 Vgl. LARCHER, Sagesse I, 140–141: Er vermutet eher eine Abhängigkeit von Jes 3,10LXX gerade von Weish 2,12. Jes 3,10LXX weicht vom MT, der meist als Glosse angesehen wird, ab. Die LXX legt die Worte von Jes 3,10 den Gottlosen in den Mund. Eine Entscheidung ist sehr schwierig; auch LARCHER zeigt sich unsicher. 36 Vgl. GIMÉNEZ GONZÁLEZ, „Si el justo es hijo de Dios“, 271–325.

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20 Zu einem schändlichen Tod wollen wir ihn verurteilen – es wird ja, so sagt er, seine Heimsuchung stattfinden.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 17 Der seltene Ausdruck τὰ ἐν ἐκβάσει (vgl. Weish 8,8 und 11,14) ist ein hapax legomenon in der LXX und im NT. * ἔκβασις bezeichnet das Endergebnis eines Verlaufs, hier „das, was am Ende geschieht“, d.h. die letzten Abschnitte des Lebens des Gerechten (vgl. 1Kor 10,13; Hebr 13,7). Die lateinische Übersetzung hatte offenbar Schwierigkeiten mit der Wiedergabe und erweitert 2,17b zu zwei Kola: et temptemus quae ventura sunt illi / et sciemus quae erunt novissima illius. 19a Das Wort ὕβρις klingt griechisch. Es wurde in der LXX gewählt, um das hebräische ‫גאון‬ wiederzugeben. Im klassischen Griechisch bezeichnet ὕβρις die tragische Anmaßung des Menschen, der sich gegen die Götter wendet. Hier im Kontext benennt es den erniedrigenden Hohn, unter dem die Gottlosen den Gerechten foltern und der am Tag ihres Gerichts auf die Gottlosen zurückfallen wird (vgl. Weish 4,18). 19b Der Begriff ἐπιείκεια kehrt in Weish 12,18 in Bezug auf das Handeln Gottes wieder (vgl. 2Makk 2,22; 10,4), wie er auch im NT (2Kor 10,1) ein Attribut des Handelns Jesu Christi ist. Er verweist auf die Milde, die die Gerechtigkeit mäßigt (Apg 24,4; SPICQ, Notes I, 263–268). In ethischem Sinn bezeichnet ἐπιεικής einen Menschen als ausgeglichen (1Tim 3,3). Gelegentlich hat der Begriff den Beiklang der Sanftheit, Mäßigung, Milde, besonders gegenüber Angriffen und Beleidigungen. Es handelt sich also um eine „Sanftmut“, die weit über eine bloße, gebotene Höflichkeit hinausgeht. 20 Das Wort ἐπισκοπή „Aufsicht, Heimsuchung“ kehrt in 3,13; 4,15; 14,11; 19,15 wieder. In der LXX wird ἐπισκοπή verwendet, um hebr. ‫ פקדה‬zu übersetzen, häufig in Bezug auf einen Eingriff Gottes zugunsten seines Volkes (vgl. Gen 50,24; Ex 3,16; 13,19). Nicht selten, besonders in der Sprache der Propheten, hat ἐπισκοπή eschatologische Bedeutung, entweder rettende oder strafende (Jer 6,15; 10,15; Jes 10,3; vgl. Weish 14,11). Im Kontext des Buches der Weisheit bezeichnet ἐπισκοπή die „Heimsuchung“ im Sinne des eschatologischen Gerichts Gottes. Am Ende wird er den Gerechten (auf ihn bezieht sich αὐτοῦ) heimsuchen, dem ein gnädiges Gericht vonseiten des Herrn bevorsteht; vgl. BEYER, ἐπισκοπή, ThWNT II, 602–603.

Synchrone Analyse Der asyndetische Beginn von 2,17 zeigt den Übergang zu einem neuen Entschluss 2,17–18 seitens der Gottlosen an. Sie wollen sehen, ob alles, womit der Gerechte prahlt, wahr ist. Für die Gottlosen ist, wie ihr Lebensprogramm (2,1–9) deutlich macht, nur das wirklich, was bewiesen werden kann. Der ganze Abschnitt 2,17–20 spiegelt in ironischer Weise den Stil zeitgenössischer philosophischer Beweisführungen, mit denen der Student eingeladen wurde, das, was er theoretisch gelernt hatte, zu verifizieren: „das in jeder Schule geforderte Abschlussexamen“.37 Mit den „Worten“ (λόγοι) in 2,17a ist gemeint, was in 2,16 gesagt wurde und in 2,19 wieder aufgenommen wird: damit prahlen, Gott zum Vater zu haben und ein glückliches Endschicksal zu erwarten. Der Ausdruck τὰ ἐν ἐκβάσει (2,17b) verweist zurück auf 37 Vgl. SCARPAT, Sapienza I, 159; PREMSTALLER, „Gericht“ und „Strafe“ im Buch der Weisheit, 78– 79.

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Weish 2,17–20

ἔσχατα δικαίων (2,16c). Die Argumentation der Gottlosen ist klar: Wenn Gott wirklich Vater des Gerechten ist (2,16d), wird er sich seiner annehmen (ἀντιλήμψεται) und ihn aus der Hand seiner Widersacher retten (ῥύσεται 2,18b). Die Antwort, die der Verfasser in 2,21–24 geben wird, ist überraschend und lenkt die Aufmerksamkeit auf das künftige Schicksal des gerechten „Sohnes Gottes“. In Weish 2,18a kommt zu der bereits in 2,16d enthaltenen Behauptung der Vaterschaft Gottes die logische Folgerung hinzu: Der Gerechte ist Sohn Gottes (υἱὸς θεοῦ). Die Sprechweise von einem einzelnen Gerechten als „Sohn Gottes“ in Weish 2 stellt eine gewisse Neuheit in der jüdischen Tradition dar (vgl. Sir 4,10), deren sich der Verfasser aber durchaus bewusst ist: Der Gerechte „prahlt“ damit (Weish 2,16d), Sohn Gottes zu sein. Das Sohnsein verweist hier vor allem auf die tiefe, persönliche, vertrauensvolle und Schutz erhoffende Beziehung des Gerechten zu Gott. Das in diesem Text entstehende Problem ist die Frage der Identität des „Gerechten“, der hier vorgestellt wird. Zwar lässt der Einfluss von Texten wie 2Sam 7,14 und Ps 2,7 an den „Sohn Gottes“ als an eine einzelne Figur mit messianischen Zügen denken, doch scheint die offensichtliche Verbindung mit dem unschuldigen, unterdrückten Gerechten von Ps 21[22MT] und mit den „Kindern Gottes“ im dritten Teil des Buches der Weisheit ein kollektives Verständnis des „Sohnes“ zu bestätigen, also als einer Figur, die die treuen Israeliten, die Hauptpersonen im dritten Buchteil, darstellt (vgl. Weish 9,7; 12,19–21; 16,10.26). Dennoch kann, wie die Ausführungen zu 2,16 zeigten, eine individuelle Deutung der Gotteskindschaft nicht von vornherein ausgeschlossen werden: „Sohn Gottes“ ist deshalb auch der einzelne Gerechte, die Hauptfigur in Weish 3–4, der die Nähe des Vaters erfährt in schwierigen Situationen und vor allem im Augenblick des Todes, der hier im Text (Weish 2) den Erweis seines Sohnseins darstellt.38 Der Beweis für die Wahrheit der Worte des Gerechten bezieht für die Gottlosen 2,19 auch Erniedrigung (ὕβρις) und Folter (βάσανος) mit ein. Das Schicksal der Gerechten wird etwas später mit ähnlichen Worten beschrieben: Kein βάσανος wird sie antasten (Weish 3,1). Bei den Gottlosen jedoch, die den Gerechten auf die Probe stellen wollten (ἐτάσωμεν 2,19), wird die schon seit 1,9 erwähnte ἐξέτασις stattfinden. Die Eigenschaften des Gerechten, die die Gottlosen auf die Probe stellen wollen mit ihren Erniedrigungen und Foltern, sind seine ἐπιείκεια „Milde“ und seine ἀνεξικακία „Schlimmes-aushalten-Können, Strapazierfähigkeit“. Die Fähigkeit, Übel zu ertragen, gilt als eine der den Weisen kennzeichnenden Eigenschaften. Das Wort ἀνεξικακία ist selten und erst spät belegt, vgl. Plutarch, Mor. 90E (das zugehörige Adjektiv ἀνεξίκακος kommt im NT vor: 2Tim 2,24). Der Schlussabschnitt der Rede, der mit 2,20 endet, ist eindrucksvoll. Das Be2,20 streben der Gottlosen, das Leben zu genießen, weil sie an dessen Ende nur der Tod erwartet, gipfelt darin, dass sie die Schwächsten zu Tode bringen. Der Tod wird die endgültige Probe sein, der die Gottlosen den Gerechten unterwerfen, er wird die Unwahrheit des Gerechten und seiner Illusionen ans Licht bringen. Sie wollen ihn zu einem „schändlichen“ Tod (θανάτῳ ἀσχήμονι; lat. morte turpissima)

38 Vgl. GIMÉNEZ GONZÁLEZ, „Si el justo es hijo de Dios“, 135–137.

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verurteilen. Man kann hier an eine besonders schmachvolle Todesart denken, wie z.B. eine Kreuzigung, oder an eine Hinrichtung des Gerechten infolge von ehrenrührigen Anschuldigungen, die sein moralisches Ansehen bei anderen erschüttern. Der Tod des Gerechten wird darüber hinaus schmachvoll sein, weil nach seinen Worten Gott ihm hätte beistehen müssen, es aber nicht tun wird. Die Rede der Gottlosen schließt mit einem ironischen Hinweis auf die Zukunft: Im Angesicht des Todes wird es keinerlei „Heimsuchung“ (ἐπισκοπή) vonseiten Gottes geben, keinerlei Rettung für den Gerechten. Es ist schwer zu sagen, ob der Hinweis auf die ἐπισκοπή im Mund der Gottlosen eine physische Rettung meint oder schon auf ein ewiges Heil anspielt. Leichter scheint es zu sein, ἐπισκοπή als eine Ironie in Bezug auf eine Heimsuchung ante mortem zu verstehen, die Gott seinem Volk und seinen Getreuen vorbehält (vgl. 1Sam 2,21; Jer 15,15), indem er sie aus Todesgefahr rettet. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, ἐπισκοπή im etymologischen Sinn als „Daraufschauen“ zu deuten, als die letzte Überprüfung, der die Gottlosen den Gerechten unterwerfen (in diesem Sinne vgl. Ijob 31,14; Sir 18,20; 23,24). Eine solche „Überprüfung“ wird gerade der Tod sein. Bei einer solchen Deutung ist allerdings die Verwendung der Präposition ἐκ seltsam. Aus den Worten der Gottlosen wird eine wichtige Annahme deutlich: Die Wahrheit dessen, was der Gerechte sagt, wird bewiesen werden durch seinen Tod. In der Schwebe bleibt aber eine Frage: Was wäre, wenn die Gottlosen Recht hätten? Was kann man auf ihre Anklagen gegen den Gerechten antworten? Dieses Problem geht der Verfasser im Schlussabschnitt des Kapitels an.

Diachrone Analyse Das Verb ῥύομαι in 2,18b verweist auf Ps 21[22MT],9 (ῥυσάσθω αὐτόν). Der Text 2,17–18 von Weish 2,18b kann wie ein ironischer Kommentar der Gottlosen zu diesem Psalmvers gelesen werden, vgl. auch Sir 2,6 (πίστευσον αὐτῷ καὶ ἀντιλήμψεταί σου). Mt 27,43 verwendet wahrscheinlich diese Worte in Bezug auf Jesus (ῥυσάσθω νῦν εἰ θέλει αὐτόν· εἶπεν γὰρ ὅτι θεοῦ εἰμι υἱός). Beide Stellen (Sir und Mt) greifen Ps 21[22MT],9 auf. Dass Israel der Sohn Gottes ist, bildet einen grundlegenden Zug in der Beschreibung Der Gerechte der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk im AT, oft in Verbindung mit dem als Sohn Exodusgeschehen (Ex 4,22; Dtn 14,1; Jer 38[31MT],9); er hat sein Volk aus Ägypten geru- Gottes fen (Hos 11,1) und betrachtet es als sein Lieblingskind (Jer 38[31MT],20). „Sohn“ zu sein, betont für Israel die Distanz (Mal 1,6), aber gleichzeitig auch die väterliche Liebe Gottes (Ps 102[103MT],13). „Sohn“ im Besonderen ist der Messias-König (2Sam 7,14; vgl. Ps 2,7, an den der Verfasser hier gedacht haben könnte). In den Texten aus hellenistischer Zeit erscheint das Thema der Gotteskindschaft immer weiter verbreitet. „Söhne“ Gottes zu sein, gewinnt einen eschatologischen Beiklang und tritt in Beziehung zur Treue zum Gesetz (vgl. Test. Levi 18,8 u. ö.; vgl. dazu unten zu Weish 18,4). In Texten wie 3Makk 6,28 und Est E 16 (8,12q) werden die „Söhne/ Kinder“ (Gottes) auch in Verbindung mit der Unterdrückung, die durch die Gottlosen ausgeübt wird, genannt, so auch in Weish 17,2 und 18,4.39

39 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 219–221 mit Anm. 38; LARCHER, Sagesse I, 252– 255.

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Weish 2,21–24

2,20 Als Hintergrund zu diesem Abschnitt kann man an den bekannten Text Platons

denken, der mit sehr kraftvollen Worten den Tod des Gerechten beschreibt (vgl. Resp. 361e-362a)40 oder aber an einen erneuten Rückgriff auf das vierte Gottesknechtlied (vgl. Jes 53,2–3.8.12). Schwieriger auszumachen ist, ob Weish 2,20 sich auf historische Einzelereignisse bezieht. Die verfügbaren Quellen gestatten nicht zu behaupten, dass im ptolemäischen Ägypten Judenverfolgungen stattgefunden hätten, bei denen Juden zum Tode verurteilt wurden, erst recht nicht durch andere Juden. Man kann auch an einen Nachhall in Alexandria der empörenden Tötungen von Juden unter der hasmonäischen Dynastie in Judäa denken von der Zeit des Alexander Jannaj bis zu Herodes dem Großen. Jedenfalls greift der Verfasser hier ein im Psalter nicht selten wiederkehrendes Motiv auf: Der Gottlose versucht, den Gerechten zu Tode zu bringen (vgl. Ps 93[94MT],21).

Weish 2,21–24: Die Geheimnisse Gottes 21 Dies dachten sie und gingen in die Irre, verblendet hatte sie nämlich ihre Bosheit, 22 und sie erkannten nicht die Geheimnisse Gottes und erhofften keinen Lohn für Frömmigkeit und meinten, (es gebe) keine Auszeichnung für untadelige Seelen. 23 Denn Gott hat den Menschen geschaffen in Unverderblichkeit, und als Bild seiner eigenen Eigenheit hat er ihn gemacht. 24 Aber durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, es erfahren ihn aber, die zu seinem Anteil gehören.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 21 Der Aorist ἐλογίσαντο hat eher eine gnomische als eine historische Bedeutung (vgl. auch 3,10). Zur Verwendung von πλανάω „irreführen“, Pass. „in die Irre gehen“, vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 4–5. Das Verb bezeichnet ein Irren nicht nur im physischen, sondern vor allem im religiösen und moralischen Sinne. Bei Platon hat πλανάω einen theoretischen und moralischen Beiklang. In der LXX wird das Verb häufig in Bezug auf den Götzendienst verwendet, vgl. Weish 5,6; 11,15; 12,24; 14,22; 15,4; 17,1. 22a Das Wort μυστήριον kommt in der LXX nur in Texten der hellenistischen Zeit vor, außer in Weish noch in Tob 12,7.11; Jdt 2,2; Sir 3,18 (S); Sir 22,22; 27,16.17.21; 2Makk 13,21 und acht Mal in Dan 2. Die „verborgenen Geheimnisse“ (μυστήρια κρυπτά Dan 2,47) bedeuten im Zusammenhang von Dan 2 den Plan Gottes bezüglich der Geschichte und der Welt, der dem Seher enthüllt wird.

40 LARCHER, Sagesse I, 256–257.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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22b Das Wort ὁσιότης ist in der LXX selten (Dtn 9,5; 1Sam 14,41; 1Kön 9,4; Spr 14,32; vgl. Weish 5,19; 9,3; 14,30; das Adjektiv ὅσιος kommt sieben Mal vor). Die Quelle dafür ist wahrscheinlich Platon: „Tut er (der Besonnene σώφρων), was sich gebührt gegenüber Menschen, so tut er Gerechtes (δίκαια), gegenüber Göttern aber Frommes (ὅσια)“ (Gorg. 507ab). So auch PHILON: ὁσιότης μὲν πρὸς θεόν, δικαιοσύνη δὲ πρὸς ἀνθρώπους (Abr. 208). Auch Weish 9,3 verbindet mit der ὁσιότης die δικαιοσύνη. Die Frömmigkeit ist also die rechte Haltung gegenüber Gott, wie die Gerechtigkeit es gegenüber den Menschen ist, vgl. SCARPAT, Sapienza I, 197. 23a Das ὅτι am Anfang ist nicht kausal zu verstehen („denn“), wie die Edition von Ziegler nahelegt, indem sie einen Punkt an das Ende des vorhergehenden Kolons 2,22c setzt. Es handelt sich vielmehr um ein erläuterndes ὅτι, das einen Objektsatz einleitet. Einige Beispiele für ἐλπίζω mit erläuterndem ὅτι bietet BDR § 397,2 mit Anm. 5. SCARPAT (Sapienza I, 162) schlägt vor, dem ἐπί eine finale Bedeutung zu geben: „auf Unverderblichkeit hin“ (vgl. 4Makk 9,22 εἰς ἀφθαρσίαν). REESE dagegen stellt fest, dass bei den 22 Vorkommen von ἐπίmit Dativ (z.B. Weish 3,9a; 10,5c; 16,24c und vor allem 1,13 ἐπ’ ἀπωλείᾳ) eher ein Zustand bezeichnet wird. Es ist demnach zu übersetzen „in Unverderblichkeit“: „He [Wis] conceives „incorruption“ not as a man’s goal but as the positive quality granted to his nature, enabling him to enter into a special, personal relationship with his Creator“ (Hellenistic Influence, 66). Das Wort ἀφθαρσία kehrt in Weish 6,18.19 wieder, das Adjektiv ἄφθαρτος in 12,1 und 18,4; ἀφθαρσία taucht in hellenistischer Zeit im Zusammenhang der epikuräischen Diskussionen über die Natur der Götter auf und bildet nicht ein einfaches Synonym zu ἀθανασία. Der Epikuräer Philodemos behauptet, ἀφθαρσία sei ein den Göttern eigenes, positives Vermögen, das ermögliche, die Atome zusammenzuhalten und sie so vor dem physischen Zerfall zu bewahren (REESE, Hellenistic Influence, 64–69, bes. n. 156). Plutarch wird das Wort dazu verwenden, um das Wesen der Gottheit zu beschreiben. Der Gott ist „unverderblich“ im Sinne von bleibend, dauerhaft, ewig: ὡς ἄφθαρτος ὁ θεός (E Delph. 388F). Nach der Beschreibung des Göttlichen bei Plutarch ist es eine „selige und unvergängliche Natur“: μακαρία καὶ ἄφθαρτος φύσις (vgl. Is. Os. 358E). Der Gott ist unverderblich, bleibend, dauerhaft im Gegensatz zu dem, was verdirbt, was der φθορά unterworfen ist (vgl. Corpus Herm. 12,16). Philon verwendet diese Terminologie im moralischen Sinn: ἄφθαρτος ist dem verderbbaren Leib entgegengesetzt und wird verwendet, um das Leben des Weisen zu beschreiben, der tot ist für das, was verdirbt (vgl. Migr. 225); vgl. auch den Gebrauch, den Paulus in 1Kor 15 von diesem Wort macht, möglicherweise in Absetzung von Philo. Mit der Verwendung von ἄφθαρτος verweist das Buch der Weisheit auf etwas Unverderbbares, Ewiges und zugleich auf etwas, das nur von Gott kommen kann. 23b Einige Übersetzungen (vgl. Lat) setzen die Lesart κατ’ εἰκόνα voraus, die wohl unter dem Einfluss von Gen 1,26–27 entstanden ist; zum Fehlen der Präposition κατά in Weish 2,23 s. LARCHER, Sagesse I, 268. Falls der Verfasser den hebräischen Text von Gen 1,26 vor sich hat, versteht er vielleicht das Bet vor ‫ בצלמנו‬als bet essentiae. Der Mensch ist nicht erschaffen „nach Art“ eines Bildes Gottes, sondern „als“ Bild Gottes. In dieser Weise bewegt sich die Bedeutung von εἰκών eher in Richtung auf „Abbild“, „Kopie“, „Nachbildung“, wie es auch in Weish 7,26 geschieht. Die Textzeugen schwanken zwischen ἰδιότητος (dafür entscheidet sich Ziegler) und ἀϊδιότητος (so die Edition von RAHLFS) und ὁμοιότητος. Die letztgenannte Lesart findet sich nur in wenigen Handschriften und Übersetzungen und dürfte einen Korrekturversuch eines schwierigen Textes darstellen. Die Editoren und Kommentatoren entscheiden sich für die erstgenannte oder die zweitgenannte Lesart. „(Bild seiner) Ewigkeit ἀϊδιότητος“ gibt aber dem Text keinen klaren Sinn und wurde vielleicht durch ἀφθαρσία im vorhergehenden Kolon angeregt. Ein Wortspiel mit Wörtern derselben Wurzel (ἰδίας ἰδιότητος) ist im Buch der Weisheit nicht ungewöhnlich. Das Wort ἰδιότης bezeichnet das, was einer bestimmten Person oder Sache eigentümlich ist, hier, was Gott eigen ist. Der Mensch ist also erschaffen als Bild der Natur Gottes selbst.

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Weish 2,21–24

24 Die Auslegung dieses Textes war lange Zeit beeinträchtigt durch die Annahme, er beziehe sich auf die katholische Erbsündenlehre, vgl. LYONNET, „Le sens de πειράζειν en Sap 2,24“; LARCHER, Sagesse I, 270–271: Die „zum Anteil des Teufels gehören“ sind die Gottlosen, die den Tod „erfahren“ (πειράζουσιν). Ohne auf einige eher fragwürdige Deutungen einzugehen (vgl. GILBERT, „Sagesse“, 105), sei der Vorschlag von SCARPAT (Sapienza I, 164–167) erwähnt: Der Tod, d.h. der ewige Tod, trifft nur diejenigen, die zum „Anteil des Teufels gehören“: „Aber durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, der von denen, die zu ihm gehören, auf die Probe gestellt wird.“ Im Blick auf die Verwendung von μερίς in 1,16 bin ich der Meinung, dass Scarpat Recht damit hat, dass es die Gottlosen sind, die zum „Anteil des Todes“ gehören; eben deshalb erfahren sie ihn (anders SCARPAT). Das Verb πειράζω ist zu verstehen in Bezug auf die Erfahrung des Todes durch die Gottlosen, wie Lyonnet ausführt; ἐκείνου bezieht sich auf den Tod, nicht auf den Teufel.

Synchrone Analyse 2,21–22 Die Gedanken der Gottlosen (ταῦτα ἐλογίσαντο; vgl. 2,1a) führen sie auf einen

moralischen und religiösen Irrweg (ἐπλανήθησαν). Die Gottlosen sind blind geworden aufgrund ihrer Bosheit (κακία). In 2,21 taucht wieder eines der Motive auf, das das ganze Kapitel gekennzeichnet hat: der Gegensatz zwischen Anschein und Wirklichkeit. Das Paradox ist offensichtlich: Die Gottlosen glauben nur an das, was sie sehen, aber sie nehmen nicht wahr, dass die Wirklichkeit ganz anders ist als sie sich vorstellen. 2,22 beschreibt, was den Gottlosen zu sehen nicht gelingt: Sie erkennen nicht Die „Geheimnisse“ Gottes die μυστήρια θεοῦ, d.h. die geheimen Pläne Gottes. Das richtige Denken (Weish 1,2–3 im Gegensatz zu Weish 1,16 und 2,21), ein Leben nach der Gerechtigkeit und im Vertrauen auf Gott, sind die Bedingungen, damit es gelingt, die „Geheimnisse Gottes“ zu verstehen. Aber auf welchem Wege werden sie den Gerechten enthüllt? So sehr das Buch der Weisheit in der weisheitlichen Tradition Israels verankert ist, scheint es doch diese Erkenntnis nicht auf die einfache Lebenserfahrung gründen zu wollen wie z.B. Kohelet. Obwohl der Verfasser der Vernunft hohe Bedeutung beimisst und den Wert der menschlichen Wissenschaften (vgl. 7,17–21) durchaus hoch schätzt, führt er die Kategorie „Geheimnis“ ein, um den Eindruck zu vermeiden, er führe eine rein philosophische oder ethische Argumentation. Die „Geheimnisse Gottes“ in Bezug auf die „Unverderblichkeit“ und daher bezüglich des eschatologischen Schicksals des Menschen sind zwar ohne weiteres für alle erkennbar, werden aber dennoch „Geheimnisse“ genannt, d.h., sie sind mit einer Art höherer Offenbarung verknüpft. Ein erster Hinweis ist der Beobachtung zu entnehmen, dass der Verfasser ganz natürlich die Texte von Gen 1–3 heranzieht, um seine Behauptungen über die „Unverderblichkeit“ zu rechtfertigen. Obwohl das Buch der Weisheit durchaus Neues im Horizont des damaligen Judentums vorträgt, scheint es ausdrücken zu wollen, dass derartige Aussagen bereits in den biblischen Texten enthalten sind.41

41 COLLINS, „The Reinterpretation of Apocalyptic Traditions“; zu der gegen die Mysterienreligionen gerichteten Spitze dieses Textes im Buch der Weisheit s. MAZZINGHI, „I misteri di Dio“, 151–161.

Synchrone Analyse

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Die Kola in 2,22 sind fortschreitend konstruiert: Die Gottlosen haben die geheimnisvollen Pläne Gottes nicht erkannt, sie haben keine Belohnung (μισθός) erhofft für Frömmigkeit (ὁσιότης). Das Verb ἐλπίζω (einziges Vorkommen im Buch der Weisheit) ist hier in schwachem Sinne zu verstehen: Die Gottlosen erwarteten keine Belohnung für Frömmigkeit, d.h. für das richtige Verhalten des Menschen gegenüber Gott (s.o. Anmerkung zu Text und Übersetzung); μισθός hat hier eine eschatologische Bedeutung. Die Gottlosen haben sodann die Auszeichnung (γέρας), die den makellosen Seelen (ψυχῶν ἀμώμων) zuerkannt wird, nicht erwogen. Mit dem Wort ψυχαί ist, wie sich in Weish 3,1–3 zeigen wird, nicht die Seele getrennt vom Leib zu verstehen, sondern der ganze Mensch (s.o. den Kommentar zu 1,4). Das Wort ἄμωμος (nur hier im Buch der Weisheit) bezeichnet in der LXX die Beschaffenheit der Tiere für das Opfer („rein“); vgl. 1Petr 1,19 über Jesus Christus. Die Verwendung von Opfervokabular ist besonders interessant, weil sie nicht im Opferkontext geschieht. Die „Seelen“ der Gerechten sind das Opfer, das Gott wirklich gefällt (s. auch unten zu Weish 3,6). Die Geheimnisse Gottes verweisen also auf die Belohnung, die Gott dem Gerechten für seine Frömmigkeit gewährt. Der Text führt nicht aus, worin diese Belohnung besteht, aber 2,23 und insbesondere 3,1–9 legen unmissverständlich nahe, dass sie in einem Leben ohne Ende gesehen wird. Es ist bemerkenswert, dass das ewige Leben hier als Belohnung für ein moralisch richtiges Verhalten dargestellt wird (vgl. auch 3,15). An anderen Stellen (vgl. 3,5.9 ) wird es dagegen als ein reines Geschenk betrachtet. Es besteht jedoch kein Widerspruch zwischen diesen ja typisch biblischen Vorstellungen von Geschenk aus Gnade und Belohnung. Die Verwendung von ἀφθαρσία „Unverderblichkeit“ anstelle von ἀθανασία deutet eine besonders geartete Unsterblichkeit an: In Weish 6,18–19 wird die Unverderblichkeit beschrieben als „Gott-nahe-Sein“. Die ἀφθαρσία lässt nicht an die Seele denken, sondern an den Leib, der nicht verdirbt, an ein Leben, das den ganzen Menschen einbezieht. Der Verfasser denkt hier möglicherweise an eine Auferstehung der Leiber. Weish 2,24 besagt, dass der Tod in die Welt gekommen ist durch den Neid des Teufels. Nach Weish 1,13–15 hat Gott alles erschaffen zum Dasein, denn er liebt alles, was er erschaffen hat (vgl. 11,24). Woher also stammt der διάβολος, und wen oder was stellt er dar? Diese Figur erscheint im Buch der Weisheit nicht mehr, nur in späteren Überlieferungen wird das Thema des Neids des Teufels weiterentwickelt, der hier ja nur knapp erwähnt ist. Jedenfalls scheint das Buch der Weisheit keinerlei ausdrückliche Verbindung zwischen dem Sündenfall von Mann und Frau in Gen 3 und dem Eintreten des Todes in die Welt herzustellen (s. auch den Kommentr zu 10,1). Der Tod erscheint eher mit der persönlichen Sünde verbunden, denn ihn erfahren diejenigen, die zu seinem Anteil gehören (vgl. 1,16). Es gibt eine „Partei“ des Todes, in die sich die Gottlosen einschreiben und so paradoxerweise gerade das finden, was sie durch ihre Lebensweise von sich fernzuhalten suchen. Der Tod, der „durch den Neid des Teufels in die Welt gekommen ist“, scheint auf den ersten Blick der physische Tod wie in Weish 1,13 zu sein, zumal Weish 1,13 und 2,24 sich ausdrücklich auf die Genesiserzählung beziehen, insbesondere

2,23–24: Unverderblichkeit

Mehrdeutigkeit des Todes

100

Weish 2,21–24

auf Gen 2,17 und 3,19.42 Aber auch in diesem Fall ist der Begriff Tod mehrdeutig: Er lässt den Menschen den Status der Unverderblichkeit verlieren, in dem er erschaffen wurde, er ist also nicht so sehr der physische Tod, der ja auch die Gerechten ereilt, ohne dass diese jedoch die Unverderblichkeit verlieren. Der Tod, der nach Weish 2,24 „in die Welt gekommen ist“, ist der ewige Tod, der physische Tod ist dessen mehrdeutige Darstellung. Er wird nicht als Strafe betrachtet, sondern als Übergang zum Leben für die Gerechten (Weish 3,1–9), zum ewigen Untergang jedoch für die Gottlosen.43

Diachrone Analyse 2,22 Im Blick auf Weish 6,22b fällt es schwer, eine Anspielung auf die Mysterienkulte auszu-

schließen, die dem Eingeweihten die Unsterblichkeit versprachen mittels der Kenntnis der den Auserwählten vorbehaltenen Geheimnisse. Der Hintergrund dieser Wendung ist in Dan 2LXX zu suchen. Aber in Weish 2,22 ist der Kontext anders, die „Geheimnisse“ sind nicht das, was nur dem Seher enthüllt wird. Die Weisheit ist allen zugänglich (vgl. Weish 6,22–25). Diese geheimnisvollen Pläne Gottes, die die Apokalyptik der Erkenntnis der Seher vorbehielt, diese Geheimnisse, die in den verschiedenen Mysterienriten nur den Eingeweihten enthüllt wurden, sind jedoch nach der Überzeugung des Verfassers allen verfügbar, die sie zu sehen fähig sind, außer den Gottlosen. Das Buch der Weisheit schließt jede Art der Vermittlung durch Propheten oder Engel aus, wie sie in der apokalyptischen Überlieferung vorkommt. Weish 2,23 liegt Gen 1,26–27 zugrunde. Der Plan Gottes sah den Tod nicht vor; 2,23–24 was Weish 1,13–15 negativ sagte, wird hier positiv ausgedrückt. Dennoch wird das „Bild-Gottes-Sein“ vom Verfasser in einem viel weiteren Sinne verstanden als in Gen 1,26–27. Denn es bezieht auch eine Teilnahme am Wesen (ἰδιότης) Gottes selbst mit ein. Mit diesem Wesen ist die Unverderblichkeit (ἀφθαρσία) verbunden, die Gott eigen ist. Weish 2,23 zeigt ein komplexes exegetisches Vorgehen: Der Text von Gen 1,26–27 wird im Blick auf Gen 3,22b neu gelesen : Vor dem Sündenfall konnte der Mensch vom Baum des Lebens essen. Weish 2,23 erläutert das Motiv des Menschen als Bild Gottes in Gen 1,26–27 von der Erzählung in Gen 2–3 her so, als wollte der Verfasser sagen, dass der Plan Gottes vom Leben für den Menschen auch nach dem Sündenfall, der das Kommen des Todes in die Welt verursachte, in Geltung bleibt. Der Mensch wurde erschaffen „in Unverderblichkeit“, die nicht als ein außernatürliches Geschenk erscheint, das dann infolge 42 Vgl. GILBERT, „La relecture de la Genèse“, passim. Für eine neuere Übersicht über das Problem s. GIMÉNEZ GONZÁLEZ, „Si el justo es hijo de Dios“, 143–147; GIMÉNEZ GONZÁLEZ vertritt die Ansicht, der Verfasser nehme in Weish 2,23–24 auch auf den Gedanken des physischen Todes Bezug. 43 Vgl. KOLARCIK, Ambiguity of Death, 152–156, zu einer Reflexion über die theologischen Konsequenzen einer solchen Auslegung für die katholische Lehre von der „Erbsünde“. Im Buch der Weisheit kann der physische Tod als solcher nicht als Wirkung der Sünde betrachtet werden (vgl. auch Weish 10,1–2), sondern als natürliches Schicksal des Menschen. Was sich durch die Sünde ändert, ist das Verhältnis des Menschen zum Tod. Siehe dazu auch unten S. 148f. und 187f. eine Erörterung dieses Themas: Die moderne Gesellschaft blendet den Tod aus. Sie erfährt ihn dann aber so, wie es den Gottlosen im Buch der Weisheit widerfährt.

Synthese von Weish 1,16 – 2,24

101

des Sündenfalls dem Menschen verloren ging, sondern als ein Zustand, in dem der Mensch erschaffen wurde. Dennoch besitzt der Mensch die Unverderblichkeit nicht, vielmehr ist er ein Bild des Wesens Gottes, deshalb existiert er in Unverderblichkeit. Der Tod bildet also keinen Teil des Plans Gottes für den Menschen (vgl. 1,14). Der Verfasser entwickelt hier einen Gedanken, der sich keimhaft schon in einigen Texten der LXX findet: Jes 54,16 „ich habe dich nicht erschaffen für den Untergang, so dass du verdirbst“ (ἐγὼ δὲ ἔκτισά σε οὐκ εἰς ἀπώλειαν φθεῖραι) und Jes 44,7 (ἐποίησα ἄνθρωπον εἰς τὸν αἰῶνα), ein Text, der verstanden werden kann als „ich habe den Menschen gemacht für die Ewigkeit“. Der Verfasser beabsichtigt nicht, von einer „naturgegebenen“ Unsterblichkeit des Menschen zu sprechen z.B. im griechischen Sinne der unsterblichen Seele, sondern von einer Bestimmung des ganzen Menschen zum Leben als Geschenk vonseiten des Schöpfers.

Weish 2,24 ist einer der ersten Belege des mit der Schlange in Gen 3 identifizierten διάβολος (vgl. Apk 12,9; 20,2).44

Synthese von Weish 1,16 – 2,24: Die Identität der Gottlosen und die der Gerechten Das Leben (ὁ βίος ἡμῶν, vgl. 2,1b.4c) und der Tod (τελευτή, vgl. 1c.5b) bilden das große Leitthema dieser ersten Rede der Gottlosen. Sie verneinen das Leben, sind aber von der Furcht vor dem Tode geradezu gelähmt. Darum geht es bei der Auseinandersetzung zwischen den Gottlosen und dem Gerechten. Den heutigen Leserinnen und Lesern des Buches der Weisheit wird die Modernität dieses Textes, der ein immer aktuelles Thema behandelt, nicht entgehen: der Sinn des Lebens und die Angst vor dem Tod. Wer sind aber die Gottlosen, die in diesem Kapitel dargestellt werden? Handelt es sich um Schüler Kohelets? Um Sadduzäer? Um Verfolger des Lehrers der Gerechtigkeit von Qumran? Um Epikuräer? Keine dieser Identifizierungen wirkt überzeugend. Höchstens könnten die Gottlosen als Leute betrachtet werden, die einige Lehren epikuräischer Herkunft propagieren, die jedoch nicht zur Rechtfertigung der Gewalttätigkeit angeführt werden können, die den zweiten Teil der Rede der Gottlosen (2,10–20) prägt. Auch lädt die epikuräische Philosophie als solche sicherlich nicht zu einem völlig hemmungslosen Genuss ein.45 44 Nach COLLINS handelt es sich um den ältesten Beleg; vgl. 1 Hen 31,6; Leben Adams und Evas 9–17. Diese Figur kommt in den Auslegungen Philons nicht vor; vgl. COLLINS, Jewish Wisdom, 190; WINSTON, Wisdom of Solomon, 121–123; MARTIN-HOGAN, „The Exegetical Background“, 19–21. 45 Eine Erörterung der verschiedenen Deutungen findet sich in LARCHER, Etudes, 99–101 (Schüler Kohelets?); 114–115; 127–129 (Verfolger des „Lehrers der Gerechtigkeit“ von Qumran?); 213–216 (Epikuräer?); DERS., Sagesse I, 115–117.150 (Sadduzäer?). Zu einer Deutung der Gottlosen als jüdische Apostaten s. GILBERT, „Sagesse“, 103; KOLARCIK, The Ambiguity of Death, 120– 123; SCARPAT, Sapienza I, 138; VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sabiduría, 154; vgl. CONTI, „L’umanesimo ateo“, 438–439; DUPONT-SOMMER, „Les ‚impies‘ du Livre de la Sagesse sont-ils des Epicuriens?“; FICHTNER, „Die Stellung“, 120–122; WEISENGOFF, „The Impious of Wisdom 2“.

102

Synthese von Weish 1,16 – 2,24

Der Ausgangspunkt der Überlegungen der Gottlosen in 2,1–9 ist nicht so sehr die Philosophie oder die hellenistische Kultur, sondern im Gegenteil gerade die Bibel, als deren vorzügliche Kenner die Gottlosen sich erweisen.46 Dabei vermeidet der Verfasser, die Gottlosen den Namen Gottes bzw. das Wort ‚Gott‘ aussprechen zu lassen.47 Zugleich aber ist die Rede der Gottlosen gespickt mit Anspielungen auf die hellenistische kulturelle Umwelt, auf damals modische medizinische Theorien und nicht selten auf die Philosophie, besonders die epikuräische, ohne auch platonische Vorstellungen zu verschmähen, ohne dabei jedoch erkennbar eine philosophische Strömung besonders zu bevorzugen. Demnach sind die Gottlosen jüdische Apostaten, die die Bibel und ihre eigene religiöse Erfahrung in der ganz fatalistischen und pessimistischen Sichtweise griechischer Philosophie und Kultur ihrer Zeit betrachten. Das Phänomen der Apostasie im alexandrinischen Judentum zu beurteilen, ist schwierig.48 Allenfalls kann man daran denken, dass die Gottlosen von Weish 2 mit den jüdischen Apostaten identisch sind, die auch im Werk Philons vorkommen (vgl. Praem. 126; Virt. 182): Sie haben sich von παιδεία und νόμος, d.h. dem mûsar, der weisheitlichen Zucht und Bildung, und der Tora abgewandt (vgl. Weish 2,12). Das Fehlverhalten der Gottlosen liegt nach der Meinung des Verfassers darin, keine Synthese der biblischen Religiosität, deren Tiefe sie nicht zu erfassen vermochten, vorgenommen zu haben mit der Denkart der hellenistischen Kultur, die ja im Buch der Weisheit als solche nie verurteilt wird. In diesem Sinne sind sie wirklich Gottlose, ἀσεβεῖς, Menschen ohne Gott. Vom Werk Philons her ist es möglich, eine weitere Hypothese zu bilden. Philon diskutiert oft mit einigen alexandrinischen Juden, die sich ebenfalls mit der Auslegung der Bibel beschäftigen, jedoch in einer rationalistischen, vom Aristotelismus beeinflussten Weise. Sie unternahmen eine kritische Auslegung der Bibel, die eine offenere Einstellung gegenüber der Kultur der hellenistischen Welt fördern sollte. Philon scheut sich nicht, solche Exegeten als „gottlos“ zu bezeichnen (vgl. Mut. 61; Conf. 2). Seine Polemik bezeugt zumindest das Vorhandensein einer Gruppe von Juden in Alexandria, die die Bibel vorzüglich kannten, aber einen viel „griechischeren“ Zugang wählten im Vergleich mit Autoren wie Philon und erst recht mit dem Verfasser des Buches der Weisheit.49

46 Vgl. KOLARCIK, The Ambiguity of Death, 114–131. Kap. 2 „ist ein Mosaik von biblischen Wendungen und Gedanken, die auf den Kopf gestellt sind und denen widersprochen wird. Der „Epikuräer“ ist ein entmutigter, abgefallener alexandrinischer Jude, der argumentiert und sein Lied schreibt und singt, mit dem er die Regeln und Überzeugungen verhöhnt, die der Gerechte beobachtet und hochhält“ (SCARPAT, Sapienza I, 138). 47 Ebenso wird es DANTE in der Commedia halten: Die Verdammten sprechen im Inferno das Wort „Gott“ nicht aus. 48 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 8 Anm. 27; 36 Anm. 107. Nach BARCLAY (The Jews, 102–112) würde Weish 3–4 die Existenz von Juden bezeugen, die nichtjüdische Frauen heiraten und ihre Kinder nicht zum Judentum erziehen; aber wo ist da die Grenze zur Apostasie? Diese war eigentlich nie ein bestimmender Faktor bei den Juden in Alexandrien. Als Griechen zu leben wurde eher als eine Notwendigkeit empfunden denn als ein wirklicher Verrat. 49 Vgl. NIEHOFF, Jewish Exegesis, 76–129.

Synthese von Weish 1,16 – 2,24

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Wer ist dann der Gerechte, der in diesem Kapitel dargestellt wird? Die erste Eigenschaft, die seine Figur kennzeichnet, ist seine Unbestimmtheit und Allgemeinheit. Der Verfasser scheint keinen bestimmten „Gerechten“ im Sinn zu haben wie z.B. Jeremia oder den „Lehrer der Gerechtigkeit“ von Qumran. Eine Durchsicht der Quellen, deren sich der Verfasser bedient haben kann, erweist sich als aufschlussreich. Ein platonischer Einfluss ist zwar vorhanden, reicht aber nicht aus, um den ganzen Text von Weish 2 zu begründen. Der Kommentar hat wiederholt die Bedeutung des vierten Gottesknechtliedes hervorgehoben.50 Die Studie von J. Schaberg hat sodann die Wichtigkeit von Ps 2 zusammen mit Dtn 7; 11,32–35; 12,1–3 herausgearbeitet, aber auch von Ps 21[22MT]. Weish 2,13 spricht von einem παῖς κυρίου, der ebenfalls auf die Figur von Jes 52,13 verweist.51 Jane Schaberg kommt zu dem Ergebnis, dass die Figur des Gerechten im Buch der Weisheit in seiner Gesamtheit eine weisheitliche Neuinterpretation von Dan 7 ist, bei der den Leiden, die der Gerechte zu ertragen hat, ein größeres Gewicht beigemessen wird. Die apokalyptischen Erwartungen verwandeln sich in eine Art weisheitlicher Anthropologie. Aber ein wichtiger Unterschied zwischen dem Gerechten von Weish 2,10–20 und dem Gottesknecht von Jes 53 besteht darin, dass im Buch der Weisheit der Sühneaspekt der Leiden des Gerechten völlig fehlt. Er leidet nicht für die anderen, und sein Leiden erscheint nicht als Quelle von Heil. Nickelsburg seinerseits ist der Meinung, das Buch der Weisheit und der Text 1 Hen 62–63, der sich auf das Gericht vor dem Menschensohn über die Könige bezieht, gingen auf eine gemeinsame Tradition zurück, die ebenfalls auf Jes 53 verweise; zudem sei das Schema besonders in Weish 2 und 5 typisch für die sog. „wisdom tales“. Das Buch der Weisheit benutze daher sowohl die Jesaja-Tradition als auch weisheitliche Erzählungen über den verfolgten Gerechten.52 Man kann auch an die Figur der leidenden Gerechten im Psalter denken, vgl. Ps 3,6; 16[17MT],7 und 21[22MT],9.20–21. Aber keiner dieser Texte schöpft den ganzen Reichtum der Figur des Gerechten im Buch der Weisheit aus. Er ist die Ausprägung der Figur eines unschuldig verfolgten Gerechten, der auf die ähnlichen Figuren von Jes 53 und Ps 21[22MT] verweist. Er ist Sohn Gottes wie die Figur in Ps 2, ohne allerdings königliche Züge zu tragen. Er verweist in gewissem Maße auf die Figur des „Menschensohnes“ von Dan 7, jedoch ohne die himmlischen Attribute. Auch die Darstellung der Figur des Gerechten in Weish 3–4 ist zu beachten. In diesen beiden Kapiteln spricht der Verfasser über die verherrlichten Gerechten (im Plural: 3,1–9) und über zwei „Einzelfälle“ von Gerechten, die Unfruchtbare (3,13–15) und den Eunuchen (4,7–14). Paolo Bizzeti hat aufgewiesen, dass insbesondere der Text 3,1–9 literarische Berührungspunkte gerade mit 2,17–20 zeigt.53 Die getreuen Gerechten, die für immer leben, werden so in eine enge Verbindung gebracht mit dem Gerechten, der von den Gottlosen unterdrückt und schließlich umgebracht wird.

50 Vgl. SUGGS, „Wisdom of Solomon: a Homily based on the Fourth Servant Song“. 51 Vgl. SCHABERG, „Major Midrashic Traditions in Wisdom 1,1 – 6,25“. 52 „The story of the righteous man in Wisdom is a variation on the model of the wisdom tale, with the framework of the isaianic exaltation scene“, vgl. NICKELSBURG, Resurrection, Immortality and eternal life in intertestamental Judaism, 48–92, zit. 66. 53 Vgl. BIZZETI, Il libro della Sapienza, 55.

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Der Verfasser entwirft also, indem er eine vielfältige biblische Tradition aufgreift, ein sehr reichhaltiges, originelles Bild, in dem der einzelne „Gerechte“ von Weish 2,10–20 alle derartigen Gerechten verkörpert, die nichts anderes sind als die treuen Israeliten, die von Mitjuden unterdrückt und sogar getötet wurden, aber am Ende von Gott her das Leben finden werden, das ihnen genommen wurde.54

54 GIMÉNEZ GONZÁLEZ, „Si el justo es hijo de Dios“, 333. Zur Frage der messianischen Deutung des „Gerechten“ in Weish 2 vgl. ADINOLFI, „Il messianismo“; GILBERT, „Il giusto perseguitato“; LA BONNARDIÈRE, „Le ‘juste’ défié“; SISTI, „La morte violenta del giusto“. LARCHER, Sagesse I, 258–263, enthält eine ausgewogene Übersicht über die Geschichte der Auslegung von Weish 2,17–20.

Weish 3–4: Gerechte und Gottlose zwischen Leben und Tod: Vier Gegenüberstellungen Zur literarischen Struktur von Weish 3–41 Am Ende des vorhergehenden Abschnitts (2,23–24) hat der Verfasser den Gedankengang der Gottlosen abgewiesen. Sie haben nicht begriffen, dass das Ziel des Planes Gottes, nach dem der Mensch geschaffen wurde, das Leben ist. Der stärkste Einwand der Gottlosen war die Nutzlosigkeit der Gerechtigkeit. Der Gerechte bildet nur ein Hindernis, das man aus dem Weg räumen muss, um nach dem Gesetz des Genusses und der Macht leben zu können (2,10–20). In Weish 3–4, der literarischen Mitte des ersten Buchteils, antwortet der Verfasser auf die Einsprüche der Gottlosen wie schon in 1,13–15 und 2,21–24, indem er in Gegenüberstellungen das Schicksal der Gerechten und das der Gottlosen in eher metaphorischer als philosophischer Sprache beschreibt. Warum leidet der Gerechte, während die Gottlosen Erfolg haben? Eine derartige Frage durchzieht in gewisser Weise die ganze Bibel (vgl. Jer 12,1; Ijob 24; Hab 1; Koh 4,1; Ps 72[73MT]; etc.) und wurde in Israel lange Zeit mit dem Gedanken der kollektiven oder individuellen Vergeltung beantwortet: Das Leiden des Menschen wird durch seine Sünde verursacht, der Gottlose wird bestraft, der Gerechte jedoch belohnt werden (vgl. Ps 36[37MT],22). Die Bücher Ijob und Kohelet haben die Unzulänglichkeit einer solchen Erklärung hervorgehoben. Auf der Erde funktioniert das Gesetz der Vergeltung nicht (vgl. Koh 8,11–14). Die Lebenserfahrung scheint den Gottlosen, die sich in Weish 2 vorgestellt haben, recht zu geben: Sie haben immer Erfolg, die Guten dagegen leiden; die Mühe, als Gerechter zu leben, lohnt sich also wirklich nicht! Die große Neuheit der beiden Kapitel Weish 3–4 ist die Ankündigung der den Gerechten verheißenen Belohnung: das ewige Leben bei Gott. Um diese darzustellen, wählt der Erzähler einige bezeichnende Beispiele: den leidenden Gerechten, die unfruchtbare Frau und den Eunuchen, den jung sterbenden Gerechten. In den heiligen Schriften Israels werden nun Leiden, Kinderlosigkeit und nur kurzes Leben im Allgemeinen als Zeichen einer Bestrafung vonseiten Gottes angesehen, während Kinder und Fruchtbarkeit, ebenso wie langes Leben, ein Geschenk Gottes sind.2 Im Buch der Weisheit dagegen ist das wirklich Wertvolle die Tugend, die dem Gerechten die Unsterblichkeit sichert, der Kinderlosen wie dem Zeugungsunfähigen und dem jung Verstorbenen. Der Erfolg einer Person ist zu messen in Bezug auf das ewige Leben. Eine erste literarische Einheit ist in 3,1–12 an der deutlichen inclusio Weish 3,1–12 ἀφρόνων – ἄφρονες (3,2a.12a) zu erkennen. Dazu kommt noch die Entgegenset-

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Vgl. BIZZETI, Libro della Sapienza, 56–60; GILBERT, „Sagesse“, 66–67. Vgl. VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 213–214, für eine Reihe von Hinweisen auf andere Bibelstellen.

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Weish 3–4

zung von 3,4b und 3,11b: ἡ ἐλπὶς αὐτῶν … πλήρης – καὶ κενὴ ἡ ἐλπὶς αὐτῶν. So sticht gleich das Thema der Hoffnung hervor. Diese erste literarische Einheit wiederum lässt sich leicht in zwei Abschnitte unterteilen, die Zäsur befindet sich in 3,10a (οἱ δὲ ἀσεβεῖς). Der erste Abschnitt des Diptychons (3,1–9) beschreibt das Schicksal der Gerechten, das ganz anders ist als die Überlegungen der Gottlosen, die im vorhergehenden Kapitel dargestellt wurden (3,1a: δικαίων δέ …). Der Gegensatz besteht insbesondere zu 2,24 (die Gottlosen gehören zum Anteil des Todes). Das δέ am Anfang hat adversative Bedeutung und schafft einen starken Kontrast zum Vorhergehenden. Ein erster Teil dieses Abschnitts umfasst die Verse 3,1–6, die mit dem Gegensatz Anschein/Wirklichkeit spielen; dazu sind die für 3,2–4 charakteristische antithetische Konstruktion und die Verweise auf das „Sehen“ in 3,2a.4a zu beachten. 3,1– 6 nehmen ironisch das in 2,17 (vgl. später 4,17–18) genannte Motiv des „Sehens“ auf. Dieser Kontrast wird verstärkt durch den sorgfältigen Gebrauch der Tempora: Die Aoriste (3,2–3a) scheinen das Präsens (3,1a.3b.4a-b) negieren zu wollen, wenn man sie aber zu lesen vermag, erweisen sie sich als eine heilbringende Vergangenheit. Das Futur (3,1b.5a) steht da als Gegensatz zur Vergangenheit, wie die Gottlosen sie sehen. Dieser Tempora-Kontrast charakterisiert die beiden Kapitel 3–4. Hinzuweisen ist noch darauf, dass ab 3,7 alle Verben im Futur stehen (vgl. auch 4,17–20). Die inclusio ἐπισκοπῆς – ἐπισκοπή (3,7a.9d) kennzeichnet so den neuen Unterabschnitt 3,7–9,3 in dem es ausschließlich um die Zukunft der Gerechten geht. Die Häufigkeit der Präposition ἐν verleiht dem ganzen Abschnitt noch deutlicher Einheit und dient dazu, die dramatische Umkehrung der Situation, die die Gerechten in Zukunft erwartet, hervorzuheben: 3,1 ἐν χειρὶ θεοῦ 3,2 ἐν ὀφθαλμοῖς ἀφρόνων 3,3 ἐν εἰρήνῃ 3,4 ἐν ὄψει ἀνθρώπων 3,6 ἐν 3,7a ἐν 3,7b ἐν 3,9 ἐν

χωνευτηρίῳ καιρῷ ἐπισκοπῆς καλάμῃ ἀγάπῃ

Andere wichtige Details: Der Gebrauch von ὁράω und die schon erwähnten Bezugnahmen auf das „Sehen“ in 2,17; 3,2.4; 4,14.17.18; 5,2 stellen ein weiteres einheitbildendes Element dar, nicht nur in diesem Abschnitt, sondern für den ganzen Text von Weish 2–5: Die Gottlosen hatten sehen wollen, ob der Gerechte die Wahrheit sagte (2,17). Die Gerechten scheinen tot zu sein in den Augen der Toren (3,2.4), aber am Ende werden die Gottlosen ihre Auffassung ändern müssen (vgl. 4,17; 5,2):4 einerseits die tragische Selbsttäuschung der Gottlosen, andererseits die herrliche Wirklichkeit des Lebens der Gerechten.

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4

Siehe unten zum textkritischen Problem der Zugehörigkeit von 3,9d zum Text. VÍLCHEZ LÍNDEZ (Sapienza, 201) möchte in 3,1–9 eine kleine konzentrische Struktur sehen (A 3,1– 3 – B 3,4–6 – A’ 3,7–9). Das ist möglich, auch wenn es vorzuziehen ist, 3,1–6 als eine Einheit zu betrachten (s.o. die Ausführungen zu den Tempora der Verben). Vgl. BEAUCHAMP, De libro Sapientiae, 63.

Zur literarischen Struktur von Weish 3–4

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3,1–9 nimmt in antithetischer Weise den Wortschatz von 2,17–20 auf: βάσανος in 3,2b verweist zurück auf 2,19a. Aber in 2,19 handelte es sich um die Qualen, die dem Gerechten von den Gottlosen zugefügt werden, während in 3,2 solche Qualen bei den verherrlichten Gerechten gerade ausgeschlossen werden. Das Verb ἐλογίσθη in 3,2b (mit Gott als implizitem Subjekt) verweist zurück auf ἐλογίσαντο in 2,21a (dort sind aber die Gottlosen Subjekt), ähnlich ἐπείρασεν in 3,5b auf πειράσωμεν in 2,17b und πειράζουσιν in 2,24b; δοκίμαζω erscheint in 3,6a und 2,19c. Beide Male wird der Gerechte auf die Probe gestellt, entweder von den Gottlosen oder von Gott, aber mit völlig verschiedenem Ergebnis. Das Motiv der ἐπισκοπή taucht in 2,20b in ironischem Sinn auf, aber nach 3,7.9 wird diese Heimsuchung Gottes tatsächlich stattfinden, die die Gottlosen in Abrede gestellt hatten. Und schließlich, während die Gottlosen die Wahrheit der Worte der Gerechten bezweifelt hatten (εἰ οἱ λόγοι αὐτοῦ ἀληθεῖς; 2,17), werden diese gerade die ἀλήθεια (3,9a) Gottes begreifen.

Der zweite Teil des Diptychons (3,10–12) beschreibt in Antithese zum ersten das Schicksal der Gottlosen. 3,12 bildet das Bindeglied zum folgenden Abschnitt, dessen Themen es schon ankündigt (πονηρά 3,14b und πονηρίας 4,6b; τέκνα 3,16; 4,6 und ἀτεκνία 4,1; zu γένεσις vgl. γενεᾶς 3,19). Ob eine zweite literarische Einheit besteht, ist eher strittig. Nach Addison G. Weish 3,13–19 Wright bildet der Text von Weish 3,13 – 4,6 eine für sich stehende literarische Einheit.5 Tatsächlich ist der Text von 3,13 – 4,6 durch eine Reihe innerer Bezugnahmen gut konstruiert: ἀμίαντος und ἀμιάντων (3,13a; 4,2d); καρπόν und καρπός (3,13c; 3,15a; 4,5b); πονηρά und πονηρίας (viermal: zweimal in Bezug auf die Gottlosen 3,12b; 4,6b und zweimal auf die Gerechten 3,14b.4,14b); außerdem ῥίζα und ῥίζαν (3,15b; 4,3b); τέκνα, ἀτεκνία und nochmals τέκνα (3,16a; 4,1; 4,6a); ἀτέλεστα und ἀτέλεστοι (3,16a; 4,5a; nur hier in der LXX). Jedes dieser Wörter weist auf ein wichtiges Motiv hin: die Reinheit im Gegensatz zur Bosheit, Wurzel und Frucht guter Werke, das Motiv der Nachkommenschaft. Derart wird das Grundthema von Weish 3–4, das Endschicksal der Gerechten, dem der Gottlosen gegenübergestellt. Die genannten Querverbindungen laden dazu ein, 3,13 – 4,6 als eine eigene literarische Einheit zu betrachten. Darüber hinaus gibt es aber auch Anzeichen, die eine weitere Unterteilung in ein zweites und drittes Diptychon nahelegen, d.h. in 3,13– 19 stehen die tugendhafte Kinderlose und der Eunuch den zahlreichen Kindern der Ehebrecher gegenüber, und nach 4,1–6 ist Tugend wertvoller, als viele Kinder zu haben. Die inclusio καρπόν – καρπός (3,13c.15a) legt es nahe, 3,13–15 über die tugendhafte Kinderlose und den vorbildlichen Eunuchen als ersten Teil des zweiten Diptychons (3,13–19) abzugrenzen. Mit dem überraschenden Umschwung in 3,16 (Subjektwechsel in den Plural und adversatives δέ (τέκνα δέ) beginnen sieben Kola, in denen das Gegenbild gezeichnet wird, die Kinder der Gottlosen und ihr trauriges Schicksal (3,16–19). Der Formulierung von 3,19 in ihrer feierlichen Härte und Nachahmung des Rhythmus klassischer Sentenzen bildet offensichtlich den Schluss dieses Abschnitts. Die Wörter κοίτην und κοίτης jeweils am Beginn der Unterabschnitte (3,13b.16b) verklammern als Stichwortanschluss die beiden Teile des Diptychons. Die „Heimsu5

Vgl. WRIGHT, „The Structure“ 171; aber auch BIZZETI, Sapienza, 56, der hervorhebt, dass die Beobachtung der literarischen Einheit von 3,13 – 4,6 das Vorhandensein von zwei unterscheidbaren Diptychen (3,13–19 und 4,1–6) nicht infrage stellt.

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Weish 3–4

chung“ in 3,13c entspricht inhaltlich dem Motiv der διάγνωσις in 3,18b. Strukturell bieten beide Teile des Diptychons jeweils zuerst eine Entfaltung des Themas (3,13–14 und 3,16–18), worauf jeweils ein abschließender Satz folgt (3,15; 3,19). In 4,1–6 lässt sich ein drittes Diptychon ausmachen. Darin bilden die sieben Weish 4,1–6 Kola von 4,1–2 den ersten Abschnitt, der um das Thema Tugend kreist, die wichtiger ist, als viele Kinder zu haben. Das Wort ἀτεκνία (4,1a) nimmt τέκνα von 3,16 wieder auf. 4,3–6 stellen dazu die Antithese dar; vgl. die Quasi-inclusio πολύγονον (4,3a) und γεννώμενα-γονέων (4,6). 4,3 ist vom Vorhergehenden durch den Subjektswechsel und das adversative δέ abgesetzt (πολύγονον δὲ ἀσεβῶν πλῆθος). Im Vergleich mit dem Diptychon davor wird hier nicht der Gegensatz zwischen Unfruchtbarkeit und Fruchtbarkeit erörtert, sondern näherhin zwischen Kinderlosigkeit und großer Kinderzahl. Im Anschluss an die Beurteilung am Anfang (4,1a) und deren Begründung (4,1b) entwickeln die folgenden fünf Kola das Thema in einer Reihe von Entgegensetzungen: παρὰ θεῷ … παρὰ ἀνθρώποις (4,1c); παροῦσαν – ἀπελθοῦσαν (4,2a.b); στεφανηφοροῦσα πομπεύει (in Ewigkeit) – τὸν ἀγῶνα (in der Gegenwart) νικήσασα (4,2c.d). Die schulmäßige Konstruktion zusammen mit dem Wortschatz aus der Welt des Sports lassen diesen Abschnitt wie eine Beweisführung klingen, in deren Zentrum nicht so sehr das Thema der Kinder steht, sondern das der Tugend und der ewigen Erinnerung an sie. Das vierte Diptychon (4,7–20) ist weniger von präzisen literarischen Signalen geWeish 4,7–20 prägt, stellt aber durch seine Konzentration auf das Thema das jung sterbenden Gerechten offensichtlich eine literarische Einheit dar. Eine quasi-inclusio bilden τίμιον und ἄτιμον (4,8a.19a). Der erste Teil des Diptychons ist durch eine deutliche inclusio leichter abzugrenzen: Die Wörter δίκαιος (4,7) mit adversativem δέ, das ein gegenüber dem Vorausgehenden anderes Subjekt bezeichnet, und γῆρας im folgenden Kolon 4,8a kehren beide in 4,16 wieder. Außerdem wird τελευτῆσαι von 4,7 durch τελεσθεῖσα in 4,16b wieder aufgenommen (vgl. das mit dem folgenden Absatz verknüpfende Stichwort τελευτήν in 4,17a) und ähnlich πολυχρόνιον (4,8a) in πολυετές in 4,16b. In dieser Weise lässt sich 4,7–16 als erster, über den jung sterbenden Gerechten handelnder Teil des Diptychons abgrenzen. Aoriste überwiegen. Eine genauere Unterteilung ist nicht aufweisbar, allenfalls kann dieser erste Teil inhaltlich in drei kürzere Unterabschnitte unterteilt werden: 4,7–9. 10–12. 13–15. In 4,17–20 wendet sich der Text des Diptychons dem traurigen Schicksal der Gottlosen zu, die lange leben. Dieser abschließende Teil ist gekennzeichnet durch dreizehn Verben im Futur. Die Stichwortverknüpfung μὴ νοήσαντες (4,14c) – οὐ νοήσουσιν (4,17b) verbindet ihn mit dem vorhergehenden Abschnitt. 4,20 bildet eine Themenankündigung zu Weish 5,1–23. Dieses letzte Diptychon verweist auf das erste und bewirkt so einen tiefen Zusammenhang der Kapitel 3–4. Die „Seelen der Gerechten“ von 3,1 werden zu „seiner Seele“ (ἡ ψυχὴ αὐτοῦ), nämlich des vorzeitig Verstorbenen (4,14a). Die „Gottlosen“ (3,10a und 4,16a) sind diejenigen, die Weisheit und Zucht und so auch den Gerechten „für nichts halten“ (ἐξουθενέω 3,11a und 4,18a); vgl. auch die Beziehung zwischen 3,9c-d und 4,15 (s.o. die Anmerkung zum Text). Das vierte Diptychon greift also den Gegensatz Anschein-Wirklichkeit, auf den schon zu 3,1–9 hingewiesen wurde, auf. Das in 2,17 angekündigte Thema wird in 5,2 abgeschlossen. 4,17.18 verwenden noch zweimal das Verb „sehen“ (ὄψονται) in Bezug auf

Weish 3,1–9

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die, die das Ende des Gerechten sehen werden. Sie werden das sehen, was sie sehen wollten, aber sie werden es nicht verstehen. Das Thema wird erneut aufgenommen im folgenden Kapitel: In 5,2 werden die Gottlosen sich in einer neuen Situation befinden; erst post mortem werden sie das herrliche Ende des Gerechten begreifen. Die Verknüpfung des vierten Diptychons mit dem Beginn des folgenden Abschnitts (Weish 5) ist ebenfalls eng.6 Es sei verwiesen auf τελευτήν in 4,17a und 5,4d; ὁ κύριος in 4,17c und κυρίου in 5,7c; ἐκγελάσεται in 4,18c und εἰς γέλωτα in 5,4a; ἄτιμον in 4,19a und 5,4d; ἀπολεῖται in 4,19g und ἀπωλείας in 5,7a. Es handelt sich um literarische Signale mit einer präzisen theologischen Bedeutung: Die Gottlosen, die den Gerechten verhöhnt hatten und gedacht hatten, das Ende des Gerechten sei ehrlos (5,4), werden selber ein ehrloses Ende finden, und der Herr wird sie auslachen (4,18). Die Gottlosen, die sich an Gesetzlosigkeit und Vernichtung gesättigt hatten (5,7), werden die Erinnerung an sich verschwinden sehen (4,19). In der Mitte beider Szenen, in 5,7 und in 4,17, zeigt sich die Gegenwart des Herrn, dessen Wirken zugunsten des Gerechten (vgl. 4,17) von den Gottlosen nicht begriffen wird (5,7).

Nach den Regeln der griechischen Rhetorik gehören die Beispiele der Kinderlosen und des Eunuchen zur Gattung der παραδείγματα, die in einer demonstratio (ἀπόδειξις) verwendet werden. Nach Aristoteles bildet das Beispiel einen passenden Abschluss eines Beweisgangs (vgl. Rhet. I,2). Wenn man das Diptychon 3,1–12 als thesenartige Darlegung des Schicksals der Gerechten und der Gottlosen betrachtet, können die drei folgenden Diptychen als exempla zu dieser These angesehen werden: Die Kinderlose, der Eunuch und der jung Verstorbene veranschaulichen eindrücklich die Grundthese des Verfassers in Bezug auf das glückliche Endschicksal der Gerechten und das dramatische Ende der Gottlosen.

Erstes Diptychon: Das Schicksal der Gerechten gegenüber dem der Gottlosen (Weish 3,1–12) Das erste Diptychon besteht wiederum aus zwei antithetischen Teilen, die im Folgenden einzeln untersucht werden.

Weish 3,1–9: Die Gerechten sind in der Hand Gottes und werden Völker richten 1 Die Seele der Gerechten aber ist in Gottes Hand, und keine Folter wird sie (die Gerechten) antasten. 2 Sie schienen – in den Augen der Toren – tot zu sein, und ihr Weggang wurde für eine Misshandlung gehalten 6

Vgl. BIZZETI, Il libro della Sapienza, 59.

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Weish 3,1–9

3 und ihr Hingang von uns weg für eine Vernichtung. Sie aber sind im Frieden. 4 Auch wenn sie nämlich in der Sicht der Menschen bestraft wurden, war ihre Hoffnung voll Unsterblichkeit. 5 Und nachdem sie ein wenig gezüchtigt wurden, werden sie große Wohltaten erhalten; denn Gott hat sie erprobt und fand sie seiner würdig. 6 Wie Gold im Schmelzofen hat er sie auf die Probe gestellt, und wie ein Ganzopfer hat er sie angenommen. 7 Und zur Zeit der Heimsuchung werden sie aufleuchten und wie Funken durch ein Stoppelfeld hindurchfahren. 8 Sie werden Völker richten und über Nationen herrschen, und über sie wird König sein der Herr in alle Ewigkeit. 9 Die auf ihn ihr Vertrauen gesetzt haben, werden die Wahrheit verstehen, und die in der Liebe treu waren, werden ihm nahe bleiben. Denn Gnade und Erbarmen (werden) seinen Heiligen (zuteilwerden) und Heimsuchung seinen Erwählten.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung Der Ausdruck δικαίων ψυχαί ist singularisch übersetzt, der Plural ψυχαί ist distributiv zu verstehen. Die Betonung liegt auf den „Gerechten“, wie der maskuline Artikel mit pronominaler Bedeutung (οἱ δέ) in 3,3b zeigt. Demnach ist das Pronomen αὐτῶν in 3,1b auf die Gerechten zu beziehen, nicht auf ihre „Seelen“. Für den Begriff ψυχή vgl. die Erläuterung zu 1,4. Der Verfasser betrachtet die Seele nicht als vom Körper getrenntes und autonomes Wesen. Auch wenn er das Ich der Person der ψυχή zuzuweisen scheint, sind es doch die Gerechten, in der Ganzheit ihrer Person betrachtet, die sich in der Hand Gottes befinden. Zur Bedeutung βάσανος „Folter, Qual“, hier in einem stark eschatologischen Sinn, s.o. zu 2,19 und vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 119. 2–3 Die Perfektform τεθνάναι bezeichnet keinen Vorgang („sie schienen zu sterben“), sondern einen erreichten, andauernden Zustand („sie schienen tot zu sein“). Der Text beabsichtigt also nicht, den physischen Tod und die Leiden des Gerechten in Abrede zu stellen, sondern die Wertung von all dem in der Augen der Toren. Das Wort κάκωσις wurde vielleicht angeregt durch Jes 53,4LXX, wo es eine aktive Bedeutung hat („Zufügung von Schlimmem, Misshandlung, Züchtigung“). Der Kontext ist ähnlich: Die Meinung der Wir-Gruppe über den Gottesknecht ist, er befinde sich ἐν πόνῳ „in Not“, ἐν πλέγει „unter einem (Schicksals-)Schlag“, ἐν κακώσει „in Misshandlung“, unterdrückt von den Menschen und gezüchtigt von Gott. Vgl. auch Ex 3,7.17LXX, wo die LXX das hebräische Wort ‫„ עני‬Elend, Unterdrückungssituation“ durch „Misshandlung“ (κάκωσις) wiedergibt. LARCHER (Sagesse I, 276) zieht hier jedoch einen passiven Sinn von κάκωσις vor („malheur“). Das Wort σύντριμμα „Zerschlagung, Vernichtung“ hat in der LXX eine sehr kraftvolle Bedeutung; vgl. die Beispiele in SCARPAT, Sapienza I, 231, und LARCHER, Sagesse I, 277. Das Verb συντρίβω insbesondere wird in der LXX häufig mit Bezug auf die Vernichtung der Feinde verwendet. In Lev 21,19 bezeichnet σύντριμμα den Bruch (eines Fußes

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Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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bzw. einer Hand), in Ps 2,9 wird συντρίβω für das Zerschmettern von Tongeschirr gebraucht. 4–5 Die Präposition ἐάν mit dem Konjunktiv Aorist (κολασθῶσιν) kann eine iterative Bedeutung haben (vgl. BDR § 373,1) „jedesmal, wenn sie bestraft werden“ (so SCARPAT), oder aber sich auf jeweils eine einzelne Begebenheit beziehen ohne eine nähere zeitliche Festlegung (vgl. BDR § 373,2) „auch wenn sie bestraft wurden“ in Bezug auf den inzwischen eingetretenen Tod der Gerechten. Was hier den Verfasser interessiert, ist nicht so sehr der zeitliche Rahmen der Hoffnung, als vielmehr ihr Inhalt. Es handelt sich hier also um einen Konzessivsatz, in dessen Hauptsatz (Apodosis) das Verb im Imperfekt zu denken ist: „auch wenn…, (war) ihre Hoffnung voll Unsterblichkeit“ und nicht „jedesmal, wenn …, (war) ihre Hoffnung auf Unsterblichkeit gefüllt“. 6 Der Aorist ἐδοκίμασεν hat gnomische Bedeutung. Das Verb bedeutet „Metalle prüfen“ und wird in diesem Sinne häufig in der klassischen Welt wie auch in der LXX verwendet, insbesondere in weisheitlichen Kontexten: Ijob 34,3; Ps 65[66MT],10; Spr 17,3; Sir 2,5; Sach 13,9; vgl. Weish 1,3; 2,19. Das Wort χωνευτήριον „Schmelzofen (für Metall)“ kommt nur in der LXX vor, vgl. 1Kön 8,51; Sach 11,13; Mal 3,2. Der Ausdruck ὁλοκάρπωμα θυσίας bietet Schwierigkeiten. Das erste Wort bezeichnet ein pflanzliches Opfer (καρπός), das zur Verbrennung bestimmt ist. In der LXX werden ὁλοκάρπωμα und ὁλοκαύτωμα ununterschieden verwendet (die Handschriften V und 46 bieten in Weish 3,6b ὁλοκαύτωμα anstelle von ὁλοκάρπωμα). Das zweite Wort θυσία bezeichnet ein Schlachtopfer. Der Genitiv ist als ein Genitiv der Identität zu verstehen wie in Weish 1,10; 1,12; 2,12 u. ö. SCARPAT (Sapienza I, 234) möchte vom Text von Lat her (quasi holocausta hostiam acceptit illos) lieber den Akkusativ θυσίαν lesen. Obwohl eine solche Konjektur den Text vereinfacht, ist sie nicht nötig, vgl. SCHENKER, „Le sacrifice de l’holocauste“, 352 Anm. 6. 7 Das Verb ἀναλάμπω, hapax im Buch der Weisheit, hat eine eschatologische Bedeutung wie ἐκλάμπω im NT in Mt 13,43. Die von André DUPONT-SOMMER, De l’immortalité astrale dans la Sagesse de Salomon“, REG 62 (1949) 80–87, vorgeschlagene Konjektur ἐν γαλαξίῃ anstelle von ἐν καλάμῃ ist abzuweisen (vgl. LARCHER, Etudes, 319 Anm. 2). 9 Das Partizip Perfekt mit bestimmtem Artikel (οἱ πεποιθότες) hat die Bedeutung eines Substantivs und bezeichnet zugleich ein Tun in der Vergangenheit, dessen Wirkungen in der Gegenwart andauern: „diejenigen, die vertraut haben und weiterhin vertrauen“. Der Ausdruck οἱ πεποιθότες wird auch durch das nachfolgende οἱ πιστοί erläutert. Dies ist einer der ersten Belege eines später klassisch gewordenen Gebrauchs für „die Gläubigen“. Nach LARCHER (Sagesse I, 290–291) ist es aber vozuziehen, für den Ausdruck οἱ πιστοί bei einer weniger spezifischen Bedeutung zu bleiben: „diejenigen, die standhaft, treu bleiben“ in den Prüfungen, vgl. Sir 44,20; 1Makk 2,52. Anders SCARPAT, Sapienza I, 238: Er verbindet : οἱ πιστοί mit ἐν ἀγάπῃ, wie es der Parallelismus mit dem vorhergehenden Kolon verlangt. Es handelt sich demnach nicht um die „Treuen“ im Allgemeinen, sondern um die, die in der Liebe treu sind. Das Verb προσμένω (sonst in der LXX nur noch in RiA 3,25; TobS 2,2; 3Makk 7,17) kann, wenn ihm eine Personenbezeichnung im Dativ folgt, bedeuten „jemandem nahe bleiben, mit jemandem vereint bleiben, vgl. Apg 11,23: προσμένω τῷ κυρίῳ. Ein schwierigeres Textproblem stellt 3,9c(d) dar. Die Textüberlieferung schwankt zwischen einem kurzen und einem langen Text: ὅτι χάρις καὶ ἔλεος ἐν τοῖς ἐκλεκτοῖς αὐτοῦ (B; 7 Minuskeln; Lat quoniam donum et pax electis eius; Sah; Aeth; Edition RAHLFS). ὅτι χάρις καὶ ἔλεος ἐν τοῖς ἐκλεκτοῖς αὐτοῦ καὶ ἐπισκοπὴ ἐν τοῖς ὁσίοις αὐτοῦ (A; 16 Minuskeln; Syr; Arab). ὅτι χάρις καὶ ἔλεος ἐν τοῖς ὁσίοις αὐτοῦ καὶ ἐπισκοπὴ ἐν τοῖς ἐκλεκτοῖς αὐτοῦ (S; V; 8 Minuskeln; Origenes- und Lukian-Rezensionen; Arm; Edition ZIEGLER).

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Weish 3,1–9 Bei dem in der Edition von J. ZIEGLER vorgeschlagenen Text ist zu beachten, dass 3,9cd später in 4,15a-b nur wenig verändert wiederholt werden (in 4,15a ἐν τοῖς ἐκλεκτοῖς, in 4,15b ἐν τοῖς ὁσίοις). ZIEGLER setzte deshalb 4,15a-b in eckige Klammern. LARCHER (Sagesse I, 292–293) möchte 3,9c als ursprünglich betrachten und 3,9d als Hinzufügung aufgrund von 4,15 (d.h. als Versuch der Abschreiber, ein Parallelkolon zu 3,9a zu schaffen) und entscheidet sich für den kurzen Text. Außerdem erscheint LARCHER die Erwähnung der „Heimsuchung“ nach 3,7a verdächtig. Die gleiche Auffassung vertritt auch SCARPAT (Sapienza I, 289), der aber hinzufügt, er halte 4,15 für ursprünglich, und streicht nur 3,9d. Zugunsten des Textes von ZIEGLER, für den sich auch WINSTON, VÍLCHEZ LÍNDEZ, HÜBNER und andere entschieden haben, spricht die Möglichkeit, gerade ἐπισκοπή als inclusio mit 3,7a zu betrachten. Mit gewissem Zögern wählt dieser Kommentar den Text von ZIEGLER, der ja teilweise auch vom Codex Alexandrinus gestützt wird. Dann bezieht sich das Schlusskolon 3,9d, während 3,9c auf das Gesamt von 3,1–9 schaut, genauer auf die in 3,7–9b beschriebene Verherrlichung der Gerechten. Siehe auch unten die Anmerkung zu 4,15.

Synchrone Analyse 3,1 Der Reflexion in 2,21–24 stellt 3,1 eine freudige und hoffnungsvolle Ankündigung

gegenüber: Die Gerechten sind in der Hand Gottes, keine Qual wird sie anrühren. Angesichts von 3,2–3 ist deutlich, dass die Rede von den verstorbenen Gerechten ist. Die Erwähnung der „Seelen“ verweist nicht auf die Existenz von etwas Autonomem, das den Tod überlebt (s.o.). Der ganze Mensch (οἱ δέ 3,3b) ist in der Hand Gottes. Der Verfasser bleibt jedoch bezüglich des Endschicksals der Gerechten im Einzelnen unbestimmt; diese Zurückhaltung charakterisiert den ganzen Text von Weish 3,1–9. Zu beachten ist, wie hier von dem „Gerechten“ des vorhergehenden Kapitels, der durch die Gottlosen unterdrückt wurde, übergegangen wird zu den als Gruppe verstandenen „Gerechten“. Der in Kap. 2 vorgestellte Gerechte ist demnach eine emblematische Figur, die eine ganze Gruppe von „Gerechten“ darstellt, d.h. die treuen Israeliten. Das zweite Kolon beschreibt den den Gerechten gewährten Schutz Gottes als Fernbleiben jeder „Folter“ (βάσανος). Welche Foltern sind gemeint? Die des gegenwärtigen Lebens oder die post mortem den Gottlosen von Gott zugefügten? Von 2,19 her kann man an die Foltern und Qualen denken, die der Gottlose dem Gerechten antut, der nun endlich in der Hand Gottes dem Machtbereich des Gottlosen entzogen ist. Aber in Weish 17,12 erscheint βάσανος wie in 3,1–9 in einem eschatologischen Kontext. Deshalb ist an die Höllenqualen zu denken, die den Gottlosen im Hades erwarten (vgl. Weish 4,19; Lk 16,28), denen der Gerechte jedoch entgehen wird. Die Verbform οὐ μὴ ἅψηται (οὐ μή mit Konj. Aor.) ist futurisch zu verstehen: Keine Folter „wird sie berühren“. Vielleicht ist auch schon die Deutung des lateinischen Textes, der βάσανος mit tormentum mortis wiedergibt, wobei mortis wohl einer erläuternde Zufügung darstellt.7 3,2–3 In diesen beiden Versen ist das Spiel Anschein (3,2a.b.3a) / Wirklichkeit (3,3b) offensichtlich. Die sorgfältige chiastische Konstruktion ist bemerkenswert. Der 7

Zur Deutung dieses Kolons bei den Kirchenvätern s. LARCHER, Sagesse I, 275. Die katholische Liturgie hat es oft auf die christlichen Märtyrer angewandt, vgl. SISTI, Sapienza, 136–137.

Synchrone Analyse

113

physische Tod erscheint in den Augen der Toren als eine Misshandlung, eine Zerstörung. Die Wörter κάκωσις und σύντριμμα verweisen auf den Tod nicht nur als endgültige Vernichtung des Menschen, sondern auch als eine paradoxe Bestrafung, die der Gerechte erleidet trotz seiner Gerechtigkeit (vgl. Jes 53,4b). Wörter wie „Aufbruch, Abreise“ werden auch heute noch in euphemistischem Sinn verwendet, um das bedrückende Phänomen „Tod“ zu umschreiben. Aber hier kommt die ganze Ironie des Verfassers zu Tage. Der Tod ist für die Gottlosen ein „Weggang“, denn sie glauben nicht an ein Leben, das über den Tod noch hinausgeht. Für die Gerechten hingegen ist der Tod eher ein „Aufbruch“, ein „Auszug“, ein Exodus zu einer Reise, die nicht ins Nichts führt, sondern ihr Ziel bei Gott hat. Die Gottlosen sind hier die „Toren“ geworden (ἄφρονες, vgl. Weish 1,3; 5,4; 12,24; 14,11; 15,5.14), d.h. diejenigen, die bei der Meinung verharren (ἔδοξαν), die sie sich von der materiellen Ansicht der Dinge her (ἐν ὀφθαλμοῖς) gebildet haben. Sie überlassen sich damit falschen Überlegungen (ἐλογίσθη); λογίζομαι verweist auf die unvernünftigen Gedanken der Gottlosen, die in 1,16 und 2,21 genannt wurden, und verbindet so diesen Text eng mit dem ganzen vorhergehenden Abschnitt. Was wirklich beim Tod der Gerechten eintritt, drückt der Verfasser in 3,3b aus: Sie sind im Frieden. Die Verwendung des Präsens (εἰσίν) nach den Aoristen in 3,2 weist auf einen andauernden Zustand hin, in dem die Gerechten sich befinden. 3,4 zeigt eine weitere Stufe an (καὶ γάρ) und verwendet erneut den Gegensatz Anschein-Wirklichkeit. In der oberflächlichen Sehweise der Menschen (ἐν ὄψει ἀνθρώπων) wurden die verstorbenen Gerechten als Empfänger einer Bestrafung betrachtet vonseiten des Gottes, in den sie ihr ganzes Vertrauen gesetzt hatten. Die Verwendung von κολάζω ist aufschlussreich. In Weish 11,5.8.16; 12,14.15.27; 14,10; 16,1.9; 18,11.22 wird κολάζω ausschließlich dazu verwendet, die Bestrafung der Gottlosen vonseiten Gottes zu bezeichnen – anders nur hier in 3,4 im Denken der Gottlosen in Bezug auf die Gerechten. Die Gottlosen sind also der Meinung, der Gerechte werde, bei all seiner vorgeblichen Gerechtigkeit, gerade von dem Gott bestraft, auf den er so fest vertraut hatte. Diese Verse wenden sich dem großen Rätsel des Leidens der Gerechten zu und betrachten es in dreifacher Weise: als im Vergleich zu den empfangenen Wohltaten maßvolle Zurechtweisung durch Gott (3,5a), als Prüfung (3,5b-6a), aber auch als Opfer (3,6b). Mit dem Verb παιδεύω wird ein schon am Beginn des Buches beobachtetes Thema aufgegriffen (s. den Kommentar zu 1,5a), die παιδεία. Aber im Kontext von 3,5a verweist παιδεύω eher auf die Zurechtweisung, die Gott seinem Volk erteilt, die sich sehr wohl unterscheidet vom κωλάζειν, der den Gottlosen vorbehaltenen Bestrafung (vgl. 11,8–9 und 12,20–22). Der Gedanke einer „kleinen“ Zurechtweisung (ὀλίγα) erinnert an Jes 26,16LXX (ἐν θλίψει μικρᾷ ἡ παιδεία σου ἡμῖν). Was für die Gottlosen eine Bestrafung zu sein scheint, d.h. der Tod des Gerechten, wird aus der Sicht Gottes eine Rettungstat; das Leiden des Gerechten wird als geringfügige, notwendige Zurechtweisung dargestellt, die jedoch einer größeren Wohltat vorangeht, nämlich der Unsterblichkeit (vgl. die Verwendung von εὐεργετέω in Weish 11,5.13; 16,2 und den zugehörigen Kommentar). Ein Aspekt dieser Zurechtweisung ist die „Prüfung“, die Gott den ihm Treuen vorbehält, um ihre Treue zu erproben (vgl. Gen 22,1; Ex 15,25; Jdt 8,25–26 u. ö.). Sie hebt sich ab von der Prüfung, die die Gottlosen beabsichtigten (vgl. 2,17); beide

3,4

3,5–6

3,5a

3,5b-6a

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Weish 3,1–9

Male kehrt das Verb πειράζω wieder, (vgl. auch 2,24b, dort jedoch in einer anderen Bedeutung). In Weish 3,5c ist das Ergebnis der Prüfung der Gerechten, dass sie Gottes „würdig“ befunden wurden. Das Adjektiv ἄξιος wird vom Verfasser gerne verwendet8 und gewinnt hier den Beiklang von Nähe und Zugehörigkeit eher als von Verdienthaben. Der Gerechte ist „würdig“, in eine innige Beziehung mit Gott zu treten, in gewisser Weise am Leben Gottes selbst teilzunehmen (vgl. 3,9). 3,6a bleibt beim Thema von 3,5bc. Das Leiden wird mit dem Bild der Metallprüfung beschrieben, wie es mehrfach in der Bibel geschieht (s.o. die Anmerkung zum Text). Die Gerechten werden als passiv beschrieben, während das Handeln Gottes an ihnen mit Wucht hervortritt. In 3,6b wird das Leben des verfolgten Gerechten beschrieben als ein Ganzop3,6b fer, das Gott wohlgefällt; damit erscheint ein in mehrfacher Hinsicht neuer Gedanke (s. dazu oben die Anmerkung zum Text und unten bei der diachronen Analyse). Das Verb προσδέχομαι „aufnehmen“ hat hier den Beiklang „die Annahme zulassen, gestatten“, vgl. Hos 8,13; Am 5,22; Mi 6,7; Mal 1,10.13, wo das Verb für die zustimmende Annahme bzw. in verneinter Form für die Ablehnung der Opfer verwendet wird. Der Aorist bezeichnet eine schon vorgenommene Handlung, die auf den Tod des Gerechten folgt. Der verfolgte Gerechte erfüllt mit seinem Tod eine Opferhandlung, die dem Herrn wohlgefällt.9 Von 3,7 bis 3,9 stehen die Verben im Futur. Infolge des Eingreifens Gottes hört 3,7 das passive Verhalten der Gerechten auf, sie gehen in eine neue, herrliche Phase ihres Lebens ein, während der Verfasser in 3,1–6 vor allem ihren Tod (Verben im Aorist) oder ihren Zustand unmittelbar nach ihrem Tod (Verben im Präsens bzw. Nominalsätze) beschrieb; s.o. zur literarischen Struktur. Das Wort ἐπισκοπή kam schon in 2,20 vor (s.o. den Kommentar dazu). Der Ausdruck ἐν καιρῷ ἐπισκοπῆς αὐτῶν findet sich in Jer 6,15 und 10,15 in einem nichteschatologischen Kontext in Bezug auf ein Gerichtshandeln Gottes gegenüber den Gottlosen. In Weish 3,7 bezieht sich das Pronomen αὐτῶν jedoch zweifellos auf die Gerechten von Weish 3,1–6. Der Verfasser könnte auf Jes 24,22LXX anspielen, wo die „Heimsuchung“ durch Gott eher auf eine eschatologische Ebene verlegt ist. Im Kontext von 3,7–9 jedenfalls verweist die „Heimsuchung“ auf ein eschatologisches Eingreifen Gottes zugunsten der Gerechten nach ihrem Tode (vgl. auch Weish 3,13 ἐν ἐπισκοπῇ ψυχῶν), ein Eingreifen, dessen Wirkungen 3,7–9 mit eindrücklichen Bildern umschreibt, deren Deutung eine sorgfältige Beachtung der möglichen biblischen Quellen erfordert, die verwendet und auch vom Verfasser modifiziert wurden, s. u. bei der diachronen Analyse. Das Schicksal der verherrlichten Gerechten wird als eine Königsherrschaft 3,8 über Völker und Nationen beschrieben. Die Wörter λαοί und ἔθνη werden dabei synonym verwendet; κρίνω „richten, regieren“ (vgl. 1,1) und κρατέω „Macht haben, herrschen“ sind in positivem Sinne verstanden wie die Königsherrschaft Got-

8 9

Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 218. Zu dieser Verbindung von Opfer und Martyrium der Gerechten, die von den Kommentatoren wenig beachtet wurde, s. SCHENKER, „Et comme le sacrifice de l’holocauste il les agréa“; vgl. die Ähnlichkeit damit im Martyrium Polycarpi XIV, 1–2.

Synchrone Analyse

115

tes über die Gerechten (3,8b).10 Der Text erläutert nicht die genaue Reichweite dieser Herrschaft der Gerechten über die anderen Völker, sie ist aber eng verknüpft mit der Königsherrschaft, die Gott über die Gerechten ausübt (vgl. Dan 7,18.27). Es bleiben einige nur schwer lösbare Probleme: Sind die Gerechten hier identisch mit dem Volk Israel, das eine herausragende Rolle beim künftigen Vorhaben Gottes mit der Welt haben wird? Ist Israel also Mittler der Königsherrschaft Gottes über die anderen Völker? Welche Art von Königtum der Gerechten wird hier vorgestellt? Ein ausschließlich eschatologisches oder eines mit noch einem gewissen Anhaltspunkt in der Geschichte? Genaue Antworten darauf sind schwierig. Der Verfasser will möglicherweise ausdrücken, dass die menschliche Geschichte in eine neue Phase eintreten wird: die Königsherrschaft Gottes über die Welt, die mittels der Herrschaft der Gerechten ausgeübt wird, die in irgendeiner Weise am Königtum Gottes teilhaben. Das lässt vermuten, dass die „Heimsuchung“, von der 3,7–9 spricht, nicht nur das individuelle Gericht bezeichnet, das Gott über die Menschen im jeweiligen Augenblick ihres Todes hält, sondern ein ausgedehnteres Geschehen, das der Vorstellung eines Endgerichts nahekommt. Zur Zusammenfassung des ersten Abschnitts des Diptychons, der über das 3,9 Schicksal der Gerechten handelte, verknüpft das Buch der Weisheit hier das irdische Leben der Gerechten (ihre Treue) sehr eng mit ihrer Glückseligkeit, die sie als Geschenk von Gott jenseits des Todes erhalten werden. Die auf ihn ihr Vertrauen gesetzt haben, werden die Wahrheit verstehen.11 Die Gerechten sind vor allem diejenigen, die immer ihr Vertrauen auf den Herrn gesetzt haben. Ihr Lohn wird sein, dass sie die Wahrheit verstehen (συνίημι „begreifen, eindringend verstehen“). Das Wort ἀλήθεια ist hier nicht in einem gnostischen oder platonischen, sondern in einem zutiefst biblischen Sinn zu verstehen.12 Man kann dabei an die „Wahrheit“ dessen denken, was der Gerechte sagte, als er von den Gottlosen angeklagt wurde, er beanspruche, „Sohn Gottes“ zu sein. Von dorther betrachtet, bedeutet ‚die Wahrheit verstehen‘, zu verstehen, dass man auf dem rechten Weg ist. Nahe bei der Vorstellung von Treue und Gerechtigkeit (vgl. Weish 5,6) wird die Wahrheit hier in Beziehung zur Liebe, zur Gnade und zur Barmherzigkeit gesetzt (3,9b-c). ‚Die Wahrheit verstehen‘ kann man auch deuten in Bezug auf die Erkenntnis der geheimnisvollen Wege der göttlichen Barmherzigkeit, die dem Gerechten enthüllt werden, eine Wahrheit also im eher existenziellen als im ontologischen Sinne.13 ‚Die Wahrheit verstehen‘ bedeutet dann die Logik der Gottlosen verlassen, die auf den Anschein gegründet ist, und begreifen, was die „Geheimnisse“ Gottes sind (vgl. 2,20), gerade in Bezug auf die Rettung des Gerechten. Die in der Liebe treu waren, werden ihm nahe bleiben. Das Substantiv ἀγάπη, ist in der LXX außer im Hohenlied selten und kommt im Buch der Weisheit nur noch in 6,17–18 vor. Neunmal dagegen verwendet das Buch das Verb ἀγαπάω (vgl. den 10 SCARPAT (Sapienza I, 236) sieht hier eine polemische Anspielung auf die römische Herrschaft. 11 Zum Gebrauch von ἀλήθεια ohne Artikel wie auch sonst bei abstrakten Substantiven s. SCARPAT, Sapienza I, 237. 12 Vgl. DE LA POTTERIE, Ignace, „La verità in san Giovanni“, in: San Giovanni: Atti della XVII Settimana Biblica (Brescia: Paideia 1964), 123–144. 13 Vgl. HÜBNER, Weisheit, 53–54.

116

Weish 3,1–9

Kommentar zu 1,1), und zwar immer in deutlich theologischem Kontext. Die „Treuen“ sind diejenigen, die auf die Liebe vertrauen, die Gott zu ihnen hegt, und die unerschütterlich in dieser Liebe bleiben (s.o. die Anmerkungen zum Text). Die mehrdeutige Stellung von ἀγάπη mitten im Kolon lässt jedoch auch eine Anspielung auf jene Liebe annehmen, die der Mensch Gott entgegenbringen soll, die Liebe, die im ‚Höre Israel!‘ verlangt wird (Dtn 6,4-6). In Weish 3,9c-d werden außer der schon 3,7a erwähnten ἐπισκοπή auch die Gnade und das Erbarmen Gottes (χάρις καὶ ἔλεος) gegenüber den „Heiligen“ (ὅσιοι) und den „Erwählten“ (ἐκλεκτοί) genannt. Im Kontext von Weish 3,7–9 erläutern χάρις und ἔλεος den Inhalt der „Heimsuchung“ durch Gott. Das Handeln Gottes an den Gerechten ist geschenkhaft und erbarmungsvoll, Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk. Dieselben Gerechten werden hier ὅσιοι genannt, ein Ausdruck, der im Buch der Weisheit eher auf die Treue Gottes verweist als auf die des Menschen.14 Sie werden hier auch als „seine Erwählten“ bezeichnet. Damit soll nicht die Zugehörigkeit der Gerechten zu einem einzelnen Volk, das von Gott erwählt wurde (Israel), betont werden, auch sind damit die Gerechten nicht als eine besondere Gruppe innerhalb dieses Volkes gemeint. Vielmehr will der Verfasser die freie Initiative Gottes hervorheben, der die Gerechten „erwählt“ und denen er seine Liebe schenkt.15 Auf diese Weise sollen 3,9c und das Schlusskolon 3,9d (falls es authentisch ist, s.o.) dem Eindruck entgegenwirken, dass die Rettung am Ende ein Ergebnis menschlicher Anstrengungen sei. Sie ist vielmehr ein reines Geschenk Gottes.

Diachrone Analyse 3,1 „In der Hand Gottes sein“ bezeichnet im biblischen Sprachgebrauch einfach „sich

unter Gottes Schutz befinden“: Jes 51,16; Ps 88[89MT],22; Ijob 12,10, vgl. Weish 7,16; 19,8. In einigen Texten kann die Wendung jedoch auch mit einem negativen Beiklang verstanden werden, so z.B. in 2Chr 32,13–15 (die Hand Sanheribs); Ijob 19,21; Koh 9,1 (in diskutiertem Sinne). Der Verfasser macht keine weiteren Angaben, auch wenn man in dieser Aussage eine indirekte Antwort auf die in Ps 48[49MT],16 ausgedrückte Hoffnung sehen kann, wo der Psalmist hofft, „aus der Hand des Hades“ befreit zu werden; demgegenüber ist der Gerechte in der Hand Gottes, er ist durch ihn geschützt. Die Begriffe ἔξοδος und πορεία als Umschreibungen des Todes sind nicht zufäl3,2–3 lig gewählt. Zu ἔξοδος vgl. Weish 7,6 und Sir 38,23; Lk 9,31; 2Petr 1,15. πορεία „Reise“ wird schon klassisch für das Sterben verwendet (vgl. Platon, Phaidon 115a: τὴν τοῦ ᾅδου πορείαν „die Reise in den Hades“), Verben des Reisens und Weggehens auch in der LXX: vgl. Koh 12,5 (ἐπορεύθη); Gen 15,15 (ἀπελεύσῃ), vgl. πορεύεται in Lk 22,22.

14 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 205–206 und den Kommentar zu Weish 18,1. 15 In dieser eschatologischen Perspektive ist der Gebrauch der Bezeichnung ἐκλεκτοί in apokalyptischen Kreisen üblich, vgl. SCHRENK, Gottlob, ἐκλεκτός, ThWNT IV, 186–198; LARCHER, Sagesse I, 294.

Diachrone Analyse

117

In dem Wort εἰρήνη ist sicher der Bedeutungsumfang des hebräischen Wortes ׁ einbegriffen, ein Zustand der Ruhe, der Harmonie, des Wohlbefindens, der ‫שלום‬ Zufriedenheit, den Gott dem Menschen gewährt und der nicht selten Beiklänge eschatologischer Art annimmt (vgl. den bereits erwähnten Text von Jes 57,1–2LXX, auch Ps 4,9LXX; Sir 44,14). Aber es ist schwierig, die ganze Tragweite dieses Friedens, in dem die Gerechten sich befinden, noch genauer zu bestimmen. Der Verfasser wahrt auch weiterhin eine große Zurückhaltung. Im Gegensatz zu den Gottlosen haben die Gerechten jedoch eine ἐλπὶς ἀθα- 3,4 νασίας πλήρης. Der Text 3,4b hebt vor allem das Wort ἐλπίς hervor, das in der LXX einen positiven Sinn hat; oft gibt es Wörter der hebräischen Wurzel ‫ קוה‬wieder und verweist so einerseits auf die Erwartung materieller Güter, die oft enttäuscht wird, andererseits auf eine tiefe Beziehung zu Gott.16 Das Buch Ijob betont mehrfach die Hoffnungslosigkeit des Menschen, vgl. Ijob 17,15: ποῦ οὖν μου ἔτι ἐστὶν ἡ ἐλπίς; vgl. auch Ijob 14,7 und 19,10. In diesen Texten beteuert der leidende Ijob, in diesem Leben keine Hoffnung mehr haben zu können; in Ijob 17,16 scheint die einzige Alternative für ihn zu sein, in den Hades hinabzusteigen, in die Totenwelt, aus der es keine Rückkehr gibt. Weish 3,4b kann als eine Antwort auf die Zweifel und Fragen Ijobs gelesen werden. Es gibt für die Gerechten eine „Hoffnung“, die wirklich „voll Unsterblichkeit“ ist, eine wirkliche Hoffnung auf Leben. Chrysostome Larcher meint, dass der Verfasser sich eines Wortes (ἐλπίς) bedient habe, das schon bei Platon eine Spannung auf Unsterblichkeit hin bezeichne (der Philosoph ist εὔελπις angesichts des Todes, vgl. Phaidon 64a), es jedoch mit dem religiösen Gehalt gefüllt habe, den das Wort in der LXX besitze, z.B. in Ps 13[14MT],6: κύριος ἐλπὶς αὐτoυ̑ ἐστιν.17 Dasselbe geschieht auch bei Philon, wo die Hoffnung beschrieben wird als ἀγαθῶν προσδοκία „Erwartung guter Dinge“ (Abr. 14). Dies ist die ἀγαθὴ ἐλπίς der Griechen, jedoch neu gedeutet als Erwartung der Belohnung durch Gott wie die Erwartung der Rettung, die Gott seinem Volk aus ausweglosen Situationen oft hat zukommen lassen (vgl. Legat. 196). Bei Philon hat die Hoffnung einen ausgesprochen religiösen Inhalt, der im Buch der Weisheit noch mehr hervorgehoben wird. Denn die Hoffnung ist die Erwartung des eschatologischen Eingreifens Gottes, die der leeren Hoffnung des Gottlosen gegenübersteht (vgl. Weish 3,11.18; 5,14; 16,29), die auf tote Götzenbilder vertraut (Weish 13,10; 15,6). Es bleibt noch die Bedeutung von ἀθανασία in Beziehung auf die Hoffnung zu Unsterblichkeit klären.18 Das Thema Unsterblichkeit spiegelt der griechischen Philosophie eigene Fragestellungen wider, seit Homer ist es in Bezug auf die Götter präsent (vgl. z.B. Od. 24,47). Erst bei Platon wird die ἀθανασία auf die natürliche Unsterblichkeit der Seele bezogen: Nicht nur die Götter sind unsterblich, sondern jede menschliche Seele ist es von Natur aus, während der Leib verwest. Aristoteles und nach 16 Vgl. LARCHER, Sagesse I, 279–280, und für ‫ קוה‬WASCHKE, Ernst-Joachim, ‫קו‬, ThWAT VII, 84–92. Vgl. auch BONS, Eberhard, „ἐλπίς comme l’ésperance de la vie dans l’au-delà dans la littérature juive hellénistique“, in: KUNTZMANN, René (Hg.), Ce Dieu que vient. Mélanges offertes à Bernard Renaud (LeDiv 159), Paris: Cerf 1995, 345–370. 17 Vgl. LARCHER, Sagesse I, 279–280; SCARPAT, Sapienza I, 208–209. 18 Eine gute Übersicht zu dem Problem bietet DALLA CORTE, Il Dio vivente, Dio dei viventi; vgl. auch FABBRI, Creazione e salvezza, 217–235.

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Weish 3,1–9

ihm die Stoiker widersetzen sich dieser Idee der natürlichen Unsterblichkeit der Seele. In der LXX kommt ἀθανασία nur in 4Makk 14,5–6 und 16,13 im Zusammenhang mit dem Martyrium der sieben Brüder vor; in 4Makk 14,6 und 18,23 erscheint, möglicherweise zum ersten Mal in der griechischsprachigen jüdischen Literatur, die platonische Verknüpfung ψυχὴ ἀθάνατος;19 vgl. auch Jos. Asen. 15,6– 7. Bei Philon ist die Verbindung ψυχὴ ἀθάνατος oder ψυχὴ ἄφθαρτος häufig (Somn. I, 137; Opif. 119–120; Conf. 176; Virt. 9–10), wie auch bei Flavius Josephus, der diese Überzeugung den Essenern zuweist (vgl. Bell. 2,154; Ant. 18,4). Im Buch der Weisheit kommt ἀθανασία sechs Mal vor: 3,4; 4,1; 8,13.17; 15,3; dazu noch das Adjektiv ἀθάνατος in 1,15. Im Buch der Weisheit wird sorgsam vermieden, die Unsterblichkeit mit der ψυχή zu verbinden.20 Bei den Ausführungen des Verfassers geht es nicht um die Existenz vom Leib getrennter „Seelen“, sondern um den Inhalt der Hoffnung des Gerechten: Sie ist „voll“, d.h. tragfähig, auf Gott gegründet. Der Verfasser verbindet die ἀθανασία mit der Hoffnung (3,4), der Gerechtigkeit (1,15; 15,3) und der Erinnerung (4,1; 8,13.17). Die in Weish 3,4 genannte Unsterblichkeit könnte daher einfach die Erwartung der Güter sein, die Gott den Seelen der Gerechten schenkt.21 Aber im Blick auf Weish 8,13.17 scheint sie doch etwas viel Größeres zu sein: eine besondere, von Gott verliehene Eigenschaft, die dem Menschen mittels der Weisheit geschenkt wird und die mit dem „Frieden“ (3,3b) verbunden ist, in dem sich die Gerechten nach ihrem Tode befinden. Die Unsterblichkeit hat nach Weish 3,1–9 auch ethische Qualität, wie aus ihren Beziehungen zur Hoffnung (3,4b), zum Vertrauen und zur Liebe (3,9) ersichtlich ist. Die Vermeidung der platonischen Verknüpfung ψυχὴ ἀθάνατος hat eine weitere wichtige Konsequenz: Die Existenz des Gerechten post mortem ist nicht durch eine natürliche Eigenschaft der Seele schon gewährleistet, sondern erst durch Gott; sie ist ein Geschenk, nicht bereits eine Gegebenheit der Natur des Menschen. Nach Weish 2,23 ist die Unsterblichkeit eine Art von Teilnahme an der Natur Gottes, ein Zustand, in dem der Mensch geschaffen wurde.22 Die Originalität im Buch der Weisheit liegt deshalb darin, einen griechischen Begriff innerhalb eines

19 Vgl. Phaidon 73a: ἀθάνατος ἡ ψυχή. Zu 4Makk s. SCARPAT, Quarto libro dei Maccabei, 238. Der Kontext, in dem dieses Wort in 4Makk vorkommt, ist topisch und rhetorisch mit Ausnahme von 4Makk 18,23 am Ende des Buches, wo zweifellos der Glaube an die Existenz einer unsterblichen Seele ausgedrückt wird (ψυχὰς ἁγνὰς καὶ ἀθανάτους ἀπειληφότες παρὰ τοῦ θεοῦ). 20 So bereits LAGRANGE, „Le livre de la Sagesse“, 94: „On voit comment cette immortalité est distincte de l’immortalité platonicienne, à laquelle on la compare souvent. Nulle part elle est regardée comme une conclusion philosophique. Jamais l’âme n’est representée comme ayant dans sa nature même une raison suffisante de subsister, qu’elle soit le principe du mouvement, ou que la pensée soit, de son essence, immatérielle“. 21 Vgl. SCARPAT, Sapienza I, 216–218. 22 „Immortality for man is not a quality of his nature as such, but of a particular condition, whether he receives it as a gift or as a recompense“, Reese, Hellenistic Influence, 64. Vgl. SCARPAT, „Una speranza“, 491–494, aber insbesondere PUECH, „The Book of Wisdom“, 127–129 (gegen WINSTON, Wisdom of Solomon, 26–28) und die dort aufgeführte Bibliographie 128 Anm. 44.

Diachrone Analyse

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typisch biblischen Gedankens verwendet zu haben und insbesondere innerhalb einer im Wesentlichen einheitlichen Konzeption des Menschen. Der Gebrauch des Wortes ἀφθαρσία (2,23) neben ἀθανασία lässt dann an eine Unsterblichkeit denken, die auch den Leib miteinschließt. Das Thema des Leidens, verstanden als Prüfung, erscheint in Sir 2,1–6: Die 3,5–6 Gerechten, von denen das Buch der Weisheit spricht, haben sich die Lehre Ben Siras zu eigen gemacht, sie sind in der Zeit des Unglücks treu geblieben (vgl. Sir 2,2) und haben die Prüfung als eine wirkliche Zurechtweisung vonseiten Gottes angenommen (Sir 2,4) und sich so wie das Gold erwiesen, das im Feuer, das das Metall nicht verfälscht, sondern seinen ganzen Wert zum Vorschein bringt, geprüft wird (Sir 2,5). Gott behandelt also die Gerechten wie die wertvollsten Metalle. Die Prüfung, von der Ben Sira spricht, versetzt, auch wenn sie unbestimmt geschieht, die ganze Person in eine Krise und verlangt deshalb eine Haltung restlosen Vertrauens auf Gott. Ohne dieses Vertrauen und ohne die Hilfe Gottes wird ein Mensch nicht siegreich aus der Prüfung hervorgehen.23 Die Vorstellung vom Leben des verfolgten Gerechten als eines Ganzopfers wurde vielleicht durch Ps 50[51MT],19 vorbereitet (aber im Psalm wird das Martyrium des Gerechten nicht erwähnt und im Buch der Weisheit nicht die Sündenvergebung) und möglicherweise angeregt auch durch Jes 53,10 und Dan 3,38–40LXX + Th, nicht MT ; erst im NT wird sie wieder aufgegriffen (vgl. Röm 12,1; Hebr 13,15– 16). Weish 3,6 ist so eines der ersten Zeugnisse einer wirklichen „Theologie des Martyriums“. Schon der Kommentar von Grimm erörterte die verschiedenen Meinungen in Bezug 3,7 auf die Interpretation von ἀναλάμπω und des ganzen Kolons 3,7b.24 Handelt es sich um eine symbolische Deutung eines irdischen Geschehens, nämlich des Sieges Israels über seine Feinde; diese Lösung könnte bestätigt werden durch die Bezugnahmen auf die unten genannten Bibelstellen zu 3,7, oder geht es stattdessen um eine symbolische Darstellung der Rache, die die Gerechten nach ihrem Tod an ihren Gegnern nehmen? Grimm denkt eher an eine Beschreibung der eschatologischen Totenauferstehung und die Ankunft des messianischen Reiches (vgl. τότε οἱ δίκαιοι ἐκλάμψουσιν ὡς ὁ ἥλιος ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ πατρὸς αὐτῶν Mt 13,43; vgl. auch Dan 12,3Th; 1 Hen 104,2). Das Verb ἀναλάμπω allein genügt allerdings nicht, um die Frage zu entscheiden; denn man kann auch denken, dass die Gerechten aufleuchten im Widerschein der Herrlichkeit Gottes und schließlich nach der „Heimsuchung der Seelen“ (3,13) in den Bereich Gottes hineingeführt werden.

Der Verfasser bezieht sich möglicherweise auf Dan 12,3Th, und insoweit ist die Überlieferung Israels seine erste Inspirationsquelle: Die auferweckten Verständigen werden leuchten wie die Helle des Firmaments (καὶ οἱ συνιέντες ἐκλάμψουσιν ὡς λαμπρότης τοῦ στερεώματος Dan 12,3Th). Hier liegt ein Hinweis darauf vor, wie der Verfasser auf die Auferstehung des Leibes anzuspielen beabsichtigt: als auf eine wirkliche Verwandlung der Person des Gerechten nach seinem Tod. Wenn man „aufleuchten“ in diesem Sinne versteht, wird auch die anschließende Bezugnahme auf die Tätigkeit der verherrlichten Gerechten viel klarer.

23 CALDUCH BENAGES, Nuria, En el crisol de la prueba. Estudio exegético de Sir 2,1–18, Estella, Navarra: Verbo Divino 1997, 33–94. 24 GRIMM, Weisheit, 88–90.

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Weish 3,1–9

Die Bilder „Funken, Stoppelfeld, Hindurchfahren“ sind einigen Texten in den Prophetenbüchern entliehen. Das Bild der „Funken“ (σπινθῆρες) kam bereits in Weish 2,2 vor und wurde wohl angeregt von Jes 1,31: Gottlose und Sünder werden brennen, ohne dass sie jemand rettet. Das „Stoppelfeld“ (καλάμη) ist wahrscheinlich Ob 18 und Sach 12,6 entnommen. Der Verfasser wendet so Texte, die von der zukünftigen Aufgabe Israels sprachen, auf die individuelle Eschatologie an, vgl. neben Jes 1,31 auch Jes 5,24; Joel 2,5; Mal 3,19, lauter Texte, die einen Gerichtskontext voraussetzen. Das Verb διατρέχω wird für das Feuer verwendet in Ex 9,23 und in Nah 2,5 für die Blitze, die durch (Gassen und Plätze einer Stadt) zucken. Einige Autoren meinen weiterhin, dass das Bild von Weish 3,7a auf eine mögliche Teilnahme der verherrlichten Gerechten am eschatologischen Kampf Gottes und seiner Schöpfung gegen die Gottlosen hinweisen solle (vgl. 1QH XIV, 32–39; aber auch 1QH XI,20–37).25 Dabei ist es aber merkwürdig, dass dieser Kampf erst nach der Verherrlichung der Gerechten geschehen solle.26 Nun findet sich die Vorstellung eines gereinigten Israel, das seine Feinde vernichtet, nur in Obd 18 und Sach 12,6. In den anderen erwähnten Texten ist die Bestrafung der Gottlosen eher ein Werk Gottes. Der einzige wirkliche Berührungspunkt von Weish 3,7b mit diesen Prophetentexten ist der Vergleich der Gottlosen mit Stroh bzw. einem Stoppelfeld (καλάμη). Im Buch der Weisheit geschieht die Bestrafung der Gottlosen jedoch durch die Schöpfung selbst als Instrument in der Hand Gottes zur Rettung oder aber zur Bestrafung (vgl. Weish 5,17–20; 16,24) und nicht durch irgendein Tätigwerden der Gerechten. Weish 3,7b soll demnach durch die Verwendung von Bildern, die bereits aus den Prophetenbüchern bekannt sind (Funken, Stoppelfeld, Hindurchfahren), nur den verherrlichten Zustand der auferstandenen Gerechten nach der Heimsuchung durch Gott ausmalen. Den Heiligen und Erwählten werden χάρις und ἔλεος verheißen: Das Wort 3,9 χάρις hat in der LXX noch nicht die theologische Bedeutung angenommen, die es im NT haben wird. In der Regel übersetzt es das hebräische Wort ‫ ;חן‬χάρις bedeutet meist eine Gunst, ein umsonst gewährtes Geschenk.27 Das Wort ἔλεος hat in der LXX als Hintergrund den ganzen Reichtum des Wortschatzes im Zusammenhang mit dem „Bund“, ἔλεος gibt dabei häufig das hebräische ‫ חסד‬wieder. Im Buch der Weisheit findet sich ἔλεος in 3,9; 4,15; 6,6; 9,1; 11,9; 12,22; 15,1; 16,10, immer in Beziehung zur Treue Gottes gegenüber seinem Volk.28 Zusammen kommen χάρις und ἔλεος in der LXX nur in Gen 39,21; Ps 83[84MT],12 und Sir 45,1 vor; im NT erscheinen sie gemeinsam in den Präskripten dreier apostolischer Briefe als Grußwunsch in der Trias χάρις, ἔλεος, εἰρήνη (1Tim 1,2; 2Tim 1,2; 2Joh 1,3; vgl. auch Hebr 4,16). 25 Vgl. PUECH, La croyance des Esséniens II, 354–355; gegen ihn wendet sich John J. COLLINS in seiner Rezension in DSD 1 (1994), 250. Dazu erneut PUECH, „The Book of Wisdom“, 132–133. 26 Vgl. GILBERT, „Sagesse 3,7–9“, 312. Er hält nicht für möglich, den Sinn dieses Textes noch näher zu bestimmen. 27 Vgl. CONZELMANN, Hans-Georg, χάρις, ThWNT IX, 363–393; SPICQ, Notes II, 260–305. Zum hebräischen Wort ‫חן‬: Ina WILLI-PLEIN, „‫חן‬. Ein Übersetzungsproblem. Gedanken zu Sach XII 10“: VT 23 (1973), 90–99. Im Buch der Weisheit kommt χάρις noch in 3,9.14; 4,15; 8,21; 14,26; 18,2 vor. 28 Vgl. BULTMANN, Rudolph, ἔλεος, ThWNT II, 474–484.

Synchrone Analyse

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Weish 3,10–12. Die Gottlosen und ihre Nachkommenschaft 10 Die Gottlosen aber werden entsprechend dem, was sie dachten, Strafe erhalten, da sie den Gerechten unbeachtet gelassen haben und vom Herrn abgefallen sind; 11 – unglücklich ist nämlich, wer Weisheit und Zucht für nichts achtet! – und leer (ist) ihre Hoffnung, und die Mühen (sind) vergeblich und nutzlos ihre Werke. 12 Ihre Frauen (sind) töricht \ und schlecht ihre Kinder; \ verflucht ist ihre Nachkommenschaft.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 10 Das Wort ἐπιτιμία gewinnt hier einen Sinn, der sich von dem im klassischen Griechisch unterscheidet; dort bezeichnete es die Position des Bürgers, der sich seiner Rechte erfreut. Nach WINSTON (Wisdom, 129) wird ἐπιτιμία hier zum ersten Mal in der Bedeutung „Bestrafung“ verwendet. Vgl. Lat correptionem habebunt; im NT vgl. 2Kor 2,6. LARCHER (Sagesse I, 296) verteidigt die Übersetzung von τοῦ δικαίου als Neutrum in 3,10: „Sie haben das, was recht ist, unbeachtet gelassen“ und folgt damit Augustinus qui neglexerunt iustitiam (PL 34,947). Die Argumente Larchers sind aber schwach: Vom ganzen Kap. 2 her dürfte der Gedanke, dass die Gottlosen den Gerechten unbeachtet gelassen haben, näherliegen. Außerdem entspricht der Genitiv von „Herr“ in 3,10b dem Genitiv von „Gerechter“, und in dem chiastisch formulierten Kolon erfordert ἀμελήσαντες ein personales Objekt ebenso wie ἀποστάντες. 11 Personenwechsel von einem Satz zum andern sind in der Weisheitsliteratur häufig. 3,11a ist sprichwortartig formuliert und so in den Text eingefügt. Die Adjektive (Prädikatsnomina) in 3,11b-c (κενή – ἀνόνητα – ἄχρηστα, die beiden letztgenannten sind Synonyme) drücken die Vorstellung der Vergeblichkeit aus; ἀνόνητος ist ein seltenes, gewähltes poetisches Wort (in der Bibel sonst nur noch in 4Makk 16,7.9); ἄχρηστος dagegen verwendet der Verfasser mehrfach (Weish 2,11; 3,11; 4,5; 13,10; 16,29).

Synchrone Analyse Weish 3,10–12 bildet den zweiten Teil des Diptychons. Dem erfreulichen Ergehen der Gerechten wird das sehr traurige Schicksal der Gottlosen gegenübergestellt (οἱ δὲ ἀσεβεῖς). Während in 3,1–9 auch die negativen Elemente sich in positive verwandelten, ist hier alles negativ, auch das, was eigentlich positiv ist wie Familie und Kinder. Das Schicksal der Gottlosen wird unter das Vorzeichen einer Bestrafung (ἐπι- 3,10 τιμία) gestellt, die aber nicht näher erläutert, sondern in die Zukunft verlagert wird (ἕξουσιν). Das Relativpronomen mit Präposition (καθ’ ἅ) bildet eine adverbiale Bestimmung und erstellt eine Beziehung zwischen der Strafe und den Gedan-

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Weish 3,10–12

ken der Gottlosen. Das Verb λογίζομαι greift die „verkrümmten Gedanken“ von 1,3 und das irrige Denken der Gottlosen auf (2,1; 2,21; 3,2b). Es handelt sich um falsche Gedanken gegenüber Gott und, in diesem Kontext, über das Schicksal, das Gott dem Gerechten schenkt. 3,10b benennt das Fehlverhalten der Gottlosen im Einzelnen. Sie haben vor allem den Gerechten unbeachtet abgetan. Zur Verwendung des Verbs ἀμελέω wurde der Verfasser vielleicht durch Jer 4,17LXX (ἐμοῦ ἠμέλησας) angeregt und durch Jer 38,32LXX, wo das Verb eine stark religiöse Bedeutung hat (vgl. auch Mt 22,5). Eine weitere Schuld der Gottlosen besteht darin, dass sie sich vom Herrn entfernt haben (τοῦ κυρίου ἀποστάντες; vgl. Jes 30,1 und Jer 3,14LXX). Zur Zeit der Abfassung des Buches der Weisheit kann man bereits, wie Philon bezeugt, von ἀφίσταμαι als einem terminus technicus für „Apostaten“ sprechen. Gemeint sind Juden, die das Gesetz der Väter nicht mehr beachten: τοὺς τῶν ἱερῶν νόμων ἀποστάντες (Virt. 182). Bemerkenswert ist, dass ‚den Gerechten unbeachtet gelassen haben‘ und ‚vom Herrn abgefallen sein‘ parallel zueinander aufgeführt werden. 3,11a stellt einen sprichwortähnlichen Satz dar: Der Gottlose ist der, der Weis3,11 heit und weisheitliche Bildung (‫ )מוסר‬für nichts achtet, vgl. Weish 1,5. Deshalb kann der Gottlose nie glücklich sein. Im Gegensatz dazu steht die Seligpreisung der unbefleckten Kinderlosen, die das anschließende Diptychon in 3,13 eröffnet. In 3,11b wird von den Gottlosen gesagt: „Leer ist ihre Hoffnung“. Der Gegensatz zur „gefüllten Hoffnung“ der Gerechten, von der in 3,4b die Rede war, ist offensichtlich. Da ohne Hoffnung, leben die Gottlosen nur in der Gegenwart wie Menschen ohne Zukunft. Aber auch ihre Gegenwart ist in Wirklichkeit leer. Denn ihre Mühen (κόποι) sind vergeblich (ἀνόνητοι) und ihre Werke (ἔργα) nutzlos (ἄχρηστα). Wer keine Hoffnung hat, verliert auch den Wert von allem, was er zu tun versucht, aus dem Blick. 3,12 ist eine tatsächlich sehr harte Feststellung, und die Kommentatoren ver3,12 suchen nicht selten, eine solche Härte zu minimieren, und zeigen so eine gewisse Verlegenheit.29 Die asyndetische (ohne Konjunktion angeschlossene) Konstruktion zeigt eine neue Phase der Bestrafung der Gottlosen an. Ihre Gattinnen werden in den Blick genommen und „töricht“ (ἄφρονες) genannt und ihre Kinder „böse“ (πονηρά), vielleicht als Ergebnis einer verfehlten Erziehung. Eine solche Nachkommenschaft der Gottlosen (ἡ γένεσις αὐτῶν) ist demnach verflucht (ἐπικατάρατος).

Diachrone Analyse 3,11 Der Verfasser entnimmt den sprichwortartigen Satz in 3,11a wohl aus Spr 1,7:

σοφίαν δὲ καὶ παιδείαν ἀσεβεῖς ἐξουθενήσουσιν. Er fügt dem Zitat als Prädikatsnomen das Adjektiv ταλαίπωρος „unglücklich“ hinzu, ein tragisch klingendes Wort, das die Aussage von Spr 1,7 in eine Art Klage über das traurige Schicksal des Gottlosen verwandelt. 3,11b scheint auf Ijob 7,6 antworten zu wollen: Was der leidende Ijob als für jeden Menschen gültig betrachtete, nämlich, eine leere Hoffnung zu haben, gilt in Wirklichkeit nur für die Gottlosen. 29 So LARCHER, Sagesse I, 299.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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Der Verfasser ist sicher beeinflusst von der Perspektive der kollektiven Vergeltung, 3,12 vgl. Ex 20,5, und für einen ähnlichen Gedanken Sir 41,5. Die Gegenvorstellung für die Kinder der Erwählten findet sich in Jes 65,23LXX. Außerdem kann so das Thema ‚Kinder‘, das den folgenden Abschnitt (über die Unfruchtbare) bestimmt, eingeführt und verständlich gemacht werden, dass die Zeugung von Kindern, im Unterschied zur Wertung in der ganzen Überlieferung Israels, nicht mehr einen absoluten Wert darstellt. Die Härte von 3,12 ist im Übrigen dem Stil des Verfassers nicht völlig fremd, sie dient dazu, den äußersten Ernst der Lage der Gottlosen und im Kontrast zu dieser die Großartigkeit des Segens, der den Gerechten vorbehalten ist, hervorzuheben (s. das folgende Diptychon).

Zweites Diptychon: die Kinderlose, der Eunuch und die Unfruchtbarkeit der Gottlosen (Weish 3,13–19) 13 Denn selig ist die Unfruchtbare, die (sich) unbefleckt (hielt), die nicht ein Bett mit Gesetzesübertretung kannte. Sie wird nämlich Frucht haben bei der Heimsuchung der Seelen. 14 Und (selig) der Eunuch, der durch sein Handeln keinen Gesetzesverstoß bewirkte und in seinem Denken dem Herrn nicht Schlechtes zuschrieb: Ihm wird nämlich gegeben werden für seine Treue vorzüglicher Lohn und ein noch wünschenswerteres Erbe im Tempel des Herrn. 15 Gute Mühen nämlich (tragen) ruhmreiche Frucht, und fehlerlos (sprosst) der Wurzelstock der Klugheit. 16 Die Kinder von Ehebrechern aber werden unvollendet sein, und die Nachkommenschaft eines gesetzwidrigen Bettes wird verschwinden. 17 Auch wenn sie nämlich lange leben, werden sie für nichts geschätzt, und ehrlos (wird) zuletzt ihr Alter (sein). 18 Und wenn sie früh sterben, werden sie keine Hoffnung haben und am Tag des Gerichtsentscheids keine Tröstung; 19 schlimm nämlich ist das Ende einer nichtgerechten Generation.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 13 Das Wort ἀμίαντος, in Verbindung mit κοίτη „Bett“ meint sexuelle Makellosigkeit, vgl. Hebr 13,4. Das Wort ἀμίαντος kehrt in Weish 4,2 und 8,20 wieder mit der Bedeutung „ohne Fehler, makellos“ in moralischem Sinn. In der LXX kommt es sonst nur noch in 2Makk 14,36 und 15,34 vor. Das γάρ in 3,13c sollte, obwohl die meisten Handschriften es auslassen (s. den Apparat bei Ziegler), stehen bleiben, da es vermutlich wegen einer Haplographie (statt γὰρ καρπόν nur καρπόν) weggelassen wurde.

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Weish 3,13–19

14 In der Wendung ἐν χειρί „mit (seiner) Hand, durch sein Handeln“ vermutet LARCHER (Sagesse I, 303) Abhängigkeit von Jes 56,2MT, wo die „Hand“ (im Sing.) bezogen ist auf ‚Böses begehen‘. MATTIOLI denkt eher an die Eunuchen, die sich mit ihren eigenen Händen zu solchen gemacht haben aus finanziellen oder aus Prestigegründen, und sieht hier eine Bezugnahme auf die Praxis freiwilliger Entmannung, die in einigen Kreisen der griechisch-hellenistischen Welt verbreitet gewesen sei (vgl. „Felicità e virtù“, 31). 15 Das Wort ἀδιάπτωτος gehört einer gewählten Sprache an und wurde in hellenistischer Zeit im etymologischen Sinne verwendet: α-, δια, πίπτω: „etwas oder jemand der nicht fällt, der ohne Fehler ist (vgl. SCARPAT, Sapienza I, 245). Das Wort φρόνησις wird hier zum ersten Mal im Buch der Weisheit verwendet, es erscheint noch weitere acht Male: 4,9; 6,15; 7,7.16; 8,6.7.18.21; 17,7; hier in 3,15 in positivem Sinn, negativ in 17,7 (vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 68); φρόνησις bezeichnet im Stoizismus die Klugheit als die Fähigkeit zu unterscheiden, was man tun soll und was man nicht tun darf (SVF I, 86; frg 375), also die Fähigkeit, das Gute vom Bösen zu unterscheiden (SVF I, 85–86 frg. 374), eine auf das Handeln bezogene moralische Fähigkeit des Menschen, das Wissen (ἐπιστήμη) über das Gute und das Schlechte (SVF III, 63 frg. 262). Für Philon ist die φρόνησις die auf das Handeln bezogene Tugend, die diesem Grenzen setzt (vgl. Leg. I, 63). In Weish 7,16b steht die φρόνησις neben der ἐργατειῶν ἐπιστήμη, dem „handwerklichen Wissen bzw. Können“. In Weish 6,15 ist deutlich, wie die φρόνησις sich von der σοφία unterscheidet und sich annähert an die Tugend der Unterscheidung und der Klugheit (vgl. LARCHER, Etudes, 358–360), sie ist die praktische Seite der Tugend der Weisheit. 16 Das Wort *ἀτέλεστος kommt im Buch nur hier und in Weish 4,5 vor. Im damaligen Sprachgebrauch kann es denjenigen bezeichnen, der „noch nicht in die Mysterien eingeweiht“ ist (vgl. Euripides, Bacc. 40; Platon, Phaidon 69c), aber darum scheint es hier nicht zu gehen, vielmehr ist ἀτέλεστος in Verbindung mit der Erwähnung von τὰ τέλη in 3,19 zu sehen. Das Wort τέλος kommt nur selten im Plural vor und ist dann zu verstehen als das „Ende“, das Endschicksal des Menschen. Die Diskussion über das τέλος des Menschen ist bezeichnend für die hellenistischen Philosophenschulen. Schon Sokrates diskutiert bei Platon über das τέλος des Menschen (vgl. Theaet. 176b; aber Platon bevorzugt das Wort σκόπος: Gorgias 507d; vgl. DES PLACES, Edouard, Lexique de la langue philosophique et religieuse de Platon, Paris: Les Belles Lettres 1964, sub voce), ebenso Aristoteles. Über das τέλος wird später im Stoizismus lebhaft diskutiert. Das τέλος des menschlichen Lebens besteht für die Stoiker darin, glücklich zu sein (τὸ εὐδαιμονεῖν) und in einem tugendhaften Leben (SVF III, 6 frg. 16), d.h. der Natur entsprechend zu leben, was für die Stoiker dasselbe ist wie tugendhaft leben (SVF I, 125 frg. 552). Angesichts der Verwendung von τελέω in Weish 4,16 kann man sich vorstellen, dass der Verfasser diese Schuldiskussion in seiner Weise aufgreift: Die Gottlosen sind ἀτέλεστοι, sie verfehlen gerade das τέλος, das letzte Ziel ihres Lebens, das jedoch vom tugendhaften Menschen erreicht wird (vgl. 4,16). Obwohl jedoch die Sprechweise philosophische Fragen spiegelt, bleibt der Hintergrund des Gesagten immer zutiefst biblisch. 18 Das Wort διάγνωσις hat hier die technische Bedeutung, die es in der römischen Zeit erlangt hat. SCARPAT hat gezeigt, dass es sich um die sogenannte cognitio extra ordinem handelt, d.h. um das juristische Verfahren, mit dem der Kaiser persönlich einen Rechtsstreit beilegt ohne Hinzuziehung von Richtern; so in Apg 25,21 (vgl. SCARPAT, Sapienza I, 17–21. 247–248). Die altlateinische Übersetzung hat hier jedoch in die agnitionis anstelle von cognitionis. Das Wort διάγνωσις ist wichtig für eine Datierung des Buches der Weisheit in die römische Zeit. Aufgrund des Philontextes Flacc. 100 vertritt SCARPAT die Auffassung, dass die Verwendung dieses Wortes eines der Argumente dafür sei, das Buch der Weisheit in die Zeit Caligulas zu datieren (vgl. SCARPAT, Sapienza I, Introduzi-

Synchrone Analyse

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one). Im Kontext von Weish 3,18 weist διάγνωσις darauf hin, dass am Gerichtstag Gott persönlich, direkt und entscheidend eingreifen wird und dass es für die Gottlosen keine Möglichkeit der Verschonung oder der Milderung der Strafe (παραμύθιον) geben wird.

Synchrone Analyse 3,13–15: Seligpreisung der Kinderlosen und des Eunuchen Der Gebrauch von μακάριος ist bedeutungsvoll (s.o. zu μακαρίζω in 2,16).30 Der 3,13 Verfasser schließt sich an die zahlreichen Seligpreisungen in der Bibel an, besonders in den Psalmen und Weisheitsschriften. Der Makarismus ist eine literarische Form, mittels deren jemand beglückwünscht werden soll, der etwas Bestimmtes, das ihn glücklich macht, besitzt oder innehat. Das, weshalb jemand selig gepriesen wird, steht immer in einer Beziehung zu Gott, wie z.B. das Geschenk der Weisheit (Spr 3,13; 8,34LXX). Die Kinderlose jedoch „selig“ zu nennen, ist sicher eine gegenüber der gesamten Tradition polemische Beurteilung (s. unten). Zu ἀμίαντος wurde bereits bemerkt (s.o. Anm. zum Text), dass der Begriff im Sinne von Reinheit im sexuellen Sinne zu verstehen ist. Die Kommentatoren diskutieren die Bedeutung von 3,13b. Die früher gelegentlich vertretene Meinung, das Buch der Weisheit preise hier die Jungfräulichkeit, kann beiseitegelassen werden, denn die στεῖρα ist zweifellos eine verheiratete Frau, wie die Bezugnahme auf den Ehebruch deutlich macht (vgl. 3,16a), und nicht eine freiwillig Jungfrau gebliebene Frau. Der Text geht auch nicht von der Annahme aus, die „Sünde“ (παράπτωμα; auch in Weish 10,1) bestehe darin, sexuellen Verkehr mit anderer Zielsetzung als der Kindererzeugung genossen zu haben (s.u. zu Weish 7,2, wo die sexuelle Vereinigung sehr positiv beschrieben wird). Die zutreffende Erklärung bietet 3,16. Mit παράνομος κοίτη wird auf eine sexuelle Verbindung hingewiesen, die durch das mosaische Gesetz verboten ist, wie es z.B. ein Ehebruch war oder eine Ehe mit einem Nichtjuden oder mit jemandem, der nicht zur Verwandtschaft der Frau gehörte (vgl. auch den in Weish 4,6 erwähnten „ungesetzlichen Beischlaf“). Eine genauere Bestimmung des Gemeinten ist jedoch nicht möglich. Was das Glück eines Menschen begründet, ist nicht seine oder ihre körperliche Beschaffenheit, bei einer Frau z.B. viele Kinder zu haben, sondern seine oder ihre moralische Größe. Es könnte verwundern, dass der Verfasser nicht genauer beschreibt, auf welche „Übertretungen“ er sich bezieht, und nicht auf bestimmte Fälle detailliert eingeht; er ist aber kein Moralist, und sein Ziel ist es nicht, Einzelprobleme der Sexualmoral zu erörtern. Es genügt ihm, den Menschen an die Grundlage der eigenen persönlichen Pflichten zu erinnern, die Ausübung der Tugend. Das Ergebnis des Lebens der Kinderlosen wird sein, „eine Frucht zu erhalten“ (καρπός). Dieses Wort verweist im Sprachgebrauch der LXX auf das Ergebnis der eigenen Taten (vgl. Spr 1,31; Ps 1,3). Während das Bild der Frucht eine enge Verknüpfung des Verhaltens der Kinderlosen mit dem Ergebnis dieses Verhaltens nahelegt, verweisen das Verb ἕξει und die Erwähnung der „Heimsuchung“ durch Gott (ἐπισκοπή; vgl. 3,7) doch eher auf ein Handeln Gottes und auf sein künftiges 30 Vgl. MATTIOLI, „Felicità e virtù“, 27–28, mit weiteren Literaturangaben.

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Weish 3,13–19

Gericht. Eine solche Dialektik zwischen Gnade und Verdienst, Handeln Gottes und Handeln des Menschen findet sich im Buch der Weisheit mehrfach. Die Erwähnung der ἐπισκοπὴ ψυχῶν lässt verstehen, dass die „Frucht“, die die Kinderlose erlangen und die ihr zugleich geschenkt werden wird, als der eschatologischen Ordnung zugehörig gemeint ist.31 3,14a soll erläutern, weshalb der tugendhafte Eunuch – die Bezeichnung „Eu3,14 nuch“ ist hier sicher im physischen Sinne gemeint – selig gepriesen wird, während 3,14c-d die Belohnung beschreibt, die ihn erwartet. 3,14c führt das Thema der πίστις des Eunuchen ein. Dieses Wort kommt nur hier im Buch der Weisheit vor; vgl. aber πιστός schon in 3,9; πιστεύω in 12,2; 14,5; 16,26; 18,6 (ἀπιστέω in 1,2; 10,7; 12,17; 18,13). πίστις hat hier noch nicht die Bedeutung, die es im Neuen Testament gewinnt, sondern entspricht dem hebräischen Wort ‫„ אמונה‬Treue“, die der Mensch gegenüber Gott hält. In diesem Sinne wird πίστις auch in profanem Kontext verwendet mit der Bedeutung „beschworene Treue“, Treue gegenüber einem eingegangenen Vertrag (τὴν πίστιν τηρεῖν „Wort halten“). Die dem Eunuchen für seine Treue verheißene Belohnung umfasst zweierlei: Das Buch der Weisheit verspricht dem Eunuchen eine besondere Belohnung (χάρις ἐκλεκτή) und ein noch „wünschenswerteres32 Erbe im Tempel des Herrn“. Teilzunehmen am Leben Gottes, ist mehr wert, als Kinder zu haben und physisch fruchtbar zu sein. Der Tempel (ναός) meint wahrscheinlich den himmlischen Tempel, auf den Weish 9,8c hinweist, aber der Text bleibt absichtlich allgemein. χάρις ohne Artikel verweist einfach auf eine von Gott geschenkte Wohltat, aber auch hier bleibt der Verfasser unbestimmt. Interessant ist die Verwendung von κλῆρος: Wenn das Wort von Weish 2,9 her verstanden wird, dann bewahrheitet sich für die Gerechten, was die Gottlosen mit scharfer Ironie in Abrede gestellt hatten. Es gibt einen κλῆρος „Anteil, Erbe“ für den Menschen trotz allem, und das ist – für die Gerechten – Gott selbst! 3,15 ist chiastisch formuliert (Genitiv – Subjekt – Prädikatsnomen / Prädikats3,15 nomen – Subjekt – Genitiv) und bildet einen allgemeinen, weisheitlichen Schlusssatz, der für die Kinderlose ebenso wie für den Eunuchen gilt. Die „guten Werke“ sind oft mühsam, darauf weist das Wort πόνοι hin, aber es sind positive Mühen, die die Tugend wachsen lassen. Ihre Frucht ist ruhmreich (εὐκλεής). Der Verfasser denkt wohl an die eschatologische Belohnung, die in 3,1–9 beschrieben wurde. Diese Vorstellung wird in Weish 8,7 noch ausführlicher entwickelt. In 3,15b erweitert das Bild der Wurzel noch um das der Frucht. Die Wurzel der Klugheit (φρόνησις) ist ohne Fehler (ἀδιάπτωτος), oder, wenn man dieses Wort 31 Die Wendung „Heimsuchung der Seelen“ bietet einen weiteren Hinweis darauf, dass das Buch der Weisheit ψυχή als einen angemessenen Ausdruck für das „Ich“ des Menschen betrachtet. Nur nebenbei sei bemerkt, in wie weiter Entfernung die Aussage des Verfassers in 3,13 sich von der Allegorie Philons befindet, der in Leg. I, 75–76 von der Unfruchtbarkeit und der Fruchtbarkeit als Allegorien der Weisheit oder der Torheit spricht. 32 Das Adjektiv *θυμηρής hat die Bedeutung „angenehm, reizend, wünschenswert“. Es ist ein selten in Prosa vorkommender poetischer Ausdruck. Grammatisch ist θυμηρέστερος ein Komparativ, der wahrscheinlich als gemilderter Superlativ zu verstehen ist. Vgl. MATTIOLI, „Felicità e virtù“, 37 Anm. 73.

Synchrone Analyse

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etymologisch deutet, sie ist stabil, fällt nicht, vergeht nicht. Die φρόνησις bildet also die Grundlage sittlichen Lebens. Wie die Pflanze aus der Wurzel emporwächst und wie aus der Pflanze die Früchte hervorkommen, so entstehen aus der Klugheit, aus der Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, die guten Werke. Die Bilder der Wurzel und der Frucht haben eine ganz besondere Bedeutung, da sie auf die Kinderlose und den Eunuchen angewandt werden: Was in der Ordnung der Natur keine Frucht bringt, bringt jedoch Frucht in der Ordnung der Gnade.33

3,16–19: Die Kinder der Gottlosen Dieser zweite Teil des Diptychons ist mit großer Sorgfalt aufgebaut. 3,16 stellt eine allgemeine Aussage über das Schicksal der Kinder der Gottlosen dar. 3,17 enthält eine erste Darlegung, nämlich über die Kinder mit einer langen Lebenszeit. Der Vers ist, ebenso wie 3,18, mit einer Darlegung über die Kinder, die jung sterben, konstruiert als eine Protasis (Nebensatz; in der LXX dient ἐάν τε … ἐάν τε mehrfach zur Reihung von konditionalen Nebensätzen), der eine doppelgliedrige Apodosis (Hauptsatz) folgt. 3,19 bildet eine abschließende allgemeine Sentenz als Gegenstück zu 3,15, aber prägnanter und rhythmisch in Nachahmung klassischer Schlussformeln. Wer sind die „Kinder von Ehebrechern“? Viele Kommentatoren haben an die 3,16 Kinder jüdischer Apostaten gedacht entsprechend der Bedeutung von „Ehebruch“ in einigen Prophetentexten, vgl. Jes 57,3LXX: ὑμεῖς … σπέρμα μοιχῶν, ein Text, den der Verfasser durchaus im Sinn gehabt haben könnte. Im folgenden Kolon 3,16b wird genauerhin gesagt, es handle sich um Kinder aus einem gesetzwidrigen Beischlaf („Bett“), d.h. Kinder aus Ehen, die vom Gesetz verboten sind (s.o. zu 3,13b). Die Verwendung des Wortes „Ehebrecher“ verleiht jedoch dem Text eine allgemeinere Reichweite. Im Blick auf die vielen Prophetentexte, die dem ganzen Volk Israel das Bild des Ehebruchs zuordnen, erwähnt der Verfasser hier mittels der literarischen Figur der Synekdoche (συνεκδοχή „Mit-Verstehen“, das Ersetzen eines Begriffs durch einen engeren oder weiteren) die Kinder von Ehebrechern und die Nachkommenschaft gesetzwidriger Ehen und denkt dabei umfassend an alle Gottlosen. Man muss also darauf achten, den Text nicht zu sehr zu pressen, sonst müsste man einräumen, dass der Verfasser sich selbst widerspricht. Die Kinder von Ehebrechern würden dann für Schulden bezahlen, die sie nicht selbst verursacht haben (s. dagegen Weish 1,16). 3,16 hat also die gesamte Nachkommenschaft der Gottlosen im Blick. Diese Nachkommenschaft wird das Ziel des Lebens nicht erreichen (zu ἀτέλεστοι s. die Anmerkungen zum Text) und wird sehr bald verschwinden. Das gleiche Verb ἀφανίζω wird verwendet für den Untergang der Gottlosen in Spr 10,25; 12,7; 14,11; 1Makk 9,73; vgl. Ps 93[94MT],23; 145[146MT],9. 3,17 relativiert auch den Wert eines langen Lebens und des Altwerdens; dieses 3,17–18 Thema wird noch ausführlicher im vierten Diptychon aufgenommen. Auch wenn die Nachkommen der Gottlosen lange leben sollten (μακρόβιοι), würde das zu nichts dienen und ihr Alter wäre nicht ehrenvoll. Wenn aber ihre Kinder früh stürben (3,18), hätten sie keine Hoffnung. Die Erwähnung der ἐλπίς schließt unmittelbar an 3,1–12 an (s. 3,4.11). Im Gegensatz zu den Gerechten ist die Zukunft der Gottlosen gekennzeichnet von Leere, von völliger Abwesenheit von Hoffnung. 33 Vgl. SISTI, Sapienza, 153.

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Weish 3,13–19

Materielle Güter, mögen sie auch die in der Tradition höchstgeschätzten sein wie Kinderreichtum und langes Leben, dienen zu nichts, wenn sie nicht von der Tugend begleitet sind. Das zweite Kolon von 3,18 kehrt zum Thema der „Heimsuchung“ durch Gott zurück, die hier διάγνωσις (s. Anmerkung zum Text) genannt wird. Im Augenblick des Gerichts – dessen Ablauf wiederum unbestimmt gelassen wird – werden die Gottlosen keinerlei Tröstung oder Erleichterung (so die wahrscheinliche Bedeutung von *παραμύθιον) erfahren. Was viele Kommentatoren betroffen macht, ist die Härte des Urteils des Ver3,19 fassers über die Kinder der Ehebrecher.34 Das Ende (τὰ τέλη) der Gottlosen ist hart (χαλεπός). Dieses Adjektiv kehrt in Weish 17,10 und 19,13 in eschatologischen Kontexten wieder (vgl. im Neuen Testament 2Tim 3,1). Der Ausdruck „nichtgerechte Generation“ meint die in 3,16 Genannten, d.h. die Gesamtheit der Nichtgerechten und Gottlosen, nicht nur deren Kinder. Gewiss ist das Urteil von 3,19 eine rhetorische Vereinfachung, die kontrastierend die den Gerechten verheißene Belohnung hervorheben soll gegenüber dem totalen Zusammenbruch der Gottlosen und ihrer Nachkommenschaft. Die Vorstellung einer kollektiven Vergeltung wird vom Verfasser noch nicht völlig ausgeschlossen, und er scheint keinerlei Widerspruch wahrzunehmen zwischen seinen beiden Aussagen über den Tod, der allein die Gottlosen trifft (vgl. 1,16), und dem Zusammenbruch, der ihrer ganzen Nachkommenschaft widerfährt.

Diachrone Analyse 3,13 Der Verfasser schein in 3,13 Ps 127[128MT] aufzugreifen und mit ihm in eine Dis-

kussion einzutreten: Es sind nicht so sehr die Kinder und die Fruchtbarkeit der Gattin, die den Gerechten glücklich machen, sondern seine eigene Tugend. Μακαρία στεῖρα! Der Beginn des Diptychons klingt, wie gesagt, polemisch, denn die Unfruchtbare (als solche wurde jede kinderlose verheiratete Frau bezeichnet) gehört zu einer Kategorie von Frauen, die in der Bibel als unglücklich betrachtet werden. Fruchtbarkeit gilt als Geschenk Gottes und Unfruchtbarkeit (im Sinne von Kinderlosigkeit) als Bestrafung. Die jüdische Tradition drückt diesen Gedanken in sehr harten Texten aus: „Die Unfruchtbarkeit ist einer Frau nicht gegeben worden, vielmehr stirbt sie ohne Kinder wegen der Werke ihrer Hände“ (1 Hen 98,5). Aber hängt das Glück wirklich von der Fruchtbarkeit ab, wie die zeitgenössische Kultur und die öffentliche Meinung, und zwar nicht nur innerhalb des Judentums, nahelegten? Jesus Sirach (vgl. Sir 16,1–3) unterscheidet zwischen den Kindern, die Gottesfurcht hegen und Kindern, die dies nicht tun; deshalb sei es besser, kinderlos zu sterben, als gottlose Kinder zu haben (Sir 16,3). Aber bis zu den Überlegungen im Buch der Weisheit ist es noch ein weiter Weg. Ein möglicher biblischer Hintergrund zu Weish 3,13 könnte eher in Jes 54,1–8 gesucht werden. Dieser Prophetentext wendet Bilder aus dem Eheleben auf Jerusalem an und versichert, dass es auch eine fruchtbare und am Ende von Gott mit dem Geschenk einer neuen Mutterschaft gesegnete Unfruchtbarkeit bzw. Kinderlosigkeit gibt. Der Verfasser greift die Bilder des Jesajabuchs auf und wendet sie auf eine Einzelperson an. Glücklich 34 „Cruel indeed“: so GOODRICK, Wisdom, 134.

Diachrone Analyse

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ist die Kinderlose, die unbefleckt geblieben ist und sich keiner sündhaften Vereinigung hingegeben hat. In 3,13c wurde das Bild der „Frucht“ vielleicht angeregt durch Gen 30,2, aber vor allem durch Ps 126[127MT],3, wo καρπὸς τῆς γαστρός die „Leibesfrucht“, d.h. die Kinder, bezeichnet. In Weish 3,13c bleibt jedoch die „Frucht“ der Kinderlosen unbestimmt, wird in die Zukunft verlagert und gesehen als eine Belohnung durch Gott. Die Figur des Eunuchen genießt im Judentum keinen guten Ruf (vgl. Dtn 23,2). 3,14 Die Seligpreisung ist offensichtlich eine Übernahme aus Jes 56,3–5, aber der Jesajatext, der in der griechischen Übersetzung ein wenig vom masoretischen Text verschieden ist, wird in einer originellen Weise aufgenommen: Denn so spricht der Herr: Allen Eunuchen, die meine Sabbate halten und das erwählen, was ich will, und an meinem Bund festhalten, 5denen will ich in meinem Haus und innerhalb meiner Mauer einen namhaften Platz geben, der besser ist als Söhne und Töchter, einen ewigen Namen will ich ihnen geben, und er wird nicht vergehen. (Jes 56,4-5LXX).

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Auch das Buch der Weisheit stellt an den Eunuchen zwei Bedingungen, die jedoch verschieden sind von den im griechischen Jesajatext genannten, nämlich die Sabbate zu halten und „das zu erwählen, was ich will“, also die Einhaltung des Gesetzes, wie die darauf folgende Bedingung „an meinem Bund festhalten“ verdeutlicht. Gesetz, Bund und Sabbat verschwinden an dieser Stelle des Buches der Weisheit völlig, und die moralischen Anforderungen an den Eunuchen sind absichtlich allgemein gehalten: die eine äußerlich, kein ἀνόμημα „Gesetzesverstoß, Unrecht“ begehen (vgl. Jes 56,2), und die andere innerlich, nichts Schlechtes (πονηρά) gegenüber Gott denken, keine negativen Empfindungen gegen Gott hegen.35 Der Gebrauch von ἀνόμημα könnte an sich an eine Verletzung einer Gesetzesbestimmung denken lassen, aber der gleiche Ausdruck wurde auch schon in Weish 1,9 verwendet, und zwar in seiner allgemeinen Bedeutung „Unrecht“. Die Allgemeinheit der an den Eunuchen gestellten moralischen Forderungen zeigt in diesem Falle, dass der Verfasser nicht als Moralist sprechen will; das Buch der Weisheit besteht nicht nachdrücklich auf der Einhaltung des Gesetzes als Mittel zum Heil,36 sondern öffnet sich einem universalistischen Humanismus, der keine Angst hat, mit der griechischen Kultur in einen Dialog zu treten. Die Beschreibung der Belohnung, die den tugendhaften Eunuchen erwartet, lehnt sich immer noch an Jes 56,3–5 an, aber auch wieder mit bedeutenden Änderungen: Anstelle eines angesehenen Platzes in der Versammlung des Herrn, von der er ausgeschlossen war, und anstelle eines „Namens“, d.h. einer vom Herrn gewährten Nachkommenschaft, wie er im Jesajabuch verheißen wurde, werden dem Eunuchen eine außergewöhnliche Belohnung und ein noch wünschenswerterer Platz im Tempel des Herrn versprochen (s. oben). Auch hier löst das Buch der Weisheit, anders als der Jesajatext, die dem Eunuchen gegebene Verheißung von den kultischen Bräuchen Israels. Das Bild von der Frucht ist vielleicht ebenfalls von Jes 56,3 angeregt (dort 3,15 bezeichnet sich der Eunuch als trockenen Baum), aber auch von Ps 1,3 (s. auch oben zu 3,13c). 35 Das Verb ἐνθυμέομαι kehrt in Weish 6,15; 7,15; 9,13 wieder. 36 MAZZINGHI, „La memoria della Legge“, passim.

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Weish 4,1–6

3,16–19 Das Schicksal der Gottlosen ist unausweichlich ruinös. Der Verfasser verlässt nie,

auch wo seine Überlegungen neu sind, die aus der Bibel ererbte Denkweise. Er bedient sich weiterhin der Texte in Jes 40–66, insbesondere Jes 48,22LXX („für die Gottlosen gibt es nichts, sich zu freuen, spricht der Herr“) und fast gleichlautend Jes 57,21LXX, vgl. auch Jes 66,24, den Schlusssatz des Prophetenbuchs. 3,16 Der Erfolg der Kinder der Gottlosen, der in 3,16 infrage gestellt wird, war möglicherweise ein Gesprächsgegenstand in weisheitlichen Kreisen, vgl. Ijob 21,7– 34; 24,1–25. In 3,16 relativiert der Verfasser erneut den Wert, viele Kinder zu haben, was doch traditionell ein sicheres Zeichen des Segens Gottes war.

Drittes Diptychon: Tugend und Kinder (Weish 4,1–6) 1 Besser ist Kinderlosigkeit mit Tugend; Unsterblichkeit nämlich ist in ihrem Gedenken, denn sowohl bei Gott wird sie (an)erkannt als auch bei (den) Menschen. 2 Ist sie zugegen, ahmt man sie nach, und man vermisst sie, wenn sie entschwunden ist, und in der Ewigkeit triumphiert sie kranzgeschmückt als Siegerin im Wettkampf um unbefleckte Preise. 3 Der zahlreiche Wurf der Gottlosen aber bringt keinen Nutzen, und aus illegitimen Schösslingen wird er keine Wurzeln in die Tiefe treiben und wird keinen sicheren Stand geben. 4 Auch wenn sie nämlich zu ihrer Zeit Knospen treiben, werden sie, da sie nur unsicheren Stand gewonnen haben, vom Wind geschüttelt und von der Gewalt der Winde entwurzelt werden. 5 Die unvollendeten Triebe werden abgebrochen werden und ihre Frucht wird nutzlos sein, unreif zum Essen und zu nichts geeignet. 6 Aus ungesetzlichem Beischlaf gezeugte Kinder nämlich sind Zeugen für die Schlechtigkeit gegen ihre Eltern bei deren (gerichtlicher) Untersuchung.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1

Einige lateinische Handschriften schreiben hier: o quam pulchra est casta generatio cum claritate „o wie schön ist eine keusche Zeugung mit ihrer Vortrefflichkeit“ und legen so die Vorstellung von einer von Gott geschenkten Generation nahe. Ein solcher Gedanke ist jedoch im griechischen Text in keiner Weise vorhanden. Wohl wird diese Thematik in Auslegungen der patristischen Zeit hier eingeführt und von einigen alten Kommentatoren aufrecht erhalten, vgl. LARCHER, Sagesse II, 313–314 und SCARPAT, Sapienza I, 445.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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Das zweite Kolon von 4,1 kann auch übersetzt werden: „Im Gedenken an sie [d. i. die Tugend] liegt Unsterblichkeit“. Einige Handschriften und alte Übersetzungen (s. den Apparat bei ZIEGLER) lesen: ἡ μνήμη αὐτῆς „das Gedenken an sie (ist Unsterblichkeit)“ anstelle von ἐν μνήμῃ αὐτῆς. Dabei handelt es sich aber um eine nur schwach bezeugte, unnötige Korrektur, denn im Text besteht kein Gegensatz zwischen Unsterblichkeit in der Erinnerung und persönlicher Unsterblichkeit (s.u.). Einige HSS bieten anstelle von μιμοῦνται die Lesart τιμῶσιν; es handelt sich dabei vielleicht um eine absichtliche Änderung im Hinblick auf die gottgeweihte Jungfräulichkeit (s.o. zum lateinischen Text von 4,1a) oder aber um eine irrige Lesung von τε μιμοῦνται. Anzumerken ist, dass sich μιμέομαι in der LXX nur hier und in 4Makk 9,23; 13,9 findet. Bei Philon dagegen ist das Verb häufig. Es gewinnt im Präsens den Beiklang einer Bemühung oder eines Versuchs: „Sie bemühen sich, die Tugend nachzuahmen.“ Πολύγονος „viel gebärend“ (hier durch Hypallage mit πλῆθος verbunden) ist ein terminus technicus, hapax im Buch der Weisheit, kommt in der übrigen LXX nur noch in 4Makk 15,5 vor. Im griechischen Sprachgebrauch wird πολύγονος fast ausschließlich von Tieren verwendet und hat hier daher eine abwertende Bedeutung; deshalb ist πολύγονον πλῆθος mit „zahlreicher Wurf“ übersetzt. *Μοσχεύμα ist ein weiterer terminus technicus und bezeichnet den „Schössling“ eines Baumes. Die Wendung οὐ δώσει ῥίζαν ist unüblich; δώσει hat kein ausdrückliches Subjekt, ad sensum ist πλῆθος das Subjekt. LARCHER schlägt vor, mit einigen Minuskeln οὐ ῥίζα (δύσει so Ar.) εἰς βάθος zu lesen „die Wurzel wird nicht tief gehen“, wobei ἐκ νόθων μοσχευμάτων die Ausgangsstelle der Wurzel angäbe. Ohne Textkorrektur bleibt es aber möglich, πολύγονον πλῆθος als Subjekt zu οὐ δώσει zu lesen: Der zahlreiche Wurf der Gottlosen wird keine tief reichenden (εἰς βάθος) Wurzeln schlagen. Das Verb ἐδράζειν, „festen Stand verleihen“ ist in der LXX selten und findet sich nur noch in Spr 8,25 und Sir 22,17. Das Adjektiv νόθος bedeutet „unecht, verdorben, illegitim, Bastard“. Im griechischen Sprachgebrauch bezeichnet νόθος, anders als in der biblischen Konzeption, ein außerehelich, also von einer Sklavin oder einer Konkubine des Hausherrn geborenes Kind. Der Verfasser gebraucht hier das Adjektiv wahrscheinlich in einem weiteren Sinne, wie es bei Philon geschieht (Mos. II, 193; Spec. III, 29), der es auch auf die Kinder aus Mischehen bezieht. Mit κἂν wird ein konzessiver Konditionalsatz eingeleitet. Die Wendung πρὸς καιρόν hebt die „richtige Zeit“ hervor, hier die Zeit der Blüte. In der klassischen Gräzität ist die Verbindung typisch für Sophokles (SCARPAT, Sapienza I, 281). Das Adverb ἐπισφαλῶς verweist zurück auf ἀσφαλῆ in 4,3c: Dem, was „sicher“ ist, wird gegenübergestellt, was „unsicher“ ist. LARCHER (Etudes, 183) denkt an eine mögliche Reminiszenz an Archilochos (frg. 114,4 West.). ἄωρος bezeichnet etwas als „unreif“. In Spr 11,30LXX bezieht sich ἄωρος auf den vorzeitigen Tod der Gottlosen. Der vorzeitige Tod ist ein in den Grabinschriften häufiger Topos, auch in den jüdischen Inschriften von Leontopolis: vgl. GRIESSMAIR, Ewald, Das Motiv der Mors Immatura in den griechischen metrischen Grabinschriften, Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 1966; BLISCHKE, Eschatologie, 223–263. Zu ἐξετασμός vgl. ἐξέτασις in 1,9; vgl. auch 3,18: Das Wort bezeichnet die (gerichtliche) Untersuchung durch Gott. Das Präsens εἰσίν könnte auch eine Art von irdischem Gericht vermuten lassen, aber der Kontext der Kapitel 3 und 4 lässt eher an die Untersuchung durch Gott post mortem denken. Das Pronomen αὐτῶν ist schwierig zu deuten. Es kann sich sowohl auf die Kinder als auch auf die Eltern beziehen. GRIMM (Weisheit, 101) plädiert für die erstgenannte Deutung: Die Kinder werden beim Gericht die Schlechtigkeit ihrer Eltern als mildernde Umstände vorbringen. Aber das Wort μάρτυρες lenkt das Verständnis eher auf die

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Weish 4,1–6 Kinder selbst als weitere Zeugen der Anklage gegen ihre eigenen Eltern beim Gericht Gottes.

Synchrone Analyse 4,1 In einer Gegenüberstellung zum völlig weltlichen Lebensstil der Gottlosen kehrt

der Gedanke wieder, dass die geistlichen Güter (hier die Tugend) den materiellen überlegen sind, hier dem Kinderreichtum. 4,1 beginnt mit einem Komparativ (κρείσσων), bei dem eigentlich ein Ausdruck, im Vergleich womit die Kinderlosigkeit besser ist, fehlt. Man kann ad sensum an die Nachkommenschaft der Gottlosen denken, von der der vorhergehende Abschnitt (3,16–19) handelte, ebenso aber an den folgenden Absatz (4,3–6). Besser als viele Kinder zu haben ist die ἀτεκνία, die von der Tugend begleitet ist. Der Tugend gilt alle Aufmerksamkeit in 4,1–2. In der Erinnerung an die Tugend liegt ἀθανασία „Unsterblichkeit“. Die seltsam erscheinende Formulierung von 4,1b verdankt sich vielleicht dem Einfluss griechischer Vorstellungen, die die Unsterblichkeit mit der Erinnerung an den Gerechten verbanden.37 Jedoch hatte schon Weish 3,4b das Wort ἀθανασία in Bezug auf das künftige Leben der Gerechten verwendet, und in 4,1c wird die Erinnerung an die Tugend mit Gott selbst verbunden; deshalb ist die Bedeutung von ἀθανασία sicher spezifischer. Die Erinnerung, von der hier die Rede ist, meint darum nicht nur die bei den Menschen, sondern vor allem die Erinnerung an die Gerechten vonseiten Gottes. Denn es besteht ein Unterschied, ob jemand von Gott anerkannt ist oder bei den Menschen (4,1c). Die ἀθανασία ist daher nicht einfach die nicht verblassende Erinnerung an ein tugendhaftes Leben, sie ist vielmehr der Inhalt der Erinnerung, denn die ἀθανασία besteht ἐν μνήμη αὐτῆς. Man könnte auch sagen, dass die Tugend eine positive Erinnerung hinterlässt, die, bei Gott und durch sein Wirken, zu ἀθανασία wird zugunsten dessen, der tugendhaft gelebt hat. In 4,19g, am Ende des Kapitels, wird das Thema der Erinnerung nochmals aufgegriffen: Die μνήμη der Gottlosen wird vergehen, d.h., sie werden für immer vernichtet werden im Gegensatz zu den Gerechten, die für ein Leben ohne Ende bestimmt sind. Sich der Tugend erinnern bedeutet, sie zu leben und sie nachzuahmen. 4,2a4,2 b bezieht sich auf das menschliche Handeln (vgl. am Ende von 4,1c „bei [den] Menschen“), während 4,2c-d sich auf das Handeln Gottes bezieht (vgl. 4,1c „bei Gott“). 4,2a-b sind kunstvoll chiastisch und in gewählter Sprache formuliert: παροῦσαν τε

μιμοῦνται αὐτὴν

καὶ ποθοῦσιν

ἀπελθοῦσαν

37 LARCHER, Sagesse II, 315 erinnert an Xenophon, Mem. 2,1,33. Einen tugendhaften Menschen nachzuahmen ist ein topos communis in der griechischen Welt (vgl. SCARPAT, Sapienza I, 258–259). SCARPAT (Sapienza I, 254) denkt auch an eine mögliche Anspielung auf Sophokles (Phil. 1417ff.): Herakles behauptet, eine ἀθάνατος ἀρετή erhalten zu haben, eine ewige Tugend im Sinne eines Verdienstes, eines ewigen Ruhmes. Der Verfasser des Buches der Weisheit verwendet ἀρετή jedoch in moralischem Sinne, ἀθανασία dagegen in theologischer Bedeutung.

Synchrone Analyse

133

Die Tugend vergeht nie, wenn sie nachgeahmt wird und die Menschen ihr folgen, sie wird von Gott ausgezeichnet (4,2c-d), ja, sie zieht wie eine Wettkampfsiegerin im Triumphzug einher. Der Sieg der Tugend erfolgt ἐν τῷ αἰῶνι. Dieser eher ungewöhnliche, im Buch der Weisheit nur hier vorkommende Ausdruck ist nicht nur in zeitlichem Sinne („in Ewigkeit“), sondern vielleicht auch in einem gewissen örtlichen Sinne zu verstehen; in der Wirklichkeit, d.h. in der Welt Gottes.38 Das letzte Kolon von 4,2 weist darauf hin, dass der Sieg der Tugend in einem Wettkampf um „unbefleckte Preise“ erfolgt. Hier ist ἀμίαντος „unbefleckt“ (vgl. Weish 8,20 und mit sexuellem Beiklang Weish 3,13) zu verstehen im Gegensatz zu irdischen Preisen, die von Konkurrenzkampf und Neid befleckt sind (vgl. im NT 1Petr 1,4: ἀμίαντος κληρονομία). Vielleicht ist hierin auch eine polemische Spitze gegenüber jenen Juden enthalten, die nackt an den Sportkämpfen, die oft zu Ehren heidnischer Gottheiten ausgetragen wurden, teilnahmen und sich so befleckten. Der „Preis“ scheint hier die ἀθανασία zu sein, das Leben ohne Ende, das Gott dem gewährt, der tugendhaft lebt. Mit dem δέ am Anfang kennzeichnet der Verfasser das Folgende als Gegen- 4,3a überstellung zu 4,1–2 und leitet so den zweiten Teil des Diptychons ein. Zum zweiten Mal (vgl. Weish 3,16–19) wendet sich der Text dem nur relativen Wert zu, den die biblische Tradition dem Kinderreichtum zuschreibt, der hier abwertend als zahlreicher „Wurf“ bezeichnet wird (s.o. die Anmerkung zum Text). Viele Kinder zu haben, ist für die Gottlosen von keinerlei Nutzen. Das Verb χρησιμεύω ist hier absolut gebraucht (vgl. Sir 13,4), um die völlige Nutzlosigkeit zu bezeichnen, und bildet eine quasi-inclusio mit ἄχρηστος in 4,5b. In acht Kola (4,3b-5) entfaltet der Text Bilder aus der Pflanzenwelt und wendet 4,3b-5 sie auf die Kinder der Gottlosen an. Was ist der Sinn dieser Vergleiche? Auf einer ersten Bedeutungsebene kann man an eine Allegorie denken: Die Kinder, die aus einer illegitimen Vereinigung geboren wurden (vgl. 3,16), sind wie Schösslinge, die keine feste Wurzel haben (4,3b-c). Manchmal scheint ihr Leben erfolgreich zu verlaufen, d.h. ihre Zweige erscheinen grün (4,4a), aber da sie nicht fest eingepflanzt sind, werden sie bald vom Wind gerüttelt und vom Sturm ausgerissen (4,4c). Ohne Metaphern gesprochen: Das Leben der Gottlosen hat schlussendlich keinen wirklichen Erfolg, auch wenn die Anfänge vielversprechend erscheinen. Die Gottlosen (und ihre Kinder) werden vielmehr wie unausgewachsene Triebe sein (4,5a) und, falls an ihnen tatsächlich Früchte wachsen sollten, werden diese in Wirklichkeit zu nichts taugen (5bc). Einige der Wörter in diesem Abschnitt kamen früher schon in nichtmetaphorischem Sinn vor: Die nicht gut eingepflanzte „Wurzel“ der Gottlosen steht so der „Wurzel“ der Klugheit, die nie vergeht (ἀδιάπτωτος ἡ ῥίζα τῆς φρονήσεως 3,15b), gegenüber. Die Triebe der Gottlosen sind ἀτέλεστοι, so waren auch schon in 3,16a die Kinder von Ehebrechern beschrieben worden. Das Thema „Frucht“ wurde bereits in 3,15a eingeführt als das Ergebnis „guter Werke“, das gewiss anerkannt ist. Der lange Pflanzenvergleich dient so dazu, die Grundthese des Verfassers zu veranschaulichen: Die Kinder der Gottlosen werden nicht zu voller sittlicher Reife gelangen, da ihnen Tugend fehlt (4,1–2). Sie werde jene „Frucht“ eines tugendhaften Lebens nicht erreichen, die schließlich ein Leben mit Gott ohne Ende ist (vgl.

38 GÄRTNER, Komposition und Wortwahl, 119.

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Weish 4,1–6

die Verbindung mit 3,15). Zu bemerken ist, dass ἀτέλεστοι (4,5a) auch eine existenzielle Bedeutung haben kann: Die Kinder der Gottlosen erreichen nicht das Ziel, das τέλος ihres Lebens, sie sind wie Pflanzen, die nur unreife Früchte hervorbringen, die zu nichts taugen (4,5b-c; vgl. auch die Erläuterung zu 3,16a). Die Verwendung von ἄωρος „unreif“ leitet schon über zum folgenden Abschnitt des Kapitels (4,7–16) über den jung Verstorbenen, der aber schon die Reife seines Lebens erreicht hatte. Wiederum ist das Urteil des Verfassers über die Kinder der Gottlosen sehr hart; es spiegelt aber ähnliche Vorstellungen, die sowohl in der griechischen als auch in der jüdischen Welt verbreitet waren39, und entsteht aus der Erfahrung: Aus faulen Wurzeln können kaum gute Früchte wachsen. Die beiden Schlusskola dieses Abschnitts betonen die Schuld der Eltern mehr 4,6 als die der Kinder, die aus illegitimen Verbindungen geboren wurden (s.o. zu 3,16). Die in 4,6b erwähnte Untersuchung (ἐξετασμός: s.o. Anmerkung zum Text) bei den Eltern ist das Gericht Gottes, von dem schon in 1,9 und 3,18 die Rede war, auch wenn es schwierig ist, eindeutig festzulegen, ob es um ein Gericht post mortem geht oder um ein anderes Handeln Gottes in Bezug auf das gegenwärtige Leben des Menschen. Vielleicht ist die Mehrdeutigkeit gewollt. Jedenfalls stellt 4,6 fest, dass die Nachkommen dann, wenn Gott über die gottlosen Eltern Gericht hält, die ersten Zeugen der Anklage sein werden allein durch ihre Existenz und ihr verdorbenes Leben. Nach der Meinung des Verfassers scheint es klar zu sein, dass die Kinder den Spuren ihrer Eltern folgen. In dieser Weise drückt das Buch der Weisheit die feste, zutiefst biblische Überzeugung aus, dass die Schuld der Gottlosen unausweichlich auch ihre Nachkommenschaft erfasst. Hervorzuheben ist schließlich die Beziehung von 4,6 zu 4,1–2, wozu 4,6 die Antithese bildet: Während die Tugend bei Gott und den Menschen öffentlich anerkannt ist (4,1c), wird auch die Gottlosigkeit anerkannt – von den eigenen Kindern der Gottlosen (4,6b).

Diachrone Analyse 4,1 Die ἀτεκνία ist nicht im Sinne von Jes 47,9 zu verstehen, d.h. der Kinder beraubt

zu sein, sondern wie in Ps 34,12LXX, wo sie das Nichthaben (oder Nichtgehabthaben) von Kindern bedeutet, also Unfruchtbarkeit, wodurch auch immer sie verursacht sein mag. Der Verfasser kann den bereits erwähnten Text von Sir 16,3 im Sinn gehabt haben: κρείσσων γὰρ εἷς ἢ χίλιοι καὶ ἀποθανεῖν ἄτεκνον ἢ ἔχειν τέκνα ἀσεβῆ. Dieser Gedanke ist hier jedoch weiterentwickelt und in mehrerer Hinsicht neu: Die Kinder sind in der biblischen Vorstellungswelt eine Gabe Gottes, die hier jedoch zugunsten eines tugendhaften Lebens relativiert wird. Die Fruchtbarkeit ist nicht mehr das höchste Gut, das eine Frau sich wünschen kann. „Die Wendung μετὰ ἀρετῆς erscheint auf den ersten Blick weniger biblisch“.40 Bereits das Wort ἀρετή ist in der LXX selten mit Ausnahme von Weish und 2– 4Makk (vgl. 4Makk 9,18; 10,10). Der Tugend gemäß zu leben, stellt bekanntlich

39 Vgl. die bei WINSTON, Wisdom, 134–135, angeführten Texte. 40 SCARPAT, Sapienza I, 252.

Diachrone Analyse

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einen der zentralen Gedanken der stoischen Ethik dar. Wie Weish 8,7 deutlich macht, ist die ἀρετή eng verbunden mit der δικαιοσύνη, aber sie umfasst auch die anderen sittlichen Tugenden, die typisch sind für den Stoizismus: σωφροσύνη, φρόνησις, ἀνδρεία (s.u. den Kommentar zu 8,7). Im Buch der Weisheit (vgl. auch 5,13) ist Tugend aber nicht das Heldentum der Makkabäer, sondern eine sittliche Haltung, die vor allem mit der Verwirklichung der Gerechtigkeit verbunden ist (s.o. Kommentar zu 1,1). In 4,1 ist es diese allgemeine, aber hoch stehende Vorstellung von Tugend, die der Verfasser im Sinne hat. Deshalb ist eine engere Auslegung auf das Sexualverhalten hin, d.h. ein Verständnis der Tugend als eheliche Treue der Frau, hier abzulehnen. Der Text von 4,2a-b nimmt ein Sprichwort auf, das, neben andern, Horaz über- 4,2 liefert hat: virtutem incolumem odimus sublatam ex oculis quaerimus invidi „Wir hassen die Tugend, solange sie lebt, wir suchen sie neidisch, wenn sie den Augen entzogen ist“ (Carm. 3,24,31),41 jedoch mit bemerkenswerten Veränderungen: Die Tugend ist eine sehr erhabene Angelegenheit; die Menschen strengen sich an, sie nachzuahmen, wenn sie sie sehen, und suchen sie, wenn sie sie nicht finden. Oder besser: Die Tugend wird bewundert und man folgt ihr, als wäre sie eine schöne Frau; man trauert ihr nach, wenn sie nicht mehr da ist. Vielleicht greift der Verfasser hier auf einen Satz des Xenophon zurück (Mem. 3,11,3).42 Die in 4,2c verwendeten Ausdrücke mit der Bezugnahme auf den Kranz und der Verwendung von πομπεύω im Sinne von „den Sieg feiern, im Triumphzug schreiten“ stammen aus der Welt des Sports. Der ἀγών ist in der griechischen Welt der sportliche Wettkampf, bei dem der Sieger einen Preis (ἆθλον) erhält. Ähnliche Bilder finden sich im NT: vgl. 1Kor 9,24–27; Phil 3,13–14, und für den Siegeskranz 2Tim 4,8; Jak 1,12; 1Petr 5,4; Apk 2,10; 3,11. Die Vorstellung des Lebens als ἀγών kommt in alexandrinischer Umwelt auch in 4Makk 17,11–16 vor, aber es handelt sich um ein klassisches Bild, das dann auch im NT verwendet wird (Hebr 12,1; 2Tim 2,5; 4,7).43 Bemerkenswert ist der Text 1QS IV,6–8, der einige Berührungspunkte mit Weish 4,2 aufweist: „Dies sind die Ratschläge des Geistes für die Söhne der Wahrheit in der Welt. Die Heimsuchung all derer, die darin wandeln, führt zu Heilung und viel Wohlbefinden in langer Lebenszeit und zu fruchtbarer Nachkommenschaft mit allen Segnungen immerdar und zu unendlicher Freude in einem ewigen Leben und zu einer Krone von Herrlichkeit mit einem Prachtgewand in ewigem Licht.“44 Der Text aus Qumran zeigt, dass in der Gemeinschaft am Toten Meer die Erwartung einer „Heimsuchung“ durch Gott (‫ )פקודה‬lebendig war, wie sie ganz ähnlich mit der ἐπισκοπή im Buch der Weisheit angegeben wird. Die Empfänger dieser Heimsuchung leben in dieser Welt ein langes Leben, in Fruchtbarkeit, Frieden und Gesundheit und in ewiger Freude (vgl. Weish 3,3b), wo die Gerechten mit Herrlichkeit gekrönt werden (Weish 4,2c). In dem Qumrantext sind jedoch die traditionellen Werte der Fruchtbarkeit und des langen Lebens beibehalten; aber die eschatologische Perspektive 41 Vgl. SCARPAT, Sapienza I, 255. 42 Vgl. SCARPAT, Sapienza I, 256–257. 43 WINSTON, Wisdom, 134; SCARPAT, Sapienza I 279; vgl. LARCHER, Sagesse II, 318, der darauf hinweist, dass der Unterschied zwischen dem Kampf des Weisen um die Tugend und den profanen Sportkämpfen ein typisches Thema der Diatribe ist. 44 Übersetzung nach Johann MAIER, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer Bd. I, München/Basel: Ernst Reinhard 1995, 175; vgl. Paolo SACCHI, Regola della Comunità, Paideia: Brescia 2006, 107–108.

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Weish 4,7–20 zeigt, dass das Buch der Weisheit im zeitgenössischen Judentum mit seiner Ankündigung eines künftigen Lebens durchaus keine isolierte Abseitsstellung einnimmt.

4,3b-5 Die symbolische Verwendung der Wurzeln (4,3b-c), der Schösslinge, der Knospen

und der Zweige (4,4), der Sprossen und der Früchte (4,5) in Bezug auf das menschliche Leben und insbesondere auf die Nachkommen ist in der Bibel verbreitet (vgl. Jes 11,1; Ps 127[128MT],3; Ijob 8,16–19). Der Verfasser könnte aber auch von Texten wie Ijob 15,32–33; 18,16 und Sir 23,25 angeregt worden sein, der letztgenannte Text spricht von den Kindern der Ehebrecherin, vgl. auch Sir 40,15. Aber im Buch der Weisheit sind die Einzelheiten viel weiter entfaltet. Das Wort ἄωρος dagegen klingt für die Hörer- bzw. Leserschaft des Buches der Weisheit wie eine deutliche Bezugnahme auf den Topos der Grabinschriften von der mors immatura, die hier nur die Gottlosen zu betreffen scheint (s.o. Anmerkungen zum Text).

Viertes Diptychon: Der vorzeitige Tod des Gerechten und der traurige Tod der Gottlosen (Weish 4,7–20) 7 Ein Gerechter aber wird, wenn er früh stirbt, in der Ruhe sein. 8 Ehrenvolles Alter ist nicht das langwährende, und es ist nicht an der Zahl der Jahre gemessen. 9 Graues Haar ist vielmehr für die Menschen Klugheit, und Greisenalter ein fleckenloses Leben. 10 Da er Gott wohlgefällig geworden war, wurde er geliebt; während er mitten unter Sündern lebte, wurde er wegversetzt. 11 Er wurde fortgerissen, damit nicht Bosheit seine Einsicht veränderte oder Falschheit seine Seele verführte. 12 Der Reiz des Bösen verdunkelt nämlich das Edle, und der Strudel der Begierde verändert den arglosen Sinn. 13 Vollendet in kurzer (Zeit), hat er lange Zeiten erfüllt; 14 wohlgefällig nämlich war seine Seele dem Herrn, deshalb enteilte sie aus der Mitte der Schlechtigkeit. Die Leute aber – sie sahen (es) und verstanden (es) nicht und machten sich etwas Derartiges auch nicht bewusst: 15 dass Gnade und Erbarmen seinen Erwählten (zuteil werden) und Heimsuchung seinen Heiligen. 16 Der entschlafene Gerechte aber wird die noch lebenden Gottlosen verurteilen, und die schnell ans Ende gelangte Jugend das vieljährige Alter des Ungerechten. 17 Sie werden nämlich das Ende des Weisen sehen und nicht verstehen, was in Bezug auf ihn beschlossen hat und wozu ihn in Sicherheit gebracht hat der Herr.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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18 Sie werden es sehen und für nichts halten; sie aber wird der Herr auslachen, 19 und es wird für sie danach zu einem ehrlosen Sturz kommen und zu Erniedrigung bei den Toten in Ewigkeit. Denn er wird sie, (die) verstummt (sind), vornüber reißen und sie aus ihren Fundamenten schütteln, und bis zum Äußersten werden sie verwüstet werden und in Schmerz sein, und die Erinnerung an sie wird vergehen. 20 Sie werden furchtsam kommen bei der Zusammenrechnung ihrer Verfehlungen, und von der Gegenseite her werden ihre Gesetzesverstöße sie überführen.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 11 Einige Handschriften (vgl. ZIEGLER) ersetzen μή „damit nicht“ durch πρίν „bevor“; vielleicht handelt es sich dabei um eine theologische Präzisierung, die vermeiden soll, unvermittelt die Absicht der „Wegversetzung“ Henochs auszudrücken (wie es durch μή geschieht) und die so einen neutraleren Sinn bietet: „bevor Bosheit seine Einsicht veränderte“. 12 *ῥεμβασμός „Strudel, Streunen“ stellt wahrscheinlich eine Wortschöpfung des Verfassers dar und enthält in sich die Vorstellung von Unrast und ständiger Bewegung (vgl. das lateinische Wort inconstantia), s. SCARPAT, Sapienza I, 286. Die Bedeutung von μεταλλεύω ist umstritten. Das Wort hat in Weish 16,25 die Bedeutung „verändern“. Im Griechischen bedeutet es sonst „unter Tage schürfen“, d.h. nach Metallen graben. LARCHER, Etudes, 182, vermutet beim Verfasser eine nicht perfekte Beherrschung des Griechischen; vgl. auch WINSTON, Wisdom 141–142. REESE, Hellenistic Influence, 29, meint, der Verfasser verwende das Verb hier in einem übertragenen Sinn wie „unterminieren“. Denkbar ist auch eine Verwechslung mit dem Verb μεταλλοιόω „ändern“. 14–15 Das Verb σπεύδω (4,14b) kann intransitiv verstanden werden, wie es auch dem griechischen Sprachgebrauch entspricht („der Gerechte beeilte sich, enteilte…“; vgl. Weish 18,21a). Da dies aber so gedeutet werden könnte, als ob der Gerechte das aktive Subjekt seiner eigenen Befreiung wäre, ziehen einige (vgl. CORNELY, Commentarius, 163) es vor, das Verb transitiv zu verstehen mit Gott als Subjekt, und ergänzen dabei als Objekt αὐτήν oder αὐτόν. In der lateinischen Übersetzung properavit educere illum de medio iniquitatum bildet educere illum einen erläuternden Zusatz zum Text. Die syro-hexaplarische und die armenische Übersetzung und die Kommentare des Malachias und des Matthaeus Cantacuzenus denken an die Seele (ἡ ψυχή) als Subjekt zu ἔσπευσεν: „sie enteilte“, die Seele des Gerechten übernimmt selbst die Initiative, sich aus der Situation der Bosheit zu entfernen, und folgt freudig dem Vorhaben und Ruf Gottes. Bei dieser Deutung nähme das Buch der Weisheit griechische Vorstellungen auf über die Seele, die ihrem Ursprungsort zustrebt. Siehe dazu GRIMM, Weisheit, 106, LARCHER, Sagesse II, 338, WINSTON, Wisdom, 142. In 4,14c lesen A* und mehrere Minuskelhandschriften οἱ δὲ ἄλλοι anstelle von οἱ δὲ λαοί. Es handelt sich dabei um eine lectio facilior. Eine solche Korrektur zeigt eine gewisse Schwierigkeit der Kopisten, unerwartet „die Völker“ im Text erwähnt zu finden, die das Ende des jungen Gerechten nicht begreifen. Aus diesem Grunde entscheidet sich LARCHER, die Konjektur von KUHN zu übernehmen: οἱ δ’ ἀλαοί „die Blinden

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Weish 4,7–20

aber…“. Der Text kann jedoch gut erklärt werden, ohne auf solche Konjekturen zurückzugreifen, die von keinem Textzeugen gestützt sind. 4,14c stellt einen Anakoluth dar, in dem ein Hauptverb fehlt. Die drei Partizipien im Nominativ können für Genitivi absoluti stehen (s. SCARPAT, Sapienza I, 289). Auch die Wendung τὸ τοιοῦτο „etwas Derartiges“, die normalerweise auf etwas Vorangehendes verweist, kann proleptisch den Inhalt des mit ὅτι eingeleiteten Objektsatzes 4,15 ankündigen. Die Edition von ZIEGLER setzt 4,15 in eckige Klammern [ ], da sie die beiden Kola als Dublette von 3,9c-d betrachtet (s.o. die Anmerkung zu 3,9). In 4,15a ist die Präposition ἐν verdächtig, sie fehlt auch tatsächlich in S und einigen Minuskelhandschriften Wie in 3,9c-d ist in A, mehreren Minuskelhandschriften, alten Übersetzungen und Kommentaren die Reihenfolge ἐκλεκτοῖς … ὁσίοις vertauscht. 4,15 ist in allen Textzeugen vorhanden; dass hier der Text von 3,9c-d wiederholt wird, kann zum Stil des Buches der Weisheit gehören. Falls es sich um eine Glosse handelt, muss sie wirklich schon sehr alt sein. 4,15 erscheint jedoch unverzichtbar für den Gedankengang des Abschnitts: Die Völker haben die Liebe Gottes zu den Gerechten (4,15 weist auf das in 4,10 schon Gesagte zurück) nicht verstanden (4,14c-d). 16 4,16 wird von einigen Autoren als Glosse betrachtet (GUTBERLET, DEANE, GOODRICK; WINSTON nimmt noch das γάρ am Beginn von 4,17 hinzu). Auch wenn 4,16 einen weiteren Anakoluth bildet, kann er als zusammenfassender Abschluss des ganzen Gedankenganges über den vorzeitig verstorbenen Gerechten betrachtet werden (beachte die inclusio mit 4,7–8a: δίκαιος - γῆρας) und zugleich als Ankündigung des zweiten Teils (4,17–20), der dem Gericht über die Gottlosen gewidmet ist. Das Verb κατακρινεῖ steht im Futur in gnomischer Bedeutung. Die Lesart θανών anstelle von καμών in einigen Textzeugen (s. den Apparat bei ZIEGLER) ist eine lectio explicativa und als solche auszuscheiden. Das Partizip καμών „entschlafen“ ist ein Euphemismus für „gestorben“, der seit Homer (Od. 11,476) verwendet wird und den Beiklang von „ermüden“ hat, was gut zu den ermüdenden Anstrengungen passt, die der junge Gerechte aufgewandt hat, um zur Vollendung zu gelangen. Das Verb τελέω wird manchmal im Sinne von τελειωθείς in 4,13 verstanden, und eine thematische Wiederaufnahme erscheint nicht als unmöglich. Aber der Kontext lässt eher an die Bedeutung „(das Leben) beenden“ denken. Das erste Kolon spielt mit den Gegenüberstellungen Gerechter / Gottlose und verstorben / lebend, das zweite dagegen mit einer Gegenüberstellung zeitlicher Art: Jugend (schnell) beendet / Alter vieljährig. Vgl. Lat: iuventute celerius consummata (Luciani, „Il significato del verbo teléô in Sap 4,16“). Das Wort *πολυετής „vieljährig, reich an Jahren“ ist ein hapax der LXX und im klassischen Griechisch selten. 19 πτῶμα ist in seiner üblichen Bedeutung „Fall, Sturz“ übersetzt (vgl. SCARPAT, Sapienza I, 292–293, in der das Wort häufig in der LXX verwendet wird (z.B. Jdt 8,19; 13,10; Spr 16,18; Sir 31,6; PsSal 3,10). Einige moderne Übersetzungen geben hier πτῶμα mit „Leichnam“ wieder (in dieser Bedeutung s. Ri 14,8; Ps 109[110MT],6; Mt 14,12; 24,28; Mk 6,29; 15,45; Apk 11,8.9); wäre das Wort hier in diesem Sinne gemeint, könnte πτῶμα ἄτιμον an eine nicht beerdigte oder ohne ehrende Bestattung vergrabene Leiche denken lassen. In 4,19c kann ῥήξει Futur sein von ῥήγνυμι „reißen, sprengen, losreißen“ oder von der späteren Form ῥήσσω. Das Verb kann in militärischem Sinne gebraucht werden: (die feindlichen Schlachtreihen) „durchbrechen, niederreißen“. Das folgende Wort πρηνής (attisch πρανής) bedeutet „vornübergeneigt, kopfüber“ (Lat hat inflatos „aufgebläht“, so auch Aeth, Arm; Syr scheint statt πρηνεῖς zu lesen πριστούς „zersägt, zerschnitten“ von πρίω oder πρίζω „zersägen, zerschneiden“). Man könnte daran denken, dass Gott die Gottlosen niederschlägt oder vornüberstürzen lässt, sie zum Verstummen

Synchrone Analyse

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bringt (ἀφώνους) und in den Abgrund sinken lässt. SCARPAT (Sapienza I, 293–294) vermutet stattdessen die klassischere Wendung ῥήξει φωνήν „er wird die Stimme losreißen, er wird frei heraus reden“ und betrachtet den Gerechten als Subjekt zu ῥήξει und die Gottlosen als Objekt (ἀφώνους).

Synchrone Analyse 4,7–16: Der zu frühe Tod des Gerechten Die Überlegungen zum frühen Tod des Gerechten beginnen in 4,7–9 mit einem Konditionalsatz und einer Grundaussage: „Wenn es geschieht, dass ein Gerechter (δίκαιος ohne Artikel) vorzeitig stirbt (ἐὰν φθάσῃ τελευτῆσαι), in (der) Ruhe wird er sein“. Darauf folgen zwei verneinte Aussagen (4,8) und eine zweifache Feststellung (4,9). Das erste Argument ist klar: Hohes Alter ist nicht notwendig ein Zeichen des göttlichen Segens und ein Lohn für Tugend, denn es ist nur dann hoch zu schätzen, wenn es mit Klugheit und Rechtschaffenheit der Lebensführung verbunden ist. Der vorzeitige Tod eines Gerechten (4,7) muss nicht notwendigerweise den Tod eines jungen Menschen bezeichnen. Dass es hier um einen jungen Menschen geht, begreift man erst aus dem Kontext des ganzen Abschnitts. Dem schwer erträglichen Ereignis eines solchen Todes stellt der Verfasser das Vertrauen auf eine künftige Wirklichkeit gegenüber: „Er wird in Ruhe sein“ (ἐν ἀναπαύσει). Das Futur (ἔσται) verweist auf das Schicksal der Gerechten, das schon in 3,1–9 beschrieben wurde, insbesondere auf das Im-Frieden-Sein (3,3), auch wenn dort der Kontext verschieden ist: Hier in 4,7 werden keine Leiden erwähnt, die dem vorzeitigen Tod des Gerechten vorausgegangen wären. Das ehrenwerte Alter (τίμιον; vgl. 2,10) wird nicht aus der Zahl der Jahre errechnet (4,8b), sondern entsprechend der Unterscheidungsfähigkeit (φρόνησις „Klugheit“) und der Tadellosigkeit der Lebensführung (4,9). Die „Klugheit“ (zu φρόνησις s. den Kommentar zu 3,15), die für das Alter charakteristische Tugend, wird hier in beinahe revolutionärer Weise auch jungen Menschen zugeschrieben. Das Adjektiv *ἀκηλίδωτος „fleckenlos“, das sonst in der LXX nicht vorkommt (vgl. allerdings Spr 25,18: dort ersetzen die Kodices A und Scorr das in der LXX einmalige ἀκιδωτός „spitz, scharf“ durch ἀκηλίδωτος), ist ein gewählter Ausdruck, der in Weish 7,26 zur Beschreibung der Weisheit wiederkehrt. Philon verwendet das Adjektiv sieben Mal (Virt. 205.222; Spec. I, 150.167; Cher. 95; Sacr. 139; Det. 171); es muss also ein in der alexandrinischen Welt gängiger Begriff gewesen sein. 4,10 hebt die Folgen eines tadellosen Lebens, das in 4,9 erwähnt wurde, hervor. Die asyndetische Konstruktion zeigt den Übergang zu einem neuen Gedankengang an. Der Gerechte wird Gott „wohlgefällig“. Das „Werden“ (Partizip γενόμενος) setzt ein Fortschreiten in der Tugend voraus. Er wird von Gott geliebt (ἀγαπάω wird hier im Passiv verwendet, s.o. zu Weish 1,1a). Das vom gleichen Lexem εὐαρεστ- gebildete Verb εὐαρεστέω „wohlgefällig sein“ wird in Gen 6,9 bei Noah und in Gen 17,1 bei Abraham verwendet, aber vor allem bei Henoch in Gen 5,22.24 (s.u.). Der Gerechte wurde demnach „wegversetzt“: μετατίθημι, das hier, wie ἀγαπάω in 4,10a, in Bezug auf die Tätigkeit Gottes im Passiv verwendet wird, erinnert sogleich an die Figur Henochs (s.u.). Denn dieses Verb wird in der LXX in Gen 5,24 und in Sir

4,7–9

4,10

Anspielung auf Henoch?

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Weish 4,7–20

44,16 ebenso wie in Weish 4,10 jedesmal gerade für diesen Patriarchen vor der Sintflut gebraucht (so auch noch Hebr 11,5). Die Anspielung dürfte daher für die Zuhörerschaft des Buches ganz klar gewesen sein. Die „Wegversetzung“ bzw. Entrückung des Gerechten – offenbar in die Sphäre Gottes, auch wenn der Text dies nicht ausdrücklich sagt – wird damit begründet, dass er „mitten unter Sündern lebte“. Dabei drückt das Partizip Präsens ζῶν eher die Gleichzeitigkeit aus, nicht eine Begründung, also: „während er … lebte“ und nicht: „weil er … lebte“. Die Passivform ἡρπάγη am Beginn von 4,11 bildet einen weiteren Hinweis auf 4,11 das Handeln Gottes, der den Gerechten dem Tode „entreißt“. Das Verb ἁρπάζω wird im NT in einer ähnlichen Bedeutung wieder erscheinen (vgl. 1Thess 4,17; 2Kor 12,2.4; Apk 12,5). Auch in der griechischen Welt wurde das Verb verwendet, um einen Tod als plötzlich und unerwartet zu bezeichnen (vgl. Plutarch, Cons. Apoll. 30 = 117c). Der Gerechte wird aus dieser Welt „gerissen“, damit seine σύνεσις nicht von der Bosheit verändert würde; σύνεσις bedeutet hier die Fähigkeit zu verstehen und das Gute vom Bösen zu unterscheiden (vgl. 1Kön 3,9 über die Gabe, die Salomo von Gott erbittet; s. u. Weish 9,5; 13,13). Während mit κακία die Bosheit im Allgemeinen bezeichnet wird, meint δόλος eher „Tücke, Hinterlist, Falschheit, Lüge“, die die Seele des Gerechten verderben kann. Seele (ψυχή) ist hier erneut nicht als selbständiger Teil, sondern als Subjekt des sittlichen Lebens des Menschen verstanden. Das Verb ἀπατάω „irreführen: täuschen, betören, verführen“ ist wahrscheinlich im Blick auf Gen 3,13 gewählt, wo es für die Irreführung der Frau durch die Schlange verwendet wird. 4,12 bietet die Begründung für 4,10–11. Was im Menschen edel (τὰ καλά) ist, 4,12 wird verdunkelt (ἀμαυρόω) durch den Reiz des Bösen. βασκανία (vgl. 4Makk 1,26; 2,15) bezeichnet den verführerischen Anreiz mit einer deutlichen Anspielung auf Magie und Zauber. Das Wort *φαυλότης kommt sonst in der LXX nicht vor; das Adjektiv φαῦλος wird im NT meist in malam partem verwendet und bedeutet „verachtenswert, niederträchtig, böse“ (vgl. Röm 9,11; 2Kor 5,10). Die Fügung βασκανία φαυλότητος kann man in etwa wiedergeben mit „der Bannkreis der Sünde“, der Reiz, die Verführung der Bosheit, der Niedertracht. Das zweite Kolon von 4,12 umschreibt, wie ein argloser Mensch (νοῦς ἄκακος) überwältigt wird vom Strudel der Begierde. Dabei meint νοῦς die höhere Fähigkeit der Seele. Das Wort ἐπιθυμία hat nicht von sich her eine negative Bedeutung (vgl. Weish 6,17.20), kann sie aber annehmen (vgl. Weish 16,2). Die Begierde erscheint hier wie eine Leidenschaft, die metaphorisch als ein überwältigender Strudel vorgestellt wird, der vom Menschen Besitz ergreift und ihn zum Bösen zieht. Gott weiß also,45 dass der Gerechte, solange er mitten unter Sündern lebt, verdorben werden kann. Der Tod wird so paradoxerweise ein Zeichen der Gnade, das ihn vor einem fast unausweichlichen sittlichen Verfall in Sicherheit bringt. Der Text will zweifellos auf die Situation der alexandrinischen Juden anspielen, die ja auch „mitten unter Sündern“ leben“. Aber durch seinen sprichwortartigen Klang gewinnt er eine universale Reichweite, die ihn zu jeder Zeit aktuell macht. 4,13 Der erste Teil des Diptychons (4,7–12) beschrieb das überraschende Vorhaben Gottes, das den Menschen gerade durch den vorzeitigen Tod des Gerechten offen-

45 Zu den durch diesen Text in der Vergangenheit aufgeworfenen theologischen Problemen vgl. LARCHER, Sagesse II, 335–336.

Synchrone Analyse

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bar wird. 4,13 kehrt zu dem Gedanken zurück, mit dem die Überlegung begonnen hatte (4,7). Während die Kinder der Gottlosen „unvollendet“ sind (3,16; 4,5), hat der junge Gerechte die „Vollendung“ erreicht (4,13; vgl. 6,15); er hat lange Zeiten „erfüllt“, voll durchlebt (ἐπλήρωσεν), d.h., er hat sein eigenes Leben zur Vollendung geführt, wie wenn er tatsächlich sehr alt geworden wäre. Die beiden Kola 4,14a-b nehmen 4,10–12 wieder auf: Die Seele des Gerechten, 4,14 die Gott wohlgefällig ist, beeilte sich, eine böse Welt zu verlassen. Der Gerechte scheint so auf den eigenen Tod mit Freude zu schauen und nicht mit Resignation. Der Tod ist für ihn kein Unglück, sondern die Begegnung mit Gott. Der Verfasser schließt hier die ganze Botschaft von 3,1–9 mit ein. Unversehens geht der Text in 4,14c-d dazu über, mit einem deutlichen Einschnitt, der den Leser erstaunt (vgl. die Verwendung des Anakoluths), das Verhalten der „Völker“, hier in einem abfälligen Sinn verstanden, zu betrachten: Sie begreifen „etwas Derartiges“ (τὸ τοιοῦτο) nicht (vgl. 2,22), d.h. den vorzeitigen Tod des Gerechten, aber vorausgreifend auch (s.o. die Anmerkung zum Text) die Barmherzigkeit Gottes gegenüber den Gerechten (4,15). Die Wendung θέντες ἐπὶ διανοίᾳ hat einen griechischen Klang. διάνοια (das Wort kommt nur hier im Buch der Weisheit vor) ist gleichbedeutend mit „Verstand“ oder „Bewusstsein“; in der LXX ist das Wort fast synonym zu καρδία. 4,15 führt inhaltlich aus, was mit τὸ τοιοῦτο „etwas Derartiges“ am Ende von 4,15 4,14d gemeint war: Das Verhalten Gottes gegenüber den „Erwählten“ und den „Heiligen“; ἐκλεκτοί hebt die Auserwählung vonseiten Gottes hervor, als ὅσιοι werden die „Frommen“ bezeichnet, die dem Herrn treu sind (vgl. Weish 6,10; 7,27; 10,15.17; 18,1.5.9). Das Verhalten Gottes gegenüber den Gerechten ist gekennzeichnet durch „Gnade“ und „Barmherzigkeit“ (χάρις καὶ ἔλεος; vgl. 3,9). Das Buch der Weisheit fügt hier das bereits genannte Thema der „Heimsuchung“ (ἐπισκοπή) hinzu, eine Metapher des künftigen Heils, das der Herr seinen Erwählten gewähren wird (s. den Kommentar zu 2,20; 3,7.13), ohne dass es auch hier möglich wäre, die Weise dieses Eingriffs Gottes post mortem zugunsten der Gerechten genauer anzugeben. 4,15 dürfte im Gedankengang des Diptychons unverzichtbar sein, da die beiden Kola dazu dienen, das Verhalten Gottes gegenüber dem Gerechten auszudrücken, positiv und rettend, reich an Gnade und Barmherzigkeit, in Treue zum Bund: Den „Völkern“ gelingt es nicht, das zu begreifen, da ihnen die Logik der Liebe dieses Gottes, der seinen Erwählten Heil jenseits des Todes gewährt, fremd ist. In einem weiteren stilistischen Sprung (die in 4,14c genannten Völker sind 4,16 erst in 4,17–18 erneut Subjekt) spricht 4,16 wieder vom Gerechten, der so, wie er die Gottlosen durch sein Leben verurteilt hatte (2,12–14), sie nun durch seinen Tod verurteilt. Der Text gibt nicht genauer an, von welcher Verurteilung er spricht, auch wenn es möglich ist, an den Tod des Gottlosen zu denken, der seine Bosheit endgültig aufdeckt. Den Gottlosen gelingt es nicht, die Existenz des Gerechten auszulöschen, der, auch wenn er stirbt, ein greifbarer Beweis des Scheiterns ihres ganzen Lebens ist. Dieser Gedanke ist ansatzhaft schon in der Erwähnung des Blutes Abels, das aus dem Erdboden zu Gott schreit (Gen 4,9–11), enthalten. Der Tod des jungen Gerechten, der von den Gottlosen als Unglück gedeutet wurde (vgl. 3,2), wird jedoch in unerwarteter und paradoxer Weise das Zeichen ihrer eigenen Verurteilung.

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Weish 4,7–20

Obwohl die Gottlosen ein reiferes Alter erreicht haben und ein sehr langes Leben (4,16b), konnten sie das, was der Gerechte in seiner scheinbar allzu schnell verflossenen Jugend erlangt hatte, nicht erreichen. Der Verfasser beantwortet so die Frage, die unausgesprochen den ganzen Abschnitt durchzieht: Wie ist es möglich, dass die Gottlosen so lange leben? Auch wenn das geschieht, haben die Gottlosen doch in Wirklichkeit das Ziel ihres Lebens verfehlt, das hingegen vom Gerechten erreicht wurde, vgl. den Ausdruck νεότης τελεσθεῖσα und die Ausführungen zu 4,13 mit den Anmerkungen zum Text.

4,17–20: Der traurige Tod des Gottlosen 4,17 In diesem letzten Teil des Diptychons (4,17–20) wird dem glücklichen Schicksal

des Gerechten, der vorzeitig stirbt (4,7–16) der endgültige Untergang der Gottlosen gegenübergestellt, der in 4,20 in ihr Endgericht mündet, das Vorspiel zu der großartigen Szene in Kap. 5. „Sie werden nämlich das Ende des Weisen sehen.“ Das Verb ὄψονται, ein Futur mit gnomischer Bedeutung wie auch das folgende οὐ νοήσουσιν, hat kein ausdrückliches Subjekt; ad sensum sind es die in 4,14c-d genannten λαοί oder allgemeiner die Gottlosen, die den Gerechten sterben sehen, ohne jedoch zu begreifen, was der Sinn dieses Todes ist. „Sehen und nicht verstehen“ ist ein biblisches Bild (vgl. Jes 57,1). Den Gottlosen fehlt die Fähigkeit, in den tiefen Sinn der Ereignisse einzudringen, in ihnen ein Zeichen der Absicht Gottes (vgl. 4,17b) wahrzunehmen. Sie wissen ihren Verstand nicht zu gebrauchen (οὐ νοήσουσιν), um in die tiefe Bedeutung der Dinge, die sie sehen, einzudringen. Im ersten Kolon wird statt des „Gerechten“, der die Hauptperson in 4,7–16 war, der „Weise“ genannt. Das bedeutet, dass der jung verstorbene Gerechte zugleich ein Weiser ist, dessen Tugend den Menschen nicht verborgen blieb, wenn auch die Gottlosen, obwohl sie sie sahen, sie nicht verstanden haben. Im dritten Kolon hat εἰς eine finale Bedeutung und zeigt die Absichten Gottes gegenüber dem Weisen auf, die die Gottlosen nicht begriffen haben (vgl. auch ἐβουλεύσατο in 4,17b, das implizierte Subjekt ist ὁ κύριος). Die Verwendung von ἀσφαλίζω verweist auf den Gedanken des Schutzes, der Bewahrung (vgl. Weish 10,12; 13,15). Indem er den weisen Gerechten sterben ließ, hat der Herr beabsichtigt, ihn vor dem Bösen in Sicherheit zu versetzen (vgl. 4,10–12.14). Der physische Tod erscheint noch einmal als mehrdeutig: für den Gerechten ist er ein Übergang zum Leben mit Gott. Die Erwähnung des κύριος, des JHWH Israels, beschließt bezeichnenderweise den ganzen Vers 4,17. Alles, was mit dem Gerechten geschieht, ist nichts anderes als eine Frucht des Handelns Gottes. 4,18 Erneut wird hier ein Hinweis darauf gegeben, was die Gottlosen sehen (vgl. 4,14c-d): Nicht nur, dass sie das Ende des Gerechten nicht begreifen, sie verachten es sogar (ἐξουθενέω, vgl. 3,11). Aus diesem Grunde wird ihre Bestrafung schrecklich sein. Das zweite Kolon ist geschickt formuliert. Das auf die Gottlosen zu beziehende Pronomen (αὐτούς) ist emphatisch an den Anfang gestellt, und das Subjekt der Handlung, erneut ὁ κύριος, steht in der Mitte: „Gerade sie aber wird der Herr auslachen. Das Verb ἐκγελάω ist, wie auch anderswo in der LXX (vgl. Ps 2,4; 36[37MT],13; 58[59MT],9 etc.) im Sinne von „in Lachen ausbrechen“, meist in ironischem und sarkastischem Sinne, verwendet. Vom „Lachen“ Gottes zu sprechen, einem Lachen des Spottes bis zur Grausamkeit, erscheint derb, ist aber sicher

Synchrone Analyse

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wirksam und stellt einen Anthropomorphismus dar, der auch sonst in der Bibel verwendet wird (vgl. den schon erwähnten Text von Ps 2,4, an den der Verfasser durchaus gedacht haben kann. Der Herr offenbart sich dem Menschen in der Weise, in der dieser sich ihn vorstellt. Die Gottlosen erkennen die Liebe und Barmherzigkeit Gottes (vgl. 4,15) nicht an und entdecken so, gar nicht zu paradox, das furchtbare und bedrohliche Gesicht dieses Gottes, über den sie gelacht hatten. Die Grundfrage ist hier, ob der Verfasser von einer kollektiven Bestrafung der 4,19 Gottlosen in diesem Leben oder von ihre Bestrafung post mortem spricht. Das erste Kolon ist von Jes 14,19 her zu verstehen (s.u.): Für die Gottlosen wird es zu einem ehrlosen Sturz kommen. Der Text kann auf das schmachvolle Schicksal der Gottlosen im Jenseits anspielen. Das zweite Kolon bekräftigt diese Vorstellung: Sie werden Objekt spottender Erniedrigung (εἰς ὕβριν) unter den Toten sein, wie es dem König von Babylon im Jesajatext geschieht. Die Verwendung des Wortes ὕβρις ist sicher ein indirekter Rückverweis auf die in 2,19 beschriebene anmaßende Verhaltensweise der Gottlosen, die nunmehr in der Welt der Toten von den Toten selbst bestraft wird. Das dritte Kolon begründet (ὅτι) die beiden vorhergehenden: Die Gottlosen werden zerschmettert, niedergerissen und zum Schweigen gebracht, sie können nicht mehr antworten oder sich verteidigen (s.o. die Anmerkungen zum Text). Im Gegensatz zum Gerechten (3,3b und 4,7) werden die Gottlosen in Schmerz sein (4,19f.) und nicht in der Ruhe. Es handelt sich um Schmerzen, die von der Begegnung mit dem Zorn Gottes herrühren, von den Schmähungen seitens der anderen (4,19b) und von der Einsamkeit, wenn sie die unerwartete eigene Unfruchtbarkeit entdecken. Am Ende wird die Erinnerung an sie schwinden (4,19g). Das Wort μνήμη verweist zurück auf 4,1 (inclusio) und hat daher einen entsprechenden Bedeutungsumfang. In 4,1 hatte der Verfasser eine enge Verbindung zwischen der Erinnerung und der persönlichen Unsterblichkeit der Gerechten hergestellt. Die Erinnerung vonseiten der Menschen wurde parallel gesehen zur Erinnerung bei Gott. Die Gottlosen haben beides verloren, die Erinnerung bei den Menschen und die bei Gott und damit nach 4,1 auch die Unsterblichkeit. Der Text 4,19 scheint also eine kollektive Bestrafung der Gottlosen anzukündigen, die nach ihrem Tode in einem nicht näher bestimmten Jenseits geschieht, wie es in Jes 14,18–22 beschrieben ist, ohne dass man im Einzelnen verstehen kann, welche Art von Bestrafung der Verfasser sich vorstellt. Dieser zweite Teil des Diptychons zeigt, dass der physische Tod ganz verschiedene Bedeutungen annimmt für den Gerechten oder für den Gottlosen: Für den Ersteren ist der physische Tod Übergang zum Leben mit Gott, für den anderen ist er der Beginn eines Zusammenbruchs, der einem sinnlosen Leben ein Ende macht. Das Leben des Gottlosen hinterlässt nur Zusammenbruch, Unfruchtbarkeit, Zerstörung und Schmerz. 4,20 dient als Abschluss des Diptychons und zugleich als Überleitung zum 4,20 folgenden Abschnitt. Asyndetisch beginnt eine neue Phase, die des Endgerichts über die Gottlosen, bei dem sie sich ihrer eigenen Irrtümer bewusst werden. Mit συλλογισμός wird die Schlussbilanz, die Endabrechnung bezeichnet und indirekt auf die in 1,9 und 4,6 erwähnte Untersuchung (ἐξέτασις, ἐξετασμός) Bezug genommen. Das erste Kolon bezieht sich auf die Gottlosen, die jetzt voll Furcht (δειλοί; vgl. Weish 9,14; 17,10) vor Gericht erscheinen, um für ihre Sünden, über die sie nunmehr nachzudenken gezwungen sind, Rechenschaft abzulegen, vgl. die lateini-

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Weish 4,7–20

sche Übersetzung in cogitatione peccatorum suorum, so als ob an eine Art Gewissenserforschung post mortem gedacht wäre. Im Blick auf das Vorkommen von συλλογισμός in Ex 30,12 kann man auch an die Gottlosen denken, wenn sie zum Appell kommen, d.h. zur Rechenschaft gezogen werden für ihre Sünden.46 In jedem Falle handelt es sich um ein wirkliches öffentliches Gericht über die Gottlosen vor den dann verherrlichten Gerechten (vgl. 6,2) und nicht nur um ein inneres Gericht. Die Gottlosen werden von ihren eigenen Vergehen (τὰ ἀνομήματα αὐτῶν), die ihnen gegenüberstehen (ἐξ ἐναντίας), angeklagt (ἐλέγξει αὐτούς). Die Wendung ἐξ ἐναντίας kommt in der LXX häufig vor (53-mal) und bedeutet, einem Gegner gegenüberzustehen sowohl im militärischen als auch juridischen Sinne. Hier führt das Buch der Weisheit, noch ohne es deutlich zu sagen, die Vorstellung von der Existenz eines anklagenden moralischen Gewissens ein, von dem ausdrücklich in Weish 17,11 die Rede sein wird.

Diachrone Analyse Ein typischer Gedanke in der griechischen Welt angesichts eines frühen Todes war: „Wen die Götter lieben, der stirbt früh“: ὃν γὰρ θεοὶ φιλοῦσιν ἀποθνήσκει νέος (Menander, frg. 425); quem di diligunt adulescens moritur (Plautus, Bacch. IV,7,18).47 Armin Schmitt hat gezeigt, dass der Verfasser sich hier einiger häufiger Motive der hellenistisch-römischen Trostliteratur bedient: Ein früher Tod versetzt den, den die Götter lieben, in Sicherheit vor allem Leiden und ist demnach ein Zeichen für die Gunst der Götter.48 In der biblischen Perspektive ist hohes Alter eines der offensichtlichsten Zeichen des göttlichen Segens. Die Patriarchen sterben „alt und satt an Tagen“ (Gen 25,8; 35,29; Ijob 42,17), und die lange Lebensdauer stellt die den Gerechten gewährte Belohnung dar (Ps 20[21MT],5; 22[23MT],6; 90[91MT],16; Spr 3,16 u. ö.). Demgegenüber wird der frühe Tod als Folge der Sünde angesehen (vgl. Spr 10,27; Ps 54[55MT],24). Mehrfach suchen die Psalmisten Vertrauen darauf einzuflößen, dass Gott eingreifen wird, um den Gottlosen zu bestrafen, indem er ihm kein langes Leben lässt (Ps 36[37MT],5–10; 89[90MT],1–12; 101[102MT],24–29; 108[109MT],22–31). Die Lebenserfahrung scheint dem jedoch zu widersprechen: Warum leben die Gottlosen noch, ja, warum werden sie sogar alt? So fragt Ijob Gott angesichts dessen, was er sieht (Ijob 21,7). Das Buch der Weisheit versucht, auf eine so drängende Frage eine Antwort zu geben, indem es die althergebrachten Werte auf den Kopf stellt. Das Wort ἀνάπαυσις „Ruhe“, das hier die „Ruhe“ des vorzeitig Verstorbenen 4,7 bezeichnet, wird in der LXX für die Sabbatruhe (vgl. Ex 16,23), für die Ruhe im Tod (Ijob 21,13) oder überhaupt für einen Zustand des Friedens und der Sicherheit (vgl. Jes 32,17) oder freudigen Ausruhens (vgl. Sir 6,28; 51,27) verwendet. Zu einem Gebrauch im eschatologischen Sinne im Neuen Testament s. Hebr 4,3-11. Das Wort 46 Vgl. SCARPAT, Sapienza I, 294–295. 47 „Non mehercule quemquan audivi adulescentulum aut puerum mortum, qui mihi non a diis immortalibus raptus ex his miseriis atque ex iniquissima vitae conditione videretur“ (CICERO, Fam. 5,16). 48 SCHMITT, „Der frühe Tod des Gerechten“. Vgl. auch die bei ENGEL, Weisheit, 98–101, zitierten Texte.

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ἀνάπαυσις ist hier nicht so sehr auf die Ruhe im Tode bezogen, vgl. Jes 57,2, ein Text über den Tod des Gerechten, auf den der Verfasser anzuspielen scheint (ἔσται ἐν εἰρήνῃ ἡ ταφὴ αὐτοῦ), als vielmehr auf einen Zustand der Gelassenheit und des Friedens, die in der Beziehung zu Gott erfahren werden; ἀνάπαυσις hat in sich auch die Vorstellung der „Erfrischung, Erquickung“, wie es die Vetus Latina verstanden hat (refrigerium).49 Im Vertrauen auf das Endschicksal des Gerechten verändern 4,8–9 die biblische 4,8–9 Wertung eines langen Lebens in einer Weise, die sich in gewissem Maße schon in Texten wie Dan 1,17; Sus 50Th+LX.63LXX; Ijob 32,7–9; Ps 118[119MT],100 findet. Der Verfasser will sicher nicht die große Ehrfurcht, die die ganze Tradition Israels von jeher gegenüber dem Alter hegte (vgl. Lev 19,32), beseitigen, vielmehr möchte er den Wert des Lebens nicht so sehr an die Anzahl der Jahre binden, sondern an die sittlichen Eigenschaften des Menschen. Ein solcher Gedanke ist der griechischen und römischen Weisheit von Platon bis Seneca nicht fremd und wird ein verbreitetes Thema in der patristischen Tradition, wie er es schon in der zeitgenössischen jüdischen Überlieferung war. Die Klugheit und nicht das Alter verleihen dem Leben seinen wahren Wert.50 In der Verwendung der Passivform μεμέτρηται (4,8b) zeigt sich vielleicht eine Polemik gegen die Auffassung, das Leben jedes Menschen werde im Vorhinein durch die Sterne bestimmt (Astrologie); man meinte, wer vorzeitig sterbe, müsse während der ganzen Zeit, die ihm bis zur Vollendung der durch die Sterne vorherbestimmten Lebenszeit fehlt, auf der Erde herumirren.51 Eine Einschätzung des Alters wie in Weish 4,9 findet in biblischen Texten eine gewisse Stütze, wie die schon erwähnten Stellen Dan 1,17; Sus 50Th+LX.63LXX; Ijob 32,7–9; Ps 118[119MT],100 zeigen. Der Verfasser denkt hier jedoch nicht so sehr an eine charismatische Weisheit, die einem jungen Menschen geschenkt wird (wie beim jungen Daniel oder bei Elihu), sondern an eine geistige Reife, die ein junger Mensch besitzen kann und die seinem Leben Sinn gibt. Eine solche Trennung von physischer und geistiger Entwicklung ist ein typisch griechischer Gedanke (s.o.). Auch in Weish 4,10 ist es möglich, einen Topos der hellenistisch-römischen 4,10 Welt wahrzunehmen: Ein langes Leben kann für einen jungen Menschen die Gefahr der Sünde mit sich bringen, sowohl für einen nicht gut erzogenen als auch für einen besonders wohlerzogenen, der dann im Laufe der Zeit verdorben würde. Es handelt sich um ein verbreitetes Trostmotiv zum Tod jung Verstorbener (vgl. Seneca, Marc. 22,2; Plutarch, Cons. Apoll. 30 = 117D). Die Welt ist ein trauriger und

49 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 450; BAUERNFEIND, Otto, ἀνάπαυσις, ThWNT I, 353. 50 Das Motiv begegnet so häufig bei PHILON (Abr 271; Fug. 146; Migr. 201; Her 290 u. ö.), dass es als Topos betrachtet werden kann. Vgl. PLUTARCH: τὸ γὰρ καλὸν οὐκ ἐν μήκει χρόνου θετέον ἀλλ’ ἐν ἀρετῇ καὶ τῇ καιρίῳ συμμετρίᾳ τοῦτο γὰρ εὔδαιμον καὶ θεοφιλὲς εἶναι νενόμισται (Cons. Apoll. 17 = 111AB). Für die lateinische Literatur vgl. SENECA: „vita non quam diu sed quam bene acta sit, refert“ (Ep. 77,20). Für die Patristik vg. HIERONYMUS: „Noli, igitur, frater carissime, annorum aestimare nos numeros, nec sapientiam canis reputes, sed canos sapientiam, Salomone testante: „cani hominis prudentiam eius“ (Sap 4,8)“ (Ad Paul. 58,1, PL 22, 579). Vgl. CICERO, Tusc. I, 45,108–109; Sen. 18; zu anderen Texten s. LARCHER, Etudes, 174–175 mit Anm. 9; II, 329; WINSTON, Wisdom, 137– 138. 51 Vgl. CUMONT, Lux Perpetua, 307–311.

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gefährlicher Ort und kann die jungen Leute leicht verderben. Deshalb ist ein früher Tod besser als die Gefahr, die eigene Tugend zu verlieren. Eine solche im Grunde sehr pessimistische Sicht des Menschen wird hier im Buch der Weisheit vorgetragen, jedoch innerhalb der tief biblischen Überzeugung von der Liebe Gottes zum Menschen, denn der Gerechte „wurde von Gott geliebt“. Anspielungen auf Henoch

Weish 4,10–12 und die Figur des Henoch Im Hintergrund von 4,10–12 steht nicht nur der griechische Mythos von Ganymed,52 sondern auch und mehr noch die biblische Figur des Henoch: Denn die Verwendung der Wörter „wegversetzen, entrücken“ (μετατίθημι) und „wohlgefällig“ (μετατίθημι) verweist auf Gen 5,21–24LXX. Dabei ist jedoch sogleich zu bemerken, dass, während der biblische Henoch noch zu seinen Lebzeiten „wegversetzt“ wurde, hier von einem jung verstorbenen Gerechten die Rede ist. Auf die Figur des Henoch wird zwar angespielt, sie wird aber nicht ausdrücklich genannt. Der in Gen 5,21–24 erwähnte Henoch ist der von den Patriarchen vor der Sintflut, der die kürzeste Zeit lebte, nämlich nur 365 Jahre, d.h. die Anzahl der Tage eines Jahres. Er wird als ein Gerechter dargestellt, der „mit Gott seinen Weg ging“ und von Gott weggenommen wurde vor seinem natürlichen Tod, wie es auch später bei Elia geschehen wird (2Kön 2,3.9). Sir 44,16 stellt Henoch als Beispiel von Umkehr vor (vgl. Philon, Abr. 19),53 während der Hebräerbrief aus ihm ein Vorbild des Glaubens macht (Hebr 11,5). Bei Ben Sira wird sein Widerspruch gegen die Henochtradition recht deutlich.54 Die Texte Sir 44,16 und Judasbrief 14 scheinen auch eine Überlieferung vom Leben Henochs inmitten einer bösartigen Generation vorauszusetzen, die auch den Hintergrund von Weish 4,10b bildet. Bereits in Gen 5 macht die verkürzte Lebenszeit es Henoch möglich, die Katastrophe der Sintflut nicht mehr mitzuerleben, da er schon vorher weggenommen wird. Die Figur Henoch wird jedoch nicht nur auf dem Hintergrund von Gen 5 aufgenommen, sondern auch unter Einbeziehung der Henochliteratur, die im 1. Jh. v. Chr. bereits weit verbreitet war. Diese Tradition macht aus dem Patriarchen vor der Sintflut den bevorzugten Verwahrer himmlischer Geheimnisse in Bezug auf den Ursprung des Bösen (die gefallenen Engel) und das künftige Heil. Die kanonischen Schriften sind bestrebt, die Figur des Henoch herunterzuspielen und sie in den maßgebenden Rahmen des Judentums, das die theologische Vorstellung der Henochianer nicht anerkennt, wiedereinzufügen.55 Dies geschieht auch im Buch der Weisheit, das die der Henochtra-

52 Über die Verwendung des Mythos von Ganymed, dem Mundschenk der Götter, der durch den Adler des Zeus entführt worden war, im Zusammenhang mit Bestattungen und Grabkultur vgl. CUMONT, Franz V. M., Recherches sur le symbolisme funéraire des Romains (Paris: Geuthener 1942), 97–99. 53 PHILON wird daraus auch eine Allegorie für die Unsterblichkeit der Seele machen, vgl. Mut. 38. 54 Vgl. ARGALL, Randall A., I Enoch and Sirach: A Comparative Literary and Conceptual Analysis of the Themes of Revelation, Creation and Judgment, Atlanta (GA): Scholars Press 1995; WRIGHT III, Benjamin G., „Sirach and 1 Enoch: some further considerations“, Henoch 24 (2002), 179–187. 55 Vgl. BEDENBENDER, Andreas, „Traces of Enochic Judaism within the Hebrew Bible“, Henoch 24 (2002) 39–48. Der Text Gen 5,21–24 reagiert also gerade auf Henochdarstellungen, und die Henochtradition ihrerseits bedenkt die „kanonischen“ Henoch-Texte. Über das Henoch-Judentum als Gegner des priesterlich orientierten Judentums (aber auch über die weisheitliche Opposition zur letztgenannten Form des Judentums) vgl. BOCCACCINI, Gabriele, I giudaismi del secondo Tempio. Da Ezechiele a Daniele, Brescia: Paideia 2008, 91–134.

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dition eigenen apokalyptischen Spekulationen nicht aufnimmt.56 Der jung Verstorbene, der mit Wörtern, die an Henoch erinnern, beschrieben wird, wurde in die Welt Gottes versetzt, aber seine Entrückung geschieht in gewissem Maße vorbeugend. Er wurde von Gott hinweggenommen, damit er nicht verdorben würde. Er hätte also in Sünde fallen können, wie jeder andere Mensch. Er ist keine sittlich vorbildliche Figur wie der Patriarch Henoch. Bemerkenswert ist, dass Henoch in keiner Weise erwähnt wird, nicht einmal in der Liste der Gerechten in Weish 10. Auch in den in Weish 4 vorhandenen Anspielungen auf Henoch liegt die Betonung nicht so sehr auf dem Glauben des Patriarchen oder auf seinem rechtschaffenen Verhalten und auch nicht auf seiner Umkehr wie bei Ben Sira. Die Aufmerksamkeit ist vielmehr auf das Handeln Gottes gerichtet, der dem jungen Gerechten sein Wohlwollen zuwendet. Die Verben stehen alle im Passiv: Er wurde geliebt, er wurde wegversetzt, er wurde weggerissen. Das vorzeitige Ende des Gerechten kann so ein Zeichen besonderen Wohlwollens vonseiten Gottes werden, und für ein solches Ende ist eine bekannte Figur wie Henoch nur ein entferntes Zeichen. In dieser Art verwendet das Buch der Weisheit teilweise eine in seiner Zeit bekannte Figur, zeigt aber zugleich, dass es die apokalyptischen Spekulationen, mit der die Henochianer sie umgeben hatten, nicht übernimmt. Das Buch der Weisheit gründet die eigene Eschatologie nicht auf behauptete himmlische Offenbarungen, sondern auf einen tief biblischen Glauben an die entschiedene Liebe Gottes zum Menschen.

Beim Thema des zur Vollendung gelangten Gerechten verweist die Verwendung 4,13 von τελειόω, wie oben schon bemerkt, auf die Idee der sittlichen Vollkommenheit, die für die griechische Philosophie bezeichnend ist, bei Platon wie bei Aristoteles und im Stoizismus, ausführlich aufgenommen bei Philon in jüdisch-hellenistischer Umwelt.57 Wer tugendhaft gelebt hat, ist ein τέλειος, ein „vollendeter, vollkommener“ Mensch. Später wird Weish 9,6 daran erinnern, dass, selbst wenn es einen solchen „vollkommenen“ Menschen gäbe, auch er die Weisheit, die von Gott kommt, nötig hätte. Das Ideal des Verfassers von der „Vollkommenheit“ stimmt also nicht überein mit dem einer Selbstverwirklichung, eines tugendhaften Lebens in Entsprechung zur Natur und zur Vernunft, wie sie typisch ist für die stoische Welt. Auch tugendhaft, „vollkommen“ zu sein, wird vom Verfasser als ein Geschenk vonseiten Gottes gesehen. Der Gedanke, dass die Vollkommenheit in kurzer Zeit erlangt werden könne, d.h. auch im Falle eines vorzeitigen Todes, ist auch ein häufiges Motiv des Trostes.58 Auch eine Polemik gegen die Mysterienkulte, bei denen die Eingeweihten behaupteten, die Vollkommenheit erreicht zu haben, ist nicht auszuschließen; jedoch sind die sprachlichen Zeugnisse dafür nicht ganz überzeugend.59 In 4,14 ist der schon erwähnte Einfluss von Jes 57,1–2LXX sehr wahrscheinlich (vgl. auch 4,14 Jes 44,18). Die wörtlichen und thematischen Berührungen des Jesajatextes mit Weish 4,14 (aber auch mit dem ganzen Kontext von Weish 4,7–16) sind beachtlich: der Tod 56 Vgl. die Einleitung S. 37f. über die Beziehung zwischen dem Buch der Weisheit und der Henoch-Überlieferung. 57 DELLING, Gerhard, τέλειος, ThWNT VIII, 70–73.81; vgl. auch den Kommentar zu 3,16.19 und später zu 9,6. 58 Vgl die Texte SENECAS, die LARCHER, Sagesse II, 337 zitiert: „licet aetas eius imperfecta sit, vita perfecta est“ (Ep. 93,7); vgl. ebenfalls PHILON, Praem. 112. Für die patristische Tradition vgl. AMBROSIUS, Ob. Theo. 6: „est enim perfecta aetas ubi perfecta est virtus“. 59 DELLING, τέλειος, ThWNT VIII, 70.

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Weish 3–4 des Gerechten, der aus einer Umwelt der Bosheit herausgeholt wird; sein Im-FriedenSein; das Unverständnis für einen solchen Tod seitens der Leute. Der Kontext des Jesajatextes ist allerdings leicht verschieden. Während der Prophet klagt, dass der Gerechte umkommt, ohne dass es die meisten interessiert, ist im Buch der Weisheit das Gewicht verlagert und liegt bei der Unfähigkeit der „Völker“, die Pläne Gottes bezüglich des Heils für den Gerechten selbst zu begreifen. Seinem Stil entsprechend verwendet der Verfasser des Buches der Weisheit mit großer Freiheit die biblischen Texte, auf die er sich bezieht und die er in einem neuen Kontext neu liest.

Die Wendung μὴ θέντες ἐπὶ διανοίᾳ kann die Weise sein, wie das Buch der Weisheit die Jesajaformulierung οὐδεὶς ἐκδέχεται τῇ καρδίᾳ wiedergibt (s.o.); vgl. in 4,14c die Umformulierung von οὐδεὶς κατανοεῖ (Jes 57,1) zu μὴ νοήσαντες. Echos von Weish 4,14c-d bzw. ein ähnlicher Umgang mit einem Jesajatext (Jes 6,9–10) finden sich im NT in Mt 13,14–15; Mk 4,12; Joh 12,40. Im ganzen Vers 4,19 ist der Einfluss von Jes 14,18–22LXX deutlich, einem Ab4,19 schnitt, der das traurige Schicksal des Königs von Babylon beschreibt, der zum Himmel hinaufsteigen wollte, aber in den Abgrund des Hades hinabgestoßen wurde, von Gott verurteilt und von allen verspottet. Die Wortwahl von 4,19 ahmt also die prophetische Sprache nach und verwendet kräftige, suggestive Bilder. 4,19d greift Stellen wie Ps 17[18MT],8 und Ijob 9,6 auf. Der Gottlose hat weder Wurzeln noch Fundamente, er glaubt sich absolut sicher. Er ist wie trockenes, wüstes Land (in 14,19e liegt möglicherweise eine Anspielung auf Jer 2,31 vor), ein Bild, das im Kontrast an die „Frucht“ des Gerechten erinnert, von der in 3,13.15 die Rede war. In 4,19g wird ebenfalls Jes 14,22 aufgenommen; das Motiv, dass die Erinnerung an die Gottlosen verschwindet, ist in der Bibel verbreitet, vgl. Ijob 18,17.19; Ps 9,6; 33[34MT],17; 36[37MT],28; Spr 10,7.

Synthese von Weish 3–4 Die Spannung, die durch die Rede der Gottlosen (2,1–20) aufgebaut worden war, wird gleich zu Beginn in 3,1 aufgelöst: Das Leben der Gerechten ist in den Händen Gottes. Der Verfasser nimmt die Aussagen von 1,13–15 und 2,21–24 wieder auf und antwortet mit drei Beispielen auf die möglichen Einwände der Gottlosen: der leidende Gerechte, die Kinderlose und der Eunuch, der jung sterbende Gerechte. In allen drei Darstellungen benutzt der Verfasser das Schema „Anschein/Wirklicheit“ und bedient sich der Technik der Umkehrung der Bilder. Er zeigt so, dass er nicht nur zur Vernunft, sondern auch zum Herzen sprechen möchte. Was den Gottlosen als „Wirklichkeit“ erscheint, die Nutzlosigkeit des Todes des Gerechten, ist nur Anschein (vgl. 3,2). Die sehr starken Bilder, die er verwendet, um das Ende der Gottlosen zu beschreiben, dienen als Kontrast zur Ausmalung des seligen Schicksals der Gerechten und sollen die Wahrheit der Aussagen des Verfassers hervorheben (vgl. z.B. 3,1.3.4 etc.). Im ersten Diptychon (3,1–12) nimmt das Bild des leidenden Gerechten unmittelbar die Aussagen über den Gerechten aus 2,10–20 auf und führt das Paradox des Ijob einer Lösung zu. Der Tod bedeutet nicht mehr eine Katastrophe, sondern ewiges Leben mit Gott. Der Verfasser zeigt sich allerdings sehr zurückhaltend in

Weish 3–4

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der Beschreibung von Details, insbesondere der Art der „Heimsuchung“ und des „Gerichts“, die Gott in der Zukunft halten wird. Der Akzent liegt vielmehr auf der Situation des Friedens und der Unbeschwertheit, die den Gerechten jenseits dieses Lebens erwartet. In den beiden mittleren Diptychen über die Kinderlose und den Eunuchen (3,13 – 4,6) verlagert sich die Aufmerksamkeit auf den moralischen Aspekt mittels einer reichen Pflanzensymbolik. Die Tugend und nicht die materiellen Güter sichern das Glück des Menschen. Die Frucht der Tugend (3,13.15) ist das ewige Leben; die Frucht der Gottlosen ist eine nutzlose Nachkommenschaft. Hier erscheint eine immer markantere Gerichtssprache, die schon vorausweist auf das Gericht über die Gottlosen in Kap. 5. Die Kinderlose wird ihre Frucht bei der „Heimsuchung der Seelen“ (3,13) erhalten, die Gottlosen werden am Tag des „Gerichtsentscheids“ (3,18) keine Hoffnung haben und werden zur Zeit der „Untersuchung“ (4,6) angeklagt werden. Angesichts des Eingreifens Gottes kann so der Gegensatz zwischen Anschein und Wirklichkeit aufgelöst werden. Im vierten Diptychon (4,7–20) kehrt das moralische Thema wieder: Die wahre Reife des Menschen hängt nicht von seinem Alter, sondern von seiner sittlichen Qualität ab. Das Leben wird verstanden als ein stetes Voranschreiten (4,13), und der Tod ist einfach eine „Versetzung“ (4,10–12), ein Beweis der rettenden Liebe Gottes, der den Menschen vor dem gegenwärtigen Bösen bewahrt. Das Kapitel schließt nochmals mit dem Bild des Gerichts (4,17–20), das in apokalyptischer Ausdrucksweise beschrieben wird. Die Gottlosen halten das Leiden für nutzlos, die Schwachheit für etwas durch Gewalt Auszumerzendes, den Tod des Gerechten für ein Zeichen seiner Niederlage (vgl. 2,10–20). Die vier Diptychen kehren fest in der Tradition verwurzelte Werte um und zeigen das Scheitern derartiger Einstellungen, das dramatisch durch das Lachen Gottes (4,18) bestätigt wird.

Weish 5: Abschließende Gegenüberstellung von Gerechten und Gottlosen vor dem Hintergrund des Kosmos Zur literarischen Struktur von Weish 5 Weish 5,1–3 Eine kurze Einleitung erstellt die Bühne für die abschließende Gegenüberstellung

von Gerechten und Gottlosen. Das Verb στήσεται „er wird hintreten/dastehen“, mit dem der Abschnitt Weish 5 beginnt, wird in 5,2b (ἐκστήσονται „sie werden außer sich geraten“) und als inclusio am Ende des Kapitels (5,23 ἀντιστήσεται „er wird entgegentreten“) wiederaufgenommen. In 5,4–13 findet sich eine zweite Rede der Gottlosen in Entsprechung zur ersWeish 5,4–13 ten in Kap. 2. Sie ist gerahmt von der inclusio οὗτος … ἔσχομεν / οὕτως … ἔσχομεν (5,4.13). Drei Teile lassen sich leicht ausmachen: In 5,4-5 erkennen die Gottlosen den schließlichen Erfolg des Gerechten an (vgl. die Verbindung von ἐλογισάμεθα 5,4c und κατελογίσθη 5,5a). In 5,6-7 bestätigen sie die Irrtümer ihres Lebens (ἀπὸ ὁδοῦ ἀληθείας „weg vom Weg der Wahrheit“ in 5,6a und τὴν ὁδὸν κυρίου „den Weg des Herrn“ in 5,7c bilden eine weitere inclusio). Schließlich veranschaulichen die Gottlosen in 5,8-13 die Unhaltbarkeit ihres Lebensentwurfes durch eine Reihe von fünf Vergleichen, von denen jeder mit der Vergleichspartikel ὡς „wie“ beginnt; vgl. die inclusio ἡμᾶς … ἡμῖν (5,8) – ἡμεῖς … ἡμῶν (5,13). Auf die Rede der Gottlosen folgt die Beurteilung durch den Verfasser, die Weish 5,14–23 durch die Wiederholung des äußerst seltenen Wortes λαῖλαψ „Windstoß, Orkan“ (5,14.23) gerahmt wird. Dieser Abschnitt verweist zurück auf die Beurteilung (2,21– 24) am Ende der ersten Rede der Gottlosen. Zunächst werden die Gottlosen, bzw. ihre Hoffnung, durch vier jeweils mit ὡς eingeleitete Vergleiche beschrieben, darauf folgt eine Darstellung des Ergehens der Gerechten (δίκαιοι δέ 5,15-16) und schließlich eine Schilderung des Kampfes Gottes gegen die Gottlosen (5,17–23). In 5,23c bildet τὴν γῆν eine Stichwortverkettung mit γῆς in 6,1b, und θρόνους δυναστῶν leitet inhaltlich zum folgenden Kap. 6 über. Entsprechungen zwischen Weish 2 und Weish 5

Literarisch betrachtet sind die Kapitel 5 und 2 eng verbunden und können nicht voneinander getrennt werden. In beiden wird eine direkte Rede der Gottlosen über den Gerechten und über die Lebensweise der Gottlosen selbst berichtet, und jeweils folgt eine Beurteilung durch den Verfasser. Auch durch die Wiederholung von Schlüsselwörtern sind die beiden Kapitel miteinander verknüpft: βίος αὐτοῦ „sein Leben“ (2,15; 5,4); υἱὸς θεοῦ „Sohn Gottes“ (2,18; 5,5), vgl. auch ὀνειδίζει (2,12c) und ὀνειδισμοῦ (5,4b); in Bezug auf die Gottlosen: σκιά „Schatten“ (2,5 und 5,9) und πλανάομαι „in die Irre gehen“ (2,21 und 5,6), außerdem γενηθέντες (5,13) und ἐγενήθημεν (2,2); ἴχνος (2,4c; 5,10b). Das selten Lexem ἀλαζον- „sich brüsten“ bw. als Substantiv „Prahlerei“ wird in 2,16 vom Gerechten in der Sicht der Gottlosen und in 5,8 im Eingeständnis der Gottlosen über sich selbst verwendet (vgl. nochWeish 17,7 über magische Praktiken); κακία „Bosheit“ erscheint in der Beurteilung der Gottlosen in 2,21 und in 5,13 am Ende ihrer zweiten Rede; δικαιοσύνη wird zu Beginn des zweiten Teils der ersten Rede in 2,11 und

Weish 5,1–3

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in der Mitte der zweiten Rede in 5,6b, dazu noch in 5,18 als Teil der „Rüstung“ Gottes gebraucht. So entspricht 5,4–5 dem Redeteil 2,10–20 (Leben und Schicksal der Gerechten), 5,6-8 entspricht 2,6–9 (die Irrtümer der Gottlosen über die Weise zu leben); 5,9–13 greift das Thema der Kürze des Lebens wieder auf, das in 2,1–5 bereits angesprochen wurde. Die Rede der Gottlosen in 5,4–13 nimmt Themen, die die Gottlosen in 2,1–20 schon vorgebracht hatten, wieder auf, jetzt aber in umgekehrter Wertung, und richtet die Hauptaufmerksamkeit auf das Schicksal des Gerechten, das früher als ehrlos betrachtet worden war, jetzt aber zu ihrer Überraschung von den Gottlosen als ein herrliches Schicksal entdeckt wird. Im 2. Kap. werden die Gottlosen als im Gegensatz zum Plan Gottes handelnd gezeichnet und zugleich als Verfolger des Gerechten. In Weish 5 dagegen sind die Gottlosen gezwungen, das Scheitern ihres eigenen Lebensplanes zu erklären und gegen ihren Willen zu entdecken, dass Gott auf der Seite des Gerechten steht. In der Rahmung des 2. Kap. (1,13–15 und 2,23–24) taucht bereits das Thema Schöpfung und Kosmos auf, das das 5. Kap. beschließt (5,17–20) und ausführlich im dritten Teil des Buches der Weisheit wieder aufgegriffen wird.

Auch Weish 5 ist ein mit großem dramatischem Geschick formulierter Text. In Schrit- Eine Gerichtsten wie bei einem Gerichtsprozess geht er einige Punkte der Klage über den Fall des szene Tyrannen bei Jesaja durch (Jes 14):1 Die Gottlosen, die für einen Augenblick aus der Unterwelt, wohin sie gestürzt waren (vgl. 4,19), aufgestiegen sind, werden für das Gericht, das mit eindrucksvollen Bildern beschrieben wird, zusammengerufen. Sie sind genötigt, wenn auch allzu spät, das Scheitern ihrer Existenz anzuerkennen. So ergibt sich ein völliger Umsturz der Situation. Die Gottlosen erkennen erst nach ihrem Tode an, wie gänzlich verfehlt ihr Urteil über das Leben des Gerechten war: Der Gerechte wird jetzt als den „Heiligen“ und den „Söhnen Gottes“ zugehörig sichtbar. Das Grundproblem des letzten Abschnitts (5,15–23), das die meisten Kommentatoren hervorheben,2 besteht darin zu entscheiden, ob er mit dem Voranstehenden zu verbinden ist, also der gleichen eschatologischen Phase angehört, die in 5,1–14 vorausgesetzt ist (die Gottlosen post mortem und vor ihrer Verurteilung), oder ob er sich auf einen anderen Moment des Gerichts über die Gerechten bezieht, der nicht näher bezeichnet ist. Denn auf den ersten Blick versteht man nicht, wie von einer künftigen Belohnung (5,16) der schon verherrlichten Gerechten (vgl. 3,9) gesprochen werden kann, während die Gottlosen, die doch bereits bestraft sind (vgl. 4,19), noch zusätzlich bestraft werden (vgl. 5,23). Woran genau denkt der Verfasser? Im Verlauf des Kommentars wird auf diese Fragen einzugehen sein.

Weish 5,1–3: Einleitung in die zweite Rede der Gottlosen 1 Dann wird dastehen in vollem Freimut der Gerechte denen ins Angesicht, die ihn bedrängt hatten, und seine Mühen verachten. 1 2

Vgl. ALONSO SCHÖKEL, Sabiduría, 107. LARCHER, Sagesse II, 379–381; GILBERT, „Sg 3,7–9; 5,15–23“, 315–316.

152

Weish 5,1–3

2 Wenn sie (ihn) sehen, werden sie in entsetzlicher Furcht verwirrt werden und außer sich geraten über seine unerwartbare Rettung. 3 Sie werden zueinander sagen – umdenkend –, und in Beklemmung ihres Geistes werden sie stöhnen:

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 3

μετανοέω wird im NT im theologischen Sinn der Reue und Umkehr verwendet, hier dagegen bedeutet es einfach „seine Meinung ändern, sich eines Besseren besinnen“; das Wort kommt nur hier im Buch der Weisheit vor. In 5,3b ist die Lesart στενάξονται (Fut. med.) besser bezeugt (A, B), ergibt einen guten Sinn und ist in Übereinstimmung mit den Editionen von RAHLFS und ZIEGLER hier übernommen. LARCHER bevorzugt die Lesart στενάζοντες, die nur durch Lat gementes gestützt wird, da sie zum vorhergehenden Partiz.praes. μετανοοῦντες parallel stehe. S V 253-Syh und andere Minuskeln lesen das Futur act. στενάξουσιν.

Synchrone Analyse 5,1 Der Gerechte, ὁ δίκαιος, steht betont am Ende des ersten Kolons und stellt den

idealen Gerechten dar, den die Gottlosen verfolgt hatten (5,1b verweist zurück auf den Gerechten von Kap. 2). Der Singular hat deshalb eine kollektive Bedeutung wie in 2,10–20. Das τότε „dann“ am Anfang drückt Gleichzeitigkeit aus und zeigt an, dass jetzt das Gericht über die Gottlosen, das in 4,20 angekündigt wurde, stattfindet; 4,20 verbindet demnach Weish 3–4 mit Weish 5. Nach ihrem Tode erleben die Gerechten und die Gottlosen eine Wirklichkeit, die völlig verschieden ist von der, die man sich zu Lebzeiten hätte vorstellen können. Der Gerechte wird dastehen3 in großem Freimut. παρρησία war zur Abfassungszeit des Buches der Weisheit eine Art Slogan des kynischen Philosophen und bezeichnet die „Freiheit der Rede“, Unerschrockenheit und Mut dessen, der niemanden nötig hat (s.u.). Hier wird die παρρησία in deutlichem Kontrast zur Ängstlichkeit der Gottlosen (4,20 δειλοί), die in 5,2 nochmals betont wird (φόβῳ δεινῷ), gezeichnet. Die παρρησία ist so eine Haltung der Sicherheit, des Vertrauens, der inneren Freiheit, die aus dem guten Gewissen des Gerechten erwächst, der auf die falschen Anschuldigungen der Gottlosen antworten kann. Originell ist hier, dass das Buch der Weisheit die παρρησία des Gerechten in einen eindeutig eschatologischen Kontext verlegt. Der Gerechte wird also mit großer Unerschrockenheit den Gottlosen gegenüberstehen, die ihn gequält hatten (θλιψάντων, ein Partizip Aorist im Unterschied zum folgenden Partizip Präsens ἀθετούντων, das eine noch andauernde Handlung anzeigt). Πολλαὶ αἱ θλίψεις τῶν δικαίων „viele sind die Bedrängnisse der Gerechten“ Ps 33,20LXX, derselbe Psalmvers fährt dann fort: „Und aus ihnen allen wird

3

Das Verb στήσεται kann auf das hebr. ‫ קום‬anspielen und lässt an die Auferstehung denken, vgl. PUECH, „The Book of Wisdom and the Dead Sea Scrolls“, 130–131.

Synchrone Analyse

153

er (der Herr) sie erretten“. Der Gedanke von 5,1 ist biblisch, der Verfasser formuliert ihn aber neu in einem eschatologischen Kontext. Die „Mühen“ (πόνοι) des Gerechten, die die Gottlosen verachten (ἀθετέω, hat in der LXX mehrfach diese Bedeutung, vgl. Jer 15,15–16LXX), meinen hier nicht die leiblichen Arbeiten des Gerechten, sondern seine Bemühungen um die Tugend (vgl. Weish 3,15 und 8,7), die jetzt das Ziel erreichen, das der Gerechte angestrebt hatte: eine ewige Belohnung. 5,2 beginnt asyndetisch, Subjekt des Partizips ἰδόντες sind die Gottlosen. Sie 5,2–3 „sehen“ unerwartet den Gerechten ihnen gegenüber dastehen mit παρρησία und geraten in Furcht und Verwirrung. Das Verb ταράσσω kommt außer in Weish 5,2 noch in 11,6 und 16,6 vor, und zwar immer im Passiv mit der Bedeutung „durcheinander gebracht, in Angst versetzt werden“.4 In 5,2 wird es näher bestimmt durch φόβῳ δεινῷ, eine „entsetzliche Furcht“, die auf die Furcht verweist, die später in Weish 17,6.12.15 beschrieben wird. Hier in Weish 5 wie in Weish 17 ist der Hintergrund solcher Furcht eschatologisch, beide Male wird sie im Zusammenhang mit dem Endschicksal der Gottlosen erwähnt. Wo und wie können die Gottlosen den verherrlichten Gerechten „sehen“? Auch hier bleibt der Verfasser vage. Die Gottlosen werden außer sich geraten (ἐκστήσονται klingt an στήσεται in 5,1a an). Was die Gottlosen in Erstaunen versetzt, ist die „unerwartbare Rettung“, die der Gerechte erfährt. Das Adjektiv παράδοξος im Sinne von „nicht für möglich gehalten, nicht zu erwarten“ ist bezeichnend für gebildete Kreise5 und kehrt in Weish 16,17 und 19,5 wieder. „Rettung“ (σωτηρία) gewinnt eine eschatologische Bedeutung („Heil“) und er- Rettung des hält eine neue Reichweite gegenüber der normalen Verwendung in der LXX.6 Von Gerechten Weish 3–4 her betrachtet, handelt es sich nicht nur um eine physische Befreiung aus dem Leiden, sondern um einen Zustand von Frieden und Leben mit Gott, der den Gerechten nach seinem Tode erwartet. Wie in der Parabel des Lukasevangeliums (Lk 16,19–31) gelingt es dem Verfasser, eine Wirklichkeit, die sonst abstrakt erscheinen würde, konkret zu beschreiben: Das endgültige Heil wird im Spiegel des erschütterten Staunens der Gottlosen betrachtet, die mit Angst und Schrecken etwas wahrnehmen, was sie sich nie vorgestellt hätten. „Sie werden zueinander sagen“ (5,3a): So begann auch, allerdings im Aorist, die erste Rede der Gottlosen in 2,1; ἐν ἑαυτοῖς bezeichnet die Gottlosen, die einander anschauen und miteinander reden angesichts des Schauspiels der unerwarteten Rettung des Gerechten. Sie mussten jetzt ihre Meinung, die sie sich über das Ende des Gerechten gebildet hatten, ändern (μετανοέω). Sie beginnen ein stöhnendes Klagen in Beklommenheit (διὰ στενοχωρίαν πνεύματος 5,3b). Den Gottlosen scheint jeder Gedanke an Reue oder Umkehr fremd zu sein, sie betrauern nur ihr vergangenes Leben, jetzt, wo sie selbst das Gericht Gottes in seinem ganzen Ernst erleiden müssen.

4 5 6

Vgl. SPICQ, Notes II, 881–886. Vgl. REESE, Hellenistic Influence, 97 Anm. 45. Vgl. FOERSTER, Werner, σῴζω κτλ, ThWNT VII, 966–1005.

154

Weish 5,4–13

Diachrone Analyse 5,1 In 5,1 wird der „volle Freimut“ des Gerechten besonders hervorgehoben. Das Wort

παρρησία7 ist schon im klassischen Griechisch belegt in einem polemischen und deutlich politischen Sinn: Die παρρησία ist die „Freiheit des Wortes“, die die Demokratie von der Tyrannis unterscheidet (PLATON, Gorg. 461e), sie ist das, was den athenischen Bürger gegenüber dem Sklaven und dem Ausländer auszeichnet. Das Wort gewinnt bald den Beiklang von Offenheit, Direktheit, Wahrhaftigkeit und daher auch von Mut, Selbstsicherheit. In negativem Sinn kann παρρησία die Bedeutung von Freizügigkeit und ungezügelter Offenheit annehmen. Als sittlicher Wert ist die παρρησία vor allem die Aufrichtigkeit, die auch Vertrauen ist, die unabdingbare Tugend in jeder Freundschaft. In einer besonderen Weise verwendet die kynische Philosophie dieses Wort; die Freiheit des Wortes wird dort als das höchste Gut empfunden zusammen mit der Freiheit überhaupt (vgl. Philon, Her. 149). Die LXX verwendet παρρησία so wie das klassische Griechisch. Neu ist dabei die Einfügung des Wortes in einen vom Glauben an den Gott Israels geprägten Kontext. Ijob 27,10LXX spricht von der παρρησία, d.h. der freimütigen Zuversicht, erhört zu werden, die der Gottlose gerade nicht haben kann aufgrund seiner Bosheit. Ähnliches wird in Spr 13,5LXX gesagt, diesen Spruch könnte der Verfasser im Sinn gehabt haben: „Der Gottlose wird beschämt und wird keine freimütige Zuversicht (παρρησία) haben“. Auch hier ist die παρρησία die Freiheit des Wortes, der Freimut, den Gott den Gerechten gegenüber ihm selbst gewährt. Diese Bedeutung ist also dem Wort παρρησία auch in Weish 5,1 zu geben (vgl. im NT 1Joh 2,28; 4,17). 5,2 Die Beschreibung der Gottlosen als „außer sich geraten“ könnte an Jes 13,8 (καὶ ταραχθήσονται οἱ πρεσβεῖς … καὶ ἐκστήσονται) denken lassen, aber vielleicht möchte der Verfasser auch auf den Anfang des vierten Gottesknechtliedes Jes 52,13–14 anspielen, das dem ganzen Text Weish 2–5 zugrunde liegt: Der „Knecht“ im Jesajabuch wird unerwartet erhöht vor den Augen derer, die ihn verachteten (ἐκστήσονται ἐπὶ σὲ πολλοί …) ebenso, wie es nach Weish 5 den verherrlichten Gerechten geschieht. Auch zu dem Ausdruck „unerwartbare Rettung“ (παράδοξον τῆς σωτηρίας) könnte der Verfasser sich inhaltlich durch Jes 52,15 haben anregen lassen: Die Völker werden staunen (θαυμάσονται), wenn sie den „Knecht“ verherrlicht sehen.

Weish 5,4–13: Die Rede der Gottlosen 4 Dieser war es, den wir einst auslachten und verhöhnten, wir Toren. Sein Leben hielten wir für Wahnsinn und sein Ende für ehrlos. 7

SCARPAT, Giuseppe, Parrhesia greca, parrhesia cristiana, Brescia: Paideia 2001; SPICQ, Notes, Supp. 526–534.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

155

5 Wie wurde er zu den Söhnen Gottes gezählt und ist bei den Heiligen sein Erbe? 6 Also waren wir in die Irre gegangen, weg vom Weg der Wahrheit, und das Licht der Gerechtigkeit erstrahlte uns nicht, und die Sonne ging uns nicht auf. 7 Auf Pfaden von Gesetzlosigkeit und Verderben fanden wir unsere Befriedigung und durchzogen weglose Wüsten, den Weg des Herrn aber erkannten wir nicht. 8 Was nützte uns die Überheblichkeit, und was hat uns der Reichtum mit der Prahlerei eingebracht? 9 Vorübergegangen ist jenes alles wie ein Schatten und wie ein vorbeieilendes Gerücht; 10 wie ein Schiff, das wogendes Wasser durchquert: Ist es hindurch gefahren, ist keine Spur von ihm zu finden und nicht die Bahn seines Kiels in den Wogen. 11 Oder wie, wenn ein Vogel durch die Luft fliegt, sich kein Beweis findet von seiner Reise: Vielmehr wurde die leichte Luft, vom Schlag seiner Flügel gepeitscht und gespalten durch die Gewalt des Rauschens der sich bewegenden Schwingen, durchzogen, und danach wurde kein Zeichen seines Ganges in ihr gefunden. 12 Oder wie, wenn ein Pfeil auf ein Ziel geschossen wurde, die durchschnittene Luft sofort zu sich zurückkehrt, so dass man seinen Durchgang nicht erkennt. 13 So auch wir: (gerade) geboren, sind wir entschwunden, und von Tugend hatten wir keinerlei Zeichen vorzuweisen, in unserer Bosheit haben wir uns aufgebraucht.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 6

7

Einige wichtige Textzeugen (S O-V und mehrere Minuskeln; vgl. Rahlfs) lesen ἐπέλαμψεν „leuchtete über, strahlte auf…“ (ἐπιλάμπω in der Bibel sonst nur noch in Jes 4,2), während die Mehrheit der Handschriften, denen ZIEGLER sich anschließt, das Simplex ἔλαμψεν („leuchtete“) lesen, das aber möglicherweise eine Schreiberkorrektur darstellt, vielleicht entsprechend dem neutestamentlichen Sprachgebrauch, in dem λάμπω ausschließlich als Simplex und nie als Kompositum vorkommt, oder es verdankt sich dem Einfluss von Jes 9,1 (φῶς λάμψει ἐφ’ ὑμᾶς). Die Lesart ἐπέλαμψεν passt besser zur Vorstellung von einem Licht, das von oben kommt. ZIEGLER (der hier eine zuerst von K. G. BRETSCHNEIDER 1805 im Blick auf Spr 28,18; 2Petr 2,20 vorgeschlagene Konjektur aufnimmt) schlägt vor zu lesen ἐνεπλέχθημεν τριβόλοις „in Dornen (von Gesetzlosigkeit) verstrickten wir uns (und von Untergang)“. Aber die arabische Lesart in spinis ist dafür keine ausreichende textliche Rechtfertigung. LARCHER (der zwar die Konjektur ἐνεπλέχθημεν akzeptiert, vgl. Sagesse II, 367–368: „Auf Wegen des Unrechts haben wir uns verfangen“), schlägt aber vor, wie alle griechischen Hand-

156

Weish 5,4–13

schriften und alten Übersetzungen, zu lesen ἐνεπλήσθημεν τρίβοις…; dabei bilden τρίβοι „Pfade“ eine gute Parallele zu „Weg“ in 5,6a.7c. Die konjizierte Form ἐνεπλέχθημεν existiert in Wirklichkeit gar nicht: Der Aorist passiv von ἐμπλέκομαι „sich verwickeln, verfangen“ lautet ἐνεπλάκην, vgl. Spr 28,18; 2Petr 2,20. Die Verbform ἐνεπλήσθημεν mit Genitivobjekt ist also mit allen Textzeugen beizubehalten und metaphorisch zu verstehen (vgl. Sir 4,12; 32,15; Spr 28,19): „wir haben uns angefüllt – oder: wir haben unsere Befriedigung gefunden – auf Pfaden von Gesetzlosigkeit …“ SCARPAT (Sapienza I, 326) schlägt eine andere Lösung vor: Er behält sowohl ἐνεπλήσθημεν als auch τρίβοις bei, bezieht aber ἀνομίας auf ἐνεπλήσθημεν, lässt das folgende καί aus (wie Hs. 443) und verbindet ἀπωλείας mit τρίβοις, dem er, gestützt auf die Handschrift 543, ἐν voranstellt, das durch Haplographie ausgefallen sei, und übersetzt daher: „Mit Gesetzlosigkeit füllten wir uns an auf Pfaden des Verderbens“. Aber eine einzige Minuskel stellt eine allzu schwache Bezeugung dar. Für die lateinische Wiedergabe lassati sumus „wir haben uns müde gemacht“ vgl. SCARPAT, Sapienza I, 459–460. Das Verb ἔγνωμεν wird von S und einigen anderen Handschriften als ἔπεγνωμεν gelesen „wir bemühten uns, zu erkennen“, wodurch eine intensive Beschäftigung ausgedrückt wird, die die Gottlosen unterlassen haben. Dieser Lesart folgt die Edition von RAHLFS, vgl. SCARPAT, Sapienza I, 327–328, der diese Lesart, obwohl sie geringer bezeugt ist, annimmt. 8 ὑπερηφανία bedeutet im griechischen Sprachgebrauch die abschätzige Überheblichkeit dessen, der die anderen verachtet und nur sich selbst akzeptiert (vgl. ENGEL, Weisheit, 105); nach Platon (Resp. 391c) kann auch der religiöse Bereich miteingeschlossen sein: ὑπερηφανία θεῶν τε καὶ ἀνθρώπων; vgl. 1Makk 1,21.24 in Bezug auf Alexander den Großen. Die LXX verwendet ὑπερηφανία meistens, um die hebräischen Wörter ‫גאוה‬ oder ‫ גאון‬zu übersetzen, und hebt so die stolze, anmaßende, vermessene und gottlose Haltung gegenüber Gott oder den Menschen hervor; vgl. im Kontext der Weisheitsliteratur Spr 8,13 in Verbindung mit ὕβρις; außerdem Sir 10,7.12.13.18; 16,8; in Sir 15,8 ist ὑπερηφανία das Gegenteil der Weisheit. Im NT kommt das zugehörige Adjektiv ὑπερήφανος in den Lasterkatalogen vor, z.B. in Röm 1,30, vgl. BERTRAM, Georg, ὑπερήφανος, ὑπερηφανία, ThWNT VIII, 526–530. ἀλαζονεία, (vgl. Weish 17,7) wird von Theophrast als „Vortäuschung bestimmter Güter oder Eigenschaften, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind“ umschrieben (Char. 23,1). In der LXX kommt das Wort, außer in Weish, nur in 2–4Makk vor; nach 4Makk 8,19 trennt die ἀλαζονεία von Gott und führt zum Verderben der Seele; in 4Makk 2,15 ist sie verbunden mit der φιλαρχία („Herrschsucht“) und der κενοδοξία („eitle Ruhmsucht“), die zu den stärksten Leidenschaften gehören, die die Vernunft zu beherrschen berufen ist (vgl. SCARPAT, Sapienza I, 328–329, und MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 67–68). 10 Das seltene Wort *τρόπιος bezeichnet den Kiel eines Schiffes (vgl. die Isis-Aretalogie von Andros 1. 153; WINSTON, Wisdom, 147); zu beachten ist die Paronomasie mit dem davor stehenden „enge Bahn, wenig befahrene Straße“; ἐν κύμασιν „in den Wogen“ in 5,10c greift κυμαινόμενον ὕδωρ „wogendes Wasser“ in 5,10a auf. 11 Die lange und etwas weitschweifige Beschreibung der Luft, die von den Flügeln des Vogels geschlagen wird (5,11c-e), enthält einige elegante Ausdrücke und lässt einige zeitgenössische physikalische Vorstellungen erkennen. Die Verse 9–12 sind sorgfältig konstruiert: Außer der fünffachen Wiederholung von ὡς ist das ebenfalls fünffache Vorkommen von Wörtern, die mit δι-beginnen, zu beobachten: διερχομένη (10a); διάβασης (10b); διιπτάντος (11a); διωδεύθη (11e); δίοδον (12c). In 5,11 steht der Hauptvergleichsgegenstand in einem genitivus absolutus (ὀρνέου διιπτάντος) und nicht im Nominativ wie die vorausgehenden Vergleichsgegenstände; in 5,11b dagegen wird eher die Luft betrachtet, die in 5,11a im Akkusativ (ἀέρα) eingeführt wurde; in 5,11c-f tritt

Synchrone Analyse

157

πνεῦμα an die Seite der „Luft“, hier wie ein Synonym, und bildet das Bezugswort zu den Partizipien μαστιζόμενον und σχιζόμενον und zum Verb διωδεύθη; auf πνεῦμα bezieht sich auch der pronominale Ausdruck ἐν αὐτῷ am Ende von 5,11. So stehen wir vor einem doppelten Vergleich: Das Leben des Gottlosen streicht vorüber wie ein Vogel, aber es ist auch wie die Luft, in der keinerlei Spur bleibt, nichts Bleibendes. In 5,11a ist διιπτάντος die aufgrund von B* V 443 von ZIEGLER gewählte Lesart, während die Kodizes S A Bc und die meisten Minuskeln διάπταντος lesen, Genitiv eines Partizips im Aorist II von διαπέτομαι „hindurchfliegen“, vgl. LARCHER, Sagesse II, 373, der diese Lesart wählt. *Διιπτάντος dagegen ist der Genitiv eines aktiven Partizips Präsens von διίπτημι, das sonst nur im Medium διίπταμαι belegt und bedeutungsgleich zu διαπέτομαι ist. Das Wort *τεκμήριον, ein medizinischer oder poetischer Ausdruck, bezeichnet einen „sicheren Nachweis, eine verlässliche Bezeugung“. 12 Die Passivform ἀνελύθη bereitet eine gewisse Schwierigkeit, sie bezeichnet das Aufgelöstsein. Der Verfasser hat eine bestimmte physikalische Theorie im Sinn bezüglich der Luft, die sich ausdehnt und sich zusammenzieht, wenn ein Pfeil sie durchquert. SCARPAT zieht nach einer ausführlichen Diskussion (Sapienza I, 332) im Anschluss an den Kodex V und die Origenes-Rezension die Lesart ἀνέλυσεν vor, der er eine intransitive Bedeutung zuweist: „Die geteilte Luft kehrt gleich wieder vereinigt zurück“. 13 ZIEGLER wählt die Lesart γενηθέντες (B V und mehrere Minuskeln) anstelle der häufiger bezeugten und von RAHLFS gewählten Lesart γεννηθέντες; vgl. 2,2. Scarpat meint, die beiden Stellen (2,2 und 5,13) sollten dasselbe Verb enthalten wie die Kodizes S und A, die beide γενν- lesen. Kodex B hat jedoch in 2,2 γενν- und in 5,13 γεν-. In 5,13 dürfte die Lesart γεννηθέντες vorzuziehen sein, da der Kontext auf die Geburt anspielt („wir, gerade geboren, …“). *καταδαπανάομαι bedeutet ein Sichaufbrauchen, Sich-vollständig-Auflösen in reflexivem, nicht in passivem Sinne. Deshalb ist ἐν τῇ κακίᾳ ἡμῶν lokal zu verstehen, nicht kausal („wegen unserer Bosheit“). Die lateinische Übersetzung fügt noch ein Kolon hinzu: talia dixerunt in inferno hi qui peccaverunt, möglicherweise eine Glosse des Übersetzers. Dieses Kolon ist nirgends sonst bezeugt und nennt ausdrücklich den Ort, wo sich die Gottlosen wahrscheinlich befinden: in der Hölle.

Synchrone Analyse Am Anfang von 5,4 steht betont ein Pronomen: Er war (οὗτος ἦν; vgl. Jes 14,16) 5,4 dieser Gerechte, den wir früher verachtet (vgl. 2,10–20) und ausgelacht hatten (ἔσχομεν εἰς γέλωτα), den wir jetzt von Gott verherrlicht und belohnt sehen. In der Wendung εἰς παραβολὴν ὀνειδισμοῦ „zur Verhöhnung“ ist παραβολή in malam partem zu verstehen.8 Während das erste Kolon in 3,4 mit einer Hervorhebung des Gerechten beginnt, endet das zweite mit einer ebenfalls betonten Selbstbezeichnung der Gottlosen (οἱ ἄφρονες, vgl. Weish 3,2.12 und 1,3), die nunmehr, aber viel zu spät, ihre Torheit begriffen haben.

8

Vgl. SCARPAT, Sapienza I, 321–322. Ein ähnlicher Ausdruck findet sich in Tob 3,4BA, LARCHER, Etudes, 89. Der Text ist möglicherweise im Barnabasbrief 7,9 aufgegriffen worden, vgl. JAUBERT, Annie, „Echo du livre de la Sagesse en Barnabé 7,9“, RechScBib 60 (1972), 193–198.

158

Weish 5,4–13

In 5,4c verweist ἐλογισάμεθα auf die verfehlten Gedanken der Gottlosen zurück (2,1.22), die in 2,15 die Lebensweise (βίος) des Gerechten als ganz absonderlich betrachtet hatten, hier sprechen sie sogar von „Wahnsinn“ (μανία). In der Perspektive der Gottlosen ist es verrückt, wenn der Gerechte sich im Namen der Hoffnung auf Gott, der völlig abwesend zu sein scheint, der Genüsse des Lebens zu enthalten. Der ganze Kontext des Kap. 2 erscheint also von Neuem. Der Verfasser lässt die Gottlosen, die ihr früheres Urteil umkehren, sich selbst als die tatsächlichen Toren bezeichnen (οἱ ἄφρονες hat auch den Beiklang von „Verrücktheit“). Indem sie Weish 2,20 wieder aufnehmen, erinnern sich die Gottlosen, wie sie den Tod des Gerechten als „ehrlos“ (ἄτιμον) betrachtet hatten – eine weitere Anspielung auf den Gottesknecht des Jesajabuches 53,3: εἶδος αὐτοῦ ἄτιμον … ἠτιμάσθη καὶ οὐκ ἐλογίσθη „sein Aussehen war ehrlos … er wurde verachtet und nicht geschätzt“. Das Ende (τελευτή) des Gerechten – die Gottlosen verwenden nie ausdrücklich das Wort θάνατος, sondern greifen zu neutraleren Euphemismen – erschien ihnen als Untergang (vgl. 3,2–3), und erst jetzt, viel zu spät, bemerken sie ihren eigenen tragischen Irrtum. Der Gerechte befindet sich nun unter den Söhnen Gottes und den Heiligen, 5,5 der Versammlung der verherrlichten Gerechten, unter die er aufgenommen wird. Möglicherweise ist κατελογίσθη aus Jes 14,10LXX (ἐν ἡμῖν … κατελογίσθης) genommen und bildet ein Wortspiel mit dem vorhergehenden ἐλογισάμεθα. Die passive Aoristform lässt an ein Gericht Gottes post mortem denken, aber der Verfasser äußert sich nicht klar über die Einzelheiten. In 5,5b hebt ἐστίν im Präsens hervor, dass vom gegenwärtigen Zustand der Gerechten gesprochen wird. Mittels des bekannten biblischen Bildes der zwei Wege zusammen mit dem von 5,6 Licht und Dunkel (vgl. Spr 4,18) lässt der Verfasser die Gottlosen ihre eigenen Irrtümer anerkennen. Das Verb „irregehen“ (πλανάομαι) wurde bereits in 2,21 verwendet, um das irrige Verhalten der Gottlosen zu beschreiben, in 2,21 als Äußerung des Verfassers, hier in 5,6 im Munde der Gottlosen selbst, vgl. auch Weish 11,15; 12,24; 14,22; 15,4 und 17,1. Der Mysterien-Hintergrund des Wortes πλανάω wurde schon bei 2,21 erwähnt: Die jüdischen Apostaten, die den rechten Weg, Wahrheit und Erleuchtung durch die von ihnen gefeierten Mysterienkulte zu finden geglaubt hatten, sind sich zu spät bewusst geworden, dass sie in die Irre gegangen und in Finsternis getaucht sind (vgl 17,1): Die Sonne hat nicht über ihnen geleuchtet, und ihr Leben hat sich in tragischer Weise als eine Wüste ohne Ausweg erwiesen. Dem Ausdruck „Weg der Wahrheit“ steht der ὁδὸς ἀδικίας (Ps 118,29–30LXX) gegenüber und erinnert auch an Tob 1,3, wo die „Wege der Wahrheit“ die Summe der Ideale des gerechten, gesetzestreuen Israeliten bezeichnen; vgl. den „Weg der Gerechtigkeit“ in Spr 21,16LXX. Von Weish 3,9 her betrachtet, scheint die „Wahrheit“ die Kenntnis der Wege Gottes zu bezeichnen, seiner Pläne, eine eher existenzielle als theologische Kenntnis, die auch Vertrauen und Treue seitens des Gerechten einschließt. Der „Weg der Wahrheit“ ist nicht so sehr der Weg, der zur Wahrheit führt, als vielmehr der richtige Weg, das Leben entsprechend dem Willen Gottes, von dem die Gottlosen erst jetzt bemerken, dass sie sich davon entfernt gehalten haben. Der Genitiv in der Wendung „das Licht der Gerechtigkeit“ (τὸ τῆς δικαιοσύνης φῶς) ist ein genitivus epexegeticus (erläuternder Genitiv): Das Licht besteht in der Gerechtigkeit. Es handelt sich um jene „unsterbliche Gerechtigkeit“ Gottes, auf die schon vom Anfang des Buches an verwiesen wurde (vgl. 1,1.15), von der die Gottlo-

Synchrone Analyse

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sen sich entfernt haben, indem sie ihre Kraft als Maßstab der Gerechtigkeit (2,11) betrachteten und so blind wurden (2,21). Das Bild der Sonne schließlich weist auf 2,4e zurück: Die Gottlosen dachten, das Leben sei nur ein Nebel, der von den Strahlen der Sonne aufgelöst werde; aber von dieser Sonne, die jetzt fast ein Symbol Gottes selbst ist, haben sie sich nicht erleuchten lassen. 5,7 entfaltet die Metapher des Weges und nimmt so die Anklagen auf, die die 5,7 Gottlosen einst an den Gerechten gerichtet hatten. Er weiche nach ihrer Meinung von ihren Wegen (ὁδοί) ab und betrachte sie als unrein (2,16), sein Verhalten (αἱ τρίβοι αὐτοῦ) sei ganz verschieden von dem ihren (2,15). Jetzt aber müssen die Gottlosen erkennen, dass ihr Weg bzw. ihre Lebensweise Gesetzlosigkeit (ἀνομία) war, die zum Untergang (ἀπωλεία; vgl. Weish 1,13; 18,7) führt. Die Metapher des „Sichvollstopfens, Sichsättigens“ verweist zurück auf Weish 2,7: Die Gottlosen, die behauptet hatten, sich mit irdischen Gütern anzufüllen, stellen jetzt fest, dass sie sich nur mit Unrecht und Tod angefüllt haben. Die Metapher der weglosen Wüste verweist auf Jer 12,10; ἄβατος ist ein Adjektiv und passt gut zur Wüste, einem Gelände ohne Straßen und Behausungen, einem Weg, der nirgendwohin führt im Gegensatz zum Weg des Herrn, der zum Heil führt. Der „Weg des Herrn“ ist ein in der Bibel häufiger Ausdruck, vgl. Ri 2,22; 2Kön 21,22; Jes 26,8; Jer 4,4–5; Ez 33,17. Zusammen mit dem Verb „erkennen“ vervollständigt diese Metapher das voranstehende Bild vom „Weg der Wahrheit“ und verweist auf die Kenntnis der Pläne Gottes für den Menschen (vgl. auch die Anspielung auf Weish 2,21–24), die die Gottlosen absichtlich nicht beachtet haben. Die Schuld der Gottlosen besteht daher, nach der für den Verfasser bezeichnenden Sichtweise (vgl. Weish 14,22), noch vor ihrem sittlich verwerflichen Tun, darin, dass sie Gott unbeachtet gelassen haben. Die Verbindung, die 5,6–7 herstellt zwischen dem Licht und der Erkenntnis, ist charakteristisch für die alexandrinische Theologie, vgl. auch Weish 6,12 für die Vorstellung einer Weisheit, die „strahlt“, und das Motiv „Gesetz als Licht“ in Weish 18,4. Eine doppelte rhetorische Frage leitet den letzten Teil der Rede der Gottlosen 5,8 ein: Was nützten Überheblichkeit, Reichtum und Prahlerei? Die Verknüpfung der drei Ausdrücke zeigt, worauf es dem Verfasser ankommt: vor allem auf die ὑπερηφανία, die den Hochmut und die Anmaßung der Mächtigen bezeichnet (s.o. die Anmerkungen zum Text). In der Verbindung mit dem vorhergehenden Vers 5,7 wird deutlich, dass die ὑπερηφανία eng damit zusammenhängt, Gott nicht erkannt und zugleich damit wirklich böse Taten begangen zu haben, wie es seitens der Gottlosen gegenüber dem Gerechten nach Weish 2,10–20 der Fall war. Die Prahlerei (ἀλαζονεία) dagegen ist die dreiste Haltung dessen, der keinerlei Autorität über sich anerkennt, keine Grenze achtet und sich dessen rühmt, was er gar nicht besitzt, hier des Reichtums (πλοῦτος), worauf die Gottlosen ihre Lebensweise gegründet hatten; ἀλαζονεία verweist unmittelbar zurück auf das Verb ἀλαζονεύω, das die Gottlosen in 2,16 verwendet hatten. Sie hatten den Gerechten angeklagt, damit zu prahlen, er habe Gott zum Vater; jetzt sind sie genötigt, die Falschheit der eigenen Prahlerei und der Zurschaustellung ihres Reichtums anzuerkennen. In Bezug auf den Reichtum ist zu beachten, dass „Salomo“ ihn nicht verachtet, wenn der Reichtum mit der Weisheit verbunden ist (vgl. Weish 7,11– 12; 8,5) und nicht mit der ἀλαζονεία. Das Problem ist also nicht der Reichtum an sich (der Verfasser des Buches stammt sicher aus einer wohlhabenden Familie), sondern die Haltung ihm gegenüber.

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5,9–12

Das Leben des Gottlosen verschwindet

5,13

Weish 5,4–13

Die drei Wörter (ὑπερηφανία, ἀλαζονεία, πλοῦτος) verleihen der Beschreibung der Gottlosen eine „politische“ Note: Sie stellen einen Teil der Gruppe der Reichen und Mächtigen dar, die angesichts des Gerichtes Gottes früher oder später genötigt sind, die Nutzlosigkeit ihrer Macht und ihres Besitzes wahrzunehmen; vgl. Arist. 211. 262–263: Vom Verhalten des Königs sollten sowohl die ὑπερηφανία als auch die Zurschaustellung von Reichtum (πλοῦτος) ausgeschlossen sein. Die fünf Vergleiche, die in 5,9–12 folgen, beschreiben rhetorisch geschickt und mit bemerkenswerter poetischer Kraft die Unbeständigkeit des Lebens der Gottlosen (s.o. die Anmerkungen zum Text). Der Verfasser hat also seine Beispiele den Elementen Erde (5,9), Wasser (5,10) und Luft (5,11–12) entnommen, vom Festen zum weniger Festen. Einerseits hat er sich an biblischen Texten inspiriert, andererseits sich mittels eines ausgesuchten, poetischen Wortschatzes ausgedrückt, gelegentlich in Anlehnung an physikalische Theorien seiner Zeit (vgl. die Vorstellungen von der Luft, die in 5,11–12 vorausgesetzt sind). Damit liefert der Verfasser eine kleine rhetorische Schulübung, die jedoch kein Selbstzweck ist. Die literarische Bemühung soll die ganze Flüchtigkeit des Lebens und das völlige Scheitern des Lebensplans der Gottlosen anschaulich machen. Der Grundgedanke ist gleich zu Anfang formuliert: „Jenes alles ist vorübergegangen“ (παρῆλθεν ἐκεῖνα πάντα 5,9a); ἐκεῖνα πάντα, d.h. alles, was in 5,8 genannt ist, und noch allgemeiner, das ganze Lebensprojekt der Gottlosen ist nunmehr verschwunden. Die Gottlosen hatten ihre Rede begonnen mit einer Klage über die Kürze und Gehaltlosigkeit des Lebens (2,1–5), und in einem gewissen Sinne hatten sie damit recht: Dem Gottlosen erweist sich das Leben so, wie er es befürchtet hatte, leer und allzu kurz. Dem Gerechten dagegen zeigt es sich voller Sinn, auch angesichts des Todes. In Weish 5,9–12 ist 2,1–5 in entgegengesetzter Bedeutung wieder aufgenommen. Wie ein vorüberziehender Schatten, wie eine eilig überbrachte Botschaft, die gleich vergessen wird, wie die Furche des Schiffskiels in den aufgewühlten Meereswogen, wie der Vogel, der die Luft mit seinen Flügeln schlägt, davonfliegt, wie der schnelle Flug eines Pfeiles in der Luft, so hinterlässt das Leben der Gottlosen keinerlei sichtbare Spur und wird bald vergessen: Die Gottlosen hatten ja selbst das menschliche Leben mit einem vorbeihuschenden Schatten verglichen (2,5). Jetzt nehmen die Gottlosen wahr, dass das, was sie für das Schicksal aller Menschen gehalten hatten, paradoxerweise wahr ist, aber nur für sie! Sie waren es, die überall „Zeichen“ ihres Vergnügens hinterlassen wollten, aber zu spät werden sie gewahr, dass nur die Tugend eine bleibende Spur hinterlassen kann (5,13; vgl. 4,1). Wenn die Gottlosen sterben, ist es, als hätten sie nie existiert. 5,13 schließt den in 5,9 begonnenen Gedankengang ab; οὕτως leitet den Hauptsatz (Apodosis) zu den vorangehenden ὡς-Sätzen ein. Kaum waren wir geboren, sind wir schon tot! In 5,8 schienen die Überheblichkeit und die Zurschaustellung des Reichtums der Vergleichspunkt zu sein, hier ist es die Kürze des Lebens: Gerade geboren, sind wir schon vergangen; als hätten wir nie gelebt, sind wir entschwunden (ἐξελίπομεν: das Verb kommt nur hier im Buch vor). Der Gottlose nimmt erst allzu spät wahr, in welchem Sinne das menschliche Leben kurz ist (vgl. 2,1), bzw. er begreift, dass er sich in der Tatsache nicht getäuscht hat; sein Irrtum liegt vielmehr darin, aus dieser Überlegung nicht die richtige Folgerung gezogen zu haben. Wenn das Leben nur kurz ist, muss man in

Diachrone Analyse

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dieser Zeit ein Zeichen der Tugend (ἀρετῆς σημεῖον) errichten, und zwar jener Tugend, die ein ewiges Leben bei Gott sichert, während die Gottlosen nur daran gedacht haben, Zeichen ihres Vergnügens aufzustellen (vgl. 2,9), die keine Spur hinterlassen. Denn nur die Tugend bewirkt ein unsterbliches Gedenken (vgl. 4,1). Die Gottlosen dagegen haben sich aufgebraucht in ihrer Bosheit (5,13c; s.o. die Anmerkungen zum Text). Die Partikel μέν … δέ (5,13bc) verstärken den Gegensatz zwischen Tugend und Bosheit. Die Vergeudung des eigenen Lebens hat im Kontext des ganzen Kapitels auch eine eschatologische Bedeutung: Indem die Gottlosen das Ziel ihres irdischen Lebens verfehlten, haben sie sich den Zugang zu einem Leben jenseits des Todes verbaut.

Diachrone Analyse Giuseppe SCARPAT merkt an, dass 5,4a-b den Text von Ps 41,11LXX widerspiegelt, 5,4 wo der Psalmist darüber klagt, dass er, wie es hier über den Gerechten gesagt wird, Spott und Verfolgung vonseiten der Gottlosen erleide: „Die mich bedrücken, verhöhnten mich (ὠνείδισάν με), indem sie jeden Tag zu mir sagten: ‚Wo ist dein Gott?‘“ (vgl. auch Ps 43,14–15LXX). Im Psalm, wie im Buch der Weisheit, steht die Hoffnung des Gerechten bei Gott (Ps 41[42MT],12); vgl. die Erfahrung des Jeremia, der auch Gegenstand des Gelächters und des Spotts vonseiten seiner Gegner war (εἰς γέλωτα Jer 20,7; εἰς ὀνειδισμόν Jer 20,8; vgl. 6,10) und dem ebenfalls Gott zu Hilfe kam. Das Buch der Weisheit nimmt diese Motive auf, legt sie aber den Gottlosen in den Mund und liest sie neu in einem eschatologischen Kontext. Die Kommentatoren diskutieren, ob der Verfasser mit den „Söhnen Gottes“ und den 5,5: Die „Heiligen“ (ἅγιοι) in Weish 5,5 die verherrlichten Gerechten oder die Engel meine.9 „Söhne Die äußeren Zeugnisse erscheinen nicht als entscheidend. Die „Söhne Gottes“ in der Gottes“ hebräischen Bibel können manchmal die Engel bezeichnen (Ijob 1,6; Ps 28[29MT],1), die in einigen Texten auch „Heilige“ genannt werden (Ijob 5,1; 15,15). Diese Benennung ist üblich im Henochbuch und in den Liedern von Qumran, vgl. 1 QS XI,5–8; 1 QH XI,22; XIX, 11; 1 Hen 39,5; 104,6. In diesen Texten erscheint der Gerechte in der Gemeinschaft der Heiligen oder der Söhne Gottes, vgl. 1 Hen 51,4, wo von den Gerechten gesagt wird, sie würden wie die Engel des Himmels, so auch im NT in Mk 12,25; Lk 20,36.10 Ausdrücklich spricht das Buch der Weisheit von den Engeln nur in 16,20, die allerdings in eine gewisse Beziehung zu den „Kindern“ (τέκνα 16,21) gesetzt sind. Andererseits gibt es andere Texte, in denen die „Söhne Gottes“ und die „Heiligen“ unzweideutig die Israeliten meinen bzw. die verherrlichten Gerechten, vgl. Jub. I,24–25; Psal. Sal. 17,27; Or. Syb. 3,702; Test. Lev. 18,8.13. Zu den von den Heiligen unterschiedenen Engeln vgl. Tob 8,15BA, zu den Heiligen in der Bedeutung der gerechten Israeliten vgl. Ps 33[34MT],10; Jes 4,3. Nur der Kontext kann dabei behilflich sein, die Frage zu entscheiden. Im Buch der Weisheit sind die „Söhne Gottes“ einerseits die individuellen Gerechten (2,18), andererseits das Volk Israel als Ganzes, besonders im dritten Teil des Buches (vgl. 9,7; 12,19.21; 16,10.26; 18,4.13). Schon in den älteren Büchern des AT begegnet das Motiv vom Volk

9 Vgl. GIMÉNEZ GONZÁLEZ, „Si el justo es hijo de Dios“, 200 Anm. 134, mit einer vollständigen Liste der Autoren, die die eine oder die andere Meinung vertreten. 10 LARCHER, Sagesse II, 363–364; vgl. COLLINS, „The Reinterpretation of Apocalyptic Traditions“, 145–146.

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Weish 5,4–13 als Sohn Gottes (Ex 4,22; Dtn 14,1; Jer 31,9; Hos 11,1) und kehrt in der nachexilischen Zeit immer öfter wieder. Das Buch der Weisheit ist im Rahmen des Judentums seiner Zeit vielleicht der Text, in dem dieses Motiv am häufigsten vorkommt.11 Die Verwendung des Wortes „Sohn“ in Bezug auf Gott in Weish 2,18 und 5,5 (wenn auch im Mund der Gottlosen) machte es schwierig, an anderer Figuren zu denken. In 2,18 ist der Gerechte Sohn Gottes, in 5,5 sind die Gottlosen genötigt anzuerkennen, dass er ein solcher in der Versammlung der verherrlichten Gerechten ist. Die „Heiligen“ in Weish 17,2 und 18,9 bezeichnen zweifellos die Israeliten bzw. diejenigen, die zum Herrn gehören, d.h. die „Anteil“ an ihm haben (5,5b; zu κλῆρος s.o. zu 2,9 und 3,14). Im Blick auf das ganze Buch ist es schwierig, die „Heiligen“ als Engelwesen zu verstehen und verschieden von den ὅσιοι, von denen in 3,9 und 4,15 gesprochen wird gerade in Bezug auf die Verherrlichung der Gerechten. Der Text von 5,5 ist tatsächlich nicht ganz klar; denn es bleibt das Problem zu begreifen, wodurch die Gottlosen bemerken, dass der Gerechte sich jetzt mitten unter den Heiligen und den Söhnen Gottes befindet, verstanden als die verherrlichten Gerechten, an deren Wirklichkeit die Gottlosen sicher nicht glaubten. Denn sie wundern sich nicht darüber, die Heiligen und die Söhne Gottes zu sehen, sondern vielmehr darüber, dass der Gerechte sich unter ihnen befindet! Dieser Schwierigkeit kann man ausweichen, wenn man bedenkt, dass die Gottlosen – abgefallene Juden – unter den verherrlichten Gerechten die berühmtesten Gestalten des eigenen Volkes erkennen (Mose wird z.B. in Weish 11,1 ἅγιος genannt), die ihnen wohlbekannt sind, und dass sie erst daraufhin begreifen, was geschehen ist. Man kann noch weiter diskutieren, ob diese verherrlichten Gerechten als wirkliche engelhafte Wesen vorgestellt werden, aber das Buch der Weisheit gibt dazu keinerlei Hinweis.

5,6–7 In Weish 5,6–7 lässt die Beschreibung des Verhaltens der Gottlosen den Einfluss

von Jes 59,9–14 erkennen, wo das Volk Israel seine Sünde bekennt: „Darum blieb das Recht von uns fern, die Gerechtigkeit erreichte uns nicht. Wir hoffen auf Licht, doch siehe: Finsternis; auf das Hellwerden, doch wir gehen im Dunkeln“ (Jes 59,9MT). Während bei Jesaja die Reue des Volkes den Hintergrund bildet, nehmen die Jesajaworte hier im Munde der Gottlosen eher den Charakter einer verspäteten Anerkennung der eigenen Irrtümer an. Der Einfluss des Jesajatextes ist bereits an der Verwendung von πλανάω erkennbar, vgl. auch Jes 53,6: πάντες ὡς πρόβατα ἐπλανήθημεν ἄνθρωπος τῇ ὁδῷ αὐτοῦ ἐπλανήθη. Die Licht-Metapher in Weish 5,6 kann auch von Mal 3,20 angeregt sein.12 Die Anregung zu Weish 5,9–12 gaben größtenteils biblische Motive. Das Motiv 5,9–12 des Schattens (5,9a) könnte an den Vergleich zwischen dem Schatten und dem menschlichen Leben in Ijob 14,2 anknüpfen, aber der Schatten ist in der Bibel ein häufiges Bild, vgl. Ps 143[144MT],4; Koh 6,12; u.a. Das Bild der schnell dahineilenden Botschaft könnte durch Ijob 9,25 angeregt sein und weist auf die Vergänglichkeit des Lebens hin. Das Bild vom Schiff, das keine Spur hinterlässt (5,10), wird in drei Kola entfaltet und könnte von Ijob 9,26LXX angeregt sein, wo auch der Vergleich mit dem Schiff durch das Bild des Adlers, von dem sich in der Luft keine Spur findet, fortgesetzt wird. Ebenso wird in Weish 5,11 das Bild vom Vogel eingeleitet und in sechs Kola entfaltet (s.o. Anmerkungen zum Text). Aber Vogel und Schiff als Bilder 11 Vgl. PRIOTTO, La prima Pasqua, 112–116; MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 219–221. 12 Augustinus zitiert Mal 3,20 und Weish 5,6 nebeneinander; cf. LA BONNARDIÈRE, Biblia Augustiniana, 191–193. 276–277.

Weish 5,14–23

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für etwas, was keine Spuren hinterlässt, könnten auch von Spr 30,19 nahegelegt sein. Nur der Vergleich mit dem geschossenen Pfeil hat keine Parallelen in der Bibel.

Weish 5,14–23: Die vergebliche Hoffnung der Gottlosen und das selige Geschick der Gerechten; der Kosmos als Verbündeter Gottes 14 Denn die Hoffnung des Gottlosen ist wie vom Wind verwehte Spreu und wie von einem Windstoß vertriebene leichte Gischt, und (so,) wie Rauch vom Wind aufgelöst wurde und wie die Erinnerung an einen Eintagesgast vorüberging. 15 Die Gerechten aber leben in Ewigkeit, und beim Herrn ist ihr Lohn und die Fürsorge für sie beim Höchsten. 16 Deshalb werden sie das prachtvolle Königtum empfangen und das schöne Diadem aus der Hand des Herrn: Denn mit seiner Rechten wird er sie schirmen und mit seinem Arm sie schützen. 17 Er wird als Rüstung seinen Eifer nehmen und die Schöpfung zur Waffe machen zur Bestrafung der Feinde. 18 Er wird als Panzer Gerechtigkeit anlegen und als Helm unbestechliches Gericht aufsetzen. 19 Er wird als Schild unbesiegbare Heiligkeit nehmen, 20 schroffen Zorn aber schärfen zum Schwert, mitkämpfen aber wird auf seiner Seite die ganze Welt gegen die Vernunftlosen. 21 Losfahren werden treffsichere Blitzpfeile, und aus den Wolken wie von einem wohlgerundeten Bogen werden sie ins Ziel fliegen. 22 Und aus der Steinschleuder seines Grimms werden dicke Hagelkörner geworfen. Es wird gegen sie wüten das Wasser des Meeres, Ströme aber werden unerbittlich zusammenfluten. 23 Entgegenstehen wird ihnen der Geist der Macht, und wie ein Windstoß wird er sie worfeln. Und verwüsten wird Gesetzlosigkeit die ganze Erde, und das böse Handeln wird umstürzen die Throne der Machthaber.

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Weish 5,14–23

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 14 Mit der lateinischen Übersetzung und vielen modernen Autoren ist hier die Lesart „Gischt, Schaum“ gewählt (ἄχνη; vgl. Il. 11,305–308) anstelle der Lesart der ältesten griechischen Handschriften „Reif“ (πάχνη; vgl. Weish 16,29), die hier, verbunden mit der Wendung „von einem Windstoß vertrieben“, keinen annehmbaren Sinn ergibt. Die Origenes-Rezension hingegen liest ἀράχνη „Spinnengewebe“ wie auch die armenische Übersetzung (aranea et pruina; vgl. ZIEGLER); s. die ausführliche Diskussion bei SCARPAT, Sapienza I, 334–336, der ebenfalls ἄχνη vorzieht. 16 τὸ βασίλειον τῆς εὐπρεπείας ist ein Hebraismus; τὸ βασίλειον kann das „Königtum“ bezeichnen (vgl. Dan 7,18–22; SCARPAT, Sapienza I, 337–338). εὐπρέπεια (übersetzt in der LXX mehrfach ‫„ הדר‬Pracht“) könnte angeregt sein von Ps 103[104MT],1 oder von Bar 5,1; vgl. auch Ps 92,1LXX: ὁ κύριος ἐβασίλευσεν εὐπρέπειαν ἐνεδύσατο. Der Sinn ist ein „prachtvolles Königtum“ oder, im Blick auf den bestimmten Artikel, „das prachtvolle Königtum (Gottes)“. 17 Der größte Teil der Textzeugen liest τὸν ζῆλον als Objekt des Verbs λήμψεται, so dass sich ein doppelter Akkusativ ergibt: „Er wird seinen Eifer als Rüstung nehmen.“ Nur S* (vgl. auch die lateinische Übersetzung: zelus) liest τὸ ζῆλος, was nach LARCHER (Sagesse II, 386–387) die ursprüngliche Lesart sein könnte; in diesem Falle wäre der personifizierte Eifer das Subjekt des Satzes. *ὁπλοποιέω kommt hier zum ersten Mal in der griechischen Literatur vor; das Verb kehrt bei STRABON (Geogr. XV, 3,18) wieder und ist dort im Sinne von „Waffen herstellen“ zu verstehen. Der Verfasser verwendet es hier in der Bedeutung von „zur Waffe machen“. Die bei ZIEGLER aufgeführten Varianten ὅπλον ποιήσει und ὁδοποιήσει sind sekundär. *ἄμυνα hat zwei mögliche Bedeutungen: Abwehr (der Feinde: πρὸς ἐχθρῶν ἄμυναν, Philon, Agric. 147) oder Vergeltung, Rache (vgl. ἀμύναμαι in Jos 10,13; Est 8,12– 13). Die Übersetzung „Bestrafung“ versucht, beides wiederzugeben. SCARPAT zieht nach einer ausführlichen Diskussion die Bedeutung „Vergeltung“ vor (vgl. Sapienza I, 340–341). 18 In 5,18b ändert der Verfasser den Text, den er zitiert, d.h. Jes 59,17 (s. dazu unten); anstelle von περικεφαλαία „Helm“ verwendet er das gleichbedeutende ältere Wort *κόρυς. *ἀνυπόκριτος wird in Weish 18,15 im etymologischen Sinn von „keinen Einspruch zulassend“ verwendet; eine gute Übersetzung könnte im Zusammenhang mit κρίσις „Gericht“ sein: „unwiderruflich, unbestechlich“; vgl. im NT z.B. Röm 12,9 und besonders Jak 3,17 in Bezug auf die Weisheit. Dort ist ἀνυπόκριτος verwendet in der Bedeutung von „aufrichtig, ungeheuchelt“, ohne Bevorzugung von Personen, vgl. SPICQ, Notes I, 105–110. Es soll hier also an ein richtiges, unparteiisches Gericht vonseiten Gottes gedacht werden. 19 Das Adjektiv *ἀκαταμάχητος taucht hier wahrscheinlich zum ersten Mal in der griechischen Literatur auf (LARCHER, Sagesse II, 390) und hat die Bedeutung „unüberwindbar, unbesieglich“. 20 Das Verb ὀξύνω hat den Zorn Gottes als Objekt; in dieser Verbindung könnte man die Bedeutung „erregen, anstacheln“ bevorzugen; aber da auch das Schwert in diesem Kolon genannt wird, dürfte der Verfasser an „scharf machen, schärfen“ im übertragenen Sinn gedacht haben. Das Adjektiv *ἀπότομος hat die Bedeutung „schroff, unerbittlich“ und wird vom Verfasser auch in Weish 6,5; 11,10; 12,9; 18,15 verwendet, an der letztgenannten Stelle in Bezug auf den strafenden λόγος, der auch mit der Metapher des göttlichen Kriegers beschrieben wird; vgl. auch das Adverb ἀποτόμως in 5,22c.

Synchrone Analyse

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*παράφρων ist ein seltenes und nur literarisch gebrauchtes Wort. Es bezeichnet normalerweise bemitleidenswerte Menschen, die nicht ganz richtig im Kopf sind, verrückt, vor Furcht oder wegen Trunkenheit (vgl. SCARPAT, Sapienza I, 309.345). Der Ausdruck könnte von einer Erinnerung an Platon (vgl. Leg. 649d) angeregt sein. 21 Das Adjektiv εὔκυκλος „wohlgerundet, gut gespannt“ kann aus einer Erinnerung an eine Stelle in der Ilias (Il. 4,124–125 stammen, vgl. auch das Verb ἅλλομαι, das ebenfalls an dieser Stelle in der Ilias vorkommt. 22 Die Wendung ἐκ πετροβόλου θυμοῦ bereitet eine gewisse Schwierigkeit: Man kann sie verstehen als „aus einer Steinschleuder des Grimms“ (πετροβόλου als Genitiv eines Substantivs verstanden) oder als „aus einem Grimm, der Steine schleudert“ (πετροβόλου als Genitiv eines Adjektivs; vgl. Lat. a petrosa ira und die überzeugende Ausführung von SCARPAT, Sapienza I, 346–348). πλήρεις kann man mit θυμοῦ verbinden: „Aus einer Steinschleuder (ἐκ πετροβόλου) werden zorngefüllte Hagelkörner (χάλαζαι) geworfen“. Wenn man πετροβόλου als Genitiv eines Substantivs und θυμοῦ als genitivus epexegeticus (erläuternder Genitiv) und πλήρεις im Sinne von „ziemlich groß, dick“ versteht, kann man auch, teilweise SCARPAT folgend, übersetzen: „Aus einer Steinschleuder des Grimms (d.h. des in eine Steinschleuder verwandelten Grimms Gottes) werden dicke Hagelkörner geworfen“. 23 *κακοπραγία in aktivem Sinn ist in der griechischen Profanliteratur unbekannt; aber κακοπράγμων wird von Xenophon in einem politischen Kontext (Hell. 5,2,36l; vg. SCARPAT, Sapienza I, 313–314) verwendet. κακοπραγία könnte die Untaten gerade auf politischem Gebiet bezeichnen.

Synchrone Analyse 5,14 zieht die Folgerungen des Verfassers aus der Rede der Gottlosen. Er unter- 5,14 streicht ihr kurzzeitiges Schicksal durch vier weitere dichterische Vergleiche. Damit beginnt ein neuer Abschnitt (5,14–23). Die Hoffnung des Gottlosen (der Singular hat hier typische und kollektive Bedeutung) hat keinen Bestand (vgl. Spr 10,28LXX und Ijob 8,13a) im Gegensatz zu der der Gerechten, die sich auf die Unsterblichkeit richtet. Zu ἐλπίς vgl. den Kommentar zu 3,4.11.18. Die Gottlosen, Menschen ohne Hoffnung, sind deshalb auch Menschen ohne Zukunft. Der Verfasser bekräftigt, was er schon in 3,11 angekündigt und in 2,22b vorweggenommen hatte (οὐδὲ μισθὸν ἤλπισαν ὁσιότητος). Die Gottlosen, die das Leben in den Kategorien von Gewalt und Überwältigung dachten, werden davongetrieben wie Spreu, wie Gischt, wie Rauch, wie ein vorübergehender Gast. Sie müssen die Gewalttätigkeit, die sie anderen gegenüber ausgeübt haben, selbst erleiden. „Die Gerechten aber leben in Ewigkeit“: δίκαιοι δέ verweist zurück auf 3,1 und 5,15 markiert den Beginn eines neuen Abschnitts, etwas, das in deutlicher Entgegensetzung zu den Gottlosen geschieht. Während in Kap. 2 vom Gerechten im Singular und von den Gottlosen im Plural die Rede war, steht der Gottlose in 5,14 im Singular und die Gerechten im Plural. Sie sind nicht mehr nur ein einzelner Gerechter, sondern eine ganze Gruppe von Geretteten. Die Verwendung des Verbs im Präsens (ζῶσιν) lässt die feste Überzeugung des Verfassers erkennen: Wie die Gottlosen, wenn sie auch scheinbar leben, wie Tote sind und es auch tatsächlich sein werden, so „leben“ die Gerechten, auch wenn sie verfolgt werden und scheinbar unglücklich sind, bereits beim Herrn, der sich ihrer annimmt. Sie nehmen darum im irdischen Leben schon ein Leben vorweg, das ewig dauern wird.

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Weish 5,14–23

In 5,15b sollte dem Ausdruck „beim Herrn ist ihr Lohn“ nicht der Sinn beigelegt werden, den die Fügung ἐν κυρίῳ im NT, besonders in den Paulusbriefen, annehmen wird. Der Verfasser bezeichnet einfach die Tatsache, dass das Entgelt, der Lohn der Gerechten (μισθός, vgl. Jes 40,10; 62,11), ihnen vom Herrn zugesichert ist und von ihm abhängt. Im Buch der Weisheit ist das Wort im eschatologischen Sinn zu verstehen wie schon in 2,22 (vgl. 10,17). Nach 5,15c ist es der Höchste, der die Fürsorge für sie übernimmt, wörtlich „die Sorge (φροντίς) um sie (αὐτῶν)13 (ist) beim Höchsten“. Noch darüber hinaus zu klären, was genau der Verfasser denkt, wenn er davon spricht, dass die Gerechten „in Ewigkeit leben“ und dass ihr Lohn beim Herrn ist, der für sie sorgt, ist schwierig. Die Verwendung des Präsens, gefolgt von Futura in 5,16, verweist auf die irdische Existenz der Gerechten im Verhältnis zu einer späteren Endsituation. Nach 5,14 ist anzunehmen, dass das Leben der Gerechten voll Hoffnung ist im Gegensatz zu dem der Gottlosen, das einer solchen entbehrt. Aber im Blick auf 3,1–9 dürfte der Verfasser mit dem Lohn der Gerechten deren ewiges Leben bei Gott meinen. Es ist durchaus möglich, dass er in 5,14–15 gleichzeitig die noch lebenden Gerechten in ihrer irdischen Existenz und zugleich die bereits verstorbenen Gerechten in dem Frieden, den sie nach ihrem Tode erfahren, im Sinn hat.14 5,16 erlaubt jedoch eine nähere Bestimmung. 5,16 bezeichnet nun eine neue Phase im Leben der Gerechten: „Deshalb wer5,16 den sie empfangen“. Die beiden ersten Kola verweisen auf die Erfüllung dessen, was in 5,15c bereits gesagt wurde. 5,16c-d beschreibt die Erfüllung von 5,15c. Das Hauptproblem stellt die Art und Weise der Verknüpfung von διὰ τοῦτο … ὅτι mit 5,15 dar. Einige Autoren sehen in διὰ τοῦτο einen Vorgriff auf das folgende ὅτι: Sie werden die Krone deshalb empfangen, weil Gott sie schützen wird.15 Einer einsichtigeren Logik des Textes entspricht es stattdessen, die Futura von 5,16,c-d als vorzeitig zu verstehen: Gott wird sie krönen, da er sie zuvor geschützt hat.16 In dieser Weise ist es möglich, in den Gerechten von 5,15 die gleichen Gerechten wie in 3,1–9 zu sehen, die nunmehr tot sind, aber gleichzeitig leben in Gott und in Frieden, wenn auch noch in Erwartung der „Heimsuchung“ am Ende (3,9), bei der sie endgültig von Gott gekrönt werden (vgl. 3,8). So kann 5,16c-d sich wie 5,15 auf die erste Phase der verherrlichten Gerechten gleich nach ihrem Tode (3,1–3) beziehen, während 5,16a-b die in 3,7–9 beschriebene und in 5,15a-b vorweggenommene Phase im Blick hat, d.h. die Gerechten bei der Heimsuchung am Ende. Der letzte Teil (5,16c-d) hebt den Schutz Gottes, der den Gerechten gewährt wird, hervor und verwendet dabei wieder biblische Bilder. Die Verbindung der „Rechten“ mit dem „Arm“ Gottes ist Ps 43[44MT],4 entnommen und bereitet das Bild vom Kampf Gottes (Weish 5,17–23) vor. 13 Es handelt sich also nicht um die Sorge, die die Gerechten darauf verwandt haben, Gott zu folgen (αὐτῶν verstanden als Genitivus subjectivus), sondern um die Sorge, die Gott ihnen zukommen ließ (Genitivus objectivus); anders HÜBNER, Die Weisheit, 77. In Weish 7,4 und 8,9 wird das Wort φροντίς in malam partem verwendet im Sinne von „Besorgtheit, drückende Sorge“. 14 Vgl. GILBERT, „Sg 3,7–9; 5,15–23“, 315. 15 Vgl. SCARPAT, Sapienza I, 337; SISTI, Il Libro della Sapienza, 180. 16 So LARCHER, Sagesse II, 381.385 und GILBERT, „Sg 3,7–9; 5,15–23“, 316–317.

Synchrone Analyse

167

Das Verb σκεπάζω findet sich in ähnlichen Texten in Ex 33,22; Jes 51,16; Zef 2,3; Ps 16[17MT],8; 26[27MT],5; 60,5LXX zur Bezeichnung des Schutzes durch Gott. ὑπερασπίζω nimmt in verbaler Form das Bild von Gott als Schild Abrahams (Gen 15,1LXX, vgl. auch Ps 39,18LXX) auf. Auch hier ist es schwierig zu entscheiden, ob der Schutz Gottes den Gerechten, wenn sie noch auf der Erde sind und so vor den Gefahren des irdischen Lebens geschützt werden, oder ob er den bereits verstorbenen Gerechten gilt, die vor den eschatologischen Strafen bewahrt werden sollen (oder beides). Im Blick auf Texte wie 1 Hen 100,4–5 und Or. Sib. 3, 705–706 (die Gerechten werden beim Gericht von Gott in Schutz genommen) sollte man wohl eher an die verherrlichten Gerechten denken. In den Schlussversen des Kapitels (5,17–23) kehrt der Verfasser zum Thema Kosmos zurück, das er in positiven Wendungen bereits in dem programmatischen Abschnitt 1,13–15 eingeführt hatte: Gott wird in epischer Weise wie ein Krieger beschrieben, der sich für eine Schlacht bewaffnet, die das ganze Universum miteinbezieht. Asyndetisch (ohne Einführung durch „und, aber, denn“ o.ä.) folgt 5,17 und zeigt so einen Neueinsatz an (asyndetische Formulierungen auch in 5,18.19.21.22b.23). 5,17a stellt den Gedanken vor, der in 5,18–20a (die Waffenrüstung Gottes) entfaltet wird. 5,17b kündigt den Inhalt von 5,21–23 an, die Bestrafung der Feinde. 5,20b als eine grundlegende Aussage ragt aus ihrem Kontext heraus und erhält so ein besonderes Gewicht. Gott zieht seinen Eifer als Rüstung an (5,17a). Der „Eifer“ (vgl. οὖς ζηλώσεως in Weish 1,10), d.h. die „Eifersucht“ Gottes, die eingreift zur Verteidigung seines Volkes und zur Bestrafung der Gottlosen oder auch des Volkes Israel, wenn es Götzen verehrt (2Kön 19,31; Sach 1,14; vgl. Ex 20,5). In 5,17b führt der Verfasser ein Thema ein, das er ausführlich ab Kap. 11 und vor allem in den letzten Kapiteln seines Werkes (Weish 16–19) entfalten wird: Die Schöpfung (κτίσις) wird gleichsam personifiziert und dient als Instrument wie eine wirkliche Waffe in der Hand Gottes zur Bestrafung der Feinde (vgl. Weish 16,24). Hier werden die verschiedenen Bestandteile der Rüstung Gottes nach dem Vorbild von Jes 59,16–17 (s.u.) beschrieben. Der Brustpanzer, den Gott anlegt (5,18a), veranschaulicht die δικαιοσύνη (vgl. 1,1.15; 5,6), die in diesem Zusammenhang den Charakter einer strafenden Gerechtigkeit annimmt; er wird nicht beschädigt durch das Tun der Gottlosen, wie der Panzer eines Kriegers diesen vor den Hieben der Gegner schützt. Der Helm (5,18b) ist in Verbindung gebracht mit dem Gericht (κρίσις), das hier als eine unbestechliche, unwiderrufliche (ἀνυπόκριτος) Verurteilung zu verstehen ist, ohne Berufungsmöglichkeit, unparteiisch (s.o. Anmerkungen zum Text). Diese Verurteilung ist am Haupt Gottes befestigt wie ein Helm, den das Haupt schützt. Die Heiligkeit Gottes (ὁσιότης) wird unbesiegbar (ἀκαταμάχητος) genannt und mit einem Schild verglichen, von dem die Hiebe der Feinde abprallen (5,19). Wie in Weish 2,22 (vgl. 14,30) stellt die Heiligkeit eine Eigenschaft Gottes dar. Sie ist ganz und gar dem Bösen entgegengesetzt und widerspricht als solche nicht der zuvor erwähnten strafenden Gerechtigkeit. Nur hier schreibt das Buch der Weisheit diese Eigenschaft unmittelbar Gott zu. Das δέ in 5,20 zeigt den Übergang von den Verteidigungs- zu den Angriffswaffen an. Vor allem das Schwert ist ein häufiges symbolisches Element in der Bibel, vgl.

5,17–23

5,17

5,18–20: Gott als Krieger

168

Weish 5,14–23

insbesondere Jes 66,16 in einem eschatologischen Kontext, auch Ez 21,8–22.33–36. Das Schwert ist verbunden mit dem Zorn Gottes (vgl. Am 4,10; Klgl 2,21; Ez 6,12; 23,25). Im Buch der Weisheit kommt ὀργή mehrfach vor: In 11,9; 16,5; 18,20.23.25 steht sie immer in Verbindung mit Taten Gottes in der Geschichte, in 10,3.10 ist vom Zorn von Menschen die Rede. Der Zorn Gottes wird hier in deutlich eschatologischer Prägung als ἀπότομος „schroff, unerbittlich“ beschrieben; dies legt nahe, dass auch an den anderen Stellen, an denen im Buch der Weisheit vom Zorn Gottes die Rede ist, ein eschatologischer Beiklang gehört werden kann, auch wenn sie sich eigentlich zunächst auf bestimmte geschichtliche Taten Gottes beziehen.17 Das Wort ἀπότομος, das den Zorn Gottes kennzeichnet, erscheint immer in einem Gerichtskontext (s.o. die Anmerkungen zum Text) und verweist insbesondere auf Weish 18,15, wo auch das Bild des göttlichen Logos in der Art eines Kriegers vorgestellt wird und wo dreimal der Gedanke des Zornes Gottes vorkommt (18,20.23.25), allerdings gegenüber Israel. Angesichts der grundsätzlichen Ablehnung Gottes durch die Gottlosen hat der Zorn Gottes jedoch keine Möglichkeit mehr, sich für sie in Barmherzigkeit zu verwandeln und wird Ausdruck eines Gerichts ohne Möglichkeit einer Appellation. Dennoch wird der Verfasser, wenn er in 11,15 – 12,27 über die Menschenliebe Gottes (φιλανθρωπία) nachdenkt, das Handeln Gottes so beschreiben, dass er der Barmherzigkeit mehr Raum gewährt als dem Zorn. Das δέ in 5,20b zeigt den Übergang zu einer neuen Thematik an. Das Kolon 5,20b steht genau in der Mitte der Ausführungen von 5,17–23 und kündigt erneut den schon in 5,17b genannten Gedanken an, der in 5,21–23 entfaltet wird. Neben das Bild Gottes als Krieger tritt die Vorstellung der Schöpfung, die als Verbündete im Dienste Gottes mitkämpft (συνεκπολημέω) gegen die Gottlosen, die hier die Toren (*παράφρονες) genannt werden. κόσμος nimmt die Bezeichnung κτίσις von 5,17b auf und verweist damit zurück auf 1,14 und 2,24. Die Schöpfung wird gleichsam personifiziert und stellt sich in den Dienst Gottes, in diesem Falle, um sein strafendes Tun ins Werk zu setzen. Dieser Gedanke, der der biblischen Überlieferung nicht völlig fremd ist (vgl. z.B. Jos 10,11 und Ri 5,20), wird nochmals aufgenommen und entfaltet in Weish 16,17, einer Art flashback zu 5,17a.20. In dramatischer Weise beschreibt 5,21–23 den Kampf Gottes gegen die Gottlo5,21–23 sen und verwendet dabei eine an die Prophetenbücher angelehnte Sprache. Gott geht gegen die Gottlosen in dreierlei Weise vor: Gewittersturm, begleitet von Blitzen und Hagel, die mit Pfeilen und Steinschleudern verglichen werden (5,21ab.22a); stürmisches Meer und Hochwasser führende Flüsse (5,22b-c); Windstoß, Orkan (λαῖλαψ, 23ab). Beim Hagel taucht ein weiterer Verweis auf den Zorn in dem Wort θυμός auf, das im Buch der Weisheit hier und in 18,21; 19,1 auf Gott, in 10,3 (im Plural) auf den Brudermörder Kain und in 7,20; 11,18; 16,5 auf Tiere bezogen ist. Im Sprachgebrauch der LXX ist eine Unterscheidung von θυμός und ὀργή schwierig (vgl. 5,20a);18 auch der Verfasser verwendet θυμός als Synonym zum vorangehen17 Zu ὀργή im Buch der Weisheit vgl. PRIOTTO, La prima Pasqua, 183–184; zum Begriff „Zorn“ in der LXX und im NT vgl. FICHTNER, Johannes u.a. ὀργή κτλ, ThWNT V, 381– 448. Eine systematische Behandlung der Vorstellung vom Zorn Gottes findet sich bei KRATZ, Reinhard G. / SPIECKERMANN, Hermann (Hg.), The Divine Wrath and Divine Mercy in the World of Antiquity (FAT 33), Tübingen: Mohr Siebeck 2008. 18 Vgl. GRETHER, Oskar / FICHTNER, Johannes, ὀργή κτλ., ThWNT, 410–411.

Diachrone Analyse

169

den ὀργή. In 5,22c wird mit dem Adverb ἀποτόμως das Adjektiv ἀπότομος (5,20a) nochmals aufgenommen und so der Gedanke eines unerbittlichen Zorns verstärkt, der sich nunmehr gegen die Gottlosen entfesselt. Gott verlassen zu haben, wird bei den Gottlosen zur Folge haben, vom Kosmos verlassen zu sein. Denn da die Schöpfung gut ist, kann sie am Heilsplan Gottes nicht unbeteiligt bleiben. Die Eschatologie impliziert eine Kosmologie. Dieser Rückschluss ist wichtig für das Endschicksal der Gerechten: Auch der Leib ist einbezogen in den Prozess des ewigen Lebens, der sie erwartet. Zu 5,23a wird die Bezugnahme auf das πνεῦμα δυνάμεως diskutiert.19 Einige Autoren (LARCHER, VÍLCHEZ LÍNDEZ) denken an einen gewaltigen Wind. Der Ausdruck πνεῦμα δυνάμεως kommt anderswo in der LXX nicht vor; er könnte durchaus als ein Hebraismus verstanden werden: ein mächtiges Wehen, ein Sturm, in Verbindung mit dem in 5,21–22 erwähnten Feuer und Wasser, als weiteres Element des Gerichtes Gottes. Andere (SCARPAT) denken an den Geist Gottes oder besser: an ein „mächtiges Wehen“ zusammen mit der Tätigkeit des Gottesgeistes, die schon am Anfang des Buches in 1,7 beschrieben wurde, ein πνεῦμα, das einerseits die Menschen liebt (1,6), sich andererseits aber auch imstande zeigen kann, sie zu bestrafen. Denn durch dieses „Wehen“ werden die Toren vernichtet werden (5,23b), wie von einem Orkan endgültig weggefegt (vgl. Jes 24,1). Das Wort δύναμις ist im Buch der Weisheit mehrfach auf Gott bezogen (1,3; 7,25; 11,20; 12,15.17), und eine solche Deutung scheint auch hier vorzuziehen zu sein. Entscheidend für diese Deutung ist Weish 11,20, wo das πνεῦμα δυνάμεώς σου in einem eindeutig strafenden Sinne genannt wird.

So ist das Drama zu einem Ende gekommen: Das καί in 5,23c hat eine schlussfolgernde Bedeutung. Gegenüber dem Gerichtshandeln Gottes gewinnen die letzten beiden Kola von 5,23 einen sprichwortartigen Klang, sie beschreiben das Ergebnis der Gesetzlosigkeit, der ἀνομία (vgl. 5,7) und des bösen Handelns (κακοπραγία hat möglicherweise einen politischen Beiklang, s.o. die Anmerkung zum Text). Dieses Ergebnis ist Wüste, denn die Gesetzlosigkeit ἐρημώσει πᾶσαν τὴν γῆν „wird die ganze Erde zur Wüste machen“ (vgl. die Verbindung von ἐρημόω mit ἀνομία in Lev 26,43), während die Bosheit die Throne der Machthaber umstürzen wird. Dabei dienen γῆ- und δυναστ- als Klammerwörter zum folgenden Kapitel (vgl. 6,1b.3b). Die Wahl der Wörter und der Bezug auf die Throne der Machthaber, die umgestürzt werden (vgl. Hag 2,21–23; im NT Lk 1,52), steht in Verbindung mit dem zuvor Gesagten: Die Gottlosen werden mit denen identifiziert, die die Macht haben, sie aber zulasten der anderen ausüben. In dieser Weise wird der Anfang des folgenden Kapitels vorbereitet, der mit der Anrede an die „Könige“ beginnt (6,1a). Auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird, verweist der Umsturz des irdischen Königtums auf das Königtum der Gerechten, von dem in 5,15–16 vorausgreifend die Rede war.

Diachrone Analyse Die Vergleiche in Bezug auf die Hoffnung des Gottlosen in Weish 5,14 sind ein 5,14 gutes Beispiel für die Vielseitigkeit des Verfassers. Der erste Vergleich „wie vom Wind verwehte Spreu“ entstammt möglicherweise Jes 29,5: Der Reichtum der Gottlosen ist ὡς χνοῦς φερόμενος. Der Vergleich mit der von einem Windstoß vertrie19 Für einen knappen status quaestionis s. HÜBNER, Weisheit, 80.

170

Weish 5,14–23

benen Gischt ist vielleicht aus einer Erinnerung an die Ilias (11,305–308) entstanden. Der dritte Vergleich nimmt ein von den Gottlosen schon einmal geäußertes Bild (2,2c) auf: Sie dachten, das menschliche Leben sei nur ein Rauch, – und für sie ist es das tatsächlich geworden! Das Bild vom Rauch ist biblisch. Ps 101[102MT],4: ἐξέλιπον (Weish 5,13a verwendet das gleiche Verb) ὡσεὶ καπνὸς αἱ ἡμέραι μου; vgl. Ps 36[37MT],20; 67[68MT],3. Der vierte Vergleich mit dem Eintagsgast hat keine biblischen Parallelen;20 dadurch wird die Schnelligkeit, mit der jemand vergessen wird, verdeutlicht. Die Gottlosen überleben nicht, nicht einmal in der Erinnerung anderer. 5,16: Das Königtum der Gerechten

Das Bild vom „prachtvollen Königtum“ ist ein Topos der jüdischen Apokalyptik bei der Darstellung des Schicksals der Auserwählten. Die Erwähnung des Königtums führt den Verfasser ganz natürlich dazu, das Bild vom Diadem (5,16b) hinzuzufügen, das keine Krone, sondern ein mit Edelsteinen besetzter Stoffbund ist, der von orientalischen Königen rund um die Königskrone gelegt getragen wurde; eine mögliche Bezugsstelle in der Bibel ist Jes 62,3: ἔσῃ στέφανος κάλλους ἐν χειρὶ κυρίου καὶ διάδημα βασιλείας ἐν χειρὶ θεοῦ σου (vgl. 1QS IV,6–8: die herrliche Krone, die die Gerechten bei ihrer Heimsuchung empfangen werden). Der Bezug auf Jes 62,3 ist aufschlussreich, da der Verfasser von diesem an Jerusalem gerichteten Jesajatext her an die Gerechten in Verbindung mit dem Jerusalem der kommenden Welt denken konnte.21 In Weish 18,24 wird von einem διάδημα auf dem Haupt Aarons gesprochen; so könnte der Verfasser auch den ‫ צניף‬der Priester, der in Sach 3,5 und Sir 40,4 erwähnt wird, im Sinn gehabt haben: Dann wäre kennzeichnend für die verherrlichten Gerechten nicht nur das Königtum, sondern auch das Priestertum (vgl. Ex 19,6).

5,17–20a Weish 5,17–20a liegt die Beschreibung des göttlichen Kriegers in Jes 59,17 zugrunde.

Der Verfasser verwendet diesen Text jedoch mit großer Freiheit und gibt ihm einen neuen Kontext innerhalb der Ankündigung des Endschicksals der Gottlosen: Alle Verben stehen im Futur. In dem Jesajatext, der im Zusammenhang der Auseinandersetzungen in der nachexilischen jüdischen Gemeinschaft gleich zu Beginn entstanden war, wird Gott als Krieger beschrieben, der, als er in seinem Volk die Ausbreitung von Unrecht bemerkt, denen zu Hilfe kommt, die sich unterdrückt fühlten, und ihre Gegner vernichtet.22 Das jesajanische Bild des göttlichen Kriegers, das auch im NT noch entfaltet wird (Eph 6,11–18; 1Thess 5,8; Röm 13,12; 2Kor 6,7),23 wird im Buch der Weisheit modifiziert durch das Einwirken des Kosmos. Zwar nicht in Jes 59,17, wohl aber in anderen Prophetentexten wird der in Weish 5,17 genannte Eifer Gottes in Gerichtszusammenhängen erwähnt (Zef 1,18; 3,8; Jes 26,11; Ez 36,6; 38,19). Der göttliche Eifer kann angesichts der Bosheit nicht gleichgültig bleiben und greift gegen die Toren mit seinen Eigenschaften als Ge-

20 WINSTON, Wisdom, 148, verweist auf einige mögliche Parallelen in der klassischen Literatur. 21 Vgl. MCGLYNN, Divine Judgement, 86. 22 Vgl. HANSON, Paul D., The Dawn of Apocalyptic. The historical and sociological roots of Jewish apocalyptic eschatology, Philadelphia: Fortress Press 1975, 113–134. – Auf die Unterschiede zwischen dem MT und der LXX in Jes 59,16–17 wird hier nicht näher eingegangen. 23 Vgl. MILLER, Patrick D., The Divine Warrior in Early Israel, Cambridge (MA): Harvard University Press 1973; YODER NEUFELD, Thomas R., „Put on the Armor of God“. The Divine Warrior from Isaiah to Ephesians, JSNT.S 140 Sheffield: Sheffield Academic Press 1997.

Synthese von Weish 5

171

rechtigkeit und Gericht, Heiligkeit und Zorn ein. Durch die militärische Terminologie wird die Botschaft deutlich: Der Gott der Bibel bleibt nicht passiver Zuschauer des Unrechts, seine Heiligkeit ist unvereinbar mit dem Bösen. Der in 5,17b angeführte Gedanke – die Schöpfung als Waffe in der Hand Gottes, um die Feinde zu bestrafen –, der bereits in den Plagenerzählungen enthalten war (Ex 7–10 und 14) und der auch in der Weisheitstradition nicht völlig fehlte (vgl. Sir 39,25–31), wird hier in origineller Weise weiterentwickelt. Die Neuheit besteht darin, dass die Bestrafung der Gottlosen mittels der Schöpfung auf eine rein eschatologische Ebene versetzt wird. Im Judentum zur Zeit der Abfassung des Buches der Weisheit widerspricht die Barm- Barmherzigherzigkeit Gottes nicht notwendig dem Vorhandensein seines Zornes, vgl. Sir 16,11: keit und Zorn ἔλεος γὰρ καὶ ὀργὴ παρ’ αὐτῷ. Anders als Philon, der eine gewisse Verlegenheit zeigt, Gottes wenn er das Thema des Zornes Gottes erwähnt (vgl. Deus 51.52), hat der Verfasser des Buches der Weisheit keine Schwierigkeit, davon zu sprechen, indem er den biblischen Vorbildern folgt. Die weiteren Verwendungen von ὀργή zeigen, wie Gott seinen Zorn auf die Gottlosen beschränkt, während der Zorn, der Israel trifft, nur von kurzer Dauer ist (vgl. Weish 11,9–10). Von daher ist es richtig zu sagen, dass für den Verfasser des Buches der Weisheit der Zorn „nicht im Gegensatz zur Barmherzigkeit steht, sondern dazu dient, sie zu veranlassen und offenbar zu machen“.24 Insbesondere stellt der Verfasser sie in Weish 11,9 und 16,5 in den Rahmen der Pädagogik Gottes, wo es um den Zorn des pater familias gegenüber seinen rebellierenen Kindern geht.

Die Prophetentexte, die den Verfasser in den Abschlusskola des Kapitels (5,21–23) 5,21–23 angeregt haben könnten, sind möglicherweise Hab 3,11 und Sach 9,14 (die Blitze), Jes 28,2; 30,30 (der Hagel; vgl. aber auch Ex 9,18–34; Jos 10,11), Jes 43,2 (die überschwemmenden Flüsse; vgl. Hld 8,7), aber der Verfasser könnte in 5,22b an den Durchzug durch das Rote Meer, in 5,22c an die Durchquerung des Jordans oder an die Niederlage Siseras (Ri 5,21) gedacht oder noch andere Texte im Sinn gehabt haben wie die Kapitel Jes 13 und 24, die beide ein bestimmtes gerichtliches Vorgehen Gottes schildern, das Erstere (Jes 13) gegen den König von Babylon. Das Buch der Weisheit gestaltet eine weit gefächerte Reihe von biblischen Bezügen um und setzt sie in einen neuen Deutungsrahmen, in dem das Gerichtshandeln Gottes gegen die Gottlosen als Wirkung der Schöpfung erscheint, die als Instrument und Verbündete Gottes gesehen wird. Mittels ähnlicher Bilder wie in Weish 5,21–23 erhoffte das Buch Ijob eine innerweltliche Umkehrung der Verhältnisse durch das Eingreifen Gottes (Ijob 21,17– 18). Das Buch der Weisheit scheint indirekt anzuerkennen, dass ein solcher Umsturz nicht immer bereits in der Gegenwart geschieht, wohl aber unentrinnbar in der Zukunft eintritt: Die Gottlosen werden weggefegt werden.

Synthese von Weish 5 Die Ausdrucksweise in Weish 5 klingt nach einem Gericht. Der Nachdruck, mit Ein eschatolodem von einer Umwälzung der gegenwärtigen Verhältnisse gesprochen wird, setzt gisches Gericht

24 Vgl. SCARPAT, Sapienza I, 67.

172

Synthese von Weish 5

irgendeine Form des Überlebens der Gerechten voraus, während die Gottlosen zur Vernichtung bestimmt zu sein scheinen. In 5,17–23 wird ein eschatologischer Kampf beschrieben. Es ist schwierig zu entscheiden, ob in der Vorstellung des Verfassers die Gerechten an diesem Kampf teilnehmen oder nicht.25 Und weiter: Wenn der Verfasser an die verherrlichten Gerechten denkt, stellt er sie sich dann als schon auferstanden vor? In jedem Fall: In welchem zeitlichen Moment sollen wir die hier beschriebene Szene ansetzen? Auf derartige Fragen zu antworten, ist angesichts der Zurückhaltung des VerDie Gerechten und der fassers in Bezug auf das Endschicksal der Gerechten nicht leicht. Maurice Gilbert Kosmos meint, in Fortführung eines Gedankens von Chrysostome Larcher, eine Antwort könne aus einer Analyse der literarischen Gesamtstruktur von Weish 1–6 gewonnen werden.26 In Weish 1–6 folgt der Verfasser nicht einem genauen chronologischen Schema bei der Darstellung der künftigen Ereignisse. Beispielsweise werden in 6,1.3.8 die „Könige“ ermahnt, sich nicht die Bestrafung durch Gott zuzuziehen, die jedoch in 5,17–23 schon vorausnehmend beschrieben wurde. Zweitens dient Weish 5,17–23 dazu, auf zwei Probleme, die in der zweiten Rede der Gottlosen (5,4–13) ungelöst geblieben waren, zu antworten: Vor allem, dass sie nicht dafür bestraft wurden, dass sie die Gerechten bekämpft hatten, und zum anderen, dass sie durch ihre Lebensweise die Schöpfung missbraucht hatten. Genau dies geschieht in 5,17–23: Die Bestrafung der Gottlosen wird ihre ewige Vernichtung sein angesichts der Verherrlichung der Gerechten, und gleichzeitig steht die Schöpfung gegen sie auf. Juristisch betrachtet stellt Weish 5,17–23 die Vollstreckung des Urteils über die Gottlosen dar.27 Es folgt also einer gewissen Logik, dass Weish 5,17–23 auf die Rede der Gottlosen (5,4–13) folgt. Aber dies klärt in keiner Weise die Frage, ob der Verfasser meinte, den Kampf gegen die Gottlosen vor oder hinter ihre Rechenschaftsablegung (d.h. worum es gerade in 4,20 – 5,13 geht) setzen zu sollen. Es könnte sich, so schließt Maurice Gilbert, einfach um eine Frage handeln, die der Verfasser sich nicht gestellt hat; darin zeigt sich, dass seinen eschatologischen Auffassungen eine letzte Kohärenz abgeht. Sicher ist aber, dass für den Verfasser die Eschatologie eine Kosmologie impliziert: Das Heil wird vermittelt durch den Kosmos.

25 Siehe oben den Kommentar zu 3,7; vgl. HEINISCH, Paul, „Das jüngste Gericht im Buche der Weisheit“, TGl 2 (1910) 89–106; HEINISCH vertritt zu 5,17–23 die Deutung, dass der Verfasser sich auf die Gerechten beziehe, die vor den in 4,20 – 5,23 geschilderten Ereignissen auferstanden seien. 26 Vgl. GILBERT, „Sg 3,7–9; 5,15–23“, 319–320; LARCHER, Sagesse II, 380–381; Etudes, 325. 27 Vgl. KOLARCIK, The Ambiguity of Death, 106–107.

Weish 6,1–21: Neue Mahnung an die Adressaten des Buches Zur literarischen Struktur von Weish 61 Dieses Kapitel hat im Buch eine wichtige Stellung inne: Der Beginn in 6,1 macht den Eindruck eines Neuanfangs;2 einerseits zieht Kap. 6 die Folgerungen aus dem Gericht über die Gottlosen, das in Weish 5 beschrieben wurde: Wenn die Bosheit zum Tod führt, dann ist der einzige Weg, dem man folgen soll, der der Gerechtigkeit. Andererseits schließt sich Weish 6,1–21 an das Eingangskapitel (1,1–15) an, greift das Thema Königtum erweiternd auf, wendet sich an die jungen künftigen Verantwortungsträger unter den Juden Alexandrias und ermahnt sie, der Gerechtigkeit zu folgen. Schließlich erscheint ab 6,9 ausdrücklich die Gestalt der Weisheit, die an der Seite Gottes die Hauptfigur im zweiten Teil des Buches sein wird, wie im Abschnitt 6,22–25, der die Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Buchteil bildet (s. unten), deutlich wird. In dieser Weise stellt Weish 6 einen Bindeoder Scharniertext zwischen dem ersten und dem zweiten Buchteil dar.3 6,1 beginnt mit einem Imperativ (ἀκούσατε), der an den Eingangsimperativ des Buches (ἀγαπήσατε; 1,1a) erinnert. Darauf folgt ein „also“ (οὖν), das den Übergang zu einer Folgerung bezeichnet;4 „Erde“ γη- (6,1b) ist ein gutes Beispiel für ein „Klammer-Wort“, das die durch die Ungerechtigkeit zur Wüste gewordene „Erde“ am Ende des vorhergehenden Kapitels (5,23c) aufgreift. 6,21 stellt einen offensichtlichen Schlusspunkt innerhalb des Textes dar: Der Vokativ „(ihr) Könige“ (βασιλεῖς) in 6,1a bildet mit der Verbform ἵνα βασιλεύσητε „damit ihr als Könige herrscht“ (6,21b) eine inclusio; die in 6,21b genannte Weisheit, wieder aufgenommen in 6,22a, kündigt das Thema des zweiten Buchteils an (Weish 7–9). Weitere innere Verknüpfungen werden dadurch hergestellt, dass 6,1–2.11.21 fast die gleiche Struktur haben: Imperativ Aorist 2. Plural + οὖν + Vokativ. Weish 6,1–21 ist leicht in zwei Absätze zu unterteilen: 6,1–11 und 6,12–21; im zweiten Absatz bildet σοφία- in 6,12a.21b eine inclusio. Zudem markiert der asyndetisch beginnende Vers 6,12 deutlich einen formalen und inhaltlichen Neueinsatz. Im Innern des ersten Absatzes (6,1–11) bilden 6,1–8 eine literarische Einheit, Weish 6,1–11 in der es um die Warnung der Machthaber vor dem Gericht Gottes geht, das sie erwartet, und zugleich um das Thema der Macht, die von Gott stammt. Die „Machthaber“ (οἱ κρατοῦντες 6,2a - τοῖς κραταίοις 6,8; vgl. ἡ κράτησις in 6,3a) bilden eine inclusio, vgl. auch διερευνήσει 6,3c und ἔρευνα 6,8. Innerhalb von 6,1– 1 2 3 4

Vgl. WRIGHT, „Structure“, 173; BIZZETI, Il libro, 63–67; GILBERT, „Sagesse“, 68–69. „Man hat den Eindruck, die Rede des Verfassers beginne hier, und die fünf vorangehenden Kapitel seien vorangestellter Stoff“, ALONSO SCHÖKEL, Sabiduría, 115. Vgl. ENGEL, „Die Sapientia Salomonis als Buch“, 137. Die Partikel οὖν wird zur Einleitung der Schlussfolgerung eines Syllogismus verwendet, vgl. VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 257.

174

Weish 6,1–21

8 sind zwei Unterabsätze erkennbar: 6,1–4 (die Aufforderung an die Machthaber zum Hören) und 6,5–8 (das Gericht Gottes).5 6,9–11 bilden eine weitere literarische Einheit, die wie 6,1–2 von Imperativformen geprägt ist, die die Machthaber auffordern, der Weisheit und dem Gesetz zu folgen; der Ausdruck „meine Worte“ (οἱ λόγοι μου – τῶν λόγων μου 6,9.11) stellen eine inclusio dieser Einheit dar. Der Konjunktiv im Finalsatz ἵνα μάθητε in 6,9 greift den Imperativ am Beginn des Kapitels (μάθετε 6,1b) auf. Der zweite Absatz (6,12–21) beginnt in 6,12–16 mit einer Vorwegnahme des Weish 6,12–21 Lobpreises der Weisheit, der in den Kapiteln 7–8 folgen wird; in diesem Unterabsatz bilden Formen von ζητέω „suchen“ eine inclusio (6,12c.16a). Der zweite Unterabsatz (6,17–21) zieht die Folgerungen für den, der der Weisheit folgt, und ist in der rhetorischen Form des „Sorites“ (Ketten- oder Häufelschluss) formuliert (s. dazu den Kommentar). Im Sorites bildet ἐπιθυμία „Begehren“ eine inclusio. Die Funktion von 6,22–25 im Gesamtaufbau des Buches ist strittig. Nach Meinung vieler Autoren bildet der Abschnitt die Einleitung zum zweiten Buchteil. Aber es gibt gute Gründe, 6,22–25 als Abschluss des ersten Buchteils zu betrachten.6 Die Nennung des „Königs“ in 6,24 schließt sich an das Hauptthema von 6,1–21 an, ebenso die Bezugnahme auf die Bildung (παιδεύεσθε 6,25), die 6,11.17 wieder aufnimmt; dieser Imperativ (Präsens), der letzte im ganzen Buch, fasst die Imperative (Aorist) in 6,1–2.11.21 abschließend zusammen; „durch meine Worte“ (τοῖς ῥήμασίν μου) verweist zurück auf οἱ λόγοι μου in 6,9.11. Andererseits kündigt 6,22 die Themen an, die im Folgenden behandelt werden sollen (die Verben stehen im Futur), nämlich Wesen, Ursprung und Geschichte der Weisheit. Das Wesen der Weisheit wird insbesondere in Weish 7,22b-24 der Gegenstand der Ausführungen sein, ihr Ursprung aus Gott in 7,25–26. Weish 10 folgt den Spuren der Weisheit, angefangen vom ersten Menschen (10,1), aber 7,27 – 8,1 handeln auch bereits davon. In feierlichem Ton versichert der Verfasser, die „Geheimnisse“ (μυστήρια) der Weisheit nicht verbergen, sie vielmehr offen darlegen zu wollen. Aus all diesen Gründen ist 6,22–25 als Abschluss des ersten Buchteils zu betrachten, aber gleichzeitig als Ankündigung des Enkomions (Lobpreis) über die Weisheit (Weish 7–9).7 Ein weiteres Argument dafür, dass 6,22–25 zum ersten Buchteil gehört, besteht in der Nähe zum Abschluss von Kap. 1 (vgl. 6,24a mit 1,14b), dem das ganze Kap. 6 entspricht; Verbindungen bestehen auch zwischen 6,22–25 und 2,21–24 vor allem wegen des Motivs der μυστήρια, vgl. auch das Stichwort „Neid“ (φθόνος kommt im Buch der Weisheit nur in 2,24a und 6,23a vor). Inhaltlich ist die Verbindung zwischen 6,24 und 1,14 besonders wichtig: Die Geschöpfe der Welt sind Träger des Heils, obwohl wegen der Gottlosen der Tod in die Welt getreten ist; wegen der Weisen jedoch tritt das Heil ein.8

Die Funktion von 6,22–25

So entspricht in der konzentrischen Struktur, die für den ersten Buchteil bestimmend ist, der Text Weish 6,1–25 dem Text von Weish 1,1–15. Er ist ein Aufruf an 5 6 7 8

Zu den Argumenten für einen Einschnitt zwischen 6,4 und 6,5 vgl. GILBERT, „La vostra sovranità“, 119. Vgl. GILBERT, „La struttura letteraria“, 37–41, wo er seine frühere Auffassung korrigiert (vgl. BIZZETI, Il libro, 65; KOLARCIK, The Ambiguity of Death, 29–62 und OFFERHAUS, Komposition und Intention, 52–53). SCARPAT (Sapienza I, 371–372) merkt an, dass diese Verse typische Elemente einer Parrhesia-Rede zeigen, vergleichbar NT-Texten wie Eph 6,19 und Joh 16,29. BIZZETI, Il libro, 64.

Weish 6,1–11

175

die Adressaten des Buches, der jedoch die thematische Anordnung umkehrt: In 1,1–5 wird die Weisheit schon genannt, erst nach den Kapiteln 2–5 erscheint sie dann wieder (in 6,9.12.20.21.22.23). Auffällig ist, dass das in 1,1c.2a auf den in 1,1b genannten κύριος bezogene Verbpaar „suchen – gefunden werden“ (ζητέω – εὑρίσκομαι) in einer Schlüsselposition in 6,12c wiederkehrt, dort aber bezogen auf die Weisheit (vgl. auch das von der Weisheit ausgesagte ζητοῦσα in 6,16). Der zweite Abschnitt des 1. Kapitels (1,6–10) führt das Thema des Gerichts über die Gottlosen ein; mit diesem Thema beginnt auch Kap. 6, spricht jedoch vom Gericht über die Machthaber (6,1–11; das seltene Lexem εξετασ- ist in 1,9 und 6,3c verwendet, es kommt im Buch der Weisheit sonst nur noch in 4,6 und 11,10 vor). Auch der Gedanke von den Geschöpfen, die heilbringend sind für den Kosmos (1,14), ist in 6,24 aufgenommen und von den Weisen ausgesagt (σωτηρία κόσμου).

Weish 6,1–11: Hört, ihr Könige! 1 Hört also, ihr Könige, und versteht, lernt, ihr Richter überall auf der Erde! 2 Öffnet eure Ohren, ihr Herrscher über eine Volksmenge und ihr Stolzen auf Völkerschaften! 3 Vom Herrn her wurde euch die Herrschaft gegeben und der Machtbesitz vom Höchsten her, der eure Werke untersuchen wird und die Pläne durchforschen. 4 Obwohl ihr Diener seines Königtums seid, habt ihr nicht richtig Recht gesprochen und nicht das Gesetz gewahrt und seid nicht nach dem Willen Gottes gegangen. 5 Schauderhaft und schnell wird er über euch kommen, denn ein schroffes Gericht ergeht über die, die oberste Gewalt innehaben. 6 Der Geringste nämlich verdient Erbarmen, die Mächtigen aber werden mächtig bestraft werden. 7 Der Gebieter über alle nämlich wird kein Ansehen der Person kennen, und er wird Größe nicht scheuen. Denn den Kleinen und den Großen hat er gemacht, und gleichermaßen sorgt er für alle. 8 Den Gewalthabern aber steht eine strenge Erforschung bevor. 9 An euch also, ihr Fürsten, (richten sich) meine Worte, damit ihr Weisheit lernt und nicht Übertretungen begeht. 10 Die nämlich heilig gewahrt haben das Heilige, werden geheiligt werden, und die sich darin haben belehren lassen, werden eine (rechtfertigende) Antwort finden. 11 Begehrt also meine Worte, sehnt euch danach, und ihr werdet Bildung erwerben.

176

Weish 6,1–11

Anmerkungen zu Text und Übersetzung Die altlateinische Übersetzung stellt dem Text von 6,1 voran: melius est sapientia quam vires et vir prudens (magis) quam fortis; vgl. dazu SCARPAT, Sapienza I, 469. Es handelt sich bei diesem mosaikartigen Zitat von Bibelstellen (vgl. Koh 9,16; Spr 24,5 u.a.) möglicherweise um Gedanken eines Kopisten, die jedoch gut in den Kontext passen. 3–4 Die beiden ὅτι, mit denen 6,3 und 6,4 beginnen, werden gewöhnlich kausal verstanden und mit „da, weil“ übersetzt. Sie haben jedoch eine deklarative Funktion und leiten Sätze ein, die das beschreiben, was die Machthaber verstehen und lernen sollen, vgl. SCARPAT, Sapienza I, 379. Anders GILBERT, „La vostra sovranità“, 118–119, der das ὅτι in 6,3 kausal verstehen und nur in Kap. 7 den Inhalt dessen sehen möchte, was die „Herrscher“ hören und lernen sollen. 5 Das Adverb *φρικτῶς „schauderhaft“ ist ein hapax der LXX. Zum Verb ἐφίσταμαι mit Dativ, s. u. bei 6,8 und bei 18,17 und 19,1 mit der Bedeutung „aufstehen gegen jmd.“, hier übersetzt „über jmd. kommen“, vgl. 1Thess 5,3, von dieser Stelle im NT her fügen einiges Handschriften dem Text noch ὄλεθρος hinzu (s. ZIEGLER z. St.). Vgl. SCARPAT, Sapienza I, 380. 6 Das Adjektiv *συγγνωστός (in der LXX nur in Weish 6,6 und 13,8; im NT kein Beleg) bedeutet „entschuldbar“; wenn ein Genitiv folgt, benennt er das Motiv der Verzeihung oder den möglichen Entschuldigungsgrund. Wie schon GRIMM weist SCARPAT συγγνωστός die Bedeutung „würdig, verdienend“ zu (Sapienza I, 381); andernfalls bliebe der Genitiv ἐλέους recht schwierig zu erklären. 9 τύραννος hat hier nicht den negativen Beiklang, den das Wort in der hellenistischen Zeit gelegentlich erhält, vgl. Philon, Leg. III, 79, der zwischen τύραννοι und βασιλεῖς unterscheidet; vgl. LARCHER, Sagesse II, 412–413. Die τύραννοι sind hier keine anderen als die in 6,1 angesprochenen βασιλεῖς und bezeichnen einfach die Regierenden, auch wenn in dem Wort die Vorstellung einer höchsten und absoluten Autorität bzw. die Beanspruchung einer solchen erhalten bleibt. Der Verfasser könnte an Spr 8,16LXX gedacht haben: τυράννοι δἰ ἐμοῦ κρατοῦσι γῆς.

1

Synchrone Analyse 6,1–2 Der Anfang des Kapitels nimmt fast wörtlich Ps 2,10aLXX auf, während der Anfang

des Buches (1,1a) Ps 2,10b verwendet hatte. Der neue Abschnitt wird mit einem direkten Aufruf an Könige und Herrscher eröffnet. Sie werden eingeladen, die Folgerungen zu ziehen aus dem zuvor Gesagten (οὖν); ein ganz ähnlicher Beginn einer Rede findet sich in Mk 7,14. An wen richtet sich der Verfasser in Wirklichkeit? Er spricht zuerst von „Königen“ (βασιλεῖς) und gleich darauf von „Richtern überall auf der Erde“ (wörtlich: „Richter der Enden der Erde“). Der Ausdruck „Könige“ stammt aus Ps 2,2.10 und kann in allgemeinem Sinn jede Art von Herrschern bezeichnen. Das Wort δικαστής kommt ebenfalls aus dem Kontext von Ps 2 (Weish 1,1a übernahm den Ausdruck οἱ κρίνοντες τὴν γῆν aus Ps 2,10bLXX) und bezeichnet eine der Aufgaben des Königs, nämlich „Richter“ zu sein (vgl. die Bitte Salomos und seine erste erfolgreiche Tätigkeit als Richter in 1Kön 3,9–11.16–28). Der Ausdruck τὰ πέρατα τῆς γῆς „die Enden der Erde“ ist klassisch und biblisch (vgl. Ps 2,8; 18[19MT],5; 21[22MT],28; 45[46MT],10; 47[48MT],11; u. ö.; für die griechische Welt Il. 8,478, Od. 4,563) und kann die ganze bewohnte Welt bezeichnen. Wäre

Synchrone Analyse

177

dieser Ausdruck wörtlich zu verstehen, könnte man meinen, der Verfasser denke an die römischen Herrscher, die ihre Macht auf der ganzen Erde ausüben.9 In 6,2 klingt die Erwähnung der Herrschenden negativ: Der Ausdruck οἱ κρατοῦντες πλήθους „Herrscher über eine (Volks-)Menge bereitet auf die Überlegung von 6,3 über die κράτησις „Staatshoheit, Herrschaft“ vor. Das zweite Kolon bezeichnet die Herrschenden als γεγαυρωμένοι ἐπὶ ὄχλοις ἐθνῶν, die sich stolzgeschwellt rühmen, über Menschenmassen zu gebieten. Das Perfekt gibt einen gewohnheitsmäßigen Zustand an, ein Verhältnis, das andauert.10 Was sollen die „Könige“ hören? Der Inhalt dessen, wozu die vier voraufgehenden Imperative auffordern, ist in 6,3 durch einen mit ὅτι eingeleiteten Objektsatz und dem ebenfalls mit ὅτι beginnenden Vers 6,4 ausgedrückt (s.o. Anmerkungen zum Text). In 6,9b wird noch als Ziel hinzugefügt, dass die Machthaber Weisheit lernen. Die Machthabenden sollen vor allem begreifen, dass ihre Macht von Gott her kommt; das erste Kolon in 6,3a ist sehr sorgfältig konstruiert: Der präpositionale Ausdruck παρὰ κυρίου, der das logische Subjekt zu der Passivform ἐδόθη enthält, steht in der Mitte des Satzes, das pronominale Dativobjekt ὑμῖν ist ans Ende gesetzt. 6,3 nennt ausdrücklich den κύριος Israels. Das Wort δυναστεία bezieht sich auf Macht im Allgemeinen, aber ein möglicher Anklang an Ex 6,6LXX könnte diesem Ausdruck einen negativen Beiklang geben: „despotische Macht“. κράτησις (vgl. Einleitung S. 32) stellt zweifellos eine Anspielung auf die Besitzergreifung Ägyptens durch die Römer dar. In 6,3c ist der κύριος Subjekt. Auf ihn bezieht sich das Relativpronomen ὅς mit konsekutiver Bedeutung „der folglich …“. Durch die Erwähnung der Untersuchung (ἐξετάζω) wird auf Weish 1,9 zurückverwiesen (vgl. auch 4,9). Das Verb *διερευνάω, das in der LXX sonst nur noch in Weish 13,7 vorkommt, jedoch in einem ganz anderen Kontext, hat hier die Bedeutung „durchforschen“. Die Machthabenden sollen sich in die Schule Gottes begeben: Gott wird ihre Unternehmungen und ihre Pläne (βουλάς) untersuchen, menschliche Macht kann nicht auf Gewaltausübung gründen, wie die Gottlosen in 2,11 erklärt hatten; dies würde dem Ursprung der Macht aus Gott völlig widersprechen. Man muss sich allerdings fragen, ob eine solche Mahnung tatsächlich auf die „Machthabenden auf der ganzen Erde“ einwirkt oder nicht eher eine nur für die Untergebenen solcher Machthaber tröstliche Aufforderung darstellt oder aber nur die beeinflussen kann, die schon an den κύριος Israels und an seine Gegenwart in der Geschichte glauben. 6,4 führt weiter aus, was die Machthabenden hören sollen, und schließt an die vorhergehenden Darlegungen über die Herkunft der Macht von Gott an. Die Fügung ὑπηρέται ὄντες hat konzessive Bedeutung: „obwohl ihr Diener seid“; der Machthabende ist abhängig von Gott und „Bediensteter seines Königtums“ (βασιλεία; vgl. 6,20). Das Königtum ist von Gott auf Menschen übertragen, bleibt aber Gott selbst untergeordnet. Aber die Herrschenden haben nicht richtig Recht ge9 Die Formulierung des Textes bleibt jedoch ungewöhnlich, wie schon LARCHER, Sagesse II, 401, anmerkt. 10 Nach SCARPAT, Sapienza I, 378, ist die Verwendungsweise von γαυρόω hier XENOPHON entnommen: Hier. 2,15 ist die einzige Stelle in der griechischen Profanliteratur, an der das Verb mit ἐπί konstruiert ist.

6,3–4

Die Macht stammt von Gott

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Weish 6,1–11

sprochen (die Fügung οὐκ ἐκρίνατε ὀρθῶς ist in der LXX ungewöhnlich, vgl. Lk 7,43; das Verb κρίνω stellt eine Verbindung her zu Weish 1,1a), haben das Gesetz nicht beachtet (s.u.) und sind nicht nach dem Willen Gottes ‚gegangen‘. Im Unterschied zu 6,3a (παρὰ κυρίου) wird hier von θεός gesprochen. In 6,5–8 kehrt der Gedanke an das Gericht wieder, das die „Tyrannen“ erwar6,5–8 tet, die aus ihrer Macht ein Mittel der Unterdrückung gemacht haben (6,5) wie die Gottlosen des zweiten Kapitels. 6,5 beginnt asyndetisch und kündigt ein plötzliches Vorgehen Gottes an (er ist unausgesprochen das Subjekt in 6,5) gegen die Machthabenden. Was sie erwartet, ist ein unerbittliches Gericht (κρίσις ἀπότομος; zu dem Adjektiv s.o. zu 5,20a). Das Präsens (γίνεται) nach dem Futur (ἐπιστήσεται in 6,5a) hebt das beständige Wirken Gottes hervor. 6,6 ist in Kontrasten formuliert: klein – groß, Barmherzigkeit – Gericht; 6,6b verwendet die rhetorische Figur des πολύπτωτον (Wiederholung eines Wortes bzw. des Wortstammes mit Abwandlung der Flexionsform): δυνατοί - δυνατῶς. Wenn „von jedem, dem viel gegeben wurde, viel verlangt werden wird, und von dem, dem viel anvertraut wurde, um so mehr gefordert werden wird“ (vgl. Lk 12,47– 48), dann wird das Gericht, das die Mächtigen erwartet, ganz sicher strenger sein als dasjenige, dem die „Geringsten“ (ἐλάχιστος 6,6a) entgegensehen. Diese Geringsten erinnern an den verfolgten Gerechten des Kap. 2; sie haben eine besondere Anwartschaft auf den Empfang der Barmherzigkeit Gottes. Weish 6,7 begründet dieses scheinbar ungerechte Verhalten Gottes: Gott, der Herr, ist „der Gebieter über alle“11 (vgl. Ijob 5,8LXX und Weish 8,3). In 6,7c hat αὐτός verstärkende Bedeutung („er war es, der … erschaffen hat“) wie in Spr 22,2. Das Schöpfersein Gottes begründet sein Gerichtshandeln. Die Verwendung von ἐντρέπομαι „sich scheuen, sich rücksichtsvoll verhalten“ (6,7b) könnte eine polemische Erwiderung auf Weish 2,10 sein, wo die Gottlosen sich brüsten, auf die Schwächeren keinerlei Rücksicht zu nehmen, was Gott jedoch tut, wobei er das beanspruchte Recht der Starken unbeachtet lässt. Die Fürsorge Gottes für alle Menschen schließt seine Fähigkeit, die Gottlosen zu bestrafen, nicht aus (s.u. Weish 6,8), denn die Vorsehung Gottes umfasst auch eine strenge gerichtliche Untersuchung (*ἔρευνα; vgl. Apk 2,23)12 der Machthabenden (κραταιοί). In 6,8 wird mit anderen Wörtern 6,5 inhaltlich nochmals aufgegriffen und damit hervorgehoben, dass die Macht der Mächtigen nicht willkürlich ausgeübt werden darf, dass ihr Einsatz vielmehr von Gott, der für jedes menschliche Wesen, das er selbst geschaffen hat (s.o. 6,7c), in gleicher Weise sorgt, streng überprüft werden wird. Der Verfasser scheint den Anklagen Kohelets, dass in dieser Welt das Recht immer mit Füßen getreten wird (vgl. Koh 3,16; 4,1; 5,7), antworten zu wollen. Hier erfolgt ein erneuter Aufruf zum Hören mittels zweier Imperative (6,11), 6,9 die die Eingangseinladung aufgreifen (6,1–2). Die zweifache Bezugnahme auf 11 Es ist schwierig zu entscheiden, ob πάντων hier der Genitiv eines Plurals Neutrum („alles“) oder Maskulinum („alle“) sein soll. Der Kontext des Buchs der Weisheit legt angesichts seiner Aufmerksamkeit auf den Kosmos Ersteres nahe, aber die Verwendung von πάντων in 6,7d weist entschieden auf ein Maskulinum. 12 Vgl. PASSONI DELL’ACQUA, Anna, „Indagine lessicale su ἐρευνάω e composti“, Anagennesis. A Papyrological Journal (1985), 201–326.

Synchrone Analyse

179

„meine Worte“ (6,9a.11a) verleiht ihnen einen persönlichen Klang, wie er sonst im Buch der Weisheit nicht häufig begegnet. Ähnlich wie in 6,1 wendet sich der Sprecher an die Regierenden (Herrschaftstitel und οὖν) in typisch weisheitlicher Weise. Er lädt sie ein, seine Worte anzuhören, um Weisheit zu lernen und Bildung zu erwerben. Die Erwähnung der σοφία und die Verwendung des Verbs παιδεύω (6,11b) ergänzen den Aufruf in 6,1 und verdeutlichen, dass es nicht so sehr um die Gerechtigkeit geht, die die Regierenden verwirklichen sollen, sondern um die Weisheit, mit der zu leben sie berufen sind (so schon in 1,4). Im Buch der Weisheit bezeichnet ὅσιος nicht so sehr eine Zugehörigkeit zu 6,10 Gott (dafür verwendet der Verfasser eher ἅγιος) als vielmehr eine moralische Heiligkeit, verstanden als Treue gegenüber Gott.13 Die Bedeutung von ὁσιωθήσονται ist jedoch nicht ganz klar. Das Verb kommt in der LXX nur einmal im Passiv vor, und zwar in Ps 17[18MT],26: μετὰ ὁσίου ὁσιωθήσῃ. Der Verfasser könnte an diesen Text gedacht haben.14 Die Passivform ὁσιωθήσονται kann verstanden werden als „sie werden heilig gemacht bzw. geheiligt werden“. Wie in Weish 5,5, wo die Gottlosen post mortem die Verherrlichung der Gerechten anerkennen, kann man, wenn auch mit einer gewissen Unsicherheit, ὁσιωθήσονται verstehen im Sinne von „sie werden als heilig anerkannt werden“, d.h., Gott wird die als heilig, als treu und gerecht anerkennen, die sein Gesetz eingehalten haben. Der Gebrauch von ὅσιοι in Weish 3,9; 4,15 lenkt das Verständnis auf eine eschatologische Bedeutung des Wortes, die dann auch durch 6,10b bestätigt wird. Wer also das Gesetz Gottes gelernt und gehalten hat (οἱ διδαχθέντες αὐτά), wird zu den Auserwählten gezählt werden, denn sie werden eine „Rechtfertigung“ finden. Das Wort *ἀπολογία stammt aus dem Kontext eines Gerichtsverfahrens und lässt hier das Gericht Gottes mitanklingen. Der Inhalt von 6,8 wird auch durch die Assonanz ἔρευνα – εὑρήσουσιν wieder aufgegriffen. Die „Heiligen“ werden die Worte zu ihrer Rechtfertigung vor Gott finden im Gegensatz zu den Gottlosen, die zu einem endgültigen und schrecklichen Schweigen gezwungen sind (vgl. 4,19).15 6,11 nimmt die Ermahnung von 6,9 auf (οὖν) und verwendet dabei zwei für 6,11 die erotische Sprache typische Wörter: ἐπιθυμέω „begehren“ (vgl. Sir 1,26) und ποθέω „sich sehnen“. Der Weise muss in die Weisheit verliebt sein. Die beiden Imperative mildern so die Härte der Rede an die Machthabenden ab. Auf diese Weise kann der Ausbildungsweg, den zu beschreiten die Mächtigen berufen sind, vervollständigt werden. Das Verb παιδεύω, hier in der Bedeutung

13 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 205–206. Zum platonischen Hintergrund von ὅσιος in der LXX vgl. DAFNI, Evangelia G., „ΟΣΙΟΣ und ΟΣΙΟΤΗΣ in der LXX und Platos Eutiphron. Lexikographische, geistes- und kulturgeschichtliche Überlegungen“, BONNEY, Gillian / VICENT, Rafael, Sophia – Paideia. Sapienza e educazione (Sir 1,27), FS Mario CIMOSA, Rom: LAS 2012, 55–87. 14 Ohne notwendigerweise ein Missverständnis des griechischen Textes zu vermuten, wie SCARPAT, Sapienza I, 359–360 mit Anm. 19 empfiehlt. 15 Die Personen, von denen in 6,10b die Rede ist, sind dieselben wie in 6,10a (anders LARCHER, Sagesse II, 416). Das Erlernen der „heiligen Dinge“ ist nicht nur für Nichtjuden erforderlich, sondern auch für die Juden selber, die sich vom heiligen Gesetz Gottes formen lassen sollen.

180

Weish 6,1–11

„erziehen, (aus)bilden“, verweist auf die weisheitliche παιδεία, die schon in 1,5 genannt wurde und schließt auch den Weg der griechischen παιδεία ein.

Diachrone Analyse 6,1–2: Eine Re- Es ist kaum zu bestreiten, dass der Verfasser in 6,1–2 an die Römer denkt, auch flexion über wenn die Anspielungen auf die kaiserliche Macht unbestimmt bleiben. Der Plural das Königtum βασιλεῖς kann nicht direkt auf Octavianus Augustus verweisen: „Auch wenn der

Verfasser auf diesen anspielt, hat er sich nicht erlaubt, darüber hinauszugehen, das verlangte die Klugheit.“16 In jedem Falle will der Verfasser auf eine in der griechischen ebenso wie in der biblischen Welt anerkannte Auffassung hinweisen: Die Macht hat einen göttlichen Ursprung, daher sind die Herrschenden für ihre Ausübung verantwortlich. Von den neupythagoräischen Abhandlungen über das Königtum her (s.u.) sind die Herrschenden verpflichtet, einem Gesetz zu folgen, sie stehen nicht über ihm. Wie schon in Weish 1,1 scheint also auch hier die stoische Denkweise über das Königtum durch: „Die Ausführungen des Verfassers geben eine vorzügliche Darstellung einer stoischen Theorie in völlig biblischer Ausdrucksweise.“17 Wirklich König ist nur der Weise. Auch wenn die Römer im Blick zu sein scheinen, sind die Adressaten in Wirklichkeit doch Juden, insbesondere die Jungen, die herangebildet werden sollen, um in ihrer Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen. Ihnen stellt der Verfasser in Weish 7–8 das positive Beispiel eines Königtums vor Augen, das sich von der Weise, wie die zeitgenössischen Herrschenden dieses Amt ausüben, unterscheidet, das Königtum Salomos, eines Menschen wie alle anderen (Weish 7,1–6), ein „demokratisches Königtum“. Hier beginnt, nunmehr auch ausdrücklich (6,9), „Salomo“ zu sprechen.18 An diese „Herrschenden“ richtet der Verfasser vier Imperative weisheitlicher Prägung. Die ersten beiden wurden sicher durch die biblische Tradition angeregt: Die Verben ἀκούω und συνίημι kommen zusammen in Jes 6,9–10; 52,15; Neh 8,2 und vor allem in der Erzählung vom Traum Salomos in Gibeon (1Kön 3,9) vor. „Hören“ und „Verstehen“ sind die typischen Haltungen der Weisheitstradition: Für die Aufforderung zum Hören vgl. auch Dtn 5,1; 6,4; Spr 4,1; 8,33MT. Der dritte Imperativ, μάθετε, erinnert an die Aufforderung παιδεύθητε von Ps 2,10: hören und verstehen, um zu lernen. So verbleibt auch ἐνωτίζομαι „sich etwas einohren, aufmerksam hinhören“ im weisheitlichen Rahmen; es steht häufig parallel zu „hören“ (Ps 48[49MT],2; Ijob 33,1.31; Sir 33,19 und vor allem Ri 5,3: ἀκούσατε βασιλεῖς καὶ ἐνωτίσασθε σατράπαι). 6,3–4 Der Gedanke in 6,3a, dass es Gott ist, der den Menschen die Macht verleiht, ist traditionell, vgl. 1Chr 29,11; Dan 2,21.37; 4,14; 5,18; Spr 8,15–16; Sir 10,4–5; für das NT, Röm 13,1 und 1Petr 2,13–15. Nur Gott ist der wahre König des Universums (Dan 4,17.25.32Th [4,14.22.29MT]; Sir 10,4–5). Auch außerhalb der Bibel wird diese Ansicht häufig vertreten und ist seit dem antiken Griechenland bekannt (vgl. Il. 2,197–198.205); in Alexandria wird sie in stoischen Kreisen aufgenommen, vgl. 16 GILBERT, “La vostra sovranità“, 123. 17 SCARPAT, Sapienza I, 353–354. 18 Vgl. GILBERT, “La vostra sovranità“,129–131; NEWMAN, „The Democratization of Kingship“.

Diachrone Analyse

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Arist. 224: „Niemand ist König aus eigenem Vermögen; alle wollen ja an dieser Ehre teilhaben, aber sie können es nicht, denn sie ist eine Gabe Gottes“. Diese Auffassung kehrt in besonderer Weise in den neupythagoreischen Abhandlungen über das Königtum wieder.19 Die Verwendung von νόμος ohne Artikel in Weish 6,4b lässt an das Gesetz des Mose Herrschende denken, was durch den Verweis auf die βουλὴ θεοῦ bestätigt wird, die, wie in Weish und Gesetz 9,16–18, den Willen Gottes zu meinen scheint, der in der Tora ausgedrückt ist. Wenn der Verfasser sich hier an die römischen Machthaber richtete, müsste man annehmen, dass er mit „Gesetz“ die Tora, verstanden als Ausdruck der natürlichen Gesetzesordnung, oder sogar die stoische Lehre vom Naturgesetz meine.20GILBERT zeigt, in Weiterführung und Präzisierung der Vermutungen von LARCHER, dass der Verfasser sich mehr als auf unmittelbar stoische Vorstellungen auf die bereits erwähnten neupythagoräischen Abhandlungen über das Königtum stützt, die ihrerseits vom Stoizismus beeinflusst waren.21 In dem „Gesetz“, von dem Weish 6,4 spricht, ist demnach der Ausdruck der positiven Gesetze zu sehen, die verstanden werden als Mittelglied zwischen dem natürlichen Gesetz göttlichen Ursprungs und dem König. Nach GILBERT bereitet es ziemliche Schwierigkeiten, in 6,4 νόμος unmittelbar als das mosaische Gesetz zu verstehen, da die Adressaten der Kritik des Verfassers offensichtlich heidnische Herrscher sind. Es ist jedoch klarzustellen, dass die Adressaten des Buches der Weisheit auf jeden Fall Juden sind. Texte wie Weish 1,1 und 6,1 wenden sich nicht direkt an römische Herrscher, und der Verfasser erhebt keinen Anspruch, von ihnen gelesen oder gehört zu werden. Das gesamte Buch richtet sich an die jüdische Bevölkerung von Alexandria; von daher lässt sich nicht ganz ausschließen, dass Weish 6,4 auch auf das mosaische Gesetz anspielt. Die Argumentation von GILBERT ist deshalb zu vervollständigen: Der Verfasser kann, wenn er die nichtjüdischen Könige anklagt, das Gesetz nicht einzuhalten, vom Anfang seines Werkes an eine gewisse Art von Annäherung zwischen positivem Gesetz, Naturgesetz und mosaischem Gesetz im Sinn gehabt haben, wie es wenig später bei Philon in viel systematischerer Weise der Fall sein wird.22

Das Wort δεσπότης in 6,7a ist nicht zufällig gewählt: Mit diesem Titel wandte man 6,7 sich gewöhnlich an den römischen Kaiser (so Philon in Legat. 290.321). Polemisch drückt der Verfasser in dieser Weise aus, dass es nur einen einzigen Souverän gibt, Gott, der sich um die Größe der Könige dieser Welt nicht kümmert. Der Gedanke, dass Gott sich unparteiisch verhält, ist jedoch biblisch (der Bezugstext hierzu ist Dtn 1,17 (vgl. Ijob 34,17–19) ebenso wie die Begründung durch den Verweis auf die Erschaffung des Kleinen und des Großen (vgl. Ijob 31,15; 34,19; Spr 22,2); der Verfasser verwendet hier die rhetorische Figur des Merismus, d.h., eine Gesamtheit wird durch zwei, meist gegensätzliche Begriffe ausgedrückt.

19 Vgl. SQUILLONI, Annamaria, „Il significato etico-politico dell’immagine Re-Legge animata. Il νόμος ἔμψυχος nei trattati neopitagorici Περὶ βασιλείας“, Civiltà Classica e Cristiana 11/1 (1990) 75–94; GILBERT, “La vostra sovranità“, 125–127. 20 Vgl. LARCHER, Etudes, 203, ohne weitere Spezifizierungen. Diese Ansicht vertritt bereits GRIMM, Weisheit, 124: „νόμος (bezeichnet) nicht das mosaische Gesetz, sondern die natürlichen Grundsätze des Rechts …“. Siehe auch WINSTON, Wisdom, 153, der ganz allgemein bemerkt, dass im hellenistischen Judentum das mosaische Gesetz als Ausdruck des natürlichen Gesetzes betrachtet wurde. 21 Vgl. GILBERT, „La vostra sovranità“, 125–127. 22 Vgl. MAZZINGHI, „Law of Nature“, passim.

182

Weish 6,1–11

Neu ist sodann die wenn auch nur allgemeine Nennung der „Vorsehung“ Gottes in 6,7d. Die Vorstellung, dass Gott für alle sorgt, ist ebenfalls biblisch, sie wird aber hier durch προνοέω ausgedrückt; dieses Verb verweist unmittelbar auf eine für die stoische Philosophie typische Vorstellung (vgl. πρόνοια in Weish 14,3 und 17,2). Die Weisheit ist also etwas, das gelernt werden soll entsprechend einer in der 6,9: In der Schule der Weisheitstradition Israels verwurzelten Vorstellung. Weish 6,9b ist die einzige Weisheit Stelle in der LXX, in der die σοφία als Objekt zum Verb μανθάνω „lernen“ erscheint. Aber im ganzen Buch der Sprichwörter wie auch im Buch Jesus Sirach sind die Adressaten Lernende in der Schule eines Weisheitslehrers. Die Weisheit hat wie in Spr 8 zugleich ethische und praktische Dimensionen. Sie bedeutet einen Lebensstil, hat eine politische Dimension und bezieht die Kunst einer guten Regierung mit ein, aber sie ist auch jene Weisheit, die von Gott kommt und die Hauptfigur in Weish 7–10 sein wird. Sich in die Schule der Weisheit zu begeben, wird die Herrschenden vermeiden lassen, zu Fall zu kommen (μὴ παραπήσητε). Das Verb παραπίπτω erinnert an Texte wie Ez 14,13: γῆ ἐὰν ἁμάρτῃ μοι τοῦ παραπεσεῖν παράπτωμα „wenn ein Land gegen mich sündigt, indem es eine Übertretung begeht…“ und lässt so den Gedanken an eine Gesetzesübertretung mitanklingen. 6,10

6,9 und 6,11 rahmen die beiden weisheitlichen Sentenzen von 6,10 ein. Die Deutung von 6,10a ist nicht leicht und wurde von verschiedenen Kommentatoren eingehend diskutiert. Das γάρ ist wohl explikativ zu verstehen: Die Machthabenden sollen sich in die Schule der Weisen begeben, „denn“ wenn sie das tun, werden sie geheiligt werden. Hier ist wieder die rhetorische Figur des πολύπτωτον (s.o. zu 6,6b), dieses Mal mit dem Wortstamm ὁσιο- „heilig-“, verwendet. Der Schlüssel zum Verständnis liegt im Ausdruck τὰ ὅσια „das Heilige“ (pl.). Möglicherweise handelt es sich um eine Bezugnahme auf Jes 55,3LXX. An dieser einzigen anderen Stelle, an der τὰ ὅσια in der LXX vorkommt, bezeichnet der Ausdruck die Verheißungen an David und den mit ihm geschlossenen Bund. Im Kontext von Weish 6 ist damit wohl das „heilige Gesetz“ gemeint bzw. das, was vom Gesetz Gottes für heilig gehalten wurde. Diese Deutung wird bestätigt durch die Verwendung des Verbs φυλάσσω „wahren, bewachen, einhalten“, das häufig das Gesetz zum Objekt hat.23 Ein weiterer Text könnte den Verfasser angeregt haben: 1Kön 8,61LXX: καὶ ὁσίως πορεύεσθαι ἐν τοῖς προστάγμασιν αὐτοῦ καὶ φυλάσσειν ἐντολὰς αὐτοῦ. Dann würde der Sprechende damit die Herrschenden auffordern, in Heiligkeit (ὁσίως), d.h. in Treue und Aufrichtigkeit, das Gesetz Gottes einzuhalten. Diese Aufforderung ist sinnvoller, wenn die Herrschenden nicht nur heidnische Personen, sondern vor allem Juden sind. Die mögliche Anspielung auf 1Kön 8,61LXX verleiht ihr dazu noch einen biblischen Klang.

6,11 Im ganzen Absatz Weish 6,9–11 verwendet der Verfasser weiter Gedanken stoi-

scher Herkunft, die er deutlich mit einem biblischen Hintergrund verbindet (s.u. zur Aufnahme von Ps 2,10). Es geht um die stoische Idee, dass nur der Weise wirklich König ist und dass deshalb nur der Weise tatsächlich König sein darf (vgl. SVF III, 81 frg. 332; III, 159 frg. 619; SVF III, 159 frg. 620; Philon, Mut. 152). Auch die Auffassung, der Böse könne gebildet und so weise – und daher König – werden, ist erkennbar stoischer Herkunft, vgl. SVF I, 129 frg. 567 „Tugend ist lehrbar“ und SVF III, 52 frg. 223 „aus Bösen können Gute werden“. 23 Zum Gebrauch dieses Wortes im Buch der Weisheit s. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 219.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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Das Verb παιδεύω nimmt allerdings zunächst einmal Ps 2,10 (καὶ νῦν βασιλεῖς σύνετε / παιδεύθητε πάντες οἱ κρίνοντες τὴν γῆν) auf: 6,1a zitiert aus dem ersten Teil (Ps 2,10a), 1,1a aus Ps 2,10b. In dieser Weise hat der Verfasser Ps 2,10 gleichsam aufgespalten und eine Gerichtsszene dazwischen gesetzt, die den Leser auf die Strenge hinweisen soll, mit der der Gott Israels die Mächtigen und zusammen mit ihnen jeden, der sich ebenso verhält, richten wird. Ganz anders wird das Schicksal der „Geringsten“ (6,6) und der „Heiligen“, der Gott und seinem Gesetz Treuen, beim Gericht sein. So verbinden sich der alexandrinischen Umwelt vertraute stoische Auffassungen mit einem deutlich biblischen Hintergrund. Dies bestätigt, dass die Adressaten dieser Mahnungen vor allem Juden sind.

Weish 6,12–21: Die Weisheit geht auf die Suche nach denen, die sie suchen 12 Strahlend und unverwelklich ist die Weisheit, und leicht wird sie wahrgenommen von denen, die sie lieben, und sie wird gefunden von denen, die sie suchen. 13 Denen, die sie begehren, kommt sie zuvor, sich erkennen zu lassen. 14 Wer für sie früh aufgestanden ist, wird keine Mühe haben; er wird sie nämlich neben seiner Türe sitzend finden. 15 Über sie nachzudenken nämlich ist Vollendung der Klugheit; wer ihretwegen wach bleibt, wird schnell sorgenfrei sein. 16 Denn sie geht selbst umher auf der Suche nach denen, die ihrer würdig sind, und freundlich erscheint sie ihnen auf (ihren) Pfaden und kommt ihnen bei jedem Vorhaben entgegen. 17 Ihr wahrster Anfang nämlich ist Begehren von Bildung; 18 Sorge um Bildung aber ist Liebe, Liebe aber ist Halten ihrer Gesetze, Aufmerksamkeit auf die Gesetze aber ist Sicherung der Unverderblichkeit, 19 Unverderblichkeit aber macht, Gott nahe zu sein. 20 Folglich führt Begehren von Weisheit hinauf zum Königsein. 21 Wenn ihr also Freude habt an Thronen und Szeptern, ihr Fürsten der Völker, ehrt die Weisheit, damit ihr auf ewig Könige seid!

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 13 Die Konstruktion von 6,13 ist kompliziert; auf φθάνω folgt als Akkusativobjekt τοὺς ἐπιθυμοῦντας „sie kommt denen, die (sie) begehren, zuvor“ (mehrere Textzeugen fügen um der Klarheit willen hinter ἐπιθυμοῦντας noch αὐτήν hinzu). Das Verb φθάνω hat, wie auch bereits in 4,7, die Bedeutung „zuvorkommen“ (so auch 16,28). Worin die Weisheit ihnen zuvorkommt, wird durch den Infinitiv Aorist Passiv προγνωσθῆναι aus-

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Weish 6,12–21

gedrückt; προγινώσκω kommt noch in Weish 8,8 und 18,6 mit der gleichen Bedeutung „im Vorhinein erkennen“ vor. 14 ὀρθρίζω (vgl. SCARPAT, Sapienza I, 386–387) bedeutet „sehr früh (noch im Morgengrauen) aufstehen“ und verbindet sich in der LXX gewöhnlich mit πρός; so liest auch der größte Teil der Textzeugen πρὸς αὐτήν; aber die Lesart ἐπ’ αὐτήν von B S und einigen Minuskeln ist als lectio difficilior vorzuziehen. Die Präposition ἐπί gibt das Ziel des „Frühaufstehens“ an: „für sie“, um sie zu suchen. 16 Kodex B und wenige andere Textzeugen (s. ZIEGLER) liest ὑπαντᾷ, während die übrigen ἀπαντᾷ lesen. Das Verb ὑπαντάω „entgegenkommen“ findet sich in der LXX nur noch in Tob 7,1B; Sir 9,3; 12,17; 15,2 und Dan 10,14; ὑπαντᾷ ist so lectio difficilior; seine Verwendung könnte von Sir 15,2 angeregt sein, wo von der Weisheit gesagt wird, sie komme dem Menschen entgegen wie eine Mutter.

Synchrone Analyse Im ersten Teil von 6,12–21 wird schon der Lobpreis der Weisheit vorweggenommen. Sie wird, wie schon in der Tradition, als eine Frau gesehen, die die Menschen einlädt, ihr zu folgen; mehr noch als eine Braut ist die Weisheit Freundin und Lehrerin, die auf der Suche nach denen ist, die nach ihr verlangen (Formen des Verbs ζητέω „suchen“ in 6,12c und 6,16a bilden eine inclusio). Diese Bewegung gegenseitiger Suche erinnert an ein von den Propheten dargestelltes Verhalten Gottes: „Und ihr werdet mich suchen und werdet finden, wenn du mit ganzem Herzen nach mir fragst, werde ich mich von euch finden lassen“ (Jer 29,13–14MT; vgl. Jes 65,24). Noch bevor er beschreibt, was die Weisheit ist, stellt der Verfasser sie als leicht erreichbar vor. Der asyndetische Beginn von 6,12 markiert einen Neueinsatz. Die schon in 6,9 6,12–13 genannte Weisheit wird nunmehr zur Hauptfigur, ἡ σοφία ist zu ihrer Hervorhebung ans Ende von 6,12a gesetzt. Sie wird vor allem als „strahlend, leuchtend“ (λαμπρά) vorgestellt; diese Metapher wird in Weish 7,29 wiederkehren (vgl. das flashback in 17,20–21). Die Helligkeit der Weisheit unterstreicht die Leichtigkeit, sie zu erkennen, aber vor allem die Zugehörigkeit der Weisheit zur Sphäre Gottes. Es handelt sich um jenes Licht, das nach Weish 5,6 den Gottlosen nicht geleuchtet hat. Des Weiteren wird die Weisheit *ἀμάραντος „unverwelklich, unausdörrbar“ genannt (vgl. 1Petr 1,4 und ἀμαράντινον in 1Petr 5,4) mit einem vor dem Buch der Weisheit nur selten verwendeten Wort. Die Weisheit verwelkt nicht, wie es die Blumenkränze bei den Gelagen der Gottlosen tun (vgl. μαραίνω in Weish 2,8). In 6,17–20 wird dann ausgeführt, dass die Weisheit nicht nur nicht verwelkt, sondern dem, der sie aufnimmt, Gewähr der Unverderblichkeit bietet. Diese Weisheit ist leicht (εὐχερής bezeichnet im Profangriechischen die VerDie Weisheit suchen fügbarkeit und Bereitschaft einer Person) wahrzunehmen (θεωρέω) von denen, die sie lieben. Die Form εὑρίσκεται schlägt den Bogen zurück zu 1,2, wo sie vom κύριος ausgesagt wird (ebenfalls in Verbindung mit ζητέω). Obwohl sie mit Gott verbunden ist, ist die Weisheit doch den Menschen erreichbar. 6,13 zeigt, dass die Weisheit dem menschlichen Suchen nicht nur entgegenkommt, sondern ihm sogar zuvorkommt. Der Text ist nicht ganz klar (s.o. die Anmerkungen zum Text); man versteht nicht recht, in welcher Weise die Weisheit sich im Voraus von denen erkennen lässt, die sie begehren (das Verb des Imperativs ἐπιθυμήσατε aus 6,11a ist wieder aufgenommen).

Synchrone Analyse

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Der Verfasser nimmt die Metapher der Suche nochmals auf, kehrt sie aber um: 6,14 Der Mensch, der die Weisheit sucht, findet sie schon bereit. Wer um ihretwillen früh aufsteht, braucht sich nicht abzumühen (zu κοπιάω s. u. bei Weish 9,10). Die Suche nach der Weisheit ist recht verschieden von der täglichen Arbeit des Menschen; er steht früh am Morgen auf und müht sich den ganzen Tag lang ab, wer aber die Weisheit sucht, braucht sich nicht mühsam zu plagen: Die Weisheit sitzt schon an der Türe dessen, der sie sucht. 6,15a bildet eine Art Parenthese, die aber doch mit ihrem Kontext verbunden 6,15–16 ist (γάρ hat zugleich erläuternde und begründende Bedeutung): Über die Weisheit nachzudenken (τὸ γὰρ ἐνθυμηθῆναι περὶ αὐτῆς; Lat: cogitare de illa) führt den Menschen zu vollendeter Klugheit (φρονήσεως τελειότης). Zum Begriff der φρόνησις s.o. den Kommentar zu Weish 3,15; er bezeichnet hier das kluge Unterscheidungsvermögen, die Tugend der Klugheit, und ist deutlich verschieden von der σοφία. Die Klugheit wird im Menschen ihre Vollendung nur auf dem Wege der Weisheit erreichen. 6,15b kehrt dann wieder zur Metapher des Frühaufstehens (6,14a) zurück. Es geht nicht nur darum, für die Weisheit früh aufzustehen, sondern auch, für sie wach zu bleiben. Das Verb ἀγρυπνέω greift sicherlich Spr 8,34LXX auf: „Selig … der Mensch, der auf meine Wege achtet, der täglich an meinen Toren wacht (ἀγρυπνῶν)…“. Wer so für die Weisheit wach geblieben ist, wird bald (ταχέως) sorgenfrei (ἀμέριμνος) sein. Trotz seines gelegentlichen Wachens bleibt der Weise frei von jeder Besorgtheit: Die Weisheit verhilft ihm dazu, richtig zu leben. 6,16 führt das Bild der personifizierten Weisheit fort und erweitert die Ausführungen von Spr 8,1-3: Die Weisheit „steht“ nicht nur an den genannten Orten, sondern geht umher (περιέρχεται), um zu suchen, wer ihrer würdig ist (τοὺς ἀξίους αὐτῆς; ἄξιος hat im Buch der Weisheit immer einen theologischen Beiklang, s.o. zu 1,16 u. ö.). Wenn ein Mensch die Weisheit sucht (6,12c), geht auch sie auf die Suche nach ihm. Die Suchwege führen aufeinander zu. Denen, die sie suchen, kommt die Weisheit bereitwillig entgegen (6,16b); ἐν ταῖς τρίβοις nimmt Spr 8,2LXX auf: ἀνὰ μέσον τῶν τρίβων ἕστηκεν. Die „Pfade“ sind eine Metapher für alle Situationen des menschlichen Lebens (vgl. Weish 2,15; 5,7), in denen die Weisheit sich gegenwärtig zeigt. Das Verb φαντάζομαι kommt in der Bibel sonst nur noch in Sir 34,5 und Hebr 12,21 vor; es bezeichnet eine Erscheinung (vom Himmel her oder im Traum).24 Hier geschieht die Erscheinung *εὐμενῶς: wohlwollend, freundlich, ohne Schrecken einzujagen. Die Weisheit kommt dem Menschen nicht nur in allen Lebenslagen (ἐν ταῖς τρίβοις) entgegen, sondern auch in seinem Innersten. Mit ἐπίνοιαι (Weish 9,14; 14,12; 15,4 verwenden das Wort in malam partem) werden die Gedanken, die Absichten und Überlegungen des Menschen bezeichnet, die Gefahr laufen, zu nichts zu taugen, wenn sie nicht von der Weisheit erhellt werden; der Verstand allein genügt nicht. Wenn man bedenkt, dass die Weisheit, von der hier die Rede ist, nichts anderes als die menschliche Weisheit ist, betrachtet als Geschenk Gottes,25 dann erhal-

24 SCARPAT, Sapienza I, 366 Anm. 29 weist auf eine mögliche Erinnerung an Euripides hin: ἐν τρίβῳ φαντάζεται (Phoen. 93). 25 So HEINISCH, Weisheit, 118.

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Weish 6,12–21

ten diese Verse eine große Bedeutung. Die Weisheit entsteht durch die menschliche Suche (6,12c), die auf die Gabe Gottes trifft (6,16a). Im gleichen Moment, in dem der Mensch nach dem Sinn des Lebens, d.h. nach der Weisheit, sucht, entdeckt er, dass in dieser Suche Gott ihm bereits (mit seiner Weisheit) entgegengekommen ist. Das Stück 6,17–20 bildet ein gutes Beispiel der rhetorischen Fertigkeit des 6,17–20: Ein Beispiel eines Verfassers. Er bedient sich hier der Figur des σωρείτης (Ketten-, Häufelschluss), Sorítes der aus der griechischen Logik bekannt ist. Bei Autoren, die auf die Eleganz des Stils achten, ist er nicht beliebt. Der schon bei Aristoteles erwähnte Sorítes hat die Form eines mehrfachen Syllogismus, d.h., aus einer Reihe von Prämissen wird eine Schlussfolgerung gezogen: A führt zu bzw. impliziert B, B impliziert C, C impliziert D usw.; das Objekt oder Prädikat eines Gliedes der Reihe erscheint dabei jeweils als Subjekt des nächsten Gliedes. Die Schlussfolgerung am Ende lautet: Also führt A zu bzw. impliziert F, wobei A das Subjekt des Ausgangssatzes und F das Prädikat oder Objekt des zuletzt genannten Gliedes darstellt. In Weish 6,17–20 hat der Sorítes sechs Glieder mit sieben Hauptbegriffen.26 Die Absicht des Verfassers bei der Verwendung dieser rhetorischen Figur ist es mit Hilfe der griechischen rhetorischen Logik zu zeigen, dass das Begehren der Weisheit der Beginn eines Weges ist, der zu Gott führt. Dieser Weg beginnt mit der Erwähnung des Ursprungs (ἀρχή) der Weisheit; diese Wendung greift Spr 1,7; 9,10 auf (ἀρχὴ σοφίας). Der Superlativ ἀλεθεστάτη dürfte sich wegen des davorstehenden Artikels auf ἀρχή beziehen,27 man könnte ihn aber auch in Bezug auf ἐπιθυμία verstehen, das Begehren, das hier, anders als in 4,12, eine positive Bedeutung hat. In jedem Falle ist es das Begehren, mit dem der Weg der Weisheit beginnt. Das Begehren kehrt dann auch im Schlusssatz des Sorítes am Anfang von 6,20 wieder. Der wirkliche Anfang der Weisheit liegt also im Verlangen nach παιδεία, d.h. nach Bildung, der umfassenden Ausbildung des Menschen auch in ethischer und religiöser Hinsicht (s.o. den Kommentar zu 1,5; 2,12; 3,11). Der zweite Schritt des Sorítes führt zur Liebe (ἀγάπη; das Substantiv kommt im Buch der Weisheit nur hier vor; vgl. den Kommentar zu ἀγαπάω in 1,1). Aus παιδείας ἐπιθυμία in 6,17 wird in geschickter Variation der Begriffe φροντὶς δὲ παιδείας, Sorge, Bemühung um Bildung (vgl. 5,15; 7,4; 8,9; 15,9). Das aufrichtige Streben nach Bildung führt zur Liebe zu ihr, die offensichtlich die Liebe zur Weisheit ist. Die Liebe führt zur Einhaltung der Gesetze der Weisheit (τήρησις νόμων αὐτῆς). Die Verbindung von ‚Gott lieben‘ und ‚seine Gesetze einhalten‘ ist deuteronomisch (vgl. Dtn 5,10; 10,12–13; 11,1; 30,16; vgl. Joh 14,15). „Lieben“ ist also nicht identisch mit „die Gesetze einhalten“; es ist ein Geisteszustand, der im Gehorsam konkret und fassbar werden muss. Hier scheint der Verfasser nicht nur das mosaische Gesetz im Blick zu haben (die LXX verwenden dafür eher ἐντολαί als νόμοι;

26 Vgl. LARCHER, Sagesse I, 425–426 und WINSTON, Wisdom, 154–155, mit Beispielen auch aus der rabbinischen Literatur. Ein klassisches Beispiel eines Sorítes findet sich bei SENECA, Ep. 85,2; aber Seneca selbst misstraut solchen logischen Spielen und hat keine Freude an Argumentationen solcher Art (vgl. SCARPAT, Sapienza I, 367). 27 „Initium enim illius verissimum disciplinae concupiscentia est“: AUGUSTINUS, Mor. eccl. I, 17–32 (SCARPAT, Sapienza I, 368).

Diachrone Analyse

187

vgl. aber Jer 38[31MT],33; 2Makk 4,17), vielmehr allgemein die Gesetze, die alle Menschen einhalten können. Die Einhaltung (τήρησις) der Gesetze wird im vierten Schritt προσοχὴ νόμων genannt; προσοχή „Aufmerksamkeit“ bedeutet in diesem Zusammenhang „Beachtung“ der Gesetze, vgl. προσέχειν ἐντολαῖς in Sir 23,27; 32,24; 35,1. Diese Beachtung der Gesetze ist Sicherung (βεβαίωσις) der Unverderblichkeit; zu ἀφθαρσία s.o. den Kommentar zu 2,23. Die Verwendung von ἀφθαρσία anstelle von ἀθανασία ist aufschlussreich: Das ewige Leben wird vom Verfasser vorgestellt als gekennzeichnet durch die Abwesenheit jener Verderblichkeit, die das physische Leben prägt. Ohne es ausdrücklich zu sagen, spielt er auf die Auferstehung an, die die Gerechten erwartet. Das letzte Stadium in dieser Reihe besteht darin, Gott nahe zu sein. Darin besteht die ἀφθαρσία, die das ermöglicht (6,19). Der Satz ἐγγὺς εἶναι ποιεῖ θεοῦ ist eine in der Bibel originelle und einmalige Formulierung, zu der der Verfasser vielleicht durch die orientalische Sitte angeregt wurde, der gemäß die Könige nur privilegierten Untergebenen gestatteten, sich in ihrer Nähe aufzuhalten (vgl. Est 1,14). Gott nahe zu sein, ist noch wichtiger als die Unverderblichkeit zu erlangen. Der tatsächliche Schlusssatz des Sorítes ist allerdings 6,20 (ἄρα): Der Verfasser verwandelt das „Begehren von Bildung“, mit dem der Sorítes in 6,17 begonnen hatte, in ein „Begehren von Weisheit“, das zur βασιλεία, zum Königtum, führt. Die Verwendung des Verbs ἀνάγω verweist auf einen wirklichen „Aufstieg“, ein Fortschreiten, das der Sorítes ja anzeigen wollte. Die Verbindung mit ἀφθαρσία macht darauf aufmerksam, dass dieses Königtum nicht nur der irdischen Ordnung angehört, sondern eher das Königtum Gottes (s.o. 6,4) meint, d.h. das Gott-naheSein in einer eschatologischen Dimension, die menschliches Königtum übersteigt. Man kann jedoch nicht ausschließen, dass der Verfasser nochmals an das Königtum dachte, das nach der stoischen Auffassung jedem Weisen zu eigen ist. Der Sprecher wendet sich erneut den gleichen Herrschern zu (τύραννοι λαῶν), 6,21 die er in 6,9 angeredet hatte. Sie werden hier mit einem gewissen negativen Unterton als die bezeichnet, die „Freude haben an Szeptern und Thronen“. Diese Machthaber werden eingeladen, die Weisheit zu „ehren“ (τιμήσατε), um auf ewig als Könige zu herrschen. Wie in 6,20 ist das Königtum, an das der Verfasser hier denkt, nicht irdischer Art, es ist vielmehr eschatologische Teilhabe an dem von den Gerechten nach 3,8 und 5,16 schon vorweggenommenen Königtum.28

Diachrone Analyse Die in 6,12 ausgedrückte Wechselseitigkeit, seitens der Weisheit, sich finden zu 6,12 lassen, und seitens der Menschen, sie lieben zu wollen, entstammt wahrscheinlich einer Reflexion über Spr 8,17LXX, wo von der Weisheit gesagt wird: ἐγὼ τοὺς ἐμὲ 28 Nach KLOPPENBORG wird damit absichtlich ein Motiv aus dem Isis-Kult aufgegriffen (“Isis and Sophia“, 75–76); vgl.den Isis-Hymnus des Isidoros III, 7–11: „Alle, die höchstglücklich leben, die hervorragendsten Männer, / szeptertragende Könige und alle, die Herrscher sind, / diese regieren, wenn sie sich an dich halten, bis ins Alter / und hinterlassen glänzenden und reichlichen großen Wohlstand / Söhnen und Enkeln und den Männern danach“ (SEG 550; deutsche Übersetzung in ENGEL, Weisheit, 140).

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Weish 6,22–25

φιλοῦντας ἀγαπῶ „ich liebe die, die mich lieben“. Der Gedanke, dass die Weisheit sich von dem, der sie sucht, finden lässt, ist bezeichnend für die Weisheitstradition, vgl. Sir 6,27. Das Bild in Weish 6,14 ist Spr 1,21LXX oder 8,3LXX entnommen; an beiden 6,14 Stellen ist die Weisheit Subjekt des Verbs παρεδρεύω „daneben sitzen“. πάρεδρος hat in Weish 6,14b die schlichte Bedeutung „daneben sitzend“ im Unterschied zu dem Fachausdruck „Throngenossin“, den das Wort in Weish 9,4 annimmt in der Auseinandersetzung mit dem Isiskult. Aber während von der Weisheit in Spr 8,3 gesagt wird, sie sitze an den Toren der Machthaber (παρὰ γὰρ πύλαις δυναστῶν παρεδρεύει), wird sie hier als etwas beschrieben, das allen erreichbar ist. Zu Weish 6,15 vgl. Ps 126,1–2LXX, wo sich ebenfalls nahe beieinander κοπιάω, 6,15 ἀγρυππνέω und ὀρθρίζω finden. Ohne die Hilfe Gottes müht sich der Mensch vergeblich, wacht er vergeblich, steht vergeblich früh am Morgen auf. Der Verfasser ersetzt das Wirken Gottes in Ps 126[127MT] durch das der Weisheit. 6,16 Die Verwendung von φαντάζομαι, insbesondere zusammen mit πάρεδρος (s.u. den Kommentar zu Weish 9,4) und mit λαμπρός verweist auf die Terminologie der Mysterienkulte:29 In ihnen zeigt sich die Gottheit, z.B. Isis, die Throngenossin des Sarapis bzw. des Sonnengottes, nur dem Eingeweihten, oft als Licht im Dunkel der Nacht. Die Weisheit, die der Gott Israels schenkt, scheut jede Heimlichtuerei, sie bietet sich jedem an, der sie begehrt, und leitet ihn.

Weish 6,22–25: Ich werde euch darlegen, was die Weisheit ist 22 Was aber Weisheit ist und wie sie entstand, will ich verkünden, und nicht verbergen will ich euch Geheimnisse, sondern vom Anfang ihrer Entstehung an will ich (sie) ergründen und offenbar machen die Kenntnis von ihr und keinesfalls vorübergehen an der Wahrheit. 23 Mit sich selbst verzehrendem Neid will ich nicht mitgehen; denn dieser wird keine Gemeinschaft haben mit der Weisheit. 24 Eine Menge von Weisen aber (bedeutet) Rettung für die Welt und ein kluger König Wohlergehen für das Volk. 25 Deshalb: Erwerbt Bildung durch meine Worte, und ihr werdet (bleibenden) Nutzen haben!

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 23 συνοδεύω ist ein gewähltes und gelehrtes Wort, in der Bibel kommt es sonst nur noch in Tob 5,17S und in Apg 9,7 vor. Gelegentlich wird es von den Astrologen als terminus 29 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 45 Anm. 130.

Synchrone Analyse

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technicus in Bezug auf Gestirne verwendet mit der Bedeutung „in eine Konstellation eintreten“. Hier in Weish 6,23 hat es seinen etymologischen Sinn „gemeinsam gehen, reisen“; vgl. in 6,22e παροδεύω „an etw./jmd. vorübergehen, sich entfernen von etw.“. Wenn der Verfasser von „geschmolzenem Neid“ spricht, verwendet er die rhetorische Figur der ὑπαλλαγή (Verschiebung der logischen Wortbeziehungen meist durch grammatische Zuordnung des Adjektivs zu einem Wort oder Wortbestandteil, zu dem es inhaltlich nicht gehört), um jemanden zu bezeichnen, der „vor Neid geschmolzen ist“ bzw. „der sich vor Neid verzehrt“, so SCARPAT, Sapienza I, 393, der es jedoch vorzieht, τετηκότι als substantiviertes Partizip zu verstehen: (mitzugehen mit „einem, der hingeschmolzen ist vor Neid“ bzw. „einem der sich verzehrt vor Neid“. Für eine detaillierte Analyse von τήκω (vgl. Weish 1,16) in der Bedeutung „schmelzen, sich verzehren“ vgl. SCARPAT, Sapienza I, 394. κοινωνέω ist ein in der LXX nicht sehr häufiges Verb; in Sir 13,1.2 bezeichnet es den kameradschaftlichen Umgang miteinander, in Sir 13,17 die (unmögliche) Gemeinschaft von Entgegengesetztem. Hier in 6,23b wird das Verb in seiner üblichen Bedeutung verwendet („Gemeinschaft haben mit jmdm.“) ohne besonderen theologischen Beiklang. 24 κόσμος hat hier die Bedeutung „die von den Menschen bewohnte Welt“ wie in Weish 2,24 und 14,6: In diesem Sinne ist das Wort erst seit dem 1. Jh. v. Chr. bezeugt, vgl. LARCHER, Sagesse II, 439. 25 εὐστάθεια stellt einen typischen terminus technicus des Epikuräismus dar (die Dauerhaftigkeit als Voraussetzung des Wohlbefindens) und, unter politischem Gesichtspunkt, auch des Stoizismus (vgl. SCARPAT, Sapienza I, 396–397). Der Begriff wird oft von Philon verwendet im Sinne einer Beständigkeit des Geistes, der inneren Ruhe (Post. 23.27, Cher. 19 etc.; vgl. WINSTON, Wisdom, 160).

Synchrone Analyse Der Sprecher kündigt an (ἀπαγγελῶ), über das Wesen (τί ἐστιν), die Herkunft (πῶς ἐγένετο) und die Geschichte der Weisheit (ihre „Spuren“) zu sprechen. Die erste Wendung (τί δέ ἐστιν) soll eine Definition einführen, die zweite (πῶς ἐγένετο) ahmt den Beginn von Ansprachen nach, die besonders im Rahmen von Mysterienkulten, Götter oder Heroen preisen sollten. Es geht nicht allein um die Weisheit Salomos, sondern um die Weisheit, die von Gott kommt und in der Welt gegenwärtig ist. Der Sprecher versichert, die „Geheimnisse“ der Weisheit nicht zu verbergen. Der ganze Kontext von Kap. 6 lässt erwarten, dass der Sprecher eher die „Geheimnisse“ der Weisheit als die „Geheimnisse Gottes“, von denen in Weish 2,22 die Rede war, offenlegen will.30 Denn im Mittelpunkt des ganzen Kapitels steht die Aufforderung, Weisheit anzunehmen, und insbesondere in 6,22 dreht sich alles um die Weisheit. Der Text von Weish 6,12–16 hat die Bereitwilligkeit und Zugänglichkeit der Weisheit hervorgehoben, die sich von jedem finden lässt, der sie sucht. Die Weisheit hat keine Mysterien, weil sie in der Welt gegenwärtig ist und den Menschen verfügbar (s.o. zu Weish 6,12–16). Die Weisheit ist sodann das Mittel, mit dessen Hilfe es den Menschen gelingen kann, jene „Geheimnisse Gottes“ zu 30 Zwei Minuskel-Handschriften (und entsprechend die altlateinische Übersetzung) fügen in 6,22b hinzu θεοῦ „(die Geheimnisse) Gottes“, wohl im Rückgriff auf Weish 2,22; dagegen fügt die arabische Übersetzung hinzu „ihre (Geheimnisse)“.

6,22

Die „Geheimnisse“ der Weisheit

190

6,23

6,24–25 Die Weisen als Rettung der Welt

Weish 6,22–25

verstehen, die zu erfassen den in Weish 2 beschriebenen Gottlosen nicht möglich ist, gerade weil sie die Weisheit nicht haben (vgl. 2,21). Was ist der Inhalt dieser „Geheimnisse der Weisheit“? Der Text von 6,17–21 verknüpft das Begehren der Weisheit einerseits mit der Einhaltung der Gebote, andererseits mit der Gabe der ἀφθαρσία. Das „Geheimnis“ besitzt so eine eschatologische Bedeutung und zugleich eine ethische Perspektive. Die Neuheit von 6,22 gegenüber 2,21 besteht darin, dass die Offenlegung der Geheimnisse der Weisheit, die jedem Menschen angeboten wird, der sie aufnehmen will, gerade der Weg ist, um die Geheimnisse Gottes zu begreifen, d.h. den eschatologischen Plan Gottes für die Welt und den Menschen. In 6,22d beteuert „Salomo“ feierlich, die γνῶσις der Weisheit voll ins Licht setzen zu wollen (θήσω εἰς τὸ ἐμφανές). Der Genitiv αὐτῆς mag seine Mehrdeutigkeit behalten: die Kenntnis, die „Salomo“ von der Weisheit hat, oder die Kenntnis, die die Weisheit besitzt und „Salomo“ mitteilt. Im letzten Kolon von 6,22 versichert „Salomo“, an der Wahrheit der Weisheit nicht vorübergehen, sie nicht unbeachtet lassen zu wollen. Im Lichte von 3,9 ist die Bedeutung von ἀλήθεια hier nicht im intellektuellen Bereich zu suchen, sondern im theologisch-existenziellen der Barmherzigkeit Gottes, der Gerechtigkeit und der Treue (vgl. auch 5,6, wo ebenfalls ἀλήθεια vorkam). 6,23 verleiht dem vom Sprecher gezeichneten Programm einen deutlichen ethischen Akzent. Die Weisheit ist allen zugänglich und hat mit sich verzehrendem Neid (φθόνῳ τετηκότι) nichts gemein. Wer sich vom Neid beherrschen lässt, kann den Anderen nichts geben, da er einen Verlust befürchtet. Die Güter der Weisheit dagegen weiten sich aus, sobald andere daran teilhaben. Dieser kurze Absatz enthält zwei feierliche, sprichwortartige Aussagen, die parallel gesetzt sind (6,24), und eine abschließende Ermahnung (6,25). Die Weisen werden als die „Rettung“ bzw. das „Heil“ der Welt gesehen. Das δέ in 6,24a stellt einen deutlichen Gegensatz zur vorangehenden Erwähnung des Neides dar. σωτηρία hat hier eine sehr weite Bedeutung und bezeichnet in eher allgemeiner Weise, wie auch sonst im Buch der Weisheit (vgl. 16,6; 18,7), die Befreiung von Übeln. Die Perspektive des Sprechers scheint in diesem Kolon jedoch nicht eschatologisch zu sein (anders in 5,2). „Salomo“ nimmt das in 6,21 Gesagte auf und betont, dass die Befreiung der Welt vom Übel, ihre Rettung aus aller Gefahr, nur vom Vorhandensein der Weisen abhängt. 6,24b verstärkt, parallel zu 6,24a, die Annahme, dass der Text sich polemisch gegen die Römer richtet, kehrt aber gleichzeitig zum traditionellen Verhältnis von Königtum und Klugheit zurück, vgl. Spr 29,4; Koh 10,16; Sir 10,1.3; Arist. 124–125; mit anderen Akzenten so schon Platon, Resp. 473d. Was die Welt rettet, ist nicht das Vorhandensein eines Königs an sich, vielmehr die Klugheit des Herrschers. Es ist nicht der König als solcher, der dem Volk Wohlergehen sichert (εὐστάθεια), sondern die Klugheit, die er besitzt (das Adjektiv φρόνιμος betont mehr als σοφός die praktische Klugheit). Das Buch der Weisheit hat eine optimistische Sicht der Welt, zugespitzt bis zur Utopie. Ohne Klugheit ist die Welt nicht regierbar, aber man darf auf eine „Menge von Weisen“ hoffen. Der Schlussaufruf zum Erwerb von Bildung (6,25) erinnert daran, dass die Weisheit, von der hier (unausdrücklich) gesprochen wird, die in 6,17–20 beschriebene ist, die von Gott kommt und zu ihm hinführt. Das ὥστε am Anfang von 6,25 hat konsekutive Bedeutung „folglich, daher“. Die Verwendung von παιδεύω weist

Diachrone Analyse

191

zurück auf 6,11 und ist so mit der παιδεία verbunden, die schon am Buchanfang (Weish 1,5) genannt wurde. Die Weisheit Israels vermittelt dem Menschen eine Bildung, eine παιδεία, die die griechische nicht zu beneiden braucht und für den Menschen, ja schließlich für die ganze Menschheit, einen wirklichen Nutzen darstellt. In Weish 5,8 fragten sich die Gottlosen, was ihnen ihr unvernünftiges Verhalten genützt habe (τί ὠφέλησεν); hier, beim zweiten und letzten Vorkommen dieses Wortes, versteht man, dass nur die Weisheit dem Menschen nützen kann.

Diachrone Analyse Die Verwendung des Wortes μυστήριον lässt an das Buch Daniel denken (vgl. Dan 6,22 2,18.19.27.28.29.30.47), aber der Bedeutungsumfang des Wortes ist sicher viel weiter und lässt die Mysterienkulte anklingen. Es geht um eine Gegenvorstellung zu den in der hellenistischen Welt verbreiteten Mysterienkulten, die sich ausschließlich an ihre Eingeweihten richten und streng eingehüllt sind in ihr Geheimnis, das nach außen ihr wohl offensichtlichstes Kennzeichen bildet.31 In Weish 6,22b ist die Verwendung von ἀποκρύπτω als eine polemische Anspielung zu hören, die unmittelbar gegen das Geheimnis, das diese Art von Kulten kennzeichnet, gerichtet ist. Keine Geheimkenntnisse und keinerlei Einweihung sind erforderlich, um die „Geheimnisse“ der Weisheit zu verstehen. Sie sind jedem zugänglich, der sie aufnehmen möchte. In 6,22c besteht die Schwierigkeit zu entscheiden, ob γένεσις die Erschaffung der Weisheit oder die Erschaffung der Welt meint; die Auffassungen darüber sind gleichmäßig verteilt.32 ἐξιχνιάζω „aufspüren, ergründen“ richtet sich in Sir 1,3–4; 24,28 und Ijob 28,27 auf die Weisheit; der Verfasser dürfte von diesen Texten abhängig sein. Ausgehend von Gen 1,1 (ἀρχή) und 2,4 (γένεσις) beabsichtigt er wohl, die Ursprünge der Weisheit seit dem Beginn der Schöpfung aufzuspüren. Damit würde er sich in eine feste Weisheitstradition einfügen, angefangen von Spr 8,22–30; vgl. Ijob 28,21–23; Sir 1,4.9; 24,8. In Weish 7–10 gibt der Verfasser sich keine Mühe hervorzuheben, dass die Weisheit der Schöpfung schon vorausliegt, wie es in Spr 8,22–30 geschieht; er möchte vielmehr ihren Ursprung ergründen. Zu beachten ist Weish 7,5, wo von der Geburt eines Menschen als γενέσεως ἀρχή gesprochen wird. Daher ist anzunehmen, dass mit ἀπ’ ἀρχῆς γενέσεως in 6,22c der Ursprung, d.h. die Geburt der Weisheit, gemeint ist, der Anfangspunkt der „Ergründung.

In 6,22d wird der Begriff γνῶσις in bewusst antignostischem Sinne verwendet. Die mit der Weisheit verbundene Kenntnis wird in vollem Licht offenbar gemacht und allen zur Verfügung gestellt, nicht nur wenigen Auserwählten vorbehalten. Auch Philon wird sehr hart mit gerade dieser Eigenart der Mysterienkulte umgehen: Dunkelheit ist mit Göttlichem nicht vereinbar (Spec. I, 319–325). Der Verfasser bedient sich in 6,23 eines Gedankens platonischer Herkunft: 6,23 φθόνος ἔξω θείου χοροῦ ἵσταται „Der Neid steht außerhalb des Kreises der Götter“ (Phaidros 247a), der von Philon in Spec. II, 249 und Prob. 13 zitiert wird (vgl. Aristo31 Vgl. BURKERT, Walter, Ancient Mystery Cults, Cambridge (Mass.): Harvard University Press 1987, passim. 32 Vgl. die sorgfältige Diskussion bei LARCHER, Sagesse II, 436–437, und SCARPAT, Sapienza I, 392, die sich beide für die erstgenannte Möglichkeit entscheiden.

192

Synthese von Weish 6

teles, Metaph. 983a 2–3). Im Buch der Weisheit ist der Neid eine Eigenschaft des Teufels (2,24). Die nächsten Parallelen dazu finden sich bei Philon. Der Neid ist unvereinbar mit der Weisheit: „Die Weisheit ist das Göttlichste und Mitteilsamste (θειότατον καὶ κοινωνικώτατον)“ (Prob. 13). Nach stoischer Auffassung besteht der Neid darin, Schmerz zu empfinden über das Gut anderer (vgl. SVF III, 100–101 frg. 413–415). Wer weise ist, hat keinerlei Gemeinsamkeit (οὐ κοινωνήσει) mit dem Neid und ist bereit, allen die Weisheit, die er empfangen hat, anzubieten. Die Aussage in 6,24a enthält eine polemische Spitze gegen die Römer, die 6,24–25 schon zur Zeit des Octavianus Augustus begonnen hatten, den Kaiser „Retter“ zu nennen, wie es seit Langem bereits die Ptolemäer in Ägypten getan hatten.33 Trotz der Nennung eines „Königs“ (6,24b) denkt der Verfasser in 6,24a an jede Art von Weisen; indem er einen von Philon geschätzten Gedanken aufgreift (vgl. QG, III, 44), betont er die soziale und politische Bedeutung des Weisen.

Synthese von Weish 6 Die Weisheit ist nach Weish 6 für den Verfasser nicht mit einem Lehrgebäude vergleichbar oder einer geoffenbarten Wahrheit. Die Personifizierung der Weisheit hilft zu verstehen, dass sie vorgestellt wird wie etwas tatsächlich Gegenwärtiges, das schon vor dem Menschen existiert und demnach auch seinem Begehren, dem sie entgegenkommt, vorausliegt.34 Der erste Absatz (6,1–11) schlägt den Bogen zurück zur Eingangsermahnung des Buches (bes. zu 1,6–10), aber die Gerichtssprache und der Tonfall führen die Bilder des Gerichts über die Gottlosen, das in Weish 5 beschrieben wurde, fort. Adressaten dieser Ermahnung sind die „Könige“, vor allem die künftigen Verantwortlichen der jüdischen Gemeinschaft in Alexandrien: Die Suche nach der Weisheit sichert eine richtige Ausübung von Macht. Dabei klingt ein typisch stoischer Gedanke an: Nur der Weise ist in Wahrheit König. Das Königtum, das in 6,17–21 verheißen wird, ist zu verstehen als die Herrschaft des Weisen über seine eigenen Leidenschaften. Mitten in der Ermahnung wechselt der Verfasser in 6,12–16 unversehens den Ton: Die Sprache wirkt, als wolle sie gewinnen und verführen. Die Weisheit wird beschrieben als eine Frau, die dem Menschen, der sie sucht, entgegenkommt und sich ihrerseits von jedem finden lässt, der sie begehrt. Auf diese Weise wird das Thema des zweiten Buchteils, das Lob der Weisheit, vorbereitet. Daneben wird aber auch gezeigt, dass das Streben nach der Weisheit den Menschen zur Unvergänglichkeit und zur Teilnahme am Königtum Gottes führt (6,17–21), die also in

33 Vgl. LARCHER, Sagesse II, 439; vollständigere Belege mit einer ausführlichen Bibliographie bietet SPICQ, Notes, Supp. 629–643. Die Titulierung des Königs als σωτήρ begann unter den Ptolemäern bereits bei Ptolemaios I Lagou. Für die Bezeichnung des Octavianus Augustus als σωτήρ s. die berühmte Kalenderinschrift von Priene in OGIS 458. 34 LARCHER (Sagesse II, 420) vergleicht diese Vorstellung mit dem christlichen Begriff der gratia praeveniens; vgl. auch HÜBNER, Weisheit, 85–86.

Synthese von Weish 6

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einem eschatologischen Sinne zu verstehen ist: als Teilhabe am ewigen Königtum Gottes (vgl. Weish 3,8). Damit ist die Wegbeschreibung in Weish 6,17–21 klar: Die Weisheit zu begehren, führt zur wahren παιδεία (Bildung), zur Einhaltung der Gesetze und schließlich zur Unverderblichkeit. Diese ihrerseits bringt den Menschen dazu, Gott nahe zu sein und macht ihn zum Teilhaber seines ewigen Königtums. Das Ganze nimmt aber seinen Ausgang von der Bewegung der gegenseitigen Suche von Mensch und Weisheit, die der Sprecher im vorangegangenen Abschnitt 6,12–16 beschrieben hatte. Die Analyse der literarischen Struktur hatte bereits gezeigt, dass in Weish 6,22–25 ein „Scharniertext“ vorliegt, der den ersten Buchteil abschließt und zugleich den zweiten Buchteil, das Enkomion auf die Weisheit, eröffnet. Diese Weisheit, die mit der Gerechtigkeit eng verbunden ist, ist auch verknüpft mit Rettung und Heil. Damit wird schon im Voraus ein Thema genannt, das in besonderer Weise das 10. Kapitel bestimmen wird (vgl. Weish 9,18).

Einleitung zum zweiten Buchteil (Weish 7–9) Hauptfigur des zweiten Buchteils ist die Weisheit. Sie wird in den Kapiteln 7–8 vorgestellt, einem einheitlichen Text im Munde eines fiktiven Sprechers, der nach und nach als der König Salomo erkennbar wird, ohne dass sein Name ausdrücklich genannt wird.1 In Kap. 9, in der Mitte des Buches, betet dieser „Salomo“ um die Gabe der Weisheit. Weish 7–9 ist zu verstehen innerhalb der literarischen Gattung des Enkomions Weish 7–9: ein Enkomion (ἐγκώμιον) und bildet darin das eigentliche Lob.2 Genauerhin wird Weish 6,22–25 als Proömium zum Enkomion betrachtet; darin kündigt der Sprecher am Ende des ersten Buchteils an, was er nunmehr behandeln will: das Wesen (vgl. 7,22b-23), die Herkunft (vgl. 7,25–26), Fähigkeiten und Leistungen der Weisheit (vgl. 7,27 – 8,1). Diese Ankündigung wird im Zentrum des Enkomions (7,22b-8,1) ausgeführt.3 Kap. 7 beginnt mit einer unerwarteten Darstellung der Schwachheit Salomos (7,1–6), die verstanden werden kann als eine rhetorische Feststellung des Sprechers bezüglich der eigenen Inadäquatheit, vom Gegenstand des Enkomions, d.h. der Weisheit, zu sprechen. Eine solche Überlegung am Beginn gehört zur Topik des Enkomions. Gleichzeitig wird durch 7,1–6 das Thema von Kap. 6 aufgenommen: Jeder Mensch kann dank der Weisheit König sein. In diesem Sinne findet eine wirkliche „Demokratisierung der Monarchie“ statt, eine deutliche Botschaft an Israel in der Diaspora, das jetzt keinen König mehr hat.4 Im konzentrischen Aufbau von Weish 7–8 (dazu s. u.) wird in dem 7,1–6 entsprechenden Schlussabschnitt der beiden Kapitel, d.h. in 8,17–21, noch deutlicher als vorher über die Weisheit als Gabe Gottes gesprochen. Auch die Abschnitte 7,7–12 und 7,13–22a stellen auf den ersten Blick eine autobiographische Schilderung dar, tatsächlich aber finden sich in beiden Abschnitten, besonders in 7,13–22a, bereits Elemente der Beschreibung der Natur, der Eigenschaften und der Wirkungen der Weisheit, also wesentliche Bestandteile des Enkomions. Der Abschnitt 7,7-12 kann mit dem Topos ἐπιτηδεύματα „Beschäftigungen, Lebensweise“ in Beziehung gesetzt werden, d.h. wegen welcher Werte der Vortragende, hier Salomo, gerade diesen Gegenstand (die Weisheit) für das Enkomion gewählt hat. 1

2

3 4

„Speaking as the long-dead Solomon (cf. chs. 7–8), the rhetor addresses the „judges of the earth“ and kings (1:1; 6:1), likely only a rhetorical device, and yet it was possible for rhetors who represented constituencies to address public assemblies, gathered for open lectures, or to make a presentation in the prefect’s court. In addition, the setting could have been a public forum in which a rhetor would have uttered his speech“; PERDUE, The Sword and the Stylus, 324, Anm. 113.115. Vgl. BEAUCHAMP, De libro Sapientiae, 1–40; GILBERT, „Sagesse de Salomon“, 77–87; BIZZETI, „Il libro della Sapienza“, 168–172. Zum Schema der Topoi des Enkomions nach den griechischen Rhetorikern und dessen Veränderung im Buch der Weisheit s. ENGEL, Das Buch der Weisheit, 120–123. Vgl. LEPROUX, Un discours de sagesse, 101–106. Vgl. NEWMAN, „Democratization of Kingship“, insb. 327; HÜBNER, Weisheit, 94.

Einleitung zum zweiten Buchteil (Weish 7–9)

195

Die überraschende autobiographische Darlegung kann in zwei Weisen erklärt werden: Vor allem möchte der Verfasser die Rede über die Weisheit anziehend gestalten für die jungen jüdischen Adressaten seines Buches und lässt den Sprecher sich als König vorstellen, der als sterblicher Mensch allen Menschen gleich ist (7,1–6). Er nimmt nicht nur Elemente auf, die sonst für das Lob einer Gottheit oder einer Tugend verwendet werden, sondern auch solche für das Lob eines Menschen nach den Regeln, wie sie im Werk des Rhetors Menandros beschrieben sind.5 In den beiden Abschnitten Weish 8,2–9 und 8,10–16 greift der Sprecher die autobiographischen Ausführungen nochmals auf, ohne aber den Gegenstand seines Lobes, die Weisheit, aus dem Blick zu verlieren. In 8,2–9, und insbesondere in 8,2–3, werden wieder die ἐπιτηδεύματα erwähnt, während in 8,10–16 der Topos „Wirkungen und Eigenschaften des Gepriesenen“ ausgeführt wird. Im Innern des Enkomion-Schemas ragt das Gebet um Weisheit (Weish 9) hervor. In der Enkomien-Literatur ist ein Gebet üblich bei Preisungen von Göttern (ὕμνοι; sog. Aretalogien). Weish 7–9 enthält auch die dem Enkomion und dem Hymnos gemeinsamen Elemente über die Weisheit, ihre Herkunft, ihr Wesen und ihr Wirken. Aber Weish 9 ist kein Gebet zur Weisheit, sondern ein Gebet zu Gott, dass er dem Beter die Weisheit schenken möge. In dieser Hinsicht ist Kap. 9 ganz originell. Der Verfasser verwendet also aus einer griechischen Gattung der Rede (γένος ἐπιδεικτικόν: beschreibende Rede) die Form des Enkomions bzw. des Hymnos, aber der Inhalt ist, gerade im Blick auf Weish 9, zutiefst biblisch.

5

Siehe dazu die detaillierte Darstellung bei LEPROUX, Un discours de sagesse, 94–101.

Weish 7–8: Das Lob der Weisheit Zur literarischen Struktur von Weish 7–81 Weish 7,1–6: Salomo, sterblich wie alle Menschen

Weish 7,7–12: Die Weisheit, Mutter aller Güter

Weish 7,13– 22a

Die Salomo zuteil gewordene Weisheit

Weish 7,1–6 bildet einen ersten Absatz: inclusio ἴσος ἅπασιν (7,1a) – πάντων … ἴση (7,6); vgl. auch πᾶσιν ἴσα in 7,3c; das μέν am Beginn von 7,1 (εἰμὶ μὲν κἀγώ) findet seine Entsprechung im δέ von 7,6. Der Abschnitt ist inhaltlich konzentrisch angelegt. 7,1a-b enthält eine Aussage über „Salomo“: Er ist ein sterblicher Mensch wie alle anderen. 7,1c-2 schildert, was vor seiner Geburt geschah. In der Mitte spricht 7,3a von der Geburt mittels der Metapher des Lufteinatmens. Parallel zu 7,1c-2 beschreibt 7,3b-4 die Anfangszeit des Lebens auf der Erde, und 7,5– 6 kehrt schließlich zum Gedanken am Beginn zurück: „Salomo“ ist ein sterblicher Mensch wie alle anderen. In dieser Weise werden sieben Elemente genannt, die die menschliche Erfahrung prägen: die Empfängnis, der Embryozustand (7,1–2), die Geburt, das erste Atmen, das erste Wimmern (7,3), die Entwöhnung (7,4), der Tod (7,6). Ein zweiter Absatz ist in 7,7–12 zu erkennen, auch hier finden sich einige Inklusionen. Dem Ausdruck ἦλθέν μοι in 7,7b entspricht ἦλθεν δέ μοι in 7,11a; das Wort σοφία erscheint in 7,7b gleich nach ἦλθέν μοι und nochmals in 7,12a; ebenfalls zweimal kommt πλοῦτος vor (in 7,8b und 7,11b). Nach einer Einleitung (7,7) enthalten die sieben Kola 7,8–10b eine Beschreibung der Güter, denen Salomo die Weisheit vorgezogen hat; 7,10c beschließt diese Beschreibung. 7,7 erscheint ein wenig isoliert und verweist mit seiner Erwähnung des Gebets bereits auf den Abschluss des Lobes in 8,21. Alexis Leproux betrachtet deshalb 7,7 als propositio des Enkomions.2 Die vier Kola 7,11–12 zeigen abschließend die Weisheit als Erzeugerin (γενέτις) aller Güter. Vorbemerkung: Die Verse 7,13–14 bieten eine gewisse Schwierigkeit der Einordnung. Die Wiederaufnahme von πλοῦτος in 7,13b kann man als Verklammerung mit 7,11b betrachten. 7,13 weist in recht deutlicher Weise zurück auf die in 6,22b.23 angekündigten Motive (besonders auf das des Neides) und verdeutlicht so einen Neueinsatz. Außerdem erzeugt das doppelte τε in 7,13a einen asyndetischen Satzanfang, der im Buch der Weisheit oft einen Einschnitt gegenüber dem Vorhergehenden kennzeichnet. 7,13–22a bilden einen dritten Absatz; eine inclusio erstellen ἀποκρύπτομαι in 7,13b und κρυπτά in 7,21. 7,13–14 leiten den Absatz ein (s.o.). In 7,15–17a wird in sieben Kola die Bitte Salomos entfaltet, dass Gott ihm die Weisheit verleihe (dabei sind 7,15a und 7,17a als inclusio konstruiert: ἐμοὶ δὲ δῷη … γνώμην / μοι ἔδωκεν … γνῶσιν). In weiteren sieben Kola wird in 7,17b-20 das von Salomo auf verschiedenen Gebieten erlangte Wissen benannt; zwischen 7,17a und 7,17b liegt aber kein 1 2

Vgl. WRIGHT, „The Structure“, 173; GILBERT, „Sagesse de Salomon“, 69–71; BIZZETI, Il libro della Sapienza, 69–72; eine davon verschiedene Betrachtungsweise bei LEPROUX, Un discours de sagesse, 34–72. Vgl. LEPROUX, Un discours de sagesse, 46.

Zur literarischen Struktur von Weish 7–8

197

wirklicher Einschnitt vor. Den Abschnitt beschließen die beiden Kola 7,21.22a, die hervorheben, dass die Weisheit die τεχνῖτις, die Werkmeisterin, von allem ist. Das Grundthema dieses Absatzes ist also die Teilhabe Salomos am Wissen Gottes. In der Mitte von Weish 7–8 steht der vierte Absatz, Weish 7,22b-8,1 mit der Beschreibung des Wesens, der Herkunft und der Wirkungen der Weisheit. Darin bilden 7,22b-23 eine erste, ein wenig isolierte Einheit; diese Reihe der 21 Attribute der Weisheit ist durch eine dreifache inclusio gekennzeichnet: πνεῦμα – νοερόν – λεπτόν (7,22b-c) und πνευμάτων – νοερῶν – λεπτοτάτων (7,23d-e). Mit der folgenden Einheit (7,24 – 8,1) ist sie durch zwei auffällige Klammerwörter verbunden: χωροῦν – καθαρῶν (7,23d-e) und χωρεῖ – καθαρειότητα (7,24b). Der Text 7,24 – 8,1 stellt eine zweite Einheit dar; sie ist markiert durch die inclusio πάσης – [διήκει] – πάντων (7,24) und [διοικεῖ] – πάντα (8,1b). Außerdem entsprechen sich 7,24 und 8,1. Der Absatz 7,24 – 8,1 kann als konzentrisch aufgebaut betrachtet werden:3 In 7,24 wird die Beweglichkeit der Weisheit beschrieben (thematisch ist 7,24 der Abschluss der Attribute-Reihe 7,22b-23); 7,25–26 enthalten in sechs Kola fünf Metaphern über das Wesen der Weisheit. In der Mitte des Absatzes beschreiben 7,27–28 die Allmacht der Weisheit und die Liebe Gottes zu denen, in denen sie wohnt. Die fünf Kola 7,29–30 veranschaulichen die Weisheit durch die Metapher des Lichtes. 8,1 beschließt den Absatz und stellt dabei, wie schon ähnlich 7,24, die Anwesenheit der Weisheit in der ganzen Schöpfung heraus. In 8,2–9 ist ein fünfter Absatz zu erkennen: Salomo beschließt, die Weisheit als Braut und zugleich als Ratgeberin und Freundin zu wählen. Die inclusio ἀγαγέσθαι … συμβίωσιν (8,2b.3a) und ἀγαγέσθαι πρὸς συμβίωσιν (8,9a) ist deutlich. Das Gewicht dieser inclusio nötigt dazu, 8,9 als Abschluss des Absatzes zu betrachten. Fünf Substantive bezeichnen die Weisheit: μύστις (8,4a), αἱρετίς (8,4b), τεχνῖτις (8,6b), σύμβουλος und παραίνεσις (8,9b.c); dies verleiht dem Abschnitt noch größere Einheit. 8,2–4 stellen einleitend Salomos Suche nach der Weisheit dar (vier Aoriste in 8,2) und die Beziehung der Weisheit zu Gott (8,3–4). 8,5 und 8,6 sind parallel zu einander formuliert, sie umfassen je zwei Kola, wobei das erste jeweils mit εἰ δέ eingeleitet wird und das zweite eine rhetorische Frage stellt. Auch 8,7 und 8,8 sind zueinander parallel konstruiert, die jeweils fünf Kola werden mit καὶ εἰ … τις bzw. εἰ δὲ καὶ … τις eingeleitet. So drückt der Verfasser in 8,5–8 in vierzehn Kola die Überlegenheit der Weisheit gegenüber allem Geschaffenen aus, da sie die τεχνῖτις ist (vgl. 7,22a). 8,9 bildet dann den Abschluss (τοίνυν) des ganzen Absatzes. In diesem Absatz 8,2–9 werden Wörter, die schon in 7,13–22a vorkamen, wieder aufgenommen: : ἐπιστήμη (8,4a und 7,16b); πλοῦτος (8,5a; 7,13b); φρόνησις (8,6a; 7,13b); die Wörter καιρῶν καὶ χρόνων (8,8e) kamen bereits parallel zu einander getrennt in umgekehrter Reihenfolge am Ende der beiden Kola von 7,18 vor. Die Verben in 8,2–9 stehen im Präsens oder Aorist im Unterschied zu den Futura in 8,10–16.

3

Zu den Einzelheiten vgl. LEPROUX, Un discours de sagesse, 53–56.

Weish 7,22b8,1: Die Beschreibung der Weisheit

Weish 8,2–9: Die Weisheit als Braut, Ratgeberin und Freundin

198

Weish 8,10–16: Erwartungen und Hoffnungen Salomos

Weish 7–8

Diese Wiederaufnahmen dienen theologischen Akzentsetzungen:4 Im vierten ebenso wie im fünften Absatz wird die Weisheit vorgestellt als etwas, das jedem anderen Reichtum überlegen ist (vgl. 7,13–14; 8,5); von der Weisheit, die selbst von Gott her kommt, stammen φρόνησις „Klugheit“ und ἐπιστήμη „Wissen“ (vgl. 7,15–16; in 8,4 hat ἐπιστήμη eine etwas andere Bedeutung). Mittels der Weisheit kann man alles erkennen (7,17–21 und 8,8, vgl. insbesondere 8,8c). Im folgenden Absatz 8,10–16 beschreibt Salomo in einer Art Monolog seine Erwartungen und Hoffnungen, wenn er einmal die Weisheit angenommen habe. Das Wort συμβίωσις (8,3.9.16), das sonst in der Bibel nur noch als Variante zu ἐμβίωσις „Lebensunterhalt“in Sir 34,22B vorkommt, schafft eine starke Verknüpfung mit dem vorhergehenden Absatz und zeigt einen Abschluss dieses Absatzes an. In 8,15b erinnert ἀνδρεῖος an die ἀνδρεία in 8,7d. Wie schon gesagt, stehen alle Verben im Futur. In der Mitte des Absatzes ist 8,13 ganz parallel konstruiert zum Beginn des Absatzes, verschiebt inhaltlich aber den Akzent auf das, was nach dem Tod geschieht: ἕξω δι’ αὐτὴν δόξαν … καὶ τιμήν (8,10) ἕξω δι’ αὐτὴν ἀθανασίαν … καὶ μνήμην (8,13).

8,10–12 schildern in sieben Kola Ruhm und Ehre, die man mittels der Weisheit erwerben kann; 8,14–16 beschreiben, wiederum in sieben Kola, die Macht als König, die Salomo mittels der Weisheit erlangt hat. Die Wendung ἐν ὄψει in 8,11b erinnert an 7,9b (vgl. auch 3,4; 14,17; 15,19). Nach 7,9b hat Gold angesichts der Weisheit keinerlei Wert; nach 8,11 wird der Weise in der Sicht der Mächtigen Staunen erregen. In den beiden Absätzen 7,7–12 und 8,10–16 erscheint die Weisheit den für einen König charakteristischen Fähigkeiten überlegen. Den letzten Absatz des Lobes bildet 8,17–21. In 9,1 beginnt unübersehbar ein Weish 8,17–21: Das Gebet um neuer Abschnitt, das Gebet zur Erlangung der Weisheit. Die inclusio ἐν καρδίᾳ μου Weisheit (8,17b) – τῆς καρδίας μου (8,21d) grenzt den Absatz deutlich ein. Das Wort ἀθανασία (8,13a.17c) verbindet ihn mit dem vorangehenden Absatz. Wie in 8,2–9 und anders als in 8,10–16 stehen die alle Verben wieder im Präsens oder Aorist, ausgenommen ἔσομαι im schon zum 9. Kapitel überleitenden Vers 8,21a. Das Grundthema ist wieder, wie in 7,1–6, die Schwachheit Salomos und, wie in 8,2–9, die Suche nach der Weisheit. Der Wortschatz jedoch nimmt eine Reihe von Motiven wieder auf, die sich über die Kapitel 7 und 8 verteilt finden,5 so dass dieser Absatz die Funktion einer wirklichen Zusammenfassung erhält und den Leser nunmehr zu dem Gebet zur Erlangung der Weisheit führt, das schon in 7,7 erwähnt wurde und nunmehr ab 9,1 vorgetragen wird. Innerhalb des Absatzes lässt sich eine gewisse parallele Struktur von 8,17–18 und 8,21 ausmachen: Wie auf die Partizipia Aorist λογισάμενος und φροντίσας ein mit ὅτι beginnender Objektsatz (8,17a-18d) und dann erst das Verb mit dem Rest 4 5

Vgl. BIZZETI, Il libro della Sapienza, 69–70. Zu den Einzelheiten s. WRIGHT, „The Structure“, 194, und BIZZETI, Il libro della Sapienza, 70. Weish 8,17–21 nimmt eine Reihe von Wörtern, die schon in 8,2–9 vorkamen, wieder auf: ζητέω (8,2b.18e); πλοῦτος (8,5a.18b); φρόνησις (8,6a.7c.18c.21b); πόνος (8,7b.18b); εἰδέναι (8,9b.21b); φροντίς, φροντίζω (8,9c.17b); εὐγένεια, συγγένεια (8,3a.17c). Zur Wiederaufnahme von Wörtern aus 8,10–16 im darauffolgenden Absatz vgl. ἀθανασία in 8,13a.17c und ἀγαθός in 8,15b.19b.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

199

des Hauptsatzes folgt (8,18d), so steht auch in 8,21a ein Partizip Aorist und ein mit ὅτι beginnender Objektsatz voran (γνοὺς δὲ ὅτι), und die Verba mit dem Rest des Hauptsatzes (8,21c-d) folgen erst nach der Parenthese 8,21b.6 Derart gerahmt bilden 8,19–20 mit ihrem Rückverweis auf Weish 7,1–6 ein epiphonema interiectivum (eingeschobener Ausruf oder zusammenfassender Gedanke am Ende einer Darlegung, s. den Kommentar). Am Anfang und am Ende von Weish 7–8 hebt also jeweils ein Absatz die Schwach- Eine konzentriheit Salomos hervor (7,1–6 und 8,17–21) und damit die Notwendigkeit, sich an Gott zu sche Struktur wenden, um die Weisheit zu erlangen (8,17–21 im Rückgriff auf 7,7). Weiter innen in der Ringkomposition stellen die Absätze II und VI (7,7–12 und 8,10–16) die Überlegenheit der Weisheit gegenüber allem heraus, was ein König sich nur wünschen kann. Die Absätze III und V (7,13–22a und 8,2–9) betonen die Überlegenheit der Weisheit in Bezug auf die Güter der Kultur und der Bildung, wobei Absatz V einen gewissen Brautund Freundschaftscharakter der Weisheit hervorhebt. In der Mitte der ganzen Ringkomposition steht die Beschreibung von Wesen, Herkunft und Wirken der Weisheit (7,22b-8,1). Schon am Ende des zweiten und des dritten Absatzes war die Erörterung der aktiven Rolle der Weisheit vorbereitet worden (γενέτις in 7,12; τεχνῖτις in 7,22a; vgl. noch 8,6 und 14,2). Die Weisheit, die nach dem zentralen Absatz bei Gott ist, ist die Weisheit, die dem Salomo verliehen wird.

Weish 7,1–6: Die Schwachheit „Salomos“ 1 Zwar bin auch ich ein sterblicher Mensch, allen gleich, und Nachkomme des aus Erde gewordenen Erstgestalteten; und im Leib meiner Mutter wurde ich zu Fleisch geformt, 2 in zehnmonatiger Zeit in Blut geronnen aus dem Samen eines Mannes und nach lustvollem Beischlaf. 3 Auch ich sog nach meiner Geburt die (allen) gemeinsame Luft ein und fiel auf die Gleiches (bei allen) erlebende Erde, mein erster Laut war, allen gleich, schreiendes Weinen. 4 In Windeln wurde ich großgezogen und mit Sorgen. 5 Kein König hatte nämlich einen anderen Anfang seines Daseins, 6 sondern ein und derselbe ist der Eintritt aller ins Leben und gleich der Ausgang.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1–2 Γηγενοῦς ἀπόγονος πρωτοπλάστου: Die Verbindung dieser drei Wörter ist besonders interessant; ἀπόγονος „abstammend, Nachkomme“ wird auch in 2Sam 21,11.22; 1Chr 20,6 und Jdt 5,6 verwendet und ist ein seltener und gewählter Ausdruck. Das Wort 6

Vgl. LEPROUX, Un discours de sagesse, 65.67.

200

Weish 7,1–6

*πρωτόπλαστος kommt in der ganzen Bibel nur in Weish 7,1 und 10,1 vor; LARCHER (Sagesse II, 444; vgl. WINSTON, Wisdom, 163) vermutet eine Wortschöpfung durch den Verfasser selbst. Das Wort kommt allerdings auch in einem Philon-Fragment (QEx 2,46; im Plural QGen 1,32) vor. πρωτόπλαστος bezeichnet den „Erstgestalteten“ und spielt auf Gen 2,7LXX (ἔπλασεν ὁ θεὸς τὸν ἄνθρωπον χοῦν ἀπὸ τῆς γῆς) an. Das Wort γηγενής „erdentstanden“ verwendet Philon im Zusammenhang mit dem ersterschaffenen Menschen (vgl. Opif. 169: ἐκεῖνος δ’ ὁ πρῶτος ἄνθρωπος ὁ γηγενής; vgl. auch Virt. 199. 203). In der griechischen Literatur kommt γηγενής im Mythos von den ersten Menschen, die aus der Erde entstanden, vor (vgl. Herodot, Hist. 8,55; Platon, Pol. 269B). Sowohl Philon als auch der Verfasser des Buches der Weisheit könnten γηγενής verwendet haben, um zu zeigen, dass das, was in Gen 2,7 erzählt wird (Gott formte den Menschen aus dem Staub der Erde; vgl. Ps 48,3LXX), die wahre Geschichte über den Ursprung der Menschheit darstellt. In 7,2b lesen einige Handschriften (S, V und mehrere Minuskeln; vgl. Lat, Syr, Ar) anstelle des Dativs ὕπνῳ den Genitiv ὕπνου, s. dazu BLOMQVIST, „Interpretational Problems“, 99–101; vgl. Gilbert, „La procreazione“, 68 Anm. 17.21, der der Lesart der Mehrheit der Handschriften ὕπνῳ folgt. 3–4 Das Adjektiv *ὁμοιοπαθής bezieht sich an allen anderen Belegstellen in LXX und NT (4Makk 12,13; Apg 14,15 und Jak 5,17) auf Personen. Es bedeutet „gleichempfindend, Gleiches erleidend / erlebend“. FICHTNER (Weisheit Salomos, 28) hatte Weish 7,3b übersetzt: „und (ich) fiel auf die Erde, auf der alle das Gleiche leiden“ und dies so begründet: „Dass die Erde von allen Menschen das Gleiche erleidet, ist zwar sprachlich zu rechtfertigen, liegt aber sachlich fern.“ Demgegenüber dürfte der Auffassung von SCARPAT (Sapienza II, 94) vorzuziehen sein, dass hier nicht gemeint sei, dass die Menschen auf der Erde das Gleiche erleiden, sondern, dass die Erde von allen Menschen das Gleiche erlebt: Sie fallen (gehen, leben) auf ihr.

Synchrone Analyse „Auch ich (κἀγώ) bin ein sterblicher Mensch wie alle anderen“: Die Selbstvorstellung Salomos ist programmatisch. Kein menschliches Wesen kann sich in Bezug auf Geburt und Tod irgendeiner Überlegenheit über die anderen rühmen. „Allen gleich“ (7,1a.6) bildet eine inclusio des Absatzes. 7,1 erinnert weiter daran, dass jeder, auch Salomo, wie der erste Mensch von der Erde genommen ist; 7,1b nimmt damit erkennbar Bezug auf Gen 2,7. Um die völlige Gleichheit Salomos mit jedem anderen Menschen klarzustellen, wird die Geburt Salomos in drei Kola beschrieben (7,1c-2). Die Entstehung des Menschen im Leib seiner Mutter wird in Anlehnung an die zeitgenössischen medizinischwissenschaftlichen Theorien, vor allem die aristotelischen, nachgezeichnet und in einen biblischen Rahmen eingefügt (s. unten).7 Geborenwerden und Sterbenmüssen macht alle Menschen gleich (vgl. Koh 7,3–4: Geburt und Tod 2,14–15; Sir 40,1–2). Um eine derartig grundlegende Gleichheit hervorzuheben, bedient sich der Verfasser literarischer Motive, die im Griechischen wohlbekannt sind und dem Text eine pessimistische Färbung verleihen (s. unten). Die Erde, auf die Salomo bei seiner Geburt fällt (7,3b), erlebt dasselbe bei allen Menschenkindern, die so geboren werden (die hockend Gebärende presst das Kind

7,1–2: Salomo, ein Mensch wie alle anderen

7

Vgl. GILBERT, „La procréation“, 341–346; BONS, „Conception, grossesse, naissance“, passim.

Diachrone Analyse

201

nach unten heraus), und der erste Laut aller Neugeborenen ist weinendes Schreien. 7,4 weist mittels der rhetorischen Figur des ζεῦγμα (zwei Substantive sind durch ein Verb verbunden, das für den einen Fall konkrete, für den anderen übertragene Bedeutung hat) darauf hin, dass Salomo wie jedes Neugeborene ständiger Versorgung („Windeln“) und Fürsorge (φροντίς) seitens der Eltern bedurfte. Der Beginn des Lebens ist für alle gleich, auch für die Könige (7,5); alle treten 7,5–6 ins Leben (εἴσοδος) und verlassen es (ἔξοδος; vgl. 3,2) in der gleichen Weise (7,6). Die Wendung γενέσεως ἀρχή kann eine weitere Anspielung auf die Schöpfung sein (vgl. Gen 1,1 ἀρχή und 2,4LXX γένεσις), auch wenn sie hier offensichtlich eine individuelle Geburt bezeichnet. Die Wiederaufnahme des Motivs „Königtum“ und die Nähe zur Schöpfungserzählung dienen dazu, das Warum des negativen Klangs des Absatzes aufzuzeigen. Der Rückgriff auf in der hellenistischen Literatur häufige Topoi bildet einen weiteren Hinweis auf die Vorgehensweise des Verfassers: Er entwirft eine Art griechischen Midrasch zur Schöpfungserzählung.8

Diachrone Analyse Es ist nicht schwer zu bemerken, dass hinter einer so entschiedenen Feststellung 7,1 („ich bin ein sterblicher Mensch, allen gleich“) eine Polemik gegen die hellenistische Vorstellung vom Königtum steht. Sowohl die Ptolemäer als auch die römischen Kaiser seit Octavianus Augustus hatten (in der Nachfolge der Pharaonen) die Bestrebung, sich selbst zu vergöttlichen; in Weish 14,17–20 wird eine solche Vorstellung ganz ausdrücklich zurückgewiesen werden. Das Menschsein des Königs ist zwar ein den hellenistischen Erörterungen über das Königtum gemeinsamer Zug, aber in diesen Texten erscheint der König doch als ein „Besserer“ unter den menschlichen Wesen, so wie ein Gott, den der König verkörpert, allen überlegen ist.9 Das Adjektiv θνητός „sterblich“ ist ein in der LXX nicht sehr häufig vorkommendes Wort und hat keine semitische Entsprechung. Dagegen begegnet es sehr oft in der griechischen Literatur. Salomo stellt sich also seinen hellenistischen Hörern/Lesern in einer ihnen gut verständlichen Weise vor.10 Es gibt aber noch einen anderen Beweggrund für eine solche Hervorhebung der Sterblichkeit Salomos. Wie schon dargelegt, ist die Vorstellung vom Königtum im Buch der Weisheit von der stoischen Auffassung, dass der Weise der wahre König sei, beeinflusst. Salomo ist König, weil er weise ist; diese Weisheit leitet sich aber nicht von einer irgendwie gearteten Überlegenheit auf der menschlichen Ebene her, sondern ist eine Gabe Gottes, die er durch das Gebet erlangt hat. Weish 7,1 verweist so direkt auf 7,7: „Deshalb habe ich um Weisheit gebetet.“ Darum kann jeder Mensch die Weisheit erlangen wie Salomo. 8 Vgl. LEPROUX, Un discours de sagesse, 145. 9 Vgl. WINSTON, Wisdom, 162–163, und die bei SCARPAT, Sapienza II, 18–22, zitierten Texte. SCARPAT verweist auch auf Caligula, dessen Zeit er die Abfassung des Buches der Weisheit zuordnet. Zu der Gestalt des Herrschers als allen überlegen s. DIOTOGENES 72,16–19 (ed. Hense): Er ist θεὸς ἐν ἀνθρώποις (72,22–23). 10 BONS, „Conception, grossesse, naissance“, 76.

202

Weish 7,1–6

7,1–2 Die Ge- Die Schwangerschaft dauert zehn Monate (oder richtiger: endet im zehnten Moburt Salomos nat, vgl 4Makk 16,7); nach antiker Auffassung war dies die optimale Dauer eine

glücklich verlaufenden Schwangerschaft.11 Der Embryo bildet sich im Mutterleib (ἐν κοιλίᾳ μητρός) dank des Zusammentreffens dreier Faktoren: erstens des Menstruationsblutes der Frau „geronnen im Blut“ (πήγνυμαι bedeutet an sich das Gerinnen der Milch, vgl. Aristoteles, Gen. an. 729a11), zweitens des Samens des Mannes und drittens der Lust, die der Mann beim Geschlechtsakt (in 7,2b euphemistisch „Schlaf“ genannt) verspürt. Während 7,1c-2a die passive Rolle der Frau beschreibt, benennt 7,2b die aktive Rolle des Mannes. Die sexuelle Lust wird ganz natürlich erwähnt; ἡδονή hat hier keinen negativen Beiklang, den das Wort im NT jedoch erhalten wird. Die Erwähnung des Samens des Mannes bedingt, dass die Lust des Mannes und nicht die der Frau genannt wird. Der Verfasser stützt sich auf medizinische Theorien, die in der griechischen Umwelt verbreitet waren (vgl. Hippokrates, Genit. 1,1; 4,1–2), nach denen der Mann und nicht die Frau beim Zeugungsakt Lust empfindet. Die Lust erzeugt die Wärme, die dem Samen des Mannes ermöglicht, das Blut der Frau gerinnen zu lassen (vgl. Aristoteles, Gen. an. 739a32–33), wodurch dann der Embryo entsteht. Der Verfasser zeigt hier eine zumindest allgemeine Kenntnis der aristotelischen Theorie, wonach das Menstruationsblut der Frau die causa materialis, das Sperma des Mannes hingegen die causa efficiens des Embryos sei (vgl. Gen. an. 727a728b). Die durch die Lust des Mannes entstehende Wärme bewirke, dass um das Sperma herum das weibliche Blut „gerinnt“ und so der Embryo entsteht, der also schon als eine Person zu betrachten ist, da ja „Salomo“ von sich selbst spricht. Das Buch der Weisheit scheint jedoch keine eigene Theorie über die Entwicklung des Embryos zu haben und vermeidet es hier, von der Seele zu sprechen, wie es später in Weish 15,11 geschieht. Die Verwendung von σάρξ „Fleisch“ in 7,1c entspricht eher biblischem als griechischem Sprachgebrauch und bezeichnet bereits die „Person“ als ganze. Schließlich ist hinzuweisen auf die poetische Schönheit der hier verwendeten Bilder: „(wie eine Skulptur) in Fleisch gestalten“ erinnert an Ps 139,13MT „du hast mich gewoben im Leib meiner Mutter“ und an Ijob 10,10 „du hast mich gerinnen lassen (ἐτύρωσας) wie Käse“ und verweist so zurückhaltend auf das Wirken Gottes am Beginn des menschlichen Lebens. Das Verb γλύφω „aushöhlen, eingraben, eine Skulptur (aus Holz, Stein, Metall) gestalten“ kommt in Weish 13,13c nochmals vor (ein Götzendiener ‚schnitzt‘ sich ein menschengestaltiges Götterbild). Die Verwendung von γλύφω als Bild für die Entstehung eines Menschen ist einmalig in der Bibel. 7,3a stellt ein wörtliches Zitat Menanders dar, das auch bei Plutarch, Cons. 7,3–4 Apoll. 103c-e überliefert ist. Über ein gerade geborenes Kind sagt er: ἔσπασας τὸν ἀέρα τὸν κοινόν „Du sogst die (allen) gemeinsame Luft ein.“ Darin ist niemand von den anderen verschieden. Mit der Geburt treten alle in dieselbe Welt ein. Menander bemerkt dazu, dass dies die Redeweise der Tragiker sei (καὶ τραγικώτερον λαλῶ). Und Plutarch fügt hinzu: „Nichtgeborenwerden ist das größte aller

11 Belege bei GILBERT, „La procréation“, 343; LARCHER, Sagesse II, 446; WINSTON, Wisdom, 163– 165, und vor allem SCARPAT, Sapienza II, 23–28.

Weish 7,7–12

203

Güter, und Totsein ist mehr wert als leben“ (Cons. Apoll. 115c11). Das Buch der Weisheit greift so eine tragische Sicht des Lebens auf, die sich häufig in der griechischen Literatur findet, die aber auch der Bibel keineswegs fremd ist (vgl. Ijob 3,11; 10,18).12 Das Motiv „auf die Erde gefallen zu sein“ (7,3b) ist ein weiterer Topos der antiken Literatur, vgl. Lukrez, Rer. Nat. V, 222–227, der noch das Motiv hinzufügt, dass der Mensch wie ein Schiffbrüchiger hilflos an Land geschleudert wird.13 Das Verb καταπίπτω kommt noch in Weish 13,16 (von der zu befestigenden Götterfigur, damit sie nicht „herunterfällt“) und zudem in 17,15 vor, um das traurige Ergehen der Ägypter auszudrücken, aber auch, um darauf anzuspielen, dass sie in den Hades hinabfallen werden.14 Auch die Feststellung der Bedürftigkeit des kleinen Kindes (7,4) kann ein Echo klassischer Texte sein, vgl. Aischylos, Cho. 751–760. Im Unterschied zur griechischen Literatur, die den Tod als gemeinsames Schicksal der Menschen betont, stellt der Verfasser mehr den Vorgang der Geburt heraus, so als ob diese für den Menschen den Beginn seines „Daseins-zum-Tode“ bezeichne.

Weish 7,7–12: Die Weisheit lieben 7 Deshalb betete ich, und Klugheit wurde mir gegeben, ich flehte, und es kam (zu) mir der Geist der Weisheit. 8 Ich zog sie Szeptern und Thronen vor, und Reichtum betrachtete ich als nichts im Vergleich mit ihr; 9 und unschätzbaren Edelstein stellte ich ihr nicht gleich. Denn alles Gold ist in Hinsicht auf sie ein wenig Sand, und wie Lehm wird Silber eingeschätzt werden gegenüber ihr. 10 Mehr als Gesundheit und Schönheit liebte ich sie und wählte sie als Licht, denn schlaflos (strahlt) der von ihr ausgehende Glanz. 11 Es kamen aber zu mir zugleich mit ihr alle Güter, und unermesslicher Reichtum war in ihren Händen.

12 Vgl. LEPROUX, Un discours de sagesse, 126–130. LEPROUX vermutet, dass κοινός in diesem Kontext einen negativen Beiklang gewinnt und den Sinn von „profan“ annimmt als Gegensatz zu ἅγιος, einer Eigenschaft des πνεῦμα nach Weish 7,2b. Er gibt damit dem Menanderzitat eine religiöse Färbung. 13 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 95–96, der anmerkt, dass das proiectus bei Lukrez recht gut die Verwendung von κατέπεσον in Weish 7,3b erläutert (tum porro puer ut saevis proiectus ab undis / navita, nudus humi iacet infans indigus omni / vitali auxilio…). Andere Zitate s. bei WINSTON, Wisdom, 166. 14 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 27 Anm. 83.

204

Weish 7,7–12

12 Ich freute mich aber über sie alle, denn die Weisheit führt sie an; ich hatte aber nicht erkannt, dass sie die Erzeugerin von diesen ist.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung ἀτίμητος kommt in der LXX nur noch einmal in 3Makk 3,23 vor und hat beide Male die Bedeutung „unschätzbar (wertvoll)“. Diese Bedeutung ist in der Profangräzität unbekannt, dort bedeutet das Wort „nicht geschätzt, verachtet“ (SCARPAT, Sapienza II, 99). Das Motiv „Sand“ (das Buch der Weisheit verwendet *ψάμμος) lag hier von 3Kgt [1KönMT] 5,9 her nahe: „Und der Herr gab Salomo Klugheit und sehr viel Weisheit (φρόνησιν … καὶ σοφίαν πολλὴν σφόδρα) und Weite des Herzens wie der Sand (ἄμμος), der (sich) am Meer (befindet)“. 10 προειλόμην αὐτὴν ἀντὶ φωτὸς ἔχειν bedeutet nicht „ich zog sie dem Licht vor“, sondern „ich wählte, sie als Licht zu haben“. SCARPAT (Sapienza II, 100–101) sieht in προαιρέω eine Anspielung auf den stoischen Begriff der προαίρεσις „Vorzugswahl“ im Sinne eines Werturteils über die Dinge. *ἀκοίμητος „nicht schlafend, nicht ruhend“ wird in Aischylos, Prom. 139, von dem die ganze Erde in unermüdlichem Fließen (ἀκοιμήτῳ ῥεύματι) umgebenden Ozean gesagt, hier vom Licht. Ein eschatologischer Anklang ist möglich: Die Weisheit als Licht zu wählen bedeutet, ein Leben ohne Ende zu wählen. 12 ὅτι αὐτῶν ἡγεῖται σοφία wird in der lateinischen Übersetzung wiedergegeben durch quoniam antecedebat ista sapientia, d.h., die Weisheit bringt alle Güter, die sie Salomo bietet, mit sich. Das Verb ἡγέομαι bedeutet an sich „leiten“ oder „anführen, regieren“, an den anderen Belegstellen im Buch der Weisheit 1,16; 7,8; 12,15; 15,9; 17,6 hat es aber immer die Bedeutung „halten für, betrachten als“. Von Platon wird ἡγέομαι in Kontexten, die sich auf den Wert von Gütern beziehen, im Sinne von „lenken, leiten“ verwendet (z.B. Euthyd. 280B-281E und andere Beispiele in LARCHER, Sagesse II, 458). Man kann hier an die Weisheit als „Anführerin“ aller Güter denken, die sie dem Menschen bringt; sie sind einwandfrei in dem Maße, in dem die Weisheit sie leitet. Γενέτις „Erzeugerin, Mutter“ ist eine zu τεχνῖτις (7,22a [RAHLFS 7,21b]; 8,6) analoge Wortbildung und ist sonst nur einmal bei einem Autor des 1. Jh.s n. Chr. belegt, bei dem elegischen Dichter Aglaias (vgl. LIDDELL-SCOTT, sub voce). Es kann als eine originale Wortschöpfung des Verfassers betrachtet werden, was die Änderung zum häufigeren γένεσις (B-S V und einige Minuskeln, dazu noch sekundäre Varianten, vgl. ZIEGLER, Sapientia, 67) erklären würde. 9

Synchrone Analyse 7,7: Deshalb Das διὰ τοῦτο zu Beginn von 7,7 nimmt auf das μέν in 7,1 Bezug. Das Gebet betete ich … Salomos wird somit begründet durch die Sterblichkeit und Schwachheit des Kö-

nigs, die der eines jeden Menschen entspricht. Der Aorist εὐξάμην „ich betete“ verweist auf 1Kön 3,11–12; 2Chr 1,6–12. Das Verb ἐπεκαλεσάμην „ich rief an“ steht dazu in synonymem Parallelismus, es hat in der LXX immer eine religiöse Bedeutung und wird verwendet für die Anrufung Gottes im Gebet.15 Die Verbform ἐδόθη, die das positive Ergebnis des Gebetes bezeichnet, ist ein sog. passivum divinum, denn von Gott her kommen die φρόνησις 15 Vgl. SPICQ, Notes, Supp. 286–292.

Synchrone Analyse

205

„Klugheit“ und das πνεῦμα σοφίας „der Geist der Weisheit“ zu Salomo. In Weish 7,7 soll φρόνησις wohl die Tugend der Klugheit im griechischen Sinne bezeichnen, während der Verfasser mit dem πνεῦμα σοφίας den schon in 1,6 genannten „Geist der Weisheit“ meint, der unmittelbar das Wirken des Gottes Israels bezeichnet. Unerlässliche Bedingung für die Erlangung der Weisheit ist, dass der Mensch sie als das bedeutendste Gut betrachtet (7,8–9), und noch dazu, dass er sie mehr liebt als alles andere (7,10). Der Verfasser entfaltet in diesen sieben Kola ein Motiv, das ihm in den Weisheitstexten Israels schon vorlag, vgl. Spr 3,13–15; 8,13–21; Ijob 28,15–19. 7,10b-c bringt den Vergleich der Weisheit mit dem Licht: Die Weisheit ist diesem überlegen, weil ihr Glanz (φέγγος) nie schwindet, im Gegenteil: Sie ist das wahre Licht des Menschen.16 Damit, dass der Verfasser sich in eine zeitgenössische Diskussion hineinbegibt (s.u.), beabsichtigt er nicht, die irdischen Güter abzuwerten. Sie sind für ihn aber nicht Ursache des Glücks, sondern seine Folge. Denn alle möglichen Güter (τὰ ἀγαθὰ πάντα) erreichen Salomo zusammen mit der Weisheit (7,11a); zum Motiv des unermesslichen Reichtums (7,11b) vgl. 1Kön 3,13; 10,11–29; 2Chr 1,12 u.a. Hier, in Weish 2,6 und in 13,1, sind mit den ἀγαθά zweifelsohne die Güter der Schöpfung gemeint, die die Gottlosen genießen wollen (ἀπολαύσωμεν), als ob sie ihr Eigentum wären (2,6). Man kann aus 7,11 noch etwas anderes heraushören: Die Güter und der Reichtum, von denen die Rede ist, gehören im Rahmen des Enkomions zur Beschreibung der φύσις der Weisheit: Sie hat Salomo damit versehen.17 7,12 fügt das Motiv des Genusses der Güter hinzu, die Salomo als Gaben der Weisheit empfangen hat. Die Weisheit wird dabei die „Erzeugerin“, d.h. die Mutter, aller Güter genannt (7,12b). Dadurch, dass er ein im Griechischen äußerst seltenes Wort verwendet (γενέτις), möchte der Verfasser zeigen, dass aus der Weisheit Israels – und nicht aus der griechischen Philosophie! – jedes denkbare Gut entsteht und die Möglichkeit für den Menschen, es zu genießen (vgl. Philon, Sobr. 56; Virt. 8), weil „die Weisheit sie leitet“, d.h., weil sie den Menschen zum rechten Gebrauch eben dieser Güter führt und sie selber das wahre Gut des Menschen ist. Durch die Verwendung von γενέτις beabsichtigt der Verfasser auch, die aktive Rolle der Weisheit bei der Schöpfung auszudrücken, s.o. den Kommentar zu τεχνῖτις in Weish 7,22a. 7,12b darf nicht oberflächlich verstanden werden in dem Sinne, dass Salomo, als er die Weisheit allem Sonstigen vorzog, nicht gewusst hätte, dass ihm zugleich mit ihr auch alle anderen Güter, die er hintangestellt hatte, zukommen würden. Das Nichtwissen Salomos rührt von seiner Schwachheit (7,1–6) her; in Weish 14,18.22; 15,11 ist dann das Nichtwissen mit der fehlenden Erkenntnis Gottes verbunden, also mit dem Götzendienst. Salomo muss aus einem Stadium des Nichtwissens in eines der Erkenntnis gelangen (vgl. auch 7,13). Die Weisheit ist so 16 φέγγος „Glanz“ gehört zur Ausdrucksweise der Mysterienkulte, die Platon verwendet (Phaidros 250b3) : „Von der Gerechtigkeit und der Mäßigung (σωφροσύνη) und von all dem Anderen, was den Seelen wertvoll ist, gibt es keinerlei Glanz in ihren hiesigen Abbildern…“. Die Verwendung von φέγγος hat daher möglicherweise einen polemischen Unterton. Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 16. 17 Vgl. LEPROUX, Un discours de sagesse, 158–163. Auf den Seiten 94–106 weist Leproux darauf hin, dass in Weish 7–8 die Rhetorik des Enkomions auf eine Sache (hier: auf die Weisheit) der des Enkomions auf eine Person entspricht.

7,8–10: Die Weisheit als das bedeutendste der Güter

7,11–12

206

Weish 7,7–12

einerseits eine Gabe Gottes, andererseits die Frucht einer Suche und eines Weges der Erziehung und Bildung.

Diachrone Analyse Die Weisheit ist also nach dem Buch der Weisheit von Gott zu erbitten im Gegensatz zu dem, was man in der griechischen Welt dachte, vgl. Jak 1,5. Unter Verwendung des gut biblischen Inhalts von 1Kön 3,4–15 und von 2Chr 1,2–12 bietet der Absatz eine interessante relecture des Gebets Salomos in Gibeon um die Weisheit als Kunst des guten Regierens. Der Verfasser gestaltet so einen weiteren kleinen Midrasch, mittels dessen die Erfahrung des Königs Salomo zu der eines jeden Menschen wird, der die Gabe der Weisheit sucht und erlangt.18 Die beiden Ausdrücke φρόνησις und πνεῦμα σοφίας scheinen einen synony7,7 men Parallelismus zu bilden, vgl. 3Kgt [1KönMT] 3,12 (δέδωκά σοι καρδίαν φρονίμην καὶ σοφήν) und noch deutlicher in 3Kgt [1KönMT] 5,9: καὶ ἔδωκεν κύριος φρόνησιν τῷ Σαλωμων καὶ σοφίαν πολλήν; vgl. auch Spr 3,13; 8,1. Der Begriff φρόνησις kommt in den Salomo-Erzählungen mehrfach vor (vgl. 3Kgt [1KönMT] 10,4; 11,41) und ist der griechischen Philosophie vertraut (vgl. den Kommentar zu Weish 3,15). Im Buch der Weisheit ist φρόνησις nur in diesem Absatz direkt neben die σοφία gestellt wie in 3Kgt [1KönMT] 5,9. In Weish 8,21 bezeichnet die φρόνησις die Tugend der „Klugheit“, d.h. der praktischen Weisheit, wie Philon und die Stoiker sie verstehen. Die Wendung πνεῦμα [θεῖον] σοφίας kommt in Ex 31,3; 35,31 vor, aber vor allem in Jes 11,2, wo er eine erläuternde Entfaltung des auf dem „Spross aus dem Wurzelstock Isais“ ruhenden Geistes Gottes bezeichnet. Der „Geist der Weisheit“ stammt also unmittelbar von Gott und ist gleichzeitig etwas dem Menschen Innerliches (vgl. in 7,7b ἦλθέν μοι), ein inneres Erkenntnisprinzip (vgl. ἠγνόουν in 7,12b: ohne die Gabe der Weisheit wäre Salomo „unwissend“ geblieben). Außerdem bestehen beim Begriff πνεῦμα Anknüpfungspunkte zur stoischen Philosophie (s.o. zu Weish 1,4–7), der „Geist“ wird zu einer kosmischen Realität, allerdings ohne Übernahme des stoischen Pantheismus (s.u. den Kommentar zu Weish 9,17). Die Aufzählung der in Betracht kommenden Güter beginnt mit einem Wertur7,8–10 teil. Das Verb προκρίνω bezeichnet bei Platon (Leg. 870b; vgl. Philon, Leg. III, 52) eine Vorzugswahl. So zieht Salomon die Weisheit der Macht („Szepter und Throne“) und dem Reichtum vor: Dieses Motiv wird ausführlicher besprochen in 7,9 (vgl. Spr 8,10–11). In 1Kön 3,13–14 erscheint unter den Gütern, die Salomo zusammen mit der Weisheit geschenkt werden, außer dem Reichtum und dem Ruhm auch eine lange Lebenszeit, während in 1Kön 3,11 unter den von Salomo nicht erbetenen Gütern auch der Tod der Feinde genannt war. Das Motiv des langen Lebens, das bereits in der Fassung von 2Chr 1,11–12 zwar unter den nicht erbetenen Gütern erwähnt, aber bei den verheißenen Gaben weggelassen wurde, fehlt hier im Gebet Salomos völlig. Denn für das Buch der Weisheit ist langes

18 Vgl. GILBERT, „La figure de Salomon“, 145–149, der gut die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Erzählungen in 1Kön und 2Chr und dem Text im Buch der Weisheit hervorhebt.

Diachrone Analyse

207

Leben kein Wert an sich (vgl. Weish 4,8–16). Auch das Motiv „Tod der Feinde“ ist mit Schweigen übergangen. Weish 7,10 führt drei weitere Punkte an: Salomo hat die Weisheit mehr geliebt als Gesundheit, Schönheit und Licht; ἀγαπάω bezeichnet hier wie in Weish 1,1 ein Vorziehen, eine Liebe, die Eines anstelle von etwas Anderem wählt. Das Motiv der Gesundheit findet sich nicht als solches in der hebräischen Bibel; vgl. allerdings Sir 30,14–16. Die εὐμορφία lässt ebenfalls ein typisch griechisches Motiv zutage kommen, die Schönheit, vgl. Symp. 218e, wo jedoch die εὐμορφία als äußere, trügerische Schönheit betrachtet wird, von der sich die wahre Schönheit (κάλλος) unterscheidet. In Weish 8,2 wird bei der Weisheit deshalb von κάλλος gesprochen. Mit εὐμορφία bezieht der Sprecher sich also auf eine äußere Schönheit, die, verglichen mit der Weisheit, keine echte Schönheit ist. Nach David Winston findet sich in diesem Absatz ein Echo der philosophischen Diskussion über die größere oder geringere Bedeutung der äußeren Güter. Der Standort des Verfassers des Buches der Weisheit ist der gemäßigten Einstellung Philons ähnlich: Man muss die Weisheit suchen, alle anderen Güter werden dann dank der göttlichen Vorsehung folgen.19 Nach einem Skolión (Tischlied bei einem Symposion), das Platon zitiert (Gorg. 451e), werden in der griechischen Welt als höchste Güter (πράγματα) Gesundheit, Schönheit und ehrlich erworbener Reichtum betrachtet (ὑγιαίνειν μὲν ἄριστόν ἐστιν, τὸ δὲ δεύτερον καλὸν γενέσθαι, τρίτον δὲ τὸ πλουτεῖν ἀδόλως). Aber sie werden Übel, wenn nicht Klugheit und Weisheit (φρόνησίς τε καὶ σοφία) sie leiten (ἡγέομαι), vgl. Euthyd. 281d-e. In Leg. 697b behält Platon die Bezeichnung ἀγαθά ausschließlich den Gütern der Seele und des Leibes vor und schließt davon den Reichtum als Gut, das nur dem Leib dient, aus. Aristoteles wird zu einer Zweiteilung der Güter zurückkehren, nämlich der Seele und des Leibes (Adel, Freundschaft, Reichtum, Ehre, vgl. Eth. Nicom. 1099b9). Die Stoiker fügen sich ein in die Diskussion zwischen platonischem Idealismus und aristotelischer Unterscheidung, die vom Dualismus Platons absieht, und werten die äußerlichen Güter als indifferent. Es bedarf keiner Hierarchie der Güter mehr, da das einzige wahre Gut ist, nach der Tugend zu leben: „quod si ita est, ut neque quisquam nisi bonus vir et omnes boni beati sint, quid philosophia magis colendum aut quid est virtute divinius?“ (Cicero, Fin. III, 76).20 Der Verfasser reiht sich in diese Diskussion ein, geht aber vom Bibeltext 1Kön 3,9–13 bzw. 1Chr 1,10–12 und von anderen bereits erwähnten Weisheitstexten aus (Spr 3,13–18; 8,18–19; Ijob 28,15–17). Die verwendeten Verben (vor allem προκρίνω und ἀγαπάω) machen deutlich, dass es nicht um eine Hierarchie der Güter geht. Denn die Weisheit überragt sie alle: Macht, Reichtum, Gesundheit und Schönheit sind wünschenswerte Güter, aber die Weisheit ist es noch mehr. Die Metaphern Licht und Glanz lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass die Weisheit etwas mit Gott Verbundenes ist (vgl. 7,26). Der traditionellen Dreiheit (Gesundheit, Schönheit, ehrlich erworbener Reichtum) fügt das Buch der Weisheit noch die Macht hinzu, die für die Stoiker zu den indifferenten Gütern gehört; der Verfasser ent-

19 Vgl. WINSTON, Wisdom, 167–168. 20 „Wenn es so ist, dass nur ein guter Mann und überhaupt alle Guten glücklich sind, was ist dann mehr zu pflegen als die Philosophie, oder was ist göttlicher als die Tugend?“ – Eine ausführliche Diskussion findet sich in LEPROUX, Un discours de sagesse, 147–158.

Eine philosophische Diskussion über die Hierarchie der Güter

208

Weish 7,13–22a

nimmt sie jedoch dem salomonischen Kontext (vgl. 1Kön 3,9). Damit kommt die „politische“ Dimension einer Weisheit zum Vorschein, die auch grundlegend ist für eine beständige und gut regierte Gesellschaft (vgl. auch Weish 9,7). Auf das in 7,12a genannte Thema des Genusses der erhaltenen Güter war 7,12 schon Kohelet eingegangen, wenn auch in einem anderen Kontext, vgl. Koh 5,18; 8,15 (εὐφραίνομαι). Im Unterschied zu Kohelet lässt der Verfasser hier „Salomo“ unbeschwert die Güter, die die Weisheit ihm darbietet, genießen; εὐφραίνομαι hat in der LXX meist einen positiven Klang und verweist auf eine Freude vor Gott, so Dtn 12,7; 14,26 u. ö. Die Güter, von denen hier gesprochen wird, gehören nicht zu derselben Art wie der in 7,8b genannte Reichtum, dem Salomo die Weisheit vorgezogen hat, es sind vielmehr die Güter der Schöpfung.

Weish 7,13–22a: Die Gaben der Weisheit 13 Ohne Falschheit lernte ich, und ohne Neid gebe ich (sie) weiter; ihren Reichtum halte ich nicht verborgen. 14 Ein unerschöpflicher Schatz nämlich ist sie für die Menschen: Die ihn anwandten, sind zur Freundschaft mit Gott gelangt, durch die Geschenke, die aus der Bildung (erwachsen), (ihm) empfohlen. 15 Mir aber gebe Gott, auszudrücken, was ich meine, und nachzudenken entsprechend den empfangenen Gaben. Denn er ist sowohl der Weisheit Geleiter als auch der Weisen Richtungsgeber. 16 In seiner Hand nämlich sind sowohl wir als auch unsere Worte und alles kluge Denken und alle Fertigkeit. 17 Er nämlich gab mir untrügliche Kenntnis aller seienden (Dinge), den Aufbau der Welt zu verstehen und die Wirkkraft der Elemente, 18 Anfang und Ende und Mitte der Zeiten, die Wechsel der Sonnenwenden und die Veränderungen der Jahreszeiten, 19 die Kreisläufe der Jahre und die Konstellationen der Sterne, 20 die Natur der Tiere und das Verhalten des Wildes, die Gewalt der Winde und die Gedanken der Menschen, die Unterschiede zwischen den Pflanzen und die Kräfte der Wurzeln. 21 Was auch immer verborgen ist und was offenbar, erkannte ich, 22a die Werkmeisterin von allem nämlich hat es mich gelehrt, die Weisheit.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 13 Das Adjektiv *ἀνεκλιπής (vgl. 8,18) ist außerhalb des Buches der Weisheit nicht belegt; die Bedeutung dürfte „unerschöpflich“ oder „unvergänglich“ sein, vgl. die ähnliche

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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Wendung θησαυρὸν ἀνέκλειπτον in Lk 12,33; das Wort kehrt dann wieder bei Clemens von Alexandria, Strom, 5,4. LEPROUX (Un discours de sagesse, 175–176) versteht ἀνεκλιπής im Sinne von „unveränderlich“, d.h. niemals abnehmend, nicht dem Gesetz der Verderblichkeit unterworfen. Wichtige Handschriften und alte Übersetzungen (B-S*, O-V 46 534 755 La, Sa, Arab, Arm) lesen χρησάμενοι „die (ihn) anwendeten“, während ZIEGLER in seiner Edition die Lesart κτησάμενοι „die (ihn) erwarben“ (vgl. Sir 51,28) vorzieht. Bei dieser Lesart dürfte es sich jedoch um die Korrektur eines Textes handeln, der Schwierigkeiten bereitete: Denn zu χρησάμενοι würde man ein Dativobjekt erwarten: ᾧ οἱ χρησάμενοι. Die Lesart χρησάμενοι ist daher als lectio difficilior zu betrachten, vgl. LARCHER, Sagesse II, 461. SCARPAT (Sapienza II, 107) verweist auf den üblichen Gebrauch von χράομαι in Weish 2,6: χρησώμεθα τῇ κτίσει. LARCHER bemerkt zudem, dass in der griechischen Literatur χράομαι mehrfach in Bezug auf die Tugend vorkommt. ARISTOTELES und spätere Ethiker unterscheiden bezüglich der Tugend (ἀρετή) zwischen κτῆσις und χρῆσις „Erwerb und Anwendung“ oder ἕξις und ἐνέργεια „Besitz und Verwirklichung“ (Eth. Nicom. 1098b). Die Lesart ὃν οἱ χρησάμενοι passt zudem besser in den Kontext (ENGEL, „Weisheit“, 2142): Es geht ja darum, die Weisheit nicht nur zu erlernen (7,13a), sondern sie auch mitzuteilen (7,13b), sie also anzuwenden; ὃν οἱ χρησάμενοι meint daher diejenigen, die die Weisheit wirksam werden lassen, d.h. sie sich nicht nur zu eigen machen, sondern aus ihr heraus handeln. Das Verb ἐνθυμέομαι „nachdenken, gedanklich durchdringen“ hebt die intellektuelle Bemühung hervor, vgl. Weish 3,14; 6,15; 9,13. In Weish 7,15b bieten anstelle von τῶν δεδωμένων (so B, mehrere Minuskeln und La Sah Aeth) die übrigen Handschriften die Lesart τῶν λεγομένων; sie ist jedoch als sekundär zu betrachten, wie LARCHER (Sagesse II, 464–465) überzeugend dargelegt hat. Diese Variante könnte angesichts der Schwierigkeit der Reihenfolge in 7,15a-b (reden entsprechend dem Denken – denken entsprechend den empfangenen Gaben) entstanden sein als Versuch, die „richtige“ Reihenfolge (zuerst denken, dann reden) herzustellen, s. u. den Kommentar. *διορθωτής bedeutet „Verbesserer (politisch: Verwaltungsrevisor; bei Schriftstücken: Korrektor, Zensor)“. LARCHER, Sagesse II, 466, schlägt vor, an die römischen correctores (griech. διορθωτής oder ἐπανορθωτής) zu denken; dabei handelt es sich aber, wie SCARPAT, Sapienza II, 35–39, bemerkt, um eine zeitlich erst nach dem Buch der Weisheit aufgekommene (seit Kaiser Trajan belegte) Institution. In Weish 7,15d ist das Wort in einem „schwachen“ Sinne zu verstehen: Gott ist nicht „Zensor“, sondern eher „Korrektor“, der dem Weg der Weisen eine gute Richtung gibt, vgl. Weish 9,18. ἐργατειῶν ἐπιστήμη ist nicht leicht zu übersetzen. *ἐργατεία ist ein in der griechischen Literatur äußerst seltenes Wort und bedeutet ganz allgemein die „Arbeit“. ἐπιστήμη bezeichnet „Wissen“ in allgemeinem Sinn (vgl. Weish 8,4). Eine Anspielung auf Ex 31,3LXX ist möglich. In Weish 7,16 dürfte ἐργατειῶν ἐπιστήμη eine handwerkliche Fertigkeit im eigentlichen Sinn bedeuten. Die Aussage über die Worte (λόγοι) in 7,16a drückt dann eine Fähigkeit, gut reden zu können, also rhetorische Kompetenz, aus. σύστασις wird von Platon verwendet in Bezug auf die „Zusammenfügung, Erstellung“ der Welt (vgl. Tim. 32c: ἡ τοῦ κόσμου σύστασις) durch den Demiurgen (Tim. 29a). „Der Verfasser verwendet also einen in der profanen Wissenschaft geprägten Begriff, der weniger mit der jüdischen Tradition verbunden ist, als es κτίσις gewesen wäre“ (SCARPAT, Sapienza II, 45). LARCHER (Sagesse II, 468) möchte das Wort eher in einem passiven Sinn verstehen als die „Struktur“, die Organisation der Welt, entsprechend dem stoischen Wortgebrauch (vgl. SVF II, 555). Der Lesart ἐνιαυτοῦ, die ZIEGLER aufgrund einiger patristischer Bezeugungen wählt, ist wohl die Lesart der allermeisten griechischen Handschriften und alten Übersetzungen ἐνιαυτῶν vorzuziehen. Wäre der Singular ἐνιαυτοῦ zu lesen, müsste man an Zeitunterteilungen innerhalb des Jahres denken. Bei der Lesart ἐνιαυτῶν könnten aufeinander-

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Weish 7,13–22a

folgende Zyklen von Jahren gemeint sein, z.B. die vier Jahre, in denen mittels eines Schaltjahres das Kalender- an das astronomische Jahr angepasst wird. 20 Die meisten neueren Übersetzungen geben πνευμάτων βίας mit „Machtausübungen von Geistern“ wieder und deuten das Wissen davon als eine Art von Befähigung zu exorzistischer Tätigkeit. Die jüdische Tradition in hellenistisch-römischer Zeit kennt zwar die Figur Salomos als Exorzist, der in den griechischen magischen Papyri eine bedeutende Rolle spielt. Aber das Buch der Weisheit ist gegenüber der Magie scharf polemisch eingestellt und erwähnt nicht einmal, außer in 2,24, Dämonen oder dämonische Geister, von deren Existenz ein großer Teil der zeitgenössischen Juden durchaus überzeugt war. LARCHER (Sagesse II, 474–475) vermeidet mit Blick auf die parallel stehende Wendung διαλογιμοὺς ἀνθρώπων diese Schwierigkeit und denkt mit GRIMM an das Wissen um den menschlichen „Geist“ in psychologischem Sinne, vgl. GILBERT, „La figure de Salomon“, 163–165. Der Kontext von Weish 7,20 und des ganzen Buches spricht jedoch eher für eine meteorologische Deutung (vgl. Lat vim ventorum), so SCARPAT, Sapienza II, 52–59, in einer ausführlichen Erörterung, in der er aufweist, dass πνευμάτων βίας als die „Gewalt der Winde“ zu verstehen ist. 21 Das Wort *τεχνῖτις scheint zum ersten Mal in zwei Inschriften aus dem 2. Jh. v. Chr. in Delphi belegt zu sein im Sinne von „Handwerkerin, Künstlerin, Werkmeisterin“. In einem Gedicht des Nikarchos (Epigrammatiker, 1. Jh. n. Chr., s. Anth. Gr. XI, 73) verweist das Wort auf die Geschicklichkeit einer Prostituierten, und in einem Text des Lukian von Samosata (Tóxaris oder Die Freundschaft 13; 2. Jh. n. Chr.) bezeichnet es eine Frau als eine „Meisterin“ unter den Kurtisanen.

Synchrone Analyse 7,13–14: Ihren Reichtum halte ich nicht bei mir verborgen …

Die ersten fünf Kola dieses dritten Absatzes (7,13–14) betonen die Absicht des Sprechers, den Reichtum der Weisheit nicht zu verbergen, sondern ihn allen zur Verfügung zu stellen. 7,13 ist rhetorisch gut formuliert: Nach der zweimaligen Abfolge Adverb + τε + Verb schließt οὐκ ἀποκρύπτομαι den Gedanken ab. Bei den beiden Verben in 7,13a fehlt das direkte Objekt, es wird vertreten bzw. ist enthalten in τὸν πλοῦτον αὐτῆς in 7,13b. Durch die so entstandene rhetorische Spannung wird der Zusammenhang von Lernen und Weitergeben (μανθάνω – μεταδίδωμι) hervorgehoben, bevor das Objekt, die Weisheit und ihr Reichtum, genannt wird. Man lernt die Weisheit ohne List und Falschheit; ἀδόλως könnte anspielen auf die bestrickenden Praktiken der Magie oder der Mysterienkulte. In Verbindung mit μανθάνω könnte auch an ein Lernen ohne Nebenabsichten gedacht sein. Das Verb μανθάνω (vgl. Weish 6,1.9) betont die Notwendigkeit einer persönlichen Bemühung beim Lernen. Die Weisheit ist eine Gabe, aber zugleich auch eine Aufgabe. μεταδίδωμι bezeichnet hier das Weitergeben an andere von dem, was man selbst gelernt hat. Das Motiv des Neides (ἀφθόνως) erinnert an Weish 6,22–23. Die Auslassung des direkten Objekts bei den beiden Verben von 7,13a macht ihre Stellung austauschbar: „Ich habe gelernt, um weiterzugeben“ und „ich gebe weiter, weil ich gelernt habe“. Erst in der Weitergabe an Andere gewinnt das Gelernte seinen wahren Sinn. Οὐκ ἀποκρύπτομαι in 7,13b erinnert ebenfalls an Weish 6,22. Das Verb steht hier im Praesens Medium „ich halte nicht verborgen“ (in 6,22 im Futur Aktiv). Das Motiv des Reichtums der Weisheit greift ausdrücklich auf 7,11b zurück, aber in einem metaphorischen Sinn von πλοῦτος; es geht nicht mehr um die äußeren Reichtümer, denen Salomo die Weisheit vorgezogen hat (7,8), sondern

Synchrone Analyse

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um den wahren Reichtum, der die Weisheit selber ist. In 7,14a wird dieser Reichtum ein unerschöpflicher Schatz genannt, der allen Menschen zur Verfügung steht, oder, falls man ἀνεκλιπής die Bedeutung „unveränderlich“ gibt, ein Schatz, der nicht schwindet, der nicht wie irdischer Reichtum der Verderblichkeit unterworfen ist (vgl. Lk 12,33). Wer die Weisheit besitzt und sie in die Praxis umsetzt (οἱ χρησάμενοι), tritt in eine Beziehung der Freundschaft mit Gott (7,14b). Der Bibel ist dieses Motiv nicht unbekannt, vgl. Jes 41,8; 2Chr 20,7 in Bezug auf Abraham.21 Die Erwähnung der Empfehlung (συσταθέντες) durch die „Gaben, die aus der Bildung erwachsen“ kann als Polemik gegenüber den Opferspenden betrachtet werden, die nicht den Wert haben, den das Opfer eines heiligen Lebens vor Gott besitzt. Auch kann man darin eine Anspielung auf die hellenistische Praxis sehen, sich der Gottheit mit Opferspenden zu nähern. Aber das Gesamt der Kapitel 7–8 legt es nahe, unter der παιδεία noch Anderes zu verstehen: die Erziehung, die Bildung, die daraus erwächst, dass jemand die Gabe der Weisheit angenommen hat, und die auch alle Werte der zeitgenössischen griechischen Kultur mit sich bringt (vgl. 7,17–20). Damit erhält der Begriff der παιδεία eine tragende Rolle im ganzen Absatz.22 7,15–16 enthalten einen Wunsch, eine indirekte Bitte an Gott, dem Sprecher 7,15–17a zu helfen, das Gemeinte gut auszudrücken. Hier wird deutlich, dass der Verfasser sich bewusst ist, in gewissem Maße von Gott, der als die Quelle aller menschlichen Weisheit betrachtet wird, inspiriert zu sein (vgl. Sir 24,1–3.30–34). Gott ist der „Geleiter“ der Weisheit und der, der den Weisen die rechten Wege weist. In 7,15 fährt der Sprecher in der ersten Person Singular fort. Er drückt, wie in 6,22, sein Vorhaben aus, über die Weisheit zu sprechen, und nennt erneut die Notwendigkeit des Gebetes dafür, vgl. Platon, Tim. 27b-d als Beispiel für den griechischen Brauch, vor jeder wichtigen Überlegung die Gottheit anzurufen. Er erbittet von Gott, dass seine Rede seine Auffassung, das, was er denkt, ausdrückt (dies ist wohl der Sinn von κατὰ γνώμην; vgl. κατὰ ἐμὴν δόξαν in Tim. 27d), und dass er das Gemeinte in einer Weise gedanklich erfasst (7,15b), die der von Gott empfangenen Gaben, d.h. aller Güter, die der Herr ihm schon mitgeteilt hat (s.o. zu 7,11–12), würdig ist. Die durch die Umkehrung der logischen Reihenfolge (erst denken, dann reden) in 7,15a-b verursachte Schwierigkeit lässt sich beheben durch die Beobachtung, dass der Sprecher die enge Verbindung zwischen Wort und Gedanke hervorheben will: Das Wort (εἰπεῖν) des Weisen soll seiner γνώμη, d.h. seiner Überzeugung und Auffassung entsprechen, während das Denken und Sichverinnerlichen (ἐνθυμηθῆναι) den erhaltenen Gaben entsprechen soll, d.h. der Weisheit und den Eigenschaften, die Gott Salomo geschenkt hatte. Aus dem Gesagten geht hervor, welch hohe Bedeutung der Verfasser dem Reden, d.h. der Kunst der Rhetorik, beimisst, so, wie es in der hellenistischen Welt üblich ist.23 In 7,15c-d begründet der Sprecher sein Gebet damit, dass Gott es ja ist, der die Weisheit leitet. Das Wort ὁδηγός kehrt in Weish 18,3 als Attribut der Feuersäule 21 Vgl. ZIENER, Die theologische Begriffssprache, 88–94. 22 LEPROUX (Un discours de sagesse, 167) spricht diesbezüglich von „Isotopie“; LARCHER, Etudes 359 Anm. 4, denkt an die Übertragung eines stoischen Motivs. 23 Siehe den aufschlussreichen Exkurs über die Bedeutung der Rede im Buch der Weisheit im Blick auf die hellenistische Kultur bei LEPROUX, Un discours de sagesse, 180–195.

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7,17b-20: Das Wissen Salomos

7,21–22a: Die Weisheit hat es mich gelehrt!

Weish 7,13–22a

in der Wüste wieder; vgl. das Verb ὁδηγέω mit der Weisheit als Subjekt in Weish 9,11; 10,10.17. In 7,15 kann ὁδηγός bedeuten, dass die Weisheit aus Gott als ihrer Quelle stammt und sich dorthin bewegt, wohin Gott sie führt. Von der Weisheit im Menschen her gesehen kann auch gemeint sein, dass der Mensch Gottes bedarf, um weise zu sein, da Gott es ist, von dem her die Weisheit kommt. Damit ist deutlich, dass die Weisheit, von der hier gesprochen wird, nicht die griechische ist. Sie ist etwas, das ausschließlich von Gott her kommt. 7,1624 erweitert noch die Aussage von 7,15: Wir alle, einschließlich der Weisen, benötigen die Hilfe Gottes, denn wir sind alle in seiner Hand. Nicht nur wir sind in der Hand Gottes, d.h., wir hängen von ihm ab, sondern auch unser Reden, unser Denken (φρόνησις) und jegliche Fertigkeit (ἐργατειῶν ἐπιστήμη); möglicherweise schließt die letztgenannte Wendung auch die Kunst der Rede und nicht nur das handwerkliche Können ein. 7,17a bildet eine inclusio mit 7,15a (mittels der Lexeme μοι, δο- und γνω-), schließt diese sieben Kola (7,15–17a) ab und stellt zugleich eine Einführung zu den folgenden sieben Kola über das Wissen Salomos dar (7,17b-20). Das Adjektiv ἀψευδής „untrüglich“ bezeichnet so, wie Platon es verwendet (Theaet. 152c; 160d), eine nicht dem Irrtum unterworfene, also sichere, unfehlbare Kenntnis, die Gott dem Salomo verliehen hat bezüglich dessen, was existiert und was existieren wird, und die in der nun folgenden Aufstellung (7,17b-20) genauer angegeben wird. Dieser Abschnitt enthält einen interessanten, von den Kommentatoren ein wenig vernachlässigten Text. Er geht von dem in 1Kön 5,13–14 Erzählten aus (vgl. Spr 1,2–6) und von den jüdischen Traditionen über das enzyklopädische Wissen Salomos. Die Kenntnis alles für einen Menschen Wissbaren wurde Salomo von Gott geschenkt, der ihn durch die Weisheit darüber belehrte (7,22a). Die Wissenschaften, die die Grundlage der Ausbildung in der hellenistischen Welt bildeten, und das, worauf sie ihre Untersuchungen richteten, werden in keiner Weise abgelehnt. Gleichzeitig aber hat die Weisheit Israels keinen Grund, auf die der Griechen eifersüchtig zu sein. Salomo wird vorgestellt als Fachkundiger in der Kosmologie (7,17b), Astronomie (7,18–19), Botanik und Zoologie (7,20a), Meteorologie und Psychologie (7,20b) sowie Medizin (7,20c). 7,21 klingt übertreibend: Salomo kennt alles, das Offenkundige ebenso wie das Verborgene. Die Nennung zweier Gegensätze (κρυπτά – ἐμφανῆ) drückt eine Gesamtheit aus (Merismus). Wörtlich genommen würde 7,21 bedeuten, Salomo nehme am Wissen Gottes teil. Die Erwähnung der verborgenen Dinge (κρυπτά) ist jedoch als eine direkte Polemik gegen die Mysterienkulte zu verstehen; vgl. 6,22, wo Salomo sein Vorhaben ankündigt: Für den Verfasser gibt es keine verborgenen Dinge, die nur Auserwählten vorbehalten wären. Mit ἡ πάντων τεχνῖτις ist die Weisheit gemeint,25 die „Werkmeisterin“ von allem, d.h. aller Kenntnisse und Fertigkeiten (τέχναι), die im Vorangehenden auf24 Ein von Augustinus hoch geschätzter Vers; vgl. LA BONNARDIÈRE, Biblia Augustiniana, 281– 282. 25 Einige Handschriften und wenige andere Textzeugen (s. den Apparat bei J. ZIEGLER und seine praefatio 67) ändern den Text und lesen ὁ πάντων τεχνίτης „der Werkmeister von allem“; sie beziehen den Ausdruck damit auf Gott und umgehen so die theologische Schwierigkeit, die durch die Bezeichnung der Weisheit als „Werkmeisterin“ verursacht wird.

Diachrone Analyse

213

gelistet sind. Die Weisheit ist die „Meisterin“ par excellence, wie Philon schreibt: ἡ σοφία τέχνη τεχνῶν (Ebr. 88). In Weish 13,1 wird das Wort in der männlichen Form (τεχνίτης) im Zusammenhang mit der Schöpfung für Gott selbst verwendet. 7,22 drückt also deutlich eine Schöpferrolle der Weisheit aus. Der Kontext, in dem auch das Verb διδάσκω „lehren“ vorkommt, legt es nahe, in τεχνῖτις auch einen intellektuellen Beiklang wahrzunehmen, da auf die Fähigkeit der Weisheit verwiesen wird, die aufgeführten Wissensgebiete zu lehren. Damit vermeidet es der Verfasser, das rationale Vorgehen, das die Wissenschaft kennzeichnet, abzuwerten. Wenn in diesen Versen eine Polemik vorliegt, dann richtet sie sich nicht so sehr gegen die griechische Welt und ihre Wissenschaftskultur, sondern gegen die Auffassung, dass die Erkenntnis der Wirklichkeit durch eine verborgene γνῶσις erlangt werden könnte (vgl. 7,21) wie die γνῶσις der Mysterienkulte oder durch eine Technik wie die der Magie. Mit der am Ende des Absatzes hervorgehobenen Bezeichnung als τεχνῖτις (s.o. zur literarischen Struktur) setzt der Verfasser die Weisheit auch mit der Schöpfungsordnung in Verbindung (s. unten zum wahrscheinlichen Bezug auf Spr 8,30) und zugleich auch mit der Welt der Bildung (ἐδίδαξεν), der παιδεία. In Weish 7,17–22a wird also ein apologetischer Aspekt deutlich. Die Hervorhebung der wissenschaftlichen Kenntnisse Salomos ist eine Reaktion auf die vielgepriesene Überlegenheit der Griechen auf diesem Gebiet. Aber es geht noch um viel mehr: Jede menschliche Erkenntnis kommt, vermittelt durch seine Weisheit, von Gott. In dieser Weise wird das rationale Vorgehen, das bezeichnend ist für die griechische Wissenschaft, nicht abgelehnt, sondern im Gegenteil aufgewertet durch seine Herkunft (Gott) und in seiner Zielsetzung (ebenfalls Gott). Außerdem ist es bedeutsam, dass dieser Text mehrfach polemisch Stellung nimmt gegen das magische Wissen und vor allem gegen eine Erkenntnis nach Art der Mysterienreligionen.

Diachrone Analyse Eine Bezugnahme auf die Verwendung des Verbs μανθάνω im Deuteronomium 7,13–14 sollte nicht übersehen werden: In Dtn 5,1 geht es darum, die Gesetze und Rechtsvorschriften des Herrn zu lernen, auf sie zu achten und sie zu halten; an anderen Stellen sollen die Israeliten und ihre Kinder die Worte lernen, um den Herrn zu fürchten (Dtn 4,10; 14,23; 17,19; 31,12.13). Ein ohne Neid erteilter Unterricht könnte jedoch nochmals eine polemische Anspielung auf die Mysterienkulte sein, die von ihren Anhängern eifersüchtig geheim gehalten werden.26 Die Formulierung οὐκ ἀποκρύπτομαι verstärkt den Gedanken an eine Polemik gegen die für die Mysterienkulte charakteristische Arkandisziplin. Der Gedanke einer gelernten und an die Anderen neidlos weitergegebenen Weisheit stellt darüber hinaus eine Weiterentwicklung der schon in Spr 1–9 vorhandenen universalistischen Tendenz dar, vgl. besonders Spr 8,4: Die Weisheit richtet sich an alle Menschen. Dass geistige und geistliche Güter den Anderen mitgeteilt und nicht verborgen werden, ist

26 So SCARPAT, Sapienza II, 107.

214

7,15–17a

7,17b-20 Kosmologie

Astronomie

Weish 7,13–22a

ein Topos sowohl im Judentum wie im Christentum.27 Der Text spricht also auf zwei Ebenen, nämlich der Polemik gegen die Mysterien und der offen allen angebotenen Belehrung ohne Neid und Hintergedanken (7,13a). Die Verwendung der Wörter ὁδηγός (7,15c; 18,3) und ὁδηγέω (9,11; 10,10.17) enthält auch eine polemische Spitze gegen die Mysterienkulte. Es ist nicht die Göttin Isis, die den Menschen zum Heil „führt“, sondern der Gott Israels. Er ist es auch, der die Schritte der Weisen ausrichtet und berichtigt (διορθωτής); sie sollen demnach ständig auf dem Weg der Weisheit fortschreiten und sich leiten lassen. So betrachtet, berührt 7,15c-d ein wichtiges theologisches Thema: Über das zu sprechen, was von Gott her kommt, ist nur dank der Hilfe Gottes selbst möglich. 7,16 nimmt einen bereits in Koh 9,1 ausgedrückten Gedanken auf, wenn auch in einem anderen Kontext und in einem anderen Tonfall (vgl. Apg 17,28). Bei der Erwähnung der φρόνησις und der ἐργατειῶν ἐπιστήμη ist ebenfalls eine Polemik gegen den Isiskult nicht auszuschließen, denn Isis wurde als Anregerin der Künste und des Handwerks betrachtet (s.u. zu 7,21). Zum Verständnis von 7,17–20 ist ein Blick auf die Beziehung, die der Verfasser zur zeitgenössischen griechischen Wissenskultur hat, erforderlich. 7,17b bezieht sich auf den Aufbau der Welt (σύστασις κόσμου), die verstanden wird als ein wohlgeordnetes Ganzes (κόσμος). Mit der ἐνέργεια στοιχείων ist die Kraft gemeint, die die Elemente der Welt zusammenhält, wahrscheinlich die vier traditionellen Elemente nach der griechischen Physik: Luft, Wasser, Erde, Feuer. Salomo ist ein Sachkundiger in der Wissenschaft, die die Griechen Kosmologie nannten. In 7,18a bildet „Anfang und Ende und Mitte der Zeiten“ eine Anspielung auf die Astronomie. Die „Zeiten“ sind wahrscheinlich die durch die Bewegungen der Gestirne bestimmten (so LARCHER, der als eine mögliche Bezugsstelle Tim. 37e-38e anführt) oder die Jahreszeiten (Giuseppe SCARPAT). Die in der griechischen und hellenistischen Welt insbesondere bei Zeus verwendete Formel (vgl. Platon, Leg. 715e-716a: ὁ μὲν δὴ θεός … ἀρχήν τε καὶ τελευτὴν καὶ μέσα τῶν ὄντων ἁπάντων ἔχων: Platon zitiert hier möglicherweise einen orphischen Hymnus) ähnelt auch der rabbinischen Weise, von Gott zu sprechen, der ohne Anfang, ohne Gegenwart und ohne Ende ist.28 Das zweite Kolon von 7,18 spricht ebenfalls von der Astronomie. Mit τροπῶν ἀλλαγαί sind die Wechsel der Sonnenwenden und mit μεταβολαὶ καιρῶν die Veränderungen der Jahreszeiten, die in der antiken Welt aufmerksam beobachtet wurden, gemeint.29 7,19 handelt ebenfalls noch von der Astronomie. Es ist nicht ganz klar, worauf sich die ἐνιαυτοῦ (oder ἐνιαυτῶν) κύκλοι „Kreisläufe des/r Jahre/s beziehen“, während die Kenntnis der Konstellationen der Sterne notwendig ist, um zu bestimmen, an welcher Stelle des Jahres man sich befindet, vgl. Philon, Spec. IV, 235, wo ebenfalls die Wörter τροπαὶ καὶ μεταβολαί und ἐνιαυτός vorkommen. Der Text Philons zeigt die Bedeutung, die die Aufteilung des Jahres und der Turnus der Jahreszeiten in der Welt des alexandrinischen Judentums hatten. 27 Vgl. VAN UNNIK, Wilhelm C., ἀφθόνως μεταδίδωμι, Brussel: Paleis der Akademie 1971. Eine christliche Aufnahme dieses Motivs findet sich bei Justin, Apol. I,6,2: „Jedem, der lernen will, geben wir neidlos (ἀφθόνως) weiter, was wir gelernt haben.“ 28 Etwa y. Sanh. 1,1; vgl. WINSTON, Wisdom, 173–174; LARCHER, Sagesse II, 469–470. 29 Eine Untersuchung des ägyptischen Kontextes dieses Textes findet sich bei LARCHER, Sagesse II, 471–472.

Diachrone Analyse

215

Der Verfasser vermeidet sorgsam, den Ausdruck ἀστρονομία zu verwenden. Die Astronomie bildete zusammen mit der Musik, der Arithmetik und der Geometrie einen Teil des pythagoräischen Fächerkanons (quadrivium). Er verzichtet auf das Wort Astronomie, um, wie es auch Philon tun wird, keinen Anlass für eine Verwechslung mit der Astrologie und dem Astralfatalismus (Überzeugung von der Schicksalsbestimmung durch die Konstellation der Sterne) zu geben: „Das Buch der Weisheit weiß sehr wohl, wer das Schicksal der Menschen leitet und kann von Astronomie sprechen, ohne in Fremdgötterverehrung zu fallen“.30 Mit ἄστρων θέσεις „Stellungen der Sterne“ meint der Verfasser die Konstellationen der Gestirne, die hier jedoch nicht dazu dienen, Horoskope zu ermitteln, wie es in dem ἀστροθεσία genannten Zweig der Astronomie geschah, sondern nur dazu, die Jahreszeiten zu bestimmen. Das Buch der Weisheit stellt hier nicht den Wert der griechischen Entdeckungen auf diesem Feld in Abrede, sondern beschränkt sie auf das, was sie tatsächlich sind, nämlich wissenschaftliche Entdeckungen. Hier ist auch daran zu erinnern, dass die Göttin Isis oft als die Herrin der Himmelserscheinungen beschrieben wird, die die Bewegungen der Gestirne bestimmt: „rerum naturae parens, elementorum omnium domina“ (Apuleius, Met. XI,5) und die das Sichabwechseln der Zeiten und Jahreszeiten sicherstellt. Dies alles ist jedoch Frucht ausschließlich der Weisheit. 7,20a umschreibt die Zoologie, die sich mit der Eigenart der Tiere (φύσεις ζῷων) und mit dem Verhalten, den Instinkten (θυμός) der wilden Tiere (θηρία) befasst. In dieser Weise entfaltet der Verfasser die Bemerkung in 1Kön 5,13. Salomo kennt sich nicht nur mit den dem Menschen nützlichen Tieren aus, sondern auch mit den wilden, dem Menschen unzugänglichen und gefährlichen Tieren, die nur sehr schwer zu beobachten sind. Die Deutung von 7,20b ist strittig (s.o. die Anmerkung zum Text). Versteht man πνευμάτων βίας „meteorologisch“, dann wird hier Salomo als einer beschrieben, der sich mit der Kraft der Winde auskennt. Neben die Stürme der Natur sind dann sinngemäß die διαλογισμοὶ ἀνθρώπων, die „Gedanken der Menschen“, gestellt, wobei das Wort διαλογισμοί in malam partem zu verstehen ist, wie es auch in der LXX und im NT vorkommt (vgl. Ps 93[94MT],11; Mk 7,21): die Ränke oder die Intrigen der Menschen. Hier wird also auf die Urteilsfähigkeit, die der biblische Salomo gezeigt hat (vgl. 1Kön 3,16–28), verwiesen. Einerseits kennt Salomo die schwierigen Eigenschaften der Natur, andererseits die schwierigen Züge des menschlichen Geistes, die Machenschaften des Denkens: Meteorologie und Psychologie, würden wir heute sagen, gehen im Gleichschritt. 7,20 spricht von der Pflanzenkunde. Salomo kennt die verschiedenen Arten von Pflanzen und die Heilkräfte der Wurzeln, die in der zeitgenössischen Medizin verwendet wurden. Er interessiert sich also nicht nur für die spekulativen Wissenschaften, sondern auch für die experimentellen. Diese Kenntnisse werden aber vom Verfasser ebenfalls als eng mit Gott verbunden betrachtet. Auffällig ist der Unterschied zu 1 Hen 8,3, wonach solche Kenntnisse den Menschen von den aufrührerischen Engeln offenbart worden seien – ein weiteres Beispiel des antiapokalyptischen Grundtons des Buches der Weisheit.

30 SCARPAT, Sapienza II, 50.

Zoologie

Meteorologie und Psychologie

Botanik

216

Weish 7,22b-8,1

7,21–22a Alles, was Salomo weiß, hat ihn die Weisheit gelehrt, ἡ πάντων τεχνῖτις „die

Werkmeisterin von allem“. Der Ausdruck hat einen polemischen Unterton, der gegen die Annahme gerichtet ist, die Göttin Isis habe die Menschen die Kenntnisse und Fertigkeiten gelehrt (vgl. z.B. die Isisaretalogie von Kyrene 12). Möglicherweise stellt τεχνῖτις hier auch eine Deutung des schwierigen hebräischen Textes von Spr 8,30 dar oder vielleicht sogar eine ursprüngliche Lesart, die hier vom Verfasser des Buches der Weisheit vorgeschlagen wird;31 das viel diskutierte hebräische Wort ‫ אמון‬würde damit im Sinne von „Handwerker, Künstler“ gedeutet und der personifizierten Weisheit eine aktive Rolle bei der Schöpfung zugesprochen (vgl. Spr 3,19). Im Blick auf Weish 9,1–2 kann eine Bezugnahme auf eine solche Rolle der Weisheit bei der Schöpfung nicht ausgeschlossen werden; vgl. auch den Kommentar zu Weish 8,6.

Weish 7,22b-8,1: Das Wesen der Weisheit 22b In ihr ist nämlich ein Geist: vernunftvoll, heilig, einzig, vielteilig, fein, leichtbeweglich, hell, unbefleckt, klar, keinen Schmerz zufügend, das Gute liebend, schnell bereit, 23 unbehinderbar, wohltätig, menschenfreundlich, verlässlich, sicher, sorgenfrei, allmächtig, alles überschauend und durch alle Geister dringend, (die) vernunftvollen, reinen, leichtesten. 24 Beweglicher nämlich als alle Bewegung ist die Weisheit, sie geht hindurch32 und durchdringt alles aufgrund ihrer Reinheit. 25 Ein Hauch nämlich ist sie der Macht Gottes und eine klare Ausströmung der Herrlichkeit des Allherrschers; deshalb dringt nichts Unreines in sie ein. 26 Widerschein nämlich ist sie ewigen Lichts und ein fleckenloser Spiegel der Wirkkraft Gottes und Bild seiner Güte. 27 Eine seiend vermag sie alles, und bei sich bleibend erneuert sie alles. Und von Generation zu Generation geht sie in heilige Seelen ein und bereitet Freunde Gottes und Propheten.

31 Vgl. SKEHAN, „The Literary Relationship“, bes. 172–191. So schon GRIMM, Weisheit, 151; LARCHER, Etudes, 98.389. 32 V.24: sie geht hindurch: Ein reihendes „aber“ ist hier, in 7,27 und in 8,1 nicht mitübersetzt.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

217

28 Nichts nämlich liebt Gott außer dem, der mit der Weisheit zusammenlebt. 29 Sie ist nämlich schöner als die Sonne und über(trifft) jedes Sternbild. Mit dem (Tages)licht verglichen, wird sie als überlegen befunden. 30 Diesem nämlich folgt die Nacht nach,33 die Bosheit aber wird der Weisheit nicht überlegen sein. 8,1 Sie spannt sich aus von einem Ende zum andern voll Kraft, und regiert das All voll Güte.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 22 Der Codex Alexandrinus (A) und einige Minuskeln lesen ἔστιν γὰρ αὕτη anstelle von ἔστιν γὰρ ἐν αὐτῇ (vgl. den Apparat bei ZIEGLER). Die letztgenannte Lesart ist nicht nur die der meisten Zeugen, sie dürfte auch die bessere sein: Sie vermeidet eine ausdrückliche Identifikation der Weisheit mit dem Geist. Zur theologischen Verwendung dieses Textes in der christlichen Tradition vgl. SCARPAT, Sapienza II, 111–112. 27 Die Wendung μία δὲ οὖσα hat kausalen, nicht konzessiven Sinn: „Da sie [die Weisheit] eine ist, vermag sie alles“. Damit zieht der Verfasser die Konsequenz aus dem zuvor über das Wesen der Weisheit Gesagten. Das Verb καινίζω wird von den meisten Kommentatoren in seinem eigentlichen Sinn mit „erneuern“ übersetzt. Im klassischen Griechisch kann es auch die Bedeutung „einweihen, neu eröffnen, neu einführen“ annehmen (vgl. AISCHYLOS, Ag. 1071; 2Makk 4,11). Diese Bedeutung wird von LEPROUX (Un discours de sagesse, 220–225) vertreten, der in der Tätigkeit der Weisheit eher einen Neubeginn als eine Erneuerung sieht; die Weisheit nehme an der Schöpfung der Welt und des Menschen teil. In diesem Sinn setzt Leproux das in 7,27d folgende Verb κατασκευάζω mit dem nur in Gen 1,2 vorkommenden Verbaladjektiv ἀκατασκεύαστος in Verbindung. 29 Fast alle Textzeugen lesen προτέρα; ZIEGLER konjiziert stattdessen allein aufgrund von Handschrift 613 λαμπροτέτα im Sinne von Apg 26,13 und verweist dabei auf Weish 6,12; dies wäre jedoch eine unnötige Erleichterung und Verharmlosung. 30 Die Textzeugen lesen fast sämtlich κατισχύσει, nur B hat ἀντισχύει (vgl. ZIEGLER). LARCHER bevorzugt die letztgenannte Lesart, ein hapax in der griechischen Bibel (vgl. Sagesse II, 513–514). Er nimmt als Bedeutung an „jmdm. überlegen sein“. ZIEGLER dagegen entscheidet sich für das Präsens κατισχύει (anstelle des meistbezeugten Futurs) aufgrund eines Zitats bei Johannes Damaszenus. Das Verb κατισχύω „überlegen sein, die Oberhand gewinnen“ kommt in gleicher Bedeutung nochmals in Weish 10,11 und 17,5 vor und begegnet auch sonst häufig in der LXX (vgl. im NT Mt 16,18), es dürfte die vorzuziehende Lesart sein (so auch RAHLFS). 8,1 Die Textzeugen lesen teils εἰς πέρας (B, V u.a.; vgl. ZIEGLER), teils ἐπὶ πέρας (S, A und einige Minuskeln; so auch RAHLFS). Die letztgenannte Lesart dürfte vorzuziehen sein: Während der davorstehende Präpositionalausdruck den Ausgangspunkt bezeichnet, gibt ἐπὶ πέρας den Zielpunkt an.

33 V. 30: folgt … nach: Im Sinne der Rechtsnachfolge und Herrschaftsübernahme, vgl. 17,21.

218

Weish 7,22b-8,1

Synchrone Analyse 7,22b-23: Der Der Absatz beginnt mit einem γάρ, das die Aussagen von 7,22b-23 an die τεχνῖτις Geist der Weis- Weisheit bindet. Die Weisheit ist „Werkmeisterin“, weil in ihr (ἐν αὐτῇ) der Geist heit anwesend ist. Hier begegnen wieder in großer Nähe zueinander Weisheit und

Die Attribute des Geistes der Weisheit

7,24 – 8,1: Das Wesen der Weisheit 7,24: Die Weisheit ist beweglicher als alle Bewegung

7,25–26: Fünf Metaphern

Geist, wie es schon ab Weish 1,6 deutlich wurde. Die Weisheit wird als personifizierte Figur vorgestellt, die – wie Gott selbst – den Geist besitzt. Weisheit und Geist werden nicht wirklich identifiziert (s.o. zu Weish 1,6), vielmehr tendiert der Verfasser dazu, der Weisheit die Eigenschaften des Geistes zuzuschreiben, so dass Weisheit und Geist immer mehr die gleiche Tätigkeit übernehmen. Die Aufzählung der 21 Attribute des Geistes geschieht in der literarischen Form der accumulatio. Die Anzahl (7×3) ist sicher nicht zufällig und lässt die Bedeutung erkennen, die die Zahl 7 für den Verfasser besitzt.34 Fast jedes dieser Adjektive bietet für die Übersetzung oder die Interpretation einige Schwierigkeiten; diese können hier nur angedeutet werden (s.u. die Diachrone Analyse).35 Auch die Anordnung dieser Reihe von Adjektiven ist nicht leicht zu verstehen: Die ersten zehn Adjektive sind zu Paaren verbunden; das elfte (φιλάγαθον) scheint in der Mitte der Reihe zu stehen und bezeichnet den Übergang von der Beschreibung des Wesens des Geistes der Weisheit zur Beschreibung seiner Wirkweise gegenüber der Welt. Die abschließenden beiden Kola 7,23d-e, das 21. Attribut, bilden eine deutliche inclusio mit dem Beginn der Reihe 7,22b-c durch Wiederaufnahme der Lexeme πνευμα-, νοερ-, λεπτ-. 7,24 schließt die Beschreibung in 7,22b-23 durch die Erwähnung der Beweglichkeit der Weisheit ab und eröffnet den folgenden Unterabschnitt des Absatzes 7,22b-8,1, der, wie schon gesagt wurde, einen konzentrischen Aufbau hat. Dabei knüpft 7,24 durch Stichwortverbindung (das Verb χωρέω und das Lexem καθαρ-) an 7,23c-d an, aber das Subjekt ist nunmehr die Weisheit selbst und nicht mehr der Geist in ihr; er kann also im Buch der Weisheit nicht tout court mit der Weisheit selbst identifiziert werden. Durch die Aussage πάσης γὰρ κινήσεως κινητικώτερον σοφία, die auf das in 7,22d genannte Attribut des Geistes εὐκίνητον anspielt, will der Verfasser hervorheben, dass die Weisheit die bewegteste Bewegung ist; dabei hat er die stoische Vorstellung von der Ersten Ursache als etwas wesentlich Beweglichem, das, obwohl es sich bewegt, sich nicht verändert, sondern gegenwärtig und tätig bleibt, im Sinn. Er ist weit entfernt vom aristotelischen Gedanken des „unbewegten Bewegers“. Aufgrund ihrer „Reinheit“ (διὰ τὴν καθαρειότητα) durchzieht und durchdringt die Weisheit alles. Die Reinheit ist hier nicht in moralischem, sondern in metaphysischem Sinn zu verstehen: Die innige Beziehung der Weisheit zu Gott macht sie allen Geschöpfen überlegen. Mittels einer Reihe von fünf Metaphern und der ständigen Verwendung eines philosophisch geprägten Vokabulars umschreibt der Text die Herkunft der Weisheit von Gott. Der Gebrauch von Metaphern zeigt jedoch, dass der Verfasser sich

34 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 113–114. 35 Zu einer sehr ausführlichen Erläuterung der einzelnen Attribute s. LARCHER, Sagesse II, 481–493; SCARPAT, Sapienza II, 114–128; LEPROUX, Un discours de sagesse, 201–209.

Synchrone Analyse

219

nicht in der Lage fühlt, die Weisheit zu „definieren“, er kann sie nur in einer symbolischen, wenn auch gehobenen Sprache umschreiben. Die erste Metapher umschreibt die Weisheit als ἀτμίς. Das Wort bezeichnet an Hauch sich „Dampf, Dunst, Rauch“, kann aber auch mit „Hauch“ wiedergegeben werden (Aquila übersetzt Kohelets ‫„ הבל‬Windhauch“ mit ἀτμίς). Von der δύναμις „Macht“ Gottes hat der Verfasser bereits in 1,3 gesprochen (vgl. 12,15). In 5,23 und 11,20 wird der „Geist der Macht“ erwähnt im Sinne eines richterlichen Eingreifens Gottes gegen die Gottlosen; um dieses Motiv geht es hier nicht. Eher ist an die Weisheit als „Hauch“ bzw. als „Atem“ Gottes selbst zu denken, insofern er der Mächtige ist. Einige Autoren vermuten eine Anspielung auf Sir 24,3: „Ich ging aus dem Mund des Höchsten hervor, und wie ein Nebel bedeckte ich die Erde.“ Geht man jedoch von ἀτμίς in seinem ursprünglichen Sinn als „Dunst, Dampf“ aus, könnte das Bild von den Vorsokratikern entliehen sein. Anaximander sieht im Wasserdampf den Ursprung des Lebens. Auch die Weisheit hat einen Ursprung, aber in Gott und seiner Macht, und sie ist ihm wesensgleich wie es Dampf und Wasser sind. Das Gesamt der fünf Metaphern tendiert jedoch dazu, auch wenn es die Weisheit nahe an Gott heranrückt, sie von ihm zu unterscheiden: Die Weisheit ist nicht Gott.36 Das Wort *ἀπόρροια ist im Sinne von „Ausfluss, Emanation“ zu verstehen, wie Emanation ein Strahl, der von einer Lichtquelle ausgeht (vgl. Philon, Spec. I, 40), wie etwas, das sich löst von dem Ursprung, der es hervorbringt. Diese Metapher verweist auf den der griechischen Philosophie vertrauten Begriff der „Emanation“. Von Theorien ausgehend, die Empedokles zugeschrieben wurden, taucht ἀπόρροια auch bei der Beschreibung des Einflusses der Gestirne auf.37 Diese ἀπόρροια wird *εἰλικρινής „klar“, d.h. absolut rein, transparent, völlig transzendent genannt.38 Die Weisheit ist Emanation der Herrlichkeit des παντοκράτωρ. Während δόξα „Herrlichkeit“ ein typisch biblischer Ausdruck ist (die LXX gibt damit hebr. ‫כבוד‬ wieder), gehört παντοκράτωρ zur LXX-eigenen Sprache und hat kein hebräisches oder aramäisches Äquivalent. Mit παντοκράτωρ wird Gott als Weltherrscher bezeichnet. Die „Herrlichkeit“ ist die Erscheinung der Gegenwart Gottes in der Welt, die jedoch von den Menschen nicht unmittelbar gesehen werden kann (vgl. Ez 1,28); in Weish 9,10 heißt es von der Weisheit, sie werde vom Thron der Herrlichkeit (Gottes) gesandt. Mit dem Motiv der Herrlichkeit ist die Vorstellung von Licht und Glanz verbunden, vgl. Jes 60,19–20LXX und Bar 5,9, wo Herrlichkeit und Licht miteinander verknüpft sind (τῷ φωτὶ τῆς δόξης αὐτοῦ). Die Weisheit ist also ein Strahl der lichtvollen Gegenwart Gottes (vgl. auch 7,26a), unterscheidet sich jedoch von Gott wie der Strahl von seiner Lichtquelle.39 Aus diesem Grunde (7,25c) kann nichts Unreines in sie eindringen; *παρεμπίπτω hat einen negativen Beiklang: „plötzlich befallen, unvermutet eindringen“. Aufgrund ihrer Reinheit schließt die Weisheit jede Art von Verunreinigung 36 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 70–71; vgl. auch LARCHER, Sagesse II, 497–498, für die altkirchliche Auslegung, die ἀτμίς als „Duft“ und, wie es nicht selten in der christlichen Exegese geschah, christologisch deutete. 37 Vgl. LARCHER, Etudes, 207 Anm. 6. 38 WINSTON (Wisdom, 185) stellt fest, dass dies der älteste Belegtext ist, in dem ἀπόρροια im Zusammenhang mit der Weisheit oder dem λόγος verwendet wird. 39 Vgl. RAURELL, „The Religious Meaning“, 371–373.

220

Weish 7,22b-8,1

aus; mit οὐδὲν μεμιαμμένον kann der Verfasser sowohl eine sittliche als auch eine metaphysische Verunreinigung meinen. In der LXX bezeichnet μιαίνω häufig eine rituelle Unreinheit. Die Weisheit gerät wegen ihres Ursprungs aus Gott in keinerlei Gefahr irgendeiner Art von Unreinheit. Die dritte Metapher beschreibt die Weisheit als ἀπαύγασμα „Abglanz, WiderWiderschein schein“ des „ewigen Lichtes“, d.h. einer Eigenschaft, die Gott selbst zusammen mit der Herrlichkeit besitzt, vgl. Jes 60,19–20LXX; auf diesen Text wurde schon verwiesen. Gott unmittelbar mit dem Licht zu identifizieren, wird hier jedoch vermieden, ebenso wenig wie mit der Herrlichkeit, ganz im Sinne des AT: Das Licht ist nicht Gott, sondern eher eine Erscheinungsweise (Epiphanie) Gottes; vgl. demgegenüber Philon in Somn. I, 75: ὁ θεὸς φῶς ἐστι; vgl. auch 1Joh 1,540 Die Lichtsymbolik wird eine wichtige Rolle in Weish 17,1 – 18,4 spielen. Das Wort *ἀπαύγασμα dürfte hier zum ersten Mal im griechischen Sprachgebrauch bezeugt sein. Es wird auch von Philon verwendet (Op. 146; Plant. 50; Spec. IV, 123). Die Bedeutung kann aktivisch sein wie in Spec. IV, 123, wo Philon ἀπαύγασμα in stoisierendem Sinn verwendet bei der Herleitung der vernunftbegabten Seele von Gott (vgl. auch 1 Hen I,3), und würde dann die Weisheit als „Ausstrahlen“ des ewigen Lichts bezeichnen; ἀπαύγασμα kann aber auch passivische Bedeutung haben als „Widerschein, Reflex“ wie an den beiden erstgenannten Stellen bei Philon. Die beiden folgenden Metaphern, Spiegel und Bild, legen die letztgenannte Deutung nahe: Das ewige Licht Gottes wird in der Weisheit in vollkommener Weise widergespiegelt. Bei der Metapher „Spiegel“ (ἔσοπτρον) richtet sich die Aufmerksamkeit nicht Spiegel so sehr, wie auch bei den anderen vier Metaphern, auf die Tätigkeit der Weisheit, die dann ab 7,27 beschrieben wird, als vielmehr auf ihr Wesen. Die Weisheit ist der vollkommene Spiegel, blank, rein, in dem sich die ἐνέργεια Gottes spiegelt, d.h. die Wirkkraft Gottes und sein Vermögen, alles zu verwirklichen, was er will (vgl. im NT Kol 2,12). Der Spiegel wird hier als *ἀκηλίδωτος „fleckenlos, blank“ beschrieben, der das Gespiegelte ganz klar wiedergibt. Das Bild des Spiegels verweist auch auf ein bekanntes platonisches Motiv: Die Erfahrungswelt ist nur ein Spiegel der Welt der Ideen; deshalb ist jede mittelbare Gotteserkenntnis abzuweisen, um zur unmittelbaren Gotteserkenntnis zu gelangen. Die Weisheit ist also die einzige Gegebenheit, die eine unmittelbare Erkenntnis Gottes und seines Willens gewährleistet.41 Bild Das Motiv des Gutseins Gottes (vgl. 1,1b; außer in Weish 12,22 sonst in der LXX nur noch in Sir 45,23), das in der fünften Metapher genannt wird, ist ebenfalls typisch platonisch (vgl. das Zitat aus dem Timaios [92ce] bei Philon, Opif. 21; Cher. 127) wie auch das Motiv des Bildes (εἰκών), das die Ähnlichkeit mit einem VorBild, dem Abgebildeten, beinhaltet. Wahrscheinlich verwendet der Verfasser das Motiv „Bild“ in dem Sinne, in dem Philon vom Logos als Bild Gottes spricht (Fug. 101); vgl. Deus 73 in Bezug auf das vollkommene Gutsein, das Gott gegenüber allem ausübt. Der Verfasser überlagert dieses Verständnis mit der biblischen Vorstellung vom Menschen als „Bild“ Gottes (vgl. Gen 1,27; Weish 2,23). Nicht nur die Weisheit, sondern auch der Mensch ist für den Verfasser Bild Gottes. Daher kann der

40 Vgl. AALEN, Licht und Finsternis, 577–579. 41 LARCHER, Etudes, 382.

Synchrone Analyse

221

Mensch die Unsterblichkeit erlangen, wenn er in enger Verwandtschaft mit der Weisheit lebt (vgl. Weish 8,17). Die Einheit der Weisheit (μία οὖσα) wird in doppelter Weise begründet: Einerseits spiegelt die Weisheit die Einheit und Einzigkeit des Gottes Israels (Dtn 6,5), andererseits schließt sie das Vorhandensein von Vermittlungsinstanzen aus, die sie unterstützen könnten, wie es in der Philosophie Philons der Fall ist.42 Denn die Weisheit πάντα δύναται „kann alles“, sie besitzt Eigenschaften Gottes auch in Bezug auf ihr Wirken. „Bei sich bleibend“: Gegenüber dem, was über die Beweglichkeit der Weisheit gesagt wurde (7,24), wird sie hier als etwas beschrieben, das auch bei seinem Wirken immanent bei sich bleibt, das eigene Wesen nicht ändert.43 Aber dieses „bei-sich-Bleiben“ schließt ihre Tätigkeit nicht aus, denn sie „kann alles“, wie in 7,27a gesagt wurde. Das Verb καινίζω hat in der LXX die Bedeutung „ausbessern“ (1Makk 10,10), „neu einführen“ (2Makk 4,11), „erneuern“ (Zef 3,17LXX), „wiederaufbauen“ (Jes 61,4), wie auch das Kompositum ἀνακαινίζω Ps 102[103MT],5; 103[104MT],30. Der letztgenannte Text spricht vom Geist Gottes, der die Erde erneuert (καὶ ἀνακαινιεῖς τὸ πρόσωπον τῆς γῆς); ihn könnte der Verfasser im Sinn gehabt haben.44 So wird die Weisheit wie der Geistes Gottes in Ps 103[104MT] als Ursache der Erneuerung der ganzen Welt (τὰ πάντα) beschrieben und also auch des Weiterbestands des Lebens. Die zweite Hälfte von 7,27 lässt auch an eine innerliche Erneuerung denken, an eine Weisheit, die ständig in „heilige Seelen“ hinabsteigt und neue Menschen schafft. Der Gedanke ist biblisch. 7,27c beschreibt das Wirken der Weisheit nicht in Bezug auf das Universum (τὰ πάντα), sondern auf die Menschen. Der Ausdruck κατὰ γενεάς verweist auf das Aufeinanderfolgen der Generationen; μεταβαίνω bezeichnet den Übergang von einem Ort zu einem anderen oder von einem Gegenstand zu einem anderen. Die Weisheit wendet sich im Laufe der Menschheitsgeschichte an die „heiligen Seelen“; ψυχή (vgl. 3,1) bezeichnet eher die menschliche Person als eine platonisch gedachte Seele; ὅσιος meint eine Heiligkeit im moralischen Sinne, die „heiligen Seelen“ sind also Fromme, Gläubige. Es handelt sich um eine allgemeine Feststellung. Es ist schwierig auszumachen, ob der Verfasser hier an alle Menschheitsgenerationen denkt, wie Weish 10,1–4 nahezulegen scheint, oder nur an die Israeliten, d.h., ob die Weisheit nur Israel betrifft oder, im Anschluss an Spr 8, als allen Menschen zugänglich betrachtet wird. Das Verb κατασκευάζω ist transitiv und bedeutet „herrichten, vorbereiten, schaffen“; in Weish 9,2; 11,24 und 13,4 wird es in Bezug auf das Erschaffen Gottes verwendet, in 13,11 und 14,2 jedoch auf das Schaffen des Handwerkers. Die Weisheit schafft also, in Verlängerung des Wirkens Gottes selbst, „Freunde Gottes und Propheten“.

42 Der Ausdruck μία οὖσα kommt auch in der Isis-Artalogie von Kyrene vor (Zeile 6). 43 Nach SCARPAT (Sapienza II, 84–85) polemisiert der Verfasser hier gegen die Auffassung Heraklits, dass alles sich ständig verändert außer einem bleibenden Element, und dies ist für Heraklit das Feuer. Philon beschreibt Gott als ἐστῶς ἐν ὁμοίῳ καὶ μένων (Somn. 2,221). 44 Vgl. SKEHAN, „Borrowings from the Psalms“, 389.

7,27–28: Die Weisheit im Menschen

7,27

Freunde Gottes und Propheten

222

Weish 7,22b-8,1

7,28 7,28 ist in einem ungewöhnlichen Griechisch formuliert: „Gott liebt nämlich nichts

7,29–30: Nochmals Weisheit – Licht

8,1: Die Allgegenwart der Weisheit

außer dem, der mit der Weisheit zusammenlebt“; zu ἀγαπάω s.o. bei Weish 1,1a. In einem anderen Zusammenhang wird 11,24 feststellen, dass diese Liebe Gottes alle Geschöpfe umfasst; 7, 28 steht am Ende eines Gedankenganges, in dem der Verfasser den Akzent auf die Notwendigkeit, die Weisheit zu erlangen, setzt. Das Verb συνοικέω bezeichnet in der LXX in der Regel das eheliche Zusammenleben (vgl. Dtn 22,13; 24,1; Sir 25,8.16); von daher meinen viele Autoren, der Verfasser denke an eine symbolische eheliche Verbindung zwischen dem Weisen und der Weisheit (s.u.). In Parallele zu 7,25–26 kehrt der Verfasser nochmals zur Metapher „Licht“ zurück, um das Wesen der Weisheit zu beschreiben. Die Weisheit ist Freundin und Gefährtin dank ihrer Schönheit, denn sie ist schöner (εὐπρεπεστέρα) als die Sonne. Der Vergleich könnte durch Hld 6,10 angeregt sein; εὐπρεπής hat den Beiklang von „prächtig, glänzend“. Zu εὐπρέπεια s.o. zu Weish 5,16, wo das Wort sich auf die Pracht Gottes bezieht; analog ist die Weisheit prächtig, glänzender als die Sonne und jedes Sternbild (ὑπὲρ πᾶσαν ἄστρων θέσιν; vgl. 7,19); die Bezugnahme auf die Sternkonstellationen kann auch als eine leise Polemik gegenüber der Astrologie verstanden werden. 7,29c fügt noch hinzu, dass die Weisheit, verglichen (συγκρινομένη) mit dem Licht, diesem überlegen ist (oder: „noch strahlender“, s.o. die Anmerkungen zum Text). Die Metapher „Licht“ für die Weisheit ist also nicht ganz zutreffend: Die Weisheit ist höher einzuschätzen als das Licht. Es ist nicht auszuschließen, dass προτέρα einen zeitlichen Hinweis enthält: Die Weisheit ist „früher“ als das Licht, sie existiert schon vor dem Licht (vgl. den zeitlichen Aspekt, der sich in Spr 8,22– 25 deutlich zeigt). Von daher kann Weish 7,29–30 als ein kleiner Midrasch zu Gen 1,3 betrachtet werden; die Weisheit wird vom Verfasser neben das Ur-Licht gerückt.45 Weish 7,30a begründet, weshalb die Weisheit als dem Licht überlegen angesehen wird, mit einem Verweis auf eine empirische Beobachtung: An die Stelle des Lichts tritt die Nacht. 7,30b geht dann über zu einer noch wichtigeren Überlegung: Die Bosheit kann die Weisheit nicht besiegen. Die Bosheit (s.o. zu 2,21; 4,11; 5,13) wird so unausdrücklich der Finsternis gleichgestellt (s.u. das ganze Kap. 17). Jeder Dualismus ist damit, wie schon in Weish 1,12–14, grundlegend ausgeschlossen. Der Text von Weish 8,1 ist in Parallele zu 7,24 zu sehen. Der Beweglichkeit der Weisheit entspricht ihre Allgegenwart im Kosmos und ihr der Vorsehung entsprechendes Wirken. Der Verfasser beschreibt anhand der Figur der Weisheit eine Art von creatio continua.46

Diachrone Analyse 7,22b.23 Um die Bedeutung der 21 Attribute des Geistes der Weisheit in Weish 7,22b-23

besser zu verstehen, ist es erforderlich, ihren meist eher griechischen als biblischen Hintergrund zu bestimmen.

45 Vgl. LEPROUX, Un discours de sagesse, 236–248. 46 Vgl. ENGEL, Das Buch der Weisheit, 138.

Diachrone Analyse

223

*νοερός bedeutet „vernunftvoll“, fähig zu denken. In der stoischen Philosophie wird diese Eigenschaft dem πνεῦμα oder dem kosmischen λόγος, d.h. Gott selbst, zugesprochen (vgl. SVF I, 32, 110; II; 299 frg. 1009). ἅγιος: Während νοερός ein Ausdruck ist, der den griechischen Einfluss verrät, zeigt ἅγιος demgegenüber den biblischen, vgl. Ps 50[51MT],13; Jes 63,10.11; DanLXX 5,12; 6,4; DanTh 4,8.9.18: An diesen Stellen bezeichnet πνεῦμα ἅγιον den Geist Gottes. Der Verfasser hat dieses Adjektiv schon in 1,5 gerade in Bezug auf das πνεῦμα verwendet und wird dies in 9,17 nochmals tun. Im Buch der Weisheit bezeichnet ἅγιος etwas, das zu Gott gehört und strikt an ihn gebunden ist.47 Der Geist ist also deshalb „heilig“, weil er dem Bereich Gottes zugehört und darum grundlegend von der profanen Welt getrennt ist. μονογενής: Das Wort bedeutet an sich „einziggezeugt“ und bezeichnet sowohl in der LXX als auch im NT ein Einzelkind. Legt man den Akzent auf μονο-, dann wird eher die „Einzig“artigkeit der Herkunft des Geistes betont, legt man dagegen den Akzent auf das Lexem -γεν-, wird die Einzigkeit in seiner Art hervorgehoben in Bezug auf sein Wesen und seine Eigenschaften. Im vorliegenden Fall ist eine antignostische polemische Spitze möglich: Der Geist ist keine Emanation Gottes, sondern ist einziggezeugt.48 *πολυμερής: Dieses Attribut ist mit dem davorstehenden als Paar zusammen zu lesen, sie bilden eine Assonanz. Dass der Geist „einzig“ ist, bedeutet keine Minderung. Zwar einzig in seiner Art, ist er doch auch „vielfältig, vielteilig“ in seinen Erscheinungsweisen. Das Akjektiv, das in der stoischen Philosophie nicht vorkommt, bezeichnet das, was zusammengesetzt ist aus verschiedenen Teilen; hier ist es eher als Ausdruck der Vorstellung von einer Vielfalt zu verstehen (vgl. Aristosteles, Pol. 1311a33): Der einzigartige Geist entfaltet in der Welt eine vielfältige Tätigkeit, man kann aber auch an den inneren Reichtum denken, an die Vielfalt der Kräfte, die in dem einzigartigen Geist enthalten sind (vgl. im NT 1Kor 12,4). λεπτός bedeutet „fein, leicht“. Eine aufmerksame Durchsicht der philosophischen Texte, die dieses Wort benutzen, lässt die Bedeutung „immateriell“ ausscheiden.49 In Platons Dialog Kratylos (412D) ist der Begriff „fein“ mit der Vorstellung einer Bewegung verbunden, also mit der Eignung, in die innersten Bereiche eines Wesens einzudringen und sich überall sehr schnell zu bewegen (τάχιστον καὶ λεπτότατον). Diese Vorstellung wird in 7,23d-e wieder aufgenommen; das Feinsein des Geistes bringt ihn jedoch nicht dazu, sich mit der Schöpfung, von der er sich unterscheidet, zu vermischen; der Verfasser vermeidet es so, in einen Pantheismus zu verfallen. εὐκίνητος „leichtbeweglich“ wird im Stoizismus, im Gegensatz zum „unbewegten Beweger“ des Aristoteles, die Vernunft genannt, vgl. SVF II, 119 frg. 338: Die Erstursache ist ein Wesen in Bewegung. In der stoischen Vorstellung ist deshalb die Bewegung keinesfalls eine Unvollkommenheit, sondern der Wesenszug der UrUrsache. Der Geist ist also durch Beweglichkeit charakterisiert, ein weiteres Zeichen seiner Transzendentalität, und begründet seinerseits die gleiche Beweglich-

47 MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 8. 48 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 116; vgl. auch BÜCHSEL, Friedrich, μονογενής, ThWNT IV, 745– 750. 49 Vgl. COLOMBO, Pneuma, 117–120.

224

Weish 7,22b-8,1

keit der Weisheit, die in 7,24a beschrieben wird. εὐκίνητος setzt also den Gedanken des vorangehenden λεπτός fort. τρανός: Dieses Adjektiv bezeichnet im griechischen Sprachgebrauch alles, was hell, klar, deutlich ist. Es ist nicht sicher, ob das Wort als terminus technicus in der stoischen Philosophie verwendet wurde, obwohl Philon es verwendet. Bei Philon bedeutet τρανός in Verbindung mit Verben des Sehens und Sprechens meist das, was „klar“ ist, besonders in Bezug auf geistige Vorstellungen.50 Diese „Klarheit“ kann im Sinne der Reinheit des Geistes gemeint sein, aber auch der durch die lateinische Übersetzung disertus eingebrachte Sinn von deutlicher und bestimmter „Beredtheit“ ist zu beachten. Von dieser Bedeutung her würde der Geist den Menschen, der ihn empfängt, befähigen, gut zu reden (vgl. Weish 10,21 in Bezug auf die Zungen der kleinen Kinder). *ἀμόλυντος ist ein seltenes und erst spät vorkommendes Wort. Es bezeichnet das, was ohne Flecken ist, oder noch besser: was nicht verunreinigt werden kann. Das Wort kann so auf die Reinheit des Geistes verweisen, der durch die irdischen Gegebenheiten nicht verunreinigt und von der Sünde nicht berührt ist. Es ist schwierig, dieses Attribut mit dem vorhergehenden in Verbindung zu setzen. σαφής steht zusammen mit dem darauffolgenden ἀπήμαντος parallel zu τρανός. Das Adjektiv σαφής beschreibt etwas als klar, sicher, offensichtlich, hier in Bezug auf das Wesen des Geistes, auf seine völlige Reinheit. Im Bereich der Redekunst bezeichnet σαφής eine Rede als klar und unmissverständlich.51 ἀπήμαντος bezeichnet das, was nicht von einem Übel geplagt ist, „unversehrt“, und gelegentlich auch umgekehrt das, was kein Übel zufügt, „unschädlich“, was keinen Schaden verursacht (vielleicht handelt es sich um eine Reminiszenz an Aischylos, Suppl. 576).52 Das Attribut φιλάγαθον steht in der Mitte der Reihe und eröffnet eine weitere Folge von Attributen, die in φιλάνθρωπον gipfeln. Der Ausdruck *φιλάγαθος, etymologisch „Freund des Guten“, bezeichnet die Bereitschaft zum Guten, eine Wesenseigenschaft des Geistes der Weisheit. Die φιλαγαθία ist für Philon eine der Tugenden, die bei einem Gesetzgeber gefordert ist zusammen mit der φιλανθρωπία (Philon, Mos. II, 9; vgl. Aristeasbrief 124 in Bezug auf den König; im NT Tit 1,8 in Bezug auf den ἐπίσκοπος). Das Adjektiv ὀξύς bedeutet „scharf“ (in Weish 18,16a [Rahlfs 18,15c] wird das Schwert so genannt). Der genaue Sinn des Adjektivs ist strittig. Da es unmittelbar auf φιλάγαθος folgt, kann man an eine Bedeutung wie „bereit“, „schnell“ in Bezug auf das Wirken des Geistes in der Welt denken; vgl. Spr 22,29LXX (ἄνδρα ὀξὺν ἐν τοῖς ἔργοις αὐτοῦ) und die ὀξύτης, die Platon in Polit. 306C-E lobt. Das Adjektiv *ἀκώλυτος bezeichnet das, „was nicht gehindert ist“. Der Verfasser verwendet es wohl im gleichen Sinne wie die Stoiker; ἀκώλυτος kommt mehrfach in stoischen Texten in Bezug auf die menschliche Freiheit oder auf das Naturgesetz vor (z.B. SVF II, 269 frg. 937); vgl. auch die Verwendung in Apg

50 Vgl. die bei SCARPAT, Sapienza II, 118 zitierten Texte. 51 Vgl. LEPROUX, Un discours de sagesse, 202–203. 52 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 119.

Diachrone Analyse

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28,28.53 In diesem Sinne hat ἀκώλυτον eine gewisse Beziehung zum vorhergehenden Attribut ὀξύ. Die beiden folgenden Adjektive *εὐεργετικός und φιλάνθρωπος finden sich im griechischen Sprachgebrauch häufig nebeneinander. Bei den Stoikern spricht man von den θεοὶ εὐεργετικοὶ καὶ φιλάνθρωποι, den „wohltätigen und menschenfreundlichen Göttern“ (SVF II, 323 frg. 1115). Im Blick auf diesen Sprachgebrauch wird hier der Geist der Weisheit deutlich Gott an die Seite gestellt, zugleich aber ist die „Menschenfreundlichkeit“ eine menschliche Tugend, ein Ideal des hellenistischen Weisen, das auch im Buch der Weisheit aufgegriffen wird (s.o. den Kommentar zu 1,6). Weiterhin ist der Geist βέβαιον „sicher, verlässlich“ und ἀσφαλές „sicher, beständig, nicht trügend“; im Zusammenhang mit einer Rede bedeutet ἀσφαλής „solide, glaubwürdig“.54 In Verbindung mit den beiden vorhergehenden Adjektiven (εὐεργετικόν und φιλάνθρωπον) können diese beiden in dem Sinne verstanden werden, dass der Geist fest auf die Liebe zu den Menschen und die Suche nach dem Guten gerichtet ist. Im stoischen Sprachgebrauch wird das Wissen (ἐπιστήμη) oft gerade als „verlässlich und sicher „ gekennzeichnet (vgl. SVF II, 30 frg. 95: Philon gibt hier eine Schuldefinition wieder), als eine Art unfehlbarer Erkenntnis, die der Weise ohne Zweifel und Verwirrungen besitzt; diese Eigenschaft wird hier dem Geist der Weisheit zugesprochen. Die beiden Adjektive können jedoch auch in moralischem Sinn verstanden werden als Bestimmtheit und Festigkeit in Entscheidungen (vgl. z.B. βέβαιος in Bezug auf die Tugend in SVF III, 111 frg. 459). Das Adjektiv *ἀμέριμνος (vgl. Weish 6,15) bezeichnet das, was ohne Sorgen und Beunruhigung ist, was nichts Unvorhergesehenes oder Störendes in seiner Tätigkeit kennt, es kennzeichnet den Philosophen, der sich von den Beunruhigungen des menschlichen Lebens nicht behelligen lässt. Das Adjektiv *παντοδύναμος ist selten (vielleicht eine Eigenprägung des Verfassers), kommt aber nochmals in Weish 11,17 und 18,15 vor; die lateinische Übersetzung gibt das Attribut mit omnem habens virtutem wieder (vgl. Weish 7,27: πάντα δύναται). Der Geist besitzt alle Macht; das Adjektiv verweist auf die Allmacht des Geistes der Weisheit, der damit eng mit einer göttlichen Eigenschaft verbunden wird.55 Durch *πανεπίσκοπος kennzeichnet der Verfasser den Geist als „alles überschauend, beaufsichtigend“; vgl. die Bedeutung von ἐπίσκοπος in Weish 1,6 in Bezug auf Gott. Diese Fähigkeit, die Schöpfung bis in die Tiefen zu ergründen, wird hier dem Geist zugeschrieben, wie in einem Austausch der Attribute. Mit den beiden παν-Komposita (παντοδύναμος, πανεπίσκοπος) nähert sich der Verfasser dem Ende der Reihe. 53 Weitere Belegstellen finden sich bei LARCHER, Sagesse II, 488. Der weise und tugendhafte Mensch ist frei, weil er keinem Zwang unterworfen werden kann: SVF III, 88 frg. 363. Zum Schicksal, das als ἀκώλυτον beschrieben wird, vgl. SVF II, 292 frg. 997. 54 Vgl. LEPROUX, Un discours de sagesse, 204. Leproux möchte die Reihe der 21 Attribute als auf das Wort und die Lehre bezogen sehen. Das ist bei einigen davon möglich, aber der Gesamtduktus der Reihe ist eher im kosmischen als im rhetorisch-erzieherischen Sinne zu verstehen. 55 Nach SCARPAT, Sapienza II, 123–124, deutet das Adjektiv auf die Überlegenheit des Geistes über die „Kräfte“ Gottes, wie Philon sie sich vorstellte, hin.

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Weish 7,22b-8,1

Das 21. Attribut ist besonders ausführlich: „durch alle Geister dringend, die vernunftvollen, reinen, feinsten“; χωρέω wird hier im technischen Sinne gebraucht, wie die Stoiker dieses Wort in ihrer Vorstellung der „Mischung“ (κρᾶσις) verwenden, bei der zwei oder mehr feuchte Körper einander durchdringen können, ohne dass einer von ihnen seine Eigenschaften verliert (SVF II, 153 frg. 471; es folgt dort das Beispiel vom Wasser, das mit Wein gemischt wird). Das gleiche Verb χωρέω diente dazu, das körperhafte Wesen des göttlichen πνεῦμα zu beschreiben, das das ganze Universum durchdringt (SVF, II, 307 frg. 1033). Durch die Verwendung dieser Terminologie wird der Geist der Weisheit als allen anderen Geistern überlegen dargestellt und als fähig, sie zu durchdringen; er durchdringt alle Geister, ohne sich jedoch mit ihnen zu vermischen und seine Eigenschaften zu verlieren. Viele antike Kommentatoren haben hier eine Bezugnahme auf Engel als Geister gesehen; im Kontext des Buches der Weisheit ist diese Deutung jedoch wohl auszuschließen. Der Text spricht hier eher allgemein; der Geist der Weisheit übt dank seiner Überlegenheit einen besonderen Einfluss auf alle anderen Geister aus (wahrscheinlich denkt der Verfasser an die Seelen der Menschen), auch auf die intelligentesten, reinsten, feinsten, d.h. die materiefernsten und Gott nächsten.56

Die theologische Bedeutung von Weish 7,22b-23 im Blick auf seine Quellen Der Einfluss Die Hauptquelle von 7,22b-23 ist sicher die stoische Philosophie; alle Kommentatodes Stoizismus ren verweisen auf das Gedicht über das Gute von Kleanthes.57 Im Stoizismus wird

die Gottheit betrachtet als „Weltseele“, „Vernunft“ (λόγος), kosmischer „Geist“ (πνεῦμα), an dem auch die Seele des Menschen teilhat. Der stoische λόγος ist jedoch allem immanent und etwas Materielles wie auch die Körper, die er durchdringt, materiell sind. Die menschliche Seele ist für die Stoiker nicht etwas vom λόγος und vom πνεῦμα der Welt, an dem sie teilhat, Verschiedenes. Die Weisheit dagegen ist dank ihres Geistes nicht materiell, und ihr Wirkungsraum erstreckt sich über die Seelen, d.h. die Geister der Menschen. Die Weisheit ist so einerseits verschieden vom Menschen, wird aber andererseits gleichzeitig nicht mit Gott identifiziert. Ohne etwas von Gottes Transzendenz preiszugeben, kann der Verfasser eine Aussage über die Immanenz der Weisheit, einer sittlichen und geistigen Wirklichkeit im Menschen, machen, indem er sich erneut stoischer Begrifflichkeit bedient, die er jedoch ihres Pantheismus entkleidet. Viele der hier auf die Weisheit angewendeten Adjektive finden sich in stoischen Schriften als Attribute der menschlichen Seele, die von den Stoikern als ein Mikrokosmos betrachtet wird, in dem die Gottheit gegenwärtig ist.58 Der Mensch

56 Vgl. LARCHER, Sagesse II, 491–493; SCARPAT, Sapienza II, 126–128. 57 Das Gedicht des KLEANTHES von Assos über das Gute wird von Clemens von Alexandrien überliefert (Protr. VI, 72; vgl. SVF I, 127 frg. 557). Es besteht aus einer Reihe von 29 Attributen, die in neun Zeilen geschrieben sind. Außer in SVF I, 126f. frg. 557 findet sich der ganze Text mit einer knappen Kommentierung bei SCARPAT, Sapienza II, 112– 113; eine deutsche Übersetzung des Textes bei M. POHLENZ, „Stoa und Stoiker“, Zürich: Artemis 1950, I 116. Vgl. auch DES PLACES, „Epithètes et attributes“, passim. Aber die Ähnlichkeit betrifft nur die literarische Form, nicht die einzelnen Attribute. 58 Texte s. bei SCARPAT, Sapienza II, 67–68.

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trägt also Gott in sich, oder besser, er selbst ist ein Gott. Nach der stoischen Vorstellung kann der Mensch vollkommen (τέλειος) sein. Die Seele besitzt die gleichen Eigenschaften wie die Gottheit, ihr können die gleichen Attribute beigelegt werden. Nach dem Verfasser ist dies nur möglich durch die Weisheit, die eine von Gott zu erbittende Gabe bleibt, ohne die es jedoch unmöglich ist, vollkommen zu sein (vgl. Weish 9,4). Nach der aristotelischen Vorstellung kann der Mensch zu unsterblichen Dingen gelangen, da es in ihm die Vernunft gibt, die göttlich ist: „Man soll nicht auf die hören, die dem Menschen raten, da er ein Mensch sei, sein Denken auf Menschliches zu beschränken, und da er sterblich sei, auf Sterbliches; vielmehr soll der Mensch so weit wie möglich sich mit Unsterblichem beschäftigen (ἀθανατίζειν) und alles dafür tun, dem vornehmsten Teil in ihm entsprechend zu leben“ (Eth. Nicom. 1177b30). Was nach der stoisch-aristotelischen Auffassung der menschlichen Seele erreichbar ist, ist es auch nach der Meinung des Verfassers – aber als Gabe der Weisheit. Der kulturelle Hintergrund dieser 21 Attribute ist jedoch sicher noch viel umfangreicher;59 James M. REESE denkt an Anregungen auch aus dem Isiskult, wenigstens für vier Adjektive, die sich auch in einigen Isis-Aretalogien finden. Es handelt sich um ἅγιος, σαφής, τρανός, εὐεργετικός.60 Die Aretalogien, die die „vielnamige“ (πολυώνυμος) Isis preisen, könnten, über einige lexikalische Übereinstimmungen hinaus, die Beschreibung der Weisheit durch den Verfasser beeinflusst haben.61 Die ersten beiden Attribute, mit denen der Verfasser den Geist der Weisheit beschreibt, sind für seine Vorgehensweise bezeichnend: Der Geist ist vor allem „vernunftvoll“ (νοερόν) in reinster stoischer Terminologie, aber er ist auch der „heilige Geist“ Gottes, von dem die Bibel Israels spricht. Geht man die Liste der Attribute aufmerksam durch, dann erscheint die Weisheit als etwas Nichtmaterielles und nicht mit der Schöpfung identifizierbar, aber gleichzeitig doch von Gott unterschieden, als etwas, dessen Wirksamkeit der nichtmateriellen Ordnung zugehört; die Weisheit wirkt in wohltuender Weise sowohl gegenüber der Welt als auch gegenüber dem Menschen. So kann die unter dem Einfluss des Stoizismus dem Geist angenäherte Weisheit, obwohl sie absolut transzendent bleibt, als in der Welt und im Menschen gegenwärtig und wirksam beschrieben werden, ohne jedoch die für die Stoiker bezeichnenden pantheistischen Züge zu erhalten. Alle Eigenschaften, die der Stoizismus dem Geist beilegt, der die Welt beseelt und der dem Menschen ermöglicht, selbst ein „Gott“ zu sein, schreibt der Verfasser der Weisheit zu. Die Nähe zu Gott, die für die Stoiker naturhaft jeder menschlichen Seele zukommt, ist auch nach dem Verfasser erreichbar, jedoch nur als durch die Weisheit vermittelte Gabe Gottes. Während der Einfluss der biblischen Theologie über den „Geist Gottes“ den Verfasser dazu führt, die Wirksamkeit des Geistes der Weisheit hervorzuheben, veranlasst ihn der Einfluss des Stoizismus dazu, vielleicht allzu gewagt, im Geist der Weisheit ein Zeichen der Gegenwart Gottes in allen Wesen zu sehen (vgl. 7,23d-e).

59 Vgl. eine ausführliche Übersicht in WINSTON, Wisdom, 178–180. 60 Vgl. REESE, Hellenistic Influence, 46. 61 Vgl. ENGEL, Das Buch der Weisheit, 132–134.

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Weish 7,22b-8,1

7,24 Mit dem Verb χωρέω „durchdringen“ (vgl. 7,22d) ist in 7,24b das Verb *διήκω

7,25–26: Die Bedeutung der fünf Metaphern

verbunden. Auch dieses ist ein Fachausdruck der stoischen Philosophie: ἡνῶσθαι … τὴν σύμπασαν οὐσίαν πνεύματός τινος διὰ πάσης αὐτῆς διήκοντος ὑφ’ οὗ συνέχεται … „alles, was ist, werde dadurch geeint, dass ein Geist, durch den es zusammengehalten wird, es durchdringt“ (SVF II, 154 frg. 473). Die Bedeutung von διήκω ist also „hindurchgehen, durchdringen“; das Verb wird für die stoische Vorstellung von der κρᾶσις „Mischung“ verwendet. In Bezug auf Gott nähmen die Stoiker nach SVF II, 305 frg. 1021 an: τὸ μέρος αὐτοῦ τὸ διῆκον διά πάντων; er sei ein die ganze Welt durchdringender Geist (πνεῦμα διῆκον δι’ ὅλου τοῦ κόσμου) SVF II, 306 frg. 1027; vgl. auch SVF I, 111 frg. 495 (über die Seele); II,112 frg. 310: Gott sei mit der Materie vermischt und durchdringe sie (μεμῖχθαι τῇ ὕλῃ … τὸν θεὸν διὰ πάσης αὐτῆς διήκοντα). Der stoische Einfluss erscheint in Weish 7,24 tatsächlich sehr markant. Aus seinem Kontext genommen, könnte dieser Text an eine immanente Weisheit denken lassen, nicht sehr verschieden von der stoischen Weltseele. Es ist deutlich, dass der Bezugspunkt der fünf Metaphern62 immer Gott ist: seine Stärke, die Herrlichkeit des Allmächtigen, das ewige Licht, die Wirkkraft Gottes, sein Gutsein. Das Wesen der Weisheit ist dynamisch, und ihr Wirken bezieht den ganzen Kosmos mit ein. Das ist möglich aufgrund ihrer besonderen Beziehung zu Gott. Die Weisheit ist „Hauch, Ausströmung, Widerschein, Spiegel, Bild“ Gottes selbst. Sie ist nicht mit Gott identisch, kommt aber unmittelbar von ihm her, ist ihm geradezu wesensgleich wie der Dampf, der vom Wasser herkommt, oder wie der Strahl, der von einer Lichtquelle ausgeht.63 Die Weisheit scheint nichts anderes zu sein als ein Aspekt des Wesens und Wirkens Gottes, ein Bild seines Gutseins, eine Vermittlerin also zwischen Gott und Menschen. Der Verfasser greift so eine Vorstellung auf, die schon in Spr 8,22–30 vorliegt, und entfaltet sie im Sinne der Anregungen aus dem Stoizismus und dem Platonismus. Der philosophische Hintergrund, insbesondere der Einfluss der stoischen Philosophie (in 7,26 findet sich aber auch, wie gezeigt wurde, der Einfluss des Platonismus)64 dient dem Verfasser dazu, die biblische Tradition über die personifizierte Weisheit in neuer Weise auszudrücken. Außer dem Stoizismus findet sich auch eine polemische Bezugnahme auf die Mysterienkulte. Osiris, Gatte und Bruder der Isis, wird von Plutarch beschrieben wie die Sonne selbst bzw. genauer: „Sie halten die Sonne für den Leib der Gutes [wirkenden] Macht wie das Sichtbare eines geistigen Wesens“ (ἥλιον σῶμα τῆς τἀγαθοῦ δυνάμεως ὡς ὁρατὸν οὐσίας νοητῆς ἡγούμενοι, De Iside et Osiride 51); die Welt selbst ist „Bild“ und „Ausströmung“ (εἰκών; ἀπόρροια) von Osiris her. Im Pap. 62 Vgl. LARCHER, Etudes, 376–388. 63 Die Deutung von SCARPAT, die Weisheit sei im Grunde Gott selbst (vgl. Sapienza II, 74), berücksichtigt nicht die Bedeutung der fünf Metaphern, die eine solche Identifikation gerade vermeiden, auch wenn sie eine sehr enge Beziehung nahelegen. 64 HÜBNER fragt sich, ob in 7,26 „der Umbruch von stoisch beeinflußtem Denken in platonisch beeinflußtes Denken“ festzustellen sei (“Die Sapientia Salomonis und die antike Philosophie“, 72). Auf diese Weise gelinge es dem Verfasser nach HÜBNER, mittels des Platonismus den stoischen Materialismus zu neutralisieren; er zeige damit eine mit Hochachtung zur Kenntnis zu nehmende Verwendung der griechischen Philosophie (vgl. a.a.O. 75).

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Oxyr. XI,1380,109 wird Isis ἀμίαντος „unbefleckt, rein“ genannt wie die Weisheit in 7,25c. Die Isis-Litaneien rücken Isis oft an das Licht heran, dessen Herrin sie ist.65 Die Anspielungen des Textes auf die religiöse Welt Alexandriens beschränken sich nicht auf die erwähnten Stellen. Im Wort ἀπόρροια ist auch der Einfluss der Welt der Astrologie und der Magie nicht zu vernachlässigen. Die 36 Gottheiten, die den 36 Sternkonstellationen vorstanden, nach denen von den ägyptischen Astrologen das Jahr eingeteilt wurde, konnten einen für die Menschen negativen oder positiven Einfluss (ἀπόρροια) ausüben; der Magier beanspruchte, an diesem Einfluss teilzuhaben, an dem „Strahl, dem Ausfluss“ der Gottheit: δός μοι ἐκ τῆς σῆς ἀπορροίας.66 Nach dem Buch der Weisheit kann man nur mittels der Gabe der Weisheit, die durch das Gebet erreichbar ist, in Beziehung zu Gott treten. Die magischen Praktiken helfen dabei nichts. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass einige der hier verwendeten Begriffe auch im NT und in der christlichen Theologie eine Geschichte haben werden: ἀπάγαυσμα und εἰκών finden sich in Hebr 1,3 bzw. 2Kor 3,18; 4,4; Kol 1,15 wieder, angewandt auf die Beziehung zwischen Jesus Christus und dem Vater, wie auch ἀπόρροια; dieser Ausdruck wird seit der frühesten Patristik verwendet, um das Gottsein des Heiligen Geistes zu bezeichnen. Die Kirchenväter haben sich dieser Verse oft in christologischem oder pneumatologischem Sinne bedient.67 Von „Freunden Gottes“ zu sprechen, ist im Alten Testament ungewöhnlich, auch 7,27 wenn in Jes 41,8MT (vgl auch 2Chr 22,7) die Gottesstimme Abraham „meinen Freund“ nennt; in der LXX zum Pentateuch erscheint das Wort φίλος nur in Ex 33,11: „Der Herr sprach zu Mose…wie wenn jemand zu seinem Freund spricht“. Erst später findet sich das Thema des Weisen als Freundes Gottes bei Philon (Her. 21; Prob. 44; Abr. 129) und im Neuen Testament in Jak 2,23.68 In Bezug auf Salomo könnte das Buch der Weisheit von Texten wie 2Sam 12,24 und Neh 13,26 beeinflusst sein, wo die Liebe erwähnt wird, die Gott ihm gegenüber hegte. Die Freundschaft mit Gott erscheint in 7,27c-d nicht als eine menschliche Errungenschaft, sondern als ein von der Weisheit dem Menschen dargebotenes Geschenk (vgl. die Weiterentwicklung dieses Themas im NT in Joh 15,14–15). Vom Königtum Gottes her denkend, könnte der Verfasser auch die Figur der φίλοι βασιλέως im Sinn gehabt haben, der „Freunde des Königs“, die am ptolemäischen Hof die höchsten Ämter innehatten.69 Die Erwähnung von „Propheten“ führt mitten in ein biblisches Thema, das jedoch noch näher zu untersuchen ist. Der Prophet wird hier nicht als ein Charismatiker betrachtet, als eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die Gott zu bestimmten Zeiten der Geschichte Israels erstehen lässt. Denn jeder Weise ist Prophet dank des Geschenks der Weisheit. Das Nebeneinander Prophet-Freund lässt vor allem an die Vertrautheit mit Gott denken, die einen biblischen Propheten wie Mose kennzeichnet. Der Prophet ist insbesondere ein Mann des Wortes: Dies ist der Fall bei jedem Weisen, der dank des Geschenkes der Weisheit, Sprachrohr 65 Vgl. REESE, Hellenistic Influence, 46–47. 66 Vgl. FESTUGIÈRE, „L’idéal“, 296f; SCARPAT, Sapienza II, 72–73. 67 Vgl. LARCHER, Sagesse II, 501.505; SCARPAT, Sapienza II, 71–72; HARL, „A propos d’un passage“; GRANT, „The Book of Wisdom at Alexandria“, 70–82. 68 Für die Entwicklung des Themas in der alten Tradition, besonders in der jüdischen, vgl. WINSTON, Wisdom, 188–189. 69 Vgl. BOFFO, Iscrizioni greche e latine, 93–94.

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Weish 7,22b-8,1

Gottes selbst ist. Es ist schwer festzustellen, ob der Verfasser mit dem Begriff „Prophet“ auch die Kenntnis von Wahrheiten verbindet, die sich den anderen Menschen entziehen, wie es bei Philon geschieht (vgl. Mos. II, 6; Spec. IV, 192), wo der Prophet auch der Deuter der heiligen Gesetze Gottes ist (vgl. Mut. 126: Mose hat von Gott ἑρμηνείαν καὶ προφητείαν νόμων ἱερῶν erhalten). So erklingt in jedem Weisen beständig die Stimme Gottes wie in den Propheten, und in ihm setzt sich in gewisser Weise der Vorgang der Offenbarung fort. Die Feststellung der Überlegenheit der Weisheit gegenüber dem Licht wird 7,28 noch verständlicher, wenn damit auf Preisungen der Isis Bezug genommen wird. Diese trägt in der Isis-Litanei der Oxyrhynchus Papyri den „Namen der Sonne“ (Pap. Oxyr. XI 1380, 112), sie wird als „die Herrin des Lichts und der Flammen“ angerufen: σὺ καὶ φωτὸς καὶ φλεγμάτων κυρία (Pap. Oxyr. XI 1380, 248); in der Isis-Aretalogie von Chios (1. Jh. v. Chr.) wird sie φῶς πᾶσι βροτοῖσι „Licht für alle Sterblichen“ genannt (CIG 3724, 1. 8). Wofür Isis gepriesen wurde, das stellt also die Weisheit in viel höherem Maße dar. Der Verfasser drückt biblische Begriffe in stoischer Sprache aus.70 Das Verb 8,1 διατείνω hat die Bedeutung „sich ausspannen, sich erstrecken“ und ist bezeichnend für stoische Terminologie. Es wird hier begleitet vom Adverb εὐρώστως „kraftvoll“ (in der LXX auch in 2Makk 10,17; 12,27.35), das den Gedanken an Energie und Tätigkeit betont. In der Schöpfung erstreckt sich die Weisheit also von einem Ende der Erde zum anderen (vgl. Ps 18[19MT],5; 47[48MT],11). Das Verb διατείνω findet sich auch bei der Vorstellung der „Mischung“, von der schon die Rede war: εἰς ὅλον, φησί, τὸν κόσμον διατενεῖν τῇ κράσει τὸν σταλαγμόν. Bei der Mischung strecke sich ein Tropfen durch den ganzen Kosmos hin aus, habe Chrysippos über einen ins Meer gegossenen Tropfen Wein gesagt (SVF II, 158 frg. 480); διατείνω wird auch für die Ausstrahlung der πνεύματα in die Glieder und Sinne verwendet (SVF II, 226 frg. 826). Das πνεῦμα kann sich nach der stoischen Vorstellung aufgrund seiner Beweglichkeit durch den ganzen Kosmos hin erstrecken und bleibt dabei doch es selbst; der Kosmos ist demnach ein großer Organismus, der von Gott selbst belebt wird (vgl. die stoische Vorstellung vom τόνος, der Spannung, die den ganzen Kosmos umfasst). Hier findet sich auch ein Echo des platonischen Motivs der Weltseele nach Tim. 34b: ψυχὴν δὲ εἰς τὸ μέσον αὐτοῦ θεὶς διὰ παντός τε ἔτεινεν „… indem er aber in seine (= des Weltkörpers) Mitte die Seele setzte, ließ er diese das Ganze durchdringen“. Der Verfasser verwendet solche Vorstellungen, selbst auf die Gefahr eines gewissen Pantheismus hin, um die Immanenz der Weisheit Gottes herauszustellen. Das Verb διοικέω, das in Weish 8,14 in seiner eigentlichen Bedeutung der Verwaltung einer Stadt vorkommt, wird häufig für das Walten der Vorsehung Gottes in der Welt verwendet, so in Weish 12,18 und 15,1. Die Weisheit ist also nicht nur in der Welt gegenwärtig, sondern übernimmt auch die Rolle, die im Rahmen der stoischen Vorstellungen der Geist (πνεῦμα) innehat (vgl. SVF II, 137 frg. 416: τὸ διῆκον διὰ πάντων πνεῦμα, ὑφ’ οὗ τὰ πάντα συνέχεσθαι καὶ διοικεῖσθαι „der Geist, der alles durchdringt, von dem alles zusammengehalten und verwaltet

70 „Der zentrale Abschnitt 7,22b-8,1 … beginnt mit stoischen Anklängen, bringt dann an wichtiger Stelle den Umbruch ins platonische Denken, um am Ende doch wieder eine Aussage mit stoischer Terminologie zu formulieren“, HÜBNER, Weisheit, 113.

Weish 8,2–9

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wird“) oder auch die Vorsehung Gottes (πρόνοια; vgl. SVF II, 169 frg. 528, 30–31: οἷς ἀκολούθως νομιστέον προνοεῖν τῶν ἀνθρώπων τὸν τὰ ὅλα διοικοῦντα θεόν „Folglich muss man annehmen, dass der das All verwaltende Gott für die Menschen sorgt“. Vgl. noch SVF II, 264 frg. 913; II, 192 frg. 634). Diese Verwaltung des Alls (τὰ πάντα) geschieht χρηστῶς. Das Adverb bedeutet eigentlich „in angemessener Weise“. Die lateinische Übersetzung gibt es mit suaviter wieder;71 wahrscheinlich ist χρηστῶς hier wie sonst in der LXX im Sinne von „mit Güte“ zu verstehen. Philon gebraucht die Wendung χρηστὸς θεός, um vom Wohlwollen und der Güte Gottes zu sprechen (vgl. Leg. III, 73; Det. 46) in einer im griechischen Sprachgebrauch recht seltenen, in der LXX jedoch üblichen Bedeutung, besonders in den Psalmen (Ps 24[25MT],8; 33[34MT],9 u. ö.; vgl. im NT 1Petr 2,3, auch Röm 2,4).72 So verbindet der Verfasser ein typisch stoisches Verb wie διοικέω mit der zutiefst biblischen Vorstellung von der Güte Gottes.73

Weish 8,2–9: Die Weisheit als Braut, Freundin und Ratgeberin 2 Sie habe ich geliebt und gesucht von meiner Jugend an und suchte sie mir als Braut heimzuführen und wurde Liebhaber ihrer Schönheit. 3 Vornehmer Abstammung rühmt sie sich, da sie mit Gott zusammenlebt, und der Gebieter über alles hat zu ihr Liebe gefasst. 4 Eine Eingeweihte nämlich ist sie in das Wissen von Gott und Auswählerin seiner Werke. 5 Wenn aber Reichtum ein begehrenswerter Besitz im Leben ist – was ist reicher als die Weisheit, die alles wirkt? 6 Wenn aber Klugheit (etwas) wirkt – wer von (allem) Seienden ist mehr als sie Werkmeisterin? 7 Und wenn jemand Gerechtigkeit liebt – (die Früchte) ihrer Mühen sind die Tugenden: Mäßigung nämlich und Klugheit lehrt sie, Gerechtigkeit und Tapferkeit; Nützlicheres als diese gibt es nicht im Leben für die Menschen.

71 Dieser Vers wurde in seiner Deutung durch die lateinische Übersetzung in die katholische Liturgie übernommen und ist die erste der sieben O-Antiphonen (17. Dezember), die an den letzten sieben Tagen des Advent gesungen werden: O Sapientia, quae ex ore Altissimi prodisti, attingens a fine usque ad finem, fortiter suaviterque disponens omnia „O Weisheit, hervorgegangen aus dem Munde des Höchsten, die Welt umspannst du von einem Ende zum andern, in Kraft und Milde ordnest du alles: Komm und lehre uns den Weg der Einsicht!“ 72 Vgl. WEISS, Konrad, χρηστός κτλ., ThWNT IX, bes. 474–476. 73 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 183.

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Weish 8,2–9

8 Wenn aber jemand auch Vielerfahrenheit begehrt – sie kennt das Vergangene und errät das Künftige, sie versteht sich auf Gewandtheit beim Reden und auf Auflösungen von Rätselhaftem. Zeichen und Wunder kennt sie im Voraus und was zu bestimmten Zeitpunkten und Zeitabschnitten herauskommen wird. 9 Diese also beschloss ich heimzuführen zum Zusammenleben, wohlwissend, dass sie mir Ratgeberin zu Gutem sein würde und Ermutigung bei Sorgen und Trauer.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 4

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Das Wort *αἱρετίς „Auswählende, Auswählerin“ ein hapax totius graecitatis, hat Kopisten Schwierigkeiten bereitet, wie man an den Varianten in den Übersetzungen (vgl. ZIEGLER) erkennen kann, ebenso wie μύστις im voraufgehenden Kolon 8,4a. Es handelt sich um eine Feminin-Bildung auf –τις, die typisch ist für die hellenistische Zeit: REESE, Hellenistic Influence, 7. SCARPAT, „Un hapax assoluto: αἱρετίς“, meint, dass der Verfasser, der vielleicht selbst dieses Wort geprägt hat, damit die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf etwas Wichtiges richten wollte. In dem Kolon εἰ δὲ φρόνησις ἐργάζεται überrascht das Fehlen eines Objektes zu ἐργάζεται; einige Textzeugen (O-V, Lat, Arm; vgl. ZIEGLER) fügen τι hinzu (vgl. VL: si autem sensus operatur aliquid). Neuere Autoren haben verschiedene Konjekturen vorgeschlagen (vgl. LARCHER, Sagesse II, 525–526; SCARPAT, Sapienza II, 145–146); LARCHER hält im Gefolge von FICHTNER eine Konjektur nach der syrischen Übersetzung für das Beste: εἰ δὲ φρόνησιν εἰς ἔργα ζητεῖ τις „wenn jemand Fertigkeit bei den Werken sucht“; SCARPAT schlägt stattdessen mit BAUERMEISTER vor, den Text so zu verbessern: εἰ δὲ φρόνησιν ἐργάζεται τις „wenn jemand mit Sachverstand arbeitet“; das τις am Ende sei wegen Haplographie ausgefallen. Ohne den Text zu korrigieren, kann man übersetzen: „wenn aber (jemand mit) Klugheit wirkt“. Das zweite Kolon, 8,6b, ist so konstruiert: τίς ἐστιν τῶν ὄντων τεχνῖτις μᾶλλον αὐτῆς: „Wer unter den Existierenden ist Werkmeisterin mehr als sie?“, vgl. SCARPAT, Sapienza II, 147; das Pronomen αὐτῆς bezieht sich ad sensum auf die in 8,5b genannte Weisheit.

Synchrone Analyse 8,2–4: Die Weisheit, Freundin und Ratgeberin „Salomo“ denkt an seine Jugenderfahrungen zurück und erläutert seinen damaligen Entschluss, die Weisheit zur Freundin und Ratgeberin zu wählen (8,2), da sie von edler Herkunft und von Gott geliebt sei (8,3), und auch, da sie wirklich eine Kennerin Gottes selbst und seiner Werke sei (8,4) und als solche sich dem Menschen an die Seite stellen könne, um ihn zu Gott zu führen. Ταύτην ἐφίλησα: Das Pronomen „diese“ in emphatischer Voranstellung meint 8,2 die Weisheit. Die Aoriste (ἐφίλησα, ἐξεζήτησα, ἐγενόμην) haben ingressive Bedeutung: Ich habe damals begonnen, ihr Freund zu sein, die Weisheit von Jugend an, einer Zeit, in der man normalerweise nicht an die Weisheit denkt, zu suchen. Der

Synchrone Analyse

233

Verfasser spielt auf die Erzählung vom jungen Salomo in 1Kön 3 an, auf die der Sprecher von Weish 7–8, „Salomo“, hier zurückschaut. Das zweite Kolon von 8,2 spielt mit dem Ausdruck νύμφην ἀγαγέσθαι auf den Brauch an, die Braut in das Haus des künftigen Gatten zu führen; dies geschah manchmal durch den Bräutigam selbst (vgl. Od. 14,211; Aristophanes, Plutos 529; u. ö.). Das Bild erscheint zunächst als in den Zusammenhang mit einer Hochzeit gehörend. Salomo hat gesucht (ἐζήτησα), die Weisheit als Braut zu gewinnen. Das eigentlich überflüssige Pronomen ἐμαυτῷ „für mich“ am Ende von 8,2b betont die Zugehörigkeit. Das Verb ζητέω hebt den Aspekt des Suchens, der bereits im vorangehenden Kolon enthalten war, nochmals hervor: Die Weisheit muss mit Leidenschaft und Ausdauer gesucht werden. Das Bild der Weisheit als Braut lag schon in Sir 14,20 – 15,6 (vgl. insbesondere 15,2) vor. Das Wort νύμφη lässt auch die Welt der Nymphen, der Töchter des Zeus, Gefährtinnen der Götter, Personifikationen der Naturkräfte, anklingen, die oft mit den Musen verwechselt werden und um deren Gunst die Menschen werben. Der Tempel der Nymphen befand sich nahe der Akademie, um die Menschen daran zu erinnern, dass die Quelle ihres Wissens und aller ihrer Kunst die menschlichen Kräfte überragt. Hier übernimmt die Weisheit, als einzige dem einzigen Gott gegenüber, polemisch die Rolle der Nymphen als Mystagogin in die Geheimnisse Gottes und als Ratgeberin des Menschen. Das dritte Kolon von 8,2 fügt einen neuen Aspekt hinzu: Ich bin ein Liebhaber (ἐραστής) ihrer Schönheit geworden. 8,3 enthält die Begründungen, weshalb „Salomo“ sich in die Weisheit verliebt 8,3 hat: Bei einer Braut wird eine edle Herkunft erwartet, die εὐγένεια. Im Unterschied zur griechischen Welt (s. dazu unten) stellt die εὐγένεια etwas Wichtiges dar, denn die Weisheit hat ihren Ursprung in Gott. Daher kann der Sprecher sagen, die Weisheit rühme sich ihrer edlen Abstammung (εὐγένειαν δοξάζει: ein Possessivpronomen ist mitgedacht). Versteht man dagegen εὐγένεια in allgemeinem Sinne, kann man auch übersetzen „sie preist eine vornehme Herkunft hoch“. Der Grund für diese ungewöhnliche Einstellung der Weisheit ist ihre intime Nähe zu Gott: συμβίωσιν θεοῦ ἔχουσα; συμβίωσις (vgl. auch 8,9a und 8,16c) bezeichnet das „Zusammenleben“, auch in einer Ehe. Das Wort kommt in der LXX nur an diesen drei Stellen des Buches der Weisheit vor. Die Weisheit wird also vorgestellt wie eine „Braut“ oder Gattin Gottes selbst. Aber die Metaphern in 7,25– 26 vermeiden die Gefahr zu denken, die Weisheit könne verstanden werden wie eine Art weiblicher Gottheit an der Seite Gottes. Es ist jedoch anzumerken, dass συμβίωσις auch andere Formen des Zusammenlebens bezeichnet, nicht nur dasjenige in einer Ehe. Bei Philon (Flacc. 158) wird einer, der mit einem Mächtigen zusammenlebt, συμβιωτής genannt. Die Weisheit erscheint also nicht nur als Braut, sondern auch als Freundin.74 Die Weisheit ist innig mit Gott verbunden. Der „Gebieter“ über das ganze Universum (ὁ πάντων δεσπότης; vgl. Weish 6,7; 13,3.9) hat Liebe zu ihr gefasst (zu 74 Vgl. LEPROUX, Un discours de sagesse, 266–268. LEPROUX (269–274) gibt eine Übersicht über die Idee der Freundschaft in der hellenistischen Welt. Innerhalb dieser stelle die Freundschaft in einer Ehe den Gipfel dar. Darum verneint das Verständnis der Weisheit als „Braut“ nicht die Vorstellung von ihr als „Freundin“, sondern setzt sie vielmehr voraus.

234

Weish 8,2–9

ἀγαπάω vgl. Weish 1,1a und oben zu 7,28). In dieser Weise fällt das universelle Wirken Gottes mit seiner Liebe zur Weisheit zusammen, einer Liebe, die, da sie mit ἀγαπάω beschrieben wird, hier eher eine eheliche (oder Eltern-Kind-)Liebe ist als eine der Freundschaft (vgl. demgegenüber φιλέω in 8,2a). Wenn die Weisheit Freundin und Ratgeberin des Menschen ist, dann deshalb, weil sie von Gott selbst geliebt wird. Die Partikel γάρ verbindet 8,4 mit dem vorhergehenden Vers. So gibt 8,4 die 8,4 Begründung an, weshalb die Weisheit so eng mit Gott verbunden ist. Vor allem ist sie eingeweiht (μύστις) in das Wissen (ἐπιστήμη) von Gott. „Wissen von Gott“ ist eine weitere Wendung, die sonst in der LXX nicht vorkommt. Mit ἐπιστήμη ist im griechischen Sprachgebrauch ein festes und sicheres Wissen gemeint, geradezu eine „Wissenschaft“. Der Genitiv θεοῦ kann hier als genitivus subjectivus verstanden werden als das Wissen, das Gott besitzt, seine Kenntnis der ganzen Schöpfung.75 Die Weisheit hat demnach als Eingeweihte in dieses göttliche Wissen daran teil und kann es den Menschen mitteilen. Im Blick auf die Verwendung des Themas der ἐπιστήμη θεοῦ bei Philon in Spec. I, 345 ist es auch möglich, θεοῦ als genitivus objectivus zu verstehen, d.h. als Wissen von Gott, das der Mensch haben kann.76 So verstanden sagt der Text, die Weisheit allein gestatte es, Gott in sicherer Weise zu erkennen; sie ist also, in theologischer Ausdrucksweise, ein Mittel der Offenbarung. In der Übersetzung sind beide Verstehensmöglichkeiten offen gelassen. Die Weisheit ist es sodann, welche die Werke Gottes „auswählt“ (αἱρετίς). Dieses sehr seltene Wort kann sich auf die Weisheit beziehen, die beschrieben wird als Ratgeberin Gottes bei seinem Schöpfungswerk,77 oder aber auf die Weisheit als diejenige, die den Menschen bei seinen Entscheidungen leitet. Besser denkt man an den αἱρῶν λόγος der Stoiker, d.h. an die „auswählende Vernunft“, einen auch Philon bekannten Begriff.78 Der Bezug auf die „Werke“ Gottes wird gleich danach in 8,5 durch ἐργάζεται wieder aufgegriffen, das sich jedoch auf das Wirken der Weisheit bezieht. Die Weisheit ist demnach imstande, die Werke Gottes auszuwählen, unterscheidend zu sichten und zu werten, und berät so den Menschen, was er tun soll, um Gott zu gehorchen und das Böse zu meiden. Sie wird erneut als Ratgeberin des Menschen dargestellt, hier auf der Ebene des sittlichen Handelns. Während also 8,4a über das Wissen von Gott spricht, das die Weisheit, die in dieses Wissen „eingeweiht“ (μύστις) ist, dem Menschen vermittelt, führt 8,4b auf die Ebene des sittlichen Handelns, zu dem ebenfalls die Weisheit mit ihrer Unterscheidungsfähigkeit (αἱρετίς) anleitet.

75 So schon GRIMM, Weisheit, 168–169; vgl. auch GILBERT, „La connaissance de Dieu“, 318– 319. 76 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 137–138. 77 WINSTON urteilt geradezu: „Our author is saying in effect that wisdom is essentially synonymous with the Divine Mind, and this represents the creative agent of the Deity. The similarity of this conception with Philo’s logos doctrine is unmistakable“ (Wisdom, 196). Gegenüber WINSTON ist jedoch festzuhalten, dass der Verfasser die Weisheit jedenfalls von Gott unterscheidet. 78 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 140–144.

Synchrone Analyse

235

8,5–8: Die Weisheit übertrifft jedes Gut In 8,5–8 reiht der Verfasser vier Konditionalkonstruktionen in vierzehn Kola, in denen er darlegt, dass die Weisheit dem Reichtum, der Klugheit, der Gerechtigkeit und jeder Art von Tugend, Wissen und Erfahrung überlegen ist. Zugleich aber schenkt sie all dies demjenigen, der sie zur Lebensgefährtin wählt (8,9 greift 8,2 wieder auf). Der erste Wert, mit dem die Weisheit verglichen wird, ist der Reichtum (πλοῦτος); dieses Thema wurde schon in 7,8–9.11 angesprochen. 8,5a drückt eine aus der Erfahrung gewachsene Feststellung aus: „Wenn aber (εἰ δέ) der Reichtum im Leben (ἐν βίῳ, d.h. während der konkreten irdischen Existenz) ein begehrenswerter Besitz ist (ἐπιθυμητὸν κτῆμα), …“; der Reichtum kann auch ein Gut sein, aber nur die Weisheit ist ein absolutes Gut. Es folgt eine rhetorische Frage: „Was gibt es Reicheres als die Weisheit?“ Die Weisheit wird „die alles wirkt“ genannt (τῆς τὰ πάντα ἐργαζομένης): Mit τὰ πάντα ist die gesamte Schöpfung gemeint (vgl. 8,1b); ἐργάζομαι bezeichnet eine Form der Tätigkeit der Weisheit gegenüber der Schöpfung, die jedoch nicht näher angegeben, sondern in der in Weish 7,27 und 8,1 beschriebenen Weise gesehen wird. Die Gegenüberstellung zum Reichtum ist aufschlussreich: Der Reiche meint, in der Welt handeln zu können, bemerkt aber nicht, dass allein die Weisheit in allem wirksam handeln kann. 8,6 nimmt dieses Thema auf. Das erste Kolon von 8,6 ist nicht ganz klar (s.o. Anmerkung zum Text): „Wenn aber Klugheit etwas wirkt“. Die φρόνησις (vgl. den Kommentar zu 7,16) ist die Tugend praktischer Lebensklugheit mit der Fähigkeit zur Unterscheidung und zum Handeln. Man könnte denken, dass ein Mensch, der diese Tugend besitzt, die ἔργα der Weisheit, auf die 8,5b Bezug nimmt, nachahmen kann. Aber 8,6b hebt die Überlegenheit des Wirkens der Weisheit selbst hervor. Der Text will also nahelegen, dass die von Gott kommende Weisheit dennoch immer der menschlichen Weisheit bedarf; es ergibt sich demnach ein Zusammenwirken von Gott und Mensch. Mit τεχνῖτις kehrt ein Ausdruck aus 7,22 wieder: „Werkmeisterin, Handwerkerin, Künstlerin“ wieder. Die Weisheit ist Gestalterin des Geschaffenen, verantwortlich für die Harmonie der Schöpfung. Der dritte Konditionalsatz stellt die Weisheit den vier Tugenden gegenüber, die in der christlichen Theologie später die „Kardinaltugenden“ genannt werden: Gerechtigkeit, Mäßigung, Klugheit und Tapferkeit. Es ist das einzige Mal in der Bibel, dass diese Tugenden zusammen genannt werden. Die Betonung liegt allem voran auf der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη in 8,7a); wenn jemand sie liebt, soll er wissen, dass ihre Mühen (οἱ πόνοι ταύτης), d.h. die Ergebnisse der Bemühungen der Weisheit, gerade in den Tugenden (ἀρεταί) bestehen. Da die Gerechtigkeit in 8,7d nochmals zusammen mit den drei anderen Kardinaltugenden aufgeführt wird, ist anzunehmen, dass die Nennung in 8,7a nicht im gleichen Sinne, d.h. als eine der vier Kardinaltugenden, zu verstehen ist. In 8,7a erscheint die Gerechtigkeit eher in der gleichen Bedeutung, in der sie ganz am Anfang des Buches (1,1a) genannt wurde: ἀγαπήσατε δικαιοσύνην, d.h. die Gerechtigkeit des Menschen gegenüber seinem Mitmenschen, aber auch und vor allem die Gerechtigkeit Gottes, die von ihm her kommt (vgl. 1,15).

8,5

8,6

8,7: Weisheit und Tugend

236

Weish 8,2–9

Die Weisheit ist Lehrerin (ἐκδιδάσκει) der Tugenden (ἀρεταί). Während φρόνησις (s.o.) und δικαιοσύνη, die hier sicherlich als die menschliche Tugend der Gerechtigkeit gemeint ist, dem Verständnis keine Schwierigkeit bieten, lässt sich bei den anderen zwei Tugenden, die nur hier im Buch erwähnt werden, nicht genauer bestimmen, was der Verfasser mit ihnen ausdrücken will. Die σωφροσύνη kann wie bei Philon (Virt. 13–14) als die Tugend der Mäßigung verstanden werden, die die Beherrschung der Leidenschaften ermöglicht (vgl. auch Arist. 237). Die ἀνδρεία ist demgegenüber die Tugend der Tapferkeit und der Beherztheit; sie erscheint in der LXX erst in den Spätschriften, vgl. 4Makk 1,6.18 in Verbindung mit σωφροσύνη und δικαιοσύνη. Der vierte Konditionalsatz zählt weitere Eigenschaften der Weisheit auf: Wenn 8,8: Eine vielseitige Erfah- jemand eine vielseitige Erfahrung (πολυπειρία) wünscht (ποθεῖ), findet er sie sirung cher bei der Weisheit, vgl. Sir 25,6, die einzige andere Stelle in der LXX, an der πολυπειρία vorkommt. Der Ausdruck bezeichnet, wie auch im klassischen Griechisch, ein durch Erfahrung erlangtes Wissen. Das bedeutet, dass die Weisheit imstande ist, dem, der sie besitzt, ein Wissen mitzuteilen, das nicht nur aus Studium und Lehre stammt. Das Bild der Weisheit als Braut ist auch hier weitergeführt zu dem der Weisheit als Ratgeberin (vgl. 8,9b) und Begleiterin im Leben. Eine solche Erfahrung, die die Weisheit besitzt, gestattet die Kenntnis der Vergangenheit wie auch der Zukunft, denn die Weisheit οἶδεν τὰ ἀρχαῖα; der Verfasser führt dies nicht weiter aus, er sagt nur ganz allgemein, die Weisheit besitze Kenntnis des Vergangenen. Dazu noch τὰ μέλλοντα εἰκάζει; τὰ μέλλοντα (vgl. Weish 19,1b) bezeichnet das, was künftig geschieht. Das Verb εἰκάζω „vermuten, erraten“ (vgl. Jer 26[46MT],23) setzt nicht ein geringerwertiges als das auf theoretischem Wege erworbene Wissen voraus, gemeint ist vielmehr, dass die Weisheit auf der Grundlage ihrer Kenntnis des Vergangenen Folgerungen für Künftiges aufstellen kann. Dabei handelt es sich nicht um ein durch Studium oder durch Offenbarung erlangtes, sondern gerade um ein durch Erfahrung erworbenes Wissen. Hier kann sich der Verfasser auf Überlegungen stoischer Herkunft stützen.79 Die Weisheit kennt außerdem die Feinheiten der Rede (στροφὰς λόγων; vgl. Spr 1,3) und versteht sich auf die Lösungen von Rätseln (λύσεις αἰνιγμάτων); der Verfasser weist hier sicherlich auf die weisheitliche Betätigung Salomos hin (vgl. 2Chr 9,1). Es handelt sich hier um eine Anspielung auf das Gebiet der Redekunst und der Bildung. Wenn die Weisheit „Meisterin“ (τεχνῖτις) ist, dann gerade in den Feinheiten der Rede, und sie ist imstande, jedes Rätsel zu lösen. Es ist nicht nötig, λόγοι im Sinne von „Orakeln“ oder mysteriösen Worten zu verstehen, die einer weiteren Aufdeckung bedürfen. Die αἰνίγματα „Rätsel“ stellen eine in der Weisheitsüberlieferung bekannte literarische Form dar (die ‫)חידות‬, vgl. 1Kön 10,1; 2Chr 9,1 über den Besuch der Königin von Saba bei Salomo; vgl. außerdem Spr 1,680 und Sir 39,2–3. Der Verfasser mag dabei auch an in der griechischen Welt wohlbekannte Motive gedacht haben, z.B. das berühmte Rätsel der Sphinx.

79 Siehe die ausführlichere Erläuterung bei LARCHER, Sagesse II, 531. 80 Cgl. FOX, Proverbs 1–9, 65–67; vielleicht bezieht sich ‫ חידות‬mehr auf den Akt der Interpretation des Textes (der in diesem Sinne als ein „Rätsel“ betrachtet werden kann) als auf den Text selbst.

Diachrone Analyse

237

Das Verb *προγινώσκω (sonst in der LXX nur noch in Weish 6,13; 18,6) bezeichnet ein Vorauswissen aufgrund von Vorzeichen, seien es Prognosen von Ärzten oder solche von Astrologen. Das Verb hat hier σημεῖα καὶ τέρατα „Zeichen und Wunder“ als Objekte, eine im Exoduszusammenhang sehr häufige Wendung (vgl. Ex 7,3 u. ö.; in einem anderen Kontext in Weish 10,16). Die Weisheit nimmt also am Wissen Gottes teil, sie kennt im Voraus die Zeichen, die Gott selbst in der Geschichte wirkt. Diese Deutung wird durch das folgende Kolon 8,8e gestützt: Die Weisheit kennt im Voraus, was zu bestimmten Zeitpunkten und innerhalb bestimmter Fristen „herauskommt“. Das Wort ἔκβασις bezeichnet an sich das „Endergebnis“. Die Kola 8,8d-e dürften durch Dan 4,37LXX angeregt sein, wo im Anschluss an σημεῖα καὶ τέρατα auch die Lexeme καιρ- καὶ χρον- vorkommen. Die Weisheit kennt die Rhythmen des Kosmos und weiß daher, wann der rechte Augenblick zum Handeln kommt (vgl. Koh 3,1–8). Wenn man den ganzen Vers 8,8 nochmals liest, bleibt der Eindruck, dass die Weisheit dem Menschen jene Kenntnis der Zeiten und der geschaffenen Welt bietet, die oft in den Offenbarungen apokalyptischen Charakters gesucht wurde (z.B. in der Henoch-Überlieferung). Demgegenüber kennt die Weisheit aufgrund ihrer vielseitigen Erfahrung (8,8a) das Vergangene und errät das Künftige (8,8b), weiß jede Form von Rätsel zu lösen (8,8c) und die Zeichen der Geschichte (8,8d) und der Schöpfung (8,8e) zu lesen. Wer die Weisheit besitzt, benötigt keine anderen Formen der Offenbarung (s. dazu schon oben zu Weish 7,17–20). Hier wird die Schlussfolgerung Salomos bezüglich der Weisheit ausgedrückt: 8,9 „Deshalb beschloss ich…“ (ἔκρινα τοίνυν). Die folgenden Wörter ταύτην ἀγαγέσθαι verweisen zurück auf 8,2, hier allerdings mit πρὸς συμβίωσιν als adverbieller Bestimmung. Auch das Wort συμβίωσις war schon in 8,3a vorgekommen zur Bezeichnung eines nicht notwendigerweise ehelichen Zusammenlebens. Denn die Weisheit wird für Salomo σύμβουλος ἀγαθῶν „Ratgeberin zu guten Dingen“ sein. Das Wort σύμβουλος wird in der LXX mehrfach verwendet (vgl. z.B. 2Chr 22,3; 2Makk 7,25; s. u. zu Weish 16,6b); hier folgt ihm ein genitivus objectivus. Neben Erteilung von gutem Rat wird die Weisheit für Salomo auch *παραίνεσις Die Weisheit als Ratgeberin „Ermunterung, Ermahnung“ sein.

Diachrone Analyse Das Verb φιλέω (vgl. φιλία in 7,14; 8,18 und φίλος in 7,27) kommt nur hier im 8,2 Buch der Weisheit vor und ist in der LXX selten. Der Verfasser kann es Spr 8,17 entnommen haben, wo der griechische Übersetzer das hebräische ‫ אהב‬zuerst mit ἀγαπάω und danach mit φιλέω wiedergibt; φιλέω „lieben“ steht dort parallel zu ζητέω „suchen“. In Weish 8,2 scheint φιλέω bewusst an Stelle von ἀγαπάω gewählt worden zu sein: Dieses letztgenannte Verb wird in der LXX bevorzugt und nicht selten für die Beziehung Gottes zum Menschen verwendet (Dtn 7,8.9.13); es bedeutet eine freie Beziehung zwischen zwei Personen in verschiedener Position (z.B. Gatte und Gattin), während φιλέω die Liebe zwischen Freunden bezeichnet und eine Spannung auf das Objekt der Liebe hin beinhaltet.81 Diese dem Verb φιλέω

81 Vgl. SPICQ, Agapè, 12–70.

238

Weish 8,2–9

eigene „Freundschafts“dimension legt es nahe, den Braut-Aspekt der Weisheit nicht überzubetonen. Das Verb ἐκζητέω „suchen“ mit der Weisheit als Objekt begegnet in der LXX auch in Koh 1,13; Sir 24,34; 39,1.3; 51,14.21, lauter Texte, die der Verfasser im Sinn gehabt haben kann, insbesondere Sir 51,14–15: ἐκζητήσω αὐτήν … ἐκ νεότητός μου ἴχνευον αὐτήν „ich werde sie suchen… seit meiner Jugend spürte ich ihr nach“; zum Vergleich von Sir 51,15 εὐφράνθη ἡ καρδία μου ἐν αὐτῇ mit Weish 7,12 s.o. den Kommentar. Wie die Weisen den jungen Mann über das Erfordernis belehren, sich eine gute Gattin zu suchen (vgl. Sir 25–26), so belehren sie ihn auch über die Wichtigkeit, die Weisheit „als Braut heimzuführen“. Zur Bedeutung von ἐραστής in 8,2c ist festzustellen, dass die erotische Dimension der Liebe weder für die jüdische noch für die griechische Ehe in herausragender Weise charakteristisch ist. In der Ehe spielen die Kinder und die Sorge um das Wohlergehen der Familie die Hauptrolle. Meistens hat ἐραστής in der LXX einen abwertenden Sinn, vgl. Hos 2,9.12.14.15; Ez 16,33.36.37; 23,5.9.22. Weish 15,6 könnte eine Art polemisches flashback auf 8,2c darstellen.82 In 8,2c jedoch ist die Bedeutung von ἐραστής positiv (vgl. demgegenüber Sir 9,8: „… aufgrund der Schönheit einer Frau gingen viele in die Irre“), ebenso wie bei Philon, der ἐραστής in Bezug auf die σοφία oder die φρόνησις verwendet (vgl. Migr. 101; Her. 100; Mut. 37); dieser Sprachgebrauch könnte an Platon erinnern (vgl. ἐπιστήμης ἐραστής in Tim. 46d). Die Aufmerksamkeit auf die Schönheit (ἐραστὴς τοῦ κάλλους αὐτῆς) ist typisch griechisch und hat auch einen platonischen Unterton, wenn auch der Einfluss des Hohen Liedes nicht ganz ausgeschlossen werden kann.83 8,3 Das Substantiv εὐγένεια ist in der LXX selten (nur noch 2Makk 14,42; 4Makk 8,4; viel häufiger kommt das Adjektiv εὐγενής vor). Die vornehme Herkunft zusammen mit Schönheit und Reichtum bezeichneten die Stoiker als ein ἀδιάφορον „gleichgültig, unbedeutend“ gegenüber dem Wert, den die Tugend darstellt (vgl. z.B. SVF III, 261 frg. 14). Das Femininum *μύστις ist eine äußerst seltene Form des häufigeren Wortes 8,4 μύστης „Eingeweihter“, ein typischer Begriff in der Sprache der Mysterienkulte (vgl. die Isis-Aretalogie in den Oxyrhinchos-Papyri Oxyr. XI, 1380, 111, wo Isis μύστης genannt wird). Nach Philon ist Mose der wahrhaft in die Mysterien Gottes Eingeweihte, vgl. Gig. 54 (μύστης … καὶ ἱεροφάντης). Die Weisheit ist die wahre „Eingeweihte“ in die „Mysterien“ Gottes (vgl. Weish 2,22), die tatsächlich nicht allen zugänglich sind (vgl. Weish 6,22), gerade weil sie dem Menschen durch die Weisheit erschlossen werden. Nur die Weisheit – nicht einmal Mose, wie Philon meint – kennt die Geheimnisse Gottes. Es gibt also keinerlei Mysterien-Ritus, der den Menschen in die Gotteserkenntnis einführen könnte. Die Erwähnung der φρόνησις in 8,6 könnte eine polemische Aufnahme eines 8,6 Isis-Attributs darstellen. Denn in der Isislitanei von Oxyrhinchos (Oxyr. XI, 1380, 34.40.60.124) wird die φρόνησις als ein Titel der Isis verwendet.

82 Vgl. GILBERT, La critique des dieux, 194. 83 GILBERT (“La figure de Salomon“, 153–156) zeigt, dass es unbegründet ist anzunehmen, das Buch der Weisheit könnte hier das Hohelied allegorisch verstehen. Die Beziehung zum Hohenlied ist beschränkt auf einige Echos der Texte über die Schönheit der Geliebten.

Diachrone Analyse

239

Auch in 8,6, vielleicht noch mehr als in 7,22a, ist es möglich, dass der Verfasser durch die Verwendung des Wortes τεχνῖτις eine Deutung des rätselhaften Ausdrucks ‫ אמון‬aus Spr 8,30 im Sinne von „Handwerkerin, Künstlerin“ vornimmt; dann wäre Weish 8,6 der älteste Beleg für diese Art der Deutung. In Weish 8,7a ist ein Anklang an platonische Ausdrucksweise möglich: Platon zählt in Resp. 358a die Gerechtigkeit zu den Gütern, die geliebt werden sollen. Hier jedoch ist jemand (τις) vorausgesetzt, der die Gerechtigkeit liebt, die von Gott kommt und die vom Anfang des Buches in 1,1 an mit der Weisheit verbunden ist, und der, gerade wegen deren Verbindung mit Gott zugleich mit der Weisheit alle anderen Tugenden findet. Die Verknüpfung der Gerechtigkeit mit der Weisheit wird hier besonders deutlich durch die Verwendung des emphatischen Pronomens ταύτης anstelle von αὐτῆς: Wenn jemand die Gerechtigkeit liebt, dann sind die Früchte der Mühen der Weisheit (ταύτης) die Tugenden. Die Erwähnung der „Mühen“ (πόνοι) der Weisheit kann eine Anspielung auf den von der weisen Frau erreichten Ertrag ihrer Hände (καρποὶ χειρῶν αὐτῆς, vgl. Spr 31,16.31) darstellen: Die weise Frau könnte vom Verfasser als Bild für die Weisheit oder den Weisen gedeutet worden sein.84 Die vier in Weish 8,7c-d aufgeführten Tugenden sind seit Platon bekannt, sie wurden von Aristoteles genauer dargestellt und durch den Stoizismus verbreitet. Auch Philon war die traditionelle Anordnung vertraut (vgl. Mos. II, 185.216): φρόνησις, σωφροσύνη, δικαιοσύνη, ἀνδρεία.85 Ein Grund für die Änderung der Reihenfolge in Weish 8,7 ist nicht erkennbar. Indem der Verfasser eine Liste der in der griechischen Welt wohlbekannten Tugenden unter den Gaben der Weisheit aufführt, hebt er den hohen sittlichen Wert der biblischen Weisheit hervor: Die wertvollsten Aspekte der zeitgenössischen griechischen Ethik werden nicht nur nicht abgelehnt, sondern ausdrücklich einbezogen.86 Der Verfasser führt diese vier Tugenden wie etwas Feststehendes an und fügt hinzu, es gebe für die Menschen nicht Nützlicheres (χρησιμώτερον) im Leben (8,7e). Bei dieser Feststellung handelt es sich nicht um einen utilitaristischen Gedanken, sondern um die Aufnahme eines stoischen Themas: Die wahren Güter sind die in Bezug auf das letzte Ziel des Menschen nützlichen (vgl. SVF III, 22 frg. 87). Auch im Stoizismus wird die „Mantik“ als ein Wissen (ἐπιστήμη) betrachtet, das „die Zeichen, die die Götter den Menschen geben“ verdeutlicht und erklärt (SVF II, 304 frg. 1018); in Weish 8,8d sind die „Zeichen und Wunder“ (σημεῖα καὶ τέρατα) schlichter als außergewöhnliche Naturphänomene gemeint, die die Weisheit imstande ist vorherzusehen, ohne bedeutungslose Vorgänge mit anderen, die auf die Zukunft verweisen, zu verwechseln. Die Weisheit nimmt also an dem Wissen Gottes teil, das der Psalmist besingt: ἰδοὺ, κύριε, σὺ ἔγνως τὰ ἔσχατα καὶ τὰ ἀρχαῖα (Ps 138,5LXX). Aufgrund seiner Beachtung des rhetorischen Kontextes von Weish 7–8 vermutet Scarpat in παραίνεσις eine Bezugnahme auf den παραινετικὸς λόγος, die „Paränetik“, die in der griechischen Philosophie dem Menschen die rechten Verhaltensweisen an-

84 Vgl. GILBERT, „La donna forte di Pr 31,10–31: ritratto o simbolo?“. 85 Vgl. LARCHER, Sagesse II, 528–529. 86 Anders SCARPAT, Sapienza II, 190, der meint, in dieser Liste gebe es mehr Polemik als Zustimmung.

8,7a-b

8,7c-e

8,8

8,9

240

Weish 8,10–16

rät, indem sie ihn von unnützen Besorgtheiten und vom Schmerz befreit (παραίνεσις φροντίδων καὶ λύπης); in Weish 9,15 wird der νοῦς des Menschen als πολυφροντίς „um vieles besorgt“ beschrieben, wenn er sich vom Leib bestimmen lässt, ohne die Weisheit anzunehmen.87 Deshalb empfiehlt sich also für παραίνεσις eine Übersetzung als „Mahnerin“, die lehrt und empfiehlt, den Menschen „berät“ (s. auch oben den Kommentar zu 8,4b). Nicht ganz ausschließen lässt sich eine polemische Spitze gegen die Isisverehrung: Im Hymnus III des Isidoros (Z. 6) ist Isis diejenige, die den Menschen ὄλβον εὐτυχίην καὶ σωφροσύνην τε ἄλυπον „Wohlstand, Glück und kummerfreie Besonnenheit“ verleiht, die also den Menschen von aller Trauer befreit. In Weish 8,9 wird gerade diese Rolle der Weisheit zuerkannt.

Weish 8,10–16: Erwartungen und Hoffnungen Salomos 10 Ich werde durch sie Ruhm in Versammlungen haben und Ehre bei den Älteren trotz meiner Jugend. 11 Als scharfsinnig werde ich befunden werden beim Rechtsprechen und in der Sicht von Machthabern Staunen erregen. 12 Wenn ich schweige, werden sie warten, und wenn ich etwas verlauten lasse, werden sie mir Aufmerksamkeit zuwenden, und rede ich länger, werden sie die Hand auf ihren Mund legen. 13 Ich werde durch sie Unsterblichkeit haben und ewiges Gedenken bei denen nach mir hinterlassen. 14 Ich werde Völker regieren, und Nationen werden mir untergeordnet sein. 15 Fürchten werden mich, wenn sie (dies) hören, schauderhafte Tyrannen, in der Versammlung werde ich mich als gut erweisen und im Krieg als tapfer. 16 Wenn ich mein Haus betrete, werde ich bei ihr ausruhen, keine Bitterkeit nämlich enthält das Zusammensein mit ihr und keinen Schmerz das Zusammenleben mit ihr, sondern Fröhlichkeit und Freude.

Synchrone Analyse 8,10–12: Die von der Weisheit angebotenen Gaben 8,10 Hier beginnt Salomo zu beschreiben, was er erwartet und sich vom Empfang der

Weisheit erhofft. Die Aufmerksamkeit gilt nochmals den Gaben, die dem Menschen von der Weisheit angeboten werden. Die Verben stehen im Futur, da sie sich ja auf den biblischen Salomo beziehen, der über das nachdenkt, was die Weisheit 87 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 154.

Synchrone Analyse

241

ihm gewähren wird, aber sie lassen sich ebenso auf jeden Menschen anwenden, der sich für sie zu entscheiden beabsichtigt. Die sieben Kola von 8,10–12 bilden den ersten Teil des konzentrisch gebauten Abschnitts (8,10–12.13.14–16). Das Motiv des Ruhms Salomos ist 1Kön 3,13 und 2Chr 1,11–12 entnommen. Es handelt sich nicht um einen rein menschlichen „Ruhm“, sondern um einen Widerschein der Herrlichkeit Gottes, den die Weisheit besitzt (vgl. 7,25).88 Ein solcher Ruhm wird dem Weisen von der Weisheit ἐν ὄχλοις verliehen werden; in Weish 6,2 stand ὄχλος in Parallele zu ἔθνη, und ὄχλοι könnten deshalb die nichtjüdischen Völker bezeichnen; dann wäre an den Ruhm Salomos zu denken, der die Grenzen Israels weit überschreitet. Aber die in 8,10b erfolgende Nennung der „Älteren“ lässt bei ἐν ὄχλοις eher an „Versammlungen“ Israels denken, bei denen Salomo auftritt.89 Das Kolon 8,10b stellt neben den Ruhm die Ehre (τιμή), einen Ausdruck, der mehr den subjektiven Aspekt des Rufes und der Berühmtheit Salomos betont; diese Ehre wird Salomo genießen bei den „Älteren“; die πρεσβύτεροι lassen im biblischen Kontext an die Ältesten denken, die Verantwortlichen des Volkes Israel (vgl. Ex 18,12; 19,7; Dtn 31,28; 1Kön 8,1; 12,6.8). Ihnen steht als Gegensatz gegenüber ὁ νέος „der Junge“; dieses Wort bedeutet im griechischen Sprachgebrauch nicht notwendigerweise ein Kind, sondern kann auch einen jungen Menschen (unterhalb von 30 Lebensjahren) bezeichnen. „Ich werde als scharfsinnig befunden werden beim Rechtsprechen“; zu ὀξύς 8,11 s.o. den Kommentar zu 7,22e. Hier bezeichnet κρίσις nicht nur den Bereich der Rechtsprechung innerhalb eines Gerichtsverfahrens nach dem Brauch orientalischer Monarchen (eine mögliche weitere Anspielung auf die Erzählung in 1Kön 3,16–28), sondern ganz allgemein die urteilende und rechtsprechende Tätigkeit, die der König ständig ausübt. Das Kolon 8,11b erwähnt die Bewunderung (θαυμάζομαι), die Salomo vonseiten der Mächtigen (ἐν ὄψει δυναστῶν) entgegengebracht wird. Unter den δυνάσται sind, wie in Spr 8,3.15, Machthabende im Allgemeinen zu verstehen, z.B. in Bezug auf den biblischen Salomo die nichtisraelitischen Herrscher, die gekommen waren, um die Weisheit Salomos zu hören (1Kön 5,14; 10,1–13); δυνάσται hat hier nicht notwendigerweise eine negative Bedeutung wie in Weish 5,23. Dieser Vers richtet nochmals die Aufmerksamkeit auf die rednerischen Fähig- 8,12 keiten, die die Weisheit verleiht, ein für die zeitgenössische griechische Kultur wichtiger Themenbereich, der jedoch bezeichnenderweise unter Verwendung biblischer Bilder behandelt wird. In 8,12a – wenn der Weise schweigt, warten die Anderen darauf, dass er das Wort nimmt, wenn er redet, verharren sie in Schweigen – wird in freier Weise Ijob 29,9–10.21–24 aufgenommen; zum Schweigen des Weisen vgl. auch Sir 20,7. Das Verb περιμένω „(mit Geduld) warten“ kommt in der LXX nur noch in Gen 49,18 vor (vgl. Apg 1,4); προσέχω „Aufmerksamkeit zuwenden“ ist dagegen viel häufiger, mag aber hier dem zuletzt genannten Text Ijob 29,21 entnommen sein. Wenn dann der Weise noch weiter (ἐπὶ πλεῖον) redet, d.h., wenn seine Rede die übliche Zeit

88 Vgl. RAURELL, „The Religious Meaning“, 378. Raurell vermutet als einen möglichen Hintergrund auch die Isisverehrung. In der Isis-Aretalogie von Kyme lautet Z. 40: „Niemand erlangt Ruhm ohne meinen Willen“. 89 Für diese Deutung s. SCARPAT, Sapienza II, 193.

242

Weish 8,10–16

überzieht, werden die Zuhörer (ihn nicht unterbrechen, sondern) die Hand auf ihren Mund legen, da der Weise, auch wenn er lange Zeit spricht, nie Unnützes sagt.

8,13: Die Gabe der Unsterblichkeit Unsterblichkeit Mit den gleichen Wörtern wie 8,10 beginnt 8,13, das Zentrum des Abschnitts, und

führt so die ἀθανασία als eine weitere Gabe der Weisheit an den König ein;90 zu diesem Begriff s.o. den Kommentar zu 3,4. Die unmittelbar damit verbundene Erwähnung des ewigen Gedenkens (μνήμη αἰώνιος), das der König denen hinterlässt, die nach ihm kommen, lässt vermuten, dass der Verfasser hier die Unsterblichkeit in der Erinnerung und nicht das ewige Leben, von dem Weish 3,4 sprach, im Sinn hat. Aber auch in 4,1–2 war die persönliche Unsterblichkeit mit der Erinnerung verbunden, und in 8,17 ist bei der wiederum genannten ἀθανασία gerade an die persönliche Unsterblichkeit zu denken. 8,13 mit den Themen Unsterblichkeit und ewiges Gedenken kann gelesen werden in Entsprechung zu den Themen Ruhm und Ehre in 8,10 (s. den wortgleichen Beginn beider Verse). 8,16 schließlich (s. dazu unten) hebt das „Zusammenleben“ des Weisen mit der Weisheit hervor; die Unsterblichkeit wird also durch eine enge Nähe zur Weisheit erreicht (vgl. 8,17).

8,14–16: Die Weisheit und die Kunst der guten Regierung 8,14 In 8,14–16 wendet sich die Aufmerksamkeit der Kunst der guten Regierung zu,

einer anderen Gabe, die die Weisheit anbietet. 8,14 benennt die politische Herrschaft Salomos mit einem Verb (διοικέω), das in der LXX außer an den vier Stellen im Buch der Weisheit nur noch in Dan 3,1LXX vorkommt, aber in der Profangräzität üblich ist. Die beiden Wörter λαός und ἔθνη lassen, wenigstens auf den ersten Blick an eine Herrschaft Salomos nicht nur über Israel und Juda, sondern auch über nichtisraelitische Völker denken, vgl. die ἔθνη und λαοί in Weish 3,8. Die beiden Begriffe zusammen verweisen ganz allgemein auf „Völker“ wie in Ps 46[47MT],4 in einem vergleichbaren Kontext. Das Satzsubjekt in 8,15a sind die τύραννοι, die bereits in 6,9.21 genannt wur8,15 den, Herrscher, die ihre absolute und despotische Macht anders ausüben als legitime Könige. Daher werden sie hier beschrieben als φρικτοί „Schauder erregend“; wenn sie die Worte Salomos hören (vgl. 8,12) oder seinen Ruhm vernehmen, werden sie in Furcht geraten (φοβηθήσονται). Auch hier wird Salomo idealisiert; der Verfasser projiziert auf ihn die messianische Hoffnung Israels auf Befreiung von schrecklichen Tyrannen, vielleicht sind sogar die römischen Herrscher gemeint. Der Text bleibt aber, wie auch sonst im Buch der Weisheit, im Allgemeinen. In 8,15b werden ἐν πλήθει und ἐν πολέμῳ einander gegenüber gestellt; πλῆθος kann eine Vielzahl oder Menge bezeichnen (vgl. Weish 14,20) oder, wie in Ex 12,6, die Volksversammlung, so in Sir 7,14.16 (vgl. in der griechischen Welt Euripides, Or. 944). Der König ist „gut“ in der Volksversammlung, d.h., er ist ein tüchtiger 90 Die Unsterblichkeit ist auch eine oft mit der Figur der Isis verbundene Gabe, vgl. Oxyr. XI, 1380, 243: σὺ τὸν μέγαν Ὄσιριν ἀθάνατον ἐποίησας „Du hast den großen Osiris unsterblich gemacht“.

Diachrone Analyse

243

Redner und kann mit seinen Worten das Volk überzeugen. Damit kehrt der Sprecher zurück zum rhetorischen Können, das den Weisen auszeichnet. Im Krieg jedoch zeigt der König sich mutig (ἀνδρεῖος) und erscheint auch dort siegreich (zur Tugend der ἀνδρεία s.o. zu 8,7). Wie schon bemerkt wurde, darf man sich nicht zu sehr auf die Vorstellung 8,16 festlegen, die Weisheit werde in diesem Enkomion vor allem als Braut dargestellt. 8,16 beschreibt sie als Freundin und Ratgeberin. In jedem Falle vermeidet der Verfasser, auf die Überlieferung von Salomo, der von seinen Frauen verführt wurde (1Kön 11,1–8; Sir 47,19–20), und auf die negativen Seiten einer Ehefrau, die so häufig in der biblischen Weisheitsliteratur genannt werden, einzugehen, vielmehr hebt er nur die positiven Aspekte ehelichen Zusammenlebens hervor. Jedes Mal, wenn Salomo sein Heim betritt, ruht er bei ihr, der Weisheit, aus. Die Weisheit Das Verb *προσαναπαύομαι kann das Schlafen bei der eigenen Gattin oder das als Freundin Ausruhen bei einem Freund (vgl. Epiktet, Diatr. 3,13,2) bezeichnen.91 Das Wort συναναστροφή kommt in der LXX nur noch in 3Makk 2,31.33; 3,5 vor, wo es den gesellschaftlichen Umgang miteinander bedeutet. Auch in Weish 8,16 bedeutet es das Zusammensein, den gesellschaftlichen Umgang (Lat: conversatio) mit der Weisheit (vgl. συναναστρέφομαι in Gen 30,8LXX; Sir 41,5; Bar 3,38). Außerdem wird noch das Wort συμβίωσις hinzugefügt, das auf die Vorstellung eines gemeinsamen, nicht notwendigerweise ehelichen Lebens verweist (vgl. 8,3). Mit der Weisheit zusammenzuleben, sie als Braut oder als Freundin und Ratgeberin (oder beides) zu haben, verursacht dem Menschen weder Bitterkeit (πικρία) noch Schmerz (ὀδύνη). Im Gegenteil, wer mit der Weisheit zusammenlebt, erhält als Geschenk εὐφροσύνη καὶ χαρά: Das erste dieser beiden Wörter wurde negativ schon in 2,9 verwendet, es meint die Fröhlichkeit bei Festen und Mählern; diese ist hier jedoch ganz positiv verstanden.

Diachrone Analyse In Weish 8,10b geht der Verfasser von den biblischen Angaben über das jugendli- 8,10 che Alter Salomos bei seiner Thronbesteigung aus (1Kön 3,7; 1Chr 22,5; 29,1); 3Kön [1KönMT] 2,12 spricht konkret von 12 Jahren. Der Verfasser scheint jedoch nicht an ein so niedriges Alter zu denken. Die Geste in 8,12c, sich die Hand auf den Mund zu legen, kann eine Haltung 8,12 des Schweigens bedeuten wie in Spr 30,32MT; Sir 5,12,92 oder aber, und zwar wahrscheinlicher, der Verwunderung (vgl. den Gebrauch des Verbs θαυμάζω in 8,11b) wie in Ijob 21,5MT; 40,4; der Text aber, den der Verfasser im Sinn hatte, war nochmals Ijob 29,9, wo diese Geste, wenn auch etwas anders formuliert, Staunen und Bewunderung vonseiten der Zuhörer ausdrückt. Die Verbindung des Königtums mit der ἀθανασία drückt die Überzeugung aus, 8,13 dass die ἀθανασία die Teilhabe des Weisen am Königtum Gottes bedeutet, die Art, 91 Vgl. LARCHER, Sagesse II, 543–544. 92 GRIMM, Weisheit, z. St., denkt an eine Haltung der Beschämung aufgrund von Ps 106[107MT],42. Vgl. COUROYER, Bernard, „“Mettre sa main sur sa bouche“ en Egypte et dans la Bible“, RB 67 (1960) 197–209.

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Weish 8,10–16

wie der Weise König ist über das ganze Universum entsprechend dem kosmischen Wirken der Weisheit.93 Die Verknüpfung von Ruhm und Unsterblichkeit miteinander ist außerdem griechischem Denken vertraut, wie es seit Platon erkennbar ist (vgl. Symp. 209b; dieser Text könnte auf Weish 8,18 eingewirkt haben, s. u.). Die Verbindung von Geschenk der Weisheit und Kunst der guten Regierung 8,14 ist traditionell (vgl. Spr 8,15); die Gabe der guten Regierung stellt auch ein Thema in der Isis-Verehrung dar.94 Auffällig ist, dass das Buch der Weisheit – im Unterschied zum Aristeasbrief und zu Philon – vermeidet, die Herrschenden als lebendige Abbilder des himmlischen Königs, Gottes, zu beschreiben entsprechend einer typischen Vorstellung in den neupythagoräischen Abhandlungen über das Königtum. Vielmehr leitet sich jede den guten Herrscher kennzeichnende Tugend von einem Geschenk der Weisheit her, die ihrerseits ein Geschenk Gottes ist.95 Denkt der Verfasser in 8,14 an eine Ausweitung der Herrschaft Salomos auf alle Völker der Erde oder an eine Herrschaft im eschatologischen Sinn entsprechend Weish 3,8 (s.o. den Kommentar)? Auch die hier vorausgesetzte Vorstellung, die Völker würden sich ihm unterwerfen (ὑποταγήσεταί μοι), was beim biblischen Salomo nie geschehen ist, überrascht. Man könnte den Text als midraschartige Idealisierung erklären (dafür spräche vor allem das Aufgreifen des Kriegsthemas in 8,15) oder aber, wahrscheinlicher, als eine Wiederaufnahme des biblischen Themas der Gott und seinem Messias unterworfenen nichtisraelitischen Völker (Ps 17[18MT],48; 46[47MT],4); Salomo erhielte damit gewisse messianische Züge, s. u. den Kommentar zu 8,15.96 Denkt man an den stoischen Hintergrund der Königtumsmetapher (s.o. den Kommentar zu 1,1 und 6,1), könnte man auch ein metaphorisches Verständnis annehmen. Der König hat in diesem Abschnitt (s.o. 8,12) charakteristische Züge des Weisen, der nach der stoischen Vorstellung der wahre König ist; diesem Weisen und König wird alles unterworfen sein. Die griechische Tugend der Tapferkeit und das zugehörige Adjektiv ἀνδρεῖος – 8,15 in 8,15 in militärischem Zusammenhang – wird in der LXX-Fassung des Sprichwörterbuchs mehrfach genannt (10,4; 11,16; 13,4; 15,19; 28,3; 31,10). Viele Kommentatoren zitieren als weitere mögliche Quelle der Inspiration zu Weish 8,15b einen Vers Homers über den idealen König: ἀμφότερον, βασιλεύς τ’ ἀγαθός, κρατερὸς τ’ αἰχμητής „ein guter König und kraftvoller Krieger“ (Il. 3,179 über Agamemnon, den Sohn des Atreus).

93 LEPROUX schenkt seiner Feststellung, dass in dem von ihm als ‚Lob des Weisen‘ bezeichneten Text (Weish 7–8) der klassische Topos einer Schilderung des Todes des Weisen selbst fehle, große Beachtung. Dieses Fehlen sei ein Hinweis, der die eschatologische Bedeutung der ἀθανασία bestätige: Anstatt vom Tod des Weisen und Königs spreche das Lob in Weish 7–8 von seiner Unsterblichkeit. (Un discours de sagesse, 283–308). Dabei beachtet LEPROUX jedoch nicht, dass Kap. 7–8 sich innerhalb des Enkomions auf die Weisheit befinden und es der Weise (Salomo) selbst ist, der diesen Text vorträgt, so dass er wohl kaum seinen eigenen Tod beschreiben kann. 94 Vgl. REESE, Hellenistic Influence, 48. 95 Vgl. MOORE, „On Kingship in Philo and the Wisdom of Solomon“, 416–417. 96 LARCHER (Sagesse II, 542) meint: „Il s’agit d’une simple tendance à appliquer à Salomon un motif messianique“.

Weish 8,17–21

245

Bei 8,16b könnte der Verfasser Koh 7,26 im Sinn gehabt haben, wo ‚Salomo‘ ein 8,16 älteres Wort zitiert, die Frau sei bitterer als der Tod (πικρότερον in Koh 7,26LXX ist allerdings eine erst aus dem Anfang des 2. Jh.s nach Chr. stammende Übersetzung); im Gegensatz dazu verursacht das Zusammenleben mit der Weisheit in der Erwartung des Sprechers keinerlei Bitterkeit oder Schmerz. Auch hier könnte ein Anklang an Homer vorliegen: Wenn ‚Salomo‘ mit der Weisheit zusammenlebt, wird er kein πικρόγαμος werden „einer, dem das Heiraten bzw. die Ehe bitter verleidet ist“, wie es den Freiern der Penelope geschah (Od. 1,266; 17,137).97 Der Text von Weish 8,16d mag von Spr 29,6LXX abhängen, wo Ähnliches vom Gerechten gesagt wird: δίκαιος δὲ ἐν χαρᾷ καὶ ἐν εὐφροσύνῃ ἔσται; so gewinnt εὐφροσύνη den Beiklang innerlicher Freude, wie Sir 6,28 sie dem Schüler verspricht, wenn er sich am Ende bei der Lehre und dem Rat des Lehrers, bei der Weisheit, ausruht.98 Das Paar εὐφροσύνη und χαρά kommt in zwei bezeichnenden Texten des Sirachbuches vor: in Sir 1,12, wo εὐφροσύνη und χαρά als Früchte der Furcht des Herrn gesehen werden, und nochmals in Sir 30,16 („Es gibt keine εὐφροσύνη, die besser ist als die χαρά des Herzens.“). Der von diesen beiden Texten geschaffene Hintergrund lässt an eine innerliche Freude denken, auch wenn sie sich äußerlich zeigt, eine Freude also, die sich von derjenigen der Gottlosen in Weish 2 unterscheidet. Freude und Fröhlichkeit sind sodann auch die Wirkungen, die die stoische Philosophie dem Weisen versprach, vgl. SVF III, 106 frg. 434. Es handle sich um eine „vernünftige“ Erhebung (der Seele; εὔλογος ἔπαρσις) als Ergebnis bei dem, der seine Leidenschaften zu beherrschen wisse; die Freude (χαρά) stehe dem Vergnügen (ἡδονή) gegenüber (vgl. SVF III, 105 frg. 431), während die εὐφροσύνη nichts anderes sei als die χαρά, die das Wirken des Weisen begleite (SVF III, 105 frg. 432). In Weish 8,16d erscheinen εὐφροσύνη und χαρά jedoch nicht als Wirkungen des Verhaltens des Weisen, sondern mit einer gewissen polemischen Spitze als reines Geschenk , das die Weisheit dem Weisen macht. Der Verfasser teilt die Wertschätzung der Stoiker gegenüber der Freude, betont aber, dass sie als Geschenk gesehen werden muss, in einer Betrachtungsweise, die von der des Kohelet nicht allzu verschieden ist. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass εὐφροσύνη auch zwei Mal als einer der Titel der Isis in der Aretalogie des Pap. Oxyr. XI, 1380, 19.31 erscheint.

Weish 8,17–21: Beten, um die Weisheit zu erlangen 17 Als ich dies bei mir bedacht und sorgfältig in meinem Herzen erwogen hatte, – dass Unsterblichkeit in der Verwandtschaft mit der Weisheit liegt

97 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 198. 98 Zum Gebrauch εὐφρσοσύνη und χαρά bei Philon vgl. LARCHER, Sagesse II, 545.

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Weish 8,17–21

18 und in der Freundschaft mit ihr gute Befriedigung und in den Mühen ihrer Hände unerschöpflicher Reichtum und in der Übung des Umgangs mit ihr Klugheit und ein guter Ruf im Gespräch mit ihr – ging ich suchend umher, um sie zu mir zu nehmen. 19 Ein wohlgestaltetes Kind war ich gewesen und hatte eine gute Seele erlost, 20 eher aber: gut seiend war ich in einen makellosen Leib gekommen. 21 Als ich aber erkannte, dass ich nicht anders [der Weisheit] habhaft würde, als wenn Gott [sie] mir gäbe, – auch dies aber war (Wirkung) der Klugheit: zu wissen, wessen Geschenk sie ist, – (da) wandte ich mich an den Herrn und flehte zu ihm und sprach aus meinem ganzen Herzen:

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 21 Die Fügung οὐκ ἄλλως ἔσομαι ἐγκρατής wird in der lateinischen Übersetzung wiedergegeben mit aliter non possum esse continens: „(dass ich) anders nicht enthaltsam sein kann“. Besonders in der Vergangenheit neigten einige Kommentatoren zu diesem Verständnis (vgl. LARCHER, Sagesse II, 557); in Sir 26,15 hat ἐγκρατής tatsächlich die Bedeutung „keusch“. Schon Augustinus (Conf. VI,11) folgt dieser Deutung. In Weish 7–8 würde daher der Verfasser eine Liebe zur Weisheit verfechten, die in gewisser Weise die Tugend der Keuschheit nahelegt; er wäre so ein Vertreter der „enkratitischen“ Strömung, die ja in Ägypten entsteht und die die sexuelle Enthaltsamkeit als Grundlage jeder Tugend sieht. Vgl. die dieser letztgenannten Auslegung zuneigende Erörterung in SCARPAT, Sapienza II, 167–172 und BEAUCHAMP, „Epouser la Sagesse“, 347–369. In Wirklichkeit dürfte der Verfasser, wie Weish 7,1–2 zeigt, durchaus keine negative Sichtweise der Sexualität haben. In der LXX bedeutet ἐγκρατής mit Genitiv „habhaft, im Besitz von“, vgl. TobS 6,3; Sir 6,27;15,1; 27,30; 2Makk 8,30; 10,15.17; 13,13; SusTh 39. In der Verbindung von ἐγκρατής mit dem darauf folgenden Bedingungssatz ἐὰν μὴ ὁ θεὸς δῷ kann man 8,21 so übersetzen: „Als ich aber erkannte, dass ich auf keine andere Weise in ihren (d.h. der Weisheit) Besitz gelangen würde, als wenn Gott sie mir gäbe, …“ LEPROUX (Un discours de sagesse 308–324) hat eine andere Deutungsrichtung vorgeschlagen: ἐγκρατής kann im griechischen Sprachgebrauch auch „stark, kraftvoll“ bedeuten (vgl. Sophokles, Oedip. R. 941 „im Besitz seiner Kräfte, regierungsfähig“). In 8,21 erhielte ἐγκρατής im Zusammenhang mit dem Thema der „Unsterblichkeit“ (8,17c) und verbunden mit der Gedankenentwicklung in 8,19–20 (s.u.) nach LEPROUX den Beiklang von „unsterblich“, d.h. mit jener Kraft begabt, die Leib und Seele am Leben erhält.

Synchrone Analyse Der Abschnitt 8,17–21 hat in Weish 7–8 die Funktion einer Zusammenfassung und zugleich einer Einführung in das Gebet von Weish 9; gleichzeitig greift er das Thema von 8,2–9 wieder auf: die Suche nach der Weisheit und die Jugend Salomos.

Synchrone Analyse

247

Dies geschieht aber nach den Ausführungen von 8,10–16 darüber, was die Weisheit dem König schenken wird. Sodann kehrt der Text zum Anfang des Enkomions zurück, der Darstellung der Schwachheit Salomos (7,1–6). Diesen literarischen Anknüpfungspunkt muss man sich bei der Deutung des Textes ständig gegenwärtig halten. Das Grundthema ist deutlich: „Salomo“ entdeckt, dass er in seiner menschlichen Schwäche die Weisheit benötigt, die nur Gott ihm schenken kann. So münden die Darlegungen im Gebet (Weish 9). 8,17–18 sind in einem rhetorischen Crescendo (accumulatio) formuliert: Im Zu- 8,17–18: Nochsammenleben mit der Weisheit findet der Mensch Unsterblichkeit, ehrbares Ver- mals über die gnügen (im Unterschied zu den unerlaubten Vergnügungen), unerschöpflichen Unsterblichkeit Reichtum (vgl. 7,14a), Klugheit bzw. Unterscheidungsvermögen, Fähigkeit, gut zu handeln, Berühmtheit. Der Beginn von 8,17 verweist auf die Entscheidung, die Salomo getroffen hat: ταῦτα meint alles, was seit 7,1 aufgeführt wurde. Salomo hat darüber gut nachgedacht (λογισάμενος) und hat eine Entscheidung getroffen (φροντίσας) „in seinem Herzen“ (verstanden im biblischen Sinne von „Gewissen“). Die Reihe von fünf Beweggründen, die Salomo veranlasst haben, sich für die Weisheit zu entscheiden, wird in 8,17c mit einem ὅτι eingeleitet. Der erste dieser Gründe liegt darin, dass in der συγγένεια mit der Weisheit Unsterblichkeit (ἀθανασία) liegt. Hier ist zu fragen, ob ἀθανασία als Unsterblichkeit der Erinnerung zu verstehen ist (vgl. das ähnliche Problem in 8,13) oder als persönliche Unsterblichkeit; die letztgenannte Deutung dürfte vorzuziehen sein. Denn in 8,17c ist die Unsterblichkeit an die Verwandtschaft mit der Weisheit geknüpft, die ihrerseits eng mit Gott verbunden ist und an dessen Leben teilhat (vgl. 8,3). Das Wort ἀθανασία wird dadurch mit einem tieferen Sinn ausgestattet. Die Unsterblichkeit ist eine Gabe Gottes, die man durch die Vertrautheit mit der Weisheit erlangt – sie ist demnach mittels der Weisheit eine Teilhabe am Leben Gottes selbst. Der zweite Beweggrund, der Salomo zu seiner Entscheidung für die Weisheit veranlasst, ist, dass es in der Freundschaft mit ihr (ἐν φιλίᾳ αὐτῆς) eine τέρψις ἀγαθή gibt, ein „gutes Vergnügen“, ehrbare, rechtmäßige Freude; man kann hier an eine Freundschaft im eigentlichen Sinne oder an eine eheliche Freundschaft denken wie in Spr 5,19LXX. Der dritte Grund hängt mit dem unerschöpflichen Reichtum zusammen, der Salomo als Frucht der Mühen aus den Händen der Weisheit zuteilwird. Der Ausdruck πόνοι „Mühen“ verweist zurück auf Weish 8,7b und ἀνεκλιπής „nicht auslassend, unerschöpflich“ auf die Beschreibung der Weisheit in 7,14a. Diese beiden Bezugnahmen helfen zu verstehen, dass der Reichtum, von dem hier gesprochen wird, nicht einfach als Reichtum im materiellen Sinn verstanden werden soll (z.B. Geld), sondern in einem weiteren Sinn als innerer Reichtum, der vor allem die sittlichen Tugenden umfasst, die die Weisheit den Weisen lehrt; diese bilden wirklich einen niemals ausschöpfbaren Schatz. Damit gestaltet der Verfasser in origineller Weise das traditionelle Thema des Reichtums Salomos aus. Der vierte Beweggrund ist nicht ganz klar: Die Fügung ἐν συγγυμνασίᾳ ὁμιλίας αὐτῆς ist ungewöhnlich; ὁμιλία bezeichnet den „Umgang, Verkehr“ mit jemandem (gesellschaftlich, in einer Unterhaltung oder sexuell); (*συγγυμνασία kann eine gemeinsame Übung bedeuten und eine gegenseitige Beziehung, auch in sexuellem

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Weish 8,17–21

Sinne.99 Man kann die Fügung ganz allgemein übersetzen mit „in der Übung des Umgangs mit ihr“, d.h. im Zusammensein mit der Weisheit, sei es wie mit einer Gattin, wenn man hier die Braut-Metapher beibehalten will, sei es als Gefährtin, Freundin und Ratgeberin. In einer solchen Beziehung zur Weisheit, in solchem Sich-mit-ihr-Üben (συγγυμνασία verweist auch auf den Brauch gemeinsamer sportlicher Betätigung) erlangt der Weise die wahre φρόνησις, d.h. jene Klugheit, die schon vorher im Blick war (Weish 8,6.7), die Tugend also, die den Weisen zu unterscheidendem Urteil befähigt. Der fünfte Beweggrund ist, dass die Gemeinschaft des Gesprächs mit der Weisheit dem Weisen εὔκλεια „guten Ruf, Berühmtheit“ verschafft (vgl. 2Makk 6,19; 3Makk 2,31). Eine solche Berühmtheit wird erlangt ἐν κοινωνίᾳ λόγων αὐτῆς, d.h. durch Teilnahme an ihren Reden bzw. Lehrvorträgen. Diese Verknüpfung ist klassisch. Hier kehrt der rhetorische Charakter der Weisheit nochmals wieder. Im Zusammensein und im Gespräch mit ihr wird der Weise seinerseits die Fähigkeit zur kunstvollen Rede erwerben und daher die Berühmtheit, von der der Text schon in Weish 8,12.15 sprach. Der Gedankengang, der mit den Partizipien von 8,17a.b begann, schließt mit der Imperfektform περιῄειν in 8,18e; *περίειμι bedeutet „(suchend ζητῶν) umhergehen“. Ziel der Suche Salomos ist, wie er die Weisheit erlangen kann. Die Wendung λαμβάνω (εἰς) γυναῖκα bedeutet im Sprachgebrauch der LXX „heiraten“ (vom Mann her betrachtet); vgl. ἔλαβον αὐτὴν ἐμαυτῷ εἰς γυναῖκα in Gen 12,19. Hier scheint die Brautmetapher wieder aufzutauchen: Salomo fragt sich, wie er die Weisheit als Braut gewinnen kann. Die Antwort erfolgt in 8,21: Er muss sie unmittelbar von Gott erbitten. Aber der mögliche Bezug auf Dtn 30,12 „wer wird für uns zum Himmel hinaufsteigen und sie uns nehmen“ (καὶ λήμψεται αὐτὴν ἡμῖν: die Rede ist vom Gebot Gottes) und das Fehlen des Prädikatsnomens γυναῖκα in Weish 8,18e mindert hier die Bedeutung der Brautmetapher. Der Text kann auch so verstanden werden, dass es darum geht, die Weisheit zu sich zu nehmen, nicht notwendigerweise als Gattin.100 8,19–20: Seele Diese beiden Verse haben den Kommentatoren des Buches der Weisheit immer und Leib Probleme bereitet.101 Rhetorisch betrachtet, handelt es sich hier um ein ἐπιφώνημα, einen Zusatz, eine kurze Überlegung, die sich vom Hauptthema absetzt, aber zugleich ihm vorausliegt, es begleitet oder ihm folgt, und vor, nach oder zwischen zwei Sätzen, wie es hier der Fall ist, eingeflochten wird. Das ἐπιφώνημα hat nach den Regeln eines Redeepilogs zum Ziel, ein bestimmtes Gefühl zu erregen, einen Gedanken nahezubringen.102 Deshalb wäre es nicht richtig, in Weish 8,19–20 eine vollständige Reflexion über die Seele und ihr Wesen zu sehen. Es handelt sich vielmehr schlicht um einen Hinweis auf die sterbliche Daseinsweise des Menschen. Die Partikel δέ am Anfang von 8,19 hat bestätigende Bedeutung: „Ich war also ein Junge…“; παῖς bezeichnet einen männlichen Heranwachsenden, der kein 99 SCARPAT, Sapienza II, 164–165, zeigt, dass συγγυμνασία zu dem gehört, was die Stoiker als τέχνη bezeichnen und die praktische Anwendung der Verhaltensgrundsätze bedeutet. 100 Vgl. LEPROUX, Un discours de sagesse, 281. 101 Siehe die Liste von zitierten Kommentatoren bei VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 315 Anm. 125. 102 Vgl. LEPROUX, Un discours de sagesse, 66.

Synchrone Analyse

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Kleinkind mehr ist, das Impferfekt (ἤμην) verweist zurück auf die Jugend Salomos als eine Zeit, die jetzt, wenn Salomo spricht, hinter ihm liegt. Das Adjektiv εὐφυής „gut gewachsen, wohlgestaltet, von guter Natur“ bedeutet im griechischen Sprachgebrauch „wohlbegabt“ (vgl. Platon, Symp. 209b; Resp. 410a) und kommt in der LXX sonst nur noch in 1Esdr 8,3 „gut bewandert, kundig“ und in 2Makk 4,32 „günstig, geeignet“ vor. Dass erst im folgenden Kolon 8,19b ausdrücklich von der Seele die Rede ist, dürfte ein Anzeichen dafür sein, dass mit εὐφυής hier das Gesamt der natürlichen Anlagen des Menschen bezeichnet wird, körperlich, intellektuell und moralisch. Nach der griechischen Auffassung gibt es Menschen, die natürlich begabt sind, und solche, die es nicht sind (εὐφυεῖς oder κακοφυεῖς), und zwar sowohl körperlich als auch geistig (Platon, Resp. 410a). Salomo war wohlgestaltet und gut begabt und deshalb empfängt er die Weisheit als Gabe. Gut begabt zu sein, verdankt sich gewiss dem Schicksal (vgl. 8,20), aber einem Schicksal, das nicht mit dem unpersönlichen griechischen Fatum gleichzusetzen ist. Das zweite Kolon von 8,19 verursacht sogleich verschiedene Schwierigkeiten: Der Sprecher sagt von sich, dass er gut begabt war, weil er eine gute Seele erlost hatte (der Aorist von λαγχάνω „durchs Los erhalten“ ist hier plusquamperfektisch zu übersetzen103). Von Weish 15,11 her wird verständlich, dass der Verfasser die Vorstellung einer von Gott geschaffenen und dem Menschen eingehauchten Seele hat, nicht aber die einer präexistenten Seele. In 8,19b setzt der Verfasser einfach voraus, dass es eine Verschiedenheit bei den Seelen gibt und dass Gott sie den Menschen in verschiedener Weise zuteilt. Es hat den Anschein, als ob der Verfasser eine dem Judentum nicht unbekannte Vorstellung übernehme, d.h. die Präexistenz der Seele, aber dass er gleichzeitig an der für die hebräische Bibel typischen anthropologischen Anschauung festhalte, wonach der Leib das personale Subjekt ist, das die Seele empfängt, vgl. 1Kön 17,21LXX: „Die Seele dieses Knaben möge doch in ihn zurückkehren!“.104 Weish 8,20 beginnt mit μᾶλλον δέ, das die Bedeutung „oder eher“, „oder besser“ hat. Diese Wendung dient dazu, schon Gesagtes näher zu präzisieren, ohne aber das früher Gesagt zu widerrufen oder zu korrigieren.105 Nun hatte sich der Verfasser in 8,19 so ausgedrückt, als ob das Ich des Sprechers der Adressat der Seele gewesen wäre; in 8,20 präzisiert er seinen Gedanken und identifiziert eher die ψυχή mit dem Ich des Sprechers. So sehr der Verfasser dem Leib Bedeutung zuerkennt, eine noch größere Bedeutung weist er der ψυχή zu. Der Text präzisiert dann: „Gut seiend, war ich in einen makellosen Leib gekommen“. Die Wiederaufnahme von ἀγαθός hilft dabei, den Perspektivenwechsel zu erfassen. Während in 8,19a das Gutsein des Menschen dem Leib zugewiesen war, wird es in 8,19b stattdessen von der Seele ausgesagt. Nachdem nun eine 103 Vgl. ZERWICK, Graecitas Biblica, n° 290. 104 Vgl. GILBERT, „La procréation“, 349. 105 Vgl. PORTER, „The Pre-existence of the Soul“, 65–70. Rhetorisch betrachtet stellt μᾶλλον δέ eine ἐπιδιόρθωσις dar, eine nachgetragene Verbesserung und Präzisierung, vgl. 2Makk 6,23; 3Makk 6,31; 7,5; Röm 8,34; Gal 4,9 etc. Auf diese Texte hatte bereits GRIMM, Weisheit, z. St., hingewiesen; vgl. ADINOLFI, „La dicotomia“, 147–149. Eine lange Reihe von griechischen Texten wird zitiert bei GILBERT, „La procréation“, 349–350 mit Anm. 32; er kommt zu dem Ergebnis, dass μᾶλλον δέ eine typisch griechische Wendung sei, die über das zuvor Gesagte hinausgehe und es häufig präzisiere.

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8,21: Ich wandte mich an den Herrn und flehte zu ihm

Weish 8,17–21

gute Seele erwähnt ist, richtet sich die Aufmerksamkeit auf den Leib ohne Makel. Chrysostome Larcher vermutet hier die Vorstellung von einem Leib in embryonalem Zustand, entsprechend dem Gebrauch von σῶμα in den Schriften des Hippokrates.106 Das Adjektiv ἀμίαντος, ein unübliches Attribut zum Leib (vgl. Philon, Spec. I, 250), bezeichnet die Abwesenheit von physischer ebenso wie moralischer Unreinheit. Die Erwähnung eines „unbefleckten Leibes“ zeigt, dass die Sprache hier nur scheinbar platonisch ist. Denn in der platonischen Vorstellung ist es die Seele, die vom Leib mitgerissen verdirbt. Hier hingegen erhält Salomo einen unbefleckten Leib, der fähig ist, der Seele zu gehorchen. Es geht also mehr um eine moralische und psychologische als um eine metaphysische Perspektive (vgl. auch 9,15).107 Der Mensch hat Gott nötig. Das Kapitel schließt, indem es nochmals auf das Thema der menschlichen Schwäche, von der schon 7,1–6 die Rede war, zurückkommt. Jeder kann so sein wie Salomo, wenn er von Gott die Gabe der Weisheit erbittet. Würde man das von Alexis Leproux vorgeschlagene Verständnis von ἐγκρατής im Sinne von „stark, kraftvoll“ (s.o.) annehmen, würde der Verfasser sagen wollen, dass Salomo sterblich ist wie alle Menschen (7,1–6), aber entdeckt, dass im Zusammensein mit der Weisheit Unsterblichkeit liegt (8,17). Dazu ist die „Stärke“ der Weisheit selbst, die Gott allein geben kann, notwendig, damit Seele und Leib vereint bleiben. Hier läge ein weiteres Anzeichen dafür vor, dass für den Verfasser das Heil des Menschen auch den Leib miteinbezieht. Weish 8,21b bildet eine Art Parenthese: Es ist eine Eigenart der φρόνησις (hier zu verstehen als die Tugend der Klugheit, des Unterscheidungsvermögens), zu wissen, von wem dieses Geschenk (χάρις), nämlich die Weisheit, stammt (zu χάρις s.o. zu Weish 3,9.14; 4,15). Die Weisheit muss also von Gott im Gebet erfleht werden. Plötzlich erscheint hier der κύριος Israels. In drei verschiedenen Sätzen legt ‚Salomo‘ seinen Entschluss zu beten dar: Zunächst verwendet er ἐντυγχάνω in einem Sinne, der sich auch im NT findet (Röm 8,27.34; 11,2; Hebr 7,25), nämlich „sich wenden an“ Gott, um ihn um etwas zu bitten. Das Verb δέομαι hat sowohl im profanen Griechisch als auch in der LXX häufig die Bedeutung „bitten“. Das Schlusskolon von 8,21 „und ich sprach aus meinem ganzen Herzen“ erinnert an biblischen Sprachgebrauch (vgl. den deuteronomischen Stil in Dtn 4,29; 6,5; 10,12; 11,13); die erneute Nennung des „Herzens“ bildet eine inclusio mit 8,17b.

Diachrone Analyse 8,17c: Freund- In Weish 8,17c wird mit συγγένεια eine allgemeine Beziehung von Verwandtschaft schaft mit der oder Nähe bezeichnet. In der hellenistischen Welt findet man nicht selten die Weisheit Vorstellung, der Mensch besitze eine natürliche Verwandtschaft mit Gott, die auf

der Vernunft gründe und deshalb naturgegeben sei. Es handelt sich um ein klassisches Thema, das schon bei Platon vorkommt (vgl. Tim. 90a; Leg. 899d). Diese Vorstellung wird bei Philon aufgegriffen, der sich jedoch teilweise von der griechi106 Vgl. LARCHER, Etudes, 273 und GILBERT, „La procréation“, 351 mit Anm. 34. 107 Vgl. LARCHER, Sagesse II, 556. In der Isislitanei von Oxyrhinchos ist ἀμίαντος ein Attribut bzw. Titel der Isis (Pap. Oxyr. XI, 1380, 109).

Diachrone Analyse

251

schen Konzeption absetzt und die Verwandtschaft des Menschen mit Gott nicht so sehr als eine menschliche Errungenschaft, sondern als ein Geschenk betrachtet und sie vom Vorhandensein der Vernunft im Menschen, die ihn Gott nahe bringt, herleitet (vgl. Opif. 145–146 und insbesondere Spec. IV, 14).108 Im hellenistischen Sprachgebrauch bezeichnet συγγένεια auch eine Beziehung enger Freundschaft und Solidarität (vgl. Aristoteles, Rhet. 2,4, 1381b 34) und nimmt sogar soziale und politische Bedeutungen an. Die Nennung der Freundschaft (φιλία) im unmittelbar folgenden Kolon 8,18a verstärkt noch diese Bedeutungsrichtung. Der Weise ist imstande, ein festes Freundschaftsband mit der Weisheit, mit der er verwandt ist, zu knüpfen. Die Verwandtschaft, oder besser: die Freundschaft mit der Weisheit, die dem Menschen die Unsterblichkeit sichert, ist Gabe Gottes (vgl. χάρις in 8,21b), die man nur durch das Gebet erlangt und die deshalb also nicht naturgegeben ist. Das Wort τέρψις (8,18a) ist in der LXX selten und wurde möglicherweise von 8,18 1Kön 8,28LXX im Kontext des Gebetes Salomos angeregt. Dieser Begriff könnte polemisch gewählt sein gegenüber der stoischen Auffassung, wonach die τέρψις „Vergnügung, Befriedigung“ eine Weise der ἡδονή „Lust, Vergnügen“ darstellt (vgl. SVF III, 97 frg. 401), die für die Stoiker negativ zu bewerten ist, während sie hier demgegenüber als ein positiver Wert betrachtet würde.109 Wahrscheinlicher ist aber, dass τέρψις von der Verwendung des Wortes in einem ähnlichen Kontext in den Isis-Aretalogien angeregt wurde, vgl. die Inschrift auf der Insel Philae (191 n. Chr.): Ἶσιν τὴν ἐν Φίλαις προσκυνήσας τις εὐτυχεῖ οὐχ ὅτι μόνον πλουτεῖ πολυζῳεῖ δ’ ἅμα τούτῳ „wer die Isis auf Philae verehrt hat, erfährt ein glückliches Schicksal, weil er nicht nur reich wird, sondern zugleich damit ein langes Leben hat“:110 Mit dem Reichtum wird hier also das Geschenk langen Lebens verbunden, was an die Unsterblichkeit in Weish 8,17c erinnert. Der interessanteste Text findet sich im dritten Hymnus des Isidoros (ca. 85 vor Chr.): „Isis, reine, heilige, große, großnamige, Dēō [= Demeter], ehrwürdige Geberin von Gütern (δώτειρ’ ἀγαθῶν) an alle Menschen; den Gottesfürchtigen hast du große Gunsterweise und Reichtum gegeben (πλοῦτον δέδωκας) und (ihnen gewährt,) ein angenehmes Leben zu haben und höchste Befriedigung (τέρψιν ἀρίστην), Wohlstand, Glück und kummerfreie Besonnenheit (σωφροσύνην τε ἄλυπον).“ Hier finden sich viele der Güter wieder, die die Weisheit Salomo gewährt, insbesondere Reichtum, Leben, Vergnügen, Besonnenheit und Freiheit von Kummer. Angesichts der Weisheit des Gottes Israels ist es also nicht nötig, Isis zu folgen. In 8,18b verweist der Begriff πόνοι „Mühen“ auf einen in der griechischen Welt verbreiteten Denk- und Sinnspruch: „Die Götter verkaufen uns alle Güter nur um den Preis von Mühen“ (Epicharmos, ap. Xen, mem. 2,1,20) und auch auf Philon in Sacr. 35: Der πόνος steht am Anfang alles Guten und jeder Tugend.

108 Vgl. DES PLACES, Edouard, „La syggeneia chrétienne“, Bib 44 (1963) 304–332; MICHAELIS, Wilhelm, συγγένεια, ThWNT VII, 537–542; SCARPAT, Sapienza II, 157–160; SPICQ, Notes, Supp. 616–623. 109 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 200. 110 BERNAND, André, Les inscriptions grecques et latines de Philae (Paris: Centre National de la Recherche Scientifique 1969) II, n° 168.

252

8,19–20: Platonismus im Buch der Weisheit?

Weish 8,17–21

Der profane Begriff εὔκλεια (8,18d) stellt im Stoizismus eine positive Eigenschaft des Weisen dar. Nach Philon genießt ein Weiser wie Abraham nicht nur Hochschätzung, sondern vor allem einen guten Ruf (οὐκ ἔνδοξος ἀλλ’ εὐκλεής; Sobr. 57). Zu Weish 8,18e bemerken viele Kommentatoren eine mögliche Abhängigkeit von Platon, Symp. 209b („er sucht umhergehend nach dem Schönen, in dem er zeugen kann“). Während der junge Liebende des platonischen Symposions jedoch am Beginn seiner Suche steht, hat Salomo sich schon entschlossen, sich mit der Weisheit zu vereinigen. Chrysostome Larcher meint, dass der Verfasser, indem er sich des Symposion-Textes bedient, zeigen will, dass das wahre Schöne göttlich und die wahre Fruchtbarkeit die der Seele ist.111 Es ist aber trotzdem festzustellen, dass auch einige Weisheitstexte, die von der Suche nach der Weisheit handeln, den Verfasser zu diesem Thema inspiriert haben können, vgl. besonders Spr 2,4– 6; 8,35; Ijob 28,12–13; auch Koh 8,16–17.112 Die Weisheit ist eine Gabe, aber sie ist auch eine Aufgabe und der Suche des Menschen aufgetragen. Viele Autoren sind der Meinung, der Verfasser verwende in 8,19–20 ganz offen platonische Vorstellungen, auch wenn er nicht alle Implikationen der Lehre von der Seelenwanderung und nicht ohne weiteres die Auffassung von der Präexistenz der Seelen akzeptiere. Diese Auffassung hatten Philon und einige Strömungen im frühen Judentum, wahrscheinlich auch die Henochliteratur (vgl. 2 Hen 23,4–5 [10,7–8]), übernommen.113 Einige Autoren114 bemühen sich, den Text orthodoxer (aus christlicher Sicht!) zu deuten: ‚Da ich gut war, erhielt ich einen makellosen Leib‘, wobei ἔρχομαι εἰς die ungewöhnliche Bedeutung „gelangen zu“ hätte. Tatsächlich sagt der Text von 8,20 nur in einer anderen Weise, in einer mehr philosophischen Perspektive, dasselbe, was auch in 8,19 in volkstümlicherer (vielleicht auch biblischerer) Sprache gesagt war: Nach 8,19 hatte „ich“ eine gute Seele erhalten, in 8,20 präzisiert der Sprecher, die gute Seele habe sich mit einem makellosen Leib verbunden.115 Hier, mitten im letzten Abschnitt des Lobes der Kapitel 7–8, liegt ein ἐπιφώνημα vor. Dessen Funktion ist nicht, eine vollständige Lehre vorzutragen, sondern eine Überlegung zu äußern, was der Mensch ist: eine leibgewordene Seele, ein Wesen aus Erde und Lebensatem (vgl. Gen 2,7), das wirklich „lebendig“ sein kann nur dank des Herrn. Der Verfasser versucht hier, einen Schritt auf griechisches Denken hin zuzugehen, will aber seine biblische Überzeugung nicht verraten.116

111 Vgl. LARCHER, Sagesse II, 550. ׁ ‫‘ בק‬to Search’ in the Language of 112 Vgl. MAZZINGHI, Luca, „The Verbs ‫‘ מצא‬to Find’ and ‫ש‬ Qohelet. An Exegetical Study“ in: BERLEJUNG, Angelika / VAN HECKE, Pierre (Hg.), The Language of Qohelet in its Context. FS A. Schoors, Leuven – Paris – Dudley (MA): Peeters 2007, 91–120. 113 „The verse is as clear as a statement of the concept of preexistent souls as one could wish and there is no need to explain it away as many commentators have done (…). On the other hand, the more elaborate greek doctrine of metempsychosis does not appear to be a part of our author’s thinking“ (WINSTON, Wisdom, 198; vgl. auch 26: „the author was plainly associating himself to some extent with Platonic doctrine …“); so auch HÜBNER, Weisheit, 122. 114 Vgl. z.B. REESE, Hellenistic Influence, 84–85, und früher GRIMM, Weisheit, 176–177. 115 Vgl. ENGEL, Weisheit, 145. 116 Vgl. CLARCKE, The Wisdom of Solomon, 61.

Synthese von Weish 7–8

253

Sicherlich entfernt sich der Text von einer traditionelleren biblischen Anthropologie: Für den Verfasser ist der Mensch eher eine leibgewordene Seele als ein beseelter Leib (s.o. den Kommentar zu 1,4). Jedoch vertritt der Verfasser, wenn man Weish 15,11 mitbeachtet, nicht mit der Klarheit, die viele Autoren ihm zuschreiben, eine platonische Vorstellung von der Präexistenz der Seelen oder zeigt zumindest nicht, dass er eine dualistische anthropologische Konzeption teilt; auch gibt es im Buch der Weisheit keinerlei Spur der platonischen Abwertung des Leibes. Vielleicht stellte sich der Verfasser eine Art „Vorerschaffung“ der Seele vor, die Gott dem menschlichen Embryo einhaucht in einem nicht näher angegebenen Moment seiner Entwicklung; aber es besteht keine Möglichkeit zu weiterer Präzisierung. Zu 8,21b ist eine stoische Überlegung aufschlussreich: Die εὐχαριστία „ist das 8,21b Wissen, wem und wann Dank (χάρις) zu erweisen ist und wie und von wem er entgegenzunehmen ist“ (SVF III, 67 frg. 273).

Synthese von Weish 7–8 Den jungen Juden in Alexandria, den künftigen Verantwortlichen der jüdischen Ge- Eine neue Art meinschaft, stellt der Verfasser als guter Lehrer in diesem Abschnitt ein Ideal von von FreundFreundschaft vor Augen, das dem von der stoischen Philosophie vertretenen nicht schaft allzu fern ist, aber einen Kontrast bildet zu der falschen Freundschaft in den Dionysosverehrer-Gruppen, die die Gottlosen in Weish 2 zeigen: eine starke freundschaftliche Verbundenheit, die sich auf gemeinsame „vornehme Herkunft“ (8,3) gründet, auf „Verwandtschaft“ (8,17), auf „Zusammenleben“ (8,3.9.16), auf „klugen Umgang miteinander“ (8,18) und auf gemeinsame Verwirklichung der Tugenden, die die Frucht derer sind, die die Weisheit erlangen: Es sind die so typisch griechischen Tugenden, die ausdrücklich in 8,7 aufgeführt wurden. Die Freundschaft mit der Weisheit verleiht dem, der sie aufnimmt, alle diese Eigenschaften, die man in der damaligen Welt als kennzeichnend für einen wahren Freund betrachtete. Dennoch lässt sich vermuten, dass der Entwurf des Buches der Weisheit bei den Juden in Alexandria als Neuerung empfunden wurde, vielleicht sogar als eine etwas zu weit gehende. Die Darlegung der freundschaftlichen Beziehung zwischen Salomo und der Weisheit zeigt jedenfalls, dass für den Verfasser das traditionelle Modell der Familie, die für Juden die grundlegende zwischenmenschliche Beziehung bedeutete (Gatte – Gattin / Eltern – Kinder), nicht mehr das einzig mögliche Modell zwischenmenschlicher Beziehungen ist.117 Mittels der Figur der Weisheit, wie sie in Weish 7–8 vorgestellt wird, möchte der Verfasser auf eine grundlegende Fragestellung antworten: Ist Gott fern oder nahe? Die Weisheitstradition Israels war, indem sie den menschlichen Aspekt der Weisheit betonte, mit Ijob und Kohelet dahin gelangt, die Undurchdringlichkeit des Geheimnisses Gottes als unhintergehbar anzuerkennen. Gerade durch die Weisheit macht Gott sich jedoch gegenwärtig: Die Weisheit schließt die menschlichen Werte nicht aus und ist im Menschen gegenwärtig, kann aber, da sie ihren Ursprung in Gott hat, nur als seine Gabe erlangt werden. Es ist kein Zufall, dass 117 Siehe die ausführlichere Darlegung in MAZZINGHI, „I loved [Wisdom]“.

254

Synthese von Weish 7–8

die Weisheit mit Zügen, die sie mit der zeitgenössischen Philosophie und sogar mit den Mysterienkulten verbinden, dargestellt wird.118 Darüber hinaus hat die Weisheit eine kosmische Bedeutung; sie erneuert die Welt, ohne sich jedoch mit ihr oder mit Gott zu identifizieren. In dieser Weise versucht das Buch der Weisheit, die Transzendenz und die Immanenz Gottes zu wahren, und entwickelt dabei eine Theologie der Weisheit, die nicht allzu entfernt ist von der christlichen Theologie der Gnade. Nicht von ungefähr wird die patristische Tradition für die Trinitätstheologie auf diese Kapitel zurückgreifen, die möglicherweise einige neutestamentliche Autoren schon vor Augen hatten.

118 Für die Isis-Verehrung als Hintergrund von Weish 7–8 vgl. die Schlussfolgerungen von KLOPPENBORG (in Bezug auf 8,2–9): „the mythic power which informed Egyptian royal ideology is captured and transformed for Judaism, enabling Jews to maintain themselves in an atmosphere of intense religious and political propaganda“ (“Isis and Sophia“, 78); „the use of mythic patterns from Isis served both aspirations: it helped revitalize Jewish tradition so that it could continue to provide religious identity and structure to a people under attack. But it also laid the basis for communication with the dominant group, to whose privileges and position Alexandrian Jews aspired“ (a.a.O. 84).

Weish 9: Das Gebet zur Erlangung der Weisheit Zur literarischen Struktur von Weish 9 Das Gebet „Salomos“ um Weisheit bildet die literarische Mitte des Buches.1 Es bestehen deutliche Signale einer Aufteilung von Weish 9 in drei Strophen.2 Zunächst fällt die inclusio zwischen 9,1 und 9,18 auf: τῇ σοφίᾳ … ἄνθρωπον / ἄνθρωποι … τῇ σοφίᾳ. Während die Weisheit in 9,1–2 mit der Schöpfung verbunden ist, ist sie es in 9,18 mit Rettung und Heil. So bildet 9,1–18 eine klare literarische Einheit. Das Lexem ανθρωπ-, das auch in 9,6 und 9,13 vorkommt, ist in der mittleren Strophe (9,7–12) vermieden. Mit diesen weiteren inclusiones (ανθρωπ- in 9,1 und 9,6, und in 9,13 und 9,18) ist die Stropheneinteilung markiert. In der ersten Strophe bildet die Anrede κύριε (9,1a) ein Klammerwort zum Weish 9,1–6 Voraufgehenden (ἐνέτυχον τῷ κυρίῳ in 8,21c). In der Mitte der Strophe steht ein Imperativ (δός μοι … σοφίαν 9,4a). Während 9,1-3 das Wirken der Weisheit in der Schöpfung und gegenüber dem Menschen beschreibt und 9,4 eine erste Bitte um Erlangung der Weisheit ausdrückt, bildet 9,5–6 eine Betrachtung der menschlichen Schwachheit. Die zweite Strophe ist markiert durch die inclusio λαοῦ σου / τὸν λαόν σου Weish 9,7–12 (9,7a / 12b) und konzentrisch gestaltet: 9,7–8 beschreibt Salomo als König, Richter und Bauherrn. 9,7 richtet den Blick auf die bei Gott weilende Weisheit. 9,10a-b enthalten eine erneute Bitte um die Weisheit mit zwei Imperativen: ἐξαπόστειλον αὐτήν „Sende sie aus!“ und πέμψον αὐτήν „Schicke sie!“ 9,10c-11 kehren zum Thema der Weisheit von 9,9 zurück, betrachten jetzt aber das Wirken der Weisheit im Menschen. Dabei werden einige Wörter wieder aufgegriffen: εἰδυῖα (9,9a) und οἷδεν (9,11a); παροῦσα (9,9b) und συμπαροῦσα (9,10c); ἀρεστόν (9,9c) und εὐάρεστον (9,10d). 9,12 schließlich kehrt zur Beschreibung Salomos in 9,7–8 zurück, aber in umgekehrter Reihenfolge, als Bauherr, Richter und König. Auch die dritte Strophe ist gekennzeichnet durch inclusiones: ανθρωπ- in Weish 9,13–18 9,13a.18c und die chiastische Bezugnahme auf den Willen Gottes: τίς … βουλήν (9,13a) und βουλὴν … τίς (9,17a). Außer in Weish 9 kommt βουλή im Buch der Weisheit nur noch in 6,4 vor. Der Mensch kann den Willen Gottes nicht erkennen

1

2

VIGNOLO (“Sapienza, preghiera e modello regale“, 272 Anm. 5) spricht vonWeish 9 als einer mise en abîme, die das ganze Buch in sich enthält: 9,1–4 nehme die Thematik von Weish 1-6 auf, 9,5–12 über das Menschsein und die Berufung Salomos erinnerten an Weish 7-8 und 9,13–18 nehme den dritten Buchteil vorweg. Vgl. den grundlegenden Beitrag von GILBERT, „La structure de la prière“; auf den Seiten 190–196 vermerkt Gilbert die Ähnlichkeiten und Unterschiede bezüglich der literarischen Struktur zu den Gebeten, die die Vorlage für Weish 9 bilden: 1Kön 3 und 2Chr 1. Aus der gesamten Salomoüberlieferung ist es gerade seine Weisheit, die den Verfasser am meisten beeindruckt hat, vgl. auch GILBERT, „La figure de Salomon“, bes. 145– 149.

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Weish 9

ohne die Gabe der Weisheit.3 Während die erste Strophe mit einer Anrufung des „Herrn“ beginnt, fängt die dritte mit einer Nennung des Menschen an und stellt so das anthropologische neben das theologische Interesse. Die Gedanken der ersten Strophe werden in umgekehrter Reihenfolge in der dritten wieder aufgenommen: 9,13–17aα greift das Thema der Schwäche des Menschen auf; der Absatz wird durch je zwei rhetorische Fragen eingeleitet (9,13a.b) und abgeschlossen (9,16c.17aα).4 9,17aβ-b wiederholt noch einmal das Thema des „Gebens“ (9,4a) und „Sendens“ (9,10a-b) der Weisheit und nennt dabei neben der Weisheit erneut die Figur des Geistes (s.o. zu 1,5). 9,18 beschließt die Strophe und das ganze Gebet5 und greift dabei zurück auf 9,1–3; während aber in 9,1–2 die Schöpfung genannt wurde, ist es in 9,18 die Rettung, das Heil. Hier kommt zum ersten Mal im Buch der Weisheit das Verb σῴζω vor. Konzentrische Weish 9 zeigt eine doppelte konzentrische Struktur: Struktur

1–6: Erste Strophe 1–3 Das Wirken der Weisheit: Schöpfung 4 Bitte um die Gabe der Weisheit 5–6 Salomos Schwachheit

A B C

7–12: Zweite 7–8 9 10a-b 10c-11 12

D E B’ E’ D’

Strophe Salomo als König, Richter und Bauherr Die Weisheit als Throngenossin Gottes Bitte um Sendung der Weisheit (Mitte des Gebets) Die Weisheit beim Menschen Salomo als Bauherr, Richter und König

13–18: Dritte Strophe 13–17aα Die Schwachheit des Menschen 17aβ-b Gott schenkt die Weisheit und sendet den Geist 18 Das Wirken der Weisheit (Rettung-Heil).

C’ B’’ A’

Der Aufbau zeigt, dass Weish 9 an erster Stelle ein Gebet zur Erlangung der Weisheit ist: Die Bitte um sie findet sich in der Mitte jeder Strophe. Die Weisheit, eng verbunden mit dem Wirken Gottes bei der Schöpfung und für das Heil, ist für den Menschen angesichts seiner Schwachheit unverzichtbar. Sie wird Ratgeberin für das Leben und leitet das Handeln, da sie selbst in einer engen Beziehung zu Gott steht. 3 4 5

BIZZETI (Il libro della Sapienza, 74) macht weitere Beziehungen zwischen Weish 9 und Weish 6 einerseits und Weish 1,1–15 andererseits deutlich. So nimmt Weish 9 die Eingangsermahnung, die Gerechtigkeit zu lieben und ihr zu folgen auf. GILBERT stellt darüber hinaus in 9,13–17aα eine konzentrische Struktur fest, in deren Mitte 9,15a-b erneut das Motiv der menschlichen Schwäche steht, vgl. „La structure de la prière“, 176–178. Zu den Argumenten, weshalb 9,18 noch zur literarischen Einheit Weish 9 gehört (und also nicht als Titel zu Weish 10 zu betrachten ist) s. BIZZETI, Il libro della Sapienza, 72– 73.

Synchrone Analyse

257

Erste Strophe: Die Weisheit, die Schöpfung und die menschliche Schwachheit (Weish 9,1–6) 1 Gott der Väter und Herr des Erbarmens! Du hast das All gemacht durch dein Wort, 2 und durch deine Weisheit hast du den Menschen bereitet, damit er über die von dir erschaffenen Geschöpfe gebiete 3 und die Welt leite in Heiligkeit und Gerechtigkeit und in Geradheit der Seele Gericht halte. 4 Gib mir die Beisitzerin auf deinem Thron, die Weisheit, und sprich mir die Zugehörigkeit zu deinen Kindern nicht ab! 5 Denn ich bin dein Knecht und der Sohn deiner Magd, ein Mensch, schwach und kurzlebig und zu gering an Einsicht in Recht und Gesetze. 6 Wenn nämlich einer auch vollkommen wäre unter den Menschenkindern, – falls ihm die von dir (stammende) Weisheit fehlt, wird er für nichts gehalten werden.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1

2

In 9,1a lesen die allermeisten Handschriften τοῦ ἐλέους σου, während einige der alten Übersetzungen (Syr, Sah, Aeth, Lat) τοῦ ἐλέους vorauszusetzen scheinen. Die Lesart κύριε τοῦ ἐλέους ist die lectio difficilior, aber schwer zu verstehen; die erstgenannte Lesart (ohne σου) dürfte vorzuziehen sein, sie wurde auch von den Editoren gewählt. Einige Textzeugen (B, C, Lat) lesen anstelle des Partizips κατασκευάσας die finite Verbform κατεσκεύασας (vgl. 9,4; SCARPAT, Sapienza II, 254, entscheidet sich für diese Lesart). κατασκευάζω wird in der LXX in Texten wie Jes 40,28; 43,7; 45,9; 4Makk 2,21 für das Schöpfungshandeln Gottes verwendet; vgl. Weish 11,24 und 13,4.

Synchrone Analyse Vom ersten Kolon von Weish 9 an wendet sich der Sprecher ausdrücklich an Gott mit dem Vokativ θεέ, der in der LXX selten ist (vgl. Ri 16,28B; 21,3B; 2Sam 7,25; Ez 4,14; TobS 3,11; 8,15; Sir 23,4; 3Makk 6,2; 4Makk 6,27); angesprochen ist der Gott der Überlieferung Israels, der „Gott der Väter“, d.h. der Patriarchen (vgl. Weish 12,21 und 18,22), ein „Du“, das als „Herr des Erbarmens“ in der Geschichte Israels ständig gegenwärtig ist. ἔλεος gibt in der LXX häufig das hebräische Wort ‫„ חסד‬Verbundenheit, Loyalität, Liebe“ wieder, ein typisches Wort im Umkreis von „Bund“ (vgl. 1Kön 3,6); allerdings findet sich die Fügung κύριος τοῦ ἐλέους nirgends sonst in der LXX. Auch Salomo appelliert in 1Kön 3,6–7 und 2Chr 1,8–9 an die Verbundenheit Gottes mit David, seinem Vater. Der Anfang des Gebetes bildet geradezu ein Bekenntnis jüdischen Glaubens. In 9,1b wird Gott als Schöpfer der ganzen Welt (ὁ ποιήσας τὰ πάντα) angerufen, wie es auch mehrfach in den Psalmen geschieht (vgl. Ps 32[33MT],6–9;

9,1–3: Weisheit, Wort, Schöpfung

9,1b

258

Weish 9,1–6

103[104 MT],5–9; 135[136 MT],5–9). Neun Mal verwendet das Buch der Weisheit das Verb ποιέω im Sinne von „erschaffen“ (Weish 1,13; 2,23; 6,7; 9,1.9; 11,24; 12,12; 15,16; 16,24). Die Schöpfung geschieht wie in Gen 1 durch das Wort (ἐν λόγῳ σου, wobei ἐν hier instrumentale Bedeutung hat). Zum ersten Mal wird hier im Buch der Weisheit das Wort Gottes genannt; es wird in 16,12.26 und 18,15–16 wiederkehren. In 9,2a tritt neben das Wort Gottes sogleich die Weisheit. In dieser Weise verbindet die Eingangsanrufung drei grundlegende theologische Themen: die an die Erzeltern ergangene Verheißung, den Bund (d.h. das Heil) und die Schöpfung. Die Erschaffung des Menschen wird mit offenkundiger Bezugnahme auf Gen 1,26–28 als Werk Gottes genannt, bei dem er sich der Weisheit bediente; der Dativ τῇ σοφίᾳ hat instrumentale Bedeutung.6 Das Verb κατασκευάζω hat in Weish 11,24 (parallel zu ποιέω) und in 13,4 die Bedeutung „erschaffen“ und wird in Bezug auf die Erschaffung des Menschen verwendet. Der Verfasser denkt an Gen 1,1–2, wo ποιέω sich auf das Wirken des Schöpfers bezieht, während ἀκατασκεύαστος die noch ungeformte – man könnte sagen, von der Weisheit Gottes noch nicht berührte – Schöpfung bezeichnet. In 9,2b-3 erweitert der Verfasser den Genesistext durch ein Nachsinnen über 9,2b-3 das „Herrschen“, wovon in Gen 1,26–28 die Rede ist (vgl. auch Ps 8,7–9) und hebt ausführlicher die Aufgabe des Menschen auf der Erde hervor. Weish 9,2b-3 umreißt das Ziel des Handelns Gottes (ἵνα) gegenüber dem Menschen. Er ist berufen, über die Geschöpfe zu „herrschen“; δεσπόζειν ist in Weish 12,16.18 dagegen dem Wirken Gottes vorbehalten. Sogleich wird hinzugefügt, dass es die von dir erschaffenen Geschöpfe sind, über die der Mensch herrschen soll. κτίσμα kommt erst in späterer Zeit vor (z.B. Sir 36,14; 3Makk 5,11; vgl. Jak 1,18; Apk 8,9); τῶν ὑπὸ σοῦ γενομένων ist zu verstehen als „der (Geschöpfe), die dank deiner entstanden sind“. Die Herrschaft des Menschen über die Welt soll an das Bewusstsein gebunden sein, dass alles Erschaffene von Gott her kommt. Die Herrschaft des Menschen über den Kosmos ist also nicht absolut, sondern muss, wie es in 9,3a heißt, in Heiligkeit und Gerechtigkeit geschehen. Der Verfasser geht nicht auf Einzelheiten ein bezüglich der Rolle, die dem Menschen gegenüber der geschaffenen Welt zukommt, sondern beschränkt sich darauf, die Weise seines Umgangs mit der Welt zu nennen: ἐν ὁσιότητι καὶ δικαιοσύνῃ. In Verbindung mit der δικαιοσύνη bedeutet die ὁσιότης die Frömmigkeit und Ehrfurcht vor der Gottheit (vgl. Weish 2,22), während δικαιοσύνη die rechte Haltung gegenüber den Menschen bezeichnet, oder allgemeiner, gegenüber jedem anderen Geschöpf. Ein Rückverweis auf Weish 2,11 ist nicht auszuschließen: Bei der Herrschaft über den Kosmos ist der Mensch berufen, das Gesetz der Gewalt, das von den Gottlosen beansprucht wird, auszuschließen. In 9,3b verwendet der Verfasser eine typisch hebräische Wendung, die er Texten wie Gen 19,9; Dtn 16,18; Jer 5,28 entnommen haben könnte, wo κρίσιν κρίνειν den Akt der Rechtsprechung, der Gerechtigkeit, bezeichnet, oft mit Gott als Subjekt. Diese Bedeutung hat κρίσις im Buch der Weisheit: 6,5; 8,11; 9,5; 12,25.26;

6

SCARPAT (Sapienza II, 254–255) ist der Auffassung, dass τῇ σοφία die Art und Weise der Schöpfung bezeichne: „in weiser Art“. Scarpat neigt dazu, die Tätigkeit der Weisheit, die jedoch in Weish 9 wie schon in Weish 7–8 eine alles andere als passive Rolle hat, zu minimalisieren.

Synchrone Analyse

259

16,18; 17,1. In Verbindung mit der zuvor genannten Gerechtigkeit verweist der Ausdruck auf die Figur Salomos als Richter. In dem Gebet taucht hier also ein politisches Thema auf, das in der zweiten Strophe wieder aufgenommen wird. Die Aufgabe, die Gott dem Menschen in der Welt anvertraut hat, kann nicht ohne die Gabe der Weisheit erfüllt werden. Denn der Mensch ist schwach und kurzlebig und hat ohne die Weisheit keine Bedeutung (7,1–6). Aus diesem Grunde steht in der Mitte der Strophe die erste Bitte an Gott um diese Gabe: Gib mir die Weisheit! Die Verwendung des Ausdrucks πάρεδρος könnte durchaus eine polemische Bedeutung haben (s. dazu unten); nur die Weisheit ist in der Sicht des Verfassers Gott nahe, und in der Weisheit befindet sich auch die Gerechtigkeit. Die zweite Bitte des Gebets ist verneinend formuliert: Salomo bittet darum, nicht aus der Zahl der „deiner Kinder“ ausgeschlossen zu werden (μή με ἀποδοκιμάσῃς); ἐκ παίδων σου hat partitive Bedeutung; mit παῖδες sind hier Kinder, nicht Diener (vgl. δοῦλος in 9,5) gemeint. Die „Kinder (Söhne und Töchter) Gottes“ sind gewiss die Israeliten (vgl. Weish 18,4), aber der Text von 9,4b scheint nicht einen Gegensatz zwischen Israel und den anderen Völkern schaffen zu wollen. Dank der Gabe der Weisheit ist es einfachhin möglich, zu den Kindern Gottes gezählt zu werden, d.h. eine ganz innige Beziehung zu ihm zu erlangen. Hier findet sich die Begründung für das Gebet Salomos: die menschliche Schwachheit, vgl. 7,1–6 und 8,17–21. Weish 9,5 beginnt mit einem wörtlichen Zitat von Ps 115,7 [116,16MT]; ein solches Zitat ist selten im Buch der Weisheit. Salomo erkennt an, dass er völlig von Gott abhängt als sein Diener und Sohn seiner Magd, d.h. als unveräußerliches Eigentum Gottes nach den Gesetzen von Ex 21,4; 23,12: Über ein demütiges Bekenntnis hinaus ist 9,5a auch eine vertrauensvolle Erklärung der Zugehörigkeit zu Gott. Im Vergleich mit den Begründungen in den Psalmen (Sünde, Krankheit, Feinde u.a.) ist die in 9,5b gegebene abstrakter, aber origineller: „Ich bin ein schwacher (ἀσθενής) und kurzlebiger Mensch“. Das Thema Schwachheit nimmt möglicherweise den Text von Ps 6,3 auf: ἐλέησόν με κύριε ὅτι ἀσθενής εἰμι. Das Adjektiv ἀσθενής war schon in Weish 2,11 im Kontext der Rede der Gottlosen verwendet worden. Sie hatten geurteilt, das Schwache zeige sich als nutzlos, das einzige geltende Gesetz sei das der Gewalt.7 Hier jedoch erwächst aus dem Bewusstsein der eigenen Schwachheit das Gebet. Das Thema der Kürze des Lebens (ὀλιγοχρόνιος) hat hier eine andere Bedeutung als es im Munde der Gottlosen in Weish 2,1 hatte; es nimmt Gedanken wie in Ps 38[39MT] und in 1Chr 29,15 (im Gebet Davids) auf. Die Kürze des Lebens ist jedoch kein Grund zur Verzweiflung, sondern Quelle des Gebets. Obwohl der Mensch nur „kurzzeitig“ lebt, kann er die Fülle des Lebens erreichen dank der Gabe der Weisheit. Die dritte Begründung nimmt auf das Bezug, was der junge Salomo in 1Kön 3,7.9.11 ausgedrückt hatte: Ich bin noch zu jung, um die Gerechtigkeit und die Gesetze zu verstehen, also, um König über dieses Volk zu sein; die Fügung ἐλάσσων ἐν συνέσει bedeutet „zu klein, um zu verstehen“. Das Wort κρίσις, hier im Singular in Verbindung mit „Gesetzen“, hat juridische Bedeutung wie in 9,3b und meint

7

Das Adjektiv ἀσθενής taucht in Weish 13,17 nochmals auf in Bezug auf die Götzenbilder.

9,4: Gib mir die Weisheit!

9,5–6: Ein schwacher und kurzlebiger Mensch

260

Weish 9,1–6

das gerechte Urteilen, das der König zugunsten der Unterdrückten ausüben soll, vgl. Ps 71[72MT],2. Mit dem Plural „Gesetze“ scheint der Verfasser sich nicht auf das mosaische Gesetz zu beziehen (davon ist im Buch der Weisheit immer im Singular die Rede: 2,12; 16,6; 18,4.9), sondern eher auf die Gesetze, die für das Leben jedes Volkes maßgeblich sind. 9,6 wird durch einen Bedingungssatz eingeleitet (κἄν = καὶ ἐάν), gefolgt von einem Konjunktiv mit zugleich konzessiver Bedeutung: κἂν γάρ τις ᾖ „denn falls es jemanden gäbe“. Wenn es also unter den Menschenkindern einen vollkommenen (τέλειος) Menschen gäbe, der alle Eigenschaften hätte, deren Fehlen Salomo bei sich anerkennt, dann wird auch dieser Mensch, wenn ihm Gottes Weisheit fehlt, „für nichts geachtet werden“ (εἰς οὐδὲν λογισθήσεται). Es handelt sich hier nicht um ein eschatologisches Urteil, sondern nur um ein Urteil des Verfassers, der mit Hilfe einer biblischen Wendung die völlige Nichtigkeit dessen feststellt, dem die Weisheit, die nur Gott verleihen kann, fehlt. Zugleich hebt der Verfasser implizit hervor, dass der Mensch deshalb etwas gilt, weil er von Gott hochgeschätzt wird.

Diachrone Analyse 9,1 Zur Vorstellung von der Schöpfung mittels der Weisheit wurde der Verfasser si-

cher durch Texte wie Ps 103[104MT],24; Spr 3,19; Jer 10,12 angeregt; aber auch in Spr 8 ist die Weisheit sowohl mit der Schöpfung als auch mit den Menschen in Beziehung gesetzt, sie ist also eine Figur der Vermittlung. Wort und Weisheit sind hier nicht zwei Hypostasen, zwei Mittelwesen, derer Gott sich bedient, um die Welt zu erschaffen, sondern zwei einander ergänzende Aspekte des Wirkens Gottes: Das Wort bezeichnet, wie in Gen 1, die schöpferische Macht Gottes, die Weisheit, die Art und Weise seines Wirkens, insbesondere in Beziehung auf die Erschaffung des Menschen.8 9,3 Das Verb *διέπω mit Gott als Subjekt kehrt in Weish 12,15 nochmals wieder und bedeutet „regieren, verwalten, leiten“; im griechischen Sprachgebrauch hat es den Sinn einer überlassenen Autorität in Bezug auf den ganzen κόσμος, auf die bewohnte Welt (vgl. den Kommentar zu 1,14). Das Verb kommt anderswo in der LXX nicht vor, es ist aber typisch für die religiöse Sprache (vgl. Philon, Mos. II, 187 mit Bezug auf Mose). In den hellenistischen Abhandlungen über das Königtum wird διέπω sowohl für das Regieren Gottes als auch des Königs verwendet.9 Die Unterscheidung zwischen δικαιοσύνη und ὁσιότης findet sich bereits bei Platon, Gorg. 507b; sie wird aufgenommen von Philon, Abr. 208. Die Wendung ἐν εὐθύτητι ψυχῆς dagegen ist biblisch und geht sicherlich auf 1Kön 3,6 zurück (καὶ ἐν δικαιοσύνῃ καὶ ἐν εὐθύτητι καρδίας) zusammen mit 1Kön 9,4 (ἐν ὁσιότητι καρδίας καὶ ἐν εὐθύτητι) und bezeichnet die Geradheit des Geistes, die eine grundlegende Eigenschaft eines Richters sein sollte. 8 9

Das Buch der Weisheit greift hier auf eine Tradition zurück, die aus dem Targum Neofiti bekannt ist, wo die Schöpfung der Welt gerade mittels des Wortes und der Weisheit geschieht; vgl. LE DÉAUT, Targum du Pentateuque I, 74. Vgl. EKPHANTOS, 274,11.6; 257,8 (ed. HENSE; vgl. DELATTE, Les traités de la royauté, 107). CLEMENS ROMANUS (Kor. 61,2) verwendet das Verb διέπω und zeigt damit seine Kenntnis des Buches der Weisheit (SCARPAT, Sapienza II, 214).

Weish 9,7–12

261

*πάρεδρος „Beisitzerin“ kommt in der LXX nur hier und in Weish 6,14 vor. Schon 9,4 die griechische Mythologie kennt Gottheiten als Throngenossinnen des Zeus.10 Philon bezeugt den Brauch, die Gerechtigkeit, Δίκη, πάρεδρος Gottes zu nennen, vgl. Mos. II, 53; Mut. 94; Spec. IV, 201; Ios. 48; Decal. 177. Das Wort πάρεδρος ruft bei den Juden in Alexandria ein vertrautes Bild wach, denn dieser Ausdruck wurde verwendet, um die Stellung der Isis, Gattin ihres Bruders Osiris und Mutter des Horus, als Königin und als Throngenossin der Sonne bzw. des Sarapis (πάρεδρος in der Aretalogie von Andros, 139) zu bezeichnen. Der Verfasser fährt darin fort, die Weisheit mit Hilfe von Zügen der Isis wie eine reale Person zu beschreiben, ohne jedoch aus ihr eine Göttin zu machen. Zugleich sucht er so auf Anfragen, die von den Isismysterien her kommen, positiv zu antworten: Die Weisheit nimmt an der Würde Gottes selbst teil und ist eng mit ihm verbunden. Während 9,5 ganz biblischen Sprachgebrauch atmet (s. dazu oben), ist in 9,6 9,6 eine antistoische, polemische Ausdrucksweise zu erkennen. Im Stoizismus ist der Weise der vollkommene Mensch, der jede Art von Tugend erworben hat. Zum Weisen als τέλειος vgl. SVF III, 139 frg. 519. Nach Philon (Leg. I, 93) ist jedes Handeln des Weisen vollkommen (vgl. SVF III. 148 frg. 557). Der stoische Weise kennt alles, er ist für jedes Übel und jedes böse Handeln unerreichbar, er besitzt jede Art von Tugend. Nun ist schon für die Stoiker ein solcher Weiser selten; aber, so betont der Verfasser, selbst wenn ein derartiger Weiser existierte, könnte er ein solcher nur sein kraft einer von oben, d.h. von Gott, empfangenen Gabe.11

Zweite Strophe: Die Weisheit und Gott (Weish 9,7–12) 7 Du hast mich als König deines Volkes und als Richter deiner Söhne und Töchter (anderen) vorgezogen. 8 Du hast gesagt, man solle einen Tempel auf deinem heiligen Berg bauen und in der Stadt deiner Zelterrichtung einen Altar, eine Nachbildung des heiligen Zeltes, das du im Voraus bereitet hattest von Anfang an. 9 Und bei dir ist die Weisheit, die deine Werke kennt und die zugegen war, als du die Welt machtest, und die weiß, was deinen Augen gefällt und was gerade ist nach deinen Geboten. 10 Sende sie aus vom heiligen Himmel, und von deinem herrlichen Thron schicke sie, damit sie bei und mit mir sich mühe und ich erkenne, was wohlgefällig ist bei dir.

10 Texte bei SCARPAT, Sapienza II, 217–218. 11 Viele Kommentatoren sehen in diesem Text eines der Modelle, deren Paulus sich in 1Kor 13,2 bedient hat.

262

Weish 9,7–12

11 Jene weiß nämlich alles und versteht es und wird mich in meinen Taten besonnen geleiten und mich bewahren durch ihre Herrlichkeit; 12 und meine Werke werden (dir) angenehm sein, und ich werde (in) deinem Volk gerecht entscheiden und werde würdig sein des Thrones meines Vaters.

Synchrone Analyse Der asyndetische Beginn von 9,7 zeigt deutlich einen Neueinsatz. Das vorangestellte „Du“ ist betont. Das Verb προαιρέω ist zu verstehen als Anspielung auf die ganze Salomoerzählung (vgl. 2Sam 7,12–13; 1Kön 1,11–40; 1Chr 28,5), denn Salomo wird König infolge einer ausdrücklichen Wahl Gottes. In diesem Sinne ist προαιρέω in Dtn 7,6.7; 10,15 verwendet in Bezug auf das von Gott auserwählte Volk Israel. Salomo wurde auserwählt als König eines Volkes, das Gott gehört; zu λαός σου vgl. 1Kön 3,8.9 und 2Chr 1,10–11. Dort ist es Gott selbst, der anerkennt, dass die Israeliten sein Volk sind, seine Söhne und Töchter. Hier wird zum ersten Mal im Buch der Weisheit λαός in eindeutiger Beziehung auf die Israeliten genannt, wie es dann im dritten Teil des Buches ständig geschehen wird. Die Verbindung, die der Verfasser hier zwischen „deinem Volk“ (9,7a) und dem Thema des Söhne- bzw. Töchter-Seins (9,7b) herstellt, dient vor allem dazu, das Volk Gottes unmittelbar mit jenem „Sohn“ zu verknüpfen, der die Hauptfigur des ersten Buchteils war und der von den Gottlosen gerade deshalb verfolgt wurde, weil er behauptete, Gott zum Vater zu haben (vgl. 2,12–20), und dem die Gottlosen schließlich selbst zuerkennen, dass er von Gott selbst verherrlicht und unter seine Söhne versetzt wurde (5,5). Vom Sohn Gottes als einzelnem gläubigen Israeliten beginnt so ein Übergang zum ganzen Volk Israel, einem Volk der Söhne und Töchter (vgl. Weish 12,19.20.21; 16,10.26; 18,4.13; 19,6).12 Über dieses Volk wird Salomo Richter sein (δικαστής); vgl. 1Kön 3,9; 2Chr 1,10–11, den Aufgaben der Könige in der Bibel entsprechend; δικαστής wird in der LXX sowohl für Könige als auch für Richter oder überhaupt für Regierende verwendet (vgl. Weish 6,1 in Parallele zu Königen; in Jos 9,2LXX [8,33MT]; 23,2; 24,1; 1Sam 8,1–2 in Bezug auf Richter). Der Tempel In dem asyndetisch folgenden Satz 9,8 wird die Erinnerung daran hinzugefügt, dass der Tempel von Salomo gebaut wurde (vgl. 2Sam 7,13 und 1Kön 5,15 – 9,25). Der Bau erfolgte auf einen Befehl Gottes hin (εἶπας), der unbestimmt bleibt, da nach 2Sam 7,13; 1Kön 5,17–19; 1Chr 28,2 dieser Befehl nicht Salomo, sondern David gegeben wurde. Deshalb heißt es nicht „du hast mir gesagt“, sondern „du hast gesagt“. In den biblischen Texten, in denen vom Tempelbau durch Salomo die Rede ist (insbesondere 1Kön 5,15 – 9,25; 2Chr 1,18 – 7,10) wird häufig die Fügung οἰκοδομεῖν τὸν οἶκον κυρίου verwendet. Anstelle von οἶκος benutzt der Verfasser hier ναός, ein für die LXX typisches Wort.13 Der Tempel soll „auf deinem heiligen Berg“

9,7–8: Salomo als König, Richter und Bauherr

12 Vgl. MAZZINGHI, „L’idea di ‘popolo’ nel libro della Sapienza“, 20–21. 13 Vgl. MICHEL, Otto, ναός, ThWNT IV, 885–895.

Synchrone Analyse

263

(vgl. Ps 14[15MT],1; 47[48MT],2) gebaut werden. Der Berg wird, noch bevor der Tempel auf ihm errichtet wird, als „heilig“ betrachtet, wahrscheinlich aus dem in 2Chr 3,1 genannten Grund, dass dort schon das Opfer Isaaks stattgefunden habe. Aber man könnte auch an 2Sam 24,18–25 denken: Dieser Ort war zuvor von Gott gewählt worden für den Bau seines Tempels. Das folgende Kolon 9,8b stellt dem Tempel das θυσιαστήριον zur Seite, ein der LXX eigenes Wort, das einen „Altar“ bezeichnet (vgl. 2Sam 24,25; 1Chr 21,26 – 22,1). Es handelt sich wahrscheinlich um den Brandopferaltar, den nach 1Kön 8,64; 9,25; 2Chr 4,1 Salomo hatte errichten lassen und auf dem die Opfertiere dargebracht wurden (1Kön 8,22.54.62–64). Damit verweist Weish 9 auch unmittelbar auf den Gottesdienst, der im Tempel gefeiert wurde, zurück. Der Altar und der Tempel stehen ἐν πόλει κατασκηνώσεώς σου „in der Stadt deiner Wohnung“, wörtlich „deiner Zelterrichtung“ (vgl. 1Chr 28,2). Jerusalem, das entsprechend dem Verfahren des Buches der Weisheit nicht mit Namen genannt wird, ist die Stadt, wo Gott beschlossen hat zu wohnen, vgl. Tob 1,4 (ὁ ναὸς τῆς κατασκηνώσεως); das Wort κατασκήνωσις ist in der LXX selten; zu verweisen ist auch auf Ez 37,27 (καὶ ἔσται ἡ κατασκήνωσίς μου ἐν αὐτοῖς), auch dort in Beziehung auf das Verweilen Gottes bei den Menschen. Der Tempel wird hier betrachtet als die Nachbildung (μίμημα) jenes „Zeltes“, das Gott unter den Menschen aufzustellen beschlossen hatte, als er aus seiner himmlischen Wohnung niederstieg. Der Tempel ist Abbildung des „heiligen Zeltes“; diese Wendung kommt nur in Sir 24,10 vor, und zwar für den Tempel. Das „Zelt“ bezeichnet in der LXX das bewegliche Heiligtum, das die Bundeslade (vgl. Ex 25,9) enthält; in Weish 9,8c meint es aber die himmlische Wohnung Gottes, deren Symbol der irdische Tempel ist. Mit ἣν προητοίμασας ἀπ’ ἀρχῆς deutet der Text eine Entscheidung Gottes an, die schon sehr weit zurückliegt; προετοιμάζω ist möglicherweise Jes 28,24 entnommen, dem einzigen Text in der LXX, wo das Verb noch vorkommt; das Simplex ἑτοιμάζω ist häufig dem Wirken Gottes vorbehalten, der Gaben und Vorgänge für die Menschen „bereitet“; in Bezug auf den Tempel könnte man an Ex 15,17 denken.14 Die Verknüpfung von Königtum, Richtertätigkeit und Tempel stellt klar heraus, was der Verfasser von dem erwartet, der berufen ist, eine Gemeinschaft aufzubauen: Regierungskunst, Beachtung der Gesetze mit Gerechtigkeit, Förderung der Verehrung des wahren Gottes. Der Text von 9,9 zeigt einen plötzlichen Übergang zur Figur der Weisheit, die 9,9: Bei dir ist beschrieben wird als „die deine Werke kennt“, d.h. die ganze Schöpfung (vgl. die Weis7,17a), oder besser noch: den Plan Gottes mit der Schöpfung, denn im folgenden heit … Kolon 9,9b wird festgestellt, dass die Weisheit dabei war, als Gott die Welt erschuf; vgl. auch 8,4. Die Weisheit wird hier so als Quelle von Offenbarung gesehen.15 Die Weisheit wird beschrieben als „anwesend“ (παροῦσα) bei der Schöpfung der Welt. Das Imperfekt ὅτε ἐποίεις verweist auf den Schöpfungsakt Gottes, be14 SCARPAT, Sapienza II, 261; GRUNDMANN, Walter, ἕτοιμος κτλ., ThWNT II, 702–703; vgl. Spr 3,19; 8,27; Jer 28,15, alle in Bezug auf das Wirken Gottes, betrachtet in Verbindung mit der Weisheit. 15 Vgl. Tob 12,7, wo τὰ ἔργα τοῦ θεοῦ parallel stehen zu μυστήριον βασιλέως; vgl. SCARPAT, Sapienza II, 226; τὰ ἔργα beziehen sich dort auf die Absicht Gottes bei der Erschaffung der Welt.

264

9,10a-b: Sende sie aus vom heiligen Himmel …

9,10c-11: Die „anwesende“ Weisheit

Weish 9,7–12

trachtet in seiner zeitlichen Erstreckung so, wie er in Gen 1 beschrieben wird. Das Verb πάρειμι wird im Buch der Weisheit in seinem üblichen Sinn von „dabei sein, anwesend sein“ verwendet (vgl. Weish 4,2; 11,11; 14,17; 19,14). Die Weisheit weiß, was Gott will (9,9c-d); das Partizip ἐπισταμένη weist auf die der Weisheit eigene ἐπιστήμη zurück, die in 7,16 und 8,4 beschrieben wurde. Die Wendung ἀρεστὸν ἐν τοῖς ὀφθαλμοῖς σου hat einen eher hebräischen als griechischen Klang (vgl. z.B. Jes 38,3), kommt aber genau so nur noch in Jdt 12,14 und in Gen 3,6 (ohne ἐν) vor bei der Erwähnung des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse. Erkennen, was in den Augen Gottes wohlgefällig ist, bedeutet also: erkennen, was er will. Die Weisheit kennt nicht nur den Willen des Herrn, sondern auch, was richtig (εὐθές) ist nach (ἐν) seinen Geboten, d.h. nach dem Gesetz Gottes, d.h. nach der Tora. So wird eine wichtige Darlegung vorbereitet, nämlich über das Verhältnis zwischen Weisheit und Gesetz, verstanden als Offenbarung des Willens Gottes, wovon in 9,17 die Rede sein wird. Die eigentliche Bitte im Zentrum der Strophe und des ganzen Gebets beginnt asyndetisch und hebt so den Imperativ von ἐξαποστέλλω hervor. Die LXX verwendet dieses Verb mit Gott als Subjekt, wenn von der Sendung eines Engels (Mal 3,1) oder der Propheten (Jer 7,25) gesprochen wird; auch in Gen 3,23 bei der Vertreibung aus dem Paradies; vgl. auch Ps 17[18MT],17; 42[43MT],3; 56[57MT],4; 103[104MT],30; 134[135MT],9; ἐξαποστέλλω bezeichnet also eine Sendung, die Gott jemandem anvertraut, oder das Handeln Gottes, wenn er den Menschen etwas sendet. Die Weisheit ist demnach etwas, was unmittelbar von Gott her kommt und mit ihm verbunden ist. Sie ist zu sehen als empfangenes Geschenk, nicht als erlangter Besitz. Der Ausdruck „aus dem heiligen Himmel“ im Plural ist in der LXX einmalig, mehrfach kommt der Singular vor; er bekräftigt die Zugehörigkeit der Weisheit zur himmlischen Sphäre (der Himmel gilt als der vornehmste Teil der Schöpfung). Im folgenden Kolon 9,10b kehrt das Motiv des Thrones Gottes wieder (vgl. 9,4a, wo θρόνος im Plural steht). Man kann θρόνον δόξης σου verstehen als „deinen herrlichen Thron“ oder als „den Thron deiner Herrlichkeit“, vgl. Weish 7,25b; der Verfasser könnte an Sir 24,4 gedacht haben: „mein Thron (stand) auf einer Wolkensäule“. Der zweite Imperativ, πέμψον „schicke sie“, nimmt die Bedeutung des Imperativs in 9,10a auf und spielt so mit der Raumsymbolik einer Weisheit, die vom Himmel, dem Ort des Wohnsitzes Gottes, kommt. Der Text 9,10c-d nimmt entsprechend der konzentrischen Struktur der Strophe, die oben aufgezeigt wurde, das, was in 9,9 bereits gesagt wurde, auf; besonders 9,10c steht in enger Verbindung mit 9,9b: 9b: καὶ παροῦσα ὅτε ἐποίεις τὸν κόσμον 10c: ἵνα συμπαροῦσά μοι κοπιάσῃ

Während 9,9b die Anwesenheit der Weisheit bei Gott beschreibt, spricht 9,10c von ihrer Gegenwart beim Menschen. Der Finalsatz (ἵνα) hebt den Zweck der Sendung der Weisheit hervor: beim Beter anwesend zu sein (συμπαροῦσά μοι) und sich zusammen mit ihm abzumühen. Das Pronomen μοι dürfte auf das Verb συμπάρειμι (die Weisheit ist σύν μοι „bei mir“ anwesend) zu beziehen sein und gibt zugleich dem Verb κοπιάω einen bestimmten Beiklang: „damit sie zusammen mit mir sich abmühe“; κοπιάω vermittelt, wie in Weish 6,14, die Vorstellung einer harten, müh-

Synchrone Analyse

265

samen Arbeit;16 in Jes 40,28LXX heißt es, dass Gott sich nicht abplagen wird (οὐδὲ κοπιάσει); dies tut jedoch die Weisheit, die sich an der Seite des Menschen abmüht, also eine aktive Rolle übernimmt. Die Mitarbeit der Weisheit ist nicht allein auf Salomos Tempelbau einzugrenzen, sie erstreckt sich auf alles, was Salomo tut. Eine weitere Wirkung der Gabe der Weisheit ist, zu erkennen, was Gott wohlgefällig ist; zu παρὰ σοί „bei dir“ 9,10d vgl. die Entsprechung in 9,9c „in deinen Augen“. Das Adjektiv *εὐάρεστον „wohlgefällig“ (das ἀρεστόν in 9,9c aufnimmt) ist ein hapax der LXX und des NT; nach 9,17 ermöglicht die Weisheit dem Menschen, den Willen Gottes zu erkennen. Der Text von 9,11 bietet dazu die Begründung: Denn sie „weiß alles“ und „versteht“ es (zu συνίημι s.o. bei 3,9 und 6,1). Der Verfasser könnte Ps 118[119MT],34– 35 im Sinn gehabt haben.17 Die Weisheit ist aufgrund ihrer Nähe zu Gott vollkommen in der Lage, die ganze geschaffene Welt zu begreifen, den Sinn der Dinge; πάντα ist in einem sehr weiten und allgemeinen Sinn zu verstehen: Die Weisheit wird hier vorgestellt als die Deuterin der Schöpfung. In 9,11b-c entfaltet der Verfasser zwei weitere Tätigkeiten der Weisheit beim Menschen: Sie geleitet ihn bei all seinem Tun. Das Verb ὁδηγέω kehrt in Weish 10,17 (vgl. 10,10) im Zusammenhang mit der Wolkensäule wieder. Die Weisheit leitet den Menschen bei seinem Tun mit Besonnenheit (*σωφρόνως). Das diesem Adverb zugehörige Substantiv σωφροσύνη „Mäßigung“ bezeichnet eine der Kardinaltugenden, die die Weisheit nach 8,7 lehrt. Die zweite Frucht ist, dass die Weisheit „mich bewahren wird (φυλάξει) durch ihre Herrlichkeit“. Die Herrlichkeit der Weisheit ist Widerschein der Herrlichkeit Gottes, von dem her die Weisheit selber kommt (vgl. 9,10). Die Vorstellung der Bewahrung und des Schutzes verweist ihrerseits auf die mit der Wolkensäule in der Wüste verbundene „Herrlichkeit“, auf die auch mit der Erwähnung der „Führerin“ schon angespielt war (vgl. Ex 23,20: die Rolle, die im Exodustext der Engel des Herrn hat, übernimmt hier die Weisheit). Denn Leiten und Schützen sind die beiden Aufgaben der Wolke beim Zug durch die Wüste; die Weisheit entspricht dieser Wolke. Ähnliche Vorstellungen finden sich in Sir 14,27 und Ps 72[73MT],24 (vgl. auch den Kommentar zu Weish 18,3). 9,12 nimmt das Thema von 9,7–8 in umgekehrter Reihenfolge und knapper auf: Salomo als Bauherr – Richter – König. Alle Werke Salomos (τὰ ἔργα μου hat hier eine allgemeine Reichweite) werden Gott „gut gefallend, angenehm“ sein (für diese Bedeutung von προσδεκτός vgl. Spr 11,20). Salomo wird imstande sein, das Volk Gottes gerecht zu richten (vgl. 9,7b): Hier nimmt der Verfasser 1Kön 3,9 auf (καὶ διακρίνειν τὸν λαόν σου ἐν δικαιοσύνῃ); vgl. auch Spr 31,9; διακρίνω kommt im Buch der Weisheit nur hier vor und hat den Beiklang von unterscheiden, in einem Rechtsstreit entscheiden, wer recht hat. Nur durch die Gabe der Weisheit wird Salomo des Thrones18 seines Vaters (David) würdig sein; ἄξιος (vgl. 1,16) hat einen starken theologischen Beiklang: Gott gegenüber würdig sein. 16 Vgl. HAUCK, Friedrich, κόπος, κοπιάω, ThWNT III, 827–830; vgl. auch SCARPAT, Sapienza II, 264–265. 17 „In dem Psalm wird in Form eines Gebetes ausgedrückt, was in unserem Text als Tun der Weisheit beschrieben wird: Sie ist es, die weiß und versteht, die den Gerechten auf dem Weg der Gebote leitet und bewahrt“, SCARPAT, Sapienza II, 235. 18 Hier im Singular, vgl. SCARPAT, Sapienza II, 266–267: Vielleicht wollte der Verfasser durch den Plural in 9,4a die metaphorische Bedeutung des Wortes hervorheben.

Die Weisheit als Führerin

9,12: Salomo als Bauherr, Richter und König

266

Weish 9,7–12

Diachrone Analyse In der Strophe 9,7–12 wird die Königsfiktion ausdrücklich, und der Betende wird als Salomo erkennbar. Aber der Text hat noch eine tiefere Dimension. Der Verfasser wendet sich an seine Hörer- bzw. Leserschaft, indem er zu verstehen gibt, dass jeder Mensch, der Gott um die Weisheit bittet, eine königliche Gestalt werden kann. Dabei bedient sich der Verfasser der stoischen Vorstellung des Weisen als Königs (vgl. 6,20); aber auch der biblische Hintergrund Gen 1,26–28 ist wichtig: Gott hat den Menschen für eine königliche Aufgabe bestimmt.19 9,7 Die Nennung der „Töchter“ neben den „Söhnen“ ist ungewöhnlich und könnte von Jes 43,6 angeregt sein. Sie ist ein Zeichen einer gewissen Aufmerksamkeit des Verfassers für die Frauen. Der Ausdruck „Söhne und Töchter“ kommt in der Bibel sonst nur noch in Dtn 32,19 und 2Kor 6,18 vor. 9,8 Die genaue Bedeutung der Bezugnahme auf den Tempel ist eingehend diskutiert worden.20 Die mögliche Beziehung zu Sir 24,10 legt es nahe, den Ausdruck „heiliges Zelt“ und die in 9,8b enthaltene Anspielung auf das Zelt auf den Tempel in Jerusalem hin zu deuten. Der Verfasser hat jedoch auch das Wüstenheiligtum im Sinn. Denn das Abbildmotiv nimmt die dem Mose erteilte Anordnung von Ex 25,40 auf: ὅρα ποιήσεις κατὰ τὸν τύπον τὸν δεδειγμένον σοι ἐν τῷ ὄρει. Der Relativsatz ἣν προητοίμασας ἀπ’ ἀρχῆς verweist so auf eine Entscheidung Gottes schon am Anfang; Gott hat seit Anbeginn der Zeit beschlossen, bei den Menschen zu wohnen; der irdische Tempel ist Zeichen dieser seiner Gegenwart, wie es schon das Zelt in der Wüste war. Diese Vorstellung ist in der alten jüdischen Tradition mehrfach belegt.21 Man kann daraus schließen, dass der Verfasser den Tempel von Jerusalem im Blick auf Motive im Zusammenhang mit dem Wüstenzelt neu deutet. Aber beides, Tempel und Zelt, sind ihrerseits ein Abbild (μίμημα) eines himmlischen Tempels (vgl. Hebr 8,1–2; 9,11–14.24 für die Aufnahme dieses Motivs im NT), der den wahren Wohnsitz Gottes bildet, für den der irdische Tempel ein Zeichen ist. Das Buch der Weisheit bemüht sich, die irdischen mit den himmlischen Dingen zu verbinden, und sucht gleichzeitig, die ersteren zu übersteigen und so zu Gedanken über die zweiten zu gelangen. *μίμημα kommt oft bei Philon vor und bezeichnet das Modell bzw. das Abbild von etwas.22

19 Die Verwendung der Königsmetapher ist im Buch der Weisheit sehr verschieden von der bei Kohelet; vgl. VIGNOLO, „Sapienza, preghiera e modello regale“, bes. 286–300. Während es in Koh 1–2 um eine anthropologische Frage und einen Verzicht auf das Königtum geht, stellt Weish 7–9 demgegenüber die Endlichkeit des Menschen fest und spricht zugleich von einem wiedergefundenen sowohl politischen als auch eschatologischen Königtum als der wahren Berufung des Menschen. 20 Vgl. LARCHER, Sagesse II, 580–583; SISTI, Sapienza, 252–253. 21 Siehe die in WINSTON, Wisdom, 204–205 zitierten Texte. 22 SCARPAT (Sapienza II, 223–224) ist der Auffassung, dass die Verwendung von μίμημα kein ausreichendes Argument dafür ist, an eine Abhängigkeit von der platonischen Vorstellung der Ideen zu denken (anders dagegen WINSTON, Wisdom 203 und HÜBNER, Weisheit, 125 bes. Anm. 147); das Buch der Weisheit vermeidet sorgfältig das Wort πάραδειγμα, das sogleich zu Platon geführt hätte.

Diachrone Analyse

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Isis und die Weisheit23 Einer der Texte, der zweifelsohne Weish zugrunde liegt, ist Spr 8,22–31:24 παροῦσα 9,9b.10c in Weish 9,9b scheint ἤμην παρ’ αὐτῷ aus Spr 8,30LXX aufzunehmen, während συμπαροῦσα in Weish 9,10c gewiss auf Spr 8,27LXX zurückgeht: συμπαρήμην αὐτῷ; denn das Verb συμπάρειμι kommt in der LXX außer an diesen beiden Stellen nur in Tob 12,12B vor (über das Dabeisein Raphaels, als Tobit die Toten begrub). Die Abhängigkeit von παροῦσα in Weish 9,9b von Spr 8,30LXX verleiht dem Verb die Bedeutung „helfend anwesend sein“ (vgl. das lateinische adesse). Es ist jedoch zu beachten, dass der Verfasser zwei Ausdrücke, die in Spr 8 beide von der Beziehung der Weisheit zu Gott handeln, einmal (παροῦσα) auf das Verhältnis der Weisheit zum Herrn, zum anderen (συμπαροῦσα) auf ihr Verhältnis zu Salomo anwendet. Ein weiterer wichtiger Unterschied zu Spr 8,27.30LXX besteht darin, dass der griechische Übersetzer in Spr 8,22–31LXX im Vergleich zum hebräischen Text eine größere Passivität der Weisheit zu unterstreichen scheint; die Formulierung συμπαρήμην αὐτῷ (das Pronomen steht nicht im MT) soll die Weisheit ausdrücklich Gott unterordnen.25 Auf diese Weise wollte der griechische Übersetzer der Gefahr entgehen, dass man in der Weisheit eine göttliche Figur, etwa eine hebräische Maʽat oder vielleicht sogar Isis selbst sähe.26 Im Buch der Weisheit gibt es keine derartigen Besorgnisse; das Lob der Weisheit (Weish 7–8) hat in griechischen philosophischen Kategorien eine neue Gestalt gefunden und ein Bild der Weisheit im Blick auf die Figur der Isis entworfen, ohne dass der Verfasser die Notwendigkeit, sich dafür zu rechtfertigen, empfunden hätte. Die Wahl des Verbs συμπάρειμι in Weish 9,10c ist deshalb nicht als ein Versuch zu sehen, die aktive Rolle der Weisheit zu verkleinern, da das Verb hier nur von ihrem Mitdabeisein beim Menschen spricht. Denn es ist gerade die aktive Gegenwart der Weisheit bei Gott, die sie dazu bringt, auch beim Menschen aktiv zu sein (κοπιάω). Das Verb πάρειμι ist im Griechischen charakteristisch für die religiöse Sprache. Seit Homer dient πάρειμι dazu, die Anwesenheit der Götter zu beschreiben; insbesondere bezeichnet πάρειμι die Anwesenheit eines Gottes bei Kulthandlungen zu seinen Ehren; die Verwendung des Wortes παρουσία in Bezug auf die Gottheit ist wohlbekannt.27 Das Verb συμπάρειμι wird von Flavius Josephus auf religiösem Gebiet für die Gegenwart und Hilfe Gottes verwendet (τοῦ θεοῦ συμπαρόντος, Ant. 2,268; vgl. Bell. 5,380; Ant. 1,260; 2,340; 3,316; 10,239); aber in dieser Bedeutung ist es im griechischen Sprachgebrauch selten. Die beiden Verben verweisen in ihrem Kontext hier eher auf die Figur der Isis, wie z.B. der erste Isis-Hymnus des Isidoros zeigt (Zeilen 29–34): Alle, die todbedroht im Gefängnis gehalten werden, und alle, die geplagt werden von langer Schlaflosigkeit mit Schmerzen, und die in fremdem Land Umherirrenden

23 Vgl. MAZZINGHI, „La sapienza presente accanto a Dio“, passim. 24 Vgl. SKEHAN, „The Literary Relationship“, bes. 174–175. 25 Vgl. COOK, Johann, The Septuagint of Proverbs. Jewish and/or Hellenistic Proverbs? Concerning the Hellenistic Colouring of Lxx Proverbs, Leiden/New York/Köln: Brill 1997, 227–228. 26 Vgl. FOX, Michael V., „World Order and Maʽat: a Crooked Parallel“: Journal for Ancient Near Eastern Studies 23 (1995) 37–48. 27 Vgl. SPICQ, Notes, 673–675; OEPKE, Albrecht, παρουσία, πάρειμι, ThWNT V, 856–869.

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Weish 9,7–12 und alle, die im Winter auf hoher See fahren, wenn Männer zugrunde gehen, Schiffe zerschmettert werden, diese alle werden gerettet, wenn sie darum beten, dass du da bist (παρεῖναι).

Hier hat πάρειμι die Bedeutung „helfend anwesend sein“, und der Kontext macht sehr anschaulich, welche Hilfe die Anwesenheit der Göttin bringen soll. Die Situationen, aus denen Isis die Menschen rettet, sind Topoi: Todesgefahr, Gefangenschaft, Krankheit, Reisen auf dem Land und auf dem Meer; sie alle finden sich im Buch der Weisheit wieder in Bezug auf das Wirken der Weisheit: In Weish 10 befreit die Weisheit Israels die Gefangenen (10,13–15), sie rettet den Menschen (so schon 9,18 und später 10,4), sie befreit den Menschen aus der Macht des Schicksals (vgl. Weish 17,16–17). Auch die Rolle der Führerin (ὁδηγός, ὁδηγέω; vgl. die Isis-Litanei von Oxyrhinchos = Pap. Oxyr. 1380,122–123) wird in 9,11b der Weisheit zugeschrieben; vgl. 10,10.17 und noch 14,5 und 18,3; die Rettung der in Seenot Geratenen nach Weish 14,1–10 ist ein kennzeichnendes Element in den Isis-Aretalogien. Das Verb πάρειμι kommt auch im zweiten Hymnus des Isidoros vor (II, 5–8): „Alle, die zu dir beten, dass du bei ihrem Handel dabei bist (παρεῖναι), werden, (weil sie) gottesfürchtig (sind), reich für alle Zeit; und alle, die in Todeskrankheiten vom Schicksal gehalten werden, erhalten, sobald sie zu dir gebetet haben, schnell von dir Leben.“ Auch im dritten Isis-Hymnus des Isidoros kehrt das Verb πάρειμι wieder (III, 28) in Verbindung mit der kosmischen Rolle der Isis und ihrer Rechtsprechung (III, 19–28), einem Thema, das der Rolle der Weisheit bei Salomo als Kunst der guten Regierung nahekommt: Isis schenkt demnach eine wohlwollende und heilvolle Anwesenheit: En adsum tuis commota, Luci, precibus (…). Adsum tuos miserata casus, adsum favens et propitia (…) iam tibi providentia mea inlucescit dies salutaris „Siehe, ich bin da, Lucius, bewogen von deinen Bitten … Aus Erbarmen mit deinen Schicksalsfällen bin ich da, wohlwollend und dir gewogen bin ich da … durch meine Vorsehung leuchtet dir der Tag der Rettung schon auf“ (Apuleius, Met. XI,5–6); Isis ist praesentissimum numen, die allergegenwärtigste Gottheit (Met. XI,12). In diesen Texten tritt die starke religiöse Prägung und die tiefe persönliche Beziehung hervor, die den Verehrer der Isis mit seiner Göttin verbindet;28 dies ist auch der Klang, der das Gebet von Weish 9 beseelt. Das Verb ὁδηγέω in 9,11b kommt mehrfach im Kontext des Exodus vor, z.B. in Ex 13,17; 15,13; 32,34; Dtn 1,33; vgl. Neh 9,12 und an vielen Stellen in den Psalmen. Man könnte an Ps 142[143MT],10 denken: τὸ πνεῦμά σου τὸ ἀγαθὸν ὁδηγήσει με ἐν γῇ εὐθείᾳ; in Weish 9,17 wird die Weisheit tatsächlich als Mittel, das dem Menschen dazu dient, den Willen Gottes zu erkennen, dem Geist an die Seite gestellt. Aber das Thema „Führung“ ist auch ein typisches Element der IsisAretalogien (vgl. oben zu 7,15). Was Isis für die Menschen zu sein beansprucht, eine Führerin, das ist noch viel mehr die Weisheit. Zusammenfassend kann man sagen: Indem der Verfasser die Anwesenheit der Weisheit bei Gott und beim Menschen beschreibt, bedient er sich vor allem biblischer Vorbilder (besonders Spr 8,22–31) und beabsichtigt nicht, sich von den Überlieferungen Israels zu lösen; dennoch können die Sprache und die gewählten Themen besser verstanden werden im Blick auf die Figur der Isis. Insofern kann man von einer relecture und Aktualisierung biblischer Themen in einer dem Isiskult 28 Vgl. auch WINSTON, „The Sage as Mystic in the Wisdom of Solomon“.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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nahen Terminologie sprechen. Sicher gab es auch polemische und apologetische Absichten: Das Buch der Weisheit möchte die Juden von Alexandria darin bestärken, der Versuchung nicht nachzugeben, einer der verführerischsten Figuren, die sie vor Augen hatten, zu folgen: Isis. Während bei Isis das Wort πάρειμι häufig verwendet wird, ist hervorzuheben, dass dies für συμπάρειμι nicht der Fall ist; es scheint im Zusammenhang mit Isis nicht belegt zu sein. Die Weisheit stellt sich, sehr viel mehr als Isis, dem Menschen an die Seite (σύν) und müht sich gemeinsam mit ihm ab (κοπιάω). In dieser Perspektive ist die Verknüpfung von Weish 9 mit den Themen Schöpfung und Geschichte Israels Ausdruck einer bestimmten Stellungnahme und großer Bewusstheit der eigenen Identität innerhalb einer feindlichen kulturellen Umwelt. Dabei geschieht die Aufnahme der Isis-Themen ganz natürlich; die Weisheit ist nicht Isis, jedoch kann auch der Jude, der sich vielleicht von Isis hatte verführen lassen, bei der Weisheit sehr viel mehr von dem finden, was Isis ihm versprach. Damit entwirft der Verfasser eine Brücke zwischen seiner Gemeinschaft und einer Kultur, die allzu fern erscheinen konnte, und das, ohne je den eigenen Glauben zu verlassen.

Dritte Strophe: Die Weisheit, der Wille Gottes und das Heil (Weish 9,13–18) 13 Welcher Mensch nämlich wird Gottes Willen erkennen? Oder wer wird gedanklich erfassen, was der Herr will? 14 Die Gedanken der Sterblichen nämlich sind ungewiss und unsicher unsere Vorhaben; 15 ein verderblicher Leib nämlich beschwert die Seele, und das irdische Zelt belastet den um Vieles besorgten Sinn. 16 Und kaum (können) wir uns vorstellen, was auf der Erde (vorgeht), und das, was auf der Hand (liegt), finden wir (nur) mit Mühe. Das im Himmel aber – wer hat es ergründet, 17 deinen Willen aber – wer hat ihn erkannt, wenn du nicht Weisheit gegeben und deinen heiligen Geist aus der Höhe gesandt hättest? 18 Und so wurden die Pfade derer auf der Erde berichtigt, und über das dir Gefallende wurden die Menschen belehrt, und durch die Weisheit wurden sie gerettet.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 16 Anstelle der Lesart τὰ ἐν χερσίν haben S V 613 Arm: die im griechischen Sprachgebrauch häufigere Redensart τὰ ἐν ποσίν mit der Bedeutung „verfügungsbereit“; die erstgenannte Lesart bedeutet „in Reichweite befindlich“ und stellt die lectio difficilior dar. In 9,16c ist anstelle der Aoristform ἐξιχνίασεν die Futurform ἐξιχνιάσει weniger bezeugt (vgl. den Apparat bei Ziegler). In Parallele zum Aorist ἔγνω in 9,17aα ist die

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Weish 9,13–18 Aoristform vorzuziehen. Das Verb ἐξιχνιάζω kommt mehrfach in der LXX vor, z.B. in Sir 1,3; 18,4.6; 24,28 (vgl. Ijob 11,7) im Sinne von „aufspüren, erkunden, ergründen“, an allen genannten Stellen mit einem Bezug auf die Weisheit.

Synchrone Analyse Die dritte Strophe beginnt mit zwei rhetorischen Fragen, die beide mit τίς „wer?“ eingeleitet werden. Beide drücken die Unmöglichkeit für den Menschen aus, den Willen Gottes zu erkennen. Das γάρ am Anfang verbindet die Strophe mit der Bitte von 9,10 um die Sendung der Weisheit, denn ohne sie ist es unmöglich zu wissen, was der Herr will. Vom Einzelfall Salomos in 9,1–6 findet hier der Übergang zum für jeden Menschen Gültigen statt. Die Wendung „(wer) wird den Willen Gottes erkennen?“ ist absichtlich unbestimmt; das Verb im Futur verweist auf eine Möglichkeit („wer wird können?“) und der Ausdruck βουλὴν θεοῦ (ohne Artikel) richtet die Aufmerksamkeit, wie schon in 6,4c auf einen allgemein verstandenen Willen Gottes, d.h. auf die Forderungen und zugleich die Entscheidungen Gottes gegenüber dem Menschen, einen Willen, den zu erkennen der Mensch nicht imstande ist. Dieses Thema ist biblisch: vgl. Jes 40,13; Röm 11,33–34, und außerhalb der biblischen Texte 1 Hen 93,11–14. In der zweiten Frage (9,13b) verstärkt das Verb ἐνθυμηθήσεται das voraufgehende γνώσεται und bildet die rhetorische Form der gradatio oder climax; ἐνθυμέομαι kam schon in Weish 3,14; 6,15; 7,15 vor und bedeutet hier „sich eine Vorstellung machen, gedanklich erfassen“ wie in Sir 16,20 (τὰς ὁδοὺς αὐτοῦ τίς ἐνθυμηθήσεται). Wie auch bei der ersten rhetorischen Frage wird eine negative Antwort erwartet: Niemand kann das erfassen, was der Herr will. Der Verfasser gibt hier die Gründe an, weshalb es dem Menschen unmöglich 9,14 ist, den Willen Gottes zu erkennen. Das Wort λογισμός wurde schon am Anfang des Buches mit einem negativen Unterton verwendet (1,3.5); hier verweisen die λογισμοί zurück auf λογισθήσεται, das letzte Wort der ersten Strophe, und ganz allgemein auf die Gedanken der Sterblichen (θνητῶν). „Die Sterblichen“ ist ein in der LXX seltener, aber im griechischen Sprachgebrauch häufiger Plural (vgl. θνητός in 7,1). Die Gedanken der Menschen werden δειλοί genannt (in 4,20 und 17,11a kommt dieses Adjektiv nochmals vor); vgl. dazu die Redeweise bei Homer von den δειλοὶ βροτοί, den „elenden Sterblichen“ (Il. 22,31). Während δειλός in Weish 17,11 die Bedeutung „feige“ hat, bedeutet es hier in 9,14 eher „furchtsam, ungewiss“.29 Der Verfasser spricht den menschlichen Gedanken nicht von vornherein ihren Wert ab, vielmehr macht er auf ihre Begrenztheit aufmerksam, ihre „Furchtsamkeit“, die bleibende Ungewissheit und Nichtendgültigkeit des menschlichen Denkens. Die ἐπίνοιαι „Vorhaben“ im folgenden Kolon 9,14b (vgl. 6,16; 14,12; 15,4) bezeichnen eher das Ergebnis der Gedanken, bzw. das, wozu die inneren Überlegungen geführt haben (zu dem nicht sehr häufigen Wort ἐπίνοια vgl. auch Apg 8,22). Das Adjektiv *ἐπισφαλής (vgl. ἐπισφαλῶς in 4,4) bezeichnet etwas als unstet, unbe-

9,13–17aα: Die Weisheit als Führerin zur Erkenntnis des Willens Gottes 9,13

29 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 77–78.

Synchrone Analyse

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ständig, sogar als gefährlich (vgl. Apg 27,9 in Bezug auf die Seereise). Die Vorhaben, die die Menschen gefasst haben, sind nicht wirklich verlässlich. Gegen Ende des Gebets kommt der Verfasser auf den tiefsten Grund der 9,15 menschlichen Schwachheit zu sprechen. Das erste Kolon klingt zweifellos griechisch: „Ein verderblicher (φθαρτός) Leib beschwert die Seele (βαρύνει ψυχήν)“. In einem synonymen Parallelismus nennt das zweite Kolon einen weiteren Grund für die menschliche Schwäche. Subjekt ist τὸ γεῶδες σκῆνος „das irdische [erdige] Zelt“, ein Ausdruck, der dem voraufgehenden φθαρτὸν σῶμα entspricht, also den Leib meint. Die Verwendung des Wortes „Zelt“, um metaphorisch den Leib zu bezeichnen, ist verbreitet und verweist in der Bibel auf eine Situation der Vorläufigkeit (vgl. Jes 38,12; Hebr 11,9), ebenso wie der Ausdruck „irdisch“ in Bezug auf den Leib.30 Das Bild des Zeltes für das Leben eines Menschen könnte von Texten wie Ijob 4,19 angeregt sein, wo die Häuser aus Lehm erwähnt werden, in denen die Menschen wohnen; dass der Mensch aus Erde gemacht ist, verweist wiederum auf Gen 2,7; 3,19 (vgl. Weish 15,8). Das poetische, seltene Verb *βρίθω kommt noch seltener in der hier vorliegenden Bedeutung „belasten“ vor. Objekt der Belastung ist der „um Vieles besorgte Sinn“ (νοῦς πολύφροντις), eine kreativere Benennung der im vorangehenden Kolon genannten ψυχή; νοῦς kommt sonst im Buch der Weisheit nur noch in 4,12 vor und macht deutlich, dass es hier um eine psychologische oder besser gnoseologische Frage geht, nämlich um die Erkenntnis des Willens Gottes. Das Adjektiv *πολύφροντις ist nur noch einmal anderswo verwendet (Anakreon, frg. 48,6 Bergk: πολυφρόντιδές τε βουλαί); im Kontext hat es in Weish 9,13b den Sinn „um vieles besorgt“. Nach dem Verfasser ist die Seele genötigt, sich um die Bedürfnisse des Leibes zu sorgen wie Speise, Kleidung, Dinge des täglichen Lebens, und es gelingt ihr deshalb nicht, an die himmlischen Dinge zu denken. Besonders in 9,16c werden die rhetorischen Fragen von 9,13 aufgegriffen und 9,16 wieder die Grundfrage gestellt: Wie kann der Mensch den Willen Gottes erkennen? Auch hier handelt es sich um ein schon in anderen biblischen Texte behandeltes Problem (Jes 40,12–14; Spr 30,2–5; Bar 3,29–30; Sir 1,3–6); die rhetorische Frage erwartet eine ganz negative Antwort: Niemand kann die Geheimnisse Gottes erkennen, wenn er selbst sie dem Menschen nicht offenbart. „Nur mit Mühe (μόλις) stellen wir uns vor, was auf der Erde (vorgeht)“ (9,16a). Das Verb εἰκάζω, das schon in 8,8 vorkam, bedeutet „vermuten, sich etwas vorstellen“. Die menschliche Erkenntnis ist begrenzt und auf Vermutungen angewiesen bereits in Bezug auf irdische Dinge, obwohl sie durchaus in der Verfügung des Menschen stehen. Das folgende Kolon vervollständigt diesen Gedanken in der Form eines Chiasmus: Auch die Dinge in Reichweite, die wir zu verwirklichen imstande sind (τὰ ἐν χερσίν), entdecken wir (εὑρίσκομεν) nur mit Anstrengung (μετὰ πόνου). Die eigentliche Frage folgt dann in 9,16c mit einem gegenüberstellenden δέ. Die Anwort ist klar: Nur mittels der Gabe der Weisheit, von der in 9,17aβ gesprochen wird, ist der Mensch imstande, „das im Himmel“, d.h. den Willen Gottes (9,13) zu verstehnen. Nach der vierten rhetorischen Frage (9,17aα), die die Reihe der drei bisherigen 9,17 Fragen vervollständigt (9,13a-b.16c) und eigentlich strukturell zum vorhergehen-

30 Texte dazu bei LARCHER, Sagesse II, 596.

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Weish 9,13–18

den Absatz (9,13–17aα) gehört, enthält 9,17aβ.b die Antwort, indem das Hauptthema des Gebetes (9,4.10ab) aufgenommen wird: die Gabe der Weisheit, die hier jedoch erneut neben den Geist gestellt wird. In 9,17aα wird wiederum der Wille Gottes genannt (βουλὴν δέ σου τίς ἔγνω); wie schon in 9,13a ist auch hier darin eine Bezugnahme auf den Willen Gottes zu sehen, der in besonderer Weise im Gesetz ausgedrückt ist.31 Aber was dem menschlichen Vermögen unzugänglich bleibt, ist nicht das Gesetz an sich, vielmehr die Erkenntnis und das tiefe Verstehen des Gesetzes. Dazu ist die Gabe der Weisheit unabdingbar. Hiermit ist engstens verbunden die Gabe des Geistes, der in 9,17b parallel dazu erwähnt wird. Nur in Weish 1,5 war der Geist ausdrücklich πνεῦμα ἅγιον genannt worden; durch die abermalige Verwendung dieses Ausdrucks wird eine Art großer inclusio mit dem Anfang des Buches geschaffen und so auf die pneumatische Dimension der Weisheit hingewiesen. 9,18 schließt das Gebet ab durch eine Hervorhebung der drei Wirkungen der 9,18: Die Weisheit als Ret- Gabe der Weisheit. Die drei Aoriste bezeichnen, was schon in der Vergangenheit terin geschehen ist. Das Heil, die Rettung, ist nicht nur in der Zukunft zu erwarten, sondern bereits in der Geschichte wirksam; was die Propheten verkündet haben (s.u. zu den Bezugnahmen auf Jeremia und Ezechiel), verwirklicht sich schon. Dabei bildet 9,18 nicht nur den Abschluss des ganzen Gebetes, sondern führt durch die Erwähnung der „Rettung“ auch schon in Kap. 10 ein und damit mittelbar in den ganzen dritten Teil des Buches. Wie in 9,2 ist τῇ σοφίᾳ ein dativus instrumentalis: Die Menschen wurden mittels der Weisheit gerettet, die also ein Werkzeug Gottes ist, was gut zu der in Weish 7–8 gegebenen Beschreibung ihrer Tätigkeit passt.32 Die aktive Rolle der Weisheit von Adam bis Mose in Kap. 10 bestätigt diese Deutung. Die erstgenannte Tätigkeit der Weisheit ist es, „die Pfade gerade zu machen“, d.h. die Menschen auf den rechten Weg zurückzubringen. Das Verb διορθόω, ein hapax im Buch der Weisheit und in der LXX sonst nur noch fünfmal belegt, hat in Jer 7,3.5 und in Spr 15,29LXX [16,8MT] die Bedeutung „gerade ausrichten, berichtigen“ mit einem moralischen Beiklang. Auch in Weish 9,18 ist mit den „Pfaden derer, (die ) auf der Erde (gehen)“, das sittliche Betragen der Menschen gemeint. Es geht also um eine Korrektur des menschlichen Verhaltens. Die Weisheit ist, wie schon bemerkt wurde, auch eine moralische Kraft, die den Menschen von innen her erneuert; vgl. die Bezeichnung Gottes als διορθωτής in Weish 7,15. Außerdem wurden die Menschen darüber belehrt, „was dir wohlgefällig ist“. Der Ausdruck τὰ ἀρεστά σου könnte von Bar 4,4 angeregt sein, wo er das Gesetz bezeichnet; er nimmt τί εὐαρεστόν ἐστιν παρὰ σοί aus 9,10d auf und bedeutet den Willen Gottes, also die Grundfrage des ganzen Gebetes. Dank der Gabe der Weisheit und des Geistes ist es den Menschen möglich, zu lernen, was Gott gefällt. Das Verb διδάσκω kam schon in Weish 7,21 für den Unterricht vor, den die Weisheit erteilt; es wird in 12,19 wiederkehren mit Gott als Subjekt. In welcher Weise hat die Weisheit die Menschen gelehrt? Der Verfasser gibt dies nicht genauer an, auch wenn die Nebeneinanderstellung von Weisheit und Geist auf eine Anwesenheit der Weisheit im Innern des Menschen weist, die

31 GILBERT, „Volonté de Dieu“, 213. 32 Gegen SCARPAT, Sapienza II, 249.

Diachrone Analyse

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schließlich die Anwesenheit Gottes selbst ist. Eine vollständigere Antwort werden die Kapitel 10–19 geben: Die Weisheit leitet die Menschen und insbesondere das Volk Israel dazu an, im Lauf der Geschichte die Gegenwart eines Schöpfer- und Rettergottes zu entdecken. Das Verb σῴζω „retten“ erscheint in 9,18c zum ersten Mal im Buch (danach noch in 10,4; 14,4; 16,7; 18,5): Die Verwendung des passiven Aorists „sie wurden gerettet“ drückt aus, dass etwas durch das Wirken von jemand anderem bereits geschehen ist. Kap. 10 wird eine Reihe von im Laufe der Geschichte Israels durch die Weisheit „Geretteten“ vorstellen.

Diachrone Analyse Im Sprachgebrauch der LXX bezeichnet βουλή, wenn sich das Wort auf Gott bezieht, den Plan, den Gott zu verwirklichen beabsichtigt (vgl. Jes 5,19; 14,26; Ps 32[33MT],11 u. ö.) und den der Mensch nicht kennt. Nun in wenigen Fällen, wie in Ps 106[107MT],11, bezeichnet βουλή das, was Gott vom Menschen will, d.h. die im Gesetz ausgedrückten Forderungen, ein Begriff, der in Spr (vgl. Spr 1,25.30; 2,11; 3,21; 8,12.14) beinahe natürlich weiterentwickelt wird zur Vorstellung der Forderungen („Rat“) der Weisheit. Das vielleicht überzeugendste Argument dafür, die βουλὴ θεοῦ als den Willen Gottes zu deuten, der in der Tora ausgedrückt ist, ist jedoch die Parallelität, in die der Verfasser in 9,13 βουλὴ θεοῦ und „was der Herr will“ zueinandersetzt. Der Unterschied zwischen βουλὴ θεοῦ und τί θέλει ὁ κύριος hängt nicht so sehr von einer möglicherweise verschiedenen Bedeutung des Verbs θέλω ab, das im Buch der Weisheit ohne großen Bedeutungsunterschied abwechselnd mit βούλομαι verwendet wird,33 als vielmehr von der Erwähnung des κύριος in 9,13b. So bedeutet die Wendung τί θέλει ὁ κύριος „was der Herr will“ das, was ihm wohlgefällig ist. Nun bezeichnet θέλημα in der LXX das, was Gott im Gesetz vom Menschen verlangt (vgl. Ps 39[40MT],9; 102[103MT],7; 1Esdr 8,16). Aber es ist der ganze Kontext von Weish 9, der dazu führt, in den beiden Bezugnahmen auf den Willen Gottes in 9,13 die Forderungen der Tora Gottes zu sehen, die für Salomo unverzichtbar ist, um das Volk regieren zu können.34 Die Sprache von 9,15 klingt zweifellos platonisch. Zum Beispiel finden sich die Verben βαρύνω und βρίθω zusammen in dem berühmten Mythos von den Wagenlenkern in Phaidros 247b, in einem Text, der eine Dreiteilung des Menschen (σῶμα, ψυχή und νοῦς) annimmt, die das Buch der Weisheit nicht kennt. In Phaidon 81b-c spricht Platon von der Seele, die während ihrer Existenz im Leib eine Hinneigung zum Leib behält und sich verunreinigt, so dass der Leib ein Hindernis wird; in diesem Platon-Abschnitt finden sich, außer der Nennung von Seele und Leib, auch die auf τὸ σῶμα bezogenen Adjektive ἐμβριθές, βαρύ und γεῶδες und das Verb βαρύνω.35 33 Zu βούλομαι vgl. Weish 12,6; 14,19; 16,21; zu θέλω vgl. 11,25; 12,18; 13,6; 14,5; vgl. LARCHER, Sagesse II, 592. 34 Vgl. GILBERT, „Volonté de Dieu“, 210–212. 35 „A widespread Platonic motif“, WINSTON, Wisdom, 207. Er hebt die Abhängigkeit des Buches der Weisheit von Platon hervor. Weish 9,15 wurde seit Augustinus häufig verwendet, vgl. LA BONNARDIÈRE, Biblia Augustiniana, 206–221. 289–292.

9,13

Weish 9,15: ein platonischer Text?

274

Weish 9,13–18

Der Gebrauch des Wortes „Zelt“ für den Leib in Weish 9,15 impliziert nicht an sich eine Abwertung des Leibes, sondern eher die Vorstellung, dass der Leib etwas Vorläufiges ist, eine zeitweise Wohnung auf dem Weg zur Unsterblichkeit bzw., in der Sprache des Buches der Weisheit, zur Unverderblichkeit, jener ἀφθαρσία, zu der der verderbliche (φθαρτός) Leib bestimmt ist. Der Wortschatz von 9,15 hat also einen platonischen Klang, aber das Buch der Weisheit verwendet ihn eher in psychologischem und gnoseologischem als in metaphysischem Sinne. Jedenfalls impliziert das Vorhandensein platonischer Terminologie keinerlei Übernahme des Platonismus und eine daraus folgende Abwertung des Leibes.36 Jedoch bleibt das Problem, welche Quellen der Verfasser für diesen Vers verwendet hat, schwierig zu lösen.37 Einfacher dagegen erscheint es, den gedanklichen Inhalt zu erfassen: Der nach der biblischen Vorstellung aus Erde erschaffene, also verderbliche Leib zieht den Menschen zu den materiellen Dingen hin, zu Irdischem, und belastet in dieser Weise die Seele und den Verstand, die er mit Sorgen erfüllt (πολύφροντις). Und dennoch besteht die Befreiung von solchen Sorgen nicht darin, aus dem Leib auszuziehen, sondern darin, die Gabe der Weisheit, die von Gott kommt, anzunehmen bzw. eine solche Gabe durch das Gebet zu erflehen. Der Sprecher betont, wie sehr die menschliche Schwachheit, die Unbeständigkeit und Begrenztheit seiner Gedanken und die vielen Sorgen, die sein Denken erfüllen, es ihm unmöglich machen, den Willen Gottes zu erkennen, wenn Gott ihm nicht selbst zu Hilfe kommt. Damit hält er sich von direkt platonischen Vorstellungen fern, die er zu kennen scheint, aber neu vorzulegen beabsichtigt in einer tief biblischen Betrachtungsweise des Menschen, die jedem metaphysischen Dualismus fremd gegenübersteht. Die rhetorische Frage in 9,16c verweist auf Ps 113,24[115,16MT] : Gott hat die 9,16 Erde den Menschen gegeben, während „der Himmel des Himmels dem Herrn“ gehört. Kohelet beteuert mehrmals, er wolle seine Untersuchung auf das beschränken, was „unter dem Himmel“ oder „unter der Sonne“ geschehe. Die rhetorische Frage „Wer hat das im Himmel (Befindliche) ergründet?“ erinnert an Texte wie Spr 30,4; Dtn 30,12 (in Bezug auf das Gesetz), Sir 1,2–3.6 (in Bezug auf die Weisheit) und Bar 3,29 (Weisheit und Gesetz). An allen genannten Stellen werden die rhetorischen Fragen innerhalb eines Offenbarungskontextes gestellt mit einer besonderen Bezugnahme auf die Tora.38 Der „Wille Gottes“, von dem Weish 9,13 spricht, ist, von diesen Texten her betrachtet, der, der im Gesetz ausgedrückt ist. In 9,17 spiegelt sich eine Problematik der jüdischen Welt in hellenistischer 9,17 Weisheit und Geist Zeit. Jesus Sirach hatte schon „Weisheit“ und „Gesetz“ nebeneinandergestellt (vgl. Sir 1 und 24), ohne sie jedoch wirklich miteinander zu identifizieren. Auch das Buch der Weisheit tut das nicht, unterscheidet sie vielmehr deutlich, auch wenn er sie zueinander in Beziehung setzt. Es hebt hervor, dass die Weisheit erforderlich ist, damit die Menschen darüber belehrt werden, „was dir wohlgefällt“, d.h., damit die Menschen die Forderungen des Gesetzes verstehen können; die Weisheit ist demnach wichtiger als das Gesetz. 36 Vgl. REESE, Hellenistic Influence, 86–87. So schon GRIMM, Weisheit, 188–189. 37 Vgl. LARCHER, Sagesse II, 598–599; HEINISCH, Weisheit, 188–189, vermutet eine indirekte Kenntnis Platons seitens des Buches der Weisheit. 38 Vgl. GILBERT, „Volonté de Dieu“, 205–210. Der in 9,16 formulierte Gedanke ist mehrfach belegt, vgl. die Textangaben bei WINSTON, Wisdom, 208.

Diachrone Analyse

275

Die zweite und noch originellere Annäherung von Weisheit und Geist dient dazu, diese Beziehung besser zu erklären: Schon die prophetische Überlieferung, besonders in Jer 38[31MT],33–34 und Ez 36,26–29 (vgl. Joel 3,1–2[2,28–29]), sprach von der Notwendigkeit, das Gesetz zu verinnerlichen. Das aber kann nicht geschehen, wenn nicht Gott selbst mit seinem Geist eingreift in das Herz des Menschen und ihm ermöglicht, den Willen Gottes, der im Gesetz ausgedrückt ist, zu verstehen. Die Verinnerlichung des Gesetzes, die von Jeremia angekündigt worden war, geht nach Ezechiel gerade dank der Gabe des Geistes in Erfüllung. In Weish 9,17 wird dem bei Ezechiel genannten Geist die Weisheit angenähert, die nach Weish 7–8 die Bedeutung einer besonderen, inneren sittlichen Kraft annimmt und die Gott dem Menschen gewährt, damit er sein Gesetz verstehen kann. Die Botschaft von Jeremia und Ezechiel ist so nicht verloren gegangen und erfüllt sich in der Gabe der Weisheit, um die Salomo bittet.39 Die Hauptquellen für Weish 9 sind die beiden Erzählungen über den Traum Salomos in Gibeon (1Kön 3 und 2Chr 1); Weish 9 nimmt vor allem die Erzählung im Chronikbuch auf, wo die Weisheit stärker hervorgehoben wird und weniger das hörende Herz; aber auch Elemente aus 1Kön 3 fehlen nicht (vgl. Weish 9,3 mit 1Kön 3,6 und Weish 9,12 mit 1Kön 3,9). Das ganze Gebet in Weish 9 zeigt einen engen Bezug auf 1Kön 3,7–9: in 1Kön 3,7 findet sich das Thema der Schwachheit, in 1Kön 3,8 ist von „deinem Volk“ die Rede, in 1Kön 3,9 spricht Salomo eine Bitte aus. Dieser biblische Text könnte den Verfasser auch zu der literarischen Struktur angeregt haben, die Weish 9 prägt. Aber die Darstellung der Rolle, die die Weisheit bei Gott und infolgedessen bei den Menschen spielt (Schöpfung und Rettung), wie auch die vielfachen Rückgriffe auf das Gebet sind etwas Neues innerhalb der hellenistischen Welt. Die antike Welt kennt durchaus das an die Gottheit gerichtete Gebet. Im klassischen wie auch im hellenistischen griechischen Sprachraum wird das Gebet, sowohl das persönliche eines Einzelnen als auch das der Philosophen zur Erlangung der Weisheit, in einer stereotypen Sprache formuliert, die sich zum Teil auch in Weish 9 wiederfindet, so in der Eingangsanrufung θεέ und dem Imperativ δός μοι.40 Aber schon von der Erwähnung der „Väter“ und der Barmherzigkeit in 9,1 an wird der typisch jüdische Charakter dieses Gebetes unverkennbar. Nach der stoischen Auffassung dient das Gebet zu nichts anderem als die Gottheit darum zu bitten, dass man sich dem Willen des Schicksals anpassen kann: fata aliter ius suum peragunt, nec ulla commoventur prece; non misericordia flecti, non gratia sciunt; cursum irrevocabilem ingressa ex destinato fluunt „Das Schicksal vollzieht sein Recht in anderer Weise, es wird durch keine Bitte zu etwas bewegt, nicht durch Barmherzigkeit, nicht durch Gunst kann es verändert werden; wenn es den unwiderruflichen Lauf begonnen hat, läuft es nach fester Bestimmung ab“ (Seneca, Nat. 2,35,2). Ganz allgemein bestehen in der griechischen Welt abschätzige Meinungen in Bezug auf das Gebet: „Die Heiden sagen, alles geschehe durch das Schicksal, und Bitten und Gebete vermöchten nichts“ (Maximus von Turin, Oratio contra paganos);41 es kann hier an die von

39 GILBERT, „Volonté de Dieu“, 228–229. 40 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 207–213. 41 PL 57, 782A; vgl. NOCK, Arthur D., Conversion. The Old and New in Religion from Alexander the Great to Augustine of Hippo (Oxford: Clarendon Press 1961) 288.

Weish 9: Zwischen biblischem und griechischem Gebet

276

Weish 9,13–18

Sueton überlieferte Bemerkung erinnert werden, wonach Kaiser Tiberius den Kult als etwas Nutzloses vernachlässigte: Circa deos ac religiones neglegentior, quippe addictus mathematicae plenusque persuasionis cuncta fato agi (Tib. 69). Das Buch der Weisheit stellt dem das Vertrauen auf die Wirksamkeit des Gebetes gegenüber, das in Weish 9,15–17 gerade dazu dient, den Willen Gottes, der im Gesetz ausgedrückt ist, zu erkennen. Ohne Gebet ist die Weisheit nicht zu erlangen (vgl. Weish 8,21; 9,6). Die Welt der Mysterienkulte kennt sehr wohl den Einsatz des Gebetes. Hier soll nur auf die Isis-Mysterien eingegangen werden: Die Gebete, die der Eingeweihte an die Göttin richtet, erwachsen aus dem Wunsch nach einem echten Kontakt mit dem Göttlichen; das Gebet ist gleichzeitig Mittel des Lobpreises und der Bitte.42 Im Verhältnis zur klassischen Religiosität vermitteln die Isis-Mysterien die Gewissheit, dass Isis als dem Schicksal überlegene Göttin die Gebete der sie Verehrenden erhört: En adsum tuis commota, Luci, precibus „Siehe ich bin da, Lucius, von deinen Gebeten dazu bewogen“ (Apuleius, Met. XI,5). In seinen Hymnen betet Isidoros so zu Isis: „Erhöre meine Gebete, du mit großmächtigem Namen, / sei mir gnädig, befreie mich von aller Pein!“ (I, 35–36). Die griechisch-ägyptischen Papyri enthalten häufig Anrufungen von Isis und Sarapis am Ende von Privatbriefen. Die Gebete zu Isis bezeugen einen tiefen Sinn für das Göttliche zusammen mit einem sehr persönlichen Klang: Regina caeli … tu meis iam nunc extremis aerumnis subsiste, tu fortunam collapsam adfirma, tu saevis exanclatis casibus pausam pacemque tribue; sit satis laborum, sit satis periculorum. „Königin des Himmels! … Hilf mir in meiner übermäßigen Not! Festige mein zusammengebrochenes Glück! Nach den erlittenen schrecklichen Schicksalsschlägen gewähre mir Ruhe und Frieden! Es sei genug der Mühsal, genug der Gefahren!“ (Apuleius, Met. XI,2).43 Das Gebet des Mysten ist nie ein Mittel, um die Götter zum Handeln zu nötigen; die Macht und das Schicksal bleiben in der Hand der Isis, die jedoch durch das Gebet bewogen werden kann, dem Beter zu Hilfe zu kommen. Der Mensch nimmt das Gebet wahr als eine Unterwerfung unter eine wohlwollende Gottheit, bei der er einen Gunsterweis sucht und erbittet (vgl. Weish 8,21c). Wie in den Isis-Mysterien setzt das Gebet auch im Buch der Weisheit einen engen und persönlichen Kontakt zu der Gottheit voraus. Weish 9 enthält gerade aus der Isis-Welt entliehene Ausdrucksweisen. Aber Salomo wendet sich nicht an eine Göttin, Isis, sondern an den Gott Israels, der ihm jene Weisheit schenken kann, die dem, der sie erbittet, sehr viel mehr gewährt, als Isis es könnte. Auch in der Magie ist das Gebet nicht unbekannt.44 Die Papyri Gracae Magicae enthalten verschiedene Gebete (vgl. PGM IV, 2785–2879; VIII, 1–26; XVII u.a.), die nach einem klassischen Schema aufgebaut sind: Anrufung des Gottes, Preisung, das eigentliche Gebet; Wendungen wie ἐλθέ μοι, δός μοι, ἐπικαλοῦμαί σε, δέομαι sind sehr häufig (vgl. Weish 8,21). Im Unterschied zu den Gebeten in den Mysterienkulten haben die magischen Gebete immer einen unmittelbaren Zweck: materi42 Vgl. MALAISE, Michel, „La piété personnelle dans la religion isiaque“, in: LIMET, Henri / RIES, Julien (Hg.), L’expérience de la prière dans les grandes religions, Louvain la-Neuve: Centre d’Histoire des Religions 1980, 83–117. 43 Vgl. NOCK, Conversion, 138–155. 44 Vgl. GRAF, Fritz, „Prayer in Magic and Religious Ritual“, in FARAONE, Christopher A. / OBBINK, Dirk (Hg.), Magica Hiera. Ancient Greek Magic and Religion, New York/Oxford: Oxford University Press 1981, 188–213.

Synthese von Weish 9

277

elle Rettung zu erlangen. Auch das Gebet kann nützlich sein, aber ausschließlich zu praktischen Zwecken. Das Gebet Salomos dagegen zielt nicht auf materielle Güter, sondern auf die Gabe der Weisheit.

Synthese von Weish 9 Was ist nun diese „Weisheit“, deretwegen Salomo sein Gebet an Gott richtet? Sie ist vor allem eine Gabe Gottes, die von ihm erbeten wird, etwas seinem Schöpferwort (9,1) und seinem Geist (9,17) Entsprechendes. Sie ist beschreibbar als das „Anwesendsein“ Gottes in der Welt und im Menschen, eine innere sittliche Kraft, die jeden, der sie aufnimmt, befähigt, den Willen Gottes, der im Gesetz des Mose ausgedrückt ist, zu verstehen. In diesem Kapitel verbindet sich die innere, theologische und sittliche Dimension der Weisheit mit ihrer praktisch-politischen Bedeutung, der Kunst der guten Regierung und der Ordnung gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der Verfasser stimmt mit der weisheitlichen und der prophetischen Tradition Israels überein, die er jedoch vertieft und erneuert durch eine kühne Gegenüberstellung zu den Perspektiven, die durch einen ernsthaften Dialog mit der hellenistischen Welt eröffnet wurden. Indem er Salomo in Weish 2–9 zur Hauptfigur macht, folgt er nicht dem Vorbild der jüdischen Apologeten seiner Zeit (Artapanos, Eupolemos, Aristobulos), bei denen Mose als Kulturbringer dargestellt wird, als Beispiel der jüdischen Überlegenheit über die griechische Welt;45 Salomo ist ein Mensch wie alle anderen, ein Vorbild für jeden, der weise werden will, indem er die Weisheit aufnimmt, die Gott grundsätzlich jedem Menschen gewährt. So gleichen sich Partikularismus und Universalismus aus. Innerhalb der hellenistischen Welt zeigen Autoren wie Manetho und Berossos oder wie die jüdischen Apologeten den offensichtlichen Versuch, die Bedeutung der eigenen Tradition zu steigern, indem sie sie als auch für die griechische Welt oder jedenfalls ihr gegenüber zugänglich und beachtenswert darstellen, ein Versuch, der später in Alexandria auch für Philon charakteristisch sein wird. Der Verfasser des Buches der Weisheit greift die biblische Figur des Salomo auf und stellt sie neu innerhalb von hellenistischen kulturellen Kategorien dar, um so die zeitüberdauernde Gültigkeit des Judentums aufzuzeigen. Die Studien von Mark Turner und Gilles Fauconnier entwickeln die Kategorie der „conceptual integration“ („conceptual blending“), die sie als „a basic cognitive operation for creating new meanings out of old“ definieren.46 Von da aus gesehen gelingt es dem Buch der Weisheit, einen neuen Text zu erstellen, in dem die alten Texte nicht nur einfach in Erinnerung gerufen, zusammengefasst oder kunstfertig

45 Vgl. STERLING, Gregory E., Historiography and Self-definition. Josephos, Luke-Acts and Apologetic Historiography (NT Supp. 64), New York/Leiden/Köln: Brill 1992. Zum Ganzen vgl. MAZZINGHI, „Testi autorevoli“. 46 TURNER, Mark / FAUCONNIER, Gilles, „A Mechanism of Creativity“, Poetics Today 20 (1999), 397; LACOSTE, „Solomon, the Exemplary Sage“.

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Synthese von Weish 9

miteinander kombiniert werden. Denn im Blick auf die hellenistische Kultur bietet das Buch der Weisheit etwas völlig Neues, aber zugleich religiös Glaubwürdiges. Die Weisheit bewirkt schließlich das Heil, die Rettung, die nach Weish 9,18 bereits im Gange ist, wenn der Mensch, indem er die Gabe der Weisheit aufnimmt, sich von ihr leiten lässt, seine eigene Berufung nach dem Willen Gottes zu verwirklichen. Die Verbindung von 9,1 und 9,18 stellt die Schöpfung, mit der das Gebet begonnen hat, in einen Bezug zur Rettung, zum Heil, einer ständigen Dimension der Theologie des Verfassers.47 Es gibt daher keinen Bruch im Plan Gottes: Er erschafft den Menschen im Blick auf sein Heil, und die Weisheit ist die Verbindung zwischen diesen beiden Polen des Wirkens Gottes. Während der erste Teil des Buches die Grundfragen nach dem Heil gestellt hat, wird der dritte Teil die Antworten geben. Von daher gewinnt Weish 9, in der Mitte des literarischen Aufbaus des Buches, eine grundlegende Bedeutung: Die Weisheit ist die zentrale handelnde Figur für das Heil, das Gott anbietet. Und dieses Heil steht in engster Beziehung zur Schöpfung, wie es schon in Weish 1,14 deutlich war (die Geschöpfe der Welt sind Träger des Heils). Das „Heil“ (die Rettung) ist hier nicht im christlichen Sinne als „Erlösung“ zu verstehen, d.h. als Rettung vor der Sünde und vor dem Tod. Wie man in Weish 10 sieht, bedeutet es vor allem Rettung vor dem physischen Tod, aber auch, wie die dritte Strophe des Gebetes gezeigt hat, in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes zu leben.48 Dass „Salomo“ jedoch darum bittet, die Weisheit zu erlangen, macht andererseits deutlich, dass dieses „Heil“ noch ständig verwirklicht werden muss. So ist es verständlich, weshalb das Gebet um die Weisheit erst hinter dem ersten Teil des Buches steht, der dem künftigen Schicksal des Menschen gewidmet ist (Weish 1–6). In diesen Kapiteln verwendet der Verfasser nie das Verb „retten“: Die Gabe der Weisheit sichert darum dem Menschen auch die Rettung vor dem ewigen Tod, d.h. die Unverderblichkeit, zu der Gott ihn bestimmt hat (vgl. Weish 6,17–21). Das Gebet in Weish 9 könnte schließlich ein gewisses Echo im Neuen Testament gefunden haben. Hinzuweisen ist insbesondere darauf, wie ἐξαποστέλλω von Paulus in Gal 4,4 in Bezug auf die Sendung des Sohnes und in Gal 4,6 in Bezug auf die Sendung des Geistes verwendet wird. Eine Abhängigkeit vom Text des Buches der Weisheit scheint nicht ausgeschlossen zu sein.

47 Der Hinweis auf die Ursprünge, d.h. auf die Schöpfung, und gleichzeitg auf den Beginn der Erfahrung Salomos, den Traum von Gibeon, ist besonders wichtig: Der Leser wird ständig auf die eigene Vergangenheit verwiesen, aber im Blick auf die Zukunft. Die Erfahrung Salomos leitet ihn dazu an, den Wert der Weisheit, die schon der Schöpfung innewohnt, zu entdecken, aber auch dazu, sie besitzen zu wollen, um ein richtiges und glückliches Leben in der Gegenwart führen zu können und in der Zukunft ein Leben ohne Ende zu haben. Vgl. GILBERT, „The Origins“, 396. 48 NOËL, „Quelle sotériologie dans le livre de la Sagesse?“, bes. 193; vgl. auch KOLARCIK, „Creation and Salvation“, passim.

Einleitung zum dritten Buchteil (Weish 10–19) Das Gebet Salomos zur Erlangung der Weisheit schließt in 9,18 mit dem Verweis auf die Rettung, die die Weisheit bewirkt hat. Mit der erstmaligen Nennung des Verbs σῷζω beginnt die Aufzählung einer Reihe von rettenden Tätigkeiten der Weisheit in Weish 10. Am Ende dieses Kapitels bildet 10,20 eine große inclusio mit 19,9 (nur an diesen beiden Stellen im Buch kommt das Verb αἰνέω vor). Diese inclusio lässt, neben anderem, worauf Maurice Gilbert schon früher hingewiesen hat, den ganzen Text von Weish 11–19 als eine „hymnische Erinnerung“ an den Exodus erscheinen.1 Außerdem sind Weish 10,1–21 und 19,10–22 die einzigen Texte des Buches, in denen die literarischen Formen der Reihe bzw. der Aufzählung verwendet werden, und nur in Weish 10,6–8 und 19,15–17 ist von den Sodomitern die Rede. Diese Elemente gestatten es, Weish 10,1 als Beginn eines neuen Buchteils zu betrachten. Nach dem Lob der Weisheit (Weish 7–8), das in das Gebet zur Erlangung der Weisheit (Weish 9) mündete, nennt der Verfasser in der Mitte des Buches, der Gattung des Enkomions entsprechend (dazu s. u.) eine Reihe von positiven und negativen Beispielen aus der Geschichte, die seine Grundthese veranschaulichen. Diese Aufgabe hat die Aufzählung in Weish 10, einem Kapitel, das eine Brücke zwischen dem Lobpreis der Weisheit (Weish 7–9) und den sieben Gegenüberstellungen (Diptychen) in Weish 11–19 bildet. Mit Weish 10,15 beginnt eine relecture der Exodusereignisse, deren Darstellungsprinzip nach einer Einleitung (11,1–4) in 11,5 (wiederholt in 11,16) genannt wird. In 11,6–14 folgt das erste der gegenüberstellenden Beispiele, die sechs weiteren werden dann ab 16,1 bis 19,5 erörtert.2 Der Gattung des Enkomions entsprechend, fügt der Verfasser ab 11,15 zwei lange Exkurse ein: Der erste (Weish 11,15 – 12,27) hat die Menschfreundlichkeit Gottes (φιλανθρωπία) zum Gegenstand; denn die Reflexion über die Plagen in Ägypten veranlasst den Verfasser zu einer eingehenden theologischen Abhandlung über die Milde Gottes gegenüber den Menschen. Der zweite, noch ausführlichere Exkurs (Weish 13–15) beschäftigt sich mit dem Götzendienst, der hier als der von den Menschen entworfene tiefgreifendste Gegensatz zum Heilsplan Gottes verstanden ist. Eine Übersicht über den dritten Buchteil lässt sich so darstellen: Weish 10: Das Wirken der Weisheit in der Geschichte Weish 11,1–5: Einleitung zu den sieben Diptychen Weish 11, 6–14: Erstes Diptychon: Wasser des Nils / Wasser aus dem Felsen

1 2

GILBERT, „The Literary Structure“, 20–25; „L’adresse à Dieu“, passim. Vgl. GILBERT, „Sagesse“, 73–74, auch zur Diskussion über die Zahl der Diptychen (5 oder 7). Zu dem Problem, ob das 7. Diptychon Weish 19,1–9 oder eher nur 19,1–5 umfasst, siehe unten z. St.

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Einleitung zum dritten Buchteil: Weish 10–19

Weish 11,15: Ankündigung der beiden nächsten Diptychen – 11,15 – 12,27: ERSTER EXKURS: Die Menschenfreundlichkeit Gottes – 13–15: ZWEITER EXKURS: Der Götzendienst Weish 16,1–4: Zweites Diptychon: Frösche / Wachteln Weish 16, 5–14: Drittes Diptychon: Stechmücken und Heuschrecken / Eherne Schlange Weish 16, 15–29: Viertes Diptychon: Regen und Hagel / Manna Weish 17,1 – 18,4: Fünftes Diptychon: Finsternis / Licht Weish 18, 5–25: Sechstes Diptychon: Tod der Erstgeborenen / Rettung Israels Weish 19,1–5: Siebtes Diptychon: Ertrinken im Roten Meer / Durchzug durch das Meer Weish 19,6–21: Epilog zum ganzen Buch Weish 19,22 Abschluss des Buches. Die Israeliten werden so den Ägyptern gegenübergestellt; die einen werden als historische Vorbilder des verfolgten Gerechten gezeichnet und die anderen als Muster der Gottlosen, die ihn unterdrücken; in dieser Weise werden die Figuren des Gerechten und der Gottlosen in Weish 1–6 wieder aufgegriffen. Mittels zahlreicher flashbacks (s.o. die Einleitung) kehrt der dritte Buchteil immer wieder zu dem im ersten Teil Ausgeführten zurück. Die Vergangenheit Israels wird in dieser Rückschau zum Muster der Zukunft, die Gerechte und Gottlose erwartet. Was am Anfang war, wird so Fundament dessen, was am Ende geschehen wird.

Midraschartige Gestaltung

Weish 10–19 als synkrisis

Bei der Gegenüberstellung von Gerechten und Gottlosen tritt jedoch noch ein dritter Mitspieler auf, der Kosmos, der als Verbündeter Gottes bei der Bestrafung der Gottlosen und der Belohnung der Gerechten (vgl. 16,24) ein stetiges Element in den sieben Diptychen bildet. Der Verfasser möchte so zeigen, dass die Rettung nicht nur in der Geschichte, sondern auch mittels einer erneuerten Schöpfung geschieht (vgl. 19,6–12.18–21). Die relecture der Exodusereignisse bezieht häufig und nicht zufällig Gen 1–11 mit ein. Die Weise, in der der Verfasser die sieben Gegenüberstellungen der Ereignisse im Zusammenhang mit dem Exodus vorlegt, ist durch eine doppelte Bewegung gekennzeichnet: Einerseits liest er die biblischen Texte neu und sucht dabei ihre Aktualität zu zeigen, ein midraschartiges Verfahren (s. dazu die Einleitung).3 Alle wichtigen Kennzeichen eines Midrasch, die in der Einleitung erörtert wurden, die ständige Bezugnahme auf die Bibel und das Bemühen, sie zu aktualisieren, finden sich im dritten Buchteil. Ausgangspunkt jedes der sieben Diptychen ist eine Episode in den Exoduserzählungen, die der Verfasser mit großer Freiheit aufgreift, sie aber nicht nur als Beispielszene einer gloriosen Vergangenheit vorträgt, sondern ihre tiefe Bedeutung für das zeitgenössische Israel bzw. für die jüdische Gemeinde von Alexandria aufzeigt. Er verkürzt oder lässt aus, was seiner Aussageintention nicht entspricht; z.B. minimalisiert er die Anspielungen auf Israels Sünde oder die Furcht Israels am Meer, das Murren wird in Weish 19,1–5 gar nicht erwähnt; er fasst zusammen und kombiniert verschiedene Bibeltexte. Er liest so die religiöse Überlieferung seines Volkes in einem neuen historischen und kulturellen Kontext. Das Weglassen von Eigennamen macht die Erzählung verallgemeinerbar und auf jede Generation anwendbar. Zudem verwendet der Verfasser eine typisch griechische literarische Gattung, das Enkomion (s. dazu die Einleitung), und innerhalb dessen die σύγκρισις, den 3

Vgl. BIZZETI, Sapienza, 176–181, und für eine ausführlichere Diskussion VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 40–47. Vgl. auch BUSTO SAIZ, „La intención del midrash“; CAMPS, „Midraš sobre la historia de las plagas“.

Einleitung zum dritten Buchteil: Weish 10–19

281

Vergleich.4 In der Großgattung γένος ἐπιδεικτικόν bildet die σύγκρισις eine ausführliche und systematische Gegenüberstellung von zwei Vergleichsgegenständen, um herauszustellen, welcher davon vorzuziehen bzw. dem anderen überlegen ist. Der Vergleich, oft in Gestalt eines Rückgriffs auf die Vergangenheit, ist ein wesentliches Element des Enkomions, vgl. Aristoteles, Rhet. I,9,38; Cicero, De or. II, 85,348– 349; für den jüdischen Bereich vgl. Philon, Nobil. (negative Beispiele: Virt. 201–210; positive: Virt. 211–225) und Prob. 62–136 (ein langer Abschnitt des Werkes, in dem Philon Beispiele von Weisen und von Weisheit in Gruppen [73–91] und bei Einzelnen [92–130] und sogar bei Tieren [131–136] anführt). Innerhalb einer σύγκρισις ist die Einfügung von Exkursen, wie es in Weish 11–15 mit den Überlegungen zur Menschenfreundlichkeit Gottes und den Ausführungen über den Götzendienst geschieht, nicht ungewöhnlich (vgl. Philon, Prob. 147–151, und Cicero, Amic. 40– 42). Die im Buch der Weisheit vorgelegten Vergleiche zeigen jedoch, auch wenn sie klassischen Vorbildern folgen, eine ausgeprägte Originalität. Denn was dort zueinander in Beziehung gesetzt wird, sind nicht jeweils zwei Elemente wie in den aus der griechischen Welt bekannten klassischen Vergleichen, sondern drei: Ägypter und Israeliten werden vielmehr mittels des Kosmos miteinander verbunden, ein tertium quid, das nicht nur einen passiven Ort bildet, sondern auch selbst im Ablauf der Geschichte Mitspieler ist (vgl. die in 11,5.15 formulierten und in 16,24 wiederholten Prinzipien der Darstellung). Die ständige Mitwirkung des Kosmos gibt der ganzen σύγκρισις eine große theologische Dichte und zeigt an, dass das künftige Heil, das schon in den ersten Kapiteln des Buches angekündigt wurde, durch die Geschichte hindurch zu einer erneuerten Welt führt. Die hier vorgetragene σύγκρισις hat vor allem pädagogische und didaktische Bedeutung („damit sie erkannten“ 11,16; vgl. auch 16,6.11). Die Exodusereignisse lehren die Gläubigen, dass Gott in der Geschichte gegenwärtig ist, um sie zu retten und zu mahnen, nicht in den gleichen Irrtum wie die Ägypter zu verfallen. Der Vergleich wird, negativ, Anprangerung der religiösen Untreue und, positiv, eine Einladung an Israel, die Aufgabe, zu der Gott es berufen hat, zu übernehmen. Unter jedem der beiden Aspekte fällt ein weiteres Element der Originalität des Buches der Weisheit auf, nämlich die starke Beachtung des historischen Kontextes, in dem die Adressaten des Buches leben.

4

Vgl. die ausführliche zusammenfassende Darstellung bei VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 47– 51; vgl. PRIOTTO, La Prima Pasqua, 19–28. Der erste Autor, der Weish 11–19 als σύγκρισις bezeichnet, war FOCKE (Die Entstehung, 12–15; „Synkrisis“, Hermes 58 [1923] 330), ihm folgte BEAUCHAMP, De libro Sapientiae Salomonis, und noch eingehender HEINEMANN, „Syncrisis“, 241–251; vgl. REESE, Hellenistic Influence, 98 (zu verschiedenen Stellungnahmen); BIZZETI, Sapienza, 172–174; MANESCHG, Die Erzählung, 105–108; GILBERT, „Sagesse“, 85.87.

Weish 10: Das Wirken der Weisheit in der Geschichte von Adam bis Mose Zur literarischen Struktur und zur Gattung von Weish 10 In 10,1 beginnt mit αὕτη ein neuer Abschnitt, dessen Subjekt die im vorangehenden Kolon genannte σοφία ist. Das von hier an beschriebene Wirken der Weisheit wurde gleichsam natürlich vom Schluss des Gebetes Salomos in 9,18 vorbereitet.1 Das gleiche Pronomen αὕτη kehrt in 10,(3).5.6.10.13.15 wieder entsprechend dem rhetorischen Stilmittel der ἀναφορά (Anapher), die kennzeichnend ist für die sog. Aretalogien;2 in 10,4 wird das Subjekt σοφία auch ausdrücklich genannt und danach wieder in 10,8.9.21 (Renominalisierung). Außer αὕτη / σοφία werden auch δίκαιος (10,[3].4.5.6.10.13.15) und Verben des Rettens und Gebens mehrfach wiederholt. Daraus entsteht die folgende Gliederung in acht Szenen; die ersten vier sind kurz, die weiteren vier länger (vgl. die acht Unterabschnitte in den vier Diptychen von Weish 3–4): vv. 1–2 (Adam)

αὕτη

v. 3 (Kain)

ἀπ’ αὐτῆς

ἄδικος

διεφύλαξεν

v. 4 (Noah)

σοφία

δίκαιος

ἔσωσεν

v. 5 (Abram)

αὕτη

δίκαιος

ἐφύλαξεν

vv. 6–9 (Lot)

αὕτη

δίκαιος

ἐρρύσατο

(bis)

σοφία

ἔδωκεν

ἐρρύσατο

vv. 10–12 (Jakob)

αὕτη

δίκαιος

διεφύλαξεν

ἔδωκεν

vv. 13–14 (Josef )

αὕτη

δίκαιος

ἐρρύσατο

ἔδωκεν

vv. 15–21 (Mose)

αὕτη σοφία

δίκαιοι

ἐρρύσατο

ἀπέδωκεν

Die Verwendung der Anapher hat eine große theologische Bedeutung: Sie dient dazu, die Konstanten des rettenden Handelns Gottes in der Geschichte gegenüber dem „Gerechten“ zu zeigen. Die vier Kola, an denen vom „Geben“ die Rede ist, sind ähnlich formuliert (10,2.10d.14f.17a), um so die dem Menschen von der Weisheit geschenkte Gabe noch deutlicher hervorzuheben. Das Wirken der Weisheit beschreiben in diesem Kapitel insgesamt 35 Verben (7 x 5). In Weish 10 beginnt schon die Verwendung der σύγκρισις (s.o.): Abel gegenüber steht Kain, Noah gegenüber die Nachkommenschaft Kains, Abram die Sünde 1 2

SCHMITT (“Struktur“, 2–4) betrachtete 9,18 als bereits zu Kap. 10 gehörend; diese Annahme von SCHMITT wurde von GILBERT, „Literary Structure“, 20–22, mit überzeugenden Argumenten abgewiesen. WINSTON, Wisdom, 212–213. SCHMITT, „Struktur“, 6, spricht von „anaphorischen Prädikationen im Er/Sie-Stil“.

Zur literarischen Struktur und zur Gattung von Weish 10

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Babels, Lot die Sodomiter, dem Jakob sein Bruder Esau, dem Josef seine Brüder, den Israeliten zur Zeit des Mose die Ägypter. Weish 10 hat Verbindungen zu anderen Teilen des Buches: 10,6–7 zu 4,4–6 (fünf übereinstimmende Lexeme),3 an beiden Textstellen wird über die „Früchte“ des Menschen und seines Handelns nachgedacht (in 4,4–6 sind es die Kinder). 10,17 verweist durch die Nennung des μισθός, des Lohnes, zurück auf 2,22 und so auf das Thema des ewigen Lebens, eine den Gottlosen verwehrte und den Gerechten versprochene Belohnung (5,15), deren Wurzeln in den Exodus zurückreichen; μισθός kommt nur an diesen drei Stellen im Buch der Weisheit vor. Der Schluss des 10. Kapitels weist gleichzeitig auf den Anfang und auf das Ende des Buches: 10,20 bildet die bereits erwähnte inclusio mit 19,9 (αἰνέω). 10,21 hingegen schafft eine Beziehung zu 1,(6.)11: Dies sind die einzigen Stellen im Buch, an denen γλῶσσα und στόμα gemeinsam vorkommen; die Zunge und der Mund des Menschen sind nicht mehr sündig, wie am Anfang des Buches, sondern der Mund öffnet sich nun zum Lob. Weish 11,1 bildet die Überschrift zum Folgenden und ist nicht Abschluss von Kap. 10. Es ist sicher richtig, dass die Weisheit in 11,1 implizit noch einmal Subjekt des Satzes ist und danach (abgesehen von 14,2.5) ganz aus dem Text verschwindet. 11,1–4 zeigt sich jedoch gut konstruiert (s.u.) und bildet eine Einleitung zum ersten Diptychon (11,5–14). 11,1 kann als ein Übergangstext bezeichnet werden, der die Reihe von Weish 10 mit dem folgenden ausführlichen synkrisis-Teil verknüpft. Bezüglich der literarischen Gattung von Weish 10 finden sich keine wirklichen Parallelen in der Bibel, allenfalls die sog. historischen Psalmen (Ps 77[78MT]; 104[105MT]; 105[106MT]) können dem Kapitel an die Seite gestellt werden. Sir 44– 50 teilt mit Weish 10–19 das Interesse an der Geschichte und eine apologetische Perspektive. Aber in Weish 10 (und auch in den sieben folgenden Gegenüberstellungen in Weish 11–19) beschränkt der Verfasser sich nicht darauf, eine Reihe von als gerecht betrachteten „Vätern“ darzustellen; jeder solchen Figur stellt er jeweils die Ungerechten gegenüber. In Weish 10 steht das Leben jedes einzelnen Gerechten ganz unter dem Schutz des Handelns der Weisheit. Eine Besonderheit ist auch das dauernde Bestreben des Verfassers, die biblische Erzählung zu aktualisieren.4 Weish 10 steht innerhalb der Gattung des Enkomions in nächster Nähe zur Beispielreihen Untergattung der Beispielreihen.5 Solche Beispielreihen enthalten in der Regel eine Überschrift, die das Darstellungsziel der Liste angibt, dann die eigentliche Reihe, in der von jeder genannten Figur nur das erwähnt wird, was im Blick auf das

3 4 5

ἀτελέστοι (4,5) und ἀτελέσιν (10,7c); καρπός (4,5b) und καρποφοροῦντα (10,7); μάρτυρες (4,6b) und μαρτύριον (10,7); πονηρίας (4,6b und 10,7); ἄωρος (4,5b) und ὥραις (10,7). Vgl. GILBERT, „The Review of History“, der ja das ganze Buch als dem Enkomion zugehörig betrachtet. GLICKSMAN, Wisdom of Solomon 10, 95–99. Biblische Beispiele für Beispielreihen, die allerdings nicht von allen als solche anerkannt werden, sind 1Makk 2,50–61; 4Makk 16,16– 23; 18,9–19; Sir 44–50; Hebr 11; vgl. auch CD 2,17 – 3,12; bei Philon: Praem. 13–78; Virt. 199–227. Vgl. THYEN, Hartwig, Der Stil der Jüdisch-Hellenistischen Homilie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1955, 112–115. GLICKSMAN übernimmt den Vorschlag von REESE und betrachtet das Buch der Weisheit im Ganzen als Protrepticus und nicht als Enkomion (vgl. Glicksman, Wisdom of Solomon 10, 64–101). Siehe dazu die Einleitung dieses Kommentars.

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Weish 10,1–4

Darstellungsziel wichtig ist. Häufig werden einer oder mehrere Begriffe wiederholt, um die verschiedenen Teile der Reihe miteinander zu verknüpfen. In Weish 10 werden das Wirken (die πράξεις) der Weisheit und die Beispiele berühmter Figuren, die sich während ihres Lebens von ihr hatten leiten lassen, miteinander verflochten.6 Die Studie von Glicksman hat im Einzelnen die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten von Weish 10 gegenüber den bekannten Beispielreihen aufgezeigt. Insbesondere sind in Weish 10 nicht so sehr die acht dargestellten Personen die Hauptfiguren, sondern vielmehr die Weisheit (s.o.). Außerdem wird, entsprechend dem im Buche typischen Verfahren, niemand namentlich genannt; dabei ist es wohl die Absicht des Verfassers, die behandelten Figuren innerhalb eines hellenistischen Kontextes in einer der griechischen Literatur völlig unbekannten Weise zu universalisieren (vgl. die Charaktere des Theophrast). Der Verfasser setzte ein mit den biblischen Texten sehr vertraute Leserschaft voraus, die ohne weiteres in der Lage war, die knappen Anspielungen im Text zu verstehen; auch dieses Kapitel ist, wie das ganze Buch, ausschließlich für ein jüdisches Publikum bestimmt; ein griechischer Leser würde hiervon sicher sehr wenig verstehen. Die Aretalo- Weish 10 weist beachtliche Berührungspunkte mit den Isis-Aretalogien auf.7 Das gien zeigt die Verwendung der Anapher (s.o.) ebenso wie die Beachtung der von der

Weisheit vollbrachten „Taten“, beides für die Isis-Aretalogien typische Elemente. In Weish 10 fehlt eine Beschreibung der Natur (φύσις) und der Fähigkeiten (δυνάμεις) der Weisheit – sie wurden ja in Weish 7–8 dargestellt; auch der sich selbst preisende Stil, der für die Aretalogien typisch ist, wo Isis in der ersten Person spricht, fehlt völlig.8 Diese Art zu sprechen findet sich im ganzen Buch der Weisheit nicht, die Weisheit nimmt hier nie das Wort, anders als in Spr 8 und Sir 24. Stattdessen redet der Sprecher von ihr in Bezug auf Gott. So zeigt Weish 10 deutliche Züge der Aretalogien, ist jedoch selber keine Aretalogie. In Weish 10 fällt erneut die Originalität des Verfassers auf, der imstande ist, sich geschickt griechischer literarischer Formen zu bedienen (hier Beispielreihe und Aretalogie) und dabei dennoch bei zutiefst biblischen Inhalten zu bleiben.

Weish 10,1–4: Adam, Kain und Abel, Noah 1 Diese hat den erstgestalteten Vater der Welt, (der zunächst) allein erschaffen (worden war), bewahrt und ihn herausgenommen aus seiner eigenen Übertretung, 2 und sie hat ihm Kraft gegeben, über alles zu herrschen. 3 Der aber von ihr in seinem Zorn abgefallene Ungerechte ging zusammen mit seinen brudermörderischen Leidenschaften zugrunde.

6 7 8

SCHMITT, „Struktur“, passim; BIZZETI, Il libro della Sapienza, 172. GLICKSMAN, Wisdom of Solomon 10, 89–95. Vgl. die Isis-Aretalogie von Kyme.

Synchrone Analyse

285

4 Die Weisheit hat die seinetwegen überflutete Erde wieder gerettet, indem sie mittels wertlosen Holzes den Gerechten (auf dem Wasser) steuerte.

Synchrone Analyse Der Text beginnt mit dem emphatisch an den Anfang gestellten Pronomen αὕτη; 10,1–2: Adam das erste Werk der Weisheit ist der Schutz des ersten von Gott geformten Menschen. Um die Bedeutung des Ausdrucks „allein erschaffen“ zu verstehen, ist ein Vergleich mit den Quellen, aus denen der Verfasser schöpft, unerlässlich (s.u.). Mit der „Übertretung“ (10,1c) ist offensichtlich die in Gen 3 beschriebene gemeint; παράπτωμα hat die Bedeutung von „Übertretung, Sünde“ wie in 3,13b (vgl. Röm 5,15–20). Diese Sünde wird hier (durch die Wortstellung emphatisch) ἴδιος „ureigen“ genannt: Der erste Mensch hat sie begangen; der Verfasser möchte von Gott jede Verantwortung dafür fernhalten, vielleicht will er aber auch die Meinung derer bestreiten, die meinen, die Sünde in Gen 3 sei nur der Frau zuzuschreiben. Das Verb ἐξαιρέω, in der LXX meist im Medium, hat die Bedeutung „herausnehmen, entfernen“, nimmt aber hier den Beiklang von „retten“ an wie in 1Chr 16,35, dort in Parallele mit σῷζω. Viele Kommentatoren sind der Auffassung, das Wirken der Weisheit habe dem ersten Menschen den Weg der Umkehr gezeigt und ihm Vergebung erwirkt, ein Motiv, das im griechischen Leben Adams und Evas (1–11) beschrieben wird und auch den Kirchenvätern nicht unbekannt ist.9 Aber nach Weish 1,12.16 und 2,23–24 hat die Sünde den ewigen Tod des Gottlosen zur Folge; indem die Weisheit den Menschen aus der Sünde herauszieht, habe sie ihn auch der Herrschaft des Todes entzogen (der Verfasser erweitert so die Aussage von Gen 3,17–19) und auf den Weg zur Unsterblichkeit gebracht. Für das Buch der Weisheit gibt es also keine „Erbsünde“, die von Adam auf seine Nachkommen übergeht; die Sünde ist persönlich (ἴδιος), und schon der erste Mensch hat dank der Weisheit die Möglichkeit erlangt, aus dieser Situation herausgenommen zu sein. Der erste Mensch bewahrt so (10,2) die ihm von Gott gegebene Herrschaft über die Welt (vgl. Weish 9,2). Zu ἰσχύς „Kraft, Fähigkeit“ s.o. zu 2,11. Zu κρατέω „beherrschen“ s.o. zu 6,2.8; 14,19; die von Gott dem Menschen nach Gen 1,26–28 anvertraute Aufgabe wird verwirklicht durch die Gabe der Weisheit (vgl. Weish 9,2–3). Vom ersten Menschen geht der Text ganz natürlich weiter zu Kain und seinem 10,3: Kain und Brudermord „mit Versen, die eines großen Dichters würdig“ sind;10 Kains Name Abel wird nicht genannt, aber für jeden Kenner der Bibel ist offensichtlich, dass hier von ihm die Rede ist; die Aufmerksamkeit gilt ihm und nicht Abel. Kain wird als ἄδικος „Ungerechter“ bezeichnet; sein Beispiel veranschaulicht die Wahrheit des ersten Buchteils, dass die Ungerechten zum Tode bestimmt sind (vgl. 3,19; 4,16). Kain ist ungerecht, weil er sich von der Weisheit entfernt hat (ἀποστὰς δὲ ἀπ’ αὐτῆς; vgl. 3,10 über das Sichentfernen, Abfallen von Gott) aufgrund seines Zornes (ὀργή). Aus diesem Grunde hat die Weisheit ihm nicht beigestanden, wie sie es bei Adam getan hatte: Während dieser aus Schwäche sündigt, sündigt Kain jedoch 9 Vgl. NICCACCI, „Wisdom as Woman“, 372 Anm. 14. 10 SCARPAT, Sapienza II, 283.

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Weish 10,1–4

aus Verstocktheit, und die Weisheit tritt nicht in ihn ein, wie der Verfasser schon am Anfang seines Werkes festgestellt hatte (1,4–5). Kain „ging zusammen mit seinen brudermörderischen Leidenschaften zugrunde“: θυμός meint die „wütende Leidenschaft“; das Adjektiv *ἀδελφοκτόνος bezeichnet jemanden wie bei Philon (Fug. 60; Cher. 52) als „Brudermörder“; συναπόλλυμαι bedeutet „zusammen (mit jmdm./etw.) zugrunde gehen“. Der präpositionale Ausdruck δι’ ὅν am Anfang von 10,4 verknüpft die Sintflut 10,4: Noah und die Sint- mit der Sünde Kains. Denn seinetwegen wurde die Erde überflutet: κατακλύζειν flut verweist auf den in Gen 6,17; 7,6.17; 9,11.15 u. ö. genannten κατακλυσμός, die Sintflut. Die Weisheit hat „wieder“ die überflutete Erde gerettet; das πάλιν kann gedeutet werden auf die „Erde“ allein oder aber auf das Gesamt der Menschheit, das die Weisheit erneut, nachdem sie es schon bei Adam getan hatte, rettete. Hier überrascht die Nichterwähnung Henochs – ein weiteres Zeichen der antiapokalyptischen Eigenart des Textes. Die konkrete Weise, in der die Weisheit die Erde aus der Sintflut rettete, wird in 10,4b genannt: Sie hat „den Gerechten“ (vgl. Gen 6,9) „gesteuert“ (κυβερνήσασα) mittels eines brüchigen Holzes. Das Adjektiv εὐτελής hat einen negativen Beiklang und bezeichnet wie in 9,15; 13,14; 15,10 etwas als billig, minderwertig, wertlos. Die Arche wird nochmals in 14,7 „Holz“ genannt, während in 14,5 „(ganz unbedeutendes) Holz“ eine abwertende Bezeichnung der Schiffe ist, denen die Seeleute ihr Leben anvertrauen. Die Weisheit wird hier also dargestellt wie ein „Steuermann“, eine Kapitänin der Arche; in 14,3 wird demgegenüber die Vorsehung Gottes der „Steuermann“ sein.

Diachrone Analyse 10,1 Zu *πρωτόπλαστος vgl. 7,1; das Wort verweist zurück auf Gen 2,7 (καὶ ἔπλασεν ὁ

θεὸς τὸν ἄνθρωπον …). Die Wendung „Vater der Welt“ kann in zweierlei Weise verstanden werden: Zunächst in dem Sinne, dass Adam der Vater der ganzen Menschheit ist, da alle von ihm abstammen; κόσμος würde dann hier wie in 6,24 und 14,6 die Welt der Menschen bezeichnen. Zweitens würde der Text, wenn man „Vater“ im Sinn von „padrone, Besitzer, Chef, Herr“ versteht, das Thema der Herrschaft in Gen 1,26–28 neu interpretieren. Die Wendung μόνον κτισθήντα hat den Kommentatoren immer Schwierigkeiten bereitet;11 μόνον könnte die Nochnicht-Existenz Evas ausdrücken (vgl. Gen 2,18LXX: οὐ καλὸν εἶναι τὸν ἄνθρωπον μόνον), die auch deshalb hier unerwähnt bleibt, da die Weisheit brautartig ihre Stelle einnimmt. Eine zweite Möglichkeit ist, das μόνον wie im Gebet der Ester (Est 4,17l.t [= EstLXX C14.25] zu verstehen: Der Mensch ist in dem Sinne allein, dass er der Hilfe Gottes bedarf.12 Die beste Deutung scheint jedoch Tg. Ps.J. zu Gen 3,22 zu bieten: „Siehe, Adam ist allein auf der Erde, wie ich allein bin im 11 Ein ausführlicher Überblick über die Meinungen findet sich bei LARCHER, Sagesse II, 609– 611; vgl. BEAUCHAMP, „Epouser la sagesse“, 360–369; GILBERT, „La relecture de Gen 1–3“, 314–315. GLICKSMAN, Wisdom of Solomon 10, 107–108, denkt an die Einzigartigkeit Adams: Nur er wurde „erschaffen“, während die anderen Menschen „gezeugt wurden“ (vgl. PHILON, Opif. 140). 12 Vgl. NICCACCI, „Wisdom as Woman“, 371.

Diachrone Analyse

287

höchsten Himmel“. Dementsprechend schreibt Philon in Opif. 151 (Adam „glich in Bezug auf sein Einzigsein [κατὰ τὴν μόνωσιν] der Welt und Gott“); die Einsamkeit Adams macht ihn Gott ähnlich. Auch zwischen der Einsamkeit Adams und der der Weisheit besteht eine gewisse Beziehung: Sie wurde geschaffen als Erstes von allem (Spr 8,22– 26) und ist einzig in ihrer Art (Sir 24,5; vgl. Weish 7,27). Im Hinblick darauf symbolisiert Adam die ganze Menschheit in ihrer Beziehung zur Weisheit. Während im Buch der Sprichwörter und bei Jesus Sirach ein enger Parallelismus zwischen dem Heiraten der Weisheit und der Liebe zu ihr besteht, gibt es im Buch der Weisheit keine Gattin von Fleisch und Blut an der Seite des Weisen, sondern nur die Weisheit, zu der der Weise eine wirklich exklusive Beziehung haben kann.13 Wenn aber Adam seinem Schöpfer so nahe war, warum heißt es dann, die Weisheit habe ihn bewahrt (διεφύλαξεν)? Man könnte διαφυλάσσω in ganz allgemeiner Bedeutung verstehen: Die Weisheit sicherte Adam ihren Schutz zu, sie behütete ihn während seines Alleinseins. Aber vielleicht soll 10,1b ausdrücken, dass die Weisheit dem Menschen von Beginn seiner Erschaffung an nahe war. In 10,2 fällt auf, dass Gott dem Menschen die Herrschaft hier erst nach dem 10,2 Sündenfall übergibt, und nicht, wie in Gen 1,26–28, zuvor; denn die Sünde kann den Heilsplan Gottes für die Menschheit nicht zunichtemachen. Wenn der Verfasser Genesistexte heranzieht, deutet er sie in der Regel auf seine eigenen theologischen Vorstellungen hin um. Die Herausstellung des Zornes Kains ist ein gegenüber der Genesiserzählung 10,3 neues Element. Die weisheitliche Tradition spricht sehr deutlich in Bezug auf die Gefahr des Zornes, vgl. Spr 15,18; 22,24 (über einen ἀνὴρ θυμώδης), aber vor allem Spr 15,1LXX: ὀργὴ ἀπόλλυσιν καὶ φρονίμους „Zorn bringt auch Kluge um“. Auch der Stoizismus betrachtet den Zorn (ὀργή) als eine negative Leidenschaft zusammen mit dem θυμός (vgl. SVF III, frg. 395–397), vgl. Seneca, De ira. Der Zorn ist eines Weisen nicht würdig. Indem der Verfasser den Zorn Kains hervorhebt (vgl. die griechischen Fassungen von Aquila und Symmachus in Gen 4,5), passt er sich der weisheitlichen biblischen Überlieferung an, aber auch der stoischen Philosophie. Auch die Bezugnahme auf den Tod Kains ist neu; denn Kain stirbt, jedenfalls nach der Genesiserzählung, nicht gleich nach der Ermordung Abels, auch wenn dies nach einigen jüdischen Überlieferungen der Fall war.14 Dennoch kann Weish 10,3b einfach fortschreitend verstanden werden. Aufgrund seiner Tat starb Kain (später) zugleich mit seinen Leidenschaften; er wird so zum Symbol jenes ewigen Todes, der nach der Überzeugung des Verfassers die Gottlosen ereilt, s. zu Weish 1,16; 2,21–24. Man könnte hier auch daran erinnern, wie Philon die Erzählung von der Ermordung Abels liest (Det. 47–48): Der biblische Text „und Kain tötete ihn“ (καὶ ἀπέκτεινεν αὐτόν) meint nach Philon nicht Abel, sondern Kain, der, indem er Abel ermordete, in Wirklichkeit sich selbst tötete. Was hat nach der Meinung des Verfassers Kain mit der Entstehung der Sintflut 10,4 (vgl. 10,4a) zu tun? Im Buch der Weisheit wird mehrfach die Vorstellung erwähnt, dass die Nachkommenschaft der Gottlosen verflucht sei (3,12.16–19; 4,3–6); daher 13 Vgl. BEAUCHAMP, „Epouser la sagesse“, 363. „Il est remarquable que ce livre puisse à la fois faire désirer la solitude avec la Sagesse et préserver d’identifier la chasteté avec le marriage“ (369); vgl. NICCACCI, „Wisdom as Woman“, 384–385. 14 Bei Ginzberg, The Legends, V, 146–147 finden sich weitere Materialien zum Weiterleben Kains.

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Weish 10,5–9

wird die Menschheit, die Anlass für die Sintflut war, als die Nachkommenschaft betrachtet, für deren Bosheit Kain verantwortlich war. In 14,6 wird der Verfasser eine zweite Erklärung der Sintflut vorlegen: die stolzen Giganten, eine Anspielung auf Gen 6,1–4. Das 10,4 einleitende δι’ ὅν hat noch eine weitere Funktion: Der Verfasser deutet alle Generationen, die in Gen 5 Kain von der Sintflut trennen, als Ausbreitungen der Gewalttätigkeit, die von Kain ausgegangen war. Die Vorstellung von Gott (oder der Weisheit) als Steuermann der Arche (10,4b) gibt es nicht in der biblischen Erzählung; in 14,1–10 wird deutlich werden, dass der Vorstellungshintergrund des Verfassers hier die Figur der Isis ist, von der gesagt wird, dass sie in Wahrheit die Schiffe steuert, da sie das Schicksal steuert.15

Weish 10,5–9: Abram; Lot und seine Frau 5 Diese hat, auch als die Nationen in Einmütigkeit von Schlechtigkeit aufgerührt waren, den Gerechten erkannt und ihn untadelig (vor) Gott behütet und hat ihn als Kraftvollen bewahrt trotz der zärtlichen Liebe zu seinem Kind. 6 Diese hat den Gerechten, während die Gottlosen zugrunde gingen, gerettet, als er dem auf die Pentapolis herab fallenden Feuer entflohen war: 7 Immer noch gibt es da als Zeugnis für deren Schlechtigkeit qualmendes Ödland und Pflanzen,die Früchte tragen zu Zeiten, in denen diese nicht reifen; als Grabmal einer ungläubigen Seele steht eine Salzsäule. 8 Als sie nämlich an der Weisheit vorübergingen, erlitten sie nicht nur Schaden, so dass sie das Gute nicht erkannten, sondern hinterließen auch den Lebenden ein Denkmal ihrer Torheit, damit sie mit dem, worin sie fehlgingen, nicht verborgen bleiben konnten. 9 Die Weisheit aber hat die, die ihr dienten, aus Mühen gerettet.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 6

7

Das Adjektiv *καταβάσιος ist im klassischen Griechisch unbekannt; dort wird stattdessen καταιβάσιος z.B. für den Blitz des Zeus und καταιβάτης für Zeus selber verwendet (vgl. LIDDELL-SCOTT, sub voce; Aischylos, Prom. 359: καταιβάτης κεραυνός). Die Edition von ZIEGLER vermerkt, dass mehrere alte Übersetzungen (La Syh Sy Sa Arab) es nahelegen, 10,7d ein καί voranzustellen, um das Asyndeton zu vermeiden; die Lesart ohne καί dürfte jedoch die ursprüngliche sein und so einen neuen Gesichtspunkt hervorheben.

15 Vgl. den Kommentar zu Weish 14,1–10 und MAZZINGHI, „La barca della Provvidenza“, passim.

Synchrone Analyse

289

Synchrone Analyse 10,5 verbindet in wenigen Worten eine ganze Reihe von biblischen Texten: Die 10,5 „Nationen“ (ἔθνη) sind die in Gen 10 aufgeführten, die beschließen, den Turm von Babel zu bauen (Gen 11,1–9). Das Partizip Aorist Passiv von συγχέω weist zurück auf die Verwendung des gleichen Verbs in Gen 11,7.9LXX. Abram wird hier einfach „der Gerechte“ genannt (vgl. Gen 15,6); mit zwei Wörtern wird die Berufung Abrams nach Gen 12,1–3 zusammengefasst: Die Weisheit hat den „Gerechten erkannt“. Dies bedeutet vor allem, dass die Berufung Abrams als Initiative der Weisheit Gottes, die in Weish 7–9 vorgestellt wurde, gesehen ist. Gleichzeitig wird vorausgesetzt, dass Abram schon gerecht war und die Weisheit also ihn nicht erst dazu macht, sondern ihn „erkennt“ in dem Sinne, dass sie ihn für eine bestimmte Sendung auswählt und sich seiner annimmt (vgl. im NT 1Kor 8;3; Joh 10,14; 2Tim 2,19). Die Weisheit hat Abram nicht nur „erkannt“, sondern hat ihn auch untadelig vor Gott behütet. Das Adjektiv ἄμεμπτος ist Gen 17,1 entnommen (vgl. Weish 10,15; 18,21). Gott treu, untadelig vor ihm zu sein, ist so nicht das Werk Abrams, sondern ein Geschenk der Weisheit. Das dritte Kolon 10,5c spielt auf die Opferung Isaaks (Gen 22) in einer kryptischen und ungewöhnlichen Ausdrucksweise an, die für jemanden, der die Bibel nicht kennt, unverständlich ist. Die Weisheit hat Abram als einen Kraftvollen behütet (ἐφύλαξεν); ἰσχυρός bezeichnet auf eine in der LXX unübliche Weise jemand, der Kraft und Mut hat.16 Die Untadeligkeit Abrams vor Gott wird auf die Probe gestellt durch die Aufforderung zum Opfer Isaaks, aber es ist die Weisheit, die dem Patriarchen die Kraft zur Bewährung verleiht. Von Abram geht die Betrachtung über zu seinem Neffen Lot, der hier als ein 10,6–9 „Gerechter“ angesehen wird. Das Wirken der Weisheit wird in 10,6a mit dem Verb ῥύομαι „retten“ beschrieben (so auch in 10,9.13.15; vgl. 2,18; 16,8; 19,9); oft wird damit eine Rettung aus Todesnot bezeichnet. Die Rettung Lots geschieht vor dem Hintergrund der Gottlosen, die zugrunde gehen (ἐξαπολλυμένων ἀσεβῶν), d.h. der Sodomiter, die durch die Bestrafung Gottes umkommen, an die in 10,6b mit dem Bild Lots, der vor dem auf die „Fünf Städte“ (*πεντάπολις; Gen 14,2.8; Flavius Josephus, Bell. 4,484) herabfallenden Feuer flieht (vgl. Gen 19,24). Die Pentapolis hier und das Rote Meer in 10,18a sind die einzigen geographischen Namen, die im Buch der Weisheit ausdrücklich genannt werden. Das öde Gebiet südlich des Toten Meeres ist „Zeugnis“ (μαρτύριον, 10,7) sowohl der Strenge der Strafe, die auf die Sodomiter fiel, als auch der Rettung, die dem „gerechten“ Lot geboten wurde; μαρτύριον ist ein in der LXX häufig vorkommendes Wort, erscheint im Buch der Weisheit aber nur hier. Das Handeln Gottes hat das Land zu einer καπνιζομένη χέρσος, einer qualmenden Öde gemacht (vgl. Gen 19,28), deren Bäume keine Frucht tragen oder besser: Sie tragen nur nichtreifende Früchte (vgl. Tacitus, Hist. 5,7). Das Adjektiv ἀτελής „unvollendet, nichts zu Ende bringend“ verweist zurück auf ἀτέλεστος in Weish 3,16 und 4,5 über die Unvollendetheit des Lebens der Gottlosen. Wie viele antike Autoren be-

16 Für mögliche Anklänge des Themas der „Kraft“ Abrams an den Isis-Kult vgl. GLICKSMAN, Wisdom of Solomon 10, 117.

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Weish 10,5–9

trachtet auch das Buch der Weisheit die Phänomene, die in der Genesis beschrieben werden, als noch bestehend mit dem Verweis auf die besondere geographische Lage und Beschaffenheit des Toten Meeres, vgl. die Beschreibungen bei Flavius Josephus, Bell. 4,483 und Philon, Abr. 140–141. Die in eine Salzsäule verwandelte Frau Lots (Gen 19,26) wird zum Erinnerungszeichen nicht an die Bosheit der Sodomiter, sondern an ihren Mangel an Glauben (vgl. auch Gen 19,17). Zu ἀπιστέω s.o. zu Weish 1,2. Die Salzsäule wird beschrieben als ein Grabmonument (μνημεῖον), das noch besteht, aber der Text gibt keine geographischen Details an.17 Die Begründung, weshalb der Erzählung von Sodom und von der Frau Lots so viel Platz eingeräumt wird, liefern die vier Kola 10,8–9, ein wirklicher theologischer Kommentar zu einer biblischen Episode. 10,8 beginnt sprichwortartig und bezieht sich allgemein auf alle bisher erwähnten Gottlosen, auf die Sodomiter und die Frau Lots, die alle achtlos an der Weisheit vorübergegangen sind (zu παροδεύω s.o. zu 1,8; 2,7; 5,14 und 6,22) und damit eine Form mangelnden Glaubens an Gott gezeigt haben. Die erste Wirkung davon ist die Schädigung (ἐβλάβησαν) der Erkenntnisfähigkeit des Guten, hier typisch griechisch ausgedrückt als τὰ καλά, das Edle und Schöne. Eine weitere Wirkung der Nichtbeachtung der Weisheit ist es, der Menschheit ein Denkmal ihres törichten Verhaltens hinterlassen zu haben (τῆς ἀφροσύνης ἀπέλιπον τῷ βίῳ μνημόσυνον). In 10,8d folgt ein Finalsatz: Dies alles sei geschehen, damit die Gottlosen nicht verborgen bleiben könnten ἐν οἷς ἐσφάλησαν „worin sie fehlgingen“ (vgl. 2,4 und bes. 17,3), Gott lässt das nicht zu. Die Gottlosen hinterlassen eine furchtbare Erinnerung, völlig verschieden von der der Gerechten (vgl. 4,1). Im Gegensatz dazu hat die Weisheit die, die ihr dienen, befreit (10,9); θεραπεύω wird hier in einer in der LXX seltenen, aber im griechischen Sprachgebrauch üblichen Bedeutung verwendet.

Diachrone Analyse 10,5 Der Text über Abraham stellt eine interessante relecture der Genesis-Erzählung

verbunden mit Einflüssen aus der griechischen Welt dar. In der Wendung ἐν ὁμονοίᾳ πονηρίας ist eine ironische Anspielung auf jene ὁμόνοια „Eintracht“, die das Ideal des hellenistischen gesellschaftlichen Zusammenlebens bildete. Denn die Eintracht ist „das Wissen um die gemeinsamen Güter“, eine Eigenschaft, die den stoischen Weisen kennzeichnet und ihn dazu bringt, in Frieden mit den anderen zu leben (SVF III, 160 frg. 625. 630). Die in 10,5 gemeinte „Konfusion“ ist nicht so sehr die der Sprachen, vielmehr ist es das Scheitern des bösen Vorhabens der Menschheit, vor dem Abram jedoch bewahrt wird. Nicht sehr viel anders deutet Philon: In der Schrift de confusione linguarum versteht er den Namen σύγχυσις für Babel (Gen 11,9LXX) nicht als Konfusion der Sprachen, sondern als Zerstörung der bösen Übereinkunft, die die Menschen in eine Gegenstellung zu Gott brachte.18 17 Zu den verschiedenen antiken Zeugnissen von der Salzsäule, welche die Frau Lots repräsentieren soll, vgl. WINSTON, Wisdom 216. 18 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 295–302. Zu Weish 10,5 s. auch MAZZINGHI, „La figura di Abramo in Sap 10,5“.

Weish 10,10–12

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Außerdem wird die Berufung Abrams unmittelbar auf dem Hintergrund der Verwirrung der Völker, die durch die Rebellion in Babel bewirkt war, dargestellt und so die enge Verbindung zwischen Gen 11,1–9 und Gen 12,1–3 erspürt.19 Einerseits gibt es die Sünde der Menschen, andererseits ist die Gnade Gottes am Werk und erreicht Menschen, die sie annehmen und die Heilsgeschichte wieder in Gang bringen. Die Verwendung von σπλάγχνα „Eingeweide“ in einem übertragenen Sinn entspricht dem klassischen Griechisch, in der LXX kommt das Substantiv sonst nicht vor; der Verfasser denkt dabei möglicherweise an das hebräische Wort ‫רחמים‬ „Liebe“. Wie ein stoischer Weiser ist auch Abram in gewisser Weise unerschütterlich (vgl. Cicero, Tusc. III, 8,18 = SVF I, 95 frg. 434; SVF III, 162 frg. 640); die innige Liebe zu seinem Sohn bringt ihn nicht davon ab, Gott zu gehorchen. Lot wird, wie auch im NT in 2Petr 2,7, positiv erwähnt (ein „Gerechter“) im 10,6–9 Unterschied zur übrigen jüdischen Tradition, die in der Regel Lot streng verurteilt.20 Die Weisheit übernimmt in 10,6 eine Aufgabe, die in Gen 19,12–22 (vgl. Weish 19,13–17) die Engel innehaben. Bei der Erwähnung von Lots Frau, die in eine Salzsäule verwandelt wurde, ist die Feststellung bemerkenswert, dass dieses Salzmonument Denkmal einer „ungläubigen Seele“ ist, wie wenn die Stele den Körper der Frau Lots darstellte: Die Episode wird so in feiner Weise religiös neu gelesen (vgl. im NT Lk 17,31–32. Die Erzählung von der Salzsäule wird jedoch, wie es auch bei den anderen biblischen Figuren in Weish 10 geschieht, nicht allegorisch gedeutet in der für Philon typischen Weise (vgl. Fug. 122; Somn. I, 247). Die Nennung der Sodomiter bringt den Verfasser auf das Thema der Torheit (10,8c); schon in Weish 1,3; 3,2.12 und 5,4 war das Wort ἄφρων „töricht“ verwendet worden, um die Gottlosen zu charakterisieren; das Substantiv ἀφροσύνη (es kommt mehrfach in Spr, Koh und Sir vor) bezeichnet in der LXX nicht nur ein dummes, sondern auch ein böses, dem Willen Gottes zuwiderhandelndes Verhalten. Auch in der griechischen Welt ist die ἀφροσύνη das größte Übel; sie wird im Stoizismus als die Unwissenheit von Gutem und Bösem definiert (SVF II, 50 frg. 174) und eine solche Unkenntnis ist das einzige wirkliche Übel (SVF III, 19 frg. 79).

Weish 10,10–12: Jakob 10 Diese hat den Gerechten auf seiner Flucht vor dem Zorn des Bruders geleitet auf geraden Pfaden; sie zeigte ihm das Königtum Gottes und gab ihm Kenntnis von Heiligem; 19 Die Tradition, die Abram mit Babylon verbindet, ist schon ziemlich alt, vgl. Jub. XI,12– 16; XII,1–14. Nach VERMES ist sie zwischen 150 v.Chr. und 50 n.Chr. anzusetzen, vgl. VERMES, Geza, „The Life of Abraham (1)“, in: DERS., Scripture and Tradition in Judaism (Leiden: Brill 1973) 67–126; bes. 85–90. 20 Vgl. GINZBERG, The Legends, I, 223; V, 223.240.243.

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Weish 10,10–12

sie machte ihn wohlhabend bei seinen harten Arbeiten und vermehrte (den Ertrag) seiner Mühen. 11 Bei der Habgier derer, die stärker waren als er, stand sie ihm bei und machte ihn reich. 12 Sie bewahrte ihn vor seinen Feinden und verschaffte ihm Sicherheit vor denen, die ihm auflauerten; und bei einem kraftvollen Kampf entschied sie zu seinen Gunsten, damit er erkenne, dass mächtiger als alles die Frömmigkeit ist.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 10 Einige Textzeugen lesen τοὺς κόπους anstelle von τοὺς πόνους (S A O-V und mehrere Minuskeln) , vielleicht zur Unterscheidung von den ἀγαθοὶ πόνοι in 3,15, um so die Schwierigkeiten, denen Jakob begegnen musste, hervorzuheben, oder aber in Angleichung an Gen 31,42 (τὸν κόπον τῶν χειρῶν μου εἶδεν ὁ θεός ). Aufgrund der genannten Variante (τοὺς κόπους) vermutet LARCHER (Sagesse II, 632), der Text sei korrupt und schlägt einige mögliche Konjekturen vor, die jedoch in den Handschriften keine Unterstützung haben, darunter τοὺς ἐκ κόπου αὐτοῦ, d.h. seine Nachkommen, die Kinder Jakobs, die die Weisheit vervielfacht habe. 12 Das Verb *βραβεύω (vgl. im NT Kol 3,15) bedeutet „Schiedsrichter sein, entscheiden“: Da die syrische und die armenische Übersetzung das Verb mit „zum Sieger erklären“ übersetzt haben, wird es häufig in modernen Übersetzungen ebenso wiedergegeben, auch im Blick auf das Substantiv βραβεῖον „Siegespreis“. Da das Verb ἐβράβευσεν hier mit dem Dativ αὐτῷ verbunden ist, kann es im Sinne von „sie entschied zu seinen Gunsten“ verstanden werden.

Synchrone Analyse 10,10 Der Sprecher wendet sich nun dem zu, „der vor dem Zorn des Bruders floh“, d.h.

Jakob;21 vgl. Gen 27,41–45; Subjekt ist wieder die Weisheit (αὕτη): Sie „geleitete“ Jakob „auf rechten Pfaden“; ὁδηγέω weist ausdrücklich zurück auf das schon in 9,11b beschriebene Handeln der Weisheit (s. dort den Kommentar). Die beiden folgenden Kola 10,10c-d stellen eine beachtenswerte relecture des Traums Jakobs in Betel dar (Gen 28,10–22; s. dazu unten). Die Weisheit machte ihn danach wohlhabend bei seinen harten Arbeiten (εὐπόρησεν αὐτὸν ἐν μόχθοις) und seine Mühen ertragreich (ἐπλήθυνεν τοὺς πόνους αὐτοῦ); πληθύνω bedeutet hier „vervielfältigen, zu zahlreichem Erfolg führen“. Die beiden Kola fassen in äußerster Knappheit die Erzählungen von Gen 29–31 zusammen, wie Jakob reich wurde während seines Aufenthaltes bei Laban und jede Art von Schwierigkeit überwand.22

21 „Like Cain and Esau, the apostate Jews have turned against Wisdom and out of hate and anger persecute their brothers (cf. Wis 2:12–20; 4,17–19)“, Glicksman, Wisdom of Solomon 10, 124. 22 LARCHER, Sagesse II, 632, nimmt an, dass das Buch der Weisheit mit πληθύνω auch auf die Kinder anspielt, die Jakob während seines Aufenthaltes bei Laban erhielt.

Diachrone Analyse

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10,11 umreißt in origineller Weise die letzten Jahre, die Jakob bei Laban verbrachte 10,11 (Gen 30,25 – 31,16), in deren Verlauf Jakob auch Laban reich gemachte hatte (Gen 30,43). Hervorzuheben ist hier das Verb παρίσταμαι „daneben stehen, beistehen“, das nur noch einmal, und zwar in Weish 19,22 als letztes Wort im Buch mit Gott als Subjekt vorkommt. In der Jakobsgeschichte der Genesis ist es Gott selber, der ihm beisteht (vgl. Gen 31,42); eine ähnliche Verwendung von παρίσταμαι findet sich in Ps 108[109MT],31. Der Beistand Gottes ist hier durch den der Weisheit ersetzt; sie ist es auch, die den Menschen reich macht – ein Motiv, das schon im Lob der Weisheit vorkam (s. 7,11 und den Kommentar dazu; vgl. auch Spr 8,14–21). Der asyndetische Beginn zeigt einen neuen Gesichtspunkt an. 10,12 fängt mit 10,12 einem Blick auf die Feinde Jakobs im Allgemeinen und die Gegner an, die ihm einen Hinterhalt legten (zu ἐνεδρεύω vgl. Weish 2,12). Hier könnte man an das Zusammentreffen von Jakob mit Esau denken (vgl. Gen 32,4–22); auch damals war es die Weisheit, die Jakob beschützt und behütet hat;23 zu διαφυλάσσω s. den Kommentar zu 10,1 (vgl. auch 17,4); zu ἀσφαλίζομαι „Sicherheit verschaffen“ vgl. Weish 4,17 mit Bezug auf das Endschicksal der Gerechten. 10,12c-d bieten eine relecture der bekannten Szene des Kampfes Jakobs mit Gott (Gen 32,23–32, s. u.).

Diachrone Analyse Der Verfasser scheint hier Jakob von jeder Schuld freizusprechen und bezeichnet 10,10 ihn als einen „Gerechten“; seine Mutter Rebekka wird nicht einmal erwähnt. Die „rechten Pfade“ mögen sicher anspielen auf die Reise Jakobs nach Haran (Gen 28,10); aber die metaphorische Verwendung von τρίβος, die schon in Weish 2,15; 5,7 beobachtet wurde, lässt hier an eine ähnliche Bedeutung denken, wie sie in der LXX in Jes 40,3 (εὐθείας ποιεῖτε τὰς τρίβους τοῦ θεοῦ ἡμῶν) vorliegt; in Spr 2,19.20; 3,17 sind „Pfade“ eine Metapher für das menschliche Verhalten, vgl. Ps 26[27MT],11: ὁδήγησόν με ἐν τρίβῳ εὐθείᾳ; vgl. auch Ps 22[23MT],3. Von daher betrachtet, ist das Einwirken der Weisheit auf Jakob auch und vor allem eine innere Leitung; Jakob wird zu einem Typos des Gerechten, den die Weisheit auf dem rechten Weg leitet. Die nächtliche Vision Jakobs in Betel (Gen 28,10–22) wird als eine innere Offenbarung (ἔδειξεν αὐτῷ) und als eine Erkenntnismitteilung (ἔδωκεν αὐτῷ γνῶσιν) dargestellt. Der Gegenstand der Vision wird mit der Wendung βασιλεία θεοῦ (hapax in der LXX) beschrieben, einem Ausdruck, der nicht unmittelbar verständlich ist.24 Die Verwendung des Wortes βασιλεία in Weish 6,4.20 weist auf die Bedeutung „Königtum, Königsein“ und bezieht sich demzufolge auf die Ausübung der Königsmacht Gottes in der Welt, die Jakob durch die Vision der Leiter erkennt; hier aber ist diese Erkenntnis verstanden als eine Frucht des Wirkens der Weisheit. Ein zweiter Sinn von βασιλεία ist nicht auszuschließen, nämlich der metaphorische Gebrauch des Königsmotivs in der schon mehrfach erwähnten stoischen Vorstel23 DEANE (The Book of Wisdom, 101) denkt an jüdische Traditionen über die Feinde Jakobs, wie sie sich in Jub 34,1–9 und Test. Juda 3–7 spiegeln. 24 Zu einigen früheren Interpretationen s. E. BURROWS, „Wisdom X 10,“ Bib 20 (1939) 405; vgl. LARCHER, Sagesse II, 629–630.

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Weish 10,10–12

lung, dass der einzige wirkliche König der Weise sei; dann wäre das dem Jakob gezeigte Königtum das mit der Ausübung der Gerechtigkeit und der anderen Tugenden verbundene, die ja alle von der Weisheit herkommen.25 In dem Kolon καὶ ἔδωκεν αὐτῷ γνῶσιν ἁγίων (10,10d) ist das Verständnis von ἁγίων strittig.26 Betrachtet man ἁγίων als ein Neutrum Plural, kann der Text aussagen, dass Jakob Kenntnis von „Heiligem“ erlangte, d.h. von dem Heiligtum, das er nach Gen 28,21–22 in Betel nach der Vision mit der Himmelsstiege gründet. Der Ausdruck τὰ ἅγια meint in der LXX oft den Tempel (vgl. τὸ ἅγιον τῶν ἁγίων „das Allerheiligste“). Die rabbinischen Traditionen neigen dazu, den Bau des Heiligums in Betel mit dem Tempel in Jerusalem in Verbindung zu bringen (vgl. Ber. Rab. zu Gen 28,27; Pirq R. El. 35). Nicht zu vergessen ist, dass in Weish 9,8 der Tempel von Jerusalem ein Abbild des himmlischen Tempels darstellt. Die Vision der Leiter in Verbindung mit dem Bau des Heiligtums in Betel könnte daher auch dieses als Abbild des himmlischen Tempels erscheinen lassen. Dies sind demnach wahrscheinlich die „heiligen Dinge“, die die Weisheit Jakob hat erkennen lassen: die Vision des Tempel, der jedenfalls die Dimension der Erkenntnis Gottes nicht ausschließt (vgl. Gen 28,16). Der Vorschlag von SCARPAT bildet eine gute Ergänzung zur oben gegebenen Deutung. Der Genitiv ἁγίων wird als Neutrum Plural betrachtet und zusammen mit γνῶσις verstanden als Kenntnis der heiligen Dinge, d.h. als eine der beiden Zielsetzungen der σοφία nach einer in der griechischen Kultur verbreiteten Vorstellung, insbesondere im Stoizismus, vgl. SVF II, 15 frg. 35, wonach die Weisheit gerade als Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge beschrieben wird: θείων τε καὶ ἀνθρωπίνων ἐπιστήμη.27 Die Weisheit, die von Gott her kommt, gehört derselben Ordnung an wie diejenige, die die griechischen Philosophen suchen: Sie ist eine Möglichkeit, die Dinge Gottes zu erkennen, eine Kenntnis, die nicht Frucht menschlicher Anstrengungen ist, sondern der Ordnung der Gabe angehört. 10,11 Hier ist von der πλεονεξία Labans die Rede; dieses Wort bedeutet im griechischen

Sprachgebrauch die Habsucht und allgemeiner den Versuch, sich in den Besitz von mehr zu setzen, als einem zusteht. Der Ausdruck ist nicht häufig in der LXX, wo er immer in negativen Kontexten vorkommt (vgl. 2Makk 4,50), ebenso auch im NT (vgl. Kol 3,5). Philon stellt die πλεονεξία der δικαιοσύνη (Prob. 159) und den anderen Tugenden (Praem. 15) gegenüber. Für Philon ist die πλεονεξία noch etwas mehr als die einfache Habsucht: Sie wird zu einem Drang über die dem Menschen

25 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 311–313, und die von ihm angeführten Texte; ENGEL, Weisheit, 173–174. 26 Der Genitiv ἁγίων kann als Plural mask. wie in Weish 5,5b die Engel meinen, die Jakob nach der Genesiserzählung auf der Leiter auf- und niedersteigen sieht; er kann auch eine Umschreibung für Gott sein wie in Spr 30,3LXX, dann würde nicht Gott an sich Jakob offenbart werden, sondern das, was Gott für ihn ist, vgl. GILBERT, „La connaissance de Dieu“, 321–322. WINSTON (Wisdom, 217) vermutet eher einen Kontakt mit Test. Levi 9,3, wo Jakob eine Vision bezüglich des künftigen Priestertums Levis zugeschrieben wird. Für eine Vision des himmlischen Heiligtums vgl. schon BURROWS, „Wisdom X,10“, der Giub. 32 und Test. Levi 9,3 zitiert und auch auf Weish 9,8 hinweist. 27 Vgl. auch die anderen bei SCARPAT, Sapienza II, 313–314, zitierten Texte.

Diachrone Analyse

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gesetzten Grenzen hinaus.28 Laban wird als ein Musterbeispiel für Habgier beschrieben und wird gleichzeitig zum Typos κατισχυόντων αὐτόν, aller, die den Gerechten unterdrücken; zu κατισχύω im Sinne von „überlegen sein, besiegen, unterdrücken“ vgl. Weish 7,30; 17,5. Der Plural lässt sich als Generalisierung der Situation bei Laban erklären, falls der Verfasser nicht auch die Söhne und Brüder Labans mit ihm zusammenschließt (vgl. Gen 31,1.23). Die Ausrichtung, in der die ganze Jakobsgeschichte in Weish 10,10–12 darge- 10,12 stellt wird, ist lehrhaft. Der Absatz endet mit der wichtigsten Lehre, die der Patriarch in der Schule der Weisheit gelernt hat: „Er sollte erkennen, dass die Frömmigkeit mächtiger ist als alles sonst“. Es handelt sich wieder um eine midraschartige relecture biblischer Texte. Der Verfasser verdichtet in nur drei Versen (10,10–12) die ganze Lehre, die er aus dem langen Text Gen 28–36 gewonnen und seinen Zeitgenossen erneut vorgetragen hat. Die Episode vom Kampf Jakobs mit Gott (Gen 32,23–32), auf die die Kola 10,12cd zurückgreifen, brachte schon die antiken Kommentatoren in Verlegenheit; der Sprecher fasst sie meisterhaft mit wenigen, ausgewogenen Worten zusammen. Die Formulierung von 10,12c ist nicht ohne weiteres verständlich (s.o. die Anmerkung zum Text). Wenn man für βραβεύω die Bedeutung „zu jemandes Gunsten entscheiden“ annimmt, kann man an die Weisheit denken: Sie hat Jakob im Kampf mit Gott geholfen, indem sie den Kampf selbst zu seinen Gunsten ausgehen ließ. Bereits in Weish 4,2 war das Wort ἀγών in metaphorischem Sinne gebraucht worden. Gott wird hier jedoch nicht ausdrücklich genannt, der Text spricht nur von einem „kraftfordernden Kampf“, aus dem Jakob als Sieger hervorging dank der Tätigkeit der Weisheit. Die jüdische Tradition schwankte, ob in dem Gegner Jakobs ein „Mann“ nach Gen 32,25 oder ein Engel (vgl. Hos 12,5) oder gar Gott selbst (Gen 32,29) zu sehen sei. Die Nennung von εὐσέβεια (hapax im Buch der Weisheit), von pietas Gott gegenüber (s.u.), legt nahe, dass in 10,12c an eine Begegnung mit Gott selbst gedacht ist, aus der Jakob siegreich hervorgeht wegen seiner pietas, die ihrerseits eine Frucht der Hilfe der Weisheit ist. Die Weisheit erscheint so als diejenige, die den Menschen in eine richtige Beziehung zu Gott bringt, indem sie jede Schwierigkeit zu überwinden hilft, die in dieser Beziehung erfahren werden kann. Das Wort εὐσέβεια bezeichnet im hellenistischen Sprachgebrauch die Frömmigkeit Gott „pietas“ gegenüber, vgl. Spr 1,7 (εὐσέβεια εἰς θεόν) und Jes 33,6 (εὐσέβεια πρὸς τὸν κυρίον). Das Wort begegnet häufig in 4Makk; es wird von Philon in der Bedeutung von „Religiosität“ verwendet und als eine der höchsten Tugenden verstanden (vgl. Decal. 52); vgl. im NT 1Tim 3,16. Der Aristeasbrief umschreibt die εὐσέβεια als „das Begreifen, dass Gott in absolut allem wirkt und alles kennt und dass der Mensch sich nicht verstecken kann, wenn er ein Unrecht begeht oder das Böse tut“ (Arist. 20).29 Dank der pietas ist der Mensch imstande, die Dinge Gottes (vgl. Weish 10,10c-d) zu verstehen und jede Schwierigkeit zu überwinden, denn die Frömmigkeit ist mächtiger als alles (10,12d).

28 Vgl. DELLING, Gerhard, πλεονέκτης κτλ., ThWNT VI, 266–274. 29 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 316–317, und DERS., Quarto Libro dei Maccabei, 76–77.

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Weish 10,13–14

Weish 10,13–14: Josef 13 Diese hat den Gerechten, als er verkauft worden war, nicht im Stich gelassen, sondern rettete ihn vor der Sünde. 14 Sie stieg mit ihm hinab in die (Gefängnis-)Grube, und als er in Ketten lag, verließ sie ihn nicht, bis sie ihm ein Königsszepter brachte und Verfügungsgewalt über die, die über ihn herrschten. Als Lügner zeigte sie die, die ihn verleumdet hatten, und gab ihm ewige Herrlichkeit.

Anmerkung zu Text und Übersetzung v. 14. λάκκος „Grube, Zisterne“ meint hier das Gefängnis, in das Josef in Ägypten geworfen wurde, vgl. LARCHER, Sagesse II, 636; das Wort ist aus Gen 40,15 genommen; in Gen 37,24 wird ebenfalls das Wort λάκκος verwendet, jedoch für die Zisterne, in die Josef von seinen Brüdern geworfen wurde.

Synchrone Analyse 10,13 beginnt mit einer erneuten Bezugnahme auf die Weisheit (αὕτη); sie hat einen Gerechten, der verkauft worden war (πραθέντα δίκαιον), nicht im Stich gelassen (οὐκ ἐγκατέλιπεν). Deutlich ist hier Josef gemeint, der von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft worden war (Gen 38,26–28.36; vgl. Ps 104[105MT],17). Das Verb πιπράσκω findet sich nicht in der Genesiserzählung, wohl aber im Test. Jos. 1,5; 10,6. Das Verb ἐγκαταλείπω kommt im Buch der Weisheit nur hier vor, ist aber in negierten Formen sehr häufig in der übrigen LXX und bezeichnet den Beistand Gottes, z.B. bei Abraham in Gen 24,7; vgl. Ps 9,11; 26[27MT],9; 36[37MT],25 u. ö. Der Beistand der Weisheit bei Josef besteht darin, dass sie aus der Sünde befreit hat (zu ῥύομαι s.o. zu 10,6.9). Die Bezugsstelle ist hier die Episode mit der Frau Potifars Gen 39,7–12). Wenn der Text hier von ἁμαρτία spricht (s.o. den Kommentar zu Weish 1,4), ist die Versuchung auf sexuellem Gebiet gemeint, vgl. Gen 39,9LXX: πῶς ἁμαρτήσομαι ἐναντίον τοῦ θεοῦ;); „Sünde“ ist noch nicht mit der umfassenden Bedeutung gefüllt, die das Wort später bei Paulus haben wird. Der Text von 10,14a-b ist ebenso klar: Die Weisheit wird als eine Person dargestellt, die mit Josef in die Gefängnisgrube hinabstieg (συγκατέβη könnte aus Dan 3,49 entnommen sein) und ihn nicht allein ließ (οὐκ ἀφῆκεν), als er in Ketten lag. Bezugsstelle ist die Episode des Gefängnisaufenthalts Josefs in Gen 39,20, während dessen Gott ihn Wohlwollen beim Gefängnisleiter finden ließ (Gen 39,21–23).30 30 Die Anwesenheit der Weisheit im Gefängnis an der Seite Josefs ist einmalig in der jüdischen Tradition. Möglicherweise denkt der Verfasser an eines der Isis-Attribute: denn Isis ist diejenige, die die Gefangenen befreit (vgl. ISIDOROS, Isis-Hymnus I, 29.34; Aretalogie von Andros, 144–145; Aretalogie von Kyme 48); GLICKSMAN, Wisdom of Solomon 10, 132.

Diachrone Analyse

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In 10,14c-d wird der Weisheit auch die Befreiung Josefs aus dem Gefängnis und seine Ernennung zum Minister Pharaos, der über ganz Ägypten herrschte, zugeschrieben (Gen 41,40–44). Dies alles wird veranschaulicht durch das Bild vom Königsszepter, das Josef vom Pharao überreicht wird. Der Genesistext spricht allerdings nicht von einem Szepter, es gibt jedoch eine Tradition, die aus Josef einen tatsächlichen König macht (vgl. Ios. et Asen. 5,5; 29,11; Philon, Ios, 119). An zweiter Stelle wird Josef die ἐξουσία, d.h. die Verfügungsmacht über diejenigen verliehen, die (bisher) über ihn herrschten (τυραννούντων αὐτοῦ); nur noch einmal ist im Buch der Weisheit von ἐξουσία die Rede, nämlich in 16,13 über die Verfügungsmacht Gottes. Hier bezeichnet das Wort die menschliche Macht bei der Ausübung politischer Autorität wie mehrfach auch in den späten Schriften der LXX (Dan und Makk).31 Die letzten beiden Wirkungen der Tätigkeit der Weisheit bei Josef werden in 10,14e-f beschrieben: Die Weisheit erwies die Verleumder Josefs (τοὺς μωμησαμένους αὐτόν) als Lügner (ψευδεῖς). Das Verb μωμάομαι „tadeln; verleumden“ kommt in der LXX sonst nur noch in Spr 9,7 und Sir 34,18 vor;32 nach allgemeiner Auffassung ist damit hier diejenige gemeint, die durch ihre Verleumdungen veranlasst hatte, dass Josef ins Gefängnis geworfen wurde (Gen 39,14–18).

Diachrone Analyse Der Text 10,13–14 bemüht sich, die ganze Josefserzählung (Gen 37–50) in wenigen Zeilen zusammenzufassen. Aber diese Geschichte gewinnt in den Augen des Verfassers eine bestimmte Bedeutung auch deshalb, weil es sich um eine in Ägypten spielende Episode handelt, was einige Bezugnahmen auf die historische Situation der alexandrinischen Juden erlaubt. Der Verfasser folgt einem typischen biblischen Schema: Erniedrigung – Erhöhung (vgl. den Gottesknecht im Jesajabuch, Ijob, Tobit, u.a.); aber hier wird das ganze Leben Josefs als unter dem Schutz der Weisheit geführt betrachtet. Die Verwendung von τυραννέω in 10,14d lässt an eine despotische Herrschaft Ein Aktualisiedenken (vgl. die τύραννοι in Weish 6,9.21; 8,15). Dabei kann es sich nicht um die rungsversuch Brüder Josefs handeln, denn das Partizip steht im Präsens, und der Verkauf Josefs durch die Brüder geschah lange zuvor; und nach Gen 50,19–21 hat Josef nicht vor, über seine eigenen Brüder zu herrschen. So kann der Text sich auf die, die Josef unterdrücken, wie Potifar und seine Frau, beziehen. Aber die Nennung von ἐξουσία zusammen mit τυραννέω (vgl. auch 16,4) legt es nahe, hier den Versuch einer Aktualisierung zu sehen. Die Weisheit gewährt dem Gerechten – Typos des treuen Israeliten – eine wirkliche Herrschaft über die, die ihn unterdrücken, d.h. über alle, die den Juden in Alexandria jene Rechte vorenthielten, die die Juden beanspruchten (vgl. Weish 19,13–17). In 10,14e wäre es allzu stark, in Bezug auf die Anklagen gegen den falschen Träumer, die die Brüder früher gegen Josef vorgebracht hatten, von einer „Lüge“ zu sprechen. Giuseppe SCARPAT schlägt vor, in den „Lügnern“ alle die zu sehen, die Josef nach seinem Aufstieg zur Macht verleumdeten, entsprechend den Traditio31 Vgl. FOERSTER, Werner, ἐξουσία, ThWNT II, 559–563. 32 Siehe den ausführlichen Exkurs bei SCARPAT, Sapienza II, 355–356.

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Weish 10,15–21

nen, die das Testamentum Iosephi und der Liber Iosephi et Aseneth aufgreifen. In dieser Perspektive gewinnt der Text des Weisheitsbuches zweifellos eine strengere Logik in Bezug auf das Leben der alexandrinischen Juden.33 Das letzte Kolon von 10,14 greift Gen 45,13 auf, was die Brüder im Auftrag Josefs dem Vater Jakob erzählen sollen: πᾶσαν τὴν δόξαν μου „meine ganze Herrlichkeit“. Aber in Weish 10,14f. ist die Rede von „ewiger Herrlichkeit“, es handelt sich um jene Herrlichkeit, die die Weisheit den von ihr Beschützten verleiht, wie dem Salomo (8,10), eine Herrlichkeit, die die Weisheit besitzt als Widerschein der Herrlichkeit Gottes (7,25; vgl. 9,10.11). Die Feststellung, dass diese Herrlichkeit „ewig“ ist, stellt eine Verbindung zum ersten Buchteil her. Es geht also nicht um die Herrlichkeit der Erinnerung, die der gerechte Josef hinterlassen hat als musterhaftes Leben für die künftigen Generationen. Die Josefsgeschichte mit ihrer Umkehrung der Lebensverhältnisse wird zum Muster und Beispiel jenes Lebens ohne Ende, das der Gerechte nach seinem Tod erwartet, vgl. Weish 3,7–9 und 5,15–16. Die Verwendung von αἰών und αἰώνιος im Buch der Weisheit bestätigt diese Deutung, vgl. 3,8; 4,2.19; 5,15, wo die gleichen Wörter auf das Endschicksal des Menschen angewandt werden.34

Weish 10,15–21: Mose 15 Diese hat ein heiliges Volk und eine untadelige Nachkommenschaft gerettet aus einer Nation von Bedrückern. 16 Sie ging in die Seele eines Dieners des Herrn ein, und er widerstand schrecklichen Königen durch Wunder und Zeichen. 17Sie erstattete den Heiligen Lohn für ihre Mühen, geleitete sie auf staunenswertem Weg und wurde ihnen zum Schutz bei Tage und zum Sternenlicht in der Nacht. 18 Sie ließ sie durch das Rote Meer gehen und führte sie hindurch durch viel Wasser. 19 Ihre Feinde aber überflutete sie, und aus der Tiefe des Abgrunds wirbelte sie sie empor. 20 Deshalb plünderten die Gerechten die Gottlosen aus und besangen, Herr, deinen heiligen Namen und lobten gemeinsam deine für sie kämpfende Hand. 21 Denn die Weisheit hat den Mund der Stummen geöffnet und die Zungen der Kleinkinder deutlich (verstehbar) gemacht. 33 Vgl. SCARPAT, Sapienza II, 355–356. PHILON scheint in Ios. 51 eine Tradition vorauszusetzen, nach der das ganze Haus Potifars die Anklagen gegen Josef vorgebracht hätte und nicht nur seine Frau wie in der Genesiserzählung. 34 Vgl. RAURELL, „The Religious Meaning“, 378–381.

Synchrone Analyse

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Anmerkungen zu Text und Übersetzung 19 Die Verbform κατέκλυσεν „sie überflutete“ wird in S* 46 als κατέπαυσεν „sie ließ aufhören, vernichtete“ gelesen; möglicherweise handelt es sich um eine Verlesung (ΚΛ → ΠΑ). Zu κατακλύζω vgl. Weish 10,4 und, in einem Exodus-Kontext, Ps 77[78MT],20. SCARPAT (Sapienza II, 359–360) vermutet, dass der Text ursprünglich κατέπαυσεν gelautet habe und zu κατέκλυσεν verändert worden sei, da der allegorische Sinn des Textes nicht erfasst wurde. Dagegen ist festzuhalten, dass die Lesart κατέκλυσεν außer in den beiden genannten Handschriften einhellig bezeugt ist und dass Weish 10 keinerlei Züge einer Allegorie an sich hat. Außerdem enthält S* anstelle von ἐκ βάθους ἀβύσσου „aus der Tiefe des Abgrunds“ die sonst nirgends bezeugte Lesart ἐκ βάθους θάμβους „aus der Tiefe des Erschreckens“.

Synchrone Analyse Nach der Josefsgeschichte beschließt der Verfasser die Reihe der Taten der Weisheit mit der Figur des Mose und einer Rückschau auf die Befreiung des Volkes Israel aus Ägypten. In wenigen Zeilen fasst er die ersten fünfzehn Kapitel des Buches Exodus zusammen: die Unterdrückung in Ägypten (10,15b), die Sendung des Mose zum Pharao (10,16b), die Beraubung der Ägypter (10,17a), die Führung durch die Wolkensäule (10,17b-c), den Durchzug durch das Rote Meer (10,18–19) sowie das Siegeslied von Ex 15 (10,20–21). Die Weisheit (αὕτη) wird beschrieben als Urheberin der Befreiung aus Ägypten, die wieder mit dem Verb ῥύομαι (vgl. 10,6.9.13) ausgedrückt wird, hier aber „ein heiliges Volk und eine untadelige Nachkommenschaft“ zum Objekt hat. Dieses Volk wurde befreit „aus einer Nation von Bedrückern“. Die Vorstellung ist biblisch (vgl. Ps 33[34MT],7); auch das Verb θλίβω verweist auf Exodustexte und spielt auf die in Ex 1,8–14 beschriebene Unterdrückung an: vgl. Ex 3,9; 4,31LXX. Auch der Ausdruck „heiliges Volk“ ist biblisch und findet sich zumeist in deuteronomischen Texten;35 das Adjektiv ὅσιος lässt an die Treue des Volkes Gott gegenüber denken, aber auch an das Volk als Objekt der Treue Gottes.36 Die Bezeichnung des Volkes als untadelig (σπέρμα ἄμεμπτον) greift ebenfalls biblische Vorbilder auf37 und insbesondere Gen 17,1 (schon in Weish 10,5 wurde gerade Abraham ἄμεμπτος genannt). Mit 10,16 beginnt die Beschreibung, in welcher Weise die Weisheit Israel befreit hat. In einem einzigen Kolon gibt der Verfasser in einer weisheitlichen Perspektive die Berufung des Mose wieder, der hier „Diener des Herrn“ genannt wird. Er folgt damit dem Sprachgebrauch der LXX, die Mose gern den Titel θεράπων gibt, vgl. Ex 4,10; 14,31; Jos 1,2; 9,2LXX; 1Chr 16,40). Einer Vorstellung entsprechend, die er schon in 1,4 und 7,27c-28 vorgetragen hatte, beschreibt der Verfasser die Weisheit als eine geistige Wirklichkeit, ein innerliches Prinzip von Kraft und besonderem Beistand Gottes, das in die Seele des 35 Vgl. bes. Dtn 7,6; 14,2.21; 26,19. 36 Zu ὅσιος vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 205–206. 37 Das Adjektiv ἄμεμπτος kommt häufig in IjobLXX vor (11-mal) und gibt dort eine Vielzahl von hebräischen Wörtern wieder.

10,15–16: Ein heiliges Volk, ein Diener des Herrn

300

10,17: Ein staunenswerter Weg

Die Weisheit als Führerin

10,18–19: Das Rote Meer

Der Durchzug durchs Rote Meer

Weish 10,15–21

Erwählten eingeht. Indirekt wird sie so wieder dem Geist an die Seite gestellt, hier dem Geist, der den Mose erfüllte (Num 11,17.25). In 10,16b wird das Auftreten des Mose vor dem Pharao (Ex 5,1 – 6,1) ganz knapp beschrieben: Subjekt des Verbs ἀντέστη ist wahrscheinlich Mose selbst und nicht die Weisheit, die in 10,16a Subjekt war; zwischen den beiden Kola ist ein Subjektwechsel anzunehmen. Der Plural βασιλεῦσιν „Königen“ ist seltsam, da in der biblischen Erzählung der Pharao nur einer ist (vgl. aber Ps 104[105MT],30 und Sir 45,3griech., wo ebenfalls der Plural verwendet wird); man kann den Plural als eine rhetorische amplificatio verstehen (vgl. Weish 10,11a) oder als einen Plural, der den Pharao und seinen ganzen Hof umfassen soll.38 Mose widersteht demnach dem Pharao „durch Wunder und Zeichen“. Diese Wendung kommt, in umgekehrter Reihenfolge, im Pentateuch mehrfach in Bezug auf die Plagen Ägyptens vor (vgl. Ex 7,3.9; 11,9.10; Dtn 4,34; 6,22; 7,19 u. ö.), und gerade auf diese Episoden will sich der Text ja beziehen.39 Mit 10,17 beginnt die knappe Schilderung des Auszugs Israels aus Ägypten. „Die Weisheit hat den Heiligen den Lohn (μισθόν) für ihre Mühen erstattet (ἀπέδωκεν)“. Die „Heiligen“ (ὅσιοι) sind die Israeliten, die schon in 10,15a so genannt wurden; die „Mühen“ meinen die erzwungenen Arbeiten, denen die Ägypter sie unterworfen hatten (Ex 1,8–14). Am Beginn des Auszugs Israels aus Ägypten wird die Weisheit als Führerin des Volkes dargestellt. Zu ὁδηγέω vgl. Weish 9,11b und 10,10b; das Verb kommt in der LXX in ähnlichen Kontexten vor (Num 24,8; Dtn 1,33; Ps 77[78MT],14); hier ist die Weisheit Führerin auf einem Weg, der „staunenswert“ ist (zu θαυμαστός vgl. Ex 34,10) wegen der Wunder, die Gott das Volk erfahren lässt, aber vor allem wegen der Feststellung in Ex 13,17, dass Gott Israel nicht auf der Philisterroute führte (οὐχ ὡδήγησεν), damit das Volk nicht auf die Idee käme, nach Ägypten zurückzukehren. In diesem Sinne wird der Verfasser in 18,3b im Zusammenhang mit der Führung von einer „unbekannten Route“ sprechen. Aus diesem Grunde ist θαυμαστός hier mehr im Sinne von „überraschend“ als von „wunderbar“ (so in Weish 19,8) zu verstehen. Die beiden folgenden Kola (10,17c-d) lassen erkennen (vgl. 18,3 und 19,7), dass die Führung durch die Weisheit der Führung durch die Wolkensäule, die Israel auf dem Weg des Exodus (Ex 13,21–22) begleitet, angenähert ist (s.u.). Dem Erzählfaden von Ex 14 folgend geht der Verfasser von der Schilderung des Weges zum Meer weiter zur Beschreibung des Durchzugs durch das Rote Meer, Rettung für Israel und Tod für die Ägypter. Der asyndetische Beginn von 10,18a markiert einen Neueinsatz. Das Verb διαβιβάζω kommt nur hier im Buch der Weisheit vor, aber einige Male in der übrigen LXX mit der Bedeutung „durchqueren lassen, hindurchziehen lassen“. „Rotes Meer“ ist die in der LXX übliche Wiedergabe des hebräischen „Schilfmeeres“; der Name überrascht hier, da der Verfasser sonst Eigennamen sorgsam vermeidet (die einzigen Ausnahmen sind das Rote Meer hier und in 10,5 die Pentapolis). 10,18b wiederholt die Vorstellung der Durchquerung mit anderen Wörtern: διάγω ist möglicherweis aus Ps 77[78MT],13 entnommen. Die Vorstellung

38 Zu dieser ganzen Frage vgl. ENNS, Exodus Retold, 45–52. 39 Vgl. MAZZINGHI, „The Figure of Moses“, 184–186.

Synchrone Analyse

301

von dem „vielen Wasser“ wird am Ende des Buches in 19,7–8 nochmals aufgenommen und erweitert. Während 10,18 die Rettung der Israeliten beschreibt, schildert 10,19 den Untergang der Ägypter. Das Objekt der Aktion steht emphatisch voran: τοὺς δὲ ἐχθροὺς αὐτῶν „ihre Feinde aber“ überflutete sie. Das Verbum in 10,19b ἀναβράσσω „aufsieden lassen, hochwirbeln“ ist selten und poetisch (vgl. Nah 3,2; Ez 21,26; Philon, Mos. II, 255): „aus der Tiefe wirbelte sie sie hoch“. Die „Tiefe des Abgrunds“ im Roten Meer wird in Ex 15,5.8 genannt (vgl. ἄβυσσος in Jes 63,13 und Ps 105[106MT],9 in einem ähnlichen Kontext). Weish 10,19b geht auf Ex 14,30 zurück: „Israel sah die Ägypter tot am Meeresstrand“, sie waren also aus der Tiefe, in die sie gesunken waren, ans Ufer hochgespült worden. Weish 10,20 hat auch strukturelle Bedeutung, da sowohl das Verb αἰνέω als auch der Vokativ κύριε in 19,9 in der gleichen Szene des Durchzugs durch das Rote Meer wieder aufgenommen werden und so eine große inclusio herstellen (αἰνέω kommt nur an diesen beiden Stellen im Buch der Weisheit vor). Die kollektive Bezeichnung δίκαιοι ist Anzeichen einer offensichtlichen Idealisierung des Volkes Israels, wie sie schon den ganzen Abschnitt kennzeichnet. Das διὰ τοῦτο am Anfang von 10,20a verbindet die Aktion unmittelbar mit dem Vorhergehenden, es handelt sich also um etwas, was die Israeliten mit den toten Ägyptern, die aus der Meerestiefe an Land gespült worden waren, getan haben. In 10,20b-c verweist das Nebeneinander der Verben ὑμνέω und αἰνέω auf das Lied in Ex 15. Die Wendung ὑμνεῖν τὸ ὄνομα „den Namen besingen“ kommt auch sonst in der LXX vor: Jes 12,5; 25,1; Tob 12,6S. Der „Name“ Gottes hat in Ex 15 eine ganz herausragende Bedeutung (Ex 15,3 κύριος ὄνομα αὐτῷ); deshalb erscheint in Weish 10,20b der Vokativ κύριε (vgl. Weish 12,2; 16.2.26; 19.9.22), der dem Text den Klang eines Gebetes verleiht, das den ganzen dritten Buchteil prägen wird: Dieser dritte Teil wird nicht eine historische Erinnerung an die Exodusereignisse sein, sondern ein an den κύριος gerichtetes Gebet. Das Verb αἰνέω „loben, preisen“ ist eher mit dem Lobpreis der Hand Gottes verbunden, der in Ex 15,6 genannten „Rechten“ (ἡ δεξιά σου [χείρ]), die die tätige Macht Gottes darstellt (vgl. Weish 11,17; 14,6; 16,15). Diese „Hand“ Gottes wird hier als ὑπέρμαχος beschrieben, mit einem militärischen Ausdruck, der in Weish 16,17 den Kosmos als „Verbündeten“ Gottes bezeichnet; in einem ähnlichen Kontext vgl. Philon, Somn. II, 280: μεγάλη γε ἡ ὑπέρμαχος χείρ. Der Lobpreis der Gegenwart Gottes geschieht ὁμοθυμαδόν „einmütig, gemeinsam“ (vgl. 18,5.12). 10,21 könnte auf den ersten Blick inhaltlich mit dem Vorhergehenden unverbunden erscheinen: Denn was bedeutet, dass die Weisheit den Mund der Stummen geöffnet und die Zungen von Kleinkindern klar verständlich gemacht habe? Eine diachrone Analyse und Erklärung ist hier unverzichtbar (s.u.). Zunächst ist zu beobachten, dass die Weisheit am Ende des Kapitels wieder ausdrücklich genannt wird (Renominalisierung) und dass das einführende ὅτι die beiden Kola von 10,21 als Erklärung des Vorangehenden erscheinen lässt: Die Israeliten können den Herrn loben, weil die Weisheit es ihnen ermöglicht hat. Die Betrachtung des Wirkens der Weisheit in der Geschichte Israels schließt mit einem sehr schönen Bild: Säuglinge loben Gott (vgl. Ps 8,3MT; Mt 11,5; 21,18). Die Rückschau auf die Exodusereignisse gewinnt starke theologische Dichte: Der

10,20–21: Sie besangen, Herr, deinen heiligen Namen

302

Weish 10,15–21

Exodus wird einerseits eine Lehre für Israel, andererseits ein Anlass zum Lob Gottes.

Diachrone Analyse 10,15–16: Ein Hier beginnt die einzigartige Darstellung des dritten Buchteils, in dem die Treue ideales Volk und die Heiligkeit eines Volkes hervorgehoben werden (vgl. 10,17.20), das in der

biblischen Erzählung dagegen als halsstarrig und sündig beschrieben wird. Das Buch der Weisheit spielt das Fehlverhalten des Volkes während des Zuges durch die Wüste herunter bzw. verbirgt es geradezu, während die Pentateuchtexte dieses Fehlverhalten stark herausstellen. So erscheint Israel meist, mit der Ausnahme nur des dritten Diptychons (Weish 16,5–14), als ein Gott unbedingt treues Volk, das fast völlig von Sünde frei ist. Ganz anders dagegen ist die Beschreibung der Ägypter, die immer mit äußerster Strenge beurteilt werden. Ein erster Grund dafür ist zweifellos apologetisch bedingt: Die Israeliten sind nicht ἀνόσιοι „Gottlose“, wie die zeitgenössische antijüdische Propaganda behauptete;40 stattdessen sind sie heilig, gerecht und Gott treu. In dieser Weise möchte das Buch der Weisheit die jüdische Identität stärken gegenüber einer Welt, die den Juden häufig offen feindselig begegnet. Außerdem werden entsprechend dem für das Buch bezeichnenden midraschartigen Vorgehen die Exodusereignisse neu gelesen und auf die Situation der jüdischen Gemeinschaft in Alexandria hin aktualisiert; der Verfasser vermeidet es, das Fehlverhalten Israels auszumalen und gestaltet den Weg des Exodus zu einem Paradigma und Mustergeschehen, zur Geschichte eines idealen Israel, die für jede Zeit gültig ist. Aber es gibt noch einen tieferen Grund: Israel ist auf seinem Zug durch die Wüste, Empfänger von Wohltaten Gottes und soll durch die Erfahrung dieser Wohltaten die eigene Berufung als „Sohn“ entdecken, der dazu berufen ist, das Licht des Gesetzes in die Welt zu tragen (vgl. 18,4). Die Betonung der Heiligkeit Israels geschieht daher in einer offensichtlich theologischen Absicht: Das ideale Israel, wie es im Buch der Weisheit beschrieben wird, soll sich seiner eigenen Berufung bewusst werden; seine Heiligkeit und seine Gerechtigkeit stellen eher ein zu erreichendes Ziel als einen schon zurückgelegten Weg dar, und die Heiligkeit des Volkes ist vor allem etwas, das aus der Treue Gottes zu „seinem“ Volk entsteht. Auf diese Weise stellt der Nachdruck, der auf die „Positivität“ des Verhaltens Israels gelegt wird, ins Licht, wie sehr die Heiligkeit und die Gerechtigkeit des Volkes vor allem vom Wirken Gottes abhängen.41 Der Verfasser dürfte in 10,16a auch an Jes 63,11–14 gedacht haben, wo an die Tätigkeit des Geistes in Mose während des Exodus erinnert wird; der Jesajatext weist beachtliche Berührungspunkte mit dem Abschnitt im Buch der Weisheit auf (z.B. das Verb ὁδηγέω, die Bezugnahme auf den „Namen“ und die „rechte [Hand]“ Gottes, die Erwähnung der „Meerestiefe“, u.a.), so dass man erschließen kann, 40 Zu dieser Anschuldigung vgl. FLAVIUS JOSEPHUS, Contra Apionem I, 248–249; CPJ I, 89–90; II, 157, col. 31.43; 158 col. 21.13 und 41.14; es handelt sich um Texte aus der Zeit der Kaiser Trajan und Hadrian; vgl. TACITUS, Hist. 5,4: profana illic omnia quae apud nos sacra „Dort gilt alles, was bei uns heilig ist, als profan“. 41 MAZZINGHI, „L’idea di „popolo““, 28–29.

Diachrone Analyse

303

dass der Verfasser in Weish 10,15–21 der Weisheit das zuschreibt, was im Jesajatext als Wirken des Geistes Gottes beschrieben wird.42 In 10,17 geht es um den Versuch einer Auslegung von Ex 3,21–22; 11,2; 12,35– 10,17 36, den Texten über die Plünderung der Ägypter, die hier als der für die harte Sklavenarbeit geschuldete Lohn gedeutet wird. Auf diese Weise antwortet der Verfasser auf eine Besorgnis apologetischer Art, die zu seiner Zeit offenbar verbreitet war: die Juden jeder möglichen Beschuldigung des Diebstahls zum Schaden der Ägypter zu entziehen. Die bei Exodus mitgenommenen Gegenstände waren nur der den Juden seitens der Ägypter geschuldete Lohn; ein ähnlicher Gedanke findet sich bei Philon (Mos. I, 141–142); vgl. auch die Überlieferungen in Jub. 48,18 und bei Ezechiel dem Tragiker, Ex. 162–166). Die Weisheit, die in 10,17c-d der mit der Feuersäule in eins gesetzten Wolken- Weisheit und säule angenähert ist, fungiert gleichzeitig als Schutzdach (σκέπη; vgl. Jes 4,6 und Wolkensäule σκεπάζομαι in 19,8) und als Beleuchtung. Es handelt sich um zwei Aufgaben, die in den Pentateuchtexten die Wolkensäule und die Feuersäule haben: Ex 13,21–22 und Dtn 1,33 betonen die Aufgabe der Führung, während in Num 10,34; 14,14 eher der Schutz hervorgehoben wird (vgl. die Wolke zum Schutz in Ps 104[105MT],39: εἰς σκέπην); diese Aufgabe wird in Jes 4,5–6 in eschatologischer Perspektive aufgegriffen. In Weish 10,17c-d ist es die Weisheit, die die Rolle der Wolken- und der Feuersäule übernimmt, wie in den targumischen Traditionen diese Stelle vom Wort oder der Herrlichkeit Gottes eingenommen wird.43 Die Formulierung von 10,17d ist bemerkenswert; die Weisheit „wurde“ (das Verb ἐγένετο im vorhergehenden Kolon wirkt hier weiter) „zu einer Flamme von Sternen (εἰς φλόγα ἄστρων) in der Nacht“. Vom Leuchten der Wolkensäule ist in dem schwierigen Text Ex 14,19–20MT die Rede: „(Und sie [die Wolkensäule] zog zwischen das Lager der Ägypter und das Lager Israels;) und es gab da die Wolke und die Finsternis, und sie erleuchtete die Nacht, und sie kamen einander nicht nahe während der ganzen Nacht.“ Die LXX jedoch gibt den Text ohne eine Erwähnung des Leuchtens wieder: καὶ ἐγένετο σκότος καὶ γνόφος καὶ διῆλθεν ἡ νύξ „… und es wurde Finsternis und Dunkelheit, und die Nacht verging“.44 Aber auch Ex 13,21–22; Dtn 1,33; Ps 77[78MT],14; 104[105MT],39 sprechen von der Feuersäule bzw. dem Feuer, das die Nacht erleuchtete. In Weish 10,17c-d überrascht die Deutung, dass der „Schutz bei Tage“, gemeint ist die Wolkensäule, bei Nacht zum Sternenlicht wird, und stellt eine Neuheit der Auslegung dar. Vergleichbare Überlegungen zu einer doppelten, gegensätzlichen Wirkung werden in Weish 17,1 – 18,4 über die Nacht angestellt. Zur Verwendung von φλόξ „Flamme, Leuchten“ s. u. zu 17,5a über die Sterne, die die Nacht, in der sich die Ägypter befinden, nicht erleuchten können, während die Weisheit dazu imstande ist; vgl. die „feuerflammende Säule“ πυριφλεγῆ στῦλον in 18,3. Abgesehen von möglichen polemischen Bezugnahmen 42 Vgl. VAN IMSCHOOT, „Sagesse et Esprit“, 42. Der Text von Apg 7,22, der die Weisheit des Mose erwähnt, könnte von diesem Absatz im Buch der Weisheit angeregt sein, vgl. MAZZINGHI, „Aspetti della tradizione sapienziale“, 100–101. 43 Vgl. den Kommentar zu 18,3 und MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 235–239. 44 Der Verfasser des Buches der Weisheit könnte einer bestimmten Art der Deutung dieses schwierigen MT-Textes unter Heranziehung von Ex 10,22–23 und Ex 14,24 folgen; vgl. ENGEL, Weisheit, 179. Auch in Weish 17,1 – 18,4 wird der Verfasser mit der Vorstellung von einer finsteren und zugleich leuchtenden Nacht spielen.

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Weish 10,15–21

auf die Mysterienkulte (s.u. zu 17,5 und 18,3) hatte der Verfasser die Überlegenheit der Weisheit gegenüber den Gestirnen schon hervorgehoben (7,29); die Weisheit, die als „Sternenlicht bei Nacht“ der mit der Feuersäule ineinsgesetzten Wolkensäule (10,17c-d) angenähert wird, ist jedem irdischen Licht, insbesondere dem der Sterne, überlegen. Bei der Darstellung des Durchzugs durch das Rote Meer verzichtet der Verfas10,18–19 ser auf eine Beschreibung der wundersamen Spaltung des Meeres und des Zurückflutens nach Ex 14. Von Weish 19,6–9 her wird deutlich, dass hier wahrscheinlich absichtlich Schöpfungsvokabular (z.B. ἄβυσσος „Abgrund“) benutzt wird: In Weish 19 wird der Durchzug durch das Meer als ein biblisches Vorausbild einer erneuerten Schöpfung erscheinen. 10,20 beginnt mit der Wiedergabe einer Tradition, die sich im biblischen Text 10,20–21 nicht findet: „Die Gerechten plünderten die Gottlosen aus“. Das Verb σκυλεύω „sich die Rüstung und Habe von Gefallenen aneignen, spoliare“ wird in ExLXX für die in Ex 3,22 und 12,36 erzählten Vorgänge verwendet, hier aber in seiner üblichen Bedeutung: Die Israeliten hätten den im Meer ertrunkenen und an den Strand geworfenen Ägyptern ihre Waffen und Wertgegenstände abgenommen. Es handelt sich um eine auch der Mekilta (Besh. 7,94–108) und Flavius Josephus (Ant. 2,349) bekannte Tradition.45 In 10,20b-c stützt sich der Verfasser auf Ex 15,1, wonach das folgende Lied von Mose und den Israeliten gesungen wurde; Ex 15,20 fügt noch hinzu, dass mit Miriam als Vorsängerin auch alle Frauen das Lied sangen. Die rabbinische Tradition erweitert diese Vorstellung zu einem Wechselgesang zwischen Mose und dem Volk. Möglicherweise versucht der Verfasser zu erklären, weshalb in Ex 15,1 das Subjekt ein Plural ist („Mose und die Israeliten“), das Verb dazu aber im Singular steht (‫„ אז ישי ׁר‬da sang“) und das folgende Verb im Plural (‫„ ויאמרו‬und sie sagten“).46 Das Bild in 10,21a „den Mund öffnen“ kann in einem ganz realen Sinn verstanden werden wie in Num 22,28 (beim Esel Bileams) oder Ez 3,27 (nach dem Verstummen des Propheten), wo eine wirkliche Stummheit vorangeht, oder eine metaphorische Stummheit voraussetzen wie die des Mose in Ex 4,11.12.15. Aber die Episode mit dem redeunfähigen Mose hat im Kontext des Durchzugs durch das Rote Meer keinen Sinn. Möglicherweise ist bei der genannten Wendung an beides gedacht: Die Weisheit öffnet den Mund der Israeliten, die stumm waren, weil sie den Herrn nicht loben konnten; aber sie öffnet auch den Mund von physisch Stummen (κωφοί) und verleiht ihnen die Fähigkeit zu sprechen. Diese Deutung wird bekräftigt durch einen Erklärungsversuch von Ex 14,14: „Der Herr wird für ׁ ‫ ;“תחרי‬die hebräische Verbform kann bedeuten „ihr sollt euch kämpfen und ihr ‫שן‬ schweigen“ (so übersetzt die LXX: σιγήσετε); die verstummten und verängstigten Israeliten werden nun, durch das Wirken der Weisheit, fähig, den Herrn zu loben.47 Für diese zuletzt genannte Deutung spricht 10,21c, das die νήπιοι erwähnt, d.h. die Kleinkinder, die noch nicht sprechen können, ihre Zungen werden gelöst und ihr Sprache wird klar verständlich (zu τρανός in Bezug auf das Sprechen s.o. 45 Einer der Beweggründe, weshalb Gott die Ägypter tot an den Strand zurückgeworfen hat, war, dass ihre Leichen so geplündert werden konnten; vgl. ENNS, Exodus Retold, 66– 70, und die bei GINZBERG, The Legends III, 30–31; VI, 10–11 zitierten Texte. 46 Vgl. ENNS, Exodus Retold, 75–81, und GINZBERG, The Legends III, 33–34; VI, 12–13. 47 Zu dieser Erklärung vgl. ENNS, Exodus Retold, 82–88.

Synthese von Weish 10

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zu Weish 7,22). Der Verfasser könnte an Texte wie Jes Is 35,6 oder Ps 8,2–3 gedacht haben, aber was genau will er sagen? Pierre Grelot hat gezeigt, dass Weish 10,21 der älteste Beleg einer auch in Targumen und Midraschim bezeugten Überlieferung ist: TgFrg (Langfassung): „Von der Brust ihrer Mütter her machen die Säuglinge mit dem Finger Zeichen zu ihren Vätern hin und sagen…“; vgl. Midr. Ex. R. zu Ex 15,1; dabei werden Ez 16,4–6 und Dtn 32,6.13 in ganz realistischem Verständnis aufgegriffen; wahrscheinlich geht der Verfasser hier in ähnlicher Weise vor.48

Synthese von Weish 10 Weish 10 insgesamt bildet ein schönes Zeugnis des griechischsprechenden Judentums, in dem der Verfasser die Schrift midraschartig liest und dabei einige Verstehensschwierigkeiten zu klären sucht (s.o. den Kommentar zu 10,17–21). Gleichzeitig weist er ihre Aktualität für die Juden in Alexandria auf, die mitten in der hellenistischen Kultur leben (siehe z.B. die Anspielungen auf den Isis-Kult in 10,4).49 Ein Vergleich mit Sir 44,16–23 (Lob der Väter; aber vgl. auch Sir 45) zeigt einige wichtige Unterschiede: Der Verfasser des Buches der Weisheit nennt keine Eigennamen (s.o.) und verleiht so den von ihm vorgestellten Figuren allgemeine Gültigkeit; jeder positiven stellt er eine negative Figur gegenüber, wobei er die Erstgenannten idealisiert und die Weisheit Gottes als einzige Retterfigur auftreten lässt – in der gleichen Weise, in der Hebr 11 in einer ähnlichen Reihung die Rolle des Glaubens emphatisch hervorheben wird. Es handelt sich um eine wirkliche Neuinterpretation der Heilsgeschichte: Der Verfasser vermeidet es, Einzelheiten zu beschreiben oder direkte Eingriffe Gottes in die Ereignisse der Geschichte zu sehr zu betonen, wie z.B. die Spaltung des Meeres. Stattdessen hebt er die Mittlerrolle der Weisheit hervor. Es gelingt ihm, in wenigen Kola verschiedene biblische Episoden miteinander zu verbinden und so eine einheitliche Sicht der biblischen Erzählung zu bieten (vgl. z.B. die ganze Abrahamsgeschichte in 10,5, betrachtet vor dem Hintergrund des Turmbaus zu Babel und der Sintflut). Anders als die relecture der Exodusereignisse des Ps 77[78MT] stellt der Verfasser nicht die Sünde des Volkes heraus, sondern seine Gerechtigkeit (vgl. die Bezeichnung Lots als „Gerechter“ in 10,6; vgl. auch 10,15) und deshalb die Rettung, die das Volk erlangte, angefangen bei der Geschichte Adams in 10,1–2. Auf diese Weise wird die Vergangenheit Israels, literarisch verbunden mit dem ersten Buchteil, gleichzeitig Erklärung der gegenwärtigen Lage des Volkes und Grundlage für die Zukunft. Diese doppelte zeitliche Verklammerung bildet die vielleicht bedeutendste theologische Eigenart des dritten Buchteils: Das künftige Heil gründet auf der vergangenen Geschichte. 48 Vgl. GRELOT, „Sagesse 10,21 et le Targum“ ; vgl. auch die von WINSTON, Wisdom, 222–223 und in GINZBERG, The Legends, III,34; VI,6 zitierten Texte. 49 ENNS beschreibt diese Vorgehensweise als „talking about the Bible“, Exodus Retold, 35. Aber ENNS unterschätzt den Einfluss der hellenistischen Welt auf den Text des Buches der Weisheit.

Weish 11,1–14: Die erste Gegenüberstellung Zur literarischen Struktur von Weish 11,1–14 Literarische Die literarische Struktur dieses Abschnitts ist noch nicht häufig untersucht worStruktur den. Ein erster Punkt der Diskussion bezieht sich auf 11,1, dessen Subjekt noch,

wie in Kap. 10, die Weisheit ist, die aber danach im Buch nicht mehr erscheint, abgesehen von einer nebenbei geschehenden Erwähnung in 14,2.5; von da an wird Gott selbst die Hauptfigur. Viele Autoren verbinden deshalb 11,1 mit Kap. 10 als seinen natürlichen Abschluss, aber es gibt auch gute Argumente dafür, mit 11,1 einen neuen Abschnitt beginnen zu lassen.1 Oben wurde schon eine inclusio von 10,20 zu 19,9 beobachtet, wodurch Kap. 10 mit dem Abschluss des ganzen Buches verbunden wird. Die Erwähnung des Mose in 11,1 entspricht sehr gut seiner erneuten Erwähnung in 11,14 am Ende der ersten Gegenüberstellung und bewirkt eine gewisse Einheit zwischen 11,1 und 11,14. Weiterhin ist der asyndetische Beginn von 11,1 Anzeichen eines neuen Abschnitts; das Wortspiel εὐόδωσεν – διώδευσαν verbindet 11,1 mit 11,2a. Dass das unausgedrückte Subjekt von 11,1 immer noch die Weisheit ist, macht 11,1 zu einer Brücke zu Kap. 10 und gleichsam zu einer Überschrift über den letzten Teil des Buches, in der die Weisheit unmittelbar Gott Platz macht. Er wird mit dem „Du“ in 11,4 direkt angesprochen, und an dieses „Du“ Gottes wird der Sprecher sich bis zum Ende des Buches wenden. Die Verse 11,2–4 sind ebenfalls asyndetisch formuliert (vgl. 11,2a.3.4a) und handeln vom Zug Israels durch die Wüste, bilden aber auch die Einleitung zu den beiden chiastisch gebauten Kola von 11,5, die jeweils ähnlich beginnen (δι’ ὧν … διὰ τούτων); der Konstruktion von 11,5 entspricht dann die von 11,16. In dieser Weise werden die beiden Ausformungen der Prinzipien, die die folgenden sieben Gegenüberstellungen bestimmen, miteinander verbunden: Jeder wird mittels dessen, wodurch er gesündigt hat, bestraft. 11,1–5 lässt sich also als Einleitung zum ganzen letzten Buchteil (Weish 11–19) betrachten. Der folgende Abschnitt ist gut gekennzeichnet durch die Wendungen ἀντὶ μέν (11,6) – ἀντὶ δέ (11,15); die erste leitet das erste Diptychon ein, das das in 11,5 formulierte Prinzip veranschaulicht, die zweite dagegen leitet das andere, in 11,15–16 ausgedrückte Prinzip ein und dient als Einleitung der Ausführungen über die Menschenliebe Gottes (11,15 – 12,27). Die beiden Wendungen haben eher eine äußerliche als eine inhaltliche Beziehung, da ἀντὶ μέν in 11,6 „anstelle von“ und

1

Vgl. WINSTON, Wisdom, 226–227; REESE, „Plan and Structure“, 391–399; OFFERHAUS, Komposition, 125–129; VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 355; ENGEL, Weisheit, 165; GLICKSMAN, Wisdom of Solomon 10, 43–47; vgl. auch WRIGHT, „The Structure“, 177–179; für die Zugehörigkeit von 11,1 zum folgenden Text vgl. dagegen GILBERT, „Sagesse“, 73–74.89; BIZZETI, Il libro della Sapienza, 79–80. Für einen Überblick über das Problem und für einen anderen Vorschlag (10,1 – 11,4 als eine Ode auf die Weisheit) vgl. ZSENGELLÉR, „The Taste of Paradise“, 199–202.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

307

ἀντὶ δέ in 11,15‚anstelle von‘ im Sinne von „zur Strafe für“ bedeutet. Aber für den Verfasser genügte wohl bereits die äußere Ähnlichkeit. Die erste Gegenüberstellung beginnt demnach in 11,6 und schließt in 11,14. Zu beachten ist die inclusio δίψους (11,8a) – διψήσαντες (11,14c). Das Thema Durst/ Wasser verklammert das Diptychon auch mit 11,1–4: vgl. ἐδίψησαν (11,4a), δίψης (11,4c) und ἐδόθη … ὕδωρ (11,4b) – ἔδωκας ὕδωρ (11,7b). Das Diptychon geht auf die erste der zehn ägyptischen Plagen zurück, die Verwandlung des Nilwassers in Blut (Ex 7,17–25), und zugleich auf die in 11,4 angesprochene Erzählung vom Wasser, das aus dem Felsen quoll. Zentrum des Diptychons ist 11,10: Dort wird das Prinzip aus 11,5 aufgenommen und durch die geschichtliche Erfahrung Israels belegt, die Subjekte erscheinen aber in umgekehrter Reihenfolge. Mit 11,6–9 gehen dem zentralen Vers 11,10 acht Kola voran, und acht Kola folgen in 11,11–14. Dadurch zeigt das Diptychon eine gut ausgewogene Konstruktion. Das Thema der Bestrafung verknüpft die beiden Teile des Diptychons (vgl. ἐκόλασας in 11,8b und κολάσεων in 11,13a).2

Weish 11,1–5: Einleitung zu den sieben Gegenüberstellungen 1 Sie [die Weisheit] ließ durch die Hand eines heiligen Propheten ihre Werke gelingen. 2 Sie durchzogen eine unbewohnbare Wüste und schlugen in unwegsamem Gelände ihre Zelte auf. 3 Sie widerstanden Gegnern und wehrten Feinde ab. 4 Sie dürsteten und riefen dich an, und ihnen wurde aus schroffem Fels Wasser gegeben und ein Heilmittel gegen den Durst aus hartem Stein. 5 Wodurch nämlich ihre Feinde bestraft wurden, eben dadurch erhielten diese in ihrer Ausweglosigkeit Wohltaten.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 5

Die Vg fügt zwei Kola hinzu: a defectione potus sui / et in eis cum abundarent filii Israel laetati sunt (s. ZIEGLER). Nach LARCHER (Sagesse II, 675) handelt es sich um eine Glosse unbekannter Herkunft (nach GRIMM, sub loco, ist es eine erläuternde Bemerkung); vgl. SCARPAT, Sapienza II, 534.

2

Die Einheitlichkeit des Textes lässt den Vorschlag von HAAG, der in Weish 11–12 eine Grundschicht, zwei aufeinanderfolgende Bearbeitungen und eine Endredaktion entdecken möchte, die jeweils verschiedene theologische Akzentuierungen zeigten, als unbegründet erscheinen, vgl.“Die Weisheit ist nur eine“, passim.

308

Weish 11,1–5

Synchrone Analyse 11,1 Subjekt des Kolons ist, wie durchgehend im vorangehenden Kap. 10, die Weisheit;

11,2–3: Der Weg durch die Wüste

11,4: Das Wasser aus dem Felsen

danach wird die Hauptfigur Gott selber werden. Warum wechselt nunmehr die Hauptrolle? Diese Frage scheint von den Kommentatoren nicht näher untersucht worden zu sein. Eine mögliche Antwort ist, dass die Weisheit, das Abbild der Tätigkeit Gottes (7,25–26) jetzt ihre literarische Rolle erfüllt hat: Sie hat Israel – und die Leser des Buches – bis zum Beginn des Zuges durch die Wüste geführt, wo Israel nun die unmittelbare Gegenwart Gottes, die nicht mehr durch die Weisheit vermittelt wird, erfährt.3 Die Weisheit ist also Subjekt des Prädikats εὐόδωσεν „sie führte auf einen guten Weg“. Das Verb εὐοδόω kommt in der LXX mehrfach vor und hat hier die transitiv-kausative Bedeutung „gelingen lassen“. Objekt sind τὰ ἔργα „die Werke“ der Israeliten, an die in 10,18–21 beim Durchzug durch das Meer erinnert wurde. Aber das Verb verliert hier nicht seinen Beiklang „gut auf dem Wege geleiten“ (vgl. TobS 7,13, dort ist Gott Subjekt) und erscheint als gut gewählt, um den ganzen Zug Israels in der Wüste zusammenzufassen. Die Weisheit bedient sich eines „heiligen Propheten“, offenbar des Mose (vgl. ἐν χειρὶ Μωυσῆ Lev 26,46), der hier als „Prophet“ bezeichnet wird wie in Dtn 34,10 (vgl. Num 12,6–8; Dtn 18,15.18; Hos 12,14). „Heilig“ (ἅγιος) bedeutet hier wiederum nicht eine sittliche Eigenschaft des Mose, sondern seine besondere Zugehörigkeit zu Gott. 11,2–3 verdichten auf knappstem Raum den langen Weg Israels durch die Wüste (Ex 15,22 – 17,16); διοδεύω führt das voranstehende εὐοδόω weiter und betont nochmals den Gedanken des „Weges“(ὁδός). Die beiden Attribute ἀοίκητος und ἄβατος lassen an Unwegsamkeit denken, an einen Weg außerhalb des Gewöhnlichen, wie es die Israeliten am Sinai erlebten. Mit den im chiastisch formulierten Vers 11,3 genannten „Feinden“ könnten die in Ex 17,8–16 erwähnten Amalekiter gemeint sein. 11,2 enthält ein flashback zum ersten Buchteil: Die Gottlosen hatten sich mit fast denselben Wörtern in Weish 5,7 beklagt, „unwegsame Wüsten (ἐρήμους ἀβάτους) durchquert“ zu haben, d.h. sich in ihrer Bosheit verirrt zu haben. Nur wenn man die innere Führung durch die Weisheit annimmt, können diese „Wüsten“ der menschlichen Bosheit durchquert werden, wie es Israel schon auf seinem Exodusweg erlebte. Nur in dieser Weise ist es möglich, die Feinde zu besiegen. 11,3 bildet einen weiteren Rückverweis auf den ersten Buchteil, denn nach 5,17 wird Gott die Schöpfung zur Waffe machen εἰς ἄμυναν ἐχθρῶν „zur Bestrafung der Feinde“. Was mit Israel in der Wüste geschehen ist, wird am Ende mit den Gerechten und den Gottlosen geschehen. 11,4 spielt auf die Erzählungen über die Vorgänge beim Wasser von Massa und Meriba an (Ex 17,1–7 und Num 20,2–13; vgl. Weish 1,2–3). Der „schroffe Fels“, aus dem das Wasser quillt, ist ein aus Dtn 8,15 genommenes Bild (vgl. Ps 113[114MT],8). Die Passivform ἐδόθη verweist auf das Handeln

3

Vgl. HÜBNER, Weisheit 146: „Es geht in der Sap um Gott! Die Sap ist ein höchst theologisches Buch!“.

Diachrone Analyse

309

Gottes, der hier nicht ausdrücklich genannt wird.4 Das Wasser wird in 11,4b als „Heilmittel“ gegen den Durst des Volkes bezeichnet; zum Wort ἴαμα vgl. den Kommentar zu 16,9, wo das Wort zum einzigen Mal sonst im Buch der Weisheit vorkommt. Auch das Motiv, dass Gott heilt, gehört in den Exoduszusammenhang, vgl. Ex 15,26LXX: ἐγὼ γάρ εἰμι κύριος ὁ ἰώμενός σε. 11,5 enthält zum Abschluss der einleitenden Überlegung (vgl. die Partikel γάρ) 11,5: Gott ereinen ersten, wichtigen Grundsatz, der den ganzen dritten Teil des Buches bestim- weist Wohltamen wird. Ein und derselbe Bestandteil der Schöpfung (δι’ ὧν … διὰ τούτων) dient ten und straft dazu, die Ägypter zu bestrafen und den Israeliten eine Wohltat zu sein. Das Verb κολάζω „bestrafen“ kommt im Buch der Weisheit sehr häufig vor (s.o. den Kommentar zu 3,4). Das Partizip ἀποροῦντες ist in Bezug auf die schwierige Lage der Israeliten angesichts ihres Durstes mitten in der Wüste zu verstehen. Wodurch die Ägypter also bestraft wurden (nämlich durch Wasser), eben dadurch wurden den Israeliten Wohltaten erwiesen (vgl. die Passivform εὐεργετήθησαν, die auf das Handeln Gottes verweist; s. u. den Kommentar zu 16,2). Wie schon der Psalter (vgl. Ps 12,6LXX; 56,3LXX; 114,7LXX) verwendet das Buch der Weisheit das Verb εὐεργετέω nur mit Gott als Subjekt, da er der einzige wahre „Wohltäter“ des Menschen ist. Dieses Motiv (strafen / Wohltaten erweisen) kam im Buch der Weisheit zum ersten Mal in 3,4–5 vor und wird noch in 11,13; 16,1–2 und 16,24 wiederkehren, stellt also ein dem Verfasser wichtiges Thema dar. Wenn der Gott Israels ein Gott ist, der die Verfehlungen der Gottlosen bestraft, dann ist er erst recht ein Gott, der sich als Wohltäter an seinem Volk erweisen wird: Der Exodus ist dafür der beste Beweis.5

Diachrone Analyse Bei der Erwähnung des Mose in 11,1 ist es interessant, dass der Verfasser nicht 11,1 einmal nebenbei die Rolle erwähnt, die Mose am Sinai innehatte in Bezug auf den Bund und auf die Gabe des Gesetzes (vgl. Sir 45,1–5). Dieses Thema scheint für das Buch der Weisheit nicht besonders wichtig gewesen zu sein (vgl. jedoch Weish 16,6).6 Während der Verfasser die Episode am Wasser von Massa und Meriba (s.o.) 11,4 aufgreift, lässt er das ständige „Murren“ des Volkes unerwähnt, gibt vielmehr an, dass sie den Herrn anriefen. Ein ähnliches Vorgehen ließ sich schon in Weish 10

4

5 6

Der „schroffe Fels“ ἡ ἀκρότομος πέτρα ist bei Philon, der dasselbe seltene Adjektiv ἀκρότομος verwendet, die „Weisheit Gottes“ (Leg. II, 86) und wird später bei Paulus mit Christus identifiziert (1Kor 10,4). Im vorliegenden Text fehlt jedoch eine ausdrücklich allegorische Deutung der Exodusthemen (gegen SCARPAT, Sapienza II, 363: „Dieses Kapitel scheint mir sorgfältig daraufhin entworfen zu sein, um allegorisch verstanden zu werden“); die Exodusereignisse werden vielmehr midraschartig neu gelesen, um ihre Aktualität für die alexandrinischen Juden aufzuzeigen. Auch wenn sie symbolisch und beispielhaft verstanden werden, verlieren die in Weish 11–19 dargelegten Exodusereignisse doch nie die enge Verknüpfung mit der gegenwärtigen Situation des Verfassers des Buches der Weisheit. MAZZINGHI, „The antithetical pair „to punish“ and „to benefit““, passim. Vgl. MAZZINGHI, „The Figure of Moses“, 184–191.

310

Weish 11,6–14

beobachten: Der Verfasser neigt entsprechend einem auch sonst in der jüdischen Tradition geübten Brauch dazu, die Verfehlungen der Israeliten als möglichst gering darzustellen und demgegenüber die der Ägypter hervorzuheben. Die Exodusmotive werden in 11,5 ergänzt durch die Einführung des Themas 11,5 des Kosmos. Damit wird schon angedeutet, dass das Gerichtshandeln Gottes und zugleich damit sein Heilswirken den Kosmos einbeziehen, der also nicht schlichter, neutraler Zuschauer im Drama der Geschichte ist; die Geschöpfe der Welt sind wirklich „heilbringend“ (Weish 1,14) und sind an der Seite des Herrn aktiv beteiligt an seinem Retten oder Strafen. Die folgenden Verse liefern dafür einen ersten Beweis.

Weish 11,6–14: Erste Gegenüberstellung: Das in Blut verwandelte Wasser; das Wasser aus dem Felsen 6 Anstelle der immerfließenden Quelle eines Flusses, der durch verunreinigendes Blut getrübt war 7 zur Strafe für den Kindermordbefehl, gabst du ihnen reichliches Wasser unverhofft; 8 durch den damaligen Durst zeigtest du, wie du die Gegner bestraft hattest. 9 Als sie nämlich auf die Probe gestellt wurden, während sie, wenn auch unter Erbarmen, gezüchtigt wurden, erkannten sie, wie die Gottlosen mit Zorn gerichtet, gefoltert wurden. 10 Diese nämlich hast du wie ein zurechtweisender Vater auf die Probe gestellt, jene aber wie ein strenger König untersucht und verurteilt. 11 Alle ohne Ausnahme wurden in gleicher Weise geplagt; 12 doppelte Trauer nämlich hatte sie erfasst und Seufzen bei der Erinnerung an das Vergangene. 13 Als sie nämlich hörten, dass gerade durch das, wodurch sie bestraft wurden, diesen Wohltaten erwiesen worden waren, spürten sie den Herrn. 14 Den bei seiner Aussetzung einst (in den Fluss) Geworfenen nämlich, den sie verhöhnend abgewiesen hatten, bestaunten sie am Ende der Ereignisse, da sie nicht nach Gleichem wie die Gerechten gedürstet hatten.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 6

Das Wort *λυθρώδης „schmutzig, verunreinigt“ ist nur in Anth. Pal. IX,258,3 gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. belegt; es bezeichnet ein Gemisch von Blut und Staub, das bei der Tötung der Opfertiere entsteht (vgl. SCARPAT, Sapienza II, 401).

Synchrone Analyse

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311

Kodex B und mehrere andere Textzeugen lesen ταραχθέντες (statt ταραχθέντος), den Nom. pl. des part. aor. pass. „verwirrte, verstörte“ bezogen auf die Ägypter. Aber die Lesart von S A und vielen anderen Textzeugen ταραχθέντος (Gen. sg. part. aor. pass.) „gestört, getrübt“ bezogen auf den Fluss, der von Blut getrübt war (Ex 7,14–25) dürfte die bessere Lesart sein. Die Kodizes B und A lesen ἐν ὀργῇ (vgl. ZIEGLER); mit Rahlfs scheint aber die Lesart μετ’ ὀργῆς von S und anderen Handschriften vorzuziehen zu sein, vgl. Lat: cum ira; SCARPAT, Sapienza II, 404–405. Dann kommt der Gegensatz der erzieherischen Maßnahme Gottes, die ἐν ἐλέει „mit/unter Barmherzigkeit“ geschieht, zum Gericht über die Gottlosen, bei dem der Zorn das Mittel ist, mit dem Gott sie richtet, besser zur Geltung. Καὶ ἀπόντες δὲ καὶ παρόντες wörtlich: „sowohl Abwesende als auch Anwesende“. Aber es ist nicht klar, worauf der Text sich bezieht: Sind einerseits die Ägypter, die sich am Roten Meer aufhalten, und andererseits die Ägypter, die sich noch in ihren Häusern in Ägypten aufhalten, gemeint? Eher ist dem Vorschlag von SCARPAT (Sapienza II, 404) zu folgen, der sich auf überzeugende philologische Argumente stützt: Der Ausdruck bezeichnet einfach alle Ägypter ohne Ausnahme, die in gleicher Weise geplagt wurden (*τρύχω „aufreiben, entnerven, plagen“; vgl. 14,15). Zur Diskussion der Textprobleme in 11,12b vgl. LARCHER, Sagesse III, 667; er entscheidet sich dafür, στεναγμὸς μνήμῃ τῶν παρελθόντων zu lesen, anstatt στεναγμὸς μνημῶν, und übersetzt „Seufzen bei der Erinnerung an die Vergangenheit“. SCARPAT hebt in einer ausführlichen Erörterung (Sapienza II, 405–406) für 11,12b die große Abhängigkeit vom Wortschatz der Tragiker hervor und entscheidet sich dafür zu lesen: στεναγμὸς μνήμων (in gleicher Bedeutung). „(dass ihnen) Wohltaten erwiesen worden waren“: Das Plusquamperfekt übersetzt hier das Partizip perf. pass. εὐεργετημένους, das von S A C und mehreren Minuskelhandschriften bezeugt wird und von RAHLFS in den Text gesetzt wurde und das gut zum vorangehenden Aorist passt; ZIEGLER dagegen zieht die Lesart von B εὐεργετουμένους (Partizip praes. pass.) vor. Statt des von Ziegler mit B S und anderen Handschriften an den Anfang von 11,14a gesetzten Artikels τόν lesen A und mehrere Minuskeln und alte Übersetzungen das Relativpronomen ὅν (vgl. ZIEGLER). Diese auch von Rahlfs (vgl. LARCHER und SCARPAT) gewählte Lesart, die einen Anakoluth vermeidet, dürfte vorzuziehen sein (vgl. ENGEL, „Weisheit“, 2146).

Synchrone Analyse Das Wasser des Nils wurde in Blut verwandelt (11,6) im Gegenzug (vgl. εἰς ἔλεγχον „zur Strafe“ 11,7a; vgl. 1,9; 2,14) zu dem Befehl (διάταγμα; vgl. Heb 11,23), den der Pharao nach Ex 1,22 erlassen hatte: Jedes männliche Kind der Hebräer sollte in den Nil geworfen werden. *Νηπιοκτόνος „kindermordend“ (11,7a) ist vielleicht eine Wortschöpfung des Verfassers. Aber auch schon der ganze Vers 11,6 ist mit seltenen und poetischen Wörtern formuliert. Hier wird bereits der in 11,15–16 ausgedrückte Grundsatz, dass jeder damit bestraft wird, womit er gesündigt hat, vorweggenommen. Der Strafe, die die Ägypter traf, wird das reichliche Wasser gegenübergestellt, das Israel gegeben wurde, einem Volk, das die Hoffnung verloren zu haben schien; dies deutet das Adverb ἀνελπίστως „unverhofft“ zurückhaltend an. Es handelt sich um das aus dem Felsen quellende Wasser, das in 11,4 genannt wurde; vgl. die Formulierungen ἐδόθη … ὕδωρ (11,4b) – ἔδωκας ὕδωρ (11,7b); dies übertraf menschliche Hoffnungen.

11,6–9: Das in Blut verwandelte Nilwasser

312

11,10: Die Erfahrung des väterlichen Handelns Gottes

11,11–14: Der Durst in der Wüste

Weish 11,6–14

In 11,8 werden die Ereignisse der Vergangenheit nochmals Lehre für die Gegenwart. Der Durst, den Israel in der Wüste erfuhr (vgl. Ex 17,1–3; Num 20,2–5) wird nicht als Strafe betrachtet, sondern als eine heilsame Mahnung Gottes, damit Israel die Bestrafung, die die Gottlosen erwartet, besser verstehen kann und zugleich die Barmherzigkeit Gottes mit seinem Volk (11,9). Wie schon in 10,20 werden hier die Feinde ἀσεβεῖς genannt und so an die „Gottlosen“ in Weish 2 erinnert. 11,9 gestattet einen interessanten Blick auf die theologischen Vorstellungen des Verfassers. Der „Zorn“ Gottes, von dem in 11,9b die Rede ist, bildet durchaus keinen Widerspruch zur „Barmherzigkeit“ (ἔλεος in 11,9a); vgl. auch 12,15–18. Die Wortwahl entspricht weitgehend der bereits in 3,1–9 verwendeten, vgl. πειράζω, παιδεύω und εὐεργετέω in 3,5; βάσανος in 3,1; κρίνω in 3,8; ἔλεος in 3,9; vgl. auch das Motiv des Zornes Gottes (ὀργή in Weish 5,20) gegenüber den ἀσεβεῖς (vgl. 3,10). Βασανίζω (vgl. 12,23; 16,1.4) – wie schon βάσανος in 2,19; 3,1 und später in 17,13; 19,4 – hat einen deutlichen eschatologischen Beiklang. Hier betrifft die Darlegung nicht das Endschicksal der Gerechten oder der Gottlosen wie in 3,1– 9.10–12, sondern die geschichtliche Erfahrung Israels in der Wüste, die so eine Lehre für die Gegenwart und zugleich eine Vorankündigung der Zukunft wird, wie Gott die Gottlosen strafen und die Gerechten retten wird. 11,10 bildet das Zentrum des Diptychons. Die Bewährungsprobe des Durstes dient vor allem dazu, Israel erfahren zu lassen, dass Gott wie ein Vater handelt (s.o. den Kommentar zu 2,16); dieses Motiv wird nochmals wiederkehren (vgl. 11,22 – 12,2) und greift Texte wie Dtn 8,2–5 auf (vgl. auch Spr 3,12). Der Weg durch die Wüste ist eine Bewährungsprobe für Israel, aber auch ein Zeichen der Fürsorge Gottes. Die Plagen haben daher für den Verfasser einen herausragenden didaktischen Wert. Gott zeigt sich den Gerechten wie ein Vater, der seinen Sohn erzieht, indem er ihn zurechtweist (νουθετέω, vgl. 12,2.26) und auf die Probe stellt (δοκιμάζω). Den Gottlosen dagegen zeigt Gott ein anderes Gesicht, nämlich das eines strengen Königs, der Gericht hält. Die hier verwendeten Wörter (ἀπότομος, καταδικάζω, ἐξετάζω) deuten an, dass der Verfasser hinter dem irdischen Gericht an den Ägyptern schon das eschatologische Gericht an den Gottlosen sieht, wie es bereits im ersten Buchteil beschrieben wurde: vgl. ἀπότομος in 5,20; 6,5; ἐξετάζω in 6,3; ἐξέτασις in 1,9; ἐξετασμός in 4,6, aber auch δοκιμάζω in 3,6 in Bezug auf die Gerechten. Von den Israeliten verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf die Ägypter: Zu dem Durst, der wegen des in Blut verwandelten Nilwassers zu ertragen ist (11,14c), kommt der Schmerz hinzu, die Israeliten in der Wüste gerade durch Wasser gerettet zu sehen. Auch damit erweitert der Verfasser die Exoduserzählung. Der etwas dunkle Text 11,11–12 ist wohl in dem Sinne zu verstehen, dass alle Ägypter gleichermaßen geplagt werden (s.o. die Anmerkung zum Text), dass diese Qual sich aber dadurch noch verdoppelt, dass sie die Israeliten demgegenüber mit Wasser versorgt sehen, obwohl auch sie Durst erlitten hatten. Bei den Ägyptern entsteht ein nicht nur physisches, sondern auch moralisches Leid (λύπη). Die „doppelte Trauer“ bezieht sich wohl auf die Erinnerung an die Plagen und zugleich auf das Wissen, dass die Israeliten demgegenüber Wohltaten erhalten. Es ist jedoch auch möglich, „doppelt“ wie in Jes 40,2 einfach als Intensivierung zu verstehen. Die Elemente des Kosmos (hier das Wasser) und gleichzeitig die geschichtlichen Vorgänge bringen auch die Gottlosen dazu, Gott zu erkennen; ebenso ist es Israel ergangen (vgl. ἔγνωσαν in 11,9b).

Diachrone Analyse

313

11,14 bezieht sich rückblickend auf die Ereignisse bei der Geburt des Mose (Ex Mose 2,1–10; vgl. Apg 7,21). Wie schon angesichts der verherrlichten Gerechten in 5,4 sind die Gottlosen genötigt, den zu bestaunen (11,14b), den sie vorher abgewiesen hatten; denn der von den Ägyptern erlittene Durst (11,14c) war völlig verschieden (οὐχ ὅμοια, eine litotes) von dem Durst, den die Gerechten, d.h. die Israeliten, erfuhren.

Diachrone Analyse Die Verknüpfung des in Blut verwandelten Wassers (vgl. Ex 7,17–25 mit dem Kin- 11,6–9 dermordbefehl des Pharaos findet sich nicht in der Exoduserzählung und ist auch der antiken jüdischen Tradition nicht bekannt. Auch 11,8 geht insofern über die biblische Erzählung hinaus, dass angenommen wird, die Israeliten hätten den Durst, von dem die Ägypter geplagt wurden, nicht erlitten. Dieses Motiv findet sich jedoch ebenfalls sowohl bei Philon (Mos. I, 144) als auch bei Flavius Josephus (Ant. 2,14,1); beide gehen davon aus, dass das Nilwasser, obwohl es in Blut verwandelt war, für die Israeliten trinkbar geblieben sei. Der Ausdruck διπλῆ λύπη in 11,12a scheint sich an Platon anzulehnen;7 in 11,11–14 Phileb. 36ab ist ein Leiden ohne Hoffnung ein doppeltes Leiden, wie es hier bei den Ägyptern der Fall ist. Der Verfasser nimmt, indem er noch weiter über die biblischen Angaben hinausgeht, an, dass die Ägypter in irgendeiner Weise davon Kenntnis hatten, was mit Israel geschah (11,13). Daher „spüren“ sie den Herrn, als sie von den Israel erwiesenen Wohltaten hören (ἤκουσαν … εὐεργετημένους αὐτούς). 11,13 nimmt das in 11,5 formulierte Prinzip auf: Die Plagen sind Zeichen der Bestrafung der Gottlosen und zugleich der den Gerechten erwiesenen Wohltaten. Die Formulierung ᾔσθοντο τὸν κύριον ist einmalig in der LXX; ein ähnlicher Ausdruck findet sich in Jes 49,26LXX (καὶ αἰσθανθήσεται πᾶσα σὰρξ ὅτι ἐγὼ κύριος ὁ ῥυσάμενός σε); vgl. Xenophon, Mem. 1,4,13, wo αἰσθάνομαι in Bezug auf die Erkenntnis von Göttern verwendet wird. „Den Herrn spüren/wahrnehmen“ kann auch bei den Gottlosen geschehen, sei es bei ihrer Bestrafung sei es bei ihrem Nachdenken über die Rettung der Gerechten.8 Es geht im Falle der Ägypter nicht darum, dass sie zum Glauben gelangt wären, sondern dass sie erfuhren, dass ihre Bestrafung von Gott her kam. Damit wird möglicherweise eine Antwort auf den Einwand des Pharaos gegeben, der in Ex 5,2 sagt, er kenne den Herrn nicht. Der Verfasser hat hier also den Refrain im Sinn, der in der Plagenerzählung jeweils wiederholt wird und einen ihrer theologischen Grundgedanken bildet: „Daran werden sie/ihr/du erkennen, dass ich der Herr bin“ Ex 7,5.17 u. ö.). In 11,14 geht die Erwähnung des Verhöhnens auf Texte wie Ex 11,1 (vgl. Ex 10,11.28) zurück, in denen beschrieben wird, wie Mose aus der Gegenwart des Pharaos und aus dem Land Ägypten gejagt wird, und ist eine kaum verhüllte Anspielung darauf, wie die Juden in Alexandria sich behandelt fühlten (vgl. 4Makk 5,22, wo dasselbe Verb χλευάζω verwendet ist, und vor allem Philon, Legat. 211). 7 8

Vgl. LARCHER, Sagesse III, 666. Vgl. GILBERT, „La connaissance de Dieu“, 323.

Weish 11,15 – 12,27: Die Menschenliebe Gottes Zur literarischen Struktur von Weish 11,15 – 12,271 Dieser lange Exkurs entsteht gleichsam bei einem Innehalten der Überlegung des Verfassers. Nachdem er die erste Plage besprochen hat (11,6–14), denkt er nunmehr über das Handeln Gottes gegenüber den Ägyptern nach: Warum hat Gott sie nicht vernichtet, sondern jedes Mal nur wenig mit den zahlreichen Plagen bestraft? Die Antwort wird sich bei der Darlegung der Barmherzigkeit und der Milde Gottes gegenüber den Gottlosen zeigen. Auch hier verwendet der Verfasser den Bibeltext als Ausgangspunkt, liest ihn neu und aktualisiert ihn auf seine kulturelle Umwelt und seine geschichtliche Situation hin. In 11,15 soll ἀντὶ δέ wohl dem ἀντὶ μέν in 11,6 entsprechen und zeigt so den Beginn eines neuen Abschnitts an. Das Ende des Exkurses ist in 12,23–27 zu sehen; dort nimmt der Verfasser die in 11,15–16 dargelegten Kritikpunkte am Tierkult der Ägypter nochmals auf (vgl. πλανάομαι und ζῷα in 11,15, wieder aufgenommen in 12,24); diese Kritik wird am Ende des folgenden Exkurses (15,14–19) wiederkehren und das Thema der zweiten Gegenüberstellung in 16,1–4 bilden. Auf diese Weise beschließt 12,23–27 die Überlegung über die Menschenfreundlichkeit Gottes und nimmt bereits die darauffolgende Kritik des Tierkultes vorweg. Der Exkurs ist präzise gegliedert. Ein erster Abschnitt reicht von 11,15 bis Weish 11,15 – 12,2 12,2, gekennzeichnet durch die inclusio ἁμαρταν- in 11,16 und 12,2b; er besteht aus 33 Kola über die Milde Gottes gegenüber Ägypten, die um das in 11,20 formulierte Prinzip herum gruppiert sind: 16 Kola gehen ihm voraus und 16 folgen ihm. Näher betrachtet, wird eine konzentrische Anordung erkennbar, die die Einheit des Abschnitts zeigt, der die Liebe Gottes zu allen seinen Geschöpfen zum Grundthema hat. Diese Liebe gründet auf der Allmacht Gottes, die das Fundament seiner Nachsicht gegenüber den Sündern ist. Hier nun der Aufbau des ersten Abschnitts: a. 11,15–16: Einleitung und durchgehendes Prinzip des Exkurses: Die Strafe erfolgt in der Kategorie der begangenen Sünde (vgl. die Wiedererwähnung in 12,23–27). b. 11,17–20c (vgl. die inclusio-artige Entsprechung παντοδύναμος 11,17a – δυνάμεως 11,20c); das γάρ am Anfang gilt für den ganzen Unterabschnitt, in dem die schrecklichsten Strafen ausgemalt werden, die Gott gegen die Ägypter hätte aussenden können, was er aber nicht tat. Der Text enthält sechs Möglichkeiten, die sämtlich mit ἤ (bzw. ἤτοι in 11,18b) eingeführt werden. c. 11,20d: Zentrum des Abschnitts über die Milde Gottes. b’. 11,21 – 12,1: Der Grund für diese Milde Gottes ist die Barmherzigkeit Gottes gegenüber seinen Geschöpfen (inclusio πάντοτε „allzeit“ 11,21a – ἐν πᾶσιν „in allen“ 12,1).

1

Vgl. REESE, „Plan and Structure“, 393 Anm. 3; WRIGHT, „The Structure“, 177–179; BIZZETI, Il libro della Sapienza, 79–92; GILBERT, „Sagesse“, 73.

Zur literarischen Struktur von Weish 11,15 – 12,27

315

Dieser kleine Unterabschnitt ist sehr sorgfältig gestaltet. Vor und nach dem Kolon in der Mitte 11,24a stehen sechs Kola, die jeweils 43 Wörter enthalten. 11,21b und 11,25b sind als rhetorische Fragen formuliert; 11,23a (ἐλεεῖς δὲ πάντας ὅτι) ist in gleicher Weise wie 11,26 (φείδῃ δὲ πάντων ὅτι) konstruiert. Die beiden Kola enthalten ein wichtiges Thema: die Barmherzigkeit Gottes gegenüber jedem Geschöpf. Sowohl 11,21a als auch 12,1 beginnen mit τὸ γάρ; ὁ κόσμος in 11,22a nimmt diesen Ausdruck aus 11,17b auf, 12,1 πνεῦμα aus 11,20a.c.

a’. 12,2: Zusammenfassende Schlussfolgerung: die heilen wollende Absicht des Strafhandelns Gottes. Der zweite Abschnitt (12,3–21) handelt von der Milde Gottes gegenüber dem Weish 12,3–21 Volk der Kanaanäer.2 Auch hier lässt sich eine sorgfältige Struktur mit 12,12 als Zentrum beobachten: – 12,3–11 (21 Kola in neun Versen): Die Milde Gottes gegenüber den Kanaanäern. In der Mitte die grundlegende Feststellung in 12,8a. 12,3–7 sind markiert durch die inclusio γῆς – γῆ (12,3.7b; vgl. auch die Pronomina σου in 12,3 und παρὰ σοί in 12,7b) und beschreiben den Hass Gottes gegenüber den Kanaanäern in einem einzigen langen Satz. Darin steht das Objekt voran (12,3), die mit μισήσας beginnende Partizipialkonstruktion (12,4–6a) begründet den im Hauptsatz (12,6b) ausgedrückten Entschluss, und der davon abhängige Finalsatz (12,7) beschreibt die damit verbundene Absicht. Die Verse 12,8b-11 sind um einen neuen Grundsatz in 12,10a herum angeordnet, der das bereits in 11,23c genannte Motiv der μετάνοια aufnimmt. 12,10a wiederholt die Wendung κατὰ βραχύ aus 12,8c, während das Verb ἐδίδους von 12,10a am Ende des Unterabschnitts in 12,11b wiederkehrt. Thema von 12,8b-11 ist das heilen wollende Strafen Gottes. – 12,12a-d bildet das Zentrum des ganzen Abschnitts 12,3–21 und formuliert in vier rhetorischen Fragen (τίς – ἢ τίς – τίς – ἢ τίς) eine weitere grundsätzliche Feststellung: Niemand kann über das Handeln Gottes richten. Darauf folgen in 12,13–21 weitere 22 Kola in 9 Versen. – 12,13–18 erörtert die Gründe für die Milde Gottes. In der Mitte dieses Unterabschnitts in 12,16a steht eine weitere grundsätzliche Feststellung über die Kraft Gottes (ἰσχύς) als Grundlage seiner Gerechtigkeit (δικαιοσύνη). In 12,13–15 ist die Gerechtigkeit Gottes das bestimmende Thema (vgl. 12,15a); in 12,16b-18 steht dann eher seine Kraft im Vordergrund (ἰσχύν 12,17a.; ἰσχύος 12,18b; vgl. die Verbindung der Lexeme δεσποζ- und φειδ- mit einem jeweils folgenden, erläuternden γάρ in 12,16b und 12,18a-b). Das Pronomen ἡμᾶς in 12,18b bezieht sich auf die Israeliten und bildet schon ein Klammerwort zum folgenden Unterabschnitt, der von der Betrachtung des Handelns Gottes gegenüber den Kanaanäern übergeht zu den Folgen für die Israeliten. – 12,19–21 zieht die Lehren aus dieser Milde und fasst die vorausgehenden Ausführungen zusammen; πατράσιν in 12,21b nimmt πατέρων aus 12,6b und παίδων σου in 12,20a den Ausdruck θεοῦ παίδων von 12,7a auf. Die Verbform ἔκρινας in 12,13b wird in 12,21a wieder verwendet und bildet so eine inclusio des Unterabschnitts 12,13–21.

2

Vgl. BIZZETI, Il libro della Sapienza, 90–91, für eine Übersicht über die Ausdrücke, die in 12,13–21 aus 11,21 – 12,2 aufgenommen werden.

316

Weish 11,15 – 12,2 Der Text 12,19–21 ist nach einem charakteristischen Schema gebaut: AB A’B’ CDED’C’.3 So treten 12,20a (C) und insbesondere 12,20c (E) hervor. Dort wird herausgestellt, dass die Barmherzigkeit Gottes sowohl den Feinden wie den Kindern Gottes gilt. Wichtige Wörter der grundsätzlichen Feststellung von 12,10a kehren in 12,19–21 wieder: μετάνοια (12,19d); δούς … τόπον (12,20c).

Weish 12,22– Der erste Exkurs schließt mit einem dritten, kürzeren Abschnitt (12,22–27), der 27 die Doppelaufgabe einer Zusammenfassung des Exkurses und der Ankündigung

eines neuen Themas hat. Damit kehrt der Verfasser zu dem wichtigen Thema der Barmherzigkeit Gottes zurück und führt gleichzeitig hinüber zum Thema des Götzendienstes, um den es im folgenden Exkurs (Weish 13–15) gehen wird. Insbesondere 12,22 bildet eine Brücke zum Vorangehenden: Das erste Kolon nimmt wieder Israel (ἡμᾶς … ἡμῶν) und seine Feinde (τοὺς ἐχθροὺς ἡμῶν) in den Blick, die hier verbunden sind in dem Motiv der Erziehung (παιδεύων) und Züchtigung (μαστιγοῖς); das zweite und das dritte Kolon greifen dagegen das Doppelthema des Richtens (κρίνοντες, κρινόμενοι) und der Barmherzigkeit Gottes (ἀγαθότης, ἔλεος) auf. Die Verse 12,23–27 können nochmals unterteilt werden: In 12,23–25 wird die Sünde der Ägypter, der Tierkult, und die dem entsprechende Bestrafung beschrieben; dabei erweitert und erläutert 12,24 (καὶ γάρ) den vorangehenden Vers 12,23, und 12,25 zieht daraus die Folgerung (διὰ τοῦτο). 12,26 nimmt das Thema der Sünde der Ägypter auf und fügt ihre Verstocktheit hinzu; 12,27a-c führt diese weiter aus, und 12,27d zieht daraus die Schlussfolgerung (διό), den Untergang der Ägypter. Der Verfasser greift so in 12,23–27 das in 11,15 angekündigte Thema des Tierkults auf; ähnlich wird er es nochmals in 15,18–19 tun. Der Abschnitt dient damit als Abschluss des ersten und als Vorbereitung auf den zweiten Exkurs.

Weish 11,15 – 12,2: Die Milde Gottes gegenüber Ägypten 15 Anstelle ihrer unverständigen, unrechten Gedanken, von denen irregeleitet sie vernunftlose Kriechtiere verehrten und wertloses Getier, ließest du gegen sie eine Menge vernunftloser Lebewesen los zur Strafe, 16 damit sie erkannten, dass man, wodurch man sündigt, eben dadurch bestraft wird. 17 Nicht unfähig war ja deine allmächtige Hand, die die Welt aus gestaltlosem Stoff erschaffen hatte, gegen sie eine Menge von Bären oder kühne Löwen loszuschicken, 3

Vgl. BIZZETI, Il libro della Sapienza, 86–87, mit der Begründung im Einzelnen dafür, dass 12,21 das Ende des Unterabschnitts bildet; anders GILBERT, Sagesse 73–74, der 12,22 für den Abschluss von 12,19–21 hält.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

317

18 oder ungekannte Raubtiere voll neuartiger Wut, die entweder Feuer speienden Atem hauchen oder zischenden Qualm ausstoßen oder entsetzliche Funken aus den Augen sprühen; 19 nicht allein die Schädigung durch diese hätte sie vernichten, vielmehr auch schon der erschreckende Anblick (sie) zugrunde richten können. 20 Aber auch ohne diese hätten sie durch einen einzigen Hauch fallen können, vom Recht verfolgt und geworfelt von deinem mächtigen Hauch. Aber du hast alles nach Maß und Zahl und Gewicht geordnet. 21 Dir ist es ja immer möglich, eine große Kraft zu entfalten, und der Macht deines Armes – wer wird (ihr) widerstehen? 22 Denn wie ein Stäubchen an der Waage ist die ganze Welt vor dir, und wie ein morgendlicher Tautropfen, der auf die Erde fällt. 23 Du erbarmst dich aber aller, weil du alles vermagst, und du siehst an den Verfehlungen der Menschen vorbei – zur Umkehr. 24 Du liebst nämlich alles, was existiert, und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast. Würdest du nämlich etwas hassen, hättest du es nicht bereitet. 25 Wie aber könnte etwas Bestand haben, wenn du es nicht gewollt hättest, oder wäre etwas, das du nicht (ins Dasein) gerufen hast, bewahrt geblieben? 26 Du schonst aber alles, weil es dein ist, du Leben liebender Gebieter. 12,1 Dein unverderblicher Geist nämlich ist in allen. 2 Darum bestrafst du die, die eine Übertretung begehen, jeweils (nur) wenig und weist sie zurecht, indem du sie an das erinnerst, wodurch sie sündigen, damit sie sich von der Bosheit abwenden und zum Glauben an dich gelangen, Herr.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 15 θρησκεύω (11,15b) ist ein für die Datierung des Buches der Weisheit wichtiges Wort. In der Bedeutung „kultisch verehren“ verschwindet es in der klassischen Zeit und taucht erst wieder in der augusteischen Zeit auf, vgl. ROBERT, Louis, Etudes épigraphiques et philologiques, Paris: Bibliothèque de l’Ecole des Hautes Etudes 1938, 226–235; SCARPAT, „Ancora sull’autore“, 178. 17 οὐ γὰρ ἠπόρει: eine Litotes mit intensivierender Bedeutung „gewiss war nicht unfähig…“. Eine ausführliche Diskussion dazu findet sich bei SCARPAT, Sapienza II, 412. Das Adjektiv παντοδύναμος scheint vor der Abfassung des Buches der Weisheit unbekannt zu sein; außer in Weish 11,17 s. dazu noch Weish 7,23 (über das πνεῦμα) und 18,15 (über den λόγος). 18 Das Adjektiv νεόκτιστος „neugeschaffen“ ist ein sehr gewählter Ausdruck. Ein großer Teil der Kommentatoren bezieht ihn auf die Raubtiere. Auch Ziegler hat die Lesart νεοκτίστους (acc.plur.) gewählt, die aber nur in PsChr VIII, 662 vorkommt. A C* V und andere Textzeugen lesen den Genitiv νεοκτίστου bezogen auf die „Wut“ (θυμοῦ); der

318

Weish 11,15 – 12,2

Verfasser denkt an bereits existierende unglaubliche Raubtiere voller neuartiger, ungewohnt starker Wut, vgl. ENGEL, „Weisheit“, 2146. Auch das Adjektiv πυρπνόος (mit Rahlfs ist der Akzent so zu setzen; Ziegler hat stattdessen πύρπνοος; vgl. dazu WALTERS, Peter, The Text of the Septuagint. Its corruption and their emendation, Cambridge: Cambridge University Press 1973, 126) ist ein gewählter und poetischer Ausdruck, der von den Tragikern herstammt, vgl. EURIPIDES, Med. 478, wo von Stieren gesagt ist, dass sie „Feuer speien“. In 11,18c ziehen einige Autoren es vor, anstelle von βρόμον „Geräusch, Knistern“ mit verschiedenen Minuskeln βρῶμον „Gestank“ zu lesen; LARCHER (Sagesse III, 682) schlägt im Anschluss an wenige Handschriften (vgl. ZIEGLER, Sapientia, 71) βρῶμον λιχμωμένου καπνοῦ „(hauchender) Gestank züngelnden Qualms“ vor. Die Mehrzahl der Handschriften (so auch ZIEGLER) liest jedoch βρόμον λικμωμένους καπνοῦ „Gezisch von Qualm ausstoßende“; man kann dabei an das Sprühen aus dem Schlund von Monstern denken. 19 Das Verb συνεκτρίβω ist ein hapax totius graecitatis; es hat die Bedeutung „zusammen vernichten“; einige Handschriften haben stattdessen ἐκτρίβω (s. den Apparat bei ZIEGLER), vgl. Ex 9,15. 20 Der Korrekturvorschlag von LARCHER, statt ἑνὶ πνεύματι „durch einen einzigen Geisthauch“ zu lesen ἑνὶ νεύματι „durch einen einzigen Wink“ nur aufgrund der arabischen Übersetzung (vgl. 2Makk 8,18), erscheint, trotz der Unterstützung durch SCARPAT, Sapienza II, 420–421, der noch auf EUSEBIUS, Praep. ev. 7,8.17 verweist (vgl. auch ENGEL, „Weisheit“, 2146), zu schwach bezeugt. Liest man mit der Gesamtheit der griechischen Handschriften ἑνὶ πνεύματι, kann man an den „Hauch“ des Zornes Gottes denken wie in Ijob 4,9 und vor allem Ex 15,7. 23 Das Wort μετάνοια „Umdenken, Umkehr“ erscheint in der LXX außer in Weish 11,23; 12,10.19 nur in Spr 14,15; Sir 44,16; Oden 12,8. Im griechischen Sprachgebrauch hat es meist die Bedeutung „seine Meinung ändern“, selten und nur in späten Texten bedeutet es eine Änderung der Lebensweise. Das Verb μετανοέω wird in der LXX z.B. in Jer 8,6; 38,19; Jes 46,8; Sir 48,15 in Bezug auf eine Umkehr des Menschen zu Gott gebraucht. In dieser Bedeutung wird auch das Substantiv μετάνοια im griechischsprachigen Judentum immer häufiger. In Weish 12,10 hat das Wort eher noch den klassischen Sinn „Meinungsänderung“, auch in Weish 5,3 ist die Bedeutung des Partizips μετανοοῦντες „bereuend“ bedeutungsmäßig nicht weit davon entfernt. In 11,23 jedoch meint μετάνοια eher eine Umkehr im religiösen Sinne und nähert sich der neutestamentlichen Bedeutung, vgl. A. TOSATO, „Per una revisione degli studi sulla ‚metanoia‘ neotestamentaria“: RivBibIt 23 (1975), 3–45. 25 Die Kodizes B und A und viele Minuskeln lesen ἔμεινεν anstelle von διέμεινεν (S); aber die letztgenannte Lesart scheint der ursprüngliche Text zu sein, vgl. SCARPAT, Sapienza II, 425–426. Das Verb hat die Bedeutung „ausharren, andauern“ und bezieht sich hier auf die Schöpfung, die weiterexistiert dank des Wirkens Gottes, vgl. PHILON, Spec. I, 96 in Bezug auf die Menschen; das Verb kann sich von Ps 118,90–91LXX her nahegelegt haben. 26 *φιλόψυχος in der Bedeutung „das Leben liebend, Freund des Lebens“ ist im Griechischen vor dem Buch der Weisheit nicht belegt. Im klassischen Griechisch bedeutet das Wort „am Leben hängend“ und daher „feige“ (vgl. z.B. EURIPIDES, Hec. 348). Das Buch der Weisheit dreht hier den Sinn des Wortes um und macht daraus ein Adjektiv mit positiver Bedeutung. Es ist nicht nötig, hier zu vermuten, der Verfasser kenne zu wenig Griechisch, wie LARCHER, Etudes, 182, meint; vgl. auch REESE, Hellenistic Influence, 29. 12,2 Das Verb πιστεύω „vertrauen, glauben“ wird außer in 12,2 noch in 14,5; 16,26; 18,6 wiederkehren; vgl. die Litotes τοῖς μὴ ἀπιστοῦσιν in 1,2 und das Thema der πίστις in 3,14. Die Konstruktion πιστεύω ἐπί + Akk. ist in der LXX ungewöhnlich, findet sich aber häufiger im NT. Nur hier und in Weish 16,26 bezieht sich das Verb auf den Glauben an Gott.

Synchrone Analyse

319

Synchrone Analyse Die irrigen Anschauungen der Ägypter werden als λογισμοὶ ἀσύνετοι ἀδικίας αὐτῶν bezeichnet; die drei hier verwendeten Wörter kommen zusammen in Weish nur noch in 1,5 vor, zwei davon (ἀσύνετος, ἀδικία) sogar nur an diesen beiden Stellen. Ihre unverständigen, unrechten Gedanken (d.h. das aus ihrer Bosheit entstandene Denken) sind die in 1,3 σκολιοὶ λογισμοί genannten Gedanken, die von Gott trennen bzw. gegen ihn gerichtet sind. Hier wird deutlich, dass mit diesen Gedanken die für den Verfasser schlimmste Form des Götzendienstes gemeint ist, die Tierverehrung, ein Kult, der von vornherein als unvernünftig abgestempelt wird (auffällig ist die Wiederholung von ἄλογος in 11,15b.c; vgl. Röm 1,21–23). 11,15b verwendet zur Verurteilung des Tierkultes das Verb πλανάω „irreführen; dep. herumirren“, das bereits in 2,21 vorkam (s.o. den Kommentar) und im Buch mehrfach benutzt wird (Weish 12,24; 13,6; 14,22; 15,4; 17,1), immer mit einem deutlichen religiösen Beiklang und meist mit polemischen Anspielungen auf die Mysterienkulte. Der ägyptische Tierkult wird durch das Verb θρησκεύω ausgedrückt, das klassisch einfach den Kult, die Verehrung, bezeichnet, das aber in Weish 14,27 (vgl. 14,16–28) in malam partem für den Götzendienst verwendet wird. Hier geht es um die ägyptische Tierverehrung, d.h. den Kult, der vernunftlosen Reptilien und wertlosem Getier gilt (bei *κνώδαλα kann man an die Insekten denken, die die Plagen in Ägypten verursachten: Mücken, Bremsen, u. Ä.). Das Paar ἑρπετὰ καὶ κνώδαλα erscheint schon im Aristeasbrief (Arist. 138; 169; vgl. Alkman, Fragm. 674) und taucht in Weish 17,9 nochmals auf (κνώδαλα noch in 16,1).5 Es handelt sich also um einen Gemeinplatz der Polemik gegen den ägyptischen Tierkult, die nicht auf die jüdische Literatur beschränkt war, sondern auch von griechischen Philosophen geübt wurde (s.u. zu Weish 15,14–19). Die Tiere werden als „vernunftlos“ (ἄλογα) und „billig, wertlos“ *εὐτελῆ bezeichnet (zu *εὐτελής vgl. Weish 10,4; 13,14; 15,10), um das in jüdischen Augen niedere Niveau der ägyptischen Tierverehrung hervorzuheben. Deshalb besteht die Bestrafung der Götzendiener (ἐκδίκησις: dieser Ausdruck ist der Exoduserzählung über die Plagen entnommen, vgl. Ex 7,4; 12,12) darin, dass gerade solche Tiere gegen die Ägypter losgelassen werden. Das Verb ἐπαποστέλλω „losschicken gegen“ wird in ähnlichem Zusammenhang nochmals in Weish 16,3 aufgenommen; es stammt ebenfalls aus der Exoduserzählung (Ex 8,17), wo es zur Bezeichnung der Ungezieferplage dient. Das -Substantiv πλῆθος „Menge, Vielzahl“ verweist auf Ex 8,20 und kehrt in ähnlichen Kontexten in Weish 11,17; 16,1; 19,10 wieder. 11,16 nennt das Ziel des Handelns Gottes: ἵνα γνῶσιν, „damit sie erkannten“; die geschichtlichen Ereignisse werden auch für die Gottlosen zu Zeichen, die das Handeln Gottes offenbaren. Der Verfasser fand dieses Prinzip bereits im Buch Exodus: Der Herr schickt die Plagen, um von den Ägyptern erkannt zu werden (vgl. Ex 7,5.17; 8,6.18; 9,14.29; 11,7). Die Passivform κωλάζεται verweist darauf, dass hier Gott handelt. Aber warum ist die Strafe weniger schwer, als es die Gottlosen verdient hätten? Ist das ein

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Vgl. PAGE, Denys Lionel, Poetae Melici Graeci, Oxford: Clarendon 1962. Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 73–74.

11,15–16: Der ägyptische Tierkult

Man wird bestraft mit dem, womit man sündigt

320

11,17a-b: Deine allmächtige Hand

11,17c-19: Die Ungeheuer, die Gott hätte erschaffen können

11,20a-c: Der Hauch Gottes und das Recht

11,20d: Maß und Zahl und Gewicht

Weish 11,15 – 12,2

Zeichen der Schwäche oder des Unvermögens Gottes? Dies sind die Fragen, deren Beantwortung sich der Verfasser nunmehr zuwendet. Gott kann nach der Überzeugung des Verfassers alles, auch was unmöglich scheint, weil er es ist, der die Welt erschaffen hat (ἡ παντοδύναμός σου χεὶρ καὶ κτίσασα τὸν κόσμον) „aus gestaltlosem Stoff“ (11,17b). Die Redeweise von der Schöpfung als Werk der Hand Gottes ist biblisch (vgl. Ps 8,7; Jes 45,11–12; 48,13); die Verwendung des seltenen Ausdrucks παντοδύναμος dagegen dürfte eine Anspielung auf die „Mächte“ sein, durch die Gott in der Schöpfung am Werk ist (insbesondere durch den Logos, vgl. Weish 9,1), eine typisch philonische Vorstellung (vgl. Abr. 121; Plant. 50), auf die der Verfasser aber hier nicht weiter eingeht. Das Verb κτίζω hat eher selten und erst in späterer Zeit τὸν κόσμον als Objekt bei sich, vgl. 2Makk 7,23 und Röm 1,20; zu κτίζω s.o. Weish 1,14. In einer gewählten, poetischen Sprache, die an die griechischen Tragiker anklingt, beschreibt der Verfasser nunmehr die schrecklichen Ungeheuer (θῆρας), die der Herr gegen die Ägypter hätte entsenden können, wenn er es nur gewollt hätte (das Verb ἐπιπέμπω wird im Griechischen mehrfach für die Aktionen von Göttern verwendet). Das Adjektiv ἄγνωστος hat hier nicht einfach den Sinn von „unbekannt“, sondern von „unglaublich, ungekannt“; es geht um unwahrscheinliche, unvorstellbare wilde Tiere, wie sie bei den Strafen in Lev 26,22–26, vgl. Ez 14,12–23; Sir 39,28–31 aufgezählt werden. In Weish 11,18 handelt es sich eher um Ungeheuer, die durch ihre bloße Anwesenheit schon, wie 11,19 sagt, töten können. Diese drei Kola verweisen ausdrücklich zurück auf Weish 5,23; auch hier geht es um ein kämpferisches Eingreifen Gottes. Während es in 5,23 jedoch um einen Kampf eschatologischer Art ging, wird hier eher auf ein geschichtliches Ereignis, den Exodus, Bezug genommen und auf etwas, was Gott hätte tun können, aber nicht getan hat. Der Text spielt mit der doppelten Bezugnahme auf das πνεῦμα Gottes (s.o. die Anmerkungen zum Text), das hier wie in Jes 11,4 und vor allem in Ijob 4,9; Ex 15,7 verstanden ist als der Hauch des Zornes Gottes, durch den der Gottlose bestraft wird. Gott hätte die Ägypter auch direkt strafen können ohne irgendwelche Mittel (χωρὶς τούτων). Sodann wird das personifizierte Recht Gottes ins Feld geschickt, die Δίκη, in chiastischer Entsprechung zu „deiner Macht“. Sie ist eine typisch griechische Personifizierung, die bei den Tragikern mehrfach vorkommt; sie wurde schon in Weish 1,8 einmal genannt und wird in 14,31b nochmals auftauchen. Sie bezeichnet das strafende Recht Gottes, das in der LXX mehrere Male erwähnt wird, vgl. Ex 21,20; Lev 26,25; Dtn 32,41–43. Philon benutzt dieses Bild oft (vgl. Conf. 118; Mut. 194; Jos. 48). Als Ergebnis der vorangegangenen Reflexion wird in 11,20d festgestellt: „Alles hast du nach Maß und Zahl und Gewicht geordnet.“6 Das Kolon gewinnt eine besondere Bedeutung durch seine Stellung genau in der Mitte des Abschnitts 11,15 – 12,2. Bemerkenswert ist das Verb διέταξας „du hast geordnet“, das πάντα „alles“ als Objekt hat. Der Aorist hat in Verbindung mit dieser sprichwortartigen

6

Vgl. GENZMER, „Pondere, numero, mensura“; DES PLACES, „Un emprunt de la Sagesse“; PESCE, „Numero, peso e misura“; NIELSEN, „La Misura divina“. Für die Verwendung dieser Formel bei Augustinus vgl. LA BONNARDIÈRE, Le livre de la Sagesse, 90–98.

Synchrone Analyse

321

Formel gnomische Bedeutung und bezieht sich nicht so sehr auf die Bestrafung durch Tiere, die Gott nach den vorhergehenden Kola hätte verhängen können, sondern vielmehr auf das Handeln Gottes, betrachtet in seiner Gesamtheit, auf die genau geordneten Verfügungen Gottes; denn das ist die Bedeutung von διατάσσω. Der Satz 11,20d besagt, dass Gott seine Geschöpfe nicht zu vernichten braucht, um sie zu bestrafen, auch wenn sie sich schuldig gemacht haben. Es ist auch keine neue Schöpfung nötig und erst recht keine Zerstörung in apokalyptischen Ausmaßen. Gott braucht auch gegen seine Schöpfung keine Gewalt anzuwenden; denn die Schöpfung ist von Gott bereits „nach Maß und Zahl und Gewicht“ geordnet: Kein Handeln Gottes kann also als willkürlich angesehen werden. Die Bestrafung wird von Gott durch die Schöpfung übermittelt entsprechend dem in 11,15– 16 dargelegten Prinzip. Dieses prägt als Grundgedanke den ganzen dritten Teil des Buches der Weisheit und wird hier durch eine typisch griechische Formel ausgedrückt (s.u.). Mit 11,21 beginnt ein neuer, positiver Gedankengang: Gott ist es immer (πάντοτε) möglich, an Kraft überlegen zu sein, und niemand kann sich ihm, dem souveränen Herrn von allem, widersetzen. Der Text greift inhaltlich die Aussage von 11,17a auf. Das γάρ am Anfang gilt für den ganzen Gedankengang von 11,17– 20 und auch für alles, was bis 12,1 folgt:7 Der Herr hat die Verehrer von Tieren mit einer tatsächlich verhältnismäßig geringen Strafe gezüchtigt, weil Gott mit „Maß, Zahl und Gewicht“ handelt; denn er ist allmächtig (11,21–22), aber auch barmherzig (11,23). Der in 11,21 ausgedrückte Gedanke ist biblisch, vgl. Jes 40,12–14 und EstLXX C 2.30 (4,17b.z); im NT Röm 9,19. Das Verb ἰσχύω „stark sein, etw. vermögen“ mit Gott als Subjekt und in Bezug auf die Rettung des Volkes wird auch in Jes 10,21; 50,2; Jer 20,11; EstLXX C 30 (4,17z) verwendet; in Weish 11,21 erhält ἰσχύω zusammen mit dem Adverb μεγάλως die Bedeutung „die Macht haben, mit Kraft zu handeln“; diese Kraft schließt, wie die genannten Texte zeigen, auch physische, sogar militärische Stärke ein. Die Wendung κράτος βραχίονός σου „Macht deines Armes“ kommt so anderswo in der LXX nicht vor (vgl. Jer 21, 5 ἐν βραχίονι κραταιῷ); Wörter des Wortstammes κρατ- werden im Buch der Weisheit immer in der Bedeutung „Herrschermacht (ausüben)“ verwendet;8 hier wird Gott also vorgestellt wie ein überaus mächtiger König. Die rhetorische Frage τίς ἀντιστήσεται mit Bezug auf Gott begegnet recht häufig in der LXX: in Ps 75[76MT],8 und Nah 1,6 beide Male in Verbindung mit dem Zorn Gottes, dem niemand Widerstand leisten kann; vgl. auch Ijob 41,3; Jer 27[50MT],44 = 30[49MT],13. Die Antwort bleibt unausgesprochen: Niemand kann der Macht des Herrn widerstehen.9 Der poetische Vergleich in 11,22 spricht, wie schon 11,17b, von der gesamten Schöpfung; er geht zurück auf Jes 40,15; die masoretische Textform von Jes 40,15 bietet einige Schwierigkeiten, Weish liest diesen Text möglicherweise in einer von der LXX verschiedenen Übersetzung; jedenfalls ist der ganze Unterabschnitt Weish

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Vgl. CORNELY, Commentarius, 422–423; HEINISCH, Weisheit, 230. Vgl. GILBERT, La critique des dieux, 182. CLEMENS von Rom (1 Kor: 27,5; 28,2) bietet das älteste bekannte Zitat dieses Textes in patristischer Zeit.

11,21–23: Gott zwischen Macht und Barmherzigkeit

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11,24a: Du liebst alles, was existiert!

11,24b-12,1: Noch über die allumfassende Liebe Gottes. 11,24b-25: Gott und seine Schöpfung

Weish 11,15 – 12,2

11,21–23 von Jes 40,12–15 angeregt.10 Der Verfasser findet so für die Beschreibung der Eigenschaften und Fähigkeiten Gottes eine Grundlage und Inspiration in den Texten der Bibel. Angesichts der Allmacht Gottes ist die ganze Welt nur ein Stäubchen auf der Waage, ein morgendlicher Tautropfen, der früh verschwindet. Der Verfasser will jedoch die Welt nicht abwerten; indem er das völlig ungleiche Verhältnis zwischen Gott und seinen Geschöpfen betont, hebt er die außerordentliche Fürsorge hervor, die Gott für seine Schöpfung hegt; er könnte sie mit erstaunlicher Leichtigkeit vernichten, aber er will es nicht. Dies gilt paradoxerweise sogar für die Feinde Gottes, das hat das geschichtliche Handeln Gottes gegenüber den Feinden Israels gezeigt (11,17–20). Die Macht Gottes ist nicht zerstörerisch: Eben weil er allmächtig ist, ist Gott allen gegenüber barmherzig; er verzeiht und gibt der μετάνοια Raum, der Umkehr (11,23; vgl. Philon, Spec. I, 308). Der Sinn ist klar: Wenn Gott seine Allmacht einsetzen würde, könnte die Welt zerstört werden (11,22); aber auch gegenüber der Sünde lässt Gott die Barmherzigkeit siegen, darin besteht seine Allmacht. Der Mensch begegnet in Gott keinem unerbittlichen Herrscher, sondern einem liebenden Gott (11,24c.26). Das Verb ἐλεέω kommt im Buch der Weisheit nur noch einmal in 15,1 vor, und zwar erneut im Kontext der Sündenvergebung. Die Barmherzigkeit Gottes ist nicht mehr nur den Israeliten zugewandt, sondern allen Menschen (πάντας). Der Gedanke einer Barmherzigkeit Gottes gegenüber allen Menschen ist der Bibel nicht unbekannt (vgl. Sir 18,13); das mit γάρ „denn“ eingeführte Kolon 11,24a im Zentrum des Unterabschnitts (11,21 – 12,1) benennt ihr festes Fundament: die Liebe. 11,24–25 vertiefen die Beschreibung der Barmherzigkeit Gottes: Gott liebt τὰ ὄντα πάντα „alles, was existiert“, die gesamte Schöpfung, die er ins Dasein gerufen hat (vgl. καλέω in 11,25b); der unmittelbare Kontext (vgl. 11,17b.24b-c) spricht von der Schöpfung und kreist um den Gedanken der Gesamtheit (s.u. den Kommentar zu 12,1). Das γάρ am Anfang begründet die vorangehenden Ausführungen. In den drei Kola 11,24a-c wird das dauerhafte Verhalten Gottes durch drei Verbformen im Präsens ausgedrückt (zwei Indikative und ein Partizipium: ἀγαπᾶς, οὐδὲν βδελύσσῃ, οὐδὲ μισῶν τι); die beiden Hauptverben in 11,24b-c aber stehen im Aorist und bezeichnen die Schöpfertätigkeit (ἐποίησας, κατεσκεύασας). Die beiden Kola 11,24b-c bilden einen synonymen Parallelismus; sie vervollständigen den in 11,24a vorgetragenen Gedanken: Gott verabscheut nicht seine Geschöpfe (βδελύσσω ist ein in der LXX häufiges Wort, kommt aber im Buch der Weisheit nur hier vor), und erst recht hasst er sie nicht.11 Zur Verwendung von ποιέω in Verbindung mit κατασκευάζω vgl. Weish 9,1–2 und Jes 43,7; 45,7. 10 Vgl. GILBERT, „Les raisons de la modération divine“, 245–247. SCARPAT (Sapienza II, 424) weist darauf hin, dass das sehr seltene Wort πλάστιγγες „Waagschalen“ eine Erinnerung an PLATON sein könnte (Tim. 63b); zu der ebenfalls in der LXX einmaligen Verbindung ῥανὶς δρόσου „Tautropfen“ vgl. EURIPIDES, Andr. 228. 11 AUGUSTINUS erläutert das von ihm zitierte Kolon Weish 11,25c so: Ita Deus, et nihil odit eorum quae fecit: naturarum enim, non vitiorum conditor, mala quae odit ipse non fecit. „So hasst Gott auch nichts von dem, was er erschaffen hat; denn er ist der Schöpfer der Natur und nicht der Laster, er hasst die Übel, die er nicht erschaffen hat“ (Tract. Ev. Jo. 110,6; PL 35, 1924).

Synchrone Analyse

323

11,25 geht vom Gedanken der Schöpfung zu dem der Erhaltung des Geschaffenen über; auch diese wird gesehen als eine Tat des Willens Gottes (σὺ ἠθέλησας). Auffällig ist in 11,25b die Verwendung von διατηρέω, das in der Bedeutung „bewahren, erhalten“ dem klassischen Griechisch fremd ist (vgl. Weish 16,26). Hier zeigt sich die Vorstellung, dass Gott beständig in seiner Schöpfung wirkt, um sie in ihrer Existenz zu erhalten, zu der er sie erschaffen hat (Weish 1,14). Gott erscheint in 11,26 als δεσπότης φιλόψυχος „Gebieter (und) Freund des Lebens“, und gerade deshalb schont er (φείδει) alles (πάντων ist hier als Gen. neutr. plur. zu verstehen, wie das darauffolgende σά zeigt). 11,26 bildet einen Parallelismus zu 11,23a; aber während in 11,23 die Liebe Gottes mit seiner Allmacht begründet wird, bildet in 11,26 die Zugehörigkeit von allem zu Gott den Grund: „denn alles ist dein“ (vgl. eine ähnliche Vorstellung in 1Chr 29,11.14.16). Das Verb φείδομαι kommt in der Jona-Erzählung vor (Jona 4,11: Gott verschont Ninive), hat hier in Weish 11,26 aber eine größere Reichweite: Gott schont alles, was existiert. Das Substantiv δεσπότης „Gebieter“ bezeichnet zunächst den Hausherrn und in allgemeinerem Sinn den absoluten Herrscher und wird in Weish 6,7; 8,3, 13,3.9 auf Gott angewandt. Aufschlussreich dazu ist ein Text von Philon (Mut. 18–19, wonach die BezeichnungGottes als δεσπότης (statt θεός) für die Unverständigen bestimmt sei. Gewiss ist Gott ein unbeschränkter Herrscher, aber er verhält sich nicht wie ein Tyrann, sondern wie ein „Freund des Lebens“, ein Hausvater, der höchste Rücksicht auf das Leben seiner Untergebenen nimmt und es achtet. Mit γάρ wird auf einen weiteren Grund für die Barmherzigkeit Gottes verwiesen: Das πνεῦμα Gottes wird ἄφθαρτον „unverderblich“ genannt, mit einem deutlichen Rückverweis auf die ἀφθαρσία in Weish 2,24. Der Geist Gottes ist also die Gewähr für Unverderblichkeit und der Gegensatz zu dem in 11,20 genannten zerstörerischen πνεῦμα. Dieser Geist Gottes ist ἐν πᾶσιν „in allem“; dass hier ein Neutr. plur. gemeint ist, wird durch τι in 11,24b (vgl. auch 11,25a) angezeigt. Die Anwesenheit des Geistes ist also nicht auf die Menschen einzugrenzen. Der mit διό „darum“ beginnende Vers 12,2 bildet einen zusammenfassenden Abschluss des ganzen Abschnitts 11,15 – 12,2. Zunächst schaut 12,2a auf die Ägypter zurück, die Gott κατ’ ὀλίγον „jeweils nur wenig“ bestraft; der Verfasser denkt dabei wohl an die zehn Exodus-Plagen. 12,2b stellt eine Anwendung des in 11,15–16 genannten und in 11,17–20 weiter veranschaulichten Prinzips dar: Die Ägypter werden zurechtgewiesen (zu νουθετέω vgl. 11,10; 12,26), damit sie sich an die von ihnen begangenen Sünden erinnern, oder richtiger: damit sie sich erinnern, womit sie gesündigt haben. Zum Thema „Erinnerung“ im Buch der Weisheit s. u. zu 16,6.11. Indem der Verfasser in 12,2c das Thema „Glaube“ einführt, bereitet er auf einen neuen Gedankengang vor. 12,2c kehrt zwar zum Thema „Umkehr“ zurück, aber mit einer neuen Ausrichtung. Auch für die Ägypter gibt es die Möglichkeit der Reue: „sich vom Bösen abzuwenden“ (12,2c) ist das erste Ziel der Zurechtweisung Gottes, den Glauben an ihn auch in denen zu wecken, die ihn ablehnen, ist das Endziel des Handelns Gottes, das hier am Ende des ersten Abschnitts im Exkurs über die Menschenfreundlichkeit Gottes genannt wird. In 12,2c kommt auch zum ersten Mal im Buch das Wort πιστέυω „glauben“ vor (s. dazu oben Anmerkung zum Text). Glauben bedeutet demnach „sich vom Bösen abwenden“, aber auch, in der Geschichte die Anwesenheit dieses „Herrn“ zu erkennen, mit dessen Anrufung im Vokativ κύριε 12,2c und der erste Teil des Exkurses schließt.

11,26: Gott, ein Leben liebender Gebieter

12,1: Gottes Geist ist in allem

12,2: Das pädagogische Handeln Gottes

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Weish 11,15 – 12,2

Diachrone Analyse 11,15–16 Die Erwähnung der ἑρπετὰ καὶ κνώδαλα (s.o.) lässt erkennen, dass es sich hier um

einen Gemeinplatz der Polemik gegen den ägyptischen Tierkult handelt, die nicht auf jüdische Literatur beschränkt war, sondern auch von den griechischen Philosophen geübt wurde (s.u. zu Weish 15,14–19). Ex 7,4–5 ist sicher eine der Stellen, die den Verfasser zu der Einsicht in 11,16 angeregt haben: καὶ ἐπιβαλῶ τὴν χεῖρά μου ἐπ’ Αἴγυπτον … σὺν ἐκδικήσει μεγάλῃ καὶ γνώσονται πάντες … In Weish 11,16 geht es jedoch nicht um die Anerkennung der machtvollen Gegenwart Gottes, wie in dem Exodustext, sondern um das Erkennen, dass „man durch das bestraft wird, wodurch man sündigt“. Darin liegt die Originalität des Verfassers, gerade wo er sich dem biblischen Text ganz treu zeigt. Gott sucht nach seiner Auffassung nicht Rache oder Bestrafung an sich, sondern will, dass die Sünder sich ihrer Sünde bewusst werden. Das in 11,16 formulierte Prinzip ist nicht, wie es bei oberflächlichem Hinsehen erscheinen könnte, das sog. Gesetz der Talio (vgl. Ex 21,23–25; Lev 24,19–20; Dtn 19,21), da es ja nicht darum geht, gegen Menschen begangene Vergehen zu bestrafen, sondern solche gegen Gott; nach dem Verfasser geschieht die Bestrafung des Schuldigen noch in dieser Welt. Auch handelt es sich nicht um eine Anwendung des Prinzips der Vergeltung, das der Weisheit Israels wohlbekannt ist: „Wer seinem Nächsten eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“ (Spr 26,27LXX; Koh 10,8), auch wenn dieser Aspekt im Horizont von Weish 11,16 nicht völlig fehlt. Es liegt hier jedoch keine Proportionalität zwischen Schuld und Strafe vor; denn die begangene Schuld ist viel schwerer als die erlittene Strafe. Es geht auch nicht um eine Anwendung des rabbinischen Prinzips „Maß für Maß“ (vgl. Mt 7,2) oder darum, eine Art innerweltlicher Vergeltung auszudrücken; die die Strafe ist viel weniger streng als die Schuld es erfordern würde (vgl. Weish 12,25). Der Grund dafür wird in den folgenden Versen erläutert und liegt in der Barmherzigkeit Gottes. Die einzige Entsprechung, die es hier gibt, ist die zwischen den zum Sündigen verwendeten Mitteln und den Mitteln, derer Gott sich zum Strafen bedient, d.h. der Elemente des Kosmos, hier der unansehnlichsten Tiere, Kriechtiere und Insekten. Gerade auf diesen Aspekt – die Elemente des Kosmos – richtet sich die Aufmerksamkeit des Verfassers.12 11,17b: GeDie Wendung ἐξ ἀμόρφου ὕλης (11,17b) ist eine philosophische Prägung und staltloser Stoff findet sich als solche zum ersten Mal in einem Kommentar des Poseidonios von Apameia zu Platons Timaios: „Poseidonios behauptet demgegenüber, dass die Substanz des Universums ebenfalls ein unbestimmter und gestaltloser Stoff sei (ὕλην ἄποιον καὶ ἄμορφον)“;13 erst die späteren Doxographen sprechen Platon diese Auffassung zu. Im Zitat des Poseidonios bezeichnet ἄμορφος nicht so sehr eine ewige Materie, als vielmehr ein unbestimmtes Substrat jedes Wesens. Nach stoischer Vorstellung entsteht die Welt, wenn die Gottheit der Materie, die als ewig 12 Vgl. GILBERT, La filantropia di Dio, 7–11, und besonders „On est puni par où l’on pêche“, passim. GILBERT verweist auf Test. Gad 5,10 als mögliche Parallele zu Weish 11,16 (vgl. schon LARCHER, Etudes, 131–132), wenn auch in Test. Gad die Ähnlichkeit zwischen Schuld und Strafe fehlt; dasselbe lässt sich bei PHILON, Mos. I, 98 beobachten. 13 Vgl. EDELSTEIN, Louis – KIDD, Ian Gray, Posidonius, 1. The Fragments, Cambridge: University Press 1972, 99, frg. 92; vgl. LARCHER, Etudes, 117.

Diachrone Analyse

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und ungeschaffen betrachtet wird, eine „Form“ gibt. Diese Vorstellung wird von Philon aufgegriffen, der die Wendung ἄμορφος ὕλη in Spec. I, 328 verwendet, jedoch innerhalb der jüdischen Auffassung, die einen Schöpfer annimmt, der, wie Gen 1 veranschaulicht, von seiner Schöpfung verschieden ist. Diese philosophischen Vorstellungen scheinen jedoch dem Verfasser des Weisheitsbuches fremd zu sein;14 er denkt eher an das Urchaos, das in Gen 1,2 beschrieben wird, und sucht den Genesistext mit Hilfe von Ausdrücken wiederzugeben, die aus der platonischen Philosophie entliehen sind, ohne jedoch deren Voraussetzungen zu übernehmen.15 Falls ἄμορφος in Weish 11,17 im Sinne des Poseidonios gebraucht ist, wollte der Verfasser wahrscheinlich seine Leserschaft verstehen lassen, dass Gott seine Schöpfertätigkeit nach seinem Belieben ausüben kann, indem er ein gemeinsames Substrat benutzt, d.h. die den Wesen zugrunde liegende Natur, etwas, das in Potenz schon die vier Elemente des Kosmos enthält. Von Weish 1,14 her könnte man sagen, dass die ἄμορφος ὕλη der – ebenfalls von Gott erschaffene – noch gestaltlose Stoff ist, der durch seine „Hand“ ins Dasein gebracht wird (εἰς τὸ εἶναι); diese Hand Gottes ist, wie schon gesagt wurde, παντοδύναμος, sie umfasst alle Vermögen Gottes. Anders als nach der Auffassung Philons ist Gott also unmittelbar der Schöpfer von allem und nichts ist seiner Allmacht entzogen, nicht einmal das Urchaos.16 Bei der Beschreibung der Ungeheuer in 11,17c-19 hat der Verfasser vielleicht 11,17c-19 mythologische Ungeheuer im Sinn wie die flammenspeiende Chimäre oder den Basilisken, dessen Anblick den Tod bringt, oder die Gorgone, deren Anblick in Stein verwandelt,17 oder auch den biblischen Leviatan (Ijob 40,25 – 41,26); aber Gott bedient sich nicht solcher mythologischer Wesen, falls sie denn überhaupt existiert hätten. Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei Philon (vgl. Mos. I, 109–110: Gott hätte Ägypten vernichten können, wenn er sich der dort schon lebenden wilden Tiere bedient hätte; darunter werden, wie im Buch der Weisheit, die Bären und die Löwen genannt. Die Trias „Maß und Zahl und Gewicht“ hat juridischen Charakter und stammt 11,20d aus dem griechischen Sprachraum; sie ist eine seit Platon (Leg. 757b 3–4; vgl. Phileb. 55e und Resp. 602; Xenophon, Mem. 1,1–9) in der Schule bekannte Formel, die sich auch bei den Tragikern findet (vgl. Sophokles, frg. 432 Pearson; Euripides, Phoen. 541–542). Nur Platon bietet die drei Ausdrücke in der gleichen Reihenfolge wie

14 Eine Auseinandersetzung mit den Auffassungen früherer Kommentatoren bietet GRIMM, Weisheit, 212. 15 Siehe die ausführlichen Diskussionen bei LARCHER, Sagesse III, 677–680; GILBERT, „La relecture de la Genèse“, 416–418; SCARPAT, Sapienza II, 375–381. SCARPAT schließt: „Der Verfasser von Weish dachte wohl nicht daran, dass Platon ihn so sehr beschädigt haben könnte, dass einige Kommentatoren ihn verdächtigen würden, er glaube an eine ewige Materie!“ (379). Ein Beweis für die Richtigkeit dieser Beurteilung liegt schon darin, dass die Kirchenväter keinerlei Verlegenheit gegenüber Weish 11,17 empfanden. 16 „Der Verfasser zeigt sich, im Unterschied zu Philon, nicht mit philosophischen Spekulationen beschäftigt, auch nicht mit gewaltsamen Harmonisierungen zwischen der griechischen Philosophie und der traditionellen Lehre; ihn interessiert nur die überkommene Lehre, die er auch mit dichterischen Worten und mit Begriffen der griechischen Philosophie darlegen kann“, SCARPAT, Sapienza II, 381. 17 Zu den Einzelheiten vgl. GILBERT, La filantropia di Dio, 15–16.

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11,21–23

11,24a: Gott liebt seine Geschöpfe

Weish 11,15 – 12,2

Weish 11,20d und an der genannten Stelle der Gesetze auch im gleichen Kasus (im Dativ). Allerdings ist der Kontext bei Platon ganz anders: In den Gesetzen bezieht Platon die Trias auf die Gleichheit im Staat und nicht auf Gott. Es ist deshalb schwierig, an eine direkte Abhängigkeit von Platon zu denken. Eher könnte man annehmen, der Verfasser entleihe die Trias Platons unter dem Einfluss von Jes 40,12LXX, wo von Gott als Schöpfer mit den gleichen Begriffen (ἐμέτρησεν, σταθμῷ) gesprochen wird. Die jüdische Literatur wird sich dieser Formel in der Regel bedienen, um die Milde und das maßvolle Verhalten Gottes auch gegenüber Gottlosen auszudrücken (vgl. 4Esdr 4,36–37; Test. Naft. 2,3): Das Maß Gottes ist gerade seine Barmherzigkeit, manchmal auch unter dem Anschein der Strenge. Interessant ist, wie Philon die Triade in Somn. II, 192–194, gegen Protagoras benutzt, der den Menschen als Maß aller Dinge betrachtete, während das doch nur Gott ist.18 In 11,21–23 ist der Gedankengang durchweg biblisch. Besonders in 11,22 findet er Grundlage und Anregung in den Texten der Schrift (s.o.). Dies erscheint als noch bezeichnender nach der Erwähnung der „gestaltlosen Materie“ und von „Maß, Zahl und Gewicht“, die sich eher der griechischen Kultur verdanken. Jedoch ist die hier ausgeführte Verknüpfung der Allmacht Gottes mit seiner Barmherzigkeit ein im AT nicht sehr häufiges Thema (vgl. 14,17–20; Ps 61[62MT],12–13), das gehäuft erst in jüngeren Texten wie Sir 2,18 und 18,1–14 vorkommt; dort jedoch wird vor allem die Schwäche der Menschen hervorgehoben, mehr noch als die Barmherzigkeit Gottes. Die Wendung παρορᾶς ἁμαρτήματα „du siehst an den Verfehlungen vorbei, siehst über… hinweg“ ist in der Bibel einmalig (inhaltlich ähnlich Apg 17,30). Gott sieht über die Sünden der Menschen hinweg εἰς μετάνοιαν, um sie „zur Umkehr“ zu ermutigen. Dieser Gedanke steht der Erzählabsicht des Buches Jona nahe. 11,24a ist die einzige Stelle in der LXX, an der ἀγαπάω für die allumfassende Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen verwendet wird, und auch der einzige Text im AT, in dem ausdrücklich gesagt wird, dass Liebe der Grund ist, weshalb Gott die Welt geschaffen hat; dabei wird eine persönliche Anteilnahme Gottes an der Schöpfung betont (s. auch den Kommentar zu 11,24b-c). Auch in der griechischen Welt gibt es keine hiermit vergleichbaren Texte; Platon spricht vom Gutsein des Demiurgen, der ἀγαθός genannt wird, aber nicht als einer beschrieben wird, der die Schöpfung liebt, auch wenn diese am Gutsein des Demiurgen teilhat (vgl. Tim. 29de; Philon, Opif. 21). Dieses Thema wurde, wenn auch ohne das Verb „lieben“, bereits in Weish 1,13 angekündigt; im NT s. Joh 3,16. Es handelt sich also um eine Liebe, die den Abscheu und die Verachtung ausschließt, die aus der Macht des Herrschers über das Universum erwächst, aus seinem Willen (vgl. ἠθέλησας 11,25a), aus seinem Mitempfinden gegenüber seinen eigenen Geschöpfen („alles ist dein“ 12,26; vgl. 1Chr 29,11.14.16), eine Liebe, die auf Umkehr zielt (vgl. 11,23b) und die sich als die Absicht zeigt, den Menschen zu erziehen, auch durch Erprobungen, damit er umkehre und glaube „an dich, Herr“ (vgl. 12,2c); es ist eine Liebe, die auf dem Willen Gottes gründet (11,25a) und jede Form von Hass oder Missachtung ausschließt (11,24b-c). Auffällig ist die für das alexandrinische Juden-

18 Eine Übersicht über die Ausführungen Philons bietet NIELSEN, „La misura divina“, 11– 16.

Diachrone Analyse

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tum typische universale Betrachtungsweise: Die Barmherzigkeit und Langmut, die den Gott Israels kennzeichnen (Ex 34,6–7) werden auf alle Menschen ausgedehnt, ja sogar auf alles Geschaffene (vgl. im NT Apg 17,30; Röm 2,4–6; 2Petr 3,9).19 In 11,24c entfernt sich der Verfasser von der Bedeutung, in der andere bibli- 11,24b-25 sche Texte μισέω verwenden: Nach einer in der Bibel weit verbreiteten Vorstellung kann Gott hassen und hasst tatsächlich, auch wenn es sich dabei um einen „Hass“ handelt, der in Wirklichkeit Gottes Abweisung gegenüber dem Bösen ausdrückt; entsprechende Stellen sind zahlreich.20 Nur in Weish 12,4a, der einzigen Stelle, an der μισέω nochmals im Buch vorkommt, wird gesagt, dass Gott jemanden hasst. Weish 11,24 ist so die einzige Stelle im AT, an der in so ausdrücklicher Weise ein Hass Gottes gegenüber irgendeinem Geschöpf ausgeschlossen wird. Der Unterschied zwischen dem Gedanken des Verfassers und der Sprechweise in Qumran fällt auf, vgl. z.B. 1 QS I,4 „alles zu hassen, was er [Gott] verabscheut“; I,10 „alle Söhne der Finsternis zu hassen, jeden gemäß seiner Schuld“; CD II,13 „die er (Gott) hasst, führt er in die Irre“. Die Vorstellung der Schöpfung als Ergebnis eines „Rufs“ Gottes ist zum Teil schon im AT geläufig (Jes 41,4; 48,13), noch klarer bei Philon (insbesondere Spec. IV, 187) und im NT (Röm 4,17). Die chiastische Struktur von 11,25 verbindet das Wollen Gottes, das seine Schöpfung im Dasein bewahren will (11,25aβ), mit dem Ruf Gottes ins Dasein (11,25bα), der diese Bewahrung sichert. 11,25 drückt in einer dichten und prägnanten Sprache eine Vorstellung aus, die sich in der hebräischen Bibel nur angedeutet findet (vgl. Ps 103[104MT],29). Die Auffassung, dass der Geist Gottes in allem ist, kann von einem Text wie 12,1 Ps 103[104MT],28–30 (vgl. Ijob 34,14 und Jes 63,11–14) beeinflusst sein, aber sie ist sicherlich vor einem stoischen Hintergrund zu sehen. Ohne jemals die für die Stoiker typische pantheistische Vorstellung zu übernehmen, bringt der Verfasser hier die Gegenwart Gottes durch seinen Geist zum Ausdruck; dieser ist gleichsam personifiziert (Weish 1,7) und wird Quelle des Lebens für alles, was ist, von dem Augenblick an, da er darin wohnt. Das πνεῦμα kann also nicht eingeschränkt werden auf die Vorstellung der Seele, die Gott allen Menschen einhaucht (vgl. Weish 15,11).21 Von daher ist es einleuchtend, dass auch das Thema der Universalität, das den ganzen Abschnitt durchzieht (vgl. die Wörter mit der Wurzel παν- in 11,20d.21.23.24.26; 12,2), unter dem Einfluss des Stoizismus gewachsen ist und so die universalistische Betrachtungsweise, die das Judentum in der Diaspora kennzeichnet, entscheidend gefördert hat.

19 Zu einem „ökologischen“ Verständnis von Weish 11,24 vgl. ZENGER, „Du liebst alles, was ist“. Zu den patristischen relectures dieser Stelle vgl. LARCHER, Sagesse II, 694; DE CARLO, „Ami, infatti, gli esistenti tutti“, 423–432. 20 Vgl. MICHEL, Otto, μισέω, ThWNT IV, 687–698. 21 Anders SCARPAT (Sapienza II, 430–431), der ἐν πᾶσιν als maskulinen Plural versteht mit der Begründung, andernfalls erhalte der Satz eine unübersehbar stoische Bedeutung, die für einen Juden in Alexandria unannehmbar sei. Vgl. VAN IMSCHOOT, „Sagesse et Esprit“; GILBERT, „L’Esprit Saint“. Die Studie von VERBEKE, L’évolution de la doctrine du pneuma, 223–236, zeigt Ähnlichkeiten und Unterschiede zur stoischen Vorstellung vom πνεῦμα auf; Verbeke stellt fest, dass im Buch der Weisheit keine ausdrückliche philosophische Durcharbeitung dieses Begriffes vorliegt.

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Weish 12,3–21

Weish 12,3–21: Die Milde Gottes gegenüber den Kanaanäern und die Lehren daraus 3 Auch die einstigen Bewohner deines heiligen Landes nämlich 4 hasstest du, weil sie die widerlichsten Praktiken ausführten, Werke von Magie und unheilige Einweihungsriten, 5 erbarmungslose Mörder von Kindern und eine Eingeweide essende Mahlgemeinschaft, die Menschenfleisch und Blut verzehren als Eingeweihte mitten in einer Orgie, 6 und, (obwohl) Eltern, eigenhändige (Mörder) hilfloser Leben, (sie) wolltest du ausrotten durch die Hand unserer Väter, 7 damit das bei dir von allen am meisten geehrte Land eine entsprechende Ansiedlung von Kindern Gottes aufnehme. 8 Jedoch auch diese hast du, weil sie Menschen sind, geschont und als Vorausläufer deines Heeres Wespen gesandt, damit sie sie nach und nach ausrotteten. 9 Es wäre dir nicht unmöglich gewesen, die Gottlosen in einer Schlacht den Gerechten in die Hände zu geben oder durch entsetzliche Tiere oder ein schroffes Wort sie auf einmal zu vernichten; 10 indem du sie aber (nur) nach und nach richtetest, gabst du Raum zur Umkehr, ohne zu verkennen, dass ihr Geschlecht böse und ihre Bosheit angeboren war und dass sich ihr Denken nicht ändern würde in Ewigkeit. 11 Es war nämlich eine von Anfang an verfluchte Nachkommenschaft; aber nicht, weil du jemanden fürchtetest, gabst du ihnen Straflosigkeit bei dem, was sie sündigten. 12 Wer nämlich wird sagen: „Was hast du getan?“ Oder wer wird sich deinem Urteilsspruch entgegenstellen? Wer wird dich anklagen wegen des Untergangs von Völkern, die du selbst geschaffen hast? Oder wer wird kommen, um dich zu besänftigen, als Anwalt ungerechter Menschen? 13 Außer dir gibt es nämlich keinen Gott, der sich um alles sorgt, dass du (noch) zeigen müsstest, dass du nicht ungerecht gerichtet hast. 14 Weder ein König noch ein Fürst wird dich zur Rede stellen können wegen derer, die du gestraft hast. 15 Da du aber gerecht bist, verwaltest du das All gerecht; den zu verurteilen, der nicht verdient, bestraft zu werden, betrachtest du als unvereinbar mit deiner Macht.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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16 Deine Kraft nämlich ist die Grundlage von Gerechtigkeit, und dass du über alles gebietest, lässt dich alle verschonen. 17 Kraft beweist du nämlich, wenn man dir die Vollkommenheit deiner Macht nicht zutraut, und bei denen, die sie erfahren haben, strafst du die (anmaßende) Auflehnung. 18 Du aber, der über Kraft gebietet, richtest mit Milde, und mit großer Nachsicht regierst du uns. Dir steht nämlich, wann immer du willst, das Vollbringenkönnen zur Verfügung. 19 Du hast aber dein Volk durch solche Werke gelehrt, dass der Gerechte menschenfreundlich sein soll, und hast deinen Kindern die gute Hoffnung geschenkt, dass du bei Verfehlungen (die Möglichkeit zur) Umkehr gibst. 20 Wenn du nämlich (schon) die Feinde deiner Kinder, obwohl sie den Tod verdient hatten, mit so großer Achtsamkeit und Nachsicht straftest, indem du ihnen Zeit und Raum gabst, sich von ihrer Schlechtigkeit abzuwenden, 21 mit wie großer Umsicht (erst) hast du deine Kinder gerichtet, deren Vätern du Eide und Vertragszusicherungen guter Verheißungen gegeben hattest!

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 4

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Mit SCARPAT (Sapienza II, 456) ist in 12,4a ἔχθιστα als Attribut zu ἔργα in 12,4b zu verstehen und das Komma nach πράσσειν in den Editionen von ZIEGLER und RAHLFS zu entfernen. Objekt zu μισήσας sind „die einstigen Bewohner“ in 12,3. In 12,5b ist nur in wenigen Minuskeln das Adjektiv *σπλαγχνοφάγον (Akkusativ Sing.) mit dem Akkusativ θοῖναν verbunden (vgl. ZIEGLER) und bedeutet, wörtlich übersetzt „ein eingeweideessendes Mahl“, eine Hypallagé („Vertauschung“: eine rhetorische Figur, die darin besteht, dass die grammatische Beziehung eines Wortes zu einem anderen Wort führt als die inhaltliche, semantische Beziehung), sinngemäß: „ein Mahl, bei dem Eingeweide verspeist werden“; σπλαγχνοφάγος ist außerhalb des Buches der Weisheit nur noch in Ps-Plutarch, Fluv. 5,3 = 282b, in Bezug auf den Adler, der die Leber des Prometheus frisst, belegt. Die übrigen Textzeugen, insbesondere die Majuskeln, lesen demgegenüber σπλαγχνοφάγων, verbinden das Wort also mit dem folgenden ἀνθρωπίνων σαρκῶν, was jedoch eine lectio facilior zu sein scheint: „ein Mahl von Essern menschlicher Eingeweide und Blut“, vgl. SCARPAT, Sapienza II, 460; vgl. die Lesart von Lat: comestores viscerum, die eher auf eine Lesart σπλαγχνοφάγους verweist: So möchten auch CORNELY, GOODRICK, GILBERT lesen. Nimmt man die Lesart bei ZIEGLER (σπλαγχνοφάγον) an, dann ist der Gen. Plur. σαρκῶν eher mit dem folgenden καὶ αἵματος zu verbinden: „ein Mahl mit Menschenfleisch und Blut, wo man Eingeweide isst“. Aber die Konstruktion des ganzen Kolons erscheint unnatürlich. Auch zu 12,5c sind viele Varianten überliefert, worin sich die Verlegenheiten der Autoren der Handschriften und alten Übersetzungen zeigen. Liest man den Text wie ZIEGLER: ἐκ μέσου μύστας θιάσου, dann ist von den Eingeweihten (μύσται) mitten in ihren orgiastischen Feiern (ἐκ μέσου θιάσου) die Rede; θίασος kommt in der LXX nur

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Weish 12,3–21 noch in Jer 16,5 vor und bezeichnet an sich zunächst den Festzug des Dionysos (lat. Bacchus) und die dionysischen Orgien. Eine andere Lösung schlägt FICHTNER vor, ihm folgen REESE und WINSTON: Er liest καὶ αἵματος ἐκ μέσου μύστας θιάσου als doppeltes hyperbaton (gespreizte Wortstellung: zwei syntaktisch zusammengehörende Wörter werden durch einen Einschub getrennt und Voranstellung des Genitivs): „und bei einer blutigen Festfeier Eingeweihte“. Das Wort ἔμφυτος bedeutet „der Natur entsprechend, konnatural, angeboren“; im griechischen Sprachgebrauch wird es bei philosophischen Diskussionen über angeborene oder erworbene Tugend benutzt (vgl. die von PHILON in Spec. III, 138, vorgenommene Unterscheidung). In 12,10d hängt der Objektsatz ὅτι οὐ μὴ ἀλλαγῇ von οὐκ ἀγνοῶν in 12,10b ab. Die doppelte Verneinung οὐ μη bewirkt eine Verstärkung der Verneinung „ganz sicher nicht“; ἀλλάσσομαι hat hier intransitive Bedeutung: „(nicht verkennend,) dass ihr Denken (zu λογισμός siehe den Kommentar zu 1,3.5) sich sicher nicht ändern wird“. Das nur hier in Weish vorkommende Substantiv κατάστασις in 12,12d hat eine juristische Bedeutung, es bezeichnet die „Wiederherstellung“ einer gestörten Ordnung. Die Wendung εἰς κατάστασίν σοι bedeutet demnach „um etwas, das dich betrifft, wieder in Ordnung zu bringen“, „um dich zu besänftigen“ (vgl. SCARPAT, Sapienza II, 435–437). Das Wort ἔκδικος (es kommt in der LXX sonst nur noch in 4Makk 15,29 und Sir 30,6 vor) schwankt in seiner Bedeutung zwischen „Anwalt, Verteidiger“ und „Rächer“. Die erstgenannte Bedeutung scheint hier besser in den Kontext zu passen: Keiner wird daran denken können, Gott gegenüber als Verteidiger ungerechter Menschen aufzutreten. SCARPAT führt gute Argumente dafür an, dass ἔδκικος ein Mitglied einer Gruppe von Beamten bezeichnet, die in der römischen Welt als defensores civitatis bekannt waren, Justizbeamte, die bei internationalen Streitigkeiten die Interessen einer Stadt vertraten (vgl. Sapienza II, 433–434). Die lateinische Übersetzung von 12,15b ipsum quoque qui non debet puniri condemnas hat den Kirchenvätern theologische Schwierigkeiten bereitet, da sie fast blasphemisch klingt, vgl. LARCHER, Sagesse II, 725. Die Edition von ZIEGLER liest ἰσχὺν γὰρ ἐνδείκνυσαι: „denn du beweist Kraft“; aber zu ἐνδείκνυσαι gibt es mehrere Varianten, ein Zeichen für die Schwierigkeiten, die diese Lesart schon den Schreibern verursachte (vgl. ZIEGLER; KUHN liest ἐκδείκνυται mit der Handschrift 755). Es folgt das Partizip ἀπιστούμενος „einer, der nicht glaubt“, dem in vielen Kodizes der Artikel (ὁ) vorangestellt ist, nicht jedoch in B Sc V mit O und einigen anderen Minuskeln; A stellt ὅτι voran. Wenn der Artikel ursprünglich wäre, könnte man der Übersetzung von LARCHER folgen: „Kraft zeigt (ἐκδείκνυται) der, der nicht an die Vollkommenheit der Macht glaubt“; in diesem Falle spräche das Kolon von einem Mächtigen der Erde, der seine Kraft unter Beweis stellt, sobald man nicht glaubt, dass er wirklich mächtig ist; der Verfasser könnte dabei an den Pharao gedacht haben. In Wirklichkeit genügt es jedoch, ἀπιστούμενος als Passiv zu verstehen (vgl. SCARPAT, Sapienza II, 473) und auf Gott zu beziehen: „(du,) wenn man dir misstraut“. Das Kolon kann dann so übersetzt werden: „Du beweist (deine) Kraft, wenn man dir Vollkommenheit der Macht nicht glaubt (bzw. wenn man eine vollkommene Macht nicht zutraut)“. Das zweite Kolon von 12,17 ist ebenfalls schwierig: Fast alle Textzeugen bieten die Verbform ἐξελέγχεις (S* korrigiert zu ἐξελέγχεται) mit der Bedeutung „(jmdn. einer Straftat) überführen“ (das Kompositum kommt sonst in der LXX nur noch in 4Makk 2,13 und Mi 4,3 vor, immer im Aktiv); Objekt ist τὸ θράσος die „Anmaßung, Tollkühnheit“; in der LXX kommt θράσος vor allem in den Makkabäerbüchern (1–3Makk) vor. Das Verb ἐξελέγχω wird in der Regel mit doppeltem Akkusativ oder mit einem Partizip konstruiert; die Verbindung ἐξελέγχω τι ἔν τινι scheint dem Buch der Weisheit eigen zu sein. Diese Überführung findet statt ἐν τοῖς εἴδοσιν „bei denen, die (sie) erfahren haben“ (vgl. Weish 15,2); auch dazu gibt es verschiedene Varianten, vgl. den Apparat

Synchrone Analyse

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bei ZIEGLER. Als Sinn ergibt sich: „und diejenigen, die (deine vollkommene Macht) erfahren haben, überführst du ihrer Anmaßung“, d.h., Gott verurteilt die Anmaßung von solchen, die, wie die Ägypter beim Exodus, die ersten Zeichen seiner Macht erfahren haben, aber sich weigerten, sie anzuerkennen. 19 Zu dem Adjektiv εὔελπις siehe die Erörterung bei SCARPAT, Sapienza II, 438–440, und seinen Beitrag „La „buona speranza“ in Sap 12,19“. Er vermutet, dass der Verfasser diesen Ausdruck gewählt hat, um die Wortverbindung ἀγαθὴ ἐλπίς, die typisch ist für die Mysterienkulte, zu vermeiden und um zu verdeutlichen, dass die Hoffnung nicht eine Errungenschaft des Mysten nach einem Läuterungsprozess ist, sondern ein freies Geschenk Gottes. Philon bezeichnet den Menschen als εὔελπις in Abr. 8–9.11.14.16; nur der εὔελπις sei wirklich ein Mensch (Abr. 10), weil er auf Gott hofft. Das Kolon ὅτι διδοῖς ἐπὶ ἁμαρτήμασιν μετάνοιαν kann man als Objektsatz verstehen, in dem ἐπί die in übertragenem Sinn lokale Bedeutung „bei, im Falle von“ hat: „Du hast deine Kinder mit guter Hoffnung erfüllt, (die darin besteht,) dass du bei Verfehlungen (die Möglichkeit zur) Umkehr schenkst“, vgl. SCARPAT, Sapienza II, 442–443. 20 Die von RAHLFS und ZIEGLER gewählte Medium-Form ἐτιμωρήσω (2. sing. aor.) bezeugt Kodex A (in Weish 18,8a bieten alle Handschriften diese Wortform), während die anderen Majuskeln B S V und viele Minuskeln die Aktiv-Form ἐτιμώρησας bieten; τιμωρέω hat im Medium wie im Aktiv die Bedeutung „sich rächen; bestrafen“. Das seltene Wort *δίεσις, wörtlich „Durchlassen“, das nur der Kodex S bietet, dem RAHLFS und ZIEGLER folgen, kann hier als „Geltenlassen, Nachsicht“ verstanden werden. Die anderen Textzeugen (B, Minuskeln, Syr, Arab) haben stattdessen (μετὰ … ) δεήσεως „(mit…) Gebet, Flehen“, wohl eine lectio facilior. GRIMM verweist zu deren Stützung auf Jes 65,2, wonach Gott geradezu flehentlich den ganzen Tag die Hände ausstreckt nach einem widerspenstigen Volk. SCARPAT (Sapienza II, 476–78) schlägt im Anschluss an eine Reihe von Minuskeln und Lat die Lesart διέσωσας „du hast gerettet“ vor (ENGEL, „Weisheit“, 2147). Dann würde der Text auf eine Rettungsaktion Gottes auch zugunsten der Feinde des Volkes Israel anspielen. 21 Das Substantiv ἀκρίβεια (Sir 16,25; 42,4; Dan 7,16) hat die Bedeutung „Genauigkeit, Sorgfalt“, im Kontext hier sicher mit einem positiven Beiklang „fürsorgliche Umsicht“; ἀκρίβεια kann aber auch die „Strenge“ des Richters bezeichnen (PHILON, Decal. 71; Post. 133).

Synchrone Analyse Vom Nachsinnen über die Milde Gottes gegenüber den Ägyptern geht der Verfas- 12,3–7: Die ser dazu über, seine Milde gegenüber den Kanaanäern zu betrachten, gegen die Sünden der Israel mehrmals kämpfen musste und deren Geschichte auf den ersten Blick ausge- Kanaanäer nommen blieb vom wohlwollenden Verhalten und der Menschenliebe Gottes, auf die erst in 12,8 hingewiesen werden wird. Außerdem scheint der Verfasser zu meinen, er müsse die Inbesitznahme des Landes durch Israel, ohne dass die Kanaanäer sich ihm gegenüber schuldig gemacht hatten, rechtfertigen. Dieses Thema wird nicht selten in der jüdischen Apologetik behandelt.22 Die Kanaanäer werden in 12,3 durch eine Umschreibung vorgestellt als „die einstigen Bewohner deines heiligen Landes“. Dieser Ausdruck verweist darauf, dass das Land Gott gehört; ohne „dein“ kommt „heiliges Land“ schon in Sach 2,16; 2Makk 1,7 vor; Jer 2,7; Ez 38,16; Joel 1,6 sprechen von „meinem“ Land, während Weish 9,7–8 schon die Heiligkeit Jerusalems erwähnt hatte. 22 Vgl. WINSTON, Wisdom, 238.

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Magie und Mysterienkulte

12,8–11: Gott straft, aber mit Milde

Weish 12,3–21

12,4–6 schildern die abscheulichen Praktiken, die den Kanaanäern zugeschrieben werden. Sie werden eingeleitet durch „du hasstest“ (μισήσας ist Sing. masc. Partiz. aor. akt.). Die Vorstellung, dass Gott jemanden hasst, ist biblisch, vgl. Hos 9,15; Mal 1,3 und besonders Ps 5,6. Hier liegt ein weiteres Beispiel dafür vor, dass der Verfasser gleich nach seinen Ausführungen über die Barmherzigkeit Gottes, der keines von allen seinen Geschöpfen hasst (11,24c), zur traditionellen Sprache zurückkehrt. Diese Barmherzigkeit Gottes schließt jedoch die Fähigkeit Gottes nicht aus zu „hassen“, d.h. die von den Menschen vollzogenen „widerlichsten Praktiken“ abzuweisen (ἐπὶ τῷ ἔχθιστα πράσσειν gibt den Grund des Hasses Gottes an). In 12,4 ist die erste der bei den Kanaanäern verurteilten Praktiken die Magie (ἔργα φαρμακειῶν), von der schon in Dtn 18,10–11 gesagt wurde, sie sei dem Herrn ein Gräuel; vgl. auch die Beschwörungspriester, die der Pharao nach Ex 7,11 herbeirufen ließ (συνεκάλεσεν … τοὺς φαρμακούς). Zu den φαρμακεῖαι im Sinne von Zauberei und götzendienerischen Praktiken vgl. Gal 5,20; Apok 18,23; 21,8; 22,15. Wie in Weish 17,7–10 erkennbar wird, denkt der Verfasser hier vor allem an die Beschwörungspriester seiner Zeit. Bei dem Ausdruck τελεταὶ ἀνόσιοι „unheilige Weihungen“ hat er die Feiern der Mysterienkulte im Blick (vgl. 14,15.23); in 1Kön 15,12 hingegen ist mit τελεταί die sakrale Prostitution gemeint, vgl. Hos 4,14 und Dtn 23,18. Bei Philon jedoch werden gerade die Mysterienfeiern mit dem Wortpaar τελεταὶ καὶ μυστήρια bezeichnet (vgl. Spec. I, 319); für den Verfasser handelt es sich um sakrilegische (ἀνόσιοι) Praktiken. So zielen die Anklagen gegen die Kanaanäer in Wirklichkeit auf zwei Bereiche, die nach dem Urteil des Verfassers die schlimmsten Eigenarten des hellenistischen Ägypten darstellen: die Magie und die Mysterienkulte. 12,5 ist dem Voranstehenden durch τε … καί verbunden und spricht von Kinderopfern, einer in verschiedenen biblischen Texten erhobenen Anklage: Dtn 12,31; Jer 19,5; Ez 16,20–21; vgl. noch Jer 7,31–32; Jes 57,5; 2Kön 17,31. 12,6a vervollständigt die Anklagepunkte: Die Eltern seien eigenhändige (αὐθέντας) Mörder von Lebewesen, die sich nicht helfen konnten. Erst im siebten Kolon 12,6b (von 12,4a an gezählt) findet sich das Hauptverb des in 12,2 begonnenen Satzes; das Kolon beschreibt den Beschluss Gottes, die Kanaanäer zu vernichten durch die Hand „unserer Väter“, d.h. der Israeliten, die aus Ägypten nach Kanaan kamen (vgl. Ex 23,31). Diese Entscheidung Gottes wird in vielen biblischen Texten ausgedrückt, vgl. Ex 23,23, und mit dem gleichen Verb ἀπόλλυμι in Num 33,52; Dtn 2,12; 7.23–24 u. ö.; der Verfasser lässt sich hier von der deuteronomistischen Theologie anregen (vgl. Jos 6,17–21). 12,7 nennt das Ziel des Handelns Gottes gegenüber den Kanaanäern: Das Land Israels („das bei dir von allen am meisten geehrte Land“) kann so „eine würdige Ansiedlung der Kinder Gottes“ aufnehmen; ἄξιος hat im Buch der Weish immer eine theologische Bedeutung (vgl. 1,16; 3,5; 6,16; 9,12 u. ö.). Zum Thema der Israeliten als „Söhne (und Töchter)“ Gottes vgl. Ex 4,22–23; Hos 11,1 und den Kommentar zu Weish 9,4. In diesem zweiten Teil des Unterabschitts 12,3–11 kehrt der Verfasser zum Leitprinzip des ganzen Exkurses zurück: Ungeachtet des Verhaltens des Menschen bestraft Gott die Schuldigen mit Milde, „nach und nach“ (12,8c.10a; vgl. Ex 23,29– 33), weil auch die Kanaanäer Menschen waren; in dieser Weise wird das in 12,2 dargelegte Prinzip einer stufenweisen (κατ’ ὀλίγον), da heilen sollenden Strafe aufgegriffen.

Synchrone Analyse

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Die Strafe, die die Kanaanäer „nach und nach“ trifft, wird in 12,8b erläutert durch die Erinnerung an die Aussendung der Wespen, die in der LXX in Ex 23,28 und Dtn 7,20 (im Plural σφηκίαι); Jos 24,12 (im Sing. σφηκία) genannt werden; die Wortform σφῆκες, vom Sing. *σφῆξ kommt anderswo in der LXX nicht vor. Das Verb ἐξολεθρεύω „völlig vernichten“ begegnet mehrfach in der LXX (vgl. Dtn 7,17) und ist wahrscheinlich eine Neufassung von Ex 23,30 in Bezug auf die fortschreitende Vertreibung der Kanaanäer aus dem Land. 12,9 beginnt mit einer Litotes („nicht unfähig“ = durchaus fähig) und antwortet auf den Einwand, dies sei doch eine armselige Weise des Eingreifens Gottes. Die Wendung am Ende von 12,9b ὑφ’ ἓν ἐκτρῖψαι bedeutet „auf einen Schlag vernichten“. Gott hätte dies tun können, nämlich alle Kanaanäer zusammen auf einen Schlag vernichten, indem er sie in einer Schlacht in die Hände der Israeliten gegeben oder sie zur Beute wilder Tiere gemacht (vgl. 11,18) oder sie durch sein unerbittliches Wort ausgerottet hätte (vgl. 18,15; zu ἀπότομος s. 5,22c). In 12,10a kehrt ein schon in 11,23 und 12,2 angeführtes zweites Prinzip wieder: Gott will den Schuldigen die Möglichkeit (τόπος) geben umzukehren, ihr Leben zu ändern. Erneut wird hier, wie schon in 11,23 und nochmals in 12,29, die μετάνοια genannt, einer der Schlüsselbegriffe des Exkurses (s. dazu die Anmerkung zum Text 11,23). 12,10b beginnt mit einer weiteren Litotes (οὐκ ἀγνοῶν), die konzessive („obwohl du durchaus wusstest“) oder kausale Bedeutung hat („da du genau wusstest“); Gott weiß, dass die Herkunft (γένεσις) der Kanaanäer böse ist, d.h., dass die Väter den Kindern ihre ganze Neigung zum Bösen weitergeben (12,10b); er weiß sehr wohl, dass ihre Bosheit ihnen angeboren ist (12,10c) und dass ihre Art zu denken sich nie ändern wird (12,10d). 12,11 betrachtet, möglicherweise in Bezugnahme auf die Verfluchung Hams/ Kanaans in Gen 9,25, diese Verfluchung nicht als Ursache des Hasses Gottes, sondern als einen weiteren Beweis der Bosheit der Kanaanäer. Dennoch hat Gott, obwohl er all das wusste, ihnen nicht die Möglichkeit zu Reue und Umkehr verweigert; das ist der Sinn von 12,11b. Das Imperfekt ἐδίδους verweist auf die Vergangenheit, in der Gott auch den Kanaanäern die Möglichkeit zur Umkehr gegeben hat. Die ist also bei Gott nicht als Anzeichen von Schwäche anzusehen; εὐλάβεσθαί τινα wird hier im Sinne von „vor jemandem Angst haben“ verwendet. 12,12 befindet sich in der Mitte des Abschnitts 12,3–18 (s.o.) und besteht aus 12,12: Das vier rhetorischen Fragen, die jeweils mit „wer?“ beginnen (τίς γὰρ … ἢ τίς … τίς Problem der δέ … ἢ τίς); die erwartete Antwort ist negativ: Niemand kann sich Gott entgegen- Freiheit Gottes stellen oder sich erlauben, sein Handeln zu beurteilen (τί ἐποίησας;). Das erste Kolon zitiert Ijob 9,12bLXX (vgl. Jes 45,9; Dan 4,35MT+Th), das zweite Kolon dagegen Ijob 9,19b;23 nur hier im Buch der Weisheit kommt κρίμα „Entscheidung, gerichtliches Urteil, Verurteilung“ vor; das Wort begegnet jedoch mehrfach in der LXX, ׁ ‫ מ‬übersetzt. Die Entscheidung Gottes lässt wo es in der Regel das hebräische ‫שפט‬ keinen Raum für einen Einspruch juridischer Art (vgl. Ijob 9,32).

23 Die Meinungen, ob Weish 12,12 vom LXX-Text des Ijob-Buches abhängt oder nicht, gehen auseinander: LARCHER (Etudes, 96–97) plädiert dafür, SKEHAN, „Studies in Israelite Poetry and Wisdom“, 200–203, spricht sich dagegen aus.

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12,13–15: Die Gerechtigkeit Gottes

12,16–18: Gerechtigkeit und Machtausübung Gottes

Weish 12,3–21

Das dritte Kolon stellt fest, dass niemand Gott verurteilen kann wegen der Vernichtung von Völkern, die er selbst erschaffen hat; hier besteht jedoch eine gewissen Spannung zu der am Beginn des Buches geäußerten Ansicht, dass Gott nicht den Untergang (ἀπώλεια) der Lebenden will (1,13). Das vierte Kolon ist so zu verstehen (s.o. die Anmerkungen zum Text): Wer kann als Anwalt (ἔδκικος) aufstehen, um deinen Zorn zu besänftigen (εἰς κατάστασίν σοι), um böse Menschen zu verteidigen? Gott ist doch die höchste Gerechtigkeit, und wer von ihm angeklagt wird, benötigt keinen Verteidiger. In diesem ersten Teil des Abschnitts Weish 12,13–18, der um den in 12,16a formulierten Leitgedanken kreist, beginnt der Verfasser auf die in 12,12 gestellten Fragen zu antworten. Außer dir gibt es keinen anderen Gott (vgl. Jes 44,6.8), der sich um alles sorgt (μέλει),24 oder, im Blick auf den Kontext, in dem von Menschen die Rede ist, besser: „um alle“. 12,13b ist deutlich: Gott hat es nicht nötig, die Gerechtigkeit seines Handelns nachzuweisen, es gibt ja keinen höher stehenden Gott, gegenüber dem er sich verantworten müsste. Kein König oder Mächtiger dieser Welt (12,14) wird ihn zur Rede stellen (ἀντοφθαλμέω „jemandem in die Augen schauen“ ist ein seltenes und gewähltes Wort, das vor Polybios [ca. 200–120 v. Chr.] nicht belegt ist) und ihn anklagen können, er habe die von ihm bestraften Menschen ungerecht verurteilt. 12,15 vervollständigt die Überlegung des Verfassers, indem er ein anderes, der Bibel wohlbekanntes Thema vertieft: die universale Gerechtigkeit Gottes (12,15a), die es ausschließt, jemanden zu verurteilen, der es nicht verdient hat (12,15,b-c). Damit antwortet der Verfasser auf einen möglichen Einwand: Könnte die Allmacht Gottes nicht Anlass zu willkürlichem Verhalten Gottes sein? In 12,15c wird die Macht Gottes (δύναμις; vgl. 1,3; 7,25) dargestellt als Grundlage der Gerechtigkeit Gottes. 12,16a benennt einen weiteren Grundsatz: Die Kraft (ἰσχύς) Gottes ist Anfang, d.h. Grundlage (ἀρχή) seiner Gerechtigkeit. Das kommt daher, dass Gott, im Unterschied zu den vorher genannten Königen und Herrschern (12,4) die Kraft in ihrer ganzen Fülle besitzt und daher seine Gerechtigkeit vollkommen unparteiisch ausüben kann, ohne irgendeine Notwendigkeit, seine Macht betonen zu müssen. Es geht um das gerade Gegenteil zu dem, was die Gottlosen erklärt hatten: „Unsere Kraft sei der Maßstab der Gerechtigkeit“ (2,11). Für sie besteht Gerechtigkeit im Gesetz des Stärkeren und in der Verachtung des Schwachen (2,11b); bei Gott dagegen entfaltet sich die Gerechtigkeit als Milde gegenüber dem Schuldigen. In dieser Weise wird der unausgesprochene Einwand von 12,15 beantwortet. 12,16b kehrt nochmals zu einem Gedanken zurück, der schon in 11,23.26 dargelegt wurde, und betont durch das zweimalige πάντων den allumfassenden Horizont des Handelns Gottes: In der Wendung πάντων δεσπόζειν „über alles gebieten“ kann πάντων sich auf das Universum beziehen, über das Gott seine Macht ausübt; in der Verbindung πάντων φείδεσθαι „alles schonen“ meint πάντων die Menschen, die er verschont. Die Allmacht Gottes ist also nicht nur Quelle der Gerechtigkeit, sondern eine Macht, die Gott, zusammen mit der Milde, zugunsten des Menschen einsetzt (vgl. Sir 16,11). Indirekt erteilt der Verfasser den Mächtigen dieser Welt

24 Μέλει τινι „es liegt jemandem (an etwas), jemand sorgt sich um (etwas/jemand)“ in Bezug auf eine Gottheit ist im griechischen Sprachgebrauch häufig, kommt aber auch sonst in der LXX vor, vgl. SCARPAT, Sapienza II, 471.

Synchrone Analyse

335

eine Lektion: Die Macht muss, um eine solche zu sein, eng an die Gerechtigkeit gebunden sein.25 12,17 ist schwierig: Nach dem Vorschlag in den Anmerkungen zum Text zielt 12,17a auf das Problem des Unglaubens und stellt fest, dass Gott dem, der nicht glaubt, seine Kraft in seiner vollkommenen Macht zeigt, und das genau ist beim Pharao der Fall (vgl. Ex 9,13–16). 12,17b bezieht sich ebenfalls eher auf die Ägypter als auf die Kanaanäer und betont deren Halsstarrigkeit: Obwohl sie doch die Macht Gottes erfahren hatten, verharrten sie in ihrem θράσος, in ihrer für die Nichtgläubigen bezeichnenen Anmaßung (vgl. 1Makk 4,32). Diese Hartnäckigkeit ist der Grund für die Plagen und immer heftigere Strafen. 12,18 ergänzt die Aussage von 12,17: Gott ist nicht nur allmächtig, sondern er ist Gebieter über die Kraft; dieser Gedanke wird in 12,18 chiastisch mit inhaltlicher inclusio formuliert: „Du bist Gebieter über die Kraft – du urteilst über uns mit Nachsicht // du regierst uns mit großer Schonung – dir steht das Vollbringenkönnen immer zur Verfügung“. Außerdem bildet der Ausdruck διοικεῖς ἡμᾶς eine inhaltliche inclusio mit τὰ πάντα διέπεις in 12,15a. Die Betonung liegt in 12,18a auf dem Ausdruck ἐν ἐπιεικείᾳ κρίνεις; zu ἐπιείκεια s.o. Weish 2,19; der Begriff bezeichnet eine dem Gerechten eigene Tugend, die von den Gottlosen, die im Namen der nackten Gewalt handeln, verhöhnt wird. 12,18b fügt das Motiv der φειδώ „Schonung, Milde“ hinzu, mit der Gott ἡμᾶς „uns“ (die Verwendung der 1. Pers. Pl. ist bemerkenswert) regiert. Das Substantiv φειδώ kommt in der LXX sonst nur noch in Est B 6 (= 3,13f) und PsSal 5,13 vor; vgl. aber das Verb φείδομαι in Weish 11,26; 12,8.16. Zu διοικέω vgl. den Kommentar zu 8,1, wo ein möglicher stoischer Hintergrund festgestellt wurde. Hier geht es jedoch nicht um die Vorstellung einer nachsichtigen, milden und fürsorglichen Herrschaft Gottes über die Welt, sondern um die Überzeugung, dass Gott seine Herrschaft in dieser Weise über uns, d.h. über die Israeliten, ausübt. Aus der Betrachtung dessen, was den Kanaanäern (und den Ägyptern) widerfahren ist, zieht der Verfasser eine Lehre für Israel: Die Milde Gottes gegenüber den Nichtisraeliten zeigt a fortiori die Milde Gottes gegenüber seinem Volk. 12,18c greift den Gedanken von 12,18a nochmals auf: Gott ist in der Lage, seine Kraft einzusetzen, wann immer er will; bereits in 11,25 war, ebenfalls mittels des Verbs θέλω, die Rede vom Willen Gottes. Dieser Gedanke ist, wenn auch in anthropomorpher Form ausgedrückt, doch sehr tief: Gott ist allmächtig; er kann seine Kraft einsetzen, wie es ihm gefällt, aber er bedient sich ihrer nur im Namen seiner Güte. 12,19–21 ziehen eine erste Folgerung aus dem Nachdenken über die Weise, wie Gott gegenüber Ägyptern und Kanaanäern handelt: Der Gerechte muss φιλάνθρωπος sein, Freund der Menschen. Der Verfasser antwortet damit auf eine Frage, die offengeblieben war: Warum hat Gott auch den Kanaanäern einen Raum zur Umkehr gewährt, obwohl er wusste, dass sie nicht umkehren würden (vgl. 12,20)? Dies geschah zur Belehrung der Israeliten (12,22)! Darin wird eine Perspektive der midraschartigen Leseweise der Bibel erkennbar, die das Buch der Weisheit durchgehend prägt: Was in den Schriften erzählt wird, hat immer auch eine pädagogische Funktion für Israel. Die Kanaanäer sind zwar tatsächlich von Gott vernichtet worden, aber auch diese Tatsache stellt in den Augen des Verfassers keinen

25 Siehe die Überlegungen bei VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 391–393.

12,19–21: Gottes Verhalten als Belehrung seines Volkes

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12,19: Der Gerechte muss menschenfreundlich sein

12,20–21: Die Nachsicht Gottes

Weish 12,3–21

Widerspruch zur Barmherzigkeit Gottes dar; denn die Vernichtung der Kanaanäer war die Folge ihrer eigenen Entscheidung, die gebotene Möglichkeit zur Umkehr nicht zu ergreifen; und auch das ist eine Belehrung für Israel. Nicht einmal im Fall der Kanaanäer verneint Gott den absoluten Wert der freien sittlichen Entscheidung, zu der jeder Mensch berufen ist. Darin dürfte einer der Beweggründe liegen, weshalb der Verfasser ein Exodusthema unerwähnt lässt, das für ihn vielleicht problematisch war: die Herzensverhärtung des Pharaos. Die großen Taten Gottes (διὰ τῶν τοιούτων ἔργων) werden zu einer Lehre für die Gegenwart; διδάσκω (vgl. 7,22) weist in diese Richtung. Man beachte, wie in 12,19b fast ganz natürlich von der Bezeichnung „dein Volk“ zu der des „Gerechten“ übergegangen wird (vgl. 10,15a), der ein solcher ist, wenn er in sich die Gesinnung Gottes trägt (vgl. Lev 11,45; 19,2; Mt 5,48). Der Gerechte soll gegenüber den Menschen die gleiche φιλανθρωπία zeigen, die Gott uns gegenüber hegt (vgl. 1,6; 7,23). Die Einstellung der Liebe, des Mitempfindens, die Gott seiner Schöpfung gegenüber hat (11,24 – 12,1), wird so die des Menschen gegenüber seinem Nächsten. Nicht nur das: „Dein Volk“, ein Volk von Gerechten, ist auch ein Volk der „Söhne und Töchter“. In 12,21a wird ein schon in 2,18a und in 9,7b genanntes Motiv aufgegriffen, das auch in 16,10.26; 18,4.13 wiederkehren wird (s.o. den Kommentar zu 9,7). Söhne und Töchter Gottes zu sein bedeutet, die Wohltaten eines Gottes empfangen zu haben, der seine Vergebung anbietet und so das Volk zur Umkehr anregt. In Bezug auf das Volk als Sohn Gottes beginnt in Weish 12,20 eine Gegenüberstellung, die sich durch die folgenden Kapitel hindurchzieht: Da sind auf der einen Seite die Söhne und Töchter Gottes, d.h. die Israeliten, und auf der anderen Seite die Feinde, die sie unterdrücken. Das gleiche Thema erscheint wieder in Weish 15,14 an der einzigen Stelle, wo der Ausdruck „dein Volk“ innerhalb des zweiten Exkurses (Weish 13–15) vorkommt. Diese „Söhne und Töchter“ machte Gott εὐέλπιδας, d.h., er erfüllte sie mit guten Hoffnungen (vgl. Spr 19,18; 3Makk 2,33), die verbunden sind mit dem Glauben an Gott (s.o.; diese Vorstellung findet sich auch bei Philon), und mit der Möglichkeit der Umkehr von Sünden. Das schon in 12,10 bei den Kanaanäern genannte Motiv der μετάνοια taucht hier wieder auf. Das Buch der Weisheit spielt an dieser Stelle, wenngleich zurückhaltend, auch auf die Sünden der Israeliten an und stellt fest, dass für sie mit noch stärkerer Begründung Raum und Zeit zur Umkehr besteht. Diese Umkehr entsteht aufgrund der wohlwollenden Einstellung Gottes, die mit seiner Güte verbunden ist, die der Mensch seinerseits seinem Nächsten zu erweisen berufen ist. Die Umkehr ist also nicht Werk des Menschen, sondern Gottes selbst (vgl. die ähnliche Überlegung in Jer 38[31MT],18b. 12,20 bildet den Vordersatz (Protasis) eines Bedingungsgefüges mit der Bedeutung einer Steigerung; da es um die Vergangenheit geht, steht das Verb im Aorist (ἐτιμωρήσω); den Hauptsatz (Apodosis) bildet 12,21. Es handelt sich um ein Argumente a minore ad maius. Die in 12,20a genannten „Feinde deiner Kinder“, die den Tod verdient hatten, sind die Kanaanäer.26 Gott hat sie bestraft (ἐτιμωρήσω), aber

26 LARCHER, Sagesse III, 732, meint, möglicherweise handle es sich um einen Verweis auf SIMONIDES (Anth. Pal. X,105); aber für den griechischen Dichter sind wir alle zum Tode bestimmt, nach dem Verfasser des Buches der Weisheit jedoch können auch die Feinde, obwohl sie diese Bestimmung haben, ebenfalls gerettet werden.

Diachrone Analyse

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mit Achtsamkeit und Nachsicht hat er ihnen „Zeit und Raum“ gegeben, um vom Bösen abzulassen. Das Wort προσοχή ist selten (vgl. 6,18c) und bedeutet „Achtsamkeit, Aufmerksamkeit“; zu δίεσις s.o. die Anmerkung zum Text. Im Hauptsatz 12,21 werden die Folgerungen aus einem solchen Handeln Gottes für das Volk Israel gezogen: „Wenn du sie schon so nachsichtig behandelt hast – wie erst dann uns!“ Der Verfasser denkt an das Verhalten Gottes gegenüber Israel während des ganzen Zuges durch die Wüste. Das Verb κρίνω deutet diskret die von Israel begangenen Sünden an, die jedoch von Gott nicht streng verurteilt und bestraft wurden wegen der Verheißungen an die Erzeltern (12,21b): ὅρκους καὶ συνθήκας ἔδωκας; ὅρκος „Eid, Schwur“ ist ein in der LXX häufiges Wort, συνθήκη „Vertrag, Vereinbarung“ dagegen wird nur im zwischenmenschlichen und politischen Bereich verwendet (nur in Weish 1,16 im Sing.), die LXX zieht das Wort διαθήκη „Verfügung, Testament; Bund“ vor (s.u. zu Weish 18,22). Das Thema des Eidschwurs im Zusammenhang des Bundes mit den Erzeltern ist deuteronomisch, vgl. Dtn 4,31; 7,12; 8,18; 9,5; 31,20; Ri 2,1; Ps 88[89MT],4. Die Israeliten werden Empfänger „guter Verheißungen“. Der Verfasser verwendet mit *ὑπόσχεσις „Versprechen“ ein weiteres hapax legomenon der LXX; das Wort hat an sich eine profane Bedeutung, kommt aber bei Philon häufig in religiösem Sinne vor (vgl. Leg. III, 203).

Diachrone Analyse Die Feststellung, Gott habe die Kanaanäer gehasst (μισήσας 12,4a), entnimmt der 12,3–7 Verfasser den biblischen Texten, die erzählen, Gott selbst habe die Kanaanäer vernichtet; das Partizip Aorist bezeichnet nicht eine Dauerhaltung Gottes, sondern eine gezielt gegen kultische und sittliche Verfehlungen gerichtete Aktion (vgl. Dtn 12,31: τὰ βδελύγματα ἃ κύριος ἐμίσησεν). Trotzdem bleibt eine gewisse Spannung zwischen Barmherzigkeit und Hass, ein Zeichen dafür, dass die Vorstellung eines Gottes, der das Heil aller will und der jedes seiner Geschöpfe liebt, die eines Gerichtes noch nicht völlig verdrängt hat. Wie sich aber in 12,8–11 zeigt, ist auch immer das Motiv der Freiheit Gottes gegenüber der des Menschen zu bedenken. Die Anschuldigung in 12,5b, bei Mählern würden Eingeweide und Menschenfleisch gegessen, findet sich nicht in der Bibel und ist sehr wahrscheinlich der griechischen Tragödie entliehen und ziemlich markant formuliert.27 Über die Texte der Tragiker hinaus wird hier fast sicher auf die Anthropophagie angespielt, die für die Dionysosfeiern bezeugt ist, im hellenistischen Ägypten aber, wo der Dionysoskult inzwischen verbreitet war, nicht mehr praktiziert wurde. 12,5c spricht noch deutlicher über die Teilnahme an den Mysterienkulten (s.o. die Anmerkungen zum Text). Das Wort μύστης verweist auf die in solche Kulte Eingeweihten (vgl. 8,4), während θίασος nahelegt, dass es sich um Dionysosfeiern handelt.28 Der Verfasser verschärft die Polemik, indem er Beschuldigungen vorbringt, die nicht auf Tatsachen beruhen; es ist offensichtlich, dass er überaus besorgt ist

27 Vgl. GILL, „The Greek Sources“; WINSTON, Wisdom, 239–240. 28 Vgl. LIDDELL SCOTT, sub voce.

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Weish 12,3–21

wegen der Anziehungskraft, die die Dionysosfeierlichkeiten auf die jungen Juden in Alexandria ausüben konnten.29 Die Anklage, sie verspeisten das Fleisch ihrer eigenen Kinder, erinnert an die Erzählung bei Herodot, Hist. 1,119, wonach der Mederkönig Astyages bei einem Festmahl (θοῖνα) den Harpagos, ohne dass dieser es wusste, das Fleisch seines eigenen Sohnes hatte verzehren lassen; in der Bibel kann man an das Opfer des Sohnes des Königs von Moab in 2Kön 3,27 denken. Die Vorstellung einer ἀποικία (12,7) wird von Philon sowohl beim Auszug aus Ägypten (Mos. I, 71) als auch bei der Ansiedlung der Israeliten in Kanaan verwendet (Mos. I, 163.222.236; II,246), aber auch für den Tod des Menschen im Sinne einer Flucht in ein besseres Land (Praem. 16. 80; Fug. 36); das Buch der Weisheit verwendet ἀποικία wie Philon im Sinne einer „Ansiedlung“ im Land und nicht im Sinne von „Exil“, wie es in der übrigen LXX geschieht. Hier dient der Begriff ἀποικία dazu, den Besitz des Heiligen Landes als legitim zu beanspruchen: Es ist Israel von Gott gegeben als „Ansiedlungsgebiet“, das den bösen und götzendienerischen Bewohnern entzogen wurde. Der ganze Abschnitt hat einen stark apologetischen Klang, wenn er im Kontext des alexandrinischen Judentums gelesen wird. Die grundsätzliche Feststellung in 12,8a („du hast sie geschont, weil sie Men12,8–11 schen waren“) verrät eine für den Stoizismus bezeichnende Überlegung über die Würde des Menschen und seine naturhafte Verbindung mit Gott.30 Nach den Stoikern kümmert Gott sich um den Menschen und existiert zum Nutzen der Menschen (vgl. SVF II, 323 frg. 1116; II, 325 frg. 1118); sie behaupten ἀγαθὴν καὶ φιλάνθρωπον κοινωνίαν δαιμόνων καὶ ἀνθρώπων „eine gute und menschenfreundliche Gemeinschaft von Göttern und Menschen“ (SVF II, 327 frg. 1129). In der Bibel findet sich sonst nirgends eine ähnliche Begründung. Der Verfasser denkt nicht so sehr an die mit der menschlichen Natur gegebene Schwäche als vielmehr an die menschliche Natur als solche: Gott liebt die Menschen gerade, weil sie Menschen sind. In 12,6b war die Entscheidung Gottes erwähnt worden, die Kanaanäer zu vernichten „durch die Hand unserer Väter“, was jedoch in 12,8a ausgeschlossen wird. In einer midraschartigen Auslegungsweise bemüht sich der Verfasser, Israel von der Beschuldigung, die Kanaanäer vernichtet zu haben, zu entlasten: Es gab keinerlei Schlacht. Die Verse 12,10–11 zeigen einen sehr harten Tonfall, wie er nicht selten im Buch anzutreffen ist. Der Verfasser scheint fast seine Überlegungen zur universalen Liebe Gottes beiseite stellen zu wollen, um dessen Strenge gegen ein zutiefst und unheilbar böses Volk klarzulegen.31 Die Härte des Verfassers darf nicht überraschen: Die Bestrafung der Kanaanäer ist das Ergebnis nicht einer Aktion Gottes, der seine Barmherzigkeit vergessen hat, sondern von Menschen, die diese in ihrer Freiheit zurückgewiesen haben. Dieser Vers stützt sich auf die Autorität des Ijobbuches und verdeutlicht ein 12,12 theologisches Grundproblem: die Freiheit Gottes. Angesichts des Bösen, das zu 29 „We are far from authentic Dionysianism here“: BASLEZ, „The Author of Wisdom“, 44. 30 So GRIMM, Weisheit, 223, aber ohne einen Text anzuführen. REESE, Hellenistic Influence, 76, denkt eher an das hellenistische Königsideal. 31 GRIMM, Weisheit, 224, bemerkt dazu schon, dass hier „nicht eine Vorherbestimmung zum Bösen, sondern ein Vorherwissen“ gemeint sei.

Diachrone Analyse

339

triumphieren scheint, lädt er dazu ein, daran keinen Anstoß zu nehmen, aber auch dazu, die Barmherzigkeit Gottes nicht zu verharmlosen und sie als Straffreiheit zu betrachten (ἄδεια; vgl. 12,11b), die den Sündern gewährt würde. Das Handeln Gottes untersteht nicht menschlichem Urteil, aber auch seine Strenge (vgl. 12,12c-d) ist kein Widerspruch zu seiner Barmherzigkeit. Nach den wiederholten Warnungen, die Gott den Menschen hat zukommen lassen, ist die Vernichtung des Gottlosen als die Frucht seiner eigenen Verstocktheit zu verstehen. Die in 12,13–15 ausgedrückten Gedanken sind biblisch; sie heben die Allmacht 12,13–15 Gottes hervor (die jedoch eine wohlwollende Allmacht ist: 12,13a) und machen deutlich, dass Gott keinem menschlichen Urteil unterworfen werden kann. Neu im Buch der Weisheit ist die Verknüpfung der Gerechtigkeit Gottes mit seiner Verwaltung der Welt (τὰ πάντα) und mit seiner Allmacht (vgl. auch 12,16b). Zu διέπω „verwalten“ und den möglichen griechischen Beiklängen s.o. zu Weish 9,3, der einzigen Stelle in der LXX, an der dieses Verb noch vorkommt; mit der genannten Bedeutung wird διέπω im pseudo-aristotelischen Traktat De mundo (399a 18), der vom Stoizismus beeinflusst ist, verwendet. Das Wort ἐπιείκεια in 12,18, das in hellenistischer Zeit mehrfach bei irdischen 12,16–18 Herrschern vorkommt, wird in 2Makk 2,22; 10;4; Dan 3,42; Bar 2,27 auf Gott bezogen und gewinnt den Beiklang von Milde, Nachsicht und Sanftheit, die den Einsatz der Autorität und bloßen Gerechtigkeit mildern; in Arist. 207–208 erscheint die ἐπιείκεια in Verbindung mit der φιλανθρωπία, die von Menschen verlangt wird (vgl. Arist. 192). Gott bestraft nicht proportional zur Schwere der Sünden, auch nicht entsprechend seiner eigenen Größe und seiner Kraft, sondern er handelt mit Nachsicht und leitet mit solcher ἐπιείκεια alle Menschen. Gott ist Herr über die Kraft und kann es sich deshalb erlauben, den Einsatz dieser Kraft zu mäßigen durch Milde und Nachsicht. Der Text von Weish 12,19 ist ein vorzügliches Beispiel für die Verschmelzung 12,19 eines typisch hellenistischen Ideals, der φιλανθρωπία, mit dem biblischen Glauben an einen Gott, der bereit ist, eine Möglichkeit zur Umkehr zu gewähren. „Dein Volk“ zu sein, bedeutet nicht nur ein Privileg, sondern überträgt Israel auch die Verantwortung, Freunde der ganzen Menschheit zu werden. Dieser Gedanke nimmt auch polemisch Bezug auf den Vorwurf der μισανθρωπία, der gegenüber den Juden in Alexandria in Umlauf war und den dort verbreiteten Antisemitismus ausdrückte;32 der Verfasser möchte hervorheben, dass Volk Gottes zu sein, nicht bedeutet, Feinde des Menschengeschlechtes zu sein, vielmehr Vorbilder dieser φιλανθρωπία, die in der hellenistischen Welt als eine der höchsten „politischen“ Tugenden galt.33

32 Es sei an die bekannte Aussage bei TACITUS erinnert, die Juden hätten adversus omnes hostile odium (Hist. 5,5,1); auch PHILON tritt diesem Vorwurf entgegen , vgl. Spec. II, 167, wo Israel sich gegen die Beschuldigung der ἀπανθρωπία verteidigt. Vgl. SCHÜRER, History, III, 150–176; FELDMAN, Jew and Gentile, 125–131. 33 Vgl. Arist. 208: Der König muss φιλάνθρωπος sein, wie Gott es ist (PHILON, Abr. 137).

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Weish 12,22–27

Weish 12,22–27: Barmherzigkeit Gottes und Tierverehrung 22 Während du also uns erziehst, geißelst du unsere Feinde in unzähligen Weisen, damit wir, wenn wir richten, uns um deine Güte bemühen, wenn wir aber gerichtet werden, Barmherzigkeit erhoffen. 23 Daher hast du auch die in der Torheit ihres Lebens unrecht Lebenden durch ihre eigenen Gräuel gefoltert; 24 auf ihren Irrwegen waren sie nämlich allzu weit in die Irre gegangen, indem sie von den widerlichen sogar die verachtetsten unter den Tieren für Götter hielten und sich nach Art törichter Kleinkinder täuschen ließen. 25 Deshalb hast du (ihnen) wie unvernünftigen Kindern die Strafe zur Verspottung geschickt. 26 Die aber, die sich durch spottartige Strafandrohungen nicht zurechtweisen ließen, werden eine Strafe erfahren, die Gottes würdig ist. 27 Wegen derer nämlich, auf die sie wütend waren, als sie unter ihnen litten, wegen dieser, die sie für Götter hielten, erkannten sie, als sie durch sie bestraft wurden, (und) als sie (dies) sahen, den als wahren Gott an, den sie einst zu kennen leugneten. Darum kam auch die endgültige Bestrafung über sie.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 22 Alle Handschriften und alten Übersetzungen lesen in 12,22a ἐν μυριότητι „in Zehntausendheit, zehntausendfach“. KUHN (Beiträge zur Erklärung), VANHOYE und GILBERT schlagen stattdessen eine Korrektur vor: ἐν μετριότητι „in Maßen, maßvoll“; *μυριότης ist ein hapax totius graecitatis und scheine 12,22b-c (aber auch 11,9) zu widersprechen; außerdem handle der ganze Kontext dieses ersten Exkurses von der Milde Gottes gegenüber den Gottlosen und nicht von den Strafen, die Gott ihnen zufüge. GILBERT weist auch noch auf eine Parallelität von 12,22 zu 12,19 hin, die die Richtigkeit dieser Konjektur bestätige. Die Lesart des textus receptus ἐν μυριότητι könnte aber anspielen auf Spr 3,11–12, wo παιδεύω parallel zu μαστιγόω verwendet ist; dort beziehen sich allerdings beide Verben auf den von Gott geliebten „Sohn“, wohingegen in Weish 12,22a παιδεύων dem „Wir“ und μαστιγοῖς „unseren Feinden“ gilt, die sehr viel härter bestraft werden. Auch die mögliche Bezugnahme auf Ps 31[32MT],10 legt es nahe, an der Lesart ἐν μυριότητι festzuhalten (dort wird von den μάστιγες τοῦ ἁμαρτωλοῦ gesprochen im Unterschied zu dem ἔλεος, das den auf den Herrn Hoffenden umgibt). Der textus receptus stellt also das erzieherische Verhalten Gottes zu Israel in Gegensatz zu der „Geißel“, die in zehntausend verschiedenen Weisen auf die Feinde niederfährt, was durchaus nicht völlig dem zuvor Gesagten widerspricht, dass Gott auch den Bösen gegenüber Nachsicht zeigen kann.

Synchrone Analyse

341

23 Anstelle des Adverbs ἀδίκως bieten die Handschriften B-S* 543 die Lesart ἀδίκους, womit ein anderer Personenkreis, „die Ungerechten“, eingeführt würde. Es ist daher mit der Mehrzahl der Textzeugen die Lesart ἀδίκως vorzuziehen als adverbielle Bestimmung des Partizips Aorist βιώσαντας (der Aorist verweist auf Vergangenes; die Lesart ἀδίκους würde ein Partiz.praes. verlangen). Zu dem Unterschied, den das Buch der Weisheit zwischen ζωή und βίος macht, vgl. LARCHER, Etudes, 294–295. Der Aorist ἐβασάνισας in 12,23b hat inkohative Bedeutung: „Du hast begonnen, sie zu foltern“. 24 In 12,24b liest der größte Teil der Handschriften τὰ καὶ ἐν ζῷοις τῶν ἐχθρῶν ἄτιμα „die bei den Feinden auch unter den Tieren verachteten“, aber der Text ist nicht klar: Von welchen Feinden ist die Rede? Von denen der Israeliten oder der Ägypter selber? Verstünde man τῶν ἐχθρῶν adjektivisch, lässt der Ausdruck sich so übersetzen: „von den widerlichen die verachtetsten unter den Tieren“; ἐχθρός hat dabei seinen normalen Sinn „widerwärtig“. Die Editoren Rahlfs und Ziegler setzen aufgrund einer kleinen Minuskelgruppe in den Text τὰ καὶ ἐν ζῴοις τῶν αἰσχρῶν ἄτιμα „von den auch unter den Tieren hässlichen die verachtetsten“, was eine gewisse Glättung des Textes ergibt. In jedem Falle bleibt eine Unsicherheit.

Synchrone Analyse In 12,22 zieht der Verfasser eine zweite Schlussfolgerung aus seiner Überlegung zur Milde Gottes und bereitet zugleich den folgenden Exkurs (Weish 13–15) vor. Obwohl Israel das auserwählte Volk ist, darf es sich nicht zum unerbittlichen Richter über die Nichtisraeliten aufwerfen, auch wenn es einen Unterschied gibt, nach dem Gott die einen und die anderen behandelt (wenn man in 12,22a ἐν μυριότητι liest). Die Zurechtweisung Gottes geschieht bei Israel wie durch einen Vater, bei den Nichtisraeliten jedoch wie durch einen strengen Richter (vgl. die ähnliche Aussage in Weish 11,10). Der Bund Gottes mit Israel enthebt die Israeliten nicht der Bestrafung und versetzt sie nicht in eine Position, dass sie die Nichtisraeliten vom hohen Sitz einer vorgeblichen Überlegenheit herab verachten dürften, vgl. die Forderung der φιλανθρωπία in 12,19b. Zum Gedanken der Nachahmung Gottes beim Richten vgl. im NT Mt 7,1–2; 18,33; Jak 2,13. Übernimmt man allerdings die Konjektur ἐν μετριότητι, gewinnt der Text eine größere Kohärenz und würde, ähnlich wie 11,9, besagen, dass Gott auch die Feinde „in Maßen“ zurechtweist. In dieser Weise wird die Milde Gottes zu einer Einladung, über eine solche Güte gegenüber den Sündern nachzudenken, wenn man in die Lage gerät, über andere zu richten (12,22b), und zugleich zu einer Quelle der Hoffnung, wenn wir es sind, über die gerichtet wird (12,22c). In dieser Weise würden die in 12,19 formulierten Gedanken aufgenommen, wozu 12,22 parallel gefasst zu sein scheint (s.o.). Die Milde Gottes haben die Ägypter mit ihrer Verstockung beantwortet. Insbesondere 12,23–27 wenden sich wieder dem Tierkult zu, der schon in 11,15–16 verurteilt wurde. Dieses Thema wird nochmals in 15,14–19 am Ende des zweiten Exkurses aufgegriffen. Die Plagen, die gegen die Ägypter entsandt wurden, weil sie sich schuldig gemacht hatten, Geschöpfe anzubeten, waren nur lächerliche Strafen im Vergleich zu der entscheidenden, endgültigen Bestrafung, die sie erwartete, dem Tod. Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihrer härtesten Form nur gegenüber der hartnäckigen und gezielten Ablehnung seiner Barmherzigkeit angewandt.

12,22: Die Zurechtweisung durch Gott

12,23–25: Die Verstockung der Ägypter

342

Weish 12,22–27

12,23 führt die Ägypter mittels einer Umschreibung ein: „die in der Torheit ihres Lebens unrecht Lebenden“; zum Begriff ἀφροσύνη „Torheit“ s.o. zu 10,8c. Nach den Leitprinzipien in 11,5 und 11,15–16 werden sie durch das gefoltert, womit sie gesündigt haben, in diesem Falle βδελύγματα, „Gräuel, Scheusale, Abscheu erregende Dinge“. Das Wort βδέλυγμα kommt in Ex 8,22 im Plural als Bezeichnung der von den Ägyptern verabscheuten israelitischen Tieropfer vor und in der Weisheitsliteratur mit ethischreligiösem Beiklang „was für den Herrn ein Gräuel ist“, vgl. Spr 10,20; 11,22; 15,8.9 u. ö. In Weish 12,23b sind mit βδελύματα wahrscheinlich die in Lev 11,41–43 so bezeichneten Tiere gemeint, die die Ägypter jedoch verehrten. In 12,24 wird mit einer Übertreibung von den Ägyptern gesagt, sie seien sehr weit abgeirrt (zu πλανάω s.o. zu 2,21; 5,6), da sie wertlose und widerliche Tiere für Götter hielten (vgl. 13,3) und sich wie kleine Kinder täuschen ließen. Deshalb (12,25a) schickt ihnen Gott eine Strafe εἰς ἐμπαιγμόν, die ein Spiel mit ihnen treibt (12,25b); zu ἐμπαιγμός im Sinn von „Gespött“ vgl. Sir 27,28; Ez 22,4 und besonders Jes 66,4; der Verfasser scheint auf diese Stelle und, aus dem Exoduskontext, auf Ex 10,2LXX (ὅσα ἐμπέπαιχα τοῖς Αἰγυπτίοις „wie ich den Ägyptern mitgespielt habe“) zurückzugreifen. Siehe auch die Nennung von ἐμπαίγματα im Kontext der Polemik gegen die Magie in Weish 17,7. 12,26 kennzeichnet den Übergang zu einer neuen und viel schwereren Art von 12,26–27: Die endgültige Sünde: der Verstockung. Die in Ägypten geschehenen Zeichen sind, aus der Sicht Strafe Gottes, παίγνια ἐπιτιμήσεως „Kinderspiele von Strafandrohung“ (Wortspiele mit παι- „-kind-“: ὡς παισίν „wie Kindern“ – εἰς ἐμπαιγμόν „zur Verkinderung“ – παιγνίοις ἐπιτιμήσεως „durch Kindereien von Strafandrohung“). Da solche Androhungen nicht ausreichten, werden die Ägypter Urteil (und Strafe) erhalten, das „Gottes würdig“ ist: den Tod. Der Verfasser spielt auf den Tod der Erstgeburt und das Ertrinken der Ägypter im Roten Meer an, aber der Leser wird angeregt, noch sehr viel weiter zu denken: an die ewige Strafe der Gottlosen, von der schon in Weish 5 die Rede war. Die Konstruktion von 12,27 ist schwierig. Im Blick auf 12,17 lassen sich zwei Stufen der Sünde der Ägypter wahrnehmen: zunächst der Tierkult, dann die Verstockung in dieser Sünde, obwohl sie Aktion Gottes erfahren hatten. Die endgültige Verurteilung (und Bestrafung) *καταδίκη „überfällt“ so die Schuldigen (zu ἐπέρχομαι in der Bedeutung „über jmdn. kommen“ s. u. zu 16,4–5; 17,5; 19,13). Die Verwendung des Aorists (12,27d) verweist zwar auf die Exodusereignisse, aber der Verfasser bereitet schon den folgenden Exkurs vor, der dazu dienen wird, die Schwere der Sünde des Götzendienstes zu erläutern, und kündigt gleichzeitig den ewigen Tod der Götzendiener an.

Diachrone Analyse 12,25 Die Ägypter werden in 12,24c.25a mit Kindern (νηπίων δίκην ἀφρόνων – ὡς παισὶν

ἀλογίστοις) verglichen wie auch in 15,14. Dieser Vergleich ist auch Philon geläufig (Mos. I, 102; Decal. 69). Möglicherweise ist der Vergleich mit νήπια einem seit Homer (ῥεχθὲν δέ τε νήπιος ἔγνω Il. 17,32; 20,198.200.211) und Hesiod (Op. 218) bekannten griechischen Sprichwort entliehen. 12,27 Der Text von 12,27 spielt auf die Exoduserzählungen an, nach denen der Pharao infolge der Plagen genötigt ist, die Existenz und das Wirken Gottes zuzugeben,

Synthese von Weish 11,15 – 12,27

343

vgl. Ex 8,24; 9,27–28; 10,16.24, und trotzdem jedesmal danach sein Herz verhärtet. Die Anerkennung des „wahren Gottes“ ist deshalb nicht schon gleichzusetzen mit einer Umkehr und der Abwendung von den Götzen. Die beiden hier verwendeten Verben (ὁράω und ἐπιγινώσκω) sind termini technici; mit θεόν als Objekt scheinen sie in vorhellenistischer Zeit nicht belegt zu sein.34

Synthese von Weish 11,15 – 12,27 Zusammenfassend lässt sich mit Armin Schmitt zum ersten Exkurs sagen: „Letztlich erklärt sich die breite Behandlung dieser Thematik aus der hellenistischen Welt, in der der Verfasser lebt: Philantrope Ideale, irenische Tendenzen und eine humanisierte Rechtsauffassung des Ptolemäischen Diadochenstaates, die vor allem in einer verbesserten und aufgeklärten Strafjustiz zum Ausdruck kommt, lieferten die Anstöße zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit diesem heiklen Gegenstand“.35 Der Exkurs möchte den Wert der Pädagogik Gottes sowohl gegenüber den Bösen (11,16) als auch gegenüber den Israeliten hervorheben (12,22a). Denn Gott straft, um die einen wie die anderen zu erziehen und um alle den Wert der Umkehr (11,23b; 12,10a.19d.20c) und des Glaubens an ihn (12,2.27c) zu lehren. Die Absicht einer solchen Pädagogik ist, dass der Mensch deren tiefe Beweggründe erkennt: insbesondere die Liebe Gottes zu allen seinen Geschöpfen (vgl. 12,8). Gerade das Nachdenken über die Kraft und die Allmacht Gottes (11,17–20; 12,16– 18) bringt den Verfasser dazu, in eben dieser Kraft Gottes eher die Wurzel seiner Barmherzigkeit als die seiner Strenge zu sehen. Der Mensch kann aus dieser Milde Gottes eine Lehre ziehen (12,19), indem er auch seinerseits „menschenfreundlich“ wird. Den Juden in Alexandria wird so das Angesicht eines Gottes vor Augen gestellt, der sich um alle sorgt und den Bösen gegenüber nachsichtig ist, ganz anders als das despotische Bild, das die zeitgenössischen Herrscher bieten. Gleichzeitig erweist sich der Vorzug Israels, des Volkes Gottes, darin, dass es allen Menschen, auch seinen hartnäckigsten Gegnern gegenüber die gleiche Barmherzigkeit zeigt. Die Härte des Tonfalls, mit der der Exkurs schließt, darf nicht verwundern: Einerseits kommt der Verfasser beim Lesen der biblischen Erzählung nicht darum herum, an deren Schluss den Tod der Ägypter und der Kanaanäer, der in vielen Texten der Bibel herausgestellt wird, zu sehen. Andererseits schwankt der Text des Exkurses zwischen dem Bestreben, die absolute Freiheit Gottes zu verteidigen (12,12), und dem Anliegen, die Freiheit des Menschen nicht zu verneinen, der sich eigenhändig den Untergang zuzieht (vg. 1,12–16). Außerdem werden die Ägypter und Kanaanäer (bes. in 12,3–7) zum Bild jener zeitgenössischen Juden, die sich vom Götzendienst, der Magie oder den Mysterienkulten verführen ließen und sich so jenen ewigen Tod zugezogen haben, für den der Untergang der alten Ägypter und Kanaanäer ein erstes und fernes Vorausbild ist. 34 Vgl. WINSTON, Wisdom, 246. 35 SCHMITT, Weisheit, 55.

Weish 13–15: Die Kritik am Götzendienst Der vorangehende Exkurs über die Menschenfreundlichkeit und Milde Gottes gegenüber den Sünden der Menschen schloss mit einer sehr harten Betrachtung der Sünde der Ägypter (12,23–27). Diese bestand in der Verehrung von Götzenbildern und insbesondere im Tierkult. In Weish 13–15 fügt der Verfasser eine ausführliche Überlegung über das Verhalten der Götzenverehrer ein, das als Gegensatz zur Güte Gottes gegenüber allen seinen Geschöpfen betrachtet wird. In der gleichen Weise war im ersten Teil des Buches das Vorhaben der Gottlosen (Weish 2) dem Plan Gottes, den Gerechten ewiges Heil und Rettung zu schenken (Weish 3–4), gegenübergestellt worden. Dass dieser kritischen Überlegung so breiter Raum gewidmet wird, zeigt, welch hohe Bedeutung für das Buch der Weisheit die Verurteilung des Götzendienstes innerhalb des religiösen Kontextes von Alexandria hat. Über den Gegensatz zur Überlegung über die Milde Gottes (Weish 11–12) hinaus stellen die Kap. 13–15 auch eine Art Gegensatz dar zu den Kap. 7–10, die der Weisheit gewidmet sind.1 Die Kritik der Götzenverehrung in Weish 13–15 geht in drei interessanten thematischen Schritten vor: Zunächst (13,1–9) ist die Aufmerksamkeit auf eine Form philosophisch geprägter Religiosität gerichtet. In 13,10 – 15,13 folgt dann ein langer Abschnitt der Kritik der Verehrung wirklicher Götzenbilder. Daran schließt sich zuletzt in 15,14–19 eine uneingeschränkte Verurteilung der schlimmsten Form des Götzendienstes, des ägyptischen Tierkultes, an. In dieser Weise kann der Verfasser die Härte der Plagen, die die Ägypter befallen haben und die in den folgenden Kapiteln (16–19) beschrieben werden, begründen. Nicht zufällig wird in der zweiten Gegenüberstellung (16,1–4) der Midrasch über den Exodus wieder aufgenommen mit einer Schilderung der durch ganz wertloses Getier verursachten Plagen. Dieses dreistufige Schema ist auch Philon bekannt (vgl. Decal. 52–54) und scheint ein der jüdisch-hellenistischen Apologetik gemeinsames Muster nach stoischen Vorbildern gewesen zu sein. Der Verfasser des Buches der Weisheit geht zwar von wohlbekannten biblischen Motiven der Götzenpolemik aus, folgt dann aber eher hellenistischen bzw. jüdisch-hellenistischen Modellen und zeigt so seine Originalität.2 Die Absicht des Exkurses ist offensichtlich: Der nach allen Regeln der Kunst gegen die Götzenverehrung geführte Angriff soll die Bestrafung der Ägypter, die eines der großen Themen der sieben Gegenüberstellungen in Weish 11–19 ist, eindrücklich begründen. Zugleich bildet dieser Angriff einen Versuch, die Juden in Alexandria, die tagtäglich von der Götzenverehrung in Versuchung geführt wurden, zu überzeugen, und hat daher auch eine apologetische Zielsetzung. Dabei kann sich der Verfasser auf viele biblische Texte stützen, die die Götzenverehrung 1 2

ALONSO SCHÖKEL, Sabiduría, 164. Zu den Einzelheiten vgl. WINSTON, Wisdom, 248–249.

Zur literarischen Struktur von Weish 13–15

345

verurteilen: der Dekalog in Ex 20,3–5 (Dtn 5,7–9) und auch Dtn 4,16–19, aber vor allem Jes 44,9–20, Jer 7,16 – 8,3; BelDr und Ps 113,12–16[115,4–8MT]. In den drei Kapiteln Weish 13–15 enthält das Buch der Weisheit die ausführlichste und detaillierteste Darstellung der Bibel zu diesem Thema und verbindet dabei in der diesem Buch eigenen Weise biblische und jüdische Gedanken mit Elementen der hellenistischen Kultur.

Zur literarischen Struktur von Weish 13–15 Die literarische Struktur von Weish 13–15 hat Maurice Gilbert in seinem Buch La critique des dieux im Einzelnen dargelegt und bedarf keiner erneuten Diskussion. Sie wird hier in ihren Hauptpunkten mit geringen Änderungen übernommen.3 Die drei Kapitel können leicht in drei große literarische Einheiten unterteilt werden. Die erste Einheit umfasst Weish 13,1–9 (μάταιοι μέν: 13,1a); dort denkt der Verfasser an die Religion der Philosophen, an der er eine mildere Kritik übt. Die inclusio ἴσχυσαν εἰδέναι (13,1b.9a) zeigt die Einheit des Abschnitts an; zugleich verknüpft ihn das Verb εἰδέναι (13,1b) in Verbindung mit ἐπέγνωσαν (13,1c) mit dem vorhergehenden Abschnitt (vgl. die gleichen Verbformen in 12,27c. Die Partikel γάρ in 13,1a verbindet den Abschnitt 13,1–9 mit dem, was voraufging, die Partikel μέν dagegen verweist auf ein δέ, das erst in 13,10 folgen wird. Die sechs Kola von 13,1–2 bilden einen ersten kleinen Unterabschnitt. 13,1 benennt Gott in drei Weisen: θεόν, τὸν ὄντα, τὸν τεχνίτην. Mit ἀλλά werden dem in 13,2 falsche Arten der Gottesvorstellung gegenübergestellt. Der zweite Unterabschnitt 13,3–5 mit den Motiven Schönheit und Macht wird durch die inclusio καλλονῇ – καλλονῆς (13,3a.5a) und die Variierung von γενεσιάρχης zu γενεσιουργός (13,3c.5b) als kleine Einheit markiert. In 13,6–9 leitet ἀλλ’ ὅμως das Urteil des Verfassers über die Religiosität der Philosophen ein; τάχα – τάχιον (13,6b.9c) bilden eine quasi-inclusio. Der mit ταλαίπωροι δέ beginnende sehr viel längere Abschnitt 13,10 – 15,13 kritisiert mit größerer Strenge die eigentlichen Formen der Götzenverehrung. Eine Reihe von literarischen Signalen erlaubt weitere Unterteilungen und lässt eine konzentrische Struktur deutlich werden. A. Weish 13,10–19: die Herstellung von Götzenbildern aus Gold, Silber, Stein und Holz; inclusio νεκροῖς (13,10a) ἔργα χειρῶν (13,10b) χειρὸς ἔργον (13,10e) ἐργασίας (13,12a) – τὸ νεκρόν (13,18a) ἐργασίας … χειρῶν … χερσίν (13,19a-b); vgl. noch ζῷων … ἄχρηστον (13,10d-e) – ζῳῆς … χρῆσθαι (13,18a.c). Innerhalb dieses Unterabschnitts bildet 13,10 die Einführung des neuen Themas (vgl. die Gegenübersetzung zu 13,1 μάταιοι μέν … 13,10 ταλαίπωροι δέ), die Anfertigung von Götzenbildern durch Menschenhand, zugleich wird damit auch der ganze Abschnitt 13,10 – 15,13 eingeleitet. In 14,8–10 wird das gleiche Thema nochmals mit ähnlichen Worten dargelegt: Die Götzenverehrer nannten Werke von Menschenhand Götter (ἐκάλεσαν θεοὺς ἔργα χειρῶν ἀνθρώπων 13,10b) – τὸ χειροποίητον … θεὸς ὠνομάσθη (14,8ab). Nach 13,10 bilden 13,11–15 und 13,16–19 kleine Unterabschnitte. 3

GILBERT, La critique des dieux, bes. 245–257. Hinzuzufügen ist WRIGHT, „The Structure“, 180–182.

Weish 13,1–9

Weish 13,10 – 15,13

13,10–19

346

Weish 13 – 15

14,1–10 B. Weish 14,1–10: Anrufung Gottes, Verweis auf die Heilsgeschichte und Übergang

zum folgenden Absatz. Das Substantiv πορισμός (13,19a; 14,2a) verklammert 14,1– 10 mit dem vorhergehenden Absatz. Auch der Ausdruck τις πάλιν signalisiert den Beginn eines Beispiels, wie dies in 13,11a schon εἰ δὲ καί τις getan hatte. Außerdem spricht 14,1 erneut über bittende Anrufungen, wovon auch in 13,17–19 die Rede war. Gleichzeitig führt 14,1–3 aber in ein neues Thema ein: der Seefahrer, der ein Götzenbild anruft, um eine sichere Seefahrt zu erlangen, ohne zu begreifen, dass es die Vorsehung ist, die ihn leitet; die Kola entfalten das Thema in einfühlenden Schritten. In 14,3b-7 geschieht dann die eigentliche Darlegung: ein erneutes Bedenken der Seefahrt (14,3b-c), gefolgt von einer allgemeinen, theologischen Feststellung (14,4a) und einem weiteren Gedanken zu einer Seereise (14,4b); einer zweiten allgemeinen, theologischen Feststellung (14,5a) folgt ein anderer Gedanke zur Fahrt über das Meer (14,5b-c) und ein deutlicher Verweis auf die Heilsgeschichte (14,6). Eine weitere allgemeine, theologische Feststellung (14,7) beschließt den Absatz. 14,8–10 bilden eine Zusammenfassung der Überlegungen zu Götzenbildern, greifen auf 14,1 zurück und kündigen das Thema des folgenden Absatzes an. Der ganze Absatz 14,1–10 enthält einige bezeichnende Wiederholungen: An das Stichwort „Holz“ (ξύλον) in 14,1b.5b.7 schließt sich zweimal σχεδία „Floß“ an (14,5b.6b); „retten“ in den Verbformen σῴζειν 14,4a und διεσώθησαν 14,5c. Der Kunstfertigkeit (τέχνη) des Menschen (14,4b) wird die „Werkmeisterin“ (τεχνῖτις) Weisheit gegenübergestellt (14,2b), und eine Werke schaffende Weisheit erscheint in 14,5a. Auffällig ist auch das Stichwort „steuern“: Die Vorsehung Gottes steuert das Schiff (διακυβερνᾷ 14,3a) und die Hand Gottes die Arche (τῇ σῇ κυβερνηθεῖσα χειρί 14,6c). 14,8 schließlich verweist zurück auf den Anfang des ganzen Abschnitts in 13,10: τὸ χειροποίητον → ἔργα χειρῶν; ἠργάζετο → χειρὸς ἔργον; θεὸς ὠνομάσθη → ἐκάλεσαν θεούς: Das Götzenbild ist von Menschen verfertigt, beansprucht aber, die Stelle Gottes einzunehmen!

14,11–31 C. Weish 14,11–31: Das den Absatz beginnende διὰ τοῦτο „deshalb“ verbindet

ihn mit dem vorausgehenden und eröffnet zugleich eine Erörterung der „Götzenbilder der Völker“: Aus den im Folgenden aufgeführten Gründen „wird auch an den (Götzen-)Bildern der Völker eine Heimsuchung stattfinden, weil sie…“; εἴδωλα „(Götzen-)Bilder“ ist der den ganzen Absatz bestimmende Ausdruck (14,11a.12a.27a.29a;30b); das Wort erscheint im Buch der Weisheit immer im Plural im Unterschied zu dem in 13,11–19 und dem in 14,1–10 im Singular genannten Gegenstand. 14,11–14 bilden einen ersten konzentrisch angelegten Unterabschnitt, in dessen Mitte 14,12 herausragt:4 Die in 14,10 angekündigte Strafe wird die in 14,11a genannte „Heimsuchung“ sein. Ein zweites διὰ τοῦτο (14,14b) schließt den einführungsartigen Absatz 14,11–14 ab, der das Gericht über die Götzenbilder vorhersagt (14,11) und nach ihrem Ursprung (ἀρχή 14,12–14) suchen will. Ein zweiter Absatz umfasst 14,15–21; er enthält zwei Beispiele zum Entstehen der Verehrung von Götzenbildern: den Kult in einer Familie (14,15–16a) und, breiter ausgeführt, den Kaiserkult (14,16b-21). Inklusionsartig wird εἰκόνα ποιήσας … ἄνθρωπον (14,15b-c) wieder aufgenommen in εἰκόνα … ἐποίησαν … ἄνθρωπον

4

Zu den Einzelheiten vgl. BIZZETI, Libro della Sapienza, 92–93.

Zur literarischen Struktur von Weish 13–15

347

(14,17c.20b). Die theologische Feststellung in 14,21c, die von dem „nicht mitteilbaren Namen“ spricht, bildet die literarische Mitte sowohl von 14,11–31 als auch des ganzen Exkurses Weish 13–15.5 Das εἶτα in 14,22a (vgl. 14,16a) leitet einen neuen Absatz über die Folgen des Götzendienstes ein (vgl. die Wiederholung von μυστήρια καὶ τελετάς 14,15d in umgekehrter Reihenfolge durch τελετὰς ἢ … μυστήρια in 14,23a). In 14,23–26 werden 22 Laster aufgezählt, so viele, wie das hebräische Alphabet Buchstaben hat; das erstgenannte Laster beginnt mit τ (τεκνοφόνους τελετάς), das letztgenannte mit α (ἀσέλγεια); die Aufzählung geschieht also nach Art eines verkehrten Alphabets (von Z bis A) und deutet damit eine völlige Umkehrung der Werte an. Das zwölfte Laster, in der Mitte des Abschnitts, ist wohl nicht zufällig φθορά, der völlige Zerfall aller sittlichen Werte. Die Verse 14,27–31 nehmen das schon in 14,16b.18a genannte Thema der θρησκεία „Verehrung“ auf. Eine quasi-inclusio bilden τὰ τοσαῦτα κακά 14,22c und παντὸς ἀρχὴ κακοῦ 14,27b; vgl. auch ἀρχή in 14,12a.27b. Nach 14,31 beginnt in 15,1 (σὺ δέ, ὁ θεὸς ἡμῶν) ein neuer Absatz in der Weise eines Gebetes wie auch schon in 14,1–10 (ἡ δὲ σή, πάτερ, πρόνοια 14,3a). Durch τῶν ἁμαρτανόντων (14,31b) und ἁμαρτῶμεν (15,2a) werden die Absätze miteinander verklammert. B’. Weish 15,1–6.6 In diesem neuen Absatz kehrt der Verfasser zur Du-Anrede 15,1–6 Gottes zurück (15,1a.2ab.3ab), dem die Israeliten als „Wir“ gegenüberstehen. Ab 15,4 bleibt die „Wir“-Form, aber Gott wird nicht mehr genannt; dementsprechend kann der Absatz in zwei Abschnitte unterteilt werden: 15,1–3 hebt die Treue Gottes hervor, aber auch die Israels auf dem Hintergrund des Sinaibundes; in 15,4–6 werden dem „Wir“ Israels die Götzenverehrer gegenübergestellt. Sowohl literarisch als auch inhaltlich zeigt 15,1–6 eine Verbindung mit 8,1–4 (vgl. 8,1b und 15,1a, 8,2c und 15,6a; 8,4a und 15,3a); während der Weise sich in die Weisheit, die das All durchwaltet, verliebt, verliebt der Götzenverehrer sich in eine Statue! Der Absatz zeigt deutliche Beziehungen zu 14,10: die Wiederkehr der Du-Anrede Gottes, die Erwähnung der menschlichen δικαιοσύνη (14,7; 15,3); die Wiederholung von ὄρεξις (14,2; 15,5) und einer Partizipialform von δράω (14,10; 15,6); die Bezugnahme auf die Heilsgeschichte und das Motiv der Vorsehung Gottes nähern die beiden Absätze noch mehr einander an. Der Schlussvers 15,6 findet ein Echo am Ende des ganzen Exkurses über die Götzenverehrung (οἱ σεβόμενοι 15,6b – σέβονται 15,18a). A’. Weish 15,7–13. Der Verfasser erläutert in dem Absatz 15,7–13 die Feststel- 15,7–13 lung von 15,6. Der Absatz wird durch mehrere Inklusionen markiert, vor allem σκεύη (15,7d), das am Ende in 15,13b wiederkehrt; auch das Lexem γη-, das am Anfang (γῆν in 15,7a) und am Ende (ὕλης γεώδους in 15,13b) vorkommt; dazu das für Götzenverehrer bezeichnende Wort πλάσσω, das als Thema-Wort den Absatz prägt (15,7b.8a.9e.11a.16b); hinzuweisen ist auch auf die Weiterführung von ἐπίμοχθον (15,7a) in κακόμοχθος (15,8a). Die Verse 15,7–9 bilden einen kleinen Unterabschnitt über die Tätigkeit des Töpfers (κεραμεύς 15,7), der sich über die Sinnlosigkeit seines Tuns keine Rechenschaft gibt.

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Vgl. GILBERT, La critique, 254–255. 257. GILBERT, La critique, 193–196.

348

Weish 13 – 15

Der asyndetisch folgende Unterabschnitt 15,10–13 stellt einen neuen Schritt im Gedankengang dar: Der Töpfer lässt unbeachtet, dass Gott ihn geformt hat; er will auch noch am Bösen verdienen (15,13).15,10 besteht aus drei Nominalsätzen, 15,11 enthält in jedem der drei Kola einen Akkusativ mask. sing. eines Partizips Aorist aktiv. Das letzte Wort in 15,11c ζωτικόν bildet mit ζωήν 15,12a eine Verklammerung der beiden Unterabschnitte 15,10–11 und 15,12–13, wie παρὰ πάντας 15,13a und πάντες δέ 15,14a den Abschnitt 13,10 – 15,13 mit dem folgenden Abschnitt 15,14–19 verklammern. Der ganze Absatz 15,7–13 zeigt eine enge Beziehung zum Eingangsabsatz 13,10–19; das Zitat von Jes 44,20LXX in 15,10 verweist auf Jes 44,9–20, das Weish 13,10–19 zugrunde liegt. Das Wort ὑπηρεσία kommt in der LXX nur in Weish 13,11; 15,7 (in der Bedeutung „Gebrauch, Verwendung“) und in Ijob 1,3 (im Sinne von „Dienerschaft, Gesinde“) vor; das Lexem πορι- in 15,12c (πορίζειν „Geschäfte machen, Geld verdienen“) einerseits und in 13,19a; 14,2a (πορισμός „Geschäftsgewinn“) andererseits; σκεύη in 15,7d und 13,11d; χρυσουργοῖς καὶ ἀργυροχόοις in 15,9c und χρυσὸν καὶ ἄργυρον in 13,10c. Aber während in 13,10–19 Handwerker dargestellt werden, die an ihre Götzenbilder zu glauben scheinen, ist dies bei dem in 15,7–13 beschriebenen Töpfer nicht der Fall, wenn auch beide aus Gewinninteresse handeln. Eine konzentri- Der Text der zweiten, ausführlichen literarischen Einheit (Weish 13,10 – 15,13) ist sche Struktur so aufgebaut, dass in ihrem Zentrum (C) das Thema des Ursprungs und der Abar-

tigkeit der Götzenverehrung hervorsticht und gleichzeitig die Bestrafung der Götzenverehrer angekündigt wird. Der Verehrung der Götzenbilder wird im inneren Rahmen (B – B‘) die für sein Volk heilbringende Gegenwart Gottes gegenübergestellt mit Beispielen aus der Bibel und der Heilsgeschichte. Der Verfasser versucht außerdem, eine mehr rationale Überlegung zum Wesen der Götzenverehrung und zu den Beweggründen für deren Abartigkeit anzustellen, indem er auch hier vom weniger schweren Fall (A) zum schwereren (A‘) vorangeht. Die dritte und letzte Einheit (Weish 15,14–19) des langen Exkurses beginnt mit Weish 15,14– 19 πάντες δὲ ἀφρονεστάτοι (vgl. 13,1 und 13,10); der Superlativ zeigt einen weiteren Schritt im Gedankengang des Verfassers an. Die Einheit ist der Verurteilung der schlimmsten Form des Götzendienstes gewidmet, dem Tierkult, wie er allgemein in Ägypten praktiziert wurde. Gegen das Urteil gibt es keine Berufungsmöglichkeit. Damit hat die Steigerung ihren Höhepunkt erreicht: von der teilweisen Verurteilung der Philosophen (13,1–9) über die entschiedene Verurteilung der Verehrer von Götzenbildern (13,10 – 15,13) zur totalen Verurteilung der ägyptischen Tierverehrung. Das Verb σέβονται 15,18 (vgl. auch σεβασμάτων in 15,17b) nimmt die Partizipialform dieses Verbs in 15,6 σεβόμενοι auf, am Ende des Absatzes über die Heilsgeschichte (15,1–6). Die Wendung ἐλογίσαντο θεούς (15,15a) verweist unmittelbar zurück auf ähnliche Formulierungen in 12,27b; 13,2c.3a.10b und bestätigt so die Gliederung von Weish 13–15 in drei Teile. Der dritte Teil über den Tierkult nimmt auch wieder auf, was im ersten Exkurs schon zweimal festgestellt wurde: 11,15 und 12,23–27 zusammen mit 15,14–19 rahmen die beiden Exkurse; vgl. insbes. 15,18a (τὰ ζῷα τὰ ἔχθιστα) und 12,24b (τὰ καὶ ἐν ζῴοις τῶν ἐχθρῶν ἄτιμα); s. auch 11,15bc. Nach dem Einleitungssatz 15,14 werden zwei Gründe für die Verurteilung des Tierkultes angegeben; der erste in 15,15 und der zweite in 15,18. Die beiden καί in 15,15a (ὅτι καί) und in 15,18a (καί) stehen parallel zueinander. 15,15 bildet eine

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

349

kleine Einheit für sich: Nach der Eingangsfeststellung 15,15a greifen die folgenden fünf Kola den Text von Ps 113,13–15[115,5–7MT] auf, lösen aber die Parallelismen des Psalmtextes in eine veränderte Reihe auf: Augen – Nase – Ohren – Finger – Füße. Eine weitere kleine Einheit bilden 15,16–17; sie begründen die Aussage über die Unfähigkeiten der Götzenbilder in 15,15b-f. Weish 15,18–19 beschließen den ganzen Abschnitt mit einem sehr harten Urteil über die Götzenverehrung.

Weish 13,1–9: Die Religion der Philosophen 1 Töricht nämlich waren alle Menschen natürlicherweise, bei denen Nichterkenntnis Gottes war, und aus den sichtbaren Gütern vermochten sie nicht den Seienden zu erkennen, und wenn sie den Werken ihre Aufmerksamkeit zuwandten, anerkannten sie nicht den Werkmeister, 2 sondern meinten, entweder das Feuer oder der Wind oder die schnelle Luft oder der Kreis der Gestirne oder das gewalttätige Wasser oder die weltbeherrschenden Himmelsleuchten seien Götter. 3 Wenn sie sich schon an deren Schönheit erfreuten und sie für Götter hielten, sollten sie erkennen, um wieviel besser als diese der Gebieter ist; der Urheber der Schönheit nämlich hat sie erschaffen. 4 Wenn sie aber über deren Macht und Wirkkraft außer sich gerieten, sollten sie von ihnen her wahrnehmen, um wieviel mächtiger der ist, der sie bereitet hat. 5 Aus der Größe nämlich und der Schönheit der Geschöpfe wird analog dazu ihr Schöpfer geschaut. 6 Jedoch trifft sie deswegen gleichwohl nur geringer Tadel: Auch sie lassen sich ja wahrscheinlich irreführen, wenn sie Gott suchen und ihn finden wollen. 7 Sie halten sich nämlich bei seinen Werken auf und durchforschen sie und lassen sich vom Anblick verführen, weil das, was sie sehen, schön ist. 8 Wiederum aber: Auch sie sind nicht entschuldbar; 9 wenn sie nämlich so viel zu erkennen vermochten, dass sie [einen Urgrund der] Welt zu erschließen imstande waren – wieso haben sie deren Gebieter nicht schneller gefunden?

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1

Der Dativ φύσει ist nicht leicht zu deuten. Übersetzt man „töricht von Natur aus“, setzt dies eine sehr pessimistische philosophische Sicht des Menschen voraus im Gegensatz zur biblischen Sichtweise, die der Verfasser vertritt (anders hierzu ENGEL, „Weisheit“

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9

Weish 13,1–9 2148). Auch möglich wäre die Übersetzung: „Töricht hinsichtlich der Natur,“ d.h. die Menschen sollten von Natur aus an Gott glauben, aber sie tun es nicht. Einfacher ist es, φύσει adverbiell zu verstehen: „natürlicherweise töricht“; nicht richtig dürfte es jedoch sein, φύσει mit ἄνθρωποι zu verbinden, wie LARCHER (Sagesse III, 750–751) vorschlägt und „das sie von Natur aus Menschen sind“ zu lesen. GILBERT (La critique, 47– 50) schlägt vor, φύσει in einem schwachen adverbiellen Sinn zu verstehen: „die Menschen sind natürlich töricht“ (“d’un naturel vain“), d.h. die Torheit ist eng verbunden mit dem Menschsein. Es handelt sich um eine allgemeine Aussage, die nichts über eine etwaige „naturgegebene“ Sündigkeit des Menschen zu sagen beabsichtigt. Ähnlich scheint SCARPAT zu sehen bei seinem Vorschlag, φύσει durch „in Wirklichkeit, tatsächlich“ wiederzugeben (Sapienza III, 24.74, auch wenn er nicht genau den Gedankengang von GILBERT wiedergibt). Gilbert vermutet in diesem Zusammenhang eine Anspielung auf den Anfangssatz der Metaphysik des Aristoteles πάντες ἄνθρωποι εἰδέναι ὀρέγονται φύσει (Metaph. 980a21), wenn auch der Kontext verschieden ist. Das Verb πάρειμι „da sein, anwesend sein“ wird hier sicher ironisch verwendet: Wie die Weisheit bei Gott und beim Menschen da ist (vgl. Weish 9,9–10), so ist die Unkenntnis Gottes in den Menschen vorhanden. Der Ausdruck κύκλος ἄστρων ist einmalig und schwer zu deuten. Vielleicht denkt der Verfasser an die Kreisbewegung der Gestirne am Himmel und dementsprechend an astrologische Vorstellungen, vgl. GILBERT, La critique, 15 Anm. 55. Der seltsame Ausdruck *πρυτάνεις κόσμου bezieht sich auf die φωστῆρας οὐρανοῦ, d.h. auf die Sonne und den Mond, die als weltbeherrschend betrachtet werden (die Anspielung auf Gen 1,14–16 scheint beabsichtigt zu sein), oder aber auf die Gestirne, von denen man annahm, sie beeinflussten die Menschen und Ereignisse (vgl. GILBERT, La critique, 17–19, der dort Plutarch, Mor. 601A zitiert). Eine ähnliche Kritik findet sich auch bei Philon: Opif. 58– 60 und Abr. 78. Das Adverb ἀναλόγως kommt nach GILBERT, La critique, 25–26, in der Literatur vor dem Buch der Weisheit nur zwei Mal vor. Das Adverb τάχα bedeutet „wahrscheinlich“; deshalb betrachtet SCARPAT (Sapienza III, 59–61) 13,6–7 als Einwurf eines fiktiven Gesprächsteilnehmers, der die Nichtjuden zu verteidigen sucht, die jedoch in Wirklichkeit vom Verfasser des Buches verurteilt werden (13,8–9). Nach SCARPAT handle es sich in 13,6–9 um einen Passus in typischem Diatriben-Stil; der Verfasser antworte auf die ihm in 13,6–7 entgegengehaltenen Einwände mit seiner Auffassung, dass die nichtjüdischen Philosophen tatsächlich absolut unentschuldbar seien; bei dieser Deutung erscheint der Tonfall des ganzen Abschnitts viel strenger. Bleibt man für τάχα aber bei der üblichen Bedeutung „wahrscheinlich, vielleicht“, bleibt die Betonung beim ganzen Vers 13,6 und damit bei den Partizipien in 13,6c (vgl. GILBERT, La critique, 5 Anm. 7), und der Tonfall des Verfassers erscheint positiver. In dem Ausdruck στοχάσασθαι τὸν αἰῶνα ist das Verb στοχάζομαι „auf etw. zielen, zu treffen versuchen; vermuten; erforschen“ wohl in derselben Bedeutung „vermuten“ wie bei PLATON verwendet (Gorg. 464C: στοχάζομαι im Unterschied zu γινώσκω); in der LXX kommt das Verb noch in Dtn 19,3 „in den Blick nehmen“, Sir 9,14 „beurteilen, einschätzen“, 2Makk 14,8 „Sorge tragen für“ vor. Philon benutzt στοχάζομαι in Praem. 43 in ähnlichem Sinne wie Weish 13,9: Einigen Menschen gelang es, „durch vernunftgemäße Überlegung von den Werken her (die Existenz des) Schöpfers zu vermuten“ (ἀπὸ τῶν ἔργων εἰκότι λογισμῷ στοχασάμενοι τὸν δημιουργόν). Das Substantiv αἰών bezeichnet in der LXX, aber auch im hellenistischen Sprachgebrauch allgemein die „Welt“ (Vetus Latina: aestimare seculum) wie in Weish 14,6 (dort mit einem Beiklang der Erstreckung in der Zeit) und in 18,4 (s.u. den Kommentar); αἰών kann sich auch auf den Kosmos in seiner zeitlichen Entwicklung beziehen (vgl. die Übersetzung zu Weish 13,9b von LARCHER: „conjecturer le cours éternel des choses“,

Synchrone Analyse

351

Sagesse III, 768–772); αἰών ist ein Wort der gehobenen Sprache, das den kosmischen Gott bezeichnen kann, eine Art Weltseele oder Welturgrund, der alles eint, dessen Verehrung für Alexandria bezeugt ist (vgl. GILBERT, Critique, 34–35 mit Anm. 164; WINSTON, Wisdom 256–257; REESE, Hellenistic Influence, 60: „In contrast to this personification of the eternal vital cosmic forces, the Sage holds out as the only proper goal of all human religious striving the personal Master of all things…“). Die Wendung στοχάσασθαι τὸν αἰῶνα ist demnach zu verstehen als „[den Urgrund der] Welt vermuten, erschließen“.

Synchrone Analyse Der Beginn des Absatzes klingt zweifellos negativ. Das Adjektiv μάταιος übersetzt in der LXX häufig das hebräische ‫ הבל‬und wird nicht selten zur Bezeichnung der Götzenbilder verwendet (Jer 2,5; 8,19; 10,15; Hos 5,11; Jes 2,20; Ez 8,10; vgl. 3Kgt 16,13.26; 4Kgt 17,15 und Lev 17,7); an dieser Stelle lässt sich der Verfasser ganz unmittelbar von Jes 44,9 anregen. Das vom gleichen Wortstamm wie μάταιος gebildete Substantiv ματαιότης wurde in der LXX vom Übersetzer gewählt, um im Buch Kohelet das hebräische ‫ הבל‬zu übertragen, dem damit ein deutlicher moralischer Beiklang gegeben wird.7 Mit dem typisch biblischen Wort μάταιος verbindet der Verfasser eine Wendung, die es in der LXX nicht gibt: θεοῦ ἀγνωσία, die schuldhafte Nichterkenntnis Gottes, die im Gegensatz steht zur γνῶσις θεοῦ, einem zentralen Begriff in der hellenistischen Kultur.8 In diesem Kontext bezieht sich „Nichterkenntnis“ nicht auf die bloße Existenz Gottes, die von den griechischen Philosophen durchaus nicht geleugnet wird, sondern auf die mangelnde Erkenntnis seines wirklichen Wesens: Die griechischen Philosophen haben nicht begriffen, wer der wahre Gott ist. Dass 13,10 mit ταλαίπωροι δέ beginnt, lässt erkennen, dass mit μάταιοι μέν nur die gemeint sind, mit denen sich der Absatz 13,1–9 beschäftigt, d.h. die Philosophen; zugleich aber verleiht der Ausdruck πάντες ἄνθρωποι dennoch der Wertung μάταιοι eine allgemeinere Reichweite. Wenn auch in negativer Formulierung, enthält 13,1b doch eine sehr wichtige Aussage: Der Verfasser ist fest davon überzeugt, dass es möglich ist, von den sichtbaren Gütern her (ἐκ) Gott zu erkennen. Die Menschen waren nicht fähig, „den Seienden“ zu erkennen; der Aorist οὐκ ἴσχυσαν verweist auf etwas bereits Geschehenes. Gott wird in 13,1b-c in doppelter Weise umschrieben: mit der offensichtlich aus Ex 3,14LXX entnommenen Bezeichnung „der Seiende“ (ὁ ὤν) und mit „Werkmeister, Konstrukteur“ (τεχνίτης). Dass die Bezeichnung ὁ ὤν aus Ex 3,14LXX dem Ausdruck ἐκ τῶν ὁρωμένων ἀγαθῶν gegenübergestellt ist, wird als Verweis darauf zu verstehen sein, dass dieser Gott aus sich selbst heraus existiert (eine ähnliche Vorstellung findet sich bei Philon, Abr. 125) und so Prinzip der Existenz der sichtbaren Geschöpfe ist. Der Verweis auf die Exodusstelle leiht der Umschrei7 8

Vgl. MAZZINGHI, Luca, Ho cercato e ho esplorato. Studi sul Qohelet, Bologna: EDB 22009, 366. Vgl. NORDEN, Eduard, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede, Leipzig u. a.: Teubner 1913 (= Darmstadt: WBG 1956), 96; SCARPAT, Sapienza III, 26– 28.

13,1–2: Ausgehend vom Sichtbaren „den, der ist“ erkennen

352

Weish 13,1–9

bung des biblischen Gottes, die der Verfasser seiner jüdischen Leserschaft vortragen will, eine große Würde. Gleichzeitig markiert die Erwähnung „des Seienden“ den Abstand zum platonischen Denken, den der Verfasser des Buches der Weisheit einnimmt: Da bleibt kein Platz für einen Zwischengott, einen „Demiurgen“, der zwischen der Welt und Gott stünde. 13,1c fügt die Feststellung hinzu, dass die Menschen nicht imstande waren, aus der Beobachtung der Werke (gemeint ist: Gottes) den τεχνίτης zu erkennen (in 7,22a und 8,6b war die Weisheit schon τεχνῖτις genannt worden; s. den Kommentar z. St.). Diese Bezeichnung für Gott kennt auch Philon (Leg. III, 32.97–99 u. ö.), aber die Vorstellung findet sich bereits bei Aristoteles (s.u.) und ist auch dem Stoizismus nicht fremd (τεχνικὴν εἶναι τὴν φύσιν, SVF II, 135 frg. 411). Das Verb ἐπέγνωσαν verweist auf das Motiv der ἐπίγνωσις im Sinne von „Erkenntnis des wahren Gottes“ (vgl. Hebr 10,26; 2Petr 1,2). In 13,2 zählt der Verfasser eine Reihe von Elementen der Welt auf, die die in Die Vergöttlichung der 13,1 als μάταιοι Bezeichneten für Götter hielten: das Feuer, den Wind, die Luft, die Natur Sterne, die Gewalt des Wassers (bei den Ägyptern sicher der vergöttlichte Nil: ὁ μέγας θεὸς Νεῖλος; cf. OGIS 168,6), die Gestirne, die in Ägypten wie auch in der griechisch-römischen Welt als Götter angesehen wurden. Die Sprache erinnert teilweise an die Polemik, die schon in anderen Büchern der Bibel gegen ähnliche mythologische Vorstellungen geführt wurde (vgl. Dtn 4,19; Jer 8,2; Ez 8,16; Ijob 31,26–27) und die auch Philon wohlbekannt ist (vgl. Decal. 52–53). Aber wer sind diese „sie“, wer soll in Wirklichkeit durch diese Kritik getroffen werden? Viele der erwähnten Elemente passen zu verschiedenen zeitgenössischen philosophischen Schulen.9 Wenigstens einige der aufgezählten Punkte lassen jedoch an einen stoischen Panentheismus denken, in dem es keinen Raum für die Transzendenz Gottes gegenüber der Welt gibt:10 Der „Geist“ (πνεῦμα), universales göttliches Prinzip, das alles zusammenhält, wird mit der Gottheit identifiziert: θεός ἐστι πνεῦμα νοερὸν διῆκον διὰ ἁπάσης οὐσίας;11 jedes Element der Natur, insbesondere das Feuer, der Wind und die Luft,12 dient so dazu, die Anwesenheit der einen, einzigen Gottheit auszudrücken, die unpersönlich und immanent ist; alles ist also in Gott, und die Gottheit durchdringt alles. Deshalb könnte es so scheinen, als hätte der Verfasser eine Art „gebildeter“ Religion im Sinn, eben die der zeitgenössischen philosophischen Milieus. Tatsächlich ist es aber schwierig, genauer anzugeben, ob er eine ganz bestimmte zeitgenössische philosophische Richtung anvisiert, und auch, ob eine genaue Bezugnahme auf den Stoizismus sehr wahrscheinlich erscheint wie auch eine Anspielung auf astrologische (aber auch magische) Vorstellungen, die im hellenisierten Ägypten noch lebendig und volkstümlich verbreitet waren, wie es von Philon bezeugt

9 Zu den Einzelheiten s. LARCHER, Sagesse III, 756–760, der hier einen Verweis auf die Lehre von der Göttlichkeit der vier Elemente des Kosmos ausschließt; vgl. SCARPAT, Sapienza III, 29–59. 10 Vgl. VERBEKE, L’évolution de la doctrine du Pneuma, insb. 38. 11 POSEIDONIOS, frg. 100 Edelstein-Kidd; aber es handelt sich um eine im Stoizismus sehr verbreitete Vorstellung: vgl. SVF II, 112 frg. 310; II, 306 frg. 1027; II, 307 frg. 1035. 12 Für das πνεῦμα vgl. SVF II, frg. 310.442.786; für das Feuer: SVF I, frg. 124.157; II, frg. 423.1026–1027.1031.1045.1047; für die Luft, SVF I, frg. 85.154.169; II, frg. 1075.1100.

Synchrone Analyse

353

wird, besonders in Bezug auf Feuer, Luft und den Gestirnkreis.13 Der ganze Absatz erfasst aber gut die stoische Konzeption der Welt, eine dynamische Gesamtheit, die gebildet wird aus lebhaften Beziehungen und die beseelt ist von einem göttlichen Geist. In diesen Versen wird die in 13,1–2 begonnene Polemik fortgeführt, sie be- 13,3–5: „Anadient sich hier aber überraschenderweise der dialektischen Instrumente der grie- log“ Gott erchischen Philosophie. Die Überlegung geht von einem weiteren Argument aus, das kennen die stoischen Philosophen benutzten, um die Existenz Gottes zu beweisen: von der Schönheit und der Betrachtung der Natur, ein Motiv, das in der Bibel durchaus vorhanden ist: vgl. Jer 38,36–37[31,35–36MT]; 33,20–21MT; Ps 92[93MT],4; Jes 55,8–9; Ijob 11,8–9 und bes. der Hymnus Sir 42,21 – 43,33. Die Betrachtung der Schönheit der Schöpfung scheint die Philosophen bezaubert und sie dazu gebracht zu haben, die geschaffenen Elemente für Götter zu halten (13,3a). Aber der Gebieter (δεσπότης; vgl. Weish 6,7; 8,3; 11,26) dieser Elemente ist größer als sie. Er ist selbst der Urheber der Schönheit, der Herrscher über alles. Obwohl der Verfasser hier ein Platon-Wort verwendet (τέρπω: vgl. Hipp. Maj. 298a), vermeidet er, vom platonisch verstandenen Schönen zu sprechen, und gebraucht an Stelle von τὸ καλόν „das Schöne“ das seltene Wort καλλονή „Schönheit“ (bei Platon findet sich dieses Wort in Symp. 206d). Das Wort γενεσιάρχης in 13,3c ist ein wahrscheinlich vom Verfasser selbst geschaffener Neologismus mit der Bedeutung „Urheber“, hier der „Schönheit“. Das Argument der Schönheit der Natur war, wie schon gesagt, den Stoikern geläufig. Aber, so scheint der Verfasser sagen zu wollen, sie sind nicht zu der Schlussfolgerung gelangt, dass es hinter dem Sichtbaren einen Schöpfer gibt. Damit distanziert sich der Verfasser auch von der platonischen Konzeption des Schönen; denn das Verb κτίζω „erschaffen, gründen“ zusammen mit der Bezugnahme auf die γένεσις (enthalten in γενεσιάρχης) enthält einen deutlichen Hinweis auf die Schöpfung. 13,4 fügt ein weiteres Argument von der Art a minori ad maius hinzu: Wenn die Philosophen schon von der in der Schöpfung wirksamen Macht und Kraft beeindruckt waren, hätten sie erkennen müssen, um wie viel machtvoller der Schöpfer ist. Von Gott wird hier, wie schon in 9,2a und 11,24c, gesprochen mit Hilfe des Verbs κατασκευάζω. Eine ähnliche Überlegung findet sich auch bei

13 Vgl. einige stoische Texte, die bei VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 408–409, zitiert werden; außerdem die vielen Hinweise bei GILBERT, La critique, 14–20. SCARPAT (Sapienza III, 33–35) hält eine polemische Bezugnahme auf stoische Vorstellungen nicht für eine zutreffende Erklärung; er denkt eher an eine direkte Stellungnahme gegen gnostische Auffassungen, u.a. bezöge sich der Ausdruck ἀγνωσία auf die Gnostiker. Nach Scarpat lasse sich die Aufzählung der Elemente der Welt in 13,2 nur im Rahmen einer Verurteilung der Astrologie verstehen, wie sie in Ägypten in zeitgenössischen gnostischen Strömungen babylonischer Herkunft betrieben wurde (s. seine deutliche Beurteilung in III, 47 und die Verweise auf eine ähnlich von Philon in Abr. 69 vorgetragene Polemik). Die Hypothese von Scarpat schließt jedoch eine Bezugnahme auf die griechische Philosophie und insbesondere auf den Stoizismus nicht notwendigerweise aus. Für eine Untersuchung des kulturellen Hintergrundes gerade der Astrologie s. CUMONT, Franz, L’Egypte des Astrologues, Bruxelles: Culture et Civilization 1937; FESTUGIÈRE, André Jean, La révélation d’Hermès Trismégiste, I. L’astrologie et les sciences occultes, Paris: Gabalda 31950.

354

13,6–9: Die Philosophen – trotz allem Gottsucher

Weish 13,1–9

Philon, Praem. 42, fehlt aber auch nicht völlig im Stoizismus (vgl. Cicero, Nat. d. II, 90). Die Verbform νοησάτωσαν fordert zu einer Vernunfttätigkeit auf; νοέω, auf Gott gerichtet, kommt in Röm 1,20 vor, vgl. Philon, Leg. I, 38: Die menschliche Vernunft (νοῦς) werde von Gott so weit wie möglich zu sich emporgezogen, um die Natur Gottes zu erfassen. In diesem Zusammenhang wendet der Verfasser, zum erstenmal in der Philosophiegeschichte, das logische Instrument der analogia proportionalitatis auf die Gotteserkenntnis an (13,5 s. u.)14 und zeigt so, über eine gewisse Vertrautheit mit der hellenistischen Kultur, großen Mut. 13,5 nimmt in umgekehrter Reihenfolge das Doppelthema Größe (13,4) und Schönheit der Geschöpfe (13,3) auf. Wie ist nun das Verhalten der Philosophen zu bewerten? 13,6–9 enthalten eine weitere Überraschung: „Sie trifft nur geringer Tadel“, weil sie jedenfalls Gott gesucht haben und ihn haben finden wollen. 13,7 fügt hinzu, dass solche Menschen sich bemühen, die Werke Gottes kennenzulernen und zu erforschen, aber vom Anschein irregeleitet werden, d.h. sich bei der äußeren Schönheit der Dinge aufhalten, ohne zum Schöpfer aufzusteigen; hier kehrt der typisch griechische Einschlag der Sehweise und Wertung der Schönheit wieder. Das Verb διερευνάω kommt in der LXX nur hier und in Weish 6,3 vor; bei Philon wird es recht häufig verwendet, gerade auch im Zusammenhang mit der Untersuchung von Naturphänomenen (vgl. z.B. Abr. 69; Spec. II, 45; Plant. 79). Der Verfasser stellt bei den griechischen Philosophen eine wirkliche Absicht fest, Gott zu suchen (vgl. den ähnlichen Gedanken in Apg 17,27 und bei Philon, Decal. 66). Aus diesem Grunde kann das Urteil über sie nicht völlig negativ sein. Der von ihnen beschrittene Weg war an sich richtig; den griechischen Philosophen ist es, wie in 13,9 festgestellt wird, gelungen, die Welt treffend zu erfassen, d.h., ausgehend von der Betrachtung der sichtbaren Dinge haben sie die Existenz Gottes begriffen. Damit erkennt das Buch der Weisheit die grundsätzliche Gültigkeit der griechischen philosophischen Logik an, deren unausgeschöpfte Möglichkeiten es selbst durch die Verwendung der analogia proportionalitatis gezeigt hat. Der Verfasser hat also die Suche der Philosophen sehr ernst genommen. Aus welchem Grunde sind dann „auch sie nicht entschuldbar“ (13,8)? Die griechischen Philosophen waren imstande, die Existenz eines allumfassenden Urgrundes der Welt (αἰών) zu erschließen, sind aber der Versuchung des sinnlich Wahrnehmbaren erlegen (vgl. 13,7) und haben in diesem Urgrund nicht den Gebieter von allem, den Schöpfer, von dem die Bibel spricht, erkannt; stattdessen haben sie den Kosmos selbst vergöttlicht. Die Schlussfrage lässt eine große Verwunderung durchscheinen; sie legt den Gedanken nahe, dass die Philosophen in Wirklichkeit Gott hätten erkennen können: Warum ist es ihnen nicht gelungen? Was ihnen fehlt, wird nicht ausdrücklich gesagt, aber es handelt sich offenbar um jene Weisheit, die man nur als Geschenk von Gott erlangt mittels des Gebetes (Weish 9). Die menschliche Suche wird vom Verfasser nicht in sich als irrig betrachtet, vielmehr als notwendig gesehen und kann wahrhaftige Ergebnisse erbringen. Das Vertrauen in die Möglichkeiten der Vernunft ist die Seele der Argumentationen des Verfassers. Die Vernunft muss

14 Vgl. VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 415 Anm. 62; vgl. auch WINSTON, Wisdom, 252–253.

Diachrone Analyse

355

allerdings ergänzt werden durch die Offenbarung, die den Menschen entdecken lässt, dass der von den Philosophen gesuchte Gott nicht ein anderer Gott sein kann als der, der sich in der Bibel offenbart.

Diachrone Analyse Hier liegt einer der dichtesten und bezeichnendsten Abschnitte des Buches vor, in dem der biblische Glaube des Verfassers sich mit seiner Aufgeschlossenheit für die hellenistische Welt verbindet. In dichterischer Form nimmt der alexandrinische Verfasser das Risiko auf sich, Argumente ausdrücklich philosophischen Charakters darzulegen; auch die eigene ästhetische Erfahrung der Poesie kann so zu einer Stufe werden, die den Menschen zu Gott führt.15 Hauptquelle der Inspiration ist zweifellos die Bibel: 13,1 verweist unmittelbar auf den Gott Israels, der sich Mose im brennenden Dornbusch zeigt; Ex 3,14 wird hier in der Fassung der LXX aufgenommen (s.u.); die beiden Neologismen in 13,3.5 (γενεσιάρχης, γενεσιουργός) verweisen ihrerseits auf den Schöpfergott der Genesis. Aber wenn auch die Eingangsanregung biblisch ist, beginnt der Verfasser dennoch seine Überlegung mit einem typisch griechischen Gedanken, und griechisch ist auch der verwendete Wortschatz, der zu guten Teilen LXX-fern ist, reich an Hapaxlegomena, gewählten Wörtern und Neologismen, wie die beiden gerade erwähnten.16 Zudem findet sich hier zum ersten Mal in der Bibel eine Reflexion über eine Suche nach Gott auf dem Wege der Vernunft, die mit Argumenten, die typisch für die Logik der griechischen Philosophie sind, geführt wird. Auch die mehrfachen Bezugnahmen auf die Schönheit der Schöpfung verraten eine typisch griechische Sensibilität. Weish 13,1–9 ist nicht als der Versuch eines Beweises für die Existenz Gottes zu verstehen: Denn weder die alexandrinischen Juden noch die griechischen Philosophen sind ja Atheisten! Der biblische Hintergrund macht deutlich, dass der Verfasser es für selbstverständlich hält, dass der Gott, von dem er spricht, der ist, an den Israel glaubt. Das Problem ist eher die Beziehung zur zeitgenössischen philosophischen Sicht der griechischen Welt und von daher die Notwendigkeit eines vertieften Gesprächs über das Wesen Gottes: Von was für einem Gott wird gesprochen? Wie es in der Bibel häufig geschieht, ist das Problem nicht ein angeblicher Atheismus, sondern der Götzendienst. Weish 13,1 liegt ein bekannter stoisch-aristotelischer Beweis für die Existenz Gottes zugrunde. Aristoteles war der Erste, der in einer verloren gegangenen Abhandlung (περὶ φιλοσοφίας), die aber bekannt geblieben ist durch die Verwendung, die die Stoiker von ihr machten, behauptete, es sei möglich, Gott von den sichtbaren Dingen her zu erkennen. Philon scheint sich auf diese stoisch-aristotelischen Gedanken zu stützen, wenn er schreibt, es sei möglich, ausgehend von der Welt sich eine Vorstellung von deren Ursache zu machen, wie man, wenn man ein Haus sieht, die Existenz eines Architekten (τεχνίτης) annimmt. So nehme man, wenn man die Elemente der Natur und den Kosmos als einen wohlgeordneten Bau sehe, die Existenz eines Baumeisters des Universums (δημιουργός) an, vgl. Leg. III, 97–99. Das gleiche Argument findet sich

15 GILBERT, La critique, 35–38. 16 GILBERT, La critique, 5–8.

13,1: Zwischen Aristotelismus und Stoizismus

356

Weish 13,1–9 in anderen stoisch beeinflussten Texten.17 Ein lateinisches Beispiel bei Cicero: Tantum ergo ornatum mundi, tantam varietatem pulchritudinemque rerum coelestium, tantam vim et magnitudinem maris atque terrarum, si tuum ac non deorum immortalium domicilium putes, nonne plane desipere videare? (Nat. d. II, 6,16–17). Im Buch der Weisheit wird so der Baumeister, von dem die Griechen sprechen, mit dem biblischen Gott, der sich in Ex 3,14 vorstellt, identifiziert: Das philosophische Argument, das die Griechen verwenden, um zur Annahme der Existenz Gottes zu gelangen, wird vom Verfasser des Buches der Weisheit als im Grunde richtig beurteilt; das, was ihnen gefehlt hat, ist, entdeckt zu haben, dass der Baumeister der Welt derselbe Gott ist, der sich Mose geoffenbart hat. Diesen Gott haben die Nichtjuden nicht erkannt.

13,2 Wie schon Cicero, so unterscheidet auch der Verfasser in 13,2 zwischen der Exis-

tenz (Dasein) und dem Wesen (Sosein) Gottes, oder besser: Er scheint eine solche Unterscheidung vorauszusetzen; denn das Problem ist für ihn nicht so sehr die Existenz Gottes, die für die antiken Menschen selbstverständlich war, sondern sein Wesen, seine Natur. Das Ziel des Verfassers ist in diesen Versen nicht so sehr, zu beweisen, dass Gott existiert, als vielmehr zu zeigen, wer er wirklich ist. Die griechischen Philosophen waren zur Annahme eines Baumeisters gelangt,18 haben aber sein Wesen nicht erfasst und sind in einen Panentheismus verfallen. Das von den Griechen zum Beweis der Existenz einer Gottheit verwendete Argument ist richtig, daran erinnert der Verfasser; dennoch ist es ihnen nicht gelungen, zu erfassen, dass der Gott, von dem sie sprachen, der Schöpfer der Welt ist, der sich Mose geoffenbart hat. Hier liegt eine bedeutende geistige Errungenschaft vor, die später in einem guten Teil der christlichen Tradition bewahrt wird: Der Gott, den die Philosophie erreicht, ist nicht und kann nicht ein anderer Gott sein als der, auf den der Glaube sich richtet; und der Gott des Glaubens ist für den Verfasser derjenige, der sich in der Bibel geoffenbart hat, der Gott des Exodus und der Schöpfergott, der erschafft und der rettet. Das Verfahren der Analogie, das zum ersten Mal von Platon angewandt wurde, 13,5: Analogie wird von den Stoikern so beschrieben: ἀναλογισμὸς δ’ ἐστὶ λόγος ἐκ τοῦ φαινομένου ὁρμώμενος καὶ τοῦ ἀδήλου κατάληψιν ποιούμενος „Analogie ist ein Denkvorgang, der vom Erscheinenden ausgeht und ein Erfassen des nicht Sichtbaren bewirkt“.19 Es handelt sich um ein Vorgehen der Vernunft, das bei der Erfahrung des Wahrnehmbaren ansetzt, um zum Erfassen von Gegebenheiten zu gelangen, die über die Erfahrung hinausgehen. Um dies zu tun, bedient sich die Analogie des sog. „Verhältnisses der Proportionalität“, indem es die Eigenschaften des Gegenstandes der Erfahrung vergrößert oder verkleinert (z.B. wird die Erde als eine unendlich große runde Scheibe gedacht). Die Verwendung gerade dieses logischen Instruments, angewandt auf die Schönheit der sichtbaren Dinge, hätte die griechischen Philosophen zu einer richtigen Folgerung über das Wesen Gottes

17 Vgl. SVF II, 301–305 frg. 1011–1020; das Argument der Schönheit des Kosmos als Beweis für die Existenz Gottes ist Chrysippos bekannt (SVF II, 301 frg. 1011). 18 Der Verfasser vermeidet es sorgfältig, das Wort „Demiurg“ zu verwenden, der nach platonischer Auffassung eine Art Zwischengottheit ist, der die Welt nach präexistenten Ideen „formt“. Der Verfasser möchte jede Unklarheit ausschließen: Der Gott, von dem er spricht, ist der personhafte Gott des Exodus, der Schöpfer- und Rettergott der Überlieferung Israels. 19 Vgl. SVF II, 89 frg. 269; s. die ausführliche Erörterung bei GILBERT, La critique, 25–30.

Diachrone Analyse

357

veranlassen müssen: Nach der Überzeugung des Verfassers ist es möglich, mittels der Analogie von den geschaffenen Dinge aufzusteigen zum Schöpfer, aber dieser ist unendlich viel größer als sie und kann deshalb nicht mit etwas Materiellem identifiziert werden, wie die stoischen Philosophen demgegenüber annahmen. Ein ähnliches Argument wird Paulus in Röm 1,19–20 verwenden.20 Der Schöpfer wird hier mit einem weiteren Neologismus benannt: γενεσιουργός „Bewirker von Existenz“, ein Audruck, der später nur in den hermetischen Schriften wieder vorkommt. Das Buch der Weisheit bedient sich so in genialer Weise des griechischen Gedankens der Analogia proportionalitatis, um den stoischen geschlossenen Kreis der Immanenz aufzubrechen. Es ist wahr: Man kann von den Geschöpfen zu ihrem Schöpfer aufsteigen, aber gerade die zwischen ihnen und ihm bestehende Analogie hebt logischerweise den Baumeister der Dinge über diese hinaus; und der Baumeister ist der Gott der Bibel, der Gott des Exodus und der Schöpfung. In diesem Zusammenhang fällt auf, welch große Bedeutung das Buch der Weisheit der Vernunft zuspricht (vgl. auch die Beschreibung der Angst in Weish 17,11– 12). In 13,4 lädt der Verfasser die nichtjüdischen Philosophen zu einer Wahrnehmung ein (νοησάτωσαν), gerade ausgehend von der Analogia proportionalitatis. Der Ausdruck für das in 13,5 beschriebene Vorgehen ist jedoch θεωρέω, d.h. das Anschauen, die Betrachtung, in der die Analogie, d.h. das vernunftgeleitete Vorangehen, nur den ersten Schritt darstellt. Das Buch der Weisheit nimmt hier möglicherweise einen Text aus der Schrift De mundo des (Ps-)Aristoteles auf (bzw. darin enthaltene Gedanken), in der sich die gleiche Gegenüberstellung der Unmöglichkeit, Gott direkt zu sehen, und der Möglichkeit, ihn mittels seiner Werke anzuschauen, findet: „Auch dies also muss man in Bezug auf Gott sagen, dass er der Mächtigste an Kraft, der Vornehmste an Schönheit, unsterblich bezüglich des Lebens, der Hervorragendste an Tugend ist; obwohl er jedem sterblichen Wesen unsichtbar bleibt, kann er nichtsdestoweniger angeschaut werden (θεωρεῖται) von seinen Werken her“ (399b 19ff.). Zu beachten ist, wie am Anfang von Weish 13,5 die Präposition ἐκ, die die zum Verb θεωρεῖται am Ende von 13,5 gehörige Bestimmung einleitet, den griechischen Klang des Textes verstärkt: Gott wird nicht im Innern der Schöpfung als in ihr gegenwärtig angeschaut, sondern „ausgehend von den Geschöpfen“; das vernunftgemäße Denken auf die Schöpfung anzuwenden, führt zur Anschauung Gottes. 13,6–7 für den Einwand eines hypothetischen Gesprächspartners zu halten, dem dann in 13,8–9 seitens des Verfassers widersprochen würde, erscheint übertrieben (s.o. die Anmerkungen zum Text). Weish 13,1–9 hat gewiss einen polemischen Tonfall, ist aber, in Übereinstimmung mit dem übrigen Buch, zweifellos offener gegenüber der griechischen Welt, als man gelegentlich hat zugeben wollen: „ Der Verfasser erkennt also implizit die Bemühung der Nichtjuden an, die Existenz des Göttlichen zu beweisen, stellt aber fest, dass sie das Wesen dieses Gottes nicht erkannt haben“.21 Nach Giuseppe Scarpat zeigt das ganze Buch der Weisheit „unumstößlich einen in der Schule der Väter gelernten Denkweg, der völlig von dem bei den grie-

20 Zum Nachhall dieses Textes in der patristischen Literatur s. LARCHER, Sagesse III, 763. 21 GILBERT, La critique, 38.

Die Bedeutung der Vernunft

13,6–9: Polemik oder Dialog?

358

Weish 13,10–19

chischen Philosophen gewiesenen Weg verschieden“ sei.22 Diese Annahme ist wohl verfehlt; denn die Beziehung zur griechischen Welt ist zweifellos weniger drastisch darzustellen. Dazu schreibt Maurice Gilbert: „Mit diesem Beispiel [13,1–9] haben wir zeigen wollen, dass der Verfasser die Suche der Philosophen seiner Zeit ernst nahm: Er antwortet ihnen, indem er ihre eigenen Methoden verwendet und so ihre Ergebnisse reinigt.“23

Weish 13,10 – 15,13: Die Kritik an der Götzenverehrung Nach den Ausführungen zur Religion der Philosophen und derer, die Naturelemente und Gestirne vergöttlichen, widmet sich der lange Mittelteil 13,10 – 15,13 der Verehrung von Götzenstatuen und -bildern. Die fünf Unterabschnitte werden im Folgenden einzeln ausgelegt.

Weish 13,10–19: Die Entstehung eines Götzenbildes 10 Unglückselig aber sind und bei Totem (verweilen) die Hoffnungen derer, die die Werke von Menschenhänden Götter genannt haben, Gold und Silber, handwerklich Gestaltetes, und Nachbildungen von Lebewesen oder unbrauchbaren Stein, ein Werk altertümlicher Hand. 11 (So ist es) aber auch, wenn irgendein Holzhandwerker einen leichtbeweglichen Baum absägte, dessen Borke ringsum kundig entfernte und ihn schön bearbeitete, (daraus) ein nützliches Gerät bereitete zum Dienst im (täglichen) Leben, 12 die Abfälle seines Werkstücks aber für die Zubereitung von Essen verwendete und sich sättigte, 13 den für nichts brauchbaren Abfall davon aber, krummes und knotiges Holz, nahm und als Feierabendbeschäftigung daran schnitzte und es mit der Erfahrenheit von entspannter Tätigkeit formte, es der Gestalt eines Menschen nachbildete

22 SCARPAT, Sapienza III, 8. 23 GILBERT, „Inculturazione“, 18.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

359

14 oder es irgendeinem erbärmlichen Lebewesen ähnlich machte, es mit Rötel überstrich und seine Oberfläche rot schminkte und jeden Flecken auf ihm überstrich 15 und für es eine ihm entsprechende Nische machte und es an einer Wand mit einem Eisen(nagel) sicherte und aufhängte. 16 Zwar traf er also, damit es nicht herunterfiel, Fürsorge für es im Wissen, dass es unfähig ist, sich selbst zu helfen, – es ist nämlich nur ein Bild und benötigt Hilfe! –, 17 aber im Gebet um Besitz und Ehe und Kinder schämt er sich nicht, das Unbelebte anzusprechen, und um Gesundheit ruft er das Kraftlose an; 18 um Leben ersucht er das Tote, um Beistand fleht er das Unerfahrenste an, um gute Reise aber das, was nicht einmal den Fuß benutzen kann; 19 in Bezug auf Geschäftsgewinn und auf Tätigkeit und Erfolg seiner Hände bittet er bei dem, was mit seinen Händen am wirkungslosesten ist, um gute Wirkung.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 10 Das Substantiv *ἐμμελέτημα kommt nur einmal noch in der uns bekannten griechischen Literatur vor (Ant. Gr. VI, 83,4: ἁρμονίης ἐμμελέτημα); die Bedeutung ist eine praktische Aufmerksameit auf eine Tätigkeit; die Wendung τέχνης ἐμμελέτημα kann man übersetzen mit „kunstvoll ausgearbeitet“. Auch *ἀπείκασμα begegnet nur hier in der LXX, kommt aber bei Platon vor (Crat. 402d, 420c) in der Bedeutung „Abbildung, Darstellung“. 11 Der Text ist überreich an seltenen, gewählten Wörtern; *ὑλοτόμος ist ein homerisches Wort (Il. 23,123); *εὐκίνητος „leicht zu bewegen, einfach zu bearbeiten“ und *ἐκπρίω (wohl zu verstehen als „einkerben, absägen“ kommen sämtlich nur hier in der LXX vor; ebenso auch das seltene *περιξύειν „ringsherum abschaben“ und *φλοιός „Rinde, Borke“, *εὐμαθής „kundig, leicht“ und *τεχνάομαι „bearbeiten“ (vielleicht von Xenophon übernommen; vgl. SCARPAT, Sapienza III, 87). 12–13 Das sehr seltene und ungewöhnliche Wort *ἀπόβλημα „Abfall“ hat in den Handschriften viele Varianten hervorgerufen (vgl. die Edition von ZIEGLER); vielleicht wurde es vom Verfasser selbst gebildet vom Verb ἀποβάλλω „wegwerfen und ist also zu verstehen als „Müll“ (vgl. die puristische Korrektur in A und mehreren Minuskeln: ὑπολείμματα „Übriggelassenes, Reste“). 13,13b enthält in der Beschreibung des verwendeten Holzstücks „ein krummes und mit Knoten verwachsenes Holz zwei weitere, sonst in der LXX nicht vorkommende Wörter: *ὄζος „Zweig, Knoten“ und das Partizip perf. act./intrans. von * συμφύω „zusammenwachsen (lassen)“. In 13,13c lesen einige Handschriften und alte Übersetzungen (A Sc 766 Sa Sy Arab Arm) ἐν ἐπιμελείᾳ ἐργασίας αὐτοῦ „bei der Beschäftigung mit seiner Tätigkeit“ und verfehlen damit die Ironie des Ausdrucks im gut bezeugten Text ἐν ἐπιμελείᾳ ἀργίας „in der Beschäftigung mit seiner Nichtarbeit“. Das Götzenbild wird vom Schnitzer außerhalb der Arbeitszeit, also in Pausen und nach Feierabend, angefertigt! SCARPAT (Sapienza III, 89.118) hält eine ironische Bezugnahme auf die Arbeitsruhe am Sabbat für möglich.

360

Weish 13,10–19

Die Verbform ἐτύπωσεν in 13,13d von τυπόω „formen, modellieren“ (in der LXX sonst nur noch in Sir 38,30; das Verb kommt auch bei Platon vor) kennzeichnet ein Voranschreiten der Argumentation. Einige Handschriften und alte Übersetzungen (Sc 248 249–254–411–754 La, Sa, Arm) lesen ἐν ἐμπειρίᾳ συνέσεως (Lat.: per scientiam artis); *ἐμπειρία bedeutet „Erfahrung, Fertigkeit“. Aber diese Variante „mit kundiger Fertigkeit“ ist wohl zugunsten der Lesart der Mehrzahl der Textzeugen ἐμπειρίᾳ ἀνέσεως, d.h. „mit Erfahrenheit in entspannter Tätigkeit, mit Erfahrung in Freizeitbeschäftigung“ abzulehnen: Hier wird die ironische Beschreibung der Entstehung des Götzenbildes im otium des Schnitzers, der es in seiner Freizeit herstellt, fortgeführt. 13,13e zusammen mit 13,14a scheinen den Hauptsatz zu der in 13,11 mit εἰ δὲ καί τις ὑλοτόμος begonnenen, sehr langen Satzperiode zu bilden; A und mehrere andere Textzeugen fügen hinter dem Verb ἀπείκασεν die Konjunktion τε ein und vermeiden so die asyndetische Konstruktion, die jedoch wohl ursprünglich ist. 14 Zu den Einzelheiten der Bezeichnungen für die Bemalung des Götzenbildes s. SCARPAT, Sapienza III, 90–91. *τὸ φῦκος „Schminke (aus rotem Meertang)“ und *ἐρυθαίνω „rot machen“ kommen nirgends sonst in der LXX vor, ἡ μίλτος „Mennig, Rötel“ nur noch in Jer 22,14. 18 *ἐπικουρία bedeutet „Hilfe, Beistand“. Objekt des in der LXX seltenen Verbs ἱκετεύω „anflehen“ (vgl. 2Makk 11,6; 3Makk 5,51, ebenfalls in religiösem Kontext) ist der schwierige Ausdruck τὸ ἀπειρότατον, der sich u.a. von einer Stelle bei Xenophon her erhellen lässt (Mem. 4,7,1) und dort die Bedeutung „unerfahren, unkundig“ hat (vom Substantiv πεῖρα), vgl. SCARPAT, Sapienza III, 93–94. 19 *εὐδράνεια ist ein hapax totius graecitatis und aus dem davorstehenden *ἀδρανής „schwach, kraftlos“ gebildet und ließe sich übersetzen mit „gute Wirkung, Wohlbefinden“ (vgl. εὐδρανίης in einer phrygischen Inschrift aus dem 3. Jh. v. Chr., vgl. LIDDELLSCOTT-JONES 2073 sub voce). *ἐπιτυχία bezeichnet im griechischen Sprachgebrauch den „Erfolg“.

Synchrone Analyse 13,10: Die to- Die Götzenverehrer sind „unglückselig“ (ταλαίπωροι; vgl. 3,11): Der Ausdruck beten Götzen- tont eine negative Steigerung im Vergleich mit der Bezeichnung μάταιοι, mit der bilder der Abschnitt über die Philosophen beginnt. Sie sind „unglückselig“ vor allem,

weil sie „tote Dinge“ anbeten (13,10a); dieser Gedanke kehrt am Ende des Absatzes in 13,18a wieder. Nur wenige biblische Texte sprechen von den Götzenbildern als „toten Dingen“, z.B. EpJer [Bar 6],26.70 und Ps 105[106MT], 28, aber dort wird das Götzenbild als etwas Totes nicht dem lebendigen Gott gegenübergestellt. Die Parallele von 13,18a mit 13,17b, wo von ἄψυχος „unbeseelt“, d.h. ohne Leben, die Rede ist, macht deutlich, dass der Verfasser mit „toten Götzenbildern“ Dinge meint, die im Gegensatz zum Menschen keinerlei Leben besitzen.24 13,10 schließt mit einer Erwähnung von Götzenbildern aus Stein,25 die solche geworden sind wegen ihres Alters; der Text spielt mit der ironischen Bedeutung von „antik, alt“ verstanden als „antiquiert, altertümlich, veraltet“. 13,11 führt die Figur des Schreiners oder Schnitzers ein und lässt sich dabei 13,11–15: Der Holzbearbeiter in freier Weise von Jes 44,13–17 anregen. Dessen Arbeit hat Sinn, wenn sie darauf gerichtet ist, einen irgendwie für das Leben des Menschen nützlichen Gegenstand 24 Vgl. GILBERT, La critique des dieux, 75–81. 25 Über heilige Steine in vorderorientalischen Kulten s. WINSTON, Wisdom, 259–260.

Synchrone Analyse

361

zu erstellen, vgl. EpJer [Bar 6,]58. In 13,12–13 wird mit großer Ironie beschrieben, wie das Götzenbild aus den „Abfällen“ der Holzbearbeitung entsteht, oder, besser aus dem Abfall der Abfälle (vgl. die absichtliche Wiederholung von ἀπόβλημα in 13,13a); dieser wird verwendet in der Freizeit eines Schnitzers, wenn er nichts Besseres zu tun hat (vgl. 13,13d und die Anmerkungen zum Text). Das Verb γλύφω „aushöhlen (Stein, Erz), schnitzen (Holz)“ in 13,13c verweist zurück auf die Jesajastelle (Jes 44,10LXX); aber auch in der griechischen Welt wird das Verb im Zusammenhang mit Götterstatuen verwendet (Herodot, Hist. 2,46,2). Schließlich verleiht der Schnitzer dem Götzenbild das Aussehen eines Menschen (*ἀπεικάζω „abbilden, darstellen“); damit wird auf Jes 44,13 (ἐποίησεν αὐτὸ ὡς μορφὴν ἀνδρός) angespielt, aber die Verwendung von εἰκών könnte ein beabsichtigter polemischer Verweis auf einen Ausdruck in der Genesis sein (vgl. Gen 1,26: ποιήσωμεν ἄνθρωπον κατ’ εἰκόνα ἡμετέραν). An die Stelle eines menschlichen Wesens, des Bildes Gottes wird ein Götzenbild gesetzt, hergestellt von einem Menschen, der einen Gott nach seinem eigenen Bild erschafft. Die Götzenverehrung erscheint so als eine Art Gegen-Schöpfung, eine bewusste (εἰδώς 13,16b) Negierung des Planes Gottes für die Welt. 13,14a fügt noch die Möglichkeit hinzu, dass der Götze ein Bild eines erbärmlichen Tieres sei, und nimmt so bereits die Kritik am ägyptischen Tierkult vorweg. Das Verb ὡμοίωσεν verstärkt den Eindruck, dass hier ironisch auf einen Genesis-Kontext Bezug genommen werden soll (vgl. καθ’ ὁμοίωσιν Gen 1,26, vgl. auch Jes 40,18 und Dtn 4,15–17). In 13,14b-15 wird die Bemühung des Handwerkers, der nicht als Künstler bezeichnet werden kann, beschrieben: Er sucht dem Götzenbild, das er selbst angefertigt hat, den Anschein von Leben zu geben. Die Nische in der Wand, in der es befestigt wird, um nicht herunterzufallen (vgl. Jes 40,20; 41,7; 46,7), lässt an Skulpturen von Hausgöttern denken. Nach der ironischen Beschreibung der Entstehung des Götzenbildes, Ergebnis einer Freizeitbeschäftigung mit Abfallmaterial einer Schreinerei, bilden 13,16–19 den Höhepunkt des Abschnitts 13,10–19: Der Schnitzer schämt sich nicht, sein Leben und seine Bedürfnisse einem Gegenstand anzuvertrauen, den er selbst hergestellt hat. Ironischerweise ist es der Handwerker selbst, der für sein Werk Vorsorge treffen muss, damit das Götzenbild nicht herunterfällt (13,16a). Der Verfasser benutzt hier das Verb προνοέω (vgl. 6,7), das auf die πρόνοια, die Vorsehung Gottes, verweist (vgl. Weish 14,3). Denn das Götzenbild ist unfähig, sich selbst zu helfen (13,16b). Der Gedanke stammt wohl aus EpJer [Bar 6,]57, aber findet sich auch mehrfach in den Fremdgötterkritiken, vgl. ´IJes 46,1–2; Jer 10,4b-5; Ps 113,13– 14[115,5–6MT]. Die Götterstatue ist nichts anderes als ein Bild; das Wort εἰκών aus 13,13e wird aufgegriffen und bezeichnet hier, wie häufig in der LXX, das Götzenbild (Dtn 4,16; 2Kön 11,18; Jes 40,19.20 u. ö.); damit wird es polemisch der griechischen Vorstellung gegenübergestellt, für die das Bild eher eine Idealisierung der Wirklichkeit ist. Das Götzenbild ist jedoch nur deren blasse Kopie. Deshalb benötigt es Hilfe (13,16cβ); die Verwendung des Wortes βοήθεια ist sicher ironisch; die Menschen bitten Gott um Hilfe (Ps 59[60MT],13; 69[70 MT],2; 70[71 MT],12 u. ö.), während das Götzenbild nicht in der Lage ist, sich selbst zu helfen. Trotzdem schämt sich der, der das Götzenbild angefertigt hat, nicht, es für seine Bedürfnisse anzuflehen; genannt werden Besitz, Ehe und Kinder (13,17a). Aber das Götzenbild, an das sich der Verehrer wendet, ist nur ein lebloses Ding: ἄψυχος. Von 13,17b an steigert die Verwendung der Anapher (fünfmal beginnt ein

13,16–19: Sich den Götzenbildern anvertrauen?

362

Weish 13,10–19

Kolon mit der Präposition περί) das Empfinden der Absurdität, ein Götzenbild anzuflehen; es gibt keinen vergleichbaren biblischen Text über die Götzenbilder, auch wenn Ps 113,15[115,7MT] hier Pate gestanden haben mag. Der Götzenverehrer erfleht vom Götzenbild Gesundheit, ohne sich Rechenschaft zu geben, dass dieses selbst schwach ist; er bittet es (ἀξιοῖ nach dem Sprachgebrauch der LXX) um Leben, ohne daran zu denken, dass das Götzenbild tot ist (13,17c-18a). Das Götzenbild wird als Hilfe angerufen und als Begleitung auf Reisen, obwohl es doch keinerlei Erfahrung besitzt und nicht gehen kann (13,18b-c). Auch für den Erfolg seiner Arbeit und den Gewinn daraus bittet der Verfertiger das Götzenbild um Hilfe, das jedoch in keiner Weise in der Lage ist, eine solche zu bieten (13,19).

Diachrone Analyse Die Kritik an der Götzenverehrung beginnt mit diesem von Ironie geprägten Abschnitt, in dem das Entstehen eines Götzenbildes durch handwerkliches Tun beschrieben wird; es ist daher unfähig, dem Menschen irgendeine Hilfe zu bringen. Eine ähnliche Kritik findet sich auch in der griechisch-römischen Welt; man denke an die berühmte Satire des Horaz über das inutile lignum (Sat. 1,8,1–3), in der das Götterbild polemisch und ironisch beschrieben wird als Erzeugnis eines Handwerkers, der seine Zeit nicht besser zu nutzen wusste. Der Hintergrund der Darstellung im Buch der Weisheit ist jedoch vor allem biblisch, wie sie im Jesajabuch (Jes 44,9–20) vorgetragen wird, wo der Prophet das Werk der Götzenverehrer als eine Nachahmung der Taten, die Gott für sein Volk vollbracht hat, beschreibt. Der Verfasser benutzt den Jesajatext ausgiebig, aber mit einer gewissen Freiheit und zeigt dabei seine Kreativität.26 Auch das Bilderverbot des Dekalogs (Ex 20,3–4 = Dtn 5,7–8) liegt seinen Ausführungen, die viel strenger klingen als in 13,1–9, zugrunde. Die Darstellung des Götzenbildes als „Werk der Hände des Menschen“ ist ein 13,10 häufig in der Bibel begegnendes Klischee der Polemik gegen die Fremdgötterverehrung (vgl. Dtn 4,28; 2Kön 19,18 = Jes 37,19; 2Chr 32,19; Ps 113,12[115,4MT]; Ps 134[135MT],15; EpJer [Bar 6,]50). In Ps 113,12[115,4MT]; Ps 134[135MT],15 werden Gold und Silber genannt; in Dtn 4,28 und 2Kön 19,18 Holz und Stein; in Hab 2,10 Holz, Stein, Gold und Silber; in Weish 13,10 Gold, Silber und Stein, und ab 13,11 Holz. Der Text im Buch der Weisheit scheint nicht einen spezifischen biblischen Passus aufzugreifen. Die Erwähnung von Tierdarstellungen gehört in einen typisch ägyptischen Kontext. Bei der Beschreibung des Götzenbildes in 13,11–19 steigert das Buch der Weis13,11–19 heit oft die Polemik, indem es Aspekte hervorhebt, die eher mit seinem eigenen hellenistischen Kontext verbunden sind als mit der biblischen Welt. Die Erwähnung der bunten Bemalung der Götzenbilder verweist auf eine griechische Eigenart, die in den vom Verfasser benutzten biblischen Texten keine Entsprechung hat.27 Der Ausdruck ἄψυχος (13,17b; vgl. 14,29) klingt griechisch und wird in Syb. 5,84; 8,47 für Götterbilder verwendet, ebenso bei Philon (Leg. II, 22; III, 160; Decal. 76; Virt. 219). Der Verfasser übertreibt hier die Polemik, wenn er annimmt, dass die 26 Siehe den genauen Vergleich bei GILBERT, La critique des dieux, 64–75. 27 Vgl. GILBERT, La critique des dieux, 88–90.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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Götzenbildverehrer ihre Gottheiten mit dem von ihnen angefertigten Gegenstand identifizieren; das ägyptische Ritual war bemerkenswert kompliziert wie auch die ägyptische Vorstellung des Göttlichen; die Ironie setzt sich hier an die Stelle einer zutreffenden Kenntnisnahme dessen, was andere denken.28

Weish 14,1–10: Das Floß der Vorsehung 1 Irgendeiner wieder, der eine Seefahrt unternehmen und die wilden Wogen durchqueren will, schreit ein (Stück) Holz an, das morscher ist als das Schiff, das ihn trägt. 2 Letzteres nämlich hat zwar das Verlangen nach Geschäftsgewinnen ersonnen, die Werkmeisterin Weisheit aber hat es bereitet. 3 Deine Vorsehung aber, Vater, steuert es; denn du hast auch im Meer einen Weg gegeben und in den Wogen einen sicheren Pfad; 4 du zeigtest damit, dass du aus allem retten kannst, so dass jemand auch ohne handwerkliche Fertigkeit (ein Schiff ) besteigen (kann). 5 Du willst aber, dass die Werke deiner Weisheit nicht untätig sind. Deshalb vertrauen die Menschen auch einem ganz unbedeutenden Holz ihr Leben an, und die die Flut auf einem Floß durchquerten, wurden gerettet. 6 Auch im Anfang nämlich, als die überheblichen Riesen zugrunde gingen, hinterließ die Hoffnung der Welt, die sich auf ein Floß geflüchtet hatte, der (späteren) Zeit einen Samen zur Hervorbringung, gesteuert von deiner Hand. 7 Gesegnet nämlich ist das Holz, durch das Gerechtigkeit geschieht. 8 Das Handgemachte aber – verflucht ist es und der es gemacht hat; denn dieser hat es gearbeitet, das Vergängliche aber wurde Gott genannt. 9 Gleichermaßen nämlich sind Gott verhasst sowohl der Gottlose als auch seine Gottlosigkeit; 10 auch das Hergestellte nämlich wird zusammen mit dem, der es gefertigt hat, bestraft werden.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1

Die Wendung *πλοῦν στελλόμενος ist klassisch, vgl. Sophokles, Ajax 1045. Das Partizip praes. hat hier finale Bedeutung und ist anstelle eines Futurs gebraucht (BDR § 418,4).

28 Vgl. WINSTON, Wisdom, 262–263.

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2

6

Weish 14,1–10 Der ganze Vers ist aus gewählten Ausdrücken und mit großer rhetorischer Fertigkeit formuliert, z.B. . ἄγρια κύματα: Zum einzigen Mal im Buch wird hier ἄγριος verwendet, und zwar in übertragenem Sinn „wilde Wogen“ (vgl. Jud 13). Das Adjektiv σαθρός „morsch, faulig“ kommt in der LXX nur noch in Ijob 41,19 vor, ebenfalls zusammen mit ξύλος. Auch das Verb ἐπιβοάω „anschreien, anrufen“ kommt in der LXX sonst nur noch einmal vor (4Makk 6,4), wird aber schon von Homer auf die Götter bezogen verwendet (Od. 1,378). Der größte Teil der Textzeugen liest in 14,2b τεχνῖτις δὲ σοφία, während einige Minuskeln (vgl. Lat.: et artifex sapientia fabricavit sua) τεχνίτης δὲ σοφίᾳ lesen; diese Lesart wird von verschiedenen neueren Autoren gewählt, die hier eher an eine Aussage über die Weisheit des Schiffbauers denken; die Lesart τεχνῖτις sei aufgrund von Weish 7,22a und 8,6c entstanden. Siehe jedoch ZIEGLER 67 zum Wechsel η / ι im Buch der Weisheit. Bleibt man bei der Lesart der Mehrheit der Zeugen, dann ist , τεχνῖτις σοφία zu verstehen als die „Werkmeisterin Weisheit“, d.h. die handwerklich-technische Fertigkeit des Schiffskonstrukteurs. Das Substantiv αἰών hat im Buch der Weisheit eine räumliche (vgl. 13,9), aber auch eine anthropologische Bedeutung (die Menschheit, vgl. 18,4) und einen zeitlichen Beiklang; in 14,6c kann man αἰών als „Welt“ verstehen, aber vielleicht besser als „die künftige Zeit“, die nachfolgenden „Generationen“. Das Thema der Nachkommenschaft, ausgedrückt im daneben stehenden Wort σπέρμα, bestätigt diese Deutung.

Synchrone Analyse 14,1–3a: Deine Vorsehung steuert das Schiff!

Unversehens konzentriert sich die Aufmerksamkeit des Verfassers auf das Meer und die Schifffahrt, eine nach der allgemeinen Überzeugung in der alten Welt gefahrvolle Angelegenheit. In hellenistischer Zeit ist die mit der Seefahrt verbundene Symbolik sehr reich: Die Schifffahrt wird als eine tödliche Gefahr gesehen, eine Herausforderung an das Schicksal, aber auch als ein kühnes Unternehmen des Menschen. „Die antike Literatur ist gleichsam durchwoben von Seefahrtsymbolik“.29 Wer eine Seereise unternimmt, ruft im Augenblick der Abfahrt das Götterbild an, das oft gerade auf dem Bug des Schiffes befestigt war (vgl. Apg 28,11);30 in bemerkenswerter Ironie wird es hier zu einem „morschen Stück Holz“, das in üblerem Zustand ist als das Schiff selbst (πλοῖον: der Ausdruck kennzeichnet es als Handelsschiff), das es beschützen sollte; einen möglichen biblischen Hintergrund bietet Jona 1,5. Wie sich zeigen wird, kritisiert der Verfasser nicht die Vorstellung, dass man sich bei einer Seereise Gott anvertrauen muss, sondern, dass die Seeleute sich an ein Götzenbild wenden, das mit menschlichen Händen gemacht wurde und das unfähig ist, sie zu retten. 29 RAHNER, Hugo, Symbole der Kirche: die Ekklesiologie der Väter, Salzburg: Müller 1964, 434; vgl. 432–472 über die Verbreitung der Schifffahrtssymbolik in der klassischen und der patristischen Literatur. 30 Vgl. VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 428 Anm. 3; WINSTON, Wisdom, 263. In Alexandria war es vor allem die Göttin Isis, die als Patronin der Seefahrt angerufen wurde, vgl. MAZZINGHI, „La barca della Provvidenza“, 78–82. Für Ägypten ist aber auch die Praxis bezeugt, Gegenstände individueller Verehrung mit sich zu führen, vgl. DUNAND, Françoise, Dieux et hommes en Egypte. 3000 av. J.-C. – 395 apr. J.-C.: anthropologie religieuse (Paris: Colin 1997) 267–268.

Synchrone Analyse

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14,2a bezieht sich auf die Beweggründe, weshalb Menschen sich auf See begeben: Das Schiff wurde entworfen (ἐπενόησεν) aus Gewinnstreben (ὄρεξις πορισμῶν). Das Wort ὄρεξις wird hier nicht in philosophischem Sinne verwendet, wie es im Stoizismus geschieht, wo es das Streben, die naturhafte Neigung bezeichnet (eine Form von Drang [ὁρμή]; vgl. SVF III, 40 frg. 169), sondern im negativen Sinne von „Gier“ wie in 4Makk 1,33.35; vgl. Sir 18,30; 23,6; Röm 1,27. Man besteigt also ein Schiff aus Gründen, die mit dem Handel zusammenhängen und dem daraus erwachsenden Reichtum (vgl. Horaz, Ep. I, 45–48; Juvenal, Sat. 14,277).31 14,2b spricht von der „Werkmeisterin Weisheit“, der handwerklichen Fertigkeit, die das Schiff gebaut hat, bzw. der technischen Versiertheit des Schiffskonstrukteurs. Hier meint σοφία eine menschliche Weisheit, nicht die in 14,5a genannte Weisheit Gottes. Denn 14,3a enthält eine klare Gegenüberstellung: Das Schiff wurde gebaut von der technischen Fertigkeit des Menschen, es wird aber gesteuert von „deiner Vorsehung“. Der Anrufung des Götzenbildes stellt der Verfasser das Gebet zum Gott Israels gegenüber, der hier in der zweiten Person mit πάτερ angesprochen wird. Der Wechsel zur direkten Anrede hat nicht nur stilistische Gründe (Übergang von einer lehrhaften Redeweise zu einem Gebet), sondern hebt auch den Gegensatz hervor zwischen dem Gott Israels und den stummen Götzen. So wird das in Weish 13–15 gegebene Gottesbild vervollständigt: Der Gott, der in 13,1–9 der „Seiende“ von Ex 3,14 und der Schöpfergott ist, ist jetzt auch der fürsorgende Vater. Ein Einfluss der stoischen Philosophie ist hier nicht zu verkennen. Mit einer Vorstellung von Gott als Vater (vgl. schon Weish 2,16) ist der Begriff der πρόνοια verbunden, der deutlich griechisch klingt; er ist in der LXX selten (außer in 2–4Makk nur noch in Weish 17,2 und in Dan 6,18[19]LXX), aber häufig in der klassischen Literatur, vgl. Xenophon, Mem. 1,4,18; Platon, Tim. 30c (πρόνοια θεοῦ) und 44c. Im Buch der Weisheit erscheint die Vorstellung von der Vorsehung Gottes erneut in 17,2 in einem Strafzusammenhang; auch προνοέω in 6,7 und 13,16 ist zu beachten.32 Diese Kola stellen ein weiteres Nachdenken über die Seefahrt dar, die in einer 14,3b-5: Ein an den Exodus erinnernden Sprache beschrieben wird. 14,3b-c greift insbesondere brüchiges Holz Ps 76[77 MT],20, aber auch Ps 105[106MT],7–9 und Jes 43,16 auf; der „Weg im Meer“ und der „Pfad in den Wogen“ scheinen hier jedoch nicht direkt auf den Durchzug durch das Rote Meer anzuspielen (vgl. Weish 10,18 und 19,7); andernfalls würde der ἵνα-Satz 14,4b „so dass jemand auch ohne handwerkliche Fertigkeit (ein Schiff) besteigen kann“ schwer verständlich.33 Nur Gott kann aus den Gefahren des Meeres retten (14,3b-c) wie aus jeder anderen Gefahr (14,4a): Es geht um eine Feststellung theologischer Art, auf der hier der Akzent liegt. In dieser Weise kann man verstehen, dass auch ein im Schiffbau unerfahrener Seereisender gerettet werden kann, wenn er sich nur der Vorsehung anvertraut. Für den Verfasser ist klar, dass 31 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 789–790; WINSTON, Wisdom 263–264. 32 GILBERT, La critique des dieux, 103–104 Anm. 27; MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 11– 13. 33 Anders GILBERT, La critique des dieux, 104–109; vgl. BEENTJIES, “You Have Given a Road“ und MAZZINGHI, „La barca della Provvidenza“, 65–66; in diesem Sinne auch LARCHER, Sagesse III, 793.

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Das Floß

14,6–7: Noach, die Hoffnung der Welt

Weish 14,1–10

das Vertrauen auf die Gottheit wichtiger ist als die technischen Fertigkeiten der Seefahrer; die Frage ist für ihn, auf welche Gottheit? Auf das von menschlichen Händen angefertigte Götzenbild oder auf den Vater, den Gott Israels, und seine Vorsehung? 14,5 beginnt mit einer zweiten theologischen Aussage allgemeiner Art: „Du willst, dass die Werke deiner Weisheit nicht untätig sind“ (man beachte die rhetorische Figur des Oxymoron ἀργὰ / ἔργα; vgl. Jak 2,20 in einem anderen Kontext). Im Gegensatz zu der in 14,2b genannten menschlichen Weisheit ist hier in 14,5a die σοφία gemeint, die in Weish 7–9 dargestellt und in Weish 10 am Werk gesehen wurde; es handelt sich um die letztmalige Erwähnung der Weisheit im Buch. Die hier gemachte Aussage legt es nahe, dass die von Gott kommende Weisheit die Mitwirkung des Menschen erfordert, deren Wirksamkeit Gott selbst zusichert. Das Beispiel der Seefahrt illustriert nach der Meinung des Verfassers dieses Zusammenwirken von Weisheit Gottes und menschlichem Handeln. Wenn die Menschen der von Gott geschenkten Weisheit vertrauen, vertrauen sie sich selbst (ψυχάς hat hier deutlich den biblischen Sinn von „(ihr) Leben“) einem „brüchigen Holz“ an – eine Synekdoche zur Bezeichnung des Schiffes –, sogar einem Floß (σχεδίον), werden aber dennoch gerettet (διεσώθησαν 14,5b-c). Der Verfasser erweitert die Ausführungen über die Seefahrt durch ein Beispiel aus der Bibel. 14,6a bezieht sich wahrscheinlich auf die in Gen 6,1–4 erzählten Vorgänge, aber der biblische Text wird midraschartig gefiltert neu gelesen, wie es auch in Sir 16,7–8 und 3Makk 2,4 zu beobachten ist. Hinter Gen 6,1–4 sind komplexe Überlieferungen anzunehmen, von denen viele der Henoch-Literatur zugrunde liegen. Aber der Verfasser beschränkt sich darauf, die „überheblichen Riesen, die untergingen“ zu erwähnen. Vor diesem Hintergrund erinnert 14,6b-c an die Sintfluterzählung in einer ganz einzigartigen Weise. Noach, dessen Name aber, wie beim Verfasser üblich, unerwähnt bleibt, wird „die Hoffnung der Welt“ genannt, und aus seiner Arche wird ein „Floß“ (σχεδία), um das Missverhältnis zwischen der eingetretenen Gefahr und der von Gott erlangten Rettung hervorzuheben. Der Verfasser führt so seine Überlegungen zu dem „brüchigen Holz“, die er schon in 10,4 begonnen und in 14,5 beim Nachdenken über die Brüchigkeit eines Schiffes bei einer Seereise wieder aufgenommen hatte, im Zusammenhang mit der Arche fort. Noach kann der Welt eine Nachkommenschaft hinterlassen (14,6c; hier ist die einzige Stelle, an der der Begriff σπέρμα mit Noach zusammengestellt wird; zum Gedanken des „Überrestes auf der Erde“ κατάλειμμα τῇ γῇ vgl. Sir 44,17), weil das Floß der Arche von der Hand Gottes selbst gesteuert wurde (τῇ σῇ κυβερνηθεῖσα χειρί). Die Erinnerung an die biblische Sintfluterzählung schließt mit einer dritten Aussage von theologischer Bedeutung (nach denen in 14,4a.5a): „Denn gesegnet ist das Holz, durch das Gerechtigkeit geschieht!“ Das Verb εὐλογέω, das im Buch der Weisheit nur hier, in der LXX sonst aber häufig vorkommt, verweist auf ein Handeln Gottes; das Perfekt bezeichnet eine Handlung, deren Wirkungen auch in der Gegenwart andauern: Es wurde einmal und bleibt seitdem gesegnet. Das „Holz“ ist hier die Arche Noachs, von der in 14,6 die Rede war; der Segen Gottes steht im Gegensatz zur Verfluchung, die das Götzenbild trifft. Anstelle von „Rettung“ steht in 14,7 „Gerechtigkeit“, wohl ein Verweis auf den „gerechten“ Noach (Gen 6,9; vgl. Weish 10,7) und daher auf die von Menschen gewirkte Gerechtigkeit, die die von Gott geschenkte Weisheit richtig nutzen, hier, indem sie ein „Holz“ in

Diachrone Analyse

367

nicht götzenverehrerischer Absicht bearbeiten. Aber die „Gerechtigkeit“ ist sicherlich diejenige Gottes (vgl. insbesondere 1,15). So ist das „Holz“, ein Element der Schöpfung, gesegnet, weil seine Verwendung, anders als beim Götzenbild (vgl. das in 14,1b genannte ξύλον), dem Willen Gottes, d.h. seiner „Gerechtigkeit“, entspricht.34 Dieser letzte Absatz fällt ein sehr hartes Urteil, das mit der Bibel wohlbekannten Ausdrücken formuliert ist, über die Götzenbildverehrung. Zur Bezeichnung des Götzenbildes als χειροποίητον „von Hand Gemachtes“ vgl. Lev 26,1; Dan 6,27(28)LXX; häufig begegnet auch der Gedanke, dass Gott das Böse und den Böses Begehenden hasst (s.o. den Kommentar zu Weish 12,4a). Einer der größten Irrtümer des Götzenbildverehrers ist es, einem „vergänglichen“ Götzenbild (vgl. 13,10.17.18) den Namen Gott beizulegen (vgl. 14,21). Der Gedanke, das Götzenbild sei verflucht, erscheint jedoch als etwas Neues, auch im Vergleich mit den biblischen Texten, die Weish 13–15 zugrunde liegen. Wie in Gen 3,14.17 folgt der Fluch nach dem Segen Gottes über die Schöpfung (Gen 1,22.28) und steht diesem gegenüber; denn das Götzenbild ist in der Sicht des Verfassers geradezu die Verneinung des Schöpfungsplanes Gottes. Der Absatz schließt mit dem Hinweis auf eine nicht näher umschriebene Bestrafung durch Gott, die hier mit dem Verb κολάζω, einem vom Verfasser häufig verwendeten Wort (vgl. 3,4; 11,5 u. ö.), ausgedrückt wird.

14,8–10: Verflucht ist der Götzenbildverehrer!

Diachrone Analyse Die πρόνοια bezeichnet eine Fürsorge Gottes gegenüber den Menschen. Platon 14,3: Vorse(s.o.) verbindet die Vorstellung der „Vorsehung“ mit der eines Gottes, der die Welt hung Gottes „steuert“: Gott ist τοῦ παντός … ὁ κυβερνήτης (Polit. 272e); es ist auch eine Erinnerung an Tim. 42e möglich: κάλλιστα καὶ ἄριστα τὸ θνητὸν διακυβερνᾶν ζῷον; aber das Bild des Steuermanns, angewandt auf die Vorsehung Gottes, ist auch Philon wohlbekannt: Conf. 98 (ὁ κυβερνήτης θεός); Decal. 53. 155; Ebr. 199 (Gott ist Steuermann und Vorsehung). Die Vorstellung der Vorsehung Gottes, die Aristoteles und Epikur ablehnen, die aber von den Stoikern vertreten wird,35 verbreitet sich auch im Bereich des griechischsprechenden Judentums, vgl. 3Makk 4,21; 5,30; 4Makk 9,24; 13,19; 17,22. Der Aristeasbrief spricht unter deutlichem Einfluss des Stoizismus von der Vorsehung (προνοίᾳ γὰρ τῶν ὅλων διοικουμένων; Arist. 201). Philon hat der Vorsehung ein ganzes Werk gewidmet (περὶ προνοίας), das aber in seinem griechischen Original verloren gegangen ist; in de Prov. 1,2536 wird die Vorstellung von der Vorsehung Gottes neben anderen Beispielen mit dem Steuern eines Schiffes verbunden 34 GILBERT hat die Geschichte der Auslegung von 14,7 im Einzelnen nachverfolgt. In der patristischen Zeit sei 14,7 oft in Bezug auf das Kreuz Jesu Christi verstanden worden, doch handle es sich dabei um eine Deutung, die der Text nicht hergebe (vgl. La critique des dieux, 114–124); LARCHER, Sagesse III, 800, sieht die Möglichkeit eines solchen Verständnisses: „le texte reste ouvert à une plénitude de sens que devait lui apporter la Croix du Christ“. 35 Vgl. SVF II, 306 frg. 1029; II, 924 frg. 1118. 36 SVF II, 322 frg. 1111.

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Weish 14,1–10

(vgl. oben und außerdem Op. 9; Deus 29; Decal. 58). Auch Flavius Josephus erwähnt die πρόνοια Gottes mehr als 160 mal. Weish 14,3 erhält weiterhin einen deutlich polemischen Klang, wenn es vor dem Hintergrund der Isis-Mysterien gehört wird. Isis ist nicht nur die Patronin der Seefahrt (s. unten), sondern sie ist es auch, die die Schifffahrt erfunden hat (Isis-Aretalogie von Kyme, 15; Aretalogie von Andros, 152–154). Bei πάτερ handelt es sich um eine seltene Anrede Gottes sowohl im griechiGott als Vater schen als auch im biblischen Sprachgebrauch; sie erscheint erst in den Spätschriften des Alten Testaments (zur Anrufung Gottes als Vater vgl. auch Sir 23,1.4; 3Makk 6,3; 4Makk 7,9); in Weish 14,3 kommt diese Anrufung zum ersten Mal in der LXX in einem universalen Sinne vor. Die Vateranrede Gottes ist im Stoizismus bekannt, und Kleanthes verwendet sie in seinem Zeus-Hymnus.37 Indem Weish 14,3 eine universale Vaterschaft Gottes für alle Menschen annimmt, zeigt der Text einen stärker hellenistischen als biblischen Einfluss, wie er sich auch bei Philon beobachten lässt (z.B. Op. 56.72.74.135). Zusammen mit der Anrede „Vater!“ und dem Bild des Steuermanns eines Schiffes lässt sich die Erwähnung der Vorsehung gut auf dem beschriebenen philosophischen und kulturellen Hintergrund verstehen. Die Betrachtung der Seefahrt dient dem Verfasser als Gelegenheit, daran zu erinnern, dass hinter den Ereignissen im menschlichen Leben nicht ein unpersönliches Schicksal steht, sondern die Vorsehung eines Gottes, der die Welt wie ein Vater lenkt (vgl. 3Makk 6,2, wo διακυβερνάω gerade in diesem Sinne verwendet wird), der sich der Menschen annimmt (vgl. Weish 6,7d). Das in 14,6 erwähnte Beispiel der Arche Noachs stellt eine hellenistisch gefärbte Vorstellung von Gott vor einen biblischen Hintergrund. Das „brüchige Holz“, dem die zur See Fahrenden ihr Leben anvertrauen, ist 14,5 ein Topos: i nunc et ventis animam committe dolato / confisus ligno, digitis a morte remotus / quattuor aut septem, si sit latissima, taedae „Geh jetzt und überlass den Winden dein Leben im Vertrauen auf behauenes Fichtenholz, nur vier, oder wenn (das Schiff) sehr groß ist, sieben Finger breit vom Tod entfernt“ (Juvenal, Sat. 12,57–59). Aber warum wird das Schiff in Weish 14,5c „Floß“ (σχεδία) genannt? Dasselbe geschieht in 14,6c mit der Arche Noachs, die sicher nicht als ein „Floß“ beschrieben werden kann (s.u.). Der Ausdruck σχεδία, der schon Homer bekannt ist (Od. 5,33 ἐπὶ σχεδίης: das Gefährt, auf dem Odysseus seine Fahrt übers Meer fortsetzt) kommt in der LXX nur in 1Kön 5,23 = 2Chr 3,15 und 1Esdr 5,53 vor (in 3Makk 4,11 ist Σχεδία der Name einer Stadt in Ägypten). Einerseits möchte der Verfasser eine Beziehung zu einem anderen Topos herstellen: Das Floß ist in der griechischen Literatur das erste Transportmittel, das die Menschen auf dem Wasser verwendeten.38 Aber Weish 14,5.6 gewinnt eine weitere Dimension der Bedeutung, wenn der Text von einer Platonstelle her gelesen wird: Im Phaidon 85d ist nach den Worten des Simmias das „Floß“ ein Ausdruck für die Ansichten der Menschen, mit deren Hilfe sie das Meer des Lebens zu durchqueren versuchen. Mangels eines stabileren Schiffes, d.h. einer göttlichen Offenbarung, muss man „die beste und am wenigsten widerlegbare Meinung übernehmen und, auf ihr wie auf einem Floß fahrend (ὀχούμενον ὡσπερ ἐπὶ σχεδίας) und sich den Gefahren

37 SVF I, 122 frg. 537, Z. 30. 38 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 796–797; WINSTON, Wisdom, 266–267.

Diachrone Analyse

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aussetzend, durch das Leben segeln“; aber ein derart zerbrechliches Floß erfordert höhere Überlegungen, wie dann Sokrates antworten wird (Phaidon 99d). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Phaidon-Texte dem alexandrinischen Leser in den Sinn kamen, die ihm helfen konnten, über die Notwendigkeit einer Vorsehung nachzudenken, die höher ist als das zerbrechliche Floß menschlicher Meinungen. In dieser Weise wird die Seefahrtsymbolik, die der Verfasser verwendet, um eine unmittelbar philosophische Bedeutung bereichert.39 Das schon in 14,3a im Zusammenhang mit der Vorsehung genannte Thema des Steuerns 14,6–7: Isis am nimmt ausdrücklich 10,4 auf. Die drei Stellen (Weish 10,4; 14,3.6) sind miteinander verbun- Steuerruder den durch das Verb (δια)κυβερνάω, dessen Subjekt die Weisheit (10,4), die Vorsehung des Schiffes (14,3) und die Hand Gottes (14,6) ist. In allen drei Fällen wird ausdrücklich eine Rettung erwähnt: ἔσωσεν (10,4); σῴζειν (14,4a); διεσώθησαν (14,6). Die Vorstellung der Weisheit in der Funktion des Lotsen oder Steuermanns ist der biblischen Weisheit nicht ganz fremd (vgl. Spr 8,15), auch ist ein philosophischer Hintergrund nicht ganz auszuschließen (s.o.). Dennoch ist der Beweggrund, mit solchem Nachdruck die Tätigkeit Gottes als das Steuern eines Schiffes zu bezeichnen, der dadurch Rettung bewirkt, in Wirklichkeit bei den IsisMysterien zu suchen. Eine der bekanntesten Isis-Darstellungen in Alexandria ist die der Isis pelagia, der Isis als Patronin der Seefahrt, die in der Isis-Aretalogie von Oxyrhynchus als κυβερνῆτις „Lotsin, Steuerfrau“ angerufen wird (Pap. Oxyr. 1380,69), aber auch als πρόνοια (Pap. Oxyr. 1380,43; vgl. Apuleius, Met. XI,5.12.15.18.21) in einer Neuinterpretation der altägyptischen Isis in stoischer Manier.40 Es sind Statuen der Isis-Tyche erhalten, die die Göttin mit einem Steuerruder in der Hand darstellen;41 der erste Isishymnus des Isidoros (I, 32–34) beschreibt Isis als die Göttin, die „da ist“ (πάρειμι; s.o. zu Weish 9,9–10), die Menschen aus den Gefahren des Meeres errettet. Gleichzeitig ist Isis nicht nur „Lotsin, Steuerfrau“ und „Vorsehung“, sondern auch „Retterin“, s.o. zu Weish 10 (vgl. Isid. I,26; Pap. Oxyr. 1380, 20.91. 203).

Um das Handeln Gottes und seiner Weisheit zu beschreiben, bedient sich der Verfasser nicht der Beispiele aus der Welt der Seefahrt, sondern auch der Bilder aus der Isisverehrung in seiner Umwelt. Wie Isis werden auch die Weisheit, die Vorsehung und die Hand Gottes mit der Metapher des Lotsen beschrieben und bringen dem Menschen Rettung vor allem, indem sie ihn aus den Gefahren des Meeres retten. In dieser Weise wird die biblische Überlieferung (hier die Sintfluterzählung) aktualisiert neu gelesen und den zeitgenössischen Juden verständlich gemacht mittels der verführerischen Gestalt der Isis. Es handelt sich dabei um eine kühne Re-Mythisierung der Weisheit Israels, die, ausgestattet mit Zügen der Isis, sich den Gläubigen in diesem neuen Gewand darbietet. Die Gefahr der Götzenverehrung, hier dargestellt in der Verführung durch die Isis-Mysterien, wird so von innen her gebannt; denn die Weisheit des Gottes Israels ist in der Lage, die gleichen Werke wie Isis zu vollbringen, und noch viel größere. Weish 14,1–10 steht gleichzeitig zwischen der Notwendigkeit einer Verteidigung des Glaubens Israels gegenüber der Attraktivität der Isis-Mysterien und der Dringlichkeit eines Dialogs mit dieser Welt, die dem Judentum so fremd ist. Man könnte auch in diesem Falle, wenn auch mit aller Vorsicht, das Vorgehen des Verfassers als ein wirkliches Unternehmen der „Inkulturation“ bezeichnen.

39 Zu näheren Einzelheiten s. MAZZINGHI, „La barca della Provvidenza“, 73–75. 40 Zu den Ausführungen vgl. näherhin MAZZINGHI, „La barca della Provvidenza“, 80–87. 41 MERKELBACH Reinhold, Isis Regina – Zeus Sarapis. Die griechisch-ägyptische Religion nach den Quellen dargestellt, Stuttgart-Leipzig: Teubner 1995, Tafeln 67, 95, 96, 98, 99, 230.

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Weish 14,11–31

Weish 14,11–31: Ursprung und Folgen der Götzenverehrung 11 Deshalb wird auch an den (Götzen-)Bildern der Völker eine Heimsuchung stattfinden, weil sie in der Schöpfung Gottes zu einem Gräuel wurden und zu Fallen für die Seelen der Menschen und zur Schlinge für die Füße der Toren. 12 Anfang der Unzucht nämlich (war) das Ersinnen von (Götzen-) Bildern, ihre Erfindung aber Verderbnis von Leben. 13 Weder gab es sie nämlich von Anfang an, noch wird es sie in Ewigkeit geben. 14 Durch die leere Einbildung der Menschen nämlich kamen sie in die Welt, und deshalb wurde ihnen ein rasches Ende zugedacht. 15 Ein Vater nämlich, der, von zu früher Trauer geplagt, ein Bild seines schnell hinweggenommenen Kindes gemacht hatte, ehrte den damals (bereits) toten Menschen nun wie einen Gott und überlieferte seinen Angehörigen Geheimkulte und Einweihungsriten. 16 Sodann wurde der im Laufe der Zeit verfestigte gottlose Brauch wie ein Gesetz beobachtet. Auch auf Anordnungen von Fürsten hin wurden die Bildwerke verehrt. 17 Von denen, die die Menschen nicht persönlich ehren konnten, da sie weit entfernt wohnten, bildeten sie aus der Ferne ihr Aussehen nach und machten ein öffentliches Bild des zu ehrenden Königs, um dem Abwesenden wie einem Anwesenden mit Eifer zu schmeicheln. 18 Zur Ausbreitung der Verehrung aber veranlasste auch solche, die (den Geehrten) gar nicht kannten, der Ehrgeiz des Künstlers. 19 Denn da dieser wahrscheinlich dem Herrscher gefallen wollte, verschönerte er gewaltsam durch seine Kunstfertigkeit die Abbildung. 20 Die Menge aber, angezogen von der Anmut des Werkstücks, hielt den vor kurzem noch als Menschen Geehrten nun für einen Kultgegenstand. 21 Und dies wurde dem Leben zum Hinterhalt; denn die Menschen, die sich entweder einem Schicksalsschlag oder einer Tyrannei dienstbar gemacht hatten, legten den nicht-mitteilbaren Namen Steinen und Hölzern bei. 22 Sodann genügte (ihnen) das Irregehen in Bezug auf die Erkenntnis Gottes nicht, sondern, während sie in einem großen Krieg von Unkenntnis lebten, begrüßten sie so große Übel (auch noch) als Frieden.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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23 Sie betreiben entweder kindermörderische Einweihungsriten oder verborgene Geheimkulte oder wilde Gelage nach fremdartigen Vorschriften 24 und bewahren weder Lebensführung noch Ehen rein; einer tötet hinterhältig den anderen oder verletzt ihn durch Ehebruch. 25 Alles aber ist ein Gemisch von Blut und Mord, Diebstahl und Betrug, Verderbnis, Treulosigkeit, Anarchie, Meineid, 26 Umkehrung der Werte, Vergessen von Geschenktem, Befleckung der Seelen, Vertauschung des Geschlechts, Unordnung der Ehen, Ehebruch und Ausschweifung. 27 Die Verehrung der namenlosen (Götzen-)Bilder nämlich ist Anfang und Ursache und Ende von allem Bösen. 28 Entweder rasen sie nämlich im Festtaumel oder weissagen Lügen oder leben unrecht oder schwören schnell Meineide: 29 Da sie nämlich ihr Vertrauen auf unbelebte (Götzen-)Bilder gesetzt haben, erwarten sie nicht, wenn sie falsch schwören, bestraft zu werden. 30 Für beides aber wird ihnen ein gerechtes Urteil zukommen; denn sie haben falsch gedacht über Gott, indem sie (Götzen-) Bildern ihre Aufmerksamkeit zuwandten, und sie haben unrecht geschworen mit Falschheit, indem sie Heiligkeit verachteten. 31 Nicht die Macht derer nämlich, bei denen geschworen wird, sondern das (strafende) Recht gegenüber den Sündigenden geht immer gegen die Übertretung der Ungerechten vor.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 14 Das Subjekt zu εἰσῆλθεν in 14,14a sind die εἴδωλα in 14,12a. Da einigeTextzeugen (S* A, mehrere Minuskeln) das nicht verstanden hatten, fügten sie vor dem Verb, wohl aus 2,24, θάνατος ein. *κενοδοξία bedeutet an sich „leere Einbildung, eitle Ruhmsucht“ und ist hier im Sinne von „unbegründete Meinung“ zu verstehen (vgl. Lat: supervacuitas); der Ausdruck stammt von Epikur und ist nicht zufällig gewählt; er bezeichnet etwas als völlig unlogisch und nicht stichhaltig (WINSTON, Wisdom, 273). In 14,14b kann σύντομον αὐτῶν τὸ τέλος als „ihr rasches Ende“ verstanden werden. Das Adjektiv σύντομος kommt in der LXX nur noch in in 2Makk 2,31; 4Makk 14,10 vor und bezieht sich in der Regel auf eine Rede. 15 Mit B S V und vielen anderen Textzeugen ist wohl τόν τοτε anstelle von τόν ποτε zu lesen, vgl. SCARPAT, Sapienza III, 126–127. 17 Das Verb *ἀνατυπόω ist ein terminus technicus, der sonst erst später als das Buch der Weisheit belegt ist; er bedeutet „nachbilden, darstellen“ oder auch nach einer Vorstellung „gestalten“, im Medium „sich eine Vorstellung von etwas machen“. 14,17b bedeutet demnach „nachdem sie sich aus der Ferne das Aussehen [der Herrscher] vorgestellt hatten“, oder, wie SCARPAT (Sapienza III, 128) bevorzugt: „nachdem sie sich das Aussehen [der Herrscher] in der Ferne vorgestellt hatten“. In 14,17d ist der Konjunktiv Präsens κολακεύωσιν dem Konjunktiv Aorist in mehreren Handschriften (vgl. ZIEGLER) vorzuziehen, vgl. LARCHER, Sagesse III, 818. Das Verb κολακεύω hat einen negativen Beiklang: „schmeicheln“.

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Weish 14,11–31

18 Das Substantiv θρησκεία kommt in der LXX sonst nur noch in 4Makk 5,7.13 vor und hat im griechischen Sprachgebrauch immer eine auch-religiöse Bedeutung. Hier bezeichnet es allgemein „Verehrung, Kult“; der Ausdruck begenet nochmals in 14,27a. Er scheint in hellenistischer Zeit selten verwendet worden zu sein, erscheint aber wieder zur Zeit des Augustus: vgl. WINSTON, Wisdom, 278. 23 Das Adjektiv im Akkusativ Plural ἐμμανεῖς bezieht sich auf κώμους; *ἐμμανής bedeutet „in Raserei“ sein wie die Bacchanten in ihrer Ekstase (Euripides, Bacc. 1094). Mit dem Wort κῶμος bezieht sich der Verfasser auf die Orgien (vgl. 2Makk 6,4; Röm 13,13), die zu den Dionysos-Riten gehörten. LARCHER (vgl. die von ihm zitiertenTexte: Sagesse III, 828–829; FESTUGIÈRE, André Jean, Le monde graeco-romain aux tempx de Nôtre Seigneur II, Paris, Bloud & Gay 1935, 167–181) denkt an richtige Dionysos-Umzüge, wie sie in Alexandria feierlich begangen wurden, s. die Beschreibung durch Kallixeinos von Rhodos, der von Athenaios Naukratios in den Deipnosophistai V, 25–35 zitiert wird; außerdem die Votivinschrift aus dem Jahre 150 v. Chr. (AJA 37, 1933, 232–262). Diese Orgien von Rasenden werden charakterisiert als „nach fremdartigen Ritualvorschriften“ verlaufend. Mit dem seltenen Adjektiv ἔξαλλος wird in der LXX (noch 4-mal) wie im Profangriechischen etwas als „verschieden“ (vom Üblichen, Gewohnten) gekennzeichnet. Die θεσμοί „(Ritual-)Vorschriften“ hielt man für von der Gottheit selbst festgelegt. 25 Der Beginn von 14,25 πάντα δὲ ἐπιμίξ ἔχει lässt sich so verstehen: „Alles aber ist ein Gemisch von Blut und Mord…“; das Adverb *ἐπιμίξ ist ein hapax in der LXX (der Ausdruck kommt aber schon bei Homer vor: Od. 11,537); es könnte auf den Text von Hos 4,2LXX zurückgreifen, wo die gleichen Vergehen wie in Weish 14,24c-25a aufgezählt werden (…ψεῦδος καὶ φόνος καὶ κλοπὴ καὶ μοιχεία) und wo auch vom Blut die Rede ist: καὶ αἵματα ἐφ’ αἵμασιν μίσγουσιν (das Verb μίσγω hat dieselbe Wurzel wie ἐπιμίξ). 26 Nicht leicht zu deuten ist der Ausdruck θόρυβος ἀγαθῶν; betrachtet man ἀγαθῶν als Maskulinum pl., kann man mit SCARPAT (Sapienza III, 136) an „Verstörung der Guten“ denken, d.h. das innere Durcheinander, die Angst, die auch den erfasst, der gut ist. Versteht man dagegen ἀγαθῶν als ein Neutrum pl., ist die Bedeutung eine „Umkehrung der Werte“; vgl. die Hinzufügung in der armenischen Übersetzung „das Vergessen der Güter, die Dank verdienen“. Im Text folgt in 14,26aβ χάριτος ἀμνηστία „Vergessen von Geschenktem“. Zu der ungewöhnlichen lateinischen Wiedergabe immemoratio Dei vgl. SCARPAT, Sapienza III, 359. 30 Mit τὰ δίκαια meint Philon oft „die gerechten Gesetze“ (vgl. Ebr. 81); im klassischen Sprachgebrauch bezeichnen τὰ δίκαια das Gebührende, Geschuldete im Guten oder im Schlechten (SCARPAT, Sapienza III, 139–140). Hier meint der Ausdruck „das gerechte Urteil“ bzw. eine gerechte Strafe, die das personifizierte Recht ἡ δίκη (14,31b) den Götzenverehrern zukommen lassen wird. Zu μετέρχεσθαι im Sinne von „nachgehen, folgen“ vgl. 4Makk 10,21; 18,22.

Synchrone Analyse 14,11–14: Die Unhaltbarkeit der Götzenbilder In der Mitte des Exkurses über die Götzenverehrung bemüht sich der lange Abschnitt (14,11–31) nach einer kurzen Einführung (14,11–14), die Herkunft der Verehrung von Götzenbildern (14,15–21) zu beschreiben und vor allem die verheerenden sittlichen Folgen (14,22–31) aufzuzeigen. Der polemische Angriff (14,11) des ganzen Abschnitts wird nach dem Vorbild 14,11 von Jer 10,15 geführt; das Motiv des Gerichts Gottes über die Götzenbilder ist aber Gemeingut der Bibel (vgl. Sach 13,2; Jes 2,18LXX; Jer 10,14–15). Es ist schwierig zu sagen, an welche Art von „Heimsuchung“ (ἐπισκοπή) der Verfasser denkt, ob an

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Synchrone Analyse

eine eschatologische oder an eine innergeschichtliche Heimsuchung Gottes. Die Verwendung von ἐπισκοπή in Weish 2,20; 3,7.9.13; 4,15 (immer in positivem Sinne) lässt jedoch an eine Heimsuchung in der Zukunft denken. Der Grund für diese Heimsuchung liegt darin, dass die Götzenbilder zu einem Gräuel (εἰς βδέλυγμα, eine in der LXX häufige Wendung; vgl. βδέλυγμα als Synonym für „Götzenbild“ in Dtn 7,25–26; 27,15; 29,16; 32,16 u. ö.) innerhalb der Schöpfung (ἐν κτίσματι θεοῦ) geworden sind. Der Verweis auf die Schöpfung ist wichtig: Sie hört nicht auf, „gut“ zu sein, und wenn sie zum „Gräuel“ wird, geschieht das nur aufgrund des Missbrauchs durch den Menschen. Aber nicht nur das: Die Götzenbilder sind auch zu einem Anlass zur Unmoral geworden, zum „Anstoß“ für die Menschen und zu einer „Falle“ für die Toren. Zum Parallelismus von σκάνδαλον und παγίς – die beiden Wörter kommen im Buch der Weisheit nur hier vor – vgl. Jos 23,13; 1Makk 5,4; Ps 68[69MT],23; 139[140 MT],6; 140[141 MT],9; σκάνδαλον bezeichnet ein Hindernis (Ri 2,3) auf dem Weg zu Gott, παγίς „Fallstrick, Schlinge“ ist jeder Hinterhalt auf dem Weg eines rechtschaffenen Menschen. Vgl. Ps 56[57MT],7: Dieser Psalmvers könnte zu Weish 14,11d angeregt haben. Von 14,11–14 an wird eine direkte Verbindung zwischen Götzenverehrung und Immoralität hergestellt, wie es dann auch Paulus in Röm 1,18–23 tun wird, ein Text, der möglicherweise einen Einfluss dieses Absatzes des Buches der Weisheit spüren lässt. Die Götzenverehrung wird sodann in 14,12 als Ursprung der „Untreue“ (πορ- 14,12 νεία) beschrieben. Mit diesem Wort bezeichet die LXX sowohl die Prostitution im eigentlichen Sinne42 als auch eine übertragene Bedeutung, d.h. die Untreue Israels gegenüber Gott (Hos 4,12; 5,4; 6,10; Jer 2,20; 3,2.9 usw.). Die Reichweite von πορνεία wird beleuchtet durch die chiastische Struktur des in der Mitte des Absatzes (14,11–14) stehenden Verses 14,12: ἀρχὴ γὰρ πορνείας

ἐπίνοια εἰδώλων

εὕρεσις δὲ αὐτῶν

φθορὰ ζωῆς

Der πόρνεια entspricht die φθορὰ ζωῆς „Verderbnis des Lebens“; πόρνεια muss also einen theologisch-moralischen Sinn haben, und man kann sie durchaus mit „Untreue“ Gott gegenüber wiedergeben aufgrund des oben genannten biblischprophetischen Hintergrundes. Die „Verderbnis des Lebens“ meint eher allgemein die Moralität des Menschen. Religiöses und sittliches Leben werden durch die Götzenverehrung verdorben. Die beiden folgenden Absätze (14,15–16a und 14,16b21) wenden sich der ἐπίνοια εἰδώλων … εὕρεσις δὲ αὐτῶν zu, d.h. der Entstehung von Götzenbildern. Die ἐπίνοια meint das Ersinnen und Sichvorstellen von Götzenbildern, die εὕρεσις das konkrete Erfunden- und Angefertigthaben. Von 14,21 an kehrt der Gedankengang wieder zur Immoralität als Folge der Götzenverehrung zurück (vgl. die Wiederaufnahme von ἀρχή in 14,27. In 14,13 wird, ebenfalls chiastisch formuliert, festgestellt, dass es die Götzen- 14,13 verehrung im Anfang nicht gab und sie auch nicht für alle Zeit werde bestehen 42 So WINSTON, Wisdom, 271–272, der die Dimension der sexuellen Verderbtheit, die mit dem Götzenbilderkult gegeben ist, hervorhebt.

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Weish 14,11–31

können. Der Verfasser beschränkt sich darauf, die Götzenverehrung zeitlich einzugrenzen: Sie trat erst nach der Schöpfung auf und wird enden, bevor die Menschheitsgeschichte am Ende ist. 14,14 vervollständigt diesen Einführungsabsatz und antwortet auf die tatsäch14,14 liche Frage, die sich der Verfasser stellt: Nicht, wann die Götzenverehrung begonnen hat, sondern wer sie eingeführt hat, und die Antwort ist klar: Die Götzenverehrung stammt aus den gehaltlosen Meinungen der Menschen;43 wie schon oft in diesem Buch liegt der Akzent auf der Vernunft.44 Die Hauptabsicht des Verfassers ist also herauszustellen, dass die Verantwortung für die Götzenverehung ausschließlich bei Menschen liegt. Die Erwähnung eines jähen, unvorhergesehenen Endes der Götzenbilder verweist zurück auf die „Heimsuchung“, von der in 14,11a die Rede war, und zeigt, dass die eschatologische Perspektive in diesem Text nicht fehlt: Die Existenz der Götzenverehrung ist gewissermaßen ein Zeichen, das das Gericht Gottes in der Geschichte vorwegnimmt. Die Einstellung, die der Verfasser der Götzenverehrung gegenüber hegt, ist gewiss sehr hart und hebt sich von der Beschreibung der Milde Gottes im vorhergehenden Exkurs ab; die Milde Gottes hört dort auf, wo der Mensch sie zurückweist, indem er sich ein Götzenbild anfertigt.

14,15–21: Die Entstehung von Götzenbildern aus plötzlicher Trauer und aus dem Herrscherkult 14,15 In diesem Absatz geht es dem Verfasser nicht darum, das Wann der Entstehung

der Götzenverehrung aufzuzeigen, sondern das Wie. 14,15 sucht den Ursprung des Hauskultes von Götzenbildern als Folge des Totenkultes zu erklären, der seinerseits aus einem ganz menschlichen Bedürfnis erwuchs, nämlich den beim Tod eines Verwandten empfundenen Schmerz auszudrücken, insbesondere bei einem frühen Tod. Das Motiv der „unzeitigen Trauer“ (ἄωρον πένθος), der Trauer über einen zu früh¸ d.h. jung Verstorbenen, ist topisch in der Antike (s.o. den Kommentar zu 4,7– 20) und auch in jüdischen Grabinschriften häufig;45 14,15 steigert das Drama einer solchen Trauer noch, indem der Vers sie verbindet mit dem Schmerz eines Vaters, der sich verzehrt (τρυχόμενος) wegen des vorzeitigen und unerwarteten Verlustes seines Kindes (14,15b). Eine Leiche (νεκρὸς ἄνθρωπος) wird so nichts weniger als ein Gott! Die Nennung der „Mysterien und Einweihungsriten“ (μυστήρια καὶ τελεταί; vgl. Weish 12,4), die von dem Vater den zu seinem Hause Gehörenden (τοῖς ὑποχειρίοις) überliefert werden, hebt die Aktualität des Textes für die Juden in Alexandria hervor, die zur Übernahme gerade solcher Kulte versucht waren. Die Er43 Zur Geschichte der Deutungen von 13,13–14 vgl. GILBERT, La critique des dieux, 140–146. 44 „Der nichtige Mensch denkt den nichtigen Gott. Und zugleich: Wer den nichtigen Gott denkt, wird zum nichtigen Menschen …“, HÜBNER, Weisheit, 178. 45 Vgl. GRIESSMAIR, Ewald, Das Motiv der Mors Immatura in den griechischen Grabinschriften, Innsbruck: Wagner 1966. Zu den jüdischen Inschriften vgl. HORBURY/NOY, Jewish Inscriptions, die mindestens 37 Grabinschriften aus dem römerzeitlichen Ägypten notieren, die das Motiv des zu frühen (ἄωρος) Todes enthalten; vgl. auch BLISCHKE, Die Eschatologie in der Sapientia Salomonis, 223–263.

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wähnung der Mysterien und Einweihungsriten macht es wahrscheinlich, dass 14,15 auch die Dionysos-Mysterien im Blick hat, die in Alexandria in Mode waren (s.u.), und auf sie zielt. 14,16a dient als Abschluss: Im Laufe der Zeit verfestigt sich der gottlose Brauch, der von einem Vater aus Trauer über den Verlust seines Kindes eingeführt worden war, und wird wie ein religiöses Gesetz beobachtet. Der Absatz 14,16b-20 beschäftigt sich mit der Götzenverehrung, die infolge des Herrscherkults entstand: Die dem Herrscher bezeigte Ehrung mündet unausweichlich in Götzenverehrung. Mit 14,16b beginnt deutlich erkennbar ein neuer Gedankengang (mit Recht setzen die Herausgeber nach 14,16a einen Punkt). Der Themenwechsel rechtfertigt die Zäsur zwischen 14,16a und 14,16b. Während der Kult des verstorbenen Kindes sich durch Familienbräuche ausbreitet, wird der Herrscherkult durch eine vom Herrscher selbst erlassene Anordnung verbreitet. 14,17 beschreibt im Detail das Entstehen der Herrscherstatue: Die Menschen benötigen ein möglichst getreues Bild des Herrschers, „damit sie dem Abwesenden wie einem Anwesenden schmeicheln können“: So entstehe eine Herrscherstatue. Auch der Ehrgeiz des Künstlers trägt in nennenswertem Maß zum Herrscherkult bei (14,18). In 14,19–20 wird die Tätigkeit des Künstlers, der sich bemüht, dem Herrscher zu gefallen, der in 14,19 mit einem an die römische κράτησις erinnernden Ausdruck (s.o. zu Weish 6,2) ὁ κρατῶν genannt wird, dem Verhalten der Menge gegenübergestellt, die sich von der Schönheit des Werkes verführen lässt (14,20a). Eine ähnliche Vorstellung zeigt sich bei Philon, Spec. I, 29. So kommt ein Mensch, nämlich der Herrscher, dazu, wie eine Gottheit verehrt zu werden. In dieser Weise geschieht der Übergang zur Götzenverehrung dank des Zusammenkommens verschiedener Faktoren: Fähigkeit und Ehrgeiz des Künstlers, Schönheit der Statue, auf eine ungebildete Menge (14,18a τοὺς ἀγνοοῦντας) ausgeübte Verführung. 14,21 fasst die Beobachtungen von 14,15–20 zusammen: Das von Menschen erlittene Unglück, ein unerwarteter Tod (14,15; hier als συμφορά bezeichnet) und die Macht von Herrschern (14,16b-20; τυραννίς) haben die Götzenverehrung geschaffen, eine wirkliche Sklaverei, der sich der Mensch unterwirft (14,21b). In einer rhetorischen Steigerung heißt es dann, die Götzenverehrung bestehe darin, geschaffenen Dingen „den unmitteilbaren Namen“ beizulegen. Dieses Kolon ist, wie schon ausgeführt wurde, das Zentrum der ganzen literarischen Struktur von Weish 13–15. Hier verwendet der Verfasser einen in der ganzen Bibel einmaligen Ausdruck, bei dem er an Jes 42,8 gedacht haben mag; der „unmitteilbare Name“ ist der, den Gott dem Mose in Ex 3,14 (vgl. Weish 13,1–3) offenbart, dieser κύριος, der im Buch der Weisheit, insbesondere im dritten Buchteil (vgl. 9,1; 10,20; 12,2; 16,12.26; 19,22), ständig angerufen wird, der in Wirklichkeit (wenn auch griechisch ausgedrückt) das qerē perpetuum des Tetragramms YHWH ist. Bezeichnenderweise kommt jedoch κύριος im Kontext der Polemik gegen die Götzenverehrung in Weish 13–15 nie vor. Der Verfasser scheint hier diese Polemik noch forcieren zu wollen; denn es ist gar nicht die Absicht der Götzenverehrer, ihren Götzen den Namen des Gottes Israels beizulegen. Im Hinblick darauf scheint 14,21c ein stichhaltiger Zusammenhang mit den beiden davor dargelegten Beispielen (der Vergöttlichung eines Kindes und dem Herrscherkult) zu fehlen. Aber der Verfasser weiß, dass der Titel κύριος in der griechischen Welt für sehr viele Gottheiten verwendet wird, für einen Juden handelt es sich dabei aber um eine Profanierung des Gottesnamens. Darum ist κύριος für das Buch der Weisheit ein „nicht mitteil-

Der Herrscherkult

14,17

14,18–20

14,21

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barer“ Name, eben weil das Wort in seiner zeitgenössischen Verwendung mehrdeutig war.46

14,22–31: Die Entstehung der Sittenlosigkeit Der Absatz 14,22–31 beschließt den langen Abschnitt, der mit 14,11 begonnen hatte, indem er weiter ausführt, was in der Einführung (14,11–14) schon vorweggenommen war. Am Anfang (14,22) und in der Mitte des Absatzes stehen zwei wichtige grundsätzliche Feststellungen: Die Sittenlosigkeit entsteht daraus, dass man Gott nicht kennt, und zugleich daraus, dass man Götzenbilder verehrt. Denn die ἄγνοια, von der in 14,22b die Rede ist, ist die Unkenntnis Gottes schlechthin, die bereits nach stoischer Vorstellung als Quelle der Sittenlosigkeit betrachtet wird (s. dazu unten). Indem der Verfasser diese in seiner Zeit verbreitete Meinung aufnimmt, führt er einen Kampf nicht nur zur Verteidigung der sittlichen Werte, sondern noch mehr für den Glauben: Denn erst aus dem Glauben an den Gott der Bibel erwachsen die ethischen Kriterien für eine neue Gesellschaft. 14,22 formuliert einen doppelten Kontrast (Erkenntnis/Unkenntnis; Krieg/Frie14,22 den). Das εἷτα am Anfang zeigt den Übergang zu einem neuen Thema an: Die Götzenbildverehrer täuschen sich nicht nur in Bezug auf die Erkenntnis Gottes, ihr Irrtum ist auch ethischer Natur. Das Verb πλανάω kam schon in Weish 2,21; 5,6; 11,15 und 12,24 vor, an den beiden zuletzt genannten Stellen bezogen auf den Irrtum der Götzenbildverehrer; es wird nochmals in 15,4 und 17,1 verwendet werden; dass darin ein Verweis auf die Mysterienkulte mitschwingt, in 14,23a ganz deutlich (vgl. auch den Kommentar zu 2,21), wurde schon ausgeführt. In 14,22 bezieht sich der Irrtum der Götzenverehrer auf die γνῶσις θεοῦ, auf die „Gotteserkenntnis“. Denn die ganze erste Hälfte des Exkurses über die Götzenbildverehrung (von 13,1 bis zum Zentrum 14,21) hat dargelegt, dass der Irrtum in der Verkennung der wahren Natur des einzigen, transzendenten Gottes liegt, des Gottes der Bibel, auf den der Verfasser seit 13,1–9 deutlich verwiesen hat und dem der Mensch sich unterwerfen muss. 14,22b-c leitet den Lasterkatalog mit einer ironischen Feststellung ein: Die Unkenntnis Gottes macht die Menschen einander zu Feinden, die in einem grausamen Krieg kämpfen, den sie jedoch mit der Bezeichnung „Frieden“ willkommen heißen. Sie vergessen dabei, dass der wahre Friede der ist, den Gott den Gerechten nach ihrem irdischen Leben schenkt (vgl. Weish 3,3: nur dort kommt im Buch noch das Wort εἰρήνη vor. Auf diese Weise verknüpft der Verfasser den Glauben mit der Ethik. Die Erkenntnis des wahren Gottes führt zu einem Leben, das in Gerechtigkeit geführt wird. Der Lasterkatalog in 14,23–26 folgt keiner bestimmten Ordnung und spiegelt 14,23–26 eine damals sehr verbreitete Gepflogenheit wider, sowohl in der griechischen als auch in der biblischen und jüdischen Welt (vgl. Hos 4,2; Jer 7,9; Test. Rub. 3,3–6; Or. Sib. III, 36–45; Philon, Cher. 92; im NT Gal 5,19–21 und Röm 1,29–31; Eph 4,17– 19; Kol 3,5–9).47 Der Verfasser hat hier aber sicherlich den Text Hos 4,1–2 im Sinn, der seinerseit den Text des Dekalogs voraussetzt. 46 Vgl. BOGAERT, „Kyrios, le nom incommunicable“. 47 Vgl. das klassische Werk von VÖGTLE, Anton, Tugend- und Lasterkataloge im Neuen Testament, Münster i. W.: Aschendorff 1936; auch DEISSMANN, Adolf, Licht vom Osten, Tübingen: J. C. B. Mohr (1909) 41923) 267–270.

Synchrone Analyse

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Im Buch der Weisheit werden hier 22 Laster aufgezählt entsprechend der Anzahl der Buchstaben im hebräischen Alphabet (der Text ist griechisch verfasst, aber von einem Juden!); als erstes Laster werden „kindermörderische Einweihungsriten“ τεκνοφόνοι τελεταί genannt, beide Wörter beginnen mit dem griechischen Buchstaben tau. Als letztes Laster wird die Ausschweifung ἀσέλγεια erwähnt, es beginnt mit dem Buchstaben alpha; im hebräischen Alphabet sind taw der letzte und alef der erste Buchstabe. Die Musterkollektion von Lastern ist in „verkehrter“ Reihenfolge (von Z bis A) aufgeführt. Im Zentrum, an zwölfter Stelle, bezeichnet φθορά „Verderbnis“ die völlige Verkehrung aller Werte.48 Das entworfene Bild ist gewiss düster und verrät den Gesamteindruck, den ein frommer Jude in Alexandria von der zeitgenössischen nichtjüdischen Gesellschaft hatte. Trotzdem gibt der Verfasser sein Bemühen nicht auf, sich in Begriffen und Weisen auszudrücken, die einem mit der hellenistischen Kultur vertrauten Publikum verständlich waren. 14,23 nennt als erstes Laster „kindermordende Einweihungsriten“ (die Wörter 14,23 τεκνοφόνους τελετάς bilden eine Alliteration [Stabreim]). Es ist schwierig zu bestimmen, was genau der Verfasser meint; *τεκνοφόνος ist ein hapax totius graecitatis; denkt man an einen biblischen Zusammenhang, könnten die Kinderopfer gemeint sein, die wiederholt in der Bibel verurteilt werden (Dtn 12,32; 18,10; Lev 18,21; 2Kön 16,3 u. ö.), aber auch in Israel nicht unbekannt sind (1Kön 16,34; 2Kön 3,27). Im Zusammenhang mit den Mysterienkulten, kann man an ähnliche Anklagen denken, die gegen den Dionysoskult vorgebracht wurden; möglicherweise sind solche Stimmen ans Ohr der Juden in Alexandria gedrungen.49 Auch das an zweiter Stelle genannte Laster versetzt in die Atmosphäre der Mysterienkulte, auf die sich der Text ausdrücklich bezieht; der Ausdruck κρύφια μυστήρια hebt ja das „Geheimnis“ und die Arkandisziplin als charakteristische Eigenart dieser Kulte hervor (vgl. Diodorus Siculus über die Dionysosmysterien: Bibl. IV, 4,1).50 Der Verfasser sieht jedoch ein solche μυστήρια in sehr negativem Licht (vgl. dazu 17,3a); wenn derartige Mysterienfeiern im Verborgenen begangen werden, sind sie umso mehr zu verurteilen. Die beiden Verfehlungen τελεταί und μυστήρια werden auch bei Philon mehrfach zusammen erwähnt (Spec. I, 319; III, 40 u. ö.). Beim dritten Laster wird von „Orgien in Raserei nach fremdartigen Ritualen“ gesprochen, wahrscheinlich eine Anspielung auf die in Alexandria begangenen Dionysos-Umzüge (s.o. die Anmerkungen zum Text).51 Die Reihe der Laster wird in 14,24 fortgesetzt mit einem Hauptsatz (φυλάσσου- 14,24 σιν in 14,24a), in dem die ersten Folgen der gerade erwähnten Feiern der Mysterienkulte aufgeführt werden: Wer an ihnen teilnimmt, erhält sein Leben und seine Ehe nicht rein. Das Leben (βίος) reinhalten bedeutet eine sittlich einwandfreie 48 GILBERT, La critique, 133–134. 49 SCHWENN, Friedrich, „Menschenopfer“, PW 15, 1, 956. Zum Dionysoskult vgl. CUMONT, Franz, Les religions orientales dans le paganisme romain, Paris: Paul Geuthner 1929, 195– 202. 303–312. Bekannt ist die Schilderung der Bacchanalien bei TITUS LIVIUS, 39,8–19. 50 BURKERT, Ancient Mystery Cults, 7–9. 51 Zu den θίασοι zu Ehren des Dionysos vgl. VOGLIANO, Emanuele, „La grande iscrizione bacchica del Metropolitan Museum“, The American Journal of Archaeology 37 (1933), 214–231; CUMONT, Franz, „La grande inscription bachique du Metropolitan Museum“, ibid. 232–262.

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Lebensführung; 14,24b liefert ein extremes Beispiel einer nicht tadellosen Lebensführung, nämlich hinterhältigen Mord; die Verknüpfung mit den Mysterienkulten ist nicht zufällig, da es gerade bei diesen Veranstaltungen geschehen konnte, dass jemand die Gelegenheit nutzte, um alte Rechnungen zu begleichen.52 Die Erwähnung der Reinheit der Ehe bereitet den folgenden Verweis auf den Ehebruch vor und eine zweite Reihe noch zu nennender Laster, die mit der Sexualität zu tun haben. Der Ehebruch wird hier mit dem seltenen Verb *νοθεύω bezeichnet (vgl. Philon, Ios. 45; Flavius Josephus, Ant. 4,244; vgl. νόθος in Weish 4,3). 14,25 beginnt mit einer unverkennbaren Bezugnahme auf den Dekalog; das 14,25 „Blut“ zeigt Gewalttätigkeit an, zumal es hier in Verbindung mit Mord (φόνος) steht; es folgen, nebeneinander aufgeführt, Diebstahl und Betrug. Das Leben der Götzenverehrer wird zu einem Gemisch (zu ἐπιμίξ s.o. die Anmerkung zum Text) von verkehrtem Verhalten, das andere schädigt. Die Aufzählung fährt fort mit der φθορά, der Verderbtheit, d.h. der Umkehrung aller Werte, sicherlich ein unbestimmtes Laster, das aber bezeichnenderweise in der Mitte der Reihe steht (s.o.); zu φθορά in moralischem Sinn vgl. 2Petr 1,4; 1Kor 15,33. Danach wird die ἀπιστία genannt, hier in einem profanen Sinn als Illoyalität, Nichteinhalten eines gegebenen Wortes (vgl. Philon, Decal. 172, in Verbindung mit falschem Zeugnis). Mit τάραχος bezieht sich der Verfasser auf die Weisen von Unordung, die das Verhalten des Gottlosen in der Gesellschaft verursacht (vgl. Sir 28,9), näherhin wird hier eine gewisse politische „Anarchie“ angeprangert, ein in den hellenistischen Städten, auch in Alexandria, nicht seltenes Verhalten (vgl. ταραχή in Philon, Legat. 68.112). In der Reihe folgt der „Meineid“; *ἐπιορκία ist ein hapax in der LXX und im NT; nur das Adjektiv ἐπίορκος kommt in Sach 5,3 und 1Tim 1,10 vor; vgl. Platon, Gorg. 525a. 14,28–31 behandeln ausführlicher den Eid als Mittel gesellschaftlichen Zusammenhalts; die Götzendiener halten Eide aber offenbar nicht ein (s. dazu unten den Kommentar). In einem geschickten Stilwechsel werden, um den Leser nicht zu ermüden, nach14,26 dem jeweils mit einem einzigen Wort in 14,25a zwei Lasterpaare und in 14,25b vier einzelne Laster genannt wurden, in 14,26a-b vier weitere Laster jeweils in einer Genitivverbindung zweier Substantive aufgeführt. Das erste, θόρυβος ἀγαθῶν, bezeichnet wohl das Durcheinander, d.h. die Verkehrung der Güter bzw. der Werte (s.o. die Anmerkung zum Text). Es folgt χάριτος ἀμνηστία, das „Vergessen empfangener Wohltaten“, ein ganz konkretes Anzeichen dieser radikalen Verkehrung: Alles wird als geschuldet betrachtet und das umsonst Geschenkte nicht mehr anerkannt. Das dritte, ψυχῶν μιασμός, meint die „Beschmutzung der Seelen“; die Metapher der beschmutzten Seele ist klassisch (Platon, Phaidon 81b; Resp. 621c); das Substantiv μιασμός kommt in der LXX nur hier und in 1Makk 4,43 vor (im NT: 2Petr 2,10) und kann eine sehr weite Bedeutung haben: kultische, sittliche oder geistige Unreinheit.53 Die ψυχή spielt in der Anthropologie des Verfassers eine wichtige Rolle; das Ideal ist für ihn eine Seele „ohne Makel“ (vgl. 2,22); die „Beschmutzung“ ist also eine Auswirkung der vom Menschen begangenen Sünde, die in der Seele Spuren hinterlässt. Wahrscheinlich denkt der Verfasser an eine Beschmutzung sexueller Art (vgl. die „unbefleckte Unfruchtbare“ in Weish 3,13); denn die folgenden Ausdrücke beziehen sich auf Ungeordnethei-

52 LENORMANT, François, „Bacchanalia“, DAGR I, 590. 53 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 832–833.

Synchrone Analyse

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ten sexueller Natur. Die „Beschmutzung“, von der hier die Rede ist, scheint jedoch im Kontext der anderen genannten Laster eher eine begangene als eine erlittene Tätigkeit zu bezeichnen; der Ausdruck dürfte sich daher auf die Götzenverehrer beziehen, die durch ihr verkehrtes Sexualverhalten die Seelen anderer verderben, vielleicht in dem Sinne, dass sie durch ihr Beispiel zu ähnlichem Verhalten anregen. Mit der Genitivverbindung γενέσεως ἐναλλαγή bezeichnet der Verfasser die „Vertauschung“ (ἐναλλαγή ist an sich ein in der Grammatik verwendetes Wort, das hier in malam partem gebraucht wird) des „Geschlechts“; der Verfasser zielt dabei sicher auf männliche oder weibliche homosexuelle Praktiken, die im zeitgenössischen Judentum oft verurteilt werden, vgl. Or. Sib. 3, 596; Test. Naft. 3,4; Ps. Phoc. 177; zu erinnern ist auch an die Polemik des Paulus in Röm 1,26–27. Die drei Laster, die die ganze Reihe abschließen, sind sämtlich dem sexuellen Bereich zuzuordnen. Was genau mit γάμων *ἀταξία „Unordnung der Ehen“ gemeint ist, lässt sich nur schwer bestimmen: die Häufigkeit der Scheidungen? die damals sehr verbreitete Untreue der Partner? oder in ungeordneter Weise gelebte Ehen, d.h. unter Ausschluss der zur Ehe gehörenden Kinderzeugung? Der Text bleibt unbestimmt. Klarer ist das mit μοιχεία Gemeinte, der Ehebruch (vgl. 3,16), der allerdings schon in 14,24b verurteilt wurde. Die Reihe endet mit der ἀσέλγεια „Ausschweifung“ (in der LXX nur noch in 3Makk 2,26), die im NT die sexuelle Hemmungslosigkeit bezeichnet und nach 2Petr 2,7 schlimmer ist als das, was Sodom und Gomorra begingen. Der Schluss des Absatzes (14,27–31) beschreibt mit sehr starken Ausdrücken die Bestrafung Gottes, die die Götzenverehrer erwartet. In den wenigen Versen kommt dreimal das Wort εἴδωλα „Götzenbilder“ vor (14,27a.29a.30b). 14,27 bekräftigt die schon in 14,22 getroffene Feststellung: Die Götzenverehrung ist Anfang (ἀρχή), Ursache (αἰτία) und Gipfel (πέρας) von allem Schlimmen. Der Satz ist feierlich formuliert und vermittelt deutlich den Gedanken, den der Verfasser ausdrücken will: Der Götzendienst ist die wahre Ursache von aller Bosheit. Die Götzenbilder werden mit dem Adjektiv *ἀνώνυμος „namenlos“ bezeichnet, an erster Stelle, weil sie nicht angerufen werden können (Ex 23,13; Ps 15[16MT],4, sodann, weil sie, im Gegensatz zum Gott Israels, dessen Name „unmitteilbar“ ist (vgl. 14,21c), keinen Namen, d.h. keinen Bestand haben. Das Adjektiv ἀνώνυμος hat bei Philon (Sobr. 52) auch die Bedeutung „unnennbar“ und wird vom Bösen bzw. Übel ausgesagt, das im Gegensatz zum Guten nicht wert ist, genannt zu werden. In diesem Sinne werden die Götzenbilder als ἀνώνυμα bezeichnet, sie sind „unnennbar“, nicht der Erinnerung wert. In 14,28 meint das unbestimmte Subjekt „sie“ im Plural die Götzenverehrer im Allgemeinen, die hier durch vier Arten von Fehlverhalten beschrieben werden, wobei der Akzent auf dem letztgenannten, dem Meineid, liegt (vgl. die am Ende von 14,25b genannte ἐπιορκία); damit wird die vorhergehende Liste der 22 Laster noch vervollständigt. Das Verhalten der Götzenverehrer wird beschrieben als „unrecht leben“, wobei einer der für den Verfasser grundlegenden Werte, die Gerechtigkeit, verletzt wird. Die kleine Reihe von vier weiteren Lastern in 14,28 wird abgeschlossen durch die Nennung des „leichtfertigen Eidbruches“; mit ἐπιορκέω ist hier nicht gemeint, einen Meineid zu leisten, sondern geleistete Schwüre nicht einzuhalten. 14,29 geht nochmals auf die Eide ein und verbindet sie unmittelbar mit den „leblosen“ (ἀψύχοις) Götzenbildern. Wer auf sie vertraut, erwartet nicht, bestraft

Die Bestrafung der Götzenverehrer 14,27

14,28

14,29

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zu werden. Den gebrochenen Schwüren werden die Schwüre hinzugefügt, die Vergehen verdecken sollen; das ist der Sinn des Ausdrucks κακῶς ὀμόσαντες. Der Verfasser denkt an eine ganz bestimmte Situation: Personen, die viele Eide ablegen vor leblosen Götzenbildern, und gerade die Tatsache, dass sie dies vor solchen Götzenbildern tun, führt dazu, den Schwur als unwirksam zu betrachten.54 Als guter Jude beabsichtigt der Verfasser nicht, die religiöse Bedeutung des Eides abzuwerten, er setzt sie vielmehr voraus. In 14,30–31 hält der Verfasser der Überzeugung der Götzenverehrer, sie blie14,30 ben straflos, den Verweis auf die Gerechtigkeit Gottes entgegen, die ganz sicher für ihre Bestrafung sorgen wird. Die beiden für die Bestrafung genannten Gründe fassen bisher Gesagtes zusammen; der erste ist, falsche Vorstellungen von Gott gehabt zu haben, indem sie sich an Götzen wandten. Der erste Teil von 14,30b wiederholt fast buchstäblich den Anfang des Buches (1,1b) und kehrt so zu einem der Hauptanliegen des Verfassers zurück: der Gotteserkenntnis. Der zweite Grund für die Bestrafung ist wieder mit dem Schwören verbunden, hier zusammen mit ungerechtem (ἀδίκως) und betrügerischem Verhalten gegenüber Mitmenschen (ἐν δόλῳ; der Gedanke ist biblisch: Ps 23[24MT],4 ἐπί δόλῳ );55 damit wird erneut der „soziale“ Aspekt der vom Verfasser genannten Sünden hervorgehoben. Darüber hinaus stellt diese Art zu schwören eine „Verachtung der Heiligkeit dar“. Im Buch der Weisheit wird von ὁσιότης sowohl bei Gott (5,19) als auch beim Menschen (2,22; 9,3) gesprochen. Der Meineid besteht deshalb in der Sicht des Verfassers in einem Akt der Verachtung gegenüber der Heiligkeit Gottes, die zum Zeugen der eigenen Falschheit gemacht wird, aber auch der Verachtung gegenüber der Gesamtheit der sittlichen Werte, die das Leben des Menschen „heilig“ macht (vgl. die Nennung des Unrechts und des Betrugs). Die Bestrafung, so erläutert 14,31, kann nicht von einer vermeintlichen Macht 14,31 der Götzenbilder, bei denen man schwört, her kommen, sondern von der Gerechtigkeit Gottes, der δίκη, die hier personifiziert erscheint, wie schon am Anfang des Buches (1,8). Die Vorstellung, dass die Gerechtigkeit Gottes immer gegen die Übertretungen der Gottlosen vorgehe, klingt deutlich griechisch.56 Die Nennung der Gerechtigkeit, die immer (ἀεί) „vorgeht gegen“ die Unrecht Begehenden (ἐπεξέρχομαι; in der LXX nur hier und in Jdt 13,20), gewinnt einen gewissen eschatologischen Beiklang und verweist so auf die Bestrafung der Gottlosen, die im ersten Teil des Buches beschrieben wurde. Mit dem Thema der Bestrafung der Unrecht Begehenden (οἱ ἄδικοι) schließt der Abschnitt; Unrecht und Götzenverehrung gehen Hand in Hand. Der folgende Abschnitt (15,1–6) stellt dem das Verhalten des Gottes Israels gegenüber seinem Volk entgegen und die ganz verschiedene Lebensweise des Volkes selbst, weit anders als das Handeln der Götzenverehrer.

54 LARCHER, Sagesse III, 842. 55 Beachte die Alliteration εἰδώλοις – ἐν δόλῳ. 56 SCARPAT (Sapienza III, 141–142) verweist auf das bei Sophokles, El. 528.529 genannte Prinzip; die Gerechtigkeit ist die strafende Gottheit, der niemand entfliehen kann; in der biblischen Welt vgl. 4Makk 4,21; Apg 28,4.

Diachrone Analyse

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Diachrone Analyse Die Polemik gegen die Götzenverehrung in 14,11–31 bewegt sich im Wesentlichen 14,11–14 entlang zweier Leitlinien: In der Perspektive des Glaubens Israels dient der Dekalog als Ausgangspunkt, wobei die Götzenverehrung als Verkehrung einer angemessenen Betrachtung der Schöpfung dargestellt wird. Im Blick auf die kulturelle und religiöse Umwelt in Alexandria richtet sich der Angriff auf die Mysterienkulte insgesamt und insbesondere auf die Feiern des Dionysoskults.57 In 14,13 hat die Aussage, dass es im Anfang keine Götzenverehrung gab und dass sie darum auch keinen Bestand haben kann, einen griechischen Klang und erinnert an die euhemeristischen Theorien, die damals auch in Alexandria umliefen.58 Der Text bleibt jedoch unbestimmt; denn die Erzählungen in der Genesis messen einer etwaigen Entstehung der Götzenverehrung in den Anfängen der Menschheit keine große Bedeutung bei; der Verfasser scheint hier im Unterschied zum Jubiläenbuch (Jub. 11,3–6) nicht auf die Texte von Gen 1–3 anzuspielen. Es ist sehr schwierig zu verstehen, ob der Verfasser auf eine bestimmte Epi- 14,15–21 sode anspielt (vielleicht die Vergöttlichung des Dionysos oder die der Berenike II. durch ihren Gatten Ptolemäus III., die im Kanopus-Dekret aus dem Jahre 239 v. Chr. bezeugt ist, oder die des Antinoos, des Geliebten Hadrians) oder ob er nicht eher ein Beispielereignis darstellen wollte vor dem Hintergrund der griechischen Vorstellung von der Heroisierung eines Verstorbenen und insbesondere der Vergöttlichung eines verstorbenen Kindes, und zwar von euhemeristischen Theorien aus betrachtet.59 Es ist wahrscheinlicher, dass der Verfasser sich von typischen Bräuchen des Gymnasiums und des Museums, die für Alexandria bezeugt sind, anregen lässt; die jungen Leute, die in der Blüte ihrer Jahre starben, werden unter die Musen versetzt, sie werden Schutzgottheiten, die sich um die Familie, zu der sie gehörten, kümmern; so erklärt sich die Nennung des „Vaters“ und der „Angehörigen“. Der Fall des Epiktet in Thera auf der Insel Santorin ist bekannt (ca. 200 v. Chr.; IG XII, 3,330): Die Statuen seiner beiden früh verstorbenen Söhne wurden in seinem Haus im Musenheiligtum aufgestellt, ihr Kult wurde von den Angehörigen besorgt. Es entstehen keine neuen Gottheiten, vielmehr wird der jung Verstorbene den bereits verehrten Gottheiten zugesellt; ähnlich drückt sich Weish 14,15c 57 GILBERT, La critique, 173. 58 Gegen 300 v. Chr. trug der Philosoph Euhemeros seine später berühmt gewordene Theorie vor, nach der die Götter ursprünglich große Persönlichkeiten waren, die dann nach ihrem Tode vergöttlicht wurden. Der Aristeasbrief zeigt bereits Kenntnis solcher Theorien, gerade in dem Abschnitt, in dem er die Götzenverehrung anprangert (Arist. 134–137). Der Verfasser bedient sich hier euhemeristischer Quellen, die uns nicht mehr zugänglich sind (besonders in Weish 14,15), jedoch innerhalb einer deutlicher jüdischen Perspektive als der Aristeasbrief, vgl. WINSTON, Wisdom, 270–271; auch 272–273 über die Auffassungen der antiken Schriftsteller vom Ursprung der Götzenverehrung. 59 Sehr detaillierte Übersichten über die verschiedenen Deutungen bieten GILBERT, La critique, 146–157; LARCHER, Sagesse III, 812–815 und WINSTON, Wisdom, 273–277, mit ausführlichen Zitaten antiker Texte über das Schicksal früh verstorbener Kinder. Dagegen denkt SCARPAT, Sapienza III, 101–102, an einen Musterfall allgemeinen Charakters. LARCHER, Sagesse III, 823, schließt seine Darlegung so: „Les sources possibles de Sg. XIV, 16a-20 apparaissent complexes et se combinent d’une façon qui reste originale et porte la marque d’une réflexion personnelle de l’auteur“.

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Weish 14,11–31

aus: Ein toter Mensch wird dann verehrt wie ein Gott.60 Die Kreise, an die der Verfasser sich richtet, sind also nicht die einfache Bevölkerung, sondern ein gebildetes Publikum im Umkreis der Gymnasien. In 14,20b fällt die Verwendung des Substantivs σέβασμα „Gegenstand der Verehrung“ auf; es ist ein spätes Wort, das ein zu verehrendes Götterbild bezeichnen kann: Dionysios von Halikarnassos verwendet es einmal im Plural am Ende des 1. Jh. v. Chr. in seiner Geschichte Roms (Ant. 1,30,3); in der LXX kommt es nur in Weish 14,20; 15,17; BelTh 27 und im NT in Apg 17,23; 2Thess 2,4 vor; σέβασμα soll hier möglicherweise auf den Ehrennamen des Caesar Octavius Augustus, griechisch σεβαστός, verweisen, den der Imperator seit der Verleihung durch den römischen Senat im Jahre 27 v. Chr. trug.61 Strabon erwähnt diesen Ehrennamen ca. 20 v. Chr. (Geogr. III, 3,8; XII, 3,14.35: ὁ Σεβαστὸς Καῖσαρ, τοῦ Καίσαρος τοῦ Σεβαστοῦ). Um 60 v. Chr. gebrauchte Diodorus Siculus das Substantiv σεβασμός „Verehrung“ (Bibl. I, 22,83), beide Male im Zusammenhang mit Ägypten und verbunden mit dem Thema der Götterbildverehrung; σεβασμός findet sich dann auch mehrfach bei Dionysios von Halikarnassos und Plutarch. Die insgesamt negative Auffassung von der Kunst, die in diesem ganzen Abschnitt durchscheint, dürfte platonisch beeinflusst sein. Das Thema, dass die Kunst die Menge verführt, ist in der griechischen Literatur nicht selten.62 Der Verfasser kennt die Bräuche seiner Zeit tatsächlich recht gut. Das Bild des Herrschers strebte nicht eine Ähnlichkeit an, sondern die Idealisierung des Herrschers, die das Entferntsein von ihm ausgleicht. Die Verwendung eines Bildes ist imstande, die Menge zu verführen; die Statue des Kaisers ist eine ἐμφανὴς εἰκών (14,17c), ein Anblick (ὄψις zweimal in 14,17a-b), der die Menge anzieht (vgl. 14,20).63 Der Verfasser zeigt eine große Aufmerksamkeit für die Faszination des Anschauens (s. schon 13,1–9), das im Dionysoskult, der hier im Blick ist, eine besondere Rolle spielt. Ägypten kannte den Brauch, den ptolemäischen Herrschern göttliche Ehren zu erweisen; aber der Text bleibt vage und erwähnt keinen direkten Anspruch der Herrscher, wie Götter angebetet zu werden (abgesehen von der Anspielung auf entsprechende Dekrete in 14,16b, s.o.). Wahrscheinlich denkt der Verfasser an den römischen Kaiserkult, der gerade von Caesar Augustus Octavianus eingeführt worden war. Der Tonfall ist zwar polemisch, dramatisiert aber nicht. Ziel der Ausführungen ist es, die Entstehung der Götzenverehrung zu beschreiben, die Polemik gegen sie ist nicht die Hauptabsicht, wie sie es vielleicht wäre, wenn der Kontext die Zeit des Kaisers Caligula wäre.64 14,22–31: Die Der Gotteserkenntnis wird der „große Krieg der Unkenntnis“ entgegengesetzt, Unkenntnis in dem die Götzenverehrer ihr Leben führen. Das Substantiv ἄγνοια ist in der LXX Gottes und selten (vgl. Weish 17,12), wird aber schon von Platon in Bezug auf die Unkenntnis die pax romana

60 61 62 63

Vgl. BASLEZ, „The Author of Wisdom“, 37–40. Vgl. FOERSTER, Σεβαστός, ThWNT VII, 174. GILBERT, La critique, 191. Vgl. SMITH, R. R. R., Hellenistic Royal Portraits, Oxford: Clarendon Press 1988; ELSNER JAS, „The Origin of the Icon: Pilgrimage, Religion and Visual Culture in the Roman East as ‘Resistance’ to the Centre“, in: ALCOCK, Susan E. (Hg.), The Early Roman Empire in the East, Oxford: Oxbow 1997, 513–533. Zum ganzen Problem vgl. vor allem BASLEZ, „The Author of Wisdom“, 45–49. 64 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 822.

Diachrone Analyse

383

Gottes als Ursache allen Übels verwendet (Theaet. 176c). Nach der stoischen Auffassung, die Philon aufgreift (Ebr. 157–161), ist die Unkenntnis mit der Ethik verbunden; vgl. Epiktet, Diatr. I, 26,6–7; SVF III, 23 frg. 95; III, 60 frg. 256,28–33.65 Die Vorstellung der ἄγνοια scheint so in der kynisch-stoischen Diatribe aufgegriffen worden zu sein, aber auch die Unterscheidung zwischen Unkenntnis Gottes und Immoralität; die erstere ist die Wirkung der zweitgenannten. Auch wenn die Wendung γνῶσις θεοῦ in der LXX (außer in Weish 2,13; 14,22) nicht vorkommt (vgl. Philon, Deus 143), ist der Gedanke „Gott erkennen“ zutiefst biblisch (Hos 13,4; Jes 45,4); vgl. insbesondere die ἐπίγνωσις θεοῦ, von der Hos 6,6 und vor allem Hos 4,1–2 sprechen, ein Text, der die biblische Hauptquelle in diesem Abschnitt zu sein scheint. Dort, wo es keine Gotteserkenntnis gibt, findet sich nur Immoralität; das ist die Situation, in der sich die Völker befinden (Ps 78[79MT],6). Auch wo der Verfasser sich an hellenistische Vorstellungen anlehnt, bleibt der Grundgedanke in 14,22 biblisch. Das Thema wird in 14,30 wieder aufgegriffen, wo wieder auf den Buchanfang zurückverwiesen wird (1,1b). Die Gotteserkenntnis ist ein Thema, an dem dem Verfasser sehr viel liegt. Die Götzenverehrer nehmen jedoch nicht wahr, dass sie in dieser Situation der Unkenntnis (Gottes) leben, und wegen der fehlenden Gotteserkenntnis geraten sie in einen weiteren Irrtum, die Sittenlosigkeit, die sie jedoch nicht als solche erkennen und sie mit dem Namen „Frieden“ belegen. In der Erwähnung des „Friedens“ (14,22c), der in Wirklichkeit „einen großen Krieg der Unkenntnis“ verbirgt, ist eine Anspielung auf Jer 6,14 möglich, aber der Kontext ist verschieden. Wahrscheinlich liegt darin eine polemische Bezugnahme auf die pax romana (als Zeichen des Friedens im ganzen Reich werden im Januar 29 v. Chr. die Pforten des Janus-Tempels auf dem Forum in Rom geschlossen, und als Symbol des „Friedens“ wird im Jahre 9 v. Chr. von Caesar Augustus die Ara pacis errichtet). Ein berühmter Satz bei Tacitus lautet: auferre trucidare rapere falsis nominibus imperium, atque ubi solitudinem faciunt, pacem appellant „wegraffen, morden, rauben nennen sie mit falschem Namen Herrschaft, und wo sie Verwüstung anrichten, Frieden“ (Agric. 30). Es handelt sich nicht nur um einen inneren Krieg, wie einige Texte von Philon nahelegen (Conf. 46–49; Gig. 51), die von der kynischstoischen Diatribe beeinflusst sind (vgl. Ps. Heraklit, Ep. 7).66 Korruption und Gewalttätigkeit breiten sich in der Welt aus, und man hat die Kühnheit, sagt der Verfasser, dies alles „Frieden“ zu nennen. Es ist auch möglich, an eine gewissen Polemik gegen die Mysterienkulte zu denken; denn der Myste gelangt durch die Feier der Initiation zum „Frieden“: ad portum quietis et aram misericordiae tandem, Luci, venisti „…am Ende bist du, Lucius, zum Hafen der Ruhe und zum Altar der Barmherzigkeit gelangt“ (Apuleius, Met. XI,15). Im Lasterkatalog von Weish 14,23–26 ragen die mit den Mysterienkulten, insbesondere mit dem Dionysoskult, verbundenen Vergehen (14,23) heraus; in diesen polemischen Bezugnahmen besteht wohl die Originalität des Lasterkataloges des Buches der Weisheit. Es folgen die mit der Zerstörung des familiären und gesellschaftlichen Lebens verbundenen Sünden (vgl. bes. 14,24, aber auch 14,25.26a) und

65 Vgl. GILBERT, La critique, 157–161. SCARPAT, Sapienza III, 103–107, sieht in der Erwähnung der Unkenntnis eher eine Bezugnahme auf antignostische Polemiken. 66 Vgl. HERCHER, Rudolf, Epistolographi Graeci, Paris: Didot 1873, 284.

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gleich darauf die Verfehlungen sexueller Art, insbesondere die Zuchtlosigkeit in der Ehe. Der Vergleich mit ähnlichen Lasterkatalogen aus jüdischen Kreisen, besonders denen in Or. Sib. 3,36–43.763–765; 4,31–34; vgl. 1QS IV,9–12, aber auch Röm 1,26– 31,67 zeigt, dass der Verfasser, wie schon beobachtet wurde, nicht beabsichtigte, eine erschöpfende Liste der Verfehlungen zu erstellen, sondern einen Musterkatalog, für den er Beispiele von Vergehen aussuchte, die für seine Leserschaft, die in einer stark hellenisierten Umwelt lebte, aktuell waren,68 ohne dabei den Dekalog als Hauptausgangspunkt zu vergessen; auch in dieser Art der Auswahl zeigt sich seine Originalität. Sein Insistieren auf den sozialen Vergehen, die eng mit der Götzenverehrung und den Mysterienkulten als diese Vergehen entfesselnde Ursache verbunden sind, macht die Wucht der Polemik des Verfassers deutlich. Er sieht die zeitgenössische Gesellschaft aus ihren eigenen ethischen Fundamenten gerissen; die Ursache von all dem (vgl. 14,27) ist nach ihm in der fehlenden Erkenntnis des wahren Gottes zu suchen; sie bleibt die Grundlage jedes ethisch richtigen Verhaltens. Die Verwendung des Verbs εὐφραίνομαι in 14,28a soll wahrscheinlich auf Freudenbekundungen verweisen und, zusammen mit dem Verb μαίνω (vgl. ἐμμανεῖς in 14,23b), an die typischen Exzesse der dionysischen Feste denken lassen. Die falschen Prophezeiungen (ein Echo von Texten wie Jer 14,14–15; 23,26; 34,10.15) zeigen sodann eine Polemik gegen eine enthusiastische Mantik, die sich ekstatisch gebärdet, wie es einige Mysterienkulte tun (vgl. Euripides, Bacc. 298–301). Orakel waren typisch für die zeitgenössische Religiosität; Wahrsager, Orakelerteiler und Propheten wurden sowohl während der liturgischen Feiern als auch an dafür vorgesehenen Orten befragt.69 Das Insistieren auf der Schwere des Vergehens beim Falschschwören – um Die Meineide dieses Thema kreist der Absatz 14,28–31 – ist ein weiteres Zeichen, dass der ganze Abschnitt 14,22–31 vom Dekalog abhängt (vgl. Ex 20,7; Dtn 5,11); bei den Götzen, die gar nicht existieren, zu schwören, zieht nur Unrecht nach sich. Dieser Gedanke findet sich auch in den älteren Büchern der Bibel (Jos 23,7; Jer 5,2.7). Im Dekalog geht das Verbot des Falschzeugnisses Hand in Hand mit dem Bilderverbot, d.h. dem Verbot der Götzenbilder, die einen Gegensatz zum Gott Israels darstellen. Dieses Insistieren auf dem Problem der Meineide ist jedoch auch im Blick auf die gesellschaftliche Umwelt, in der der Verfasser lebt, zu verstehen. Denn der Eid spielt in Alexandria eine wichtige Rolle, er wird zum Mittel des politischen und gesellschaftlichen Ausgleichs und verliert dabei oft seine religiöse Dimension. Denn viele gebildete Menschen leisteten Eide, ohne an die Götter zu glauben, die 67 Zu einem Vergleich der Reihe bei Paulus und der im Buch der Weisheit vgl. LAGRANGE, J. M., „Le catalogue des vices dans l’Epître aux Romains (I-28–31)“, RB 8 (1911), 546, der vermutete, dass Paulus sich direkt am Buch der Weisheit orientiert habe. 68 REESE bemerkt, dass viele dieser Vergehen, die in der LXX selten erwähnt oder überhaupt unbekannt sind, sich jedoch in den Texten des Epikuräers Philodemos finden (z.B. ἀπιστία, ἐπιορκία, ἀμνηστία χάριτος, γενέσεως ἐναλλαγή, ἀταξία γάμων, ἀσέλγεια); „the author of Wis, then, was familiar with the technical terminology found in hellenistic literature and used it to describe moral dispositions“ (Hellenistic Influence, 21). 69 HUMBERT, Gustave, „Divination“, DAGR II 1,292–319; MONCEAUX, Paul, „Oraculum“, DAGR IV, 1–214–223.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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die Einhaltung ihrer Schwüre garantieren sollten. Das Schauspiel von Menschen, die irgendeine Sache beschwören und dies vor Götterbildern tun, hat sicherlich das Gewissen des Verfassers verletzt, und dies ist gewiss der Hauptgrund seiner Polemik.70

Weish 15,1–6: Die Treue Gottes, die Treue des Volkes 1 Du aber, unser Gott, bist gütig und treu, langmütig und mit Erbarmen alles regierend. 2 Selbst wenn wir nämlich sündigen, gehören wir dir, da wir um dein Herrsein wissen; wir werden aber nicht sündigen, da wir wissen, dass wir dir zugerechnet sind. 3 Dich zu kennen, ist nämlich vollkommene Gerechtigkeit, und um dein Herrsein zu wissen, ist Wurzel der Unsterblichkeit. 4 Uns hat nämlich weder böses Ersinnen von Menschen irregeführt noch fruchtlose Mühe von Schattenzeichnern, eine mit verschiedenen Farben bekleckste Gestalt; 5 deren Anblick erregt bei Toren Verlangen, und so begehrt jemand eines toten Bildes Gestalt, die nicht atmen kann. 6 Liebhaber von Bösem und würdig derartiger Hoffnungen sind sowohl die Anfertigenden als auch die Begehrenden und die Verehrenden.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1

4

Das Adjektiv ἀληθής kann hier, wie in Weish 12,27, die Bedeutung „wahr“ haben im Gegensatz zu den Götzenbildern, die stattdessen falsch sind. Diese beiden sind die einzigen Stellen in LXX, an denen ἀληθής auf Gott bezogen ist. In Ex 34,6 lautet das Attribut Gottes ἀληθινός „wahrhaftig, treu“; diese Bedeutung kann auch hier nicht ganz ausgeschlossen werden (so verstehen es auch Kommentatoren wie GRIMM, CORNELY und HEINISCH), zumal es sich ja um eine Aufnahme des Exodustextes im Bundeskontext handelt (die LXX übersetzt in Ex 34,6 hebr. ‫ רב חסד ואמת‬durch πολυέλεος καὶ ἀληθινός). *σκιαγράφος ist ein gewähltes und seltenes Wort, das vor dem Buch der Weisheit nicht belegt ist. Das Substantiv σκιαγραφίαwird von Platon in negativem Sinne benutzt (Phaed. 69b; Resp. 602d): eine „Bühnenmalerei“, die den Zuschauer täuscht. LARCHER (Sagesse III, 855–856) vermutet, dass der Verfasser die „Schattenmalerei“ meint, d.h. die Art von Malerei, die die Perspektive betont. Aber die Verwendung bei Platon weist eher in die Richtung einer Abwertung: „Maler von Schatten“, d.h. ein Künstler, der sein Publikum durch eine fiktive Darstellung irreführt.

70 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 841; ALONSO SCHÖKEL, Sabiduría, 177.

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5

Weish 15,1–6 In 15, 4c ist *σπιλωθέν von σπιλόω „beflecken, verunstalten“ ein hapax der LXX; der Text spricht von einem „durch verschiedene Farben verunstalteten Bild“. Der Verfasser denkt sehr wahrscheinlich an Wandmalereien von Götzenbildern, die hier sehr hart verurteilt werden; vielleicht bezieht er sich auch auf bemalte Gegenstände, die in den Mysterienkulten verwendet werden konnten (vgl. TURCAN, Les cultes orientaux, 295). Gewichtige Textzeugen (S*, A* und viele andere; vgl. ZIEGLER) korrigieren den Dativ Plural ἄφροσιν in den Singular ἄφρονι aufgrund des in 15,5b folgenden Verbs im Singular ποθεῖ. SCARPAT vermutet eine Art von Haplographie: von einem ursprünglichen ποθεῖ τίς τε zum jetzigen ποθεῖ τε (Sapienza III, 155); in dieser Weise ließe sich auch ἄφροσιν in 15,5a erklären.

Synchrone Analyse 15,1: Du aber, In starkem Kontrast zum vorhergehenden Lasterkatalog steht die in der 2. Person unser Gott …! Sing. an Gott gerichtete Anrufung (vgl. „Vater!“ in 14,3): „Du aber, unser Gott, …

!“ Die Partikel δέ markiert einen deutlichen Gegensatz zum vorangehenden langen Abschnitt über den Ursprung der Götzenverehrung und führt einen warmen und persönlichen Gebetston ein, wie er ähnlich schon in 14,1–10 zu beobachten war. Die Anrede „du, Herr, unser Gott“ erscheint in der Bibel in Situationen, in denen Israel seine Sünde anerkennt und die Barmherzigkeit Gottes anruft (vgl. Esr 9,10; Ps 98[99MT],8; Dan 9,15; Bar 2,12.15.19.27); aber siehe auch Jes 26,12–13LXX; Jer 3,19.22; Bar 3,5–6, wo die Bitte eine erneute Selbstverpflichtung Israels in Bezug auf den Bund und auf seine Beziehung zu Gott mitenthält und daher eine Absage an die Sünde. Der Gott Israels wird hier mit den klassischsten biblischen Attributen, ausgehend von Ex 34,6, angerufen; „gütig“ χρηστός fügt dem eine Note der Sanftheit hinzu, lat. suavis (vgl. Ps 85[86MT],5; 99[100 MT],5; 105[106 MT],1; 144[145MT],8); „wahrhaftig“ (oder „treu“, ἀληθής); „langmütig“ μακρόθυμος (nur hier im Buch der Weisheit, mehrfach in der übrigen LXX von Ex 34,6 her als Eigenschaft Gottes, aber im Buch der Sprichwörter und bei Kohelet auch als Attribut von Menschen) und schließlich, in einer Umformulierung des Adjektive ἐλεήμων und πολυέλεος (Ex 34,6) in Weish 15,1b ἐλέει διοικῶν τὰ πάντα „mit Erbarmen alles durchwaltend“ (zu ἔλεος „Erbarmen, Liebe“ vgl. besonders Weish 9,1; 11,9; 12,22). In diesem Abschnitt wird das Gottesbild von Weish 13–15 erweitert: Gott „der Seiende“, der Schöpfer (13,1–9), der fürsorgliche Vater (14,3–5) und jetzt der Gott des Bundes, ein Gott, der in der Geschichte am Werk ist, im Gegensatz zu den Götzenbildern, die unfähig sind zu irgendeinem Handeln. 15,2 beginnt mit dem Ausdruck einer Möglichkeit: „Selbst wenn wir sündi15,2: Wir gehören dir … gen…“. Der Exodushintergrund lässt gleich an die Episode mit dem Goldenen Kalb denken. Aber die Sünde beendet nicht, auch wenn sie schwer wiegt, die Zugehörigkeit des Volkes zu Gott; σοί ἐσμεν greift Ex 34,9LXX auf: καὶ ἐσόμεθα σοί „und wir werden dir gehören“; vgl. auch Jer 3,22. Der Verfasser mag auch an die Zugehörigkeitsformel („Bundesformel“) gedacht haben: „Ihr werdet mein Volk sein, und ich werde euer Gott sein“ (Jer 7,23; vgl. Jer 11,4; 24,7; 38[31MT],33; 39[32 MT],38; Lev 26,12). Die durch den Bund bekräftigte Zugehörigkeit des Volkes zu Gott ist verbunden mit dem Herrsein Gottes, mit seiner Herrschaft (κράτος); das Volk erkennt sie an (εἰδότες) und wird sich damit bewusst, Gott anzugehören, über jede mögliche Sünde hinaus.

Synchrone Analyse

387

Aus diesem Bewusstsein folgt der Wille, nicht mehr zu sündigen, der durch ein Futur im Medium ausgedrückt wird (οὐχ ἁμαρτησόμεθα), das Absicht und Ermahnung anklingen lässt: „Wir wollen nicht mehr sündigen!“ In 15,2a hat εἰδότες die Bedeutung „anerkennend, zugebend“, während in 15,2b dasselbe Partizipium eine Kenntnis meint, die aus der direkten Erfahrung des Handelns Gottes in der Geschichte stammt. Der Verfasser bezieht sich hier nicht auf die Sünde Israels im Allgemeinen, sondern auf die Götzenverehrung, auf das Goldene Kalb: Israel, das weiß, dass es Gott gehört, und will sich keine anderen Götter mehr wählen. Zu dem „Herrsein“ Gottes, das auf sein Handeln in der Geschichte verweist, kommt hier noch das Bewusstsein der Auserwählung durch Gott: Das Perfekt σοὶ λελογίσμεθα „dir sind wir zugerechnet“ hebt die Dauerhaftigkeit der Wirkungen der Auserwählung in der Gegenwart des Volkes hervor.71 In dem eher düsteren Bild, mit dem der Verfasser die Menschheit beschreibt, bildet dieser Text innerhalb von Weish 13–15 ein Moment der Hoffnung. Mit einer entschiedenen theologischen Feststellung beschließt 15,3 die in 15,1 begonnene Überlegung. Der in 15,2 auf der Sünde liegende Akzent verschwindet und verwandelt sich in eine positive Aussage: „Dich zu kennen ist vollkommene Gerechtigkeit“. Das glaubende Israel besitzt die Kenntnis Gottes, ein Wissen, das dem ähnlich ist, das die Weisheit besitzt (8,4a), und dieses Wissen wird mit der „vollkommenen Gerechtigkeit“ gleichgesetzt. Dabei handelt es sich um die Gerechtigkeit des Menschen, jene Tugend, die durch die persönliche Beziehung zu Gott erlangt werden kann („Dich kennen“). Ein weiteres Mal führt die Ethik in der Sicht des Verfassers zum Glauben. Die wiederholte Verwendung von Verben, die mit dem Erkennen zu tun haben (ἐπίσταμαι, οἶδα), könnte auch in Verbindung stehen mit der Polemik gegen einen Typ intellektueller „Erkenntnis“, den die hellenisierteren Juden vertreten; die einzige wahre „Erkenntnis“ ist die des Gottes Israels. Parallel zu „dich kennen“ steht „um dein Herrsein (κράτος) wissen“, vgl. 15,2a; die Anerkennung der großen Taten Gottes in der Geschichte und daher seines universalen Herrseins ist „Wurzel der Unsterblichkeit“. Die Vorstellung einer „Wurzel (ῥίζα; vgl. Sir 1,6.20) verweist auf etwas, das zugleich Vorwegnahme und Fundament von etwas anderem ist. Aus dem Glauben an Gott erwächst demnach die Gerechtigkeit (15,3a), d.h. das sittlich richtige Leben des Menschen, aber es erwächst daraus auch die ἀθανασία, das ewige Leben, das, von 15,2 her gesehen, „bei ihm sein“ bedeutet (vgl. 3,1–9); hier kommt zum letzten Mal im Buch das Wort ἀθανασία vor. Die Unsterblichkeit erscheint daher nicht nur als ein Geschenk, sondern auch als eine Aufgabe, die vor dem Menschen steht, Frucht des Glaubens an Gott und eines in Gerechtigkeit geführten Lebens. In diesem irdischen Leben liegt also nach dem Verfasser der Same des ewigen Lebens mit Gott. Die Gotteserkenntnis betrifft deshalb nicht nur die Gegenwart des Menschen, sondern auch und vor allem seine Zukunft (ein möglicher Nachklang davon im NT findet sich in Joh 17,3). Die Verknüpfung der Macht Gottes mit seiner Verfügungsmacht über den Tod ist schon biblisch (vgl. Ps 48[49MT], 16; 138[139 MT],8; u. ö.), wird aber hier weitergeführt und mit neuen und reicheren Perspektiven ausgestattet. Dem Verhalten der Israeliten wird in 15,4–6 das der Götzenverehrer gegenübergestellt; das γάρ in 15,4a zeigt einen neuen Gedanken an. Die Götzenverehrung

71 Zur Deutung dieses Verses durch Augustinus s. GILBERT, La critique, 186–187.

15,3: Dich zu kennen ist vollkommene Gerechtigkeit

15,4–5: Israel und die Götzenbilder

388

Weish 15,1–6

wird in 15,4–5 nochmals verurteilt mit einem ganz negativen Urteil über für die Götzenverehrung in Dienst genommene Kunst (vgl. dazu schon 14,18–20), dabei ist hier an die Malerei gedacht (s.o. Anmerkungen zum Text). Trotz der vorangehenden Erwähnung der Sünde Israels (15,2a), drückt 15,4 mit einem gewissen Stolz die Stellungnahme eines Volkes aus, das sich vom Götzendienst nicht hat in die Irre führen lassen (nochmals πλανάω). Eine solche Behauptung ist erstaunlich, und der Aorist (ἐπλάνησεν) kann nicht auf ein bestimmtes Ereignis verweisen, da der Verfasser sehr wohl weiß, dass Israel sich doch dem Götzendienst ergeben hatte wie im Falle des soeben erwähnten Goldenen Kalbes. Eher denkt der Verfasser an ein ideales Israel, das, wie der Gerechte in Kap. 2, nie dem Irrtum verfallen ist, so dass es seinen Gott vergessen hätte; für das Buch der Weisheit hat offensichtlich ein derart treues Israel nie aufgehört zu existieren. Es sei denn, dass der Verfasser an das zeitgenössische Israel denkt, das schon seit Langem die Götzen verehrenden Bräuche aufgegeben hat, und dass er daher dies als seine feste Absicht behaupten kann (vgl. Jdt 8,18). 15,5 führt das Thema des Begehrens ein, das mit dem in 15,4b-c erwähnten Kunstwerk verbunden ist. Das Wort ὄρεξις kam schon in 14,2 vor und wird auch in 16,2.3 wiederkehren; wie in Röm 1,27 gewinnt ὄρεξις einen sexuellen Beiklang: Das Anschauen solcher Malereien erregt die Begierde der Toren. 15,5b fügt noch einige biblische Stichwörter hinzu; schon in Weish 12,24; 13,10.18 wurde deutlich, dass das Motiv Götzenbild als etwas „Totes“ (νεκρός) mit in der Bibel vorhandenen Vorstellungen verbunden ist; biblisch ist auch die Vorstellung vom Götzenbild als etwas, das nicht atmen kann (ἀπνοῦν), vgl. Jer 10,14; 28[51MT],17; EpJer 24; Hab 2,19; Ps 134[135MT],17. Danach „verlangen“ (ποθεῖ) die Götzenverehrer. Es ist die Suche nach etwas Totem, das dem Menschen keine Hilfe bieten kann, wozu jedoch der personhafte, fürsorgende Gott, der am Beginn des Absatzes angerufen wurde, in der Lage ist. 15,6 klingt feierlich und bildet gleichzeitig einen vorzüglichen Schluss des 15,6: In das Böse Ver- Abschnitts und eine Überleitung zum Folgenden. Das Wort ἐραστής „Liebhaber“ liebte … und die Wiederholung des Verbs ποθέω „begehren“ in 15,6b bestätigen den erotischen Hintergrund dieser Kritik an der Götzenverehrung, die jede Art von Götzenverehrern betrifft: diejenigen, die Götzenbilder herstellen, die nach ihnen verlangen und die sie verehren. Wie der Weise ein „Liebhaber der Weisheit“ ist (vgl. 8,2), so ist der Götzenverehrer ein „Liebhaber von Bösem“, er wird „würdig“ (ἄξιος), nur leere Hoffnungen zu haben (vgl. 5,14), im Gegensatz zu den Israeliten, die εὐέλπιδες (12,19) sind, die auf die Unsterblichkeit hoffen (15,3).

Diachrone Analyse 15,1 Auch bei der Anrufung des Gottes Israels scheut der Verfasser sich nicht, sich mit

der griechischen Welt auseinanderzusetzen. Der Ausdruck διοικῶν τὰ πάντα „alles durchwaltend“ entstammt stoischer Terminologie (vgl. dasselbe Verb διοικέω in 8,1 mit der Weisheit als Subjekt) und zeigt die Vorstellung eines gegenüber allem und allen fürsorgenden und wohlwollenden Gottes. Die Stoiker verwenden eine ähnliche Wendung für das πνεῦμα (SVF II, 137 frg. 416) oder das Schicksal (SVF I, 24 frg. 87; 50 frg. 98; II, 169 frg. 528; 264 frg. 913). Die Formel ist aber noch älter und wird innerhalb des griechischsprechenden Judentums im Aristeasbrief (Arist.

Weish 15,7–13

389

201. 234. 254: θεὸς τὸν πάντα κόσμον διοκεῖ μετ’ εὐμενείας) und bei Philon aufgegriffen (Conf. 170).72 Die Verknüpfung dieser Wendung mit dem Motiv der Vorsehung ist typisch stoisch: „… man muss glauben, dass der Gott, der das Universum regiert (διοικοῦντα), für die Menschen sorgt, da er wohltätig, gütig (χρηστός), menschenliebend (φιλάνθρωπος), gerecht und reich an aller Tugend ist“, und deshalb wird er mit der πρόνοια, der „Vorsehung“ identifiziert (vgl. SVF II, 169 frg. 528; Flavius Josephus, Ant. 4,47). Trotz der Anleihe beim Stoizismus ist der Hintergrund der Anrufung Gottes in Weish 15,1 eher biblisch als griechisch. Der Verfasser geht vor allem von Ex 34,6–9 aus, innerhalb der berühmten Erzählung vom Goldenen Kalb; „unser Gott“ ist daher der Gott des Bundes, der sein Volk nicht verwirft, nicht einmal, wenn es sündigt. Denn sein universales Walten ist eng verbunden mit seiner Haltung der Barmherzigkeit gegenüber allem. In 15,4–5 geht der Verfasser wie auch Philon (Leg. III, 22; Decal. 7. 66. 156 u. ö.) 15,4–5 nicht so weit, die Kunst insgesamt zu kritisieren (anders jedoch Flavius Josephus in Apion. 2,74–75). Die Kunst wird hier als „schlecht, böse“ (κακότεχνος; vgl. 1,4) beschrieben, da sie zu verkehrten Zwecken benutzt wird. Diese Einstellung findet sich bei Poseidonios und ist auch der klassischen Kultur nicht unbekannt: Nur die artes liberales (ἐγκύκλιοι), nicht die volkstümliche und die Unterhaltungskunst, können die Tugend zum Gegenstand haben (vgl. Seneca, Ep. 88, 21–23). 15,5 könnte auf die Geschichte von Pygmalion, die in der antiken Welt wohlbekannt war, anspielen,73 lässt aber im Besonderen an in der Antike bekannte Fälle eines tatsächlich erotischen Verhältnisses der Verehrer zu einem Götzenbild, sei es eine Statue oder eine Malerei, denken.74 15, 6 bestätigt diese Deutung durch die Verwendung des Wortes ἐραστής „Liebhaber, Verliebter“.

Weish 15,7–13: Die Torheit des Götzendienstes 7 Auch der Töpfer nämlich, der die weiche Erde mühsam knetet, formt zu unserem Dienst jedes einzelne Stück; doch aus dem gleichen Lehm heraus formt er sowohl reinen Werken dienende Geräte als auch entgegengesetzte, alle gleicherweise; was aber die Nutzung eines jeden von diesen ist, (darüber ist) Richter der Lehmhandwerker. 8 Und mit arger Mühe formt einen verstandleeren Gott aus demselben Lehm (einer,) der, (selber) vor kurzem aus Erde entstanden,

72 GILBERT, La critique, 175–177. 73 GILBERT, La critique, 192–193. Die Geschichte von Pygmalion findet sich bei OVID, Met. 10,243–297; CLEMENS ALEXANRINUS, Protrept. 4, 57, 1–5; ARNOBIUS, Adv. Gent. 6,22. 74 Vgl. die bei SCARPAT, Sapienza III, 155, angeführten Texte.

390

Weish 15,7–13

nach wenig (Zeit zu ihr) geht, von der er genommen wurde, wenn die Leihgabe des Lebens von ihm zurückgefordert wird. 9 Doch er hat eine Sorge – nicht, dass er entschlafen wird, auch nicht, dass er ein bald endendes Leben hat, sondern er wetteifert zum einen mit Goldschmieden und Silbergießern und ahmt zum anderen Bronzeformer nach und betrachtet es als eine Ehre, dass er Unechtes formt. 10 Asche ist sein Herz, und wertloser als Erde ist seine Hoffnung und darum weniger wert als Lehm sein Leben. 11 Denn er erkannte nicht den, der ihn geformt und ihm eine wirkende Seele eingeweht und Lebensgeist eingehaucht hat, 12 sondern er dachte, ein Spiel sei unser Leben, und die Lebenszeit ein gewinnträchtiger Jahrmarkt: Man müsse nämlich, sagt er, woran auch immer, selbst an Bösem, verdienen. 13 Dieser nämlich weiß besser als alle, dass er sündigt, wenn er zerbrechliche Geräte und Statuen, die erdhafter Stoff sind, schafft.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 7

8

9

In 15,7c ist ἀνεπλάσατο ein Aorist in erzählender Bedeutung, der ein Präsens (πλάσσει) fortsetzt. In 15,7f. schlägt ZIEGLER vor, τούτων δὲ ἑκατέρου zu lesen; wichtige Handschriften (B, Sc, V u.a.) lesen stattdessen ἑτέρου. Mit einigen Minuskeln dürfte aber (so auch HEINISCH, FICHTNER, LARCHER, GILBERT) die Lesart τούτων δὲ ἑκατέρων vorzuziehen sein; SCARPAT (Sapienza III, 159) hält jedoch ἐκατέρου für eine puristische Glosse, die gestrichen werden sollte. Das am Ende von 15,7 stehende Wort *πηλουργός „Lehmbearbeiter“ ist gewählt und selten und nach WINSTON, Wisdom, 286, hier zum ersten Mal bezeugt. Das Adjektiv *κακόμοχθος scheint eine Neubildung des Verfassers zu sein, wie es in hellenistischer Zeit häufig geschah; es hat die etymologische Bedeutung „einer, der sich einer üblen Mühe unterzieht“ und nimmt ausdrücklich das in 15,7a verwendete Adjektiv *ἐπίμοχθος auf, das ebenfalls ein hapax der LXX darstellt. Auch die Verbindung θεὸς μάταιος kommt sonst in der LXX nicht vor; zu μάταιος s.o. 13,1. In 15,9c finden sich drei hapax der LXX. Das Verb *ἀντερείδομαι hat die Bedeutung „sich entgegenstemmen“, und ein großer Teil der Kommentatoren nimmt an, dass es hier den Sinn von „wetteifern mit“ erhält; vgl. die alte Konjektur von GRABE, der anregte zu lesen ἀντερίζεται „er kämpft gegen“. SCARPAT (Sapienza III, 162) schlägt vor, ἀντερείδομαι hier in seiner üblichen Bedeutung „sich entgegenstemmen, Widerstand leisten“ zu übersetzen, d.h., dass sich der Töpfer der Konkurrenz von Handwerkern, die mit wertvollen Materialien arbeiten, widersetzt und durch die Bearbeitung von Tonerde die Hersteller von Bronzefiguren nachahmt, um so billige Götzenbilder für das abergläubische Volk anzufertigen. ἀντερείδομαι hat hier als Dativobjekte *χρυσουργοῖς καὶ ἀργυροχόοις, „Goldschmiede und Silbergießer“, zwei auch im griechischen Sprachgebrauch seltene Wörter; χρυσουργός ist ein hapax der LXX, *ἀργυροχόος sogar ein hapax totius graecitatis wie auch das folgende Wort *χαλκοπλάστης „Bronzeskulpteur“. Alle diese gewählten Ausdrücke verleihen dem Text einen ironisch feierlichen Klang.

Synchrone Analyse

391

11 Das Verb ἐμπνέω hat eine aktive Bedeutung und klingt für einen Griechen annehmbarer als das Verb ἐμφύω, das in Gen 2,7 verwendet ist, vgl. Philon, Leg. I, 36 und die Erörterung bei SCARPAT, Sapienza III, 164. 12 Kodex B zusammen mit Sc und mehreren Minuskeln lesen den Singular ἐλογίσατο, ihnen folgt ZIEGLER; alle anderen Textzeugen haben ἐλογίσαντο. GILBERT (La critique, 200–201) greift einen Vorschlag von SMITS auf, den besser bezeugten Plural ἐλογίσαντο zu lesen als unpersönliche Form: „Man denkt sich, unser Leben sei ein Spiel“; entsprechend lässt sich auch das folgende φησίν gut unpersönlich verstehen: „Man sagt“, wie es in einer Diatribe nicht unüblich ist. 13 Die großen Kodizes (S, A, C, V) lesen eine unmögliche Form εὔθραστα, die gewöhnlich korrigiert wird in *εὔθραυστα, ein hapax der LXX und seltenes Wort mit der Bedeutung „leicht zerbrechlich“. SCARPAT (Sapienza III, 166–167) möchte lieber das gleichbedeutende, zwar für Weish 14,13b weniger bezeugte, aber im Griechischen häufiger verwendete Adjektiv εὔθλαστα lesen.

Synchrone Analyse Die Einheit des Abschnitts ist durch das Thema des Töpfers, der Götzenbilder aus Ton anfertigt, gegeben. Während 15,7–9 eher beschreibend vorgehen, wenden sich 15,10–13 einer tiefer reichenden Überlegung zu. Der Gedankengang über die Götzenverehrung war absteigend angeordnet. Der Töpfer, der Götzenbilder aus Ton schafft, ist schlimmer als alle Götzenverehrer, aber noch eine kleine Stufe weniger schlimm als die Verehrer von Tieren, über die der Schlussabschnitt (15,14–19) sprechen wird. In 15,7–9 wird die ganz gewöhnliche Tätigkeit eines Töpfers beschrieben (vgl. 15,7–9: Der Sir 38,29–30), der schließlich auch Götzenbilder herstellt, wie es in Alexandria gut Töpfer bekannt ist.75 15,7 beschreibt bis ins Einzelne die Herstellung eines Gefäßes aus Lehm für die übliche Verwendung; der Töpfer entscheidet über die Gebrauchsmöglichkeiten seiner Gefäße. Diese Vorstellung findet eine theologische Anwendung in Jer 18,2– 4, indem das freie Umgehen Gottes mit seinen Geschöpfen mit dem Verhalten eines Töpfers verglichen wird (vgl. Jes 29,16; 45,9–10; 64,7). Die Vorstellung vom Töpfer, der Gefäße für eine edle Verwendung oder für weniger edle andere Zwecke herstellt, findet sich sonst nur noch in Röm 9,21, jedoch in einem anderen Zusammenhang.76 Aber der Töpfer entscheidet auch über die Verwendung seiner Kunstfertigkeit zur Herstellung einer Götzenfigur, wie 15,8 weiter ausführt. Das moralische Urteil über den Töpfer ist eindeutig; mit dem hapax *κακόμοχθος wird die ganze Arbeit des Töpfers, die darauf gerichtet ist, aus Ton einen „leeren Gott“ herzustellen, als böse bewertet. Aber die schwerere Schuld des Töpfers liegt darin, sein eigenes Geschöpfsein zu verkennen; 15,8c-d erinnert daran, dass der Töpfer wie jeder andere Mensch von der Erde genommen ist und zu ihr zurückkehren muss.

75 FRASER, Ptolemaic Alexandria I, 140. 76 Zu einer möglichen, aber problematischen Bezugnahme von Röm 9,21 auf Weish 15,7 vgl. LARCHER, Sagesse III, 862; GILBERT, La critique, 204 Anm. 38.

392

15,10–13: Das Urteil über den Töpfer

Das Leben als gewinnträchtiger Jahrmarkt

Weish 15,7–13

Der Verfasser scheint hier ψυχή im biblischen Sinne als „Leben“, als Prinzip des Lebens, zu verwenden und zeigt damit, dass er der biblischen Anthropologie näher steht als der griechischen. Dennoch erscheint die ψυχή hier auch als personhaftes Subjekt wie auch schon in Weish 8,19–20; denn es ist die ψυχή, die durch Gott vom Menschen zurückgefordert wird. Der hier formulierte Gedanke ist also komplex. Der Töpfer, der sich unfähig zeigt, anderen Leben zu verleihen, aber am Ende erfahren wird, dass sein eigenes Leben von Gott zurückgefordert wird, wird zum Modell jedes Menschen (vgl. im NT Lk 12,20, mit dem gleichen Verb ἀπαιτέω). 15,9 bringt einen neuen Gedanken: Anstatt an seine eigene Sterblichkeit zu denken, bildet sich der götzenverehrende Töpfer ein, ihr durch die Anfertigung eines Götzenbildes entgehen zu können. Er möchte mit Künstlern, die mit Gold, Silber oder Bronze arbeiten, konkurrieren und sie nachahmen (15,9c-d), er betrachtet es als ehrenhaft, Unechtes (κίβδηλα; vgl. 2,16) herzustellen, d.h. die Götzenbilder, die er töpfert. Er wird getrieben von einer rein menschlichen δόξα, aber auch, wie in 15,10–13 ausgeführt wird, von Gewinnstreben. Der Text hat einen ironischen und sogar sarkastischen Klang, der die lächerliche Anmaßung des Töpfers an den Pranger stellt. In 15,10–13 wird der Töpfer in einem äußerst harten Ton verurteilt. 15,10 beginnt mit einem Zitat von Jes 44,20LXX; die Götzenverehrung wird mit Hilfe dieses Textes als die Leugnung des Handelns Gottes zugunsten seines Volkes betrachtet. Das „Herz“ des Götzenverehrers, d.h. sein Wollen und Denken, wird nur Asche (vgl. 2,2d); er verliert jede Hoffnung (vgl. die trügerische Hoffnung der Gottlosen in 3,18 und 5,14), da er an die Erde gebunden ist, ist sein Leben, d.h. seine Art zu leben (βίος), weniger wert als der Lehm, den er bearbeitet (15,10b). 15,11 nimmt nochmals Gen 2,7 (τὸν πλάσαντα αὐτόν) auf und gibt näheren Aufschluss über die anthropologischen Vorstellungen des Verfassers. Der Töpfer „erkannte den, der ihn geformt hatte, nicht“, d.h., er begreift nicht, dass er von Gott modelliert wurde, wie es die Erzählung in der Genesis beschreibt. Zur Sünde des „Nichterkennens“ s.o. zu 13,1a. Die darauffolgende Erwähnung von Seele und Geist lässt bei αὐτόν/αὐτῷ in 15,11a.b an den Körper denken, aber jeder Dualismus platonischer Prägung ist hier auszuschließen. Die Beschuldigung des Töpfers wird in 15,12 vervollständigt. Die drei dort aufgeführten Punkte stellen weitere in der klassischen Literatur häufige Topoi dar (s.u.). Der götzenverehrende Töpfer, der den kleinen Demiurgen spielt (15,13), wird so zum Symbol des Menschen ohne Gott, für den es das Wichtigste ist, den eigenen Gewinn zu suchen; aber es gelingt ihm nicht, den „erdhaften Stoff“ (ὕλη γεώδης, vgl. Weish 11,17) zu „formen“ (15,7.8.9.11.16: πλάσσω) und ihm eine „wirksame Seele“ und den „Lebensgeist“ (15,11b-c) zu verleihen, den Gott dem Menschen gegeben hat. Das Verb δημιουργέω, das nur hier im Buch vorkommt, ist absichtlich ans Ende des Abschnitts gesetzt; in dieser ohnmächtigen Nachahmung Gottes besteht für den Verfasser das wahre Drama der Götzenverehrung. Die Ironie gegenüber der platonischen Vorstellung des „Demiurgen“ wird noch verschärft durch die Nennung der erdhaften Materie (ὕλη γεώδης) am Anfang des Kolons. Im Gegensatz zu Gott, der die Welt erschafft ἐξ ἀμόρφου ὕλης (11,17), benutzt der Töpfer „erdigen Stoff“, ist aber nicht imstande, ihm Leben zu verleihen.

Diachrone Analyse

393

Unausdrücklich wird hier vorausgesetzt, dass in jedem Menschen, wenn er aufmerksam seine eigene Gebrechlichkeit und Sterblichkeit betrachtet, die Möglichkeit liegt, bis zum Schöpfer aufzusteigen; diese Überzeugung liegst schon 13,1–9 zugrunde. Die Nicherkenntnis des Götzenverehrers ist deshalb als schuldhaftes Nichtwissen zu beurteilen, das ihn auf eine noch tiefere Stufe stellt als die Götzenbilder, die er selbst geformt hat; im Falle des Töpfers wiegt die Sünde noch schwerer, da er selbst nicht an die Götzen glaubt, sondern sie einzig aus persönlichem Gewinnstreben angefertigt hat.

Diachrone Analyse Über den Hintergrund des biblischen Bildes von Gott als Töpfer hinaus bedient 15,7–9 sich der Verfasser in 15,7, wenn auch eher in allgemeiner Weise, eines in der Antike verbreiteten topos, der Erzählung von Amasis, die Herodot berichtet (Hist. 2,172): Der Pharao Amasis habe aus einem goldenen Fußbecken eine Götterstatue anfertigen lassen, die die Ägypter dann eifrig verehrten.77 Aber das Motiv des Handwerkers, der aus einfachen Materialien ein Götterbild anfertigt, ist ein Gemeinplatz der Polemik gegen die Götzenverehrung; fast alle Kommentatoren erinnern an die berühmte Satire des Horaz über den Stamm des Feigenbaums (Sat. 1,8,1–4: Olim truncus eram ficulnus, inutile lignum…). Wieder verbindet der Verfasser biblische Motive mit Anregungen aus der griechischen Welt. Die Wendung ἐξ ἧς ἐλήμφθη in 15,8 verweist exakt auf Gen 3,19, ein von der jüdischen Leserschaft des Buches der Weisheit leicht zu erkennendes Zitat. Der Gedanke war implizit schon in der Rede der Gottlosen (2,1–2) enthalten und wurde im Munde Salomos nochmals aufgenommen (7,1–2). Aber die Vorstellung, dass der Mensch von der Erde kommt und zu ihr zurückkehrt, ist nicht nur typisch für die Bibel (Ijob 34,15; Koh 3,20; Sir 41,10), sondern auch in der griechischen Welt verbreitet.78 Die Formulierung „wenn die Leihgabe des Lebens (ψυχή) von ihm zurückgefordert wird“ ist eine relecture von Gen 2,7 (aber vgl. Koh 12,7); der Mensch hat den Lebensatem von Gott empfangen; das Leben ist also etwas, das dem Menschen von außen zukommt; daher der Gedanke der zurückzuerstattenden Leihgabe. Auch in der klassischen Welt ist der Gedanke, dass das Leben dem Menschen als Leihgabe verliehen ist, ein verbreitetes Trostmotiv: vitaque mancipio nulli datur, omnibus usu (Lukrez, Rer. Nat. III, 971). Es handelt sich um ein Motiv platonischen Ursprungs (Tim. 42E), das auch im Stoizismus häufig begegnet (vgl. Cicero, Tusc. I, 39,93) und auch dem hellenistischen Judentum wohlbekannt ist: vgl. Philon, Cher. 118; Quis rer. 104–108.79

77 Zu den Einzelheiten s. GILBERT, La critique, 205–207. 78 Vgl. die bei LARCHER, Sagesse III, 864, angeführten Texte. 79 Vgl. GILBERT, La critique, 208–210: „Sg 15,8d et 16b reflètent un thème d’origine grecque que les auteurs latins et juifs hellénisés ont assimilé“ (210); LARCHER, Sagesse III, 865– 866. Für die griechisch-römische Welt s. auch die Hinweise bei VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 464, und die dort in Anm. 81 genannten Texte; vgl. auch SCARPAT, Sapienza III, 160–161, und WINSTON, Wisdom, 286–287.

394

Weish 15,7–13

Auch das in 15,9a genannte Thema der „Sorge“ (φροντίς) geht zurück auf PlatonTexte; denn der wahre Philosoph denkt beständig an den Tod (Phaidon 67D-69E; 80E; 81A); das Leben ist etwas, das der Mensch nur für eine kurze Zeit empfängt. Das in 15,9b verwendete Adjektiv *βραχυτελής „binnen kurzem endend“ ist ein hapax der LXX und des klassischen Griechisch. Damit taucht das Thema des Todes von Weish 2 wieder auf: Die Gottlosen versuchen, durch den hemmungslosen Genuss des Lebens den Gedanken an den Tod, an den auch der Töpfer nicht denken will, zu verdrängen. Die hier gegen die Götzenverehrer erhobene Anklage nimmt also in der hellenistischen Welt verbreitete Motive auf, aber der Hintergrund und die Denkweise bleiben zutiefst biblisch: Der Mensch wird als verantwortlich für das Leben, das ihm von Gott verliehen wurde, betrachtet. Die beiden Kola (15,11b-c) „und (den, der) ihm eine wirkende Seele (ψυχὴν 15,10–13: Seele und ἐνεργοῦσαν) eingeweht und Lebensgeist (πνεῦμα ζωτικόν) eingehaucht hat“ erGeist scheinen weiter entfernt von der biblischen Erzählung und folgen wenigstens teilweise griechischen Vorbildern. Die beiden Begriffe „Seele“ und „Geist“ sind hier wahrscheinlich synonym und bezeichnen zwei verschiedene Aktivitäten der Seele: Die „wirkende“ Seele ist die Seele verstanden als Lebensquelle, aber, entsprechend einer im Buch der Weisheit mehrfach vertretenen Auffassung (vgl. den Kommentar zu 1,4; 8,19–20 und 15,8), vor allem als Quelle des sittlichen Handelns des Menschen. Der „Lebensgeist“ bezeichnet eher die Seele, betrachtet als Quelle jenes Lebens, das von Gott kommt; die Nennung des πνεῦμα geschieht wohl aus der Absicht, das Wesen der ψυχή besser zu erklären; einerseits verweist πνεῦμα direkter auf die Erzählung von Gen 2,7; auch Philon neigt dazu, das in der LXX dort verwendete Wort πνοή durch das griechischere πνεῦμα zu ersetzen (Leg. III, 161; Quod det. 80); andererseits erinnert πνεῦμα an den „Geist“, der mit der Weisheit verbunden ist (vgl. 7,22–23), der aus der Weisheit etwas Gott Zugehöriges macht und im Menschen das darstellt, was ihn Gott nahe sein lässt. In dieser Weise wird Gen 2,7 in einer griechischen Perspektive neu gelesen und das, was der Genesistext vom erstgeschaffenen Menschen sagt, auf jeden Menschen übertragen.80 Damit ist jede Art von Präexistenz der Seelen auszuschließen: Die Seele ist gleichsam ein Lebenshauch, der von Gott selbst herkommt, der dem Leib eingehaucht wurde, um ihn zu beleben, eine Quelle des sittlichen Lebens. Wie schon erwähnt, werden in 15,12 drei Topoi der klassischen Literatur aufgegriffen: Zunächst ist für den beschriebenen Töpfer das Leben ein παίγνιον (vgl. 12,26), ein Spiel für Kinder, ein Possenspiel, wie sich Caesar Augustus nach dem Bericht Suetons, Aug. 99,1, auf dem Sterbebett ausgedrückt haben soll: „Wenn das Spiel (τὸ παίγνιον) gelungen ist, klatscht Beifall!“ Sodann ist das ganze menschliche Leben (βίος) nur eine Gelegenheit zum Gewinnmachen, ein Jahrmarkt (*πανηγυρισμός). Der Töpfer lebt sein Leben wie jene Händler, die an den Märkten nur teilnehmen, um ein Geschäft zu machen: „Das Leben ist ein Possenspiel (παίγνιον), eine Irrfahrt (πλάνη) und ein Volksfest (πανήγυρις)“, wie der griechischsprachige Astrologe Vettius Valens gegen Ende des 2. Jh.s n. Chr. sagt.81 Die Bezeichnung des Lebens als „Jahrmarkt, Messe“ scheint auf Pythagoras zurückzu-

80 Zu diesen Ergebnissen vgl. GILBERT, „La procréation“, 353–355. 81 KROLL, Wilhelm (Hg.), Vettii Valentis Anthologiarum libri, Berlin: Weidmann 1908, 246,1–2.

Weish 15,14–19

395

gehen und wird mehrmals bei antiken Autoren aufgegriffen (vgl. Cicero, Tusc. V, 3,9: mercatus); nur die edelsten Seelen erheben sich zur Kontemplation oberhalb derer, die nur materiellen Gütern nachjagen. Schließlich muss man aus allem Gewinn schlagen, auch aus Schlechtem.82 So bricht also auch hinter der Götzenverehrung die Illusion des Geldes und die Suche nach dem eigenen Vorteil hervor; ob man an die Götzenbilder, die man anfertigt, glaubt oder nicht, ist nebensächlich gegenüber dem Denken an den Profit, wie bei den Silberschmieden in Ephesus (Apg 19,24–25); ganz anders ist es bei Israel, das den wahren Gott sucht (vgl. 15,3).

Weish 15,14–19: Die Kritik der ägyptischen Tierverehrung 14 Am törichtesten aber (waren) alle und unverständiger als Kleinkinder, die Feinde deines Volkes, die es unterdrückt hatten; 15 denn zum einen dachten sie, alle (Götzen-)Bilder der Völker seien Götter, denen weder die Benutzung von Augen zum Sehen (möglich ist), noch haben sie Nasen zum Einziehen der Luft noch Ohren zum Hören noch Finger an den Händen zum Betasten, und ihre Füße sind unfähig zum Gehen 16 – ein Mensch hat sie nämlich gemacht, einer, der den Geist (nur als Darlehen) geborgt hat, hat sie geformt; kein Mensch vermag nämlich etwas ihm Gleiches zu einem Gott zu formen; 17 da er aber sterblich ist, bewirkt er (nur) Totes mit gesetzlosen Händen; er ist nämlich besser als seine Kultgegenstände: er hat ja Leben erhalten, jene aber niemals – 18 zum anderen aber verehren sie die widerlichsten Lebewesen: In der Verstandlosigkeit verglichen sind sie nämlich noch geringwertiger als die anderen, 19 und sie sind nicht schön, so dass man sie begehren könnte, (soweit das) im Blick auf Tiere (überhaupt angemessen ist), sondern sie sind sowohl der Gutheißung durch Gott als auch seinem Segen entzogen.

82 Weitere interessante Beispiele bieten GILBERT, La critique, 214–216; WINSTON, Wisdom, 288. Vgl. Anth. Pal. X,72: „Das ganze Leben ist ein Theater und ein Spiel; entweder du lernst zu spielen und lässt alle Sorge beiseite, oder du erträgst die Leiden“. Sueton stellt bezüglich der für die vespasiani (Urinale) erhobenen Gebühren fest: pecunia non olet „Geld stinkt nicht“ (Vesp. 23,5); vgl. Juvenal, Sat. 14,204–205: lucri bonus est odor ex re qualibet „Gewinn riecht gut, woher immer er stammt“.

396

Weish 15,14–19

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 14 Die Kodizes A, C und andere Textzeugen lesen in 15,14 πάντων δὲ ἀφρονέστατοι (C S und mehrere Minuskeln haben ἀφρονέστεροι), was jedoch eine lectio facilior darstellt, der die schwierigere, aber besser bezeugte Lesart πάντες vorzuziehen ist; πάντες ist demnach das Subjekt des Satzes, während οἱ ἐχθροί in 15,14b eine Apposition darstellen. Das δέ am Anfang hat adversative Bedeutung; das besser bezeugte ἀφρονέστατοι ist als Superlativ zu verstehen: „Am törichtesten aber (waren) alle…“ Der Ausdruck τάλανες ὑπὲρ ψυχὴν νηπίου bedeutet wörtlich übersetzt „elender als die Seele eines Kleinkindes“. Das Adjektiv τάλας kommt in der LXX sonst nur noch in Jes 6,5; 4Makk 8,17; 12,4 vor, findet sich aber häufig bei den Tragikern: „etw. ertragen müssend, leidend, unglücklich“. Die Verbindung mit dem kleinen Kind (νήπιος) ist ein Topos zur Bezeichnung der Torheit, die man für dem Kleinkind zugehörig hielt (Il. 17,32; PLATON, Symp. 222b, wo Hesiod, Op. 218 [παθὼν δέ τε νήπιος ἔγνω] zitiert wird; EURIPIDES, Med. 885–891 stellt νήπιος neben ἄφρων); vgl. den Kommentar zu Weish 12,24. 15 An dem übernommenen Text von Ps 113,12–15[115,4–7MT] bringt der Verfasser einige Änderungen an: Die Erwähnung des Mundes, der nicht sprechen kann, wird weggelassen (vgl. GILBERT, La critique, 235–237); *συνολκη scheint eine Eigenbildung des Verfassers zu sein, es kehrt in Test. Rub. 2,5 in einer wahrscheinlichen Interpolation wieder, die das Wort dem Buch der Weisheit entnimmt; es ist ein Fachausdruck in medizinischen Schriften des 2. Jh.s n. Chr., wo er die lebenswichtige Rolle der Atmung betont (GILBERT, La critique, 237–238); ein weiterer Fachausdruck der medizinischen Literatur ist *ψηλάφησις „das Betasten“ (Hippokrates, Steril. 8,1320.23). 16 Der Text von 15,16 ist sehr schwierig, s. die ausführliche Diskussion bei LARCHER, Sagesse III, 881–882; der vorliegende Kommentar folgt dem Text von ZIEGLER (mit B S C O Lat Sah Syr): „denn kein Mensch kann einen ihm gleichen Gott formen“ (Lat.: nemo enim sibi similem homo poterit deum fingere). 18 Das Verb σέβονται ist nach GILBERT, La critique, 225 Anm. 1 ein Medium, dessen Subjekt dasselbe ist wie in 15,15, d.h. „die Feinde deines Volkes“; SCARPAT (Sapienza III, 174) hält σέβονται eher für ein Deponens mit aktiver Bedeutung. In 15,18b bereitet ἀνοίᾳ einige Schwierigkeiten; vgl. den Apparat bei ZIEGLER und LARCHER, Sagesse III, 884; GRIMM (Weisheit, 262) konjiziert ἀνία („Plage, Unheil“); ἀνοίᾳ ist zu verstehen als Dativ der Beziehung, hier bei den Tieren: „Bezüglich der Verstandlosigkeit sind sie die wertlosesten von allen Tieren.“ Auch unter den Tieren, die ja keinen νοῦς „Verstand“ haben, gibt es verschiedene Grade von Intelligenz; die Ägypter verehren die diesbezüglich ärmsten Tiere.

Synchrone Analyse 15,14: Die Tor- Schon in 11,15–16, am Anfang des Exkurses über die Menschenfreundlichkeit Gotheit der Vereh- tes, hatte der Verfasser das Thema der Verehrung von Tieren genannt, das nunrer von Tieren mehr am Ende der langen Kritik an der Götzenverehrung, wieder erscheint. Der

kurze Abschnitt beginnt mit einem sehr harten Urteil über „die Feinde deines Volkes“, offenbar die Ägypter, die es unterdrückt haben (15,14): Sie sind völlig vernunftlos (zu ἄφρων vgl. Weish 1,3; 3,2.12; 5,4;12,24; 14,11; 15,5), armseliger an Verstand als ein kleines Kind (vgl. Philon, Mos. I, 102; Decal. 69). Der Begriff ἐχθρός „Feind“ bezeichnet, außer in Weish 12,20.22; immer die Ägypter; καταδυναστεύω „unterdrücken“wird im Buch nur für die Gottlosen in 2,10 und für die Ägypter in

Diachrone Analyse

397

17,2 verwendet. Das Partizip Aorist lässt eher an die Exodusereignisse als an eine gegenwärtige feindselige Situation denken. Nach einem ὅτι explicativum beginnt in 15,15a mit καί eine erste Reihe von Beobachtungen, der die mit καί beginnende Feststellung in 15,18 entspricht. 15,15– 17 setzen die kritischen Überlegungen zu den Götzenbildern, ausgehend von Bibeltexten, fort. Die Anklage richtet sich jetzt gegen den religiösen Synkretismus, für den die Ägypter ein gutes Beispiel waren. Die „Feinde“ hielten alle Götzenbilder der Völker für Götter (ἐλογίσαντο θεούς). Die Beschreibung der Götzenbilder in 15,15b-f ist angeregt durch Ps 113,12–15[115,4–7MT], einen Psalm mit Exodushintergrund (vgl. Ps 135[136MT],10–17), der hier mit einigen gelehrten Veränderungen zitiert wird (s.o. die Anmerkungen zum Text). In 15,16 kehrt ein Motiv wieder, das in 15,8d.11 bereits angeklungen war: Der Mensch spielt den Schöpfer, indem er einen Gott nach seinem Bild anfertigt, gerade er, der ein Bild Gottes ist. 15,16 nimmt so in ironischer Weise die Texte Gen 1,27 und 2,7 auf, die auch im Voraufgehenden schon ausführlich herangezogen worden waren, s.o. den Kommentar zu 15,8, wo von ψυχή die Rede war, hier von πνεῦμα; die beiden Begriffe sind synonym verwendet und beziehen sich auf die „Seele“ im biblischen Sinne, das Leben, das Gott dem Menschen als Leihgabe gegeben hat (δεδανεισμένος). 15,17 gibt eine weitere Begründung für die Verurteilung des Götzenverehrers. Ein Sterblicher kann nur Totes herstellen, und auch das ist bei Götzenbildern schon eine Gottlosigkeit (15,17a); paradoxerweise ist der Handwerker den Dingen, die er selbst anbetet, überlegen (15,17b), weil er Leben besitzt (ἔζησεν, inchoativer Aorist), während die Götzenbilder dies nie haben werden (15,17c). Mit 15,18–19 wendet sich der Text ausdrücklich der Verehrung von Tieren bei den Ägyptern zu. Die hier in den Blick genommenen Tiere scheinen die Reptilien (Schlangen, Krokodile) und anderes widerliches Getier (z.B. Käfer) zu sein, die von den Ägyptern angebetet wurden (ἑρπετὰ καὶ κνώδαλα: Weish 11,15; 17,9): Der Text spielt auf den Fluch in Gen 3,14 an; es gebe also Wesen, die sich der Gutheißung Gottes (Gen 1,21.25) entziehen; so kann der schwierige Text von 15,19b erklärt werden.83 Eine weitere mögliche Erklärung liegt darin, dass sich dem Segen und der Gutheißung durch Gott nicht die Tiere als solche entziehen, sondern nur, wenn sie zu Kultobjekten gemacht und dadurch zu Götzen herabgesetzt wurden.

15,15: Religiöser Synkretismus

15,16–17: Der Mensch spielt den Schöpfer

15,18–19: Die ägyptische Tierverehrung

Diachrone Analyse Der religiöse Synkretismus ist ein für die Epoche des Hellenismus bezeichnendes 15,15 Phänomen. Die Religion des klassischen Griechenland öffnet sich Kontakten mit den orientalischen Religionen. Während in Ägypten die einheimische Bevölkerung mehr den lokalen Gottheiten verbunden scheint, fördert die ptolemäische Dynastie in größerem Ausmaß eine Begegnung zwischen der griechischen und der ägyptischen Religion. In der römischen Zeit ist der Synkretismus zweifellos eines der charakteristischsten Elemente von Glaubensformen und religiöser Praxis. Oft legt der Synkretismus ein eher philosophisches Gewand an: Die verschiedenen Gotthei83 WINSTON: „this is not a Jewish teaching“ (Wisdom, 290); er vermutet zoroastrische Herkunft.

398

Synthese von Weish 13–15

ten werden als Erscheinungsweisen eines einzigen Gottes betrachtet (in diesem Fall spricht man von „Henotheismus“). Die vom Buch der Weisheit vorgebrachte Anklage richtet sich eher gegen den „gebildeten“ Teil der Bevölkerung als gegen die volkstümlichen Verhaltensweisen; immerhin kannte man in Ägypten den Brauch des προσκύνημα, d.h. in den Tempeln eine Inschrift zu hinterlassen, um sich bei den jeweiligen Göttern in Erinnerung zu bringen.84 15,18–19 Die Anklage gegen die tierverehrenden Kulte vereinigt das biblische Verbot der Tierverehrung mit einem auch in der klassischen Kultur verbreiteten Motiv; Strabon (Geogr. XVI, 2,35) lobt Mose dafür, dass er die ägyptische Tierverehrung abgelehnt hat. Gerade in Alexandria greift Philon in einem ganz ähnlichen Zusammenhang (Decal. 76) das Thema der Vernunftlosigkeit und des Mangels an Schönheit der Tiere, die von den Ägyptern angebetet werden, auf. Schon der Aristeasbrief hatte die ägyptische Tierverehrung aufs Korn genommen (Arist. 138). Flavius Josephus erwähnt, dass in der antijüdischen Version des Exodus, die Manetho verfasst hatte (Apion. 1,239), eine der Anklagen gegen die Israeliten lautete, sie hätten den Ägyptern heilige Tiere als Opfer dargebracht: „Unsere Religion ist so weit entfernt von der bei ihnen üblichen wie das Wesen Gottes von dem der unvernünftigen Tiere“ (Apion. 1,224). Die Angriffe aus dem griechischsprachigen Judentum auf die ägyptische Tierverehrung haben vor allem einen apologetischen Zweck, nämlich den Glauben der Juden, an die diese Schriften gerichtet sind, zu stärken.85 Das Buch der Weisheit stimmt in diesen Chor der Ablehnung der ägyptischen Tierverehrung mit ein. Die Erwähnung der Schönheit der Tiere ist eine griechische Note, die sich schon in Weish 13,1–9 beobachten ließ; vgl. die griechische Übersetzung von ‫ טוב‬in Gen 1 mit καλός. Schon in Lev 11,41–45 war die Liste der unreinen Tiere davon mitbestimmt, dass viele von ihnen Gegenstand der Verehrung bei anderen Völkern waren. Die Originalität des Verfassers des Buches der Weisheit liegt darin, dass er der Liste im Buch Levitikus aus einem typisch hellenistischen Empfinden heraus eine starke theologische Begründung gegeben hat. In der Polemik gegen die Tierverehrung vereinen sich so ganz eng offensichtlich biblische Motive, der Einfluss der rationalistischen griechischen Mentalität und eine starke Polemik gegen die zeitgenössischen ägyptischen Kulte, und dies alles, um die Identität und den Glauben der jüdischen Bevölkerung zu stärken.

Synthese von Weish 13–15 Im übrigen Alten Testament gibt es keinen so ausführlichen und eingehenden Text über die Götzenverehrung wie Weish 13–15. Aber auch diese Ausführungen 84 Vgl. DUNAND, Françoise / LÉVÈQUE, Pierre (Hg.), Syncrétisme dans les religions de l’Antiquité (EPR 46), Leiden: Brill 1975; GERACI, Giovanni, „Ricerche sul proskynema„, Aegyptus 51 (1971), 3–211. 85 BICKERMAN, The Jews, 253.256; SMELIK, Klaas A. D. / HEMELRIJK E. A. „Who Knows Not What Monsters Demented Egypt Worships? Opinions on Egyptian animal worship in Antiquity as part of the ancient conception of Egypt“: ANRW 17/4 (1984), 1885–2000.

Synthese von Weish 13–15

399

gehen von den älteren Büchern der Bibel aus. Den Grundtext für die Polemik gegen die Götzen bildet vor allem der Dekalog (Ex 20,3–5; vgl. auch Dtn 4,16–19 und viele andere Texte, die im Kommentar genannt wurden. Dabei wird aber der ganze biblische Stoff neu gelesen und neu formuliert in der Perspektive der hellenistischen Kultur und Philosophie und so für die Juden in Alexandria aktualisiert, besonders für diejenigen, die in der Versuchung standen, sich z.B. den Mysterienkulten zuzuwenden. So findet sich einerseits eine Polemik gegen die Götzenverehrung, und zwar eine sehr strenge Verurteilung im Falle der ägyptischen Tierverehrung (15,14–19), andererseits ist aber, wie Weish 13,1–9 zeigt, die Ablehnung der Nichtjuden nicht total und apodiktisch. Ein weiteres Thema, das in diesen Kapiteln auftaucht, ist die Überzeugung, dass die Schöpfung gut ist (aber auch schön: vgl. 13,7; 14,3.7). Die Götzenverehrung bedeutet daher eine Verkehrung des Sinnes der Schöpfung (vgl. 14,11). Das Geschöpf, das ein Götzenbild herstellt, nimmt den Platz des Schöpfers ein (vgl. 15,7– 13), und der Götzenverehrer versucht, selber Gott zu spielen (15,16). Auswirkungen der Götzenverehrung sind Sittenlosigkeit und Ungerechtigkeit (14,11–31). Auf diese Weise schafft der Verfasser eine weitere Verbindung mit dem ersten Buchteil, wo er schon das Gutsein der Schöpfung hervorgehoben hatte (1,13–15) und die Ungerechtigkeit der Gottlosen, die dies nicht begreifen (Weish 2 und 5). Seine Kritik an der Götzenverehrung ist also eher religiös begründet als philosophisch und rational, wie es auch in ähnlichen Texten Philons der Fall ist. Jedenfalls zeichnet sich in Weish 13–15 ein eher düsteres Bild der Menschheit ab; insbesondere der ausführliche Abschnitt 14,11–31 verknüpft das Entstehen einer verbreiteten Sittenlosigkeit mit der Verkehrung des Gottesbildes. Der Götzenverehrung wird die Offenbarung des Gottes Israels entgegengestellt, des Schöpfers und Retters, über den der Verfasser im vorhergehenden Exkurs (11,15 – 12,27) nachgedacht hatte: Er ist der Gott der Genesis (vgl. Weish 13,3.5; 14,5; 15,8.11.16.18–19), aber zugleich auch des Exodus und des Bundes (vgl. Weish 13,1 und 15,1–3). Er ist Gott, der fürsorgende Vater (14,1–10), den die griechischen Philosophen gesucht haben, ohne dass es ihnen gelang, ihn zu finden. Diesen Gott zu erkennen, der reich ist an Vergebung, der in der Geschichte seines Volkes handelt und gleichzeitig in der Schöpfung, ist die Wurzel der Unsterblichkeit (15,1–3). Die Kritik an der Götzenverehrung wird also ausgeübt im Namen einer Sicht der als Heilsgeschichte betrachteten Geschichte. Darin zeigt sich wieder die biblische Tradition als feste Grundlage des Buches.

Weish 16: Drei Gegenüberstellungen: Gott bestraft und erweist Wohltaten; sein Wort ist Nahrung Zur literarischen Struktur von Weish 16 Die Einteilung des Kapitels in drei Diptychen wird allgemein angenommen: 16,1– 4; 16,5–14 und 16,15–29 (zweite, dritte und vierte Gegenüberstellung). Unbeachtet dagegen bleiben in den Kommentaren die zwischen diesen drei Diptychen bestehenden Verknüpfungen, die aus Kap. 16 ein zusammenhängendes Ganzes machen. Als Erstes erscheint das Thema der Nahrung (τροφή), das in 16,1–4 eingeführt und im Diptychon über das Manna (16,15–29) weitergeführt wird: 16,2c in Bezug auf die Israeliten, 16,3a auf die Ägypter und 16,20a erneut auf die Israeliten. In 16,2 und 16,20 wird die Nahrung von Gott in außergewöhnlicher Weise zugesandt (16,2c: ξένη γεῦσις) oder direkt aus dem Himmel gespendet (16,20b). Am Ende der vierten Gegenüberstellung werden in 16,24–25 die theologischen Folgerungen aus der Darstellung gezogen und auf diese Weise 16,1–4 mit 16,15–29 verknüpft. Das Thema der Nahrung entwickelt so das viel weitere Thema des Kosmos, das den ganzen dritten Teil des Buches der Weisheit prägt, und wird eine existenzielle „Chiffre“, um die Haltung des Menschen angesichts von Leben und Tod zu beschreiben. Das nächste und dritte Diptychon (16,5–14) betrachtet das Motiv des heilenden Wortes, das ebenfalls in der Gegenüberstellung mit dem Manna wieder aufgenommen wird; vgl. die Beziehung zwischen 16,12 und 16,26, beide mit der Anrufung κύριε.1 Auf diese Weise ist die vierte Gegenüberstellung gleichzeitig mit der zweiten durch das Motiv der Nahrung und mit der dritten durch das Thema des Wortes Gottes verknüpft. Außerdem sind 16,7; 16,12 und 16,26b-c in einander ähnlicher Weise formuliert: Auf eine Negation folgt eine positive Aussage; man soll nicht beim Materiellen der Exodusereignisse stehen bleiben, sondern deren Heilsbedeutung erfassen: Was rettet und heilt, ist Gott selbst, der Retter aller (16,7), und sein Wort (16,12). Noch ein drittes Thema, das sich in allen drei Diptychen findet, ist hinzuzufügen, nämlich das der Wohltaten Gottes an seinem Volk. Das Verb εὐεργετέω in Weish 16,2a wird durch das Substantiv εὐεργεσία für die Wohltaten Gottes im zweiten (16,11d) und im dritten Diptychon (16,24c) jeweils aufgenommen, ein weiterer Hinweis auf die tiefe Einheit von Kap. 16. Demgegenüber verbindet das Thema der Strafe die beiden ersten Diptychen darin: Das Verb ἐπέρχομαι „über jemanden kommen“ dient als Klammerwort zwischen 16,4a und 16,5a (die Subjekte sind Zeichen des Zornes Gottes: Mangel und Wut der Tiere); auch das Verb κολάζω „bestrafen“ in 16,1a und 16,9c (ἐκολάσθησαν ἀξίως … ἄξιοι ἦσαν κολασθῆναι) verknüpft die beiden Diptychen. 1

Zu den Einzelheiten s. PASSARO, „Il serpente e la manna“, 196.

Zur literarischen Struktur von Weish 16,1–4

401

Die zweite Gegenüberstellung: Die Tierplage und die Wachteln (Weish 16,1–4) Zur literarischen Struktur von Weish 16,1–42 Dieser kleine Abschnitt, der von den Kommentatoren ein wenig vernachlässigt wurde, kann als nützliche Übung dazu dienen, die Kompositionstechnik des Verfassers zu verstehen. Eine bei ihm beliebte Technik ist z.B., einige Schlüsselwörter zu wiederholen: Israel Ägypten 16,2b-c: εἰς ἐπιθυμίαν ὀρέξεως ξένην 16,3a.c: ἐπιθυμοῦντες τροφήν … καὶ τὴν γεῦσιν τροφὴν ἡτοίμασας ἀναγκαίαν ὄρεξιν 16,3d-e: ἐνδεεῖς γενόμενοι 16,4: ἀπαραίτητον ἔνδειαν Hinzuzufügen sind die Wiederholungen ἐκολάσθησαν – κολάσεως (1a - 2a); ξένην – ξένης (2b - 3e); γεῦσιν – γεύσεως (2b - 3e). Zwei Wörter aus dem ersten Diptychon von Kap. 16 werden im dritten (16,15–29) wiederholt: ἐκολάσθησαν (16,24b: εἰς κόλασιν) und εὐεγρετήσας (16,24c: εἰς εὐεργεσίαν). Mit der Nahrung und dem Begehren, der Bestrafung und den Wohltaten, d.h. dem Handeln Gottes, sind die Hauptmotive hervorgehoben. Dieser Abschnitt ist sodann in engem Anschluss an den vorhergehenden (15,14–19) zu lesen. Die Bestrafung der Ägypter durch Getier ist als unmittelbare Folge ihrer Tierverehrung zu betrachten. Damit zeigt sich der Exkurs Weish 13–15 gerade durch Weish 16,1–4, wo nach der ersten Gegenüberstellung (Weish 11,6–14) eine zweite erfolgt, mit dem Folgenden und Weish 16,1–4 seinerseits mit dem Vorhergehenden verknüpft. Die Formulierung dieses Abschnitts erscheint zunächst dunkel, und es ist schwierig zu sagen, wer die Subjekte der Verben sind. Nur eine aufmerksame Leserschaft, die in der Lage war, den biblischen Hintergrund des Abschnitts zu erkennen, konnte hier die Anspielungen auf die Ägypter und die Israeliten der Exoduserzählungen verstehen.

Der Abschnitt ist als solcher markiert durch die inclusio mit Formen von βασανίζω (16,1b.4b) und kann folgendermaßen untergliedert werden: – 16,1 (2 Kola): Das ungenannte Subjekt sind die Ägypter; das Grundprinzip der Gegenüberstellungen wird wiederholt (vgl. 11,5.15–16): Man wird mit dem bestraft, womit man gesündigt hat. – 16,2 (3 Kola): „dein Volk“ im Gegensatz zu den vorangehenden „sie“, d.h. den Ägyptern (ἀνθ’ ἧς κολάσεως); als Subjekt „du“ im Verb ἡτοίμασας ist Gott zu verstehen. – 16,3a-c (3 Kola): nehmen Wörter aus 16,2 auf; ἐκεῖνοι bezeichnen wieder die Ägypter. – 16,3d-e (2 Kola): οὗτοι δέ meinen die Israeliten; Wörter aus 16,2 werden verwendet.

2

Vgl. REESE, „Plan and Structure“, 398; WRIGHT, „The Structure“, 182; GILBERT, „Sagesse“, 75; BIZZETI, Sapienza, 101–103.

402

Weish 16,1–4

– 16,4 (2 Kola): ἐκείνοις – τοῦτοις δέ: die Ägypter – die Israeliten; Zusammenfassung und Aufnahme von Wörtern aus 16,3; inclusio mit 16,1. Es liegt also eine harmonische und bedeutungsvolle Komposition in 12 Kola vor: Ägypten (2 Kola) – Israel (3 Kola) – Ägypten (3 Kola) – Israel (2 Kola) – abschließende Zusammenfassung (2 Kola). Der Verfasser will Ägypter und Israel einander gegenüberstellen, um daraus eine theologische Folgerung zu entnehmen; er macht deshalb die gegensätzlichen Taten Gottes deutlich, der seinem Volk Nahrung spendet und die Ägypter mit Hunger plagt.

Text 1 Deshalb wurden sie durch ähnliche (Tiere) angemessen bestraft und durch eine Menge von Getier gequält. 2 Anstelle dieser Strafe hast du deinem Volk Wohltaten erwiesen: Für den gierigen Appetit auf eine fremdartig schmeckende Speise hast du Wachteln als Nahrung bereitet, 3 (so) dass jene [die Ägypter] ihrerseits, als sie Nahrung begehrten, aus Ekel vor den (gegen sie) losgelassenen (Tieren) sogar den (lebens)notwendigen Appetit verloren, diese aber [die Israeliten], (nur) für eine kurze (Zeit) in Mangel geraten, sogar an einer fremdartig schmeckenden Speise Anteil erhielten. 4 Es musste nämlich jene tyrannisch Unterdrückenden [die Ägypter] ein unerbittlicher Mangel überkommen, diesen [den Israeliten] (brauchte) aber nur gezeigt zu werden, wie ihre Feinde gequält wurden.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 2

3

4

16, 2b erscheint ein wenig überladen. Der Ausdruck εἰς ἐπιθυμίαν ὀρέξεως „für die Gier des Appetits“ kann so verstanden werden, dass der Appetit bzw. der Hunger Gier erzeugt; vgl. in 16,3 ἀναγκαίαν ὄρεξιν „den notwendigen (d.h. natürlichen, lebenserhaltenden) Appetit“; ξένην γεῦσιν ist ein Akkusativ der Beziehung, abhängig von ἐπιθυμία „Gier nach…“. Vgl. die Lesart von Ar: „Wegen ihrer Begierde, einen fremdartigen Geschmack zu kosten“. SCARPAT (Sapienza III, 191) liest den Genitiv τροφῆς (mit S, V und vielen Minuskeln) und nicht den Akkusativ τροφήν wie ZIEGLER und RAHLFS; jedoch ist ἐπιθυμέω τι (statt klass. τινος) typisch für das alexandrinische Griechisch und die LXX; τροφῆς in 16,3a könnte also eine stilistische Variante sein. Das Substantiv *εἰδέχθεια ist ein hapax der LXX; das Adjektiv εἰδεχθής kommt im Profangriechischen mehrfach vor mit der Bedeutung „hässlich, faulig, ekelhaft“ und ist vielleicht ein Schulwort. Einige Handschriften lesen δειχθεῖσαν (die „gezeigte, angebotene“ Speise), aber dabei handelt es sich um eine lectio facilior; vgl. RISBERG, „Textkritische Anmerkungen“, 217. Das Verbaladjektiv *ἀπαραίτητος (vgl. Weish 16,16) hat die Bedeutung „unerbittlich, unvermeidlich“, vgl. SCARPAT, „Ancora sull’autore“, 179.

Synchrone Analyse

403

Synchrone Analyse Das διὰ τοῦτο „deshalb“ am Anfang bezieht sich zum einen auf den Abschnitt über die Tierverehrung (15,14–19) und nimmt zum anderen das ἵνα in 16,3a vorweg. Die Tierplage ist eine passende Bestrafung für diejenigen, die Tiere angebetet haben: Darauf verweisen sowohl das Adjektiv ὅμοιος (im Sinne von „ähnlich, entsprechend“, nicht von „gleich“) und das Adverb ἀξίως zu einem im Buch der Weisheit häufigen Adjektiv,3 das fast immer in theologischem Sinne verwendet wird; ἀξίως ist zu verstehen als „angemessen, zu Recht“, also dem entsprechend, was die Ägypter sich durch ihreTaten verdient hatten. Auch κολάζω „bestrafen“ hat im Buch der Weisheit eine stark theologische Bedeutung und wird immer für die Bestrafung der Gottlosen verwendet.4 Dasselbe gilt für βασανίζω „quälen“, das sich immer auf die Bestrafung der Ägypter bezieht (vgl. 11,9; 12,23; 16,4); dieses Verb ist abgeleitet vom Substantiv βάσανος „Folter“, wodurch im griechischen Sprachgebrauch ein Beschuldigter zum Geständnis genötigt werden sollte.5 Nach James M. Reese ist Weish 16,1–4 ein flashback auf 3,4–5, womit die eschatologische Dimension dieses Diptychons verdeutlicht würde.6 Zu dem „Getier“ (κνώδαλα) vgl. Weish 11,15 und 17,9.7 Gemeint sind die Tiere, die einige der Plagen verursachten (vgl. Ex 7,25 – 8,11: die Frösche; aber auch Ex 8,12–15: die Stechmücken und Ex 8,16–28: die Schmeißfliegen). Es ist schwierig, genau anzugeben, an welche Tiere der Verfasser denkt; deshalb wird hier der Plural κνώδαλα (lat. bestiae) mit dem kollektiven Singular „Getier“ übersetzt. Die Bezeichnung κνώδαλα verweist direkt zurück auf 11,5 und 11,15–16, die Leitprinzipien der Darstellung in den Diptychen; vgl. auch die Wiederholung von κολάζω; hier kommt jedoch das Prinzip nicht in strenger Weise zur Geltung, da die Ägypter nicht mit denselben Tieren, mit denen sie gesündigt haben, bestraft werden, sondern mit ähnlichen (δἰὁμοίων). Mit dem präpositionalen Ausdruck ἀνθ’ ἧς κολάσεως „anstelle dieser Strafe“ beginnt die eigentliche Gegenüberstellung. Das Substantiv κόλασις bezeichnet ein Mittel der Korrektur oder der Strafe; vgl. κολάζω in 16,1. Der Plage, die Ägypten befallen hat, steht die Wohltat gegenüber, die der Herr, an den der Verfasser sich hier in direkter Anrede wendet, für sein Volk gewirkt hat. Zu εὐεργετέω vgl. Weish 3,5; 11,5.13, immer mit dem gleichen positiven Klang. Die hier erwähnte Wohltat ist die Sendung der Wachteln, von der in Ex 16,13;8 Num 11,31; Ps 104[105MT],40 die Rede ist. Die etwas überladene (s.o. Anmerkung zum Text) Erwähnung der Gier und des Appetits greift wahrscheinlich Num 11,4 und Ps 105[106 MT],14 auf (καὶ ἐπεθύμησαν ἐπιθυμίαν). Der Genitiv ὀρέξεως beschreibt die „Gier“ genauer als Essverlangen, das von der normalen Notwendigkeit zu essen (vgl. 16,3c) her-

3 4 5 6 7 8

Siehe o. den Kommentar zu 1,16. Zur Bedeutung des Adverbs s.o. zu Weish 7,15. Vgl. Weish 3,4; 11,5.8.16; 12,14.15.27; 16,9; 18,11. Vgl. SCHNEIDER, Johannes, βάσανος κτλ., ThWNT I, 560–561. Vgl. REESE, Hellenistic Influence, 135. Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 73, und s.o. den Kommentar zu 11,15. Weish folgt dem Text der LXX und spricht von ὀρτυγομήτρα, was nicht „Wachtelmutter“ bedeutet, sondern ungewöhnlich große Wachteln (kollektiver Singular; SCARPAT, Sapienza III, 191); die LXX unterstreicht so die Größe der Gabe Gottes. FLAVIUS JOSEPHUS (Ant. 3,299) schreibt einfach von „Wachteln“ (ὄρτυγες, Plural), PHILON verwendet den Plural von ὀρτυγομήτρα (Mos. I, 209; Spec. IV, 128).

16,1: Von Getier gequält

16,2: Die Wachteln und die Gier

404

16,3: Eine fremdartig schmeckende Speise

16,4: Eine gottgewollte Lehre

Weish 16,1–4

kommt. Dieses Verlangen dürfte also an sich nicht als etwas Negatives betrachtet werden.9 Dass es jedoch als ἐπιθυμία bezeichnet wird, weist in eine negative Richtung wie schon in Num 11,4 und in Weish 4,12. Das Verlangen nach einem fremdartigen, außergewöhnlichen (ξένος; so auch Weish 16,16; 19,5.14) Geschmack dient dem Verfasser dazu, einerseits das, wonach das Volk während des Zuges durch die Wüste verlangt, und andererseits die machtvolle Antwort Gottes, die jeden Geschmack zufrieden stellen kann (vgl. Weish 16,20), deutlich zu machen. 16,3a-b beziehen sich wahrscheinlich auf die Frösche in Ex 8,9–10 (aber vgl. Ex 10,6), die die Speise der Ägypter eklig machen (vgl. Ex 7,28), so dass die Ägypter sogar (καί) den natürlichen Appetit (τὴν ἀναγκαίαν ὄρεξιν) verlieren. In 16,3d-e wird auf die geringere Schwere (ἐπ’ ὀλίγον, zu ergänzen: χρόνον) der Prüfung, die Israel erleidet, hingewiesen, dem Gott sogleich Abhilfe schafft durch eine „fremdartig schmeckende Speise“, die Gabe der Wachteln. Sowohl für Israel als auch für Ägypten ist der Ausgangspunkt ein „Verlangen“ (16,2b.3a), ein elementares menschliches Bedürfnis, das gleichzeitig eine Versuchung ist. Bei Israel wird dieses Bedürfnis über alle Erwartung hinaus gestillt; bei Ägypten wird dieses Bedürfnis zu essen erstickt durch den Ekel, den die Ägypter vor dem ihnen gesandten Getier empfinden. Das Verb ἐπέρχομαι kommt im Buch der Weisheit immer in negativen Zusammenhängen vor, vgl. 1,5; 12,27; 16,4.5; 17,14; 19,13, und drückt ein feindliches oder unerwartetes „Überwältigen“ aus; in der LXX erscheint ἐπέρχομαι im Zusammenhang mit dem Zorn Gottes (vgl. Jes 13,13), manchmal mit eschatologischen Beiklängen (Jes 41,22; vgl. im NT Lk 21,26).10 Das Partizip (dat-plur.) τυραννοῦσιν meint wie in Weish 10,14d die „Unterdrücker“, „Tyrannen“ in negativem Sinn; das Präsens könnte eine aktuelle Situation ausdrücken und möglicherweise auf den Kampf der Juden Alexandrias für ihre Bürgerrechte verweisen (vgl. 18,4 und 19,13–16). 16,4a lässt annehmen, dass der Hunger der Ägypter über die Zeit der Plagen hinaus auch noch zur Zeit des Wachtelwunders andauerte; das Imperfekt ἐβασανίζοντο zeigt eine Bestrafung über einen Zeitraum hin an und gewinnt eine pädagogische Bedeutung. Das ἔδει „es war notwendig“ am Beginn von 16,4 bestätigt die theologische Ausrichtung des Diptychons: Was bei dieser Gelegenheit geschieht, stimmt mit dem Plan Gottes überein, dessen gegensätzliche Aspekte beleuchtet werden: Gott offenbart seine Pädagogik gegenüber den Feinden Israels und seine Gnade gegenüber seinem Volk. Das Entbehrenmüssen von Fleisch wird nicht mehr als Strafe ausgelegt, sondern als eine Weise, die Bestrafung der Feinde zu begreifen; das ist der Sinn von 16,4b. Dabei darf nicht vergessen werden, dass das Diptychon nicht in der Form einer Überlegung des Verfassers dargeboten wird, sondern in der einer Anrede an Gott, eines Hymnus auf seine fürsorgenden Taten und seine Güte, eines Aufrufs auch an die Sünder, damit sie diese Lehre annehmen und sich bekehren (s. den ἵνα-Satz am Anfang von 16,3). Später (vgl. Weish 16,20) wird der Verfasser darlegen, dass das Manna für das Volk jede Art von Geschmack annehmen konnte. Wozu sind aber dann die Wachteln notwendig? Aus 16,3 ist zu

9 Das Wort ἐπιθυμία hat in Bezug auf Speise an sich keinen negativen Beiklang, vgl. THUKYDIDES, 2,52.2; 7,84.2; LARCHER, Sagesse III, 891. 10 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 129–130.

Diachrone Analyse

405

entnehmen, dass dies alles geschehen ist, um den Unterschied erfahren zu lassen zwischen einer anspruchsvollen Zufriedenstellung, die als Antwort auf ein momentanes Bedürfnis (das Verlangen nach Fleisch: 16,2b) gewährt wurde, und dem quälenden Hunger infolge des Ekels vor jeder Speise.

Diachrone Analyse Das Wort ὄρεξις „Streben, Verlangen“ wird seit Aristoteles gebräuchlich, um „das seeli- ὄρεξις sche Streben, sofern es von einer bewussten Willensentscheidung abhängt, also in der Gewalt des Menschen liegt und der Vernunft zugänglich ist“, zu bezeichnen bzw. „die spontane Neigung, die dem Einsetzen der Vernunft voraufgeht“.11 Folgt die ὄρεξις nicht der Vernunft, wird sie zur „Begierde“ (ἐπιθυμία; vgl. Stobaios, 2,90,7–8, ed. Ch. Wachsmut). Das Buch der Weisheit verwendet ὄρεξις im übertragenen Sinn als „Appetit“ (oder „Streben, Sichsehnen“ nach etwas, vgl. 14,2; 15,5), wofür der Stoizismus sich eher des Wortes προθυμία bedient. In Weish werden so ὄρεξις und ἐπιθυμία Synonyme; vgl. den ähnlichen Wortgebrauch bei Philon, Leg. III, 115 (ἐπιθυμία = ὄρεξις ἄλογος) und Plutarch, Cupid. divit. 2 (Mor. 523C) im Zusammenhang mit dem Streben nach Reichtum (φιλοπλουτία).

In 16,1–4 liegt ein wirklicher Midrasch zu Exodusthemen vor, in dem die beiden Ein Midrasch Wachtelerzählungen von Ex 16 und Num 11 frei kombininiert sind in einer Weise, zu Ex 16 / die auch Philon vertraut ist (vgl. Mos. I, 209); in den rabbinischen Traditionen Num 11 werden ebenfalls die beiden Erzählungen zu einer einzigen verbunden.12 In Spec. IV, 126–130 wird die Wachtelepisode für Philon zu einer Gelegenheit, die unmäßige Begierde, die das Gesetz Gottes aus den Augen verliert, zu verurteilen; aber diese Weise der allegorischen Auslegung fehlt in Weish 16,1–4 völlig. Nach Num 11,4 verlangt das Volk nach Fleisch; die Antwort Gottes ähnelt eher einer Bestrafung als einem Akt der Gnade (vgl. Num 11,18–19.33). In der Erzählung des Buches Exodus dagegen erscheint der Tonfall, obwohl dort mehrmals das Murren des Volkes deutlich genannt wird (Ex 16,2–3.7–9.12), positiver; die Sendung der Wachteln zusammen mit der Gabe des Manna ist mit keinerlei Strafe Gottes verbunden. Die Wachteln werden nochmals in Ps 104[105MT],40 erwähnt: Wie im Buch der Weisheit wird auch dort der negative Aspekt übergangen, Wachteln und Manna kommen als eine positive Antwort auf eine Bitte des Volkes. Seiner Darstellungsweise entsprechend entkleidet der Verfasser die Exoduserzählungen ihrer unerfreulichen Züge; er entfernt Hinweise auf das Murren Israels (vgl. Ex 16,2–8 und Num 11,33–34) und bemüht sich, das „gerechte“ Israel hervorzuheben und seine Schuld, auch wenn er sie nicht völlig ausschließt, herunterzuspielen. Er verleugnet nicht den menschlichen Beweggrund für das Wunder, d.h. das Verlangen nach Speise, aber er möchte vor allem die Großartigkeit des Wohlwollens Gottes zeigen. Er erreicht dies, indem er zwei biblische Traditionen (Ex und Num), die wenigstens auf den ersten Blick nicht ganz übereinstimmen, miteinander harmonisiert. 11 Vgl. HEIDLAND, Hans Wolfgang, ὀρέγομαι κτλ., ThWNT V, 449; SPICQ, Notes II, 626–628. Die Stoiker kennen Abhandlungen περὶ ὀρέξεως (vgl. Epiktet, 4,4,16). Im NT erscheint das Wort nur in Röm 1,27 im Sinne sexueller Leidenschaft. 12 Vgl. GINZBERG, The Legends of the Jews, VI, 20 Anm. 116. Im Buch der Weisheit fehlen jedoch Ausschmückungen mit Wundern, die typisch sind für die rabbinischen Erzählungen.

406

Weish 16,5–14

Die dritte Gegenüberstellung: Die eherne Schlange (Weish 16,5–14) Zur literarischen Struktur von Weish 16,5–14 Die literarische Einheit des Diptychons wird durch zwei Quasi-Inklusionen markiert: ἐπῆλθεν (16,5a) und ἐξελθόν (16,14b); ἔχοντες (16,6b) und ἔχεις (16,13a). Das Vorgehen in diesem Diptychon entspricht dem im vorhergehenden, nur ist die Reihenfolge der Akteure, Ägypten und Israel, umgekehrt: 16,5–7:

αὐτοῖς

Israel (7 Kola)

16,8:

τοὺς ἐχθροὺς ἡμῶν

Ägypten (2 Kola)

16,9:

οὓς μέν

Ägypten (3 Kola)

16,10–12:

τοὺς δὲ υἱούς σου

Israel (8 Kola)

16,13–14:

σὺ γα´ρ … ἄνθρωπος δέ

Abschluss; Gott – Mensch (5 Kola).

Einige Schlüssellexeme, die das Diptychon prägen, das um das Thema Rettung und Heil kreist, die Gott durch das Wort seines Gesetzes wirkt, werden wiederholt: – σωτηρίας (16,6b), ἐσῴζετο (16,7a), σωτῆρα (16,7b), διεσῴζοντο (16,11a). – ἴαμα (16,9b), ἰάσατο (16,10b), ἰώμενος (16,12b); alle im Mittelteil des Diptychons. – εἰς ἀνάμνησιν ἐντολῆς νόμου σου (16,6b); εἰς ὑπόμνησιν τῶν λογίων σου (16,11a). Die beiden Kola zeigen die gleiche Struktur; ἀνάμνησις und ὑπόμνησις sind synonym; ebenso entspricht ἐντολῆς νόμου σου der Fügung τῶν λογίων σου. Die Verknüpfung von 16,5–7 mit 16,10–12 wird verstärkt durch die Parallelität von 16,7b und 16,12b: ἀλλὰ διὰ σέ

τὸν πα´ντων σωτῆρα

ἀλλὰ ὁ σός, κύριε, λόγος

ὁ πα´ντας ἱώμενος

Das bedeutet ein enges Verhältnis von 16,5–7 und 16,10–12 zueinander; neben dem Thema Heilung und Rettung erscheint das Thema der Erinnerung an das Gesetz und das Wort Gottes. Insbesondere bilden 16,11–12 eine Erweiterung und Erläuterung von 16,6–7. Bezeichnenderweise findet sich die gleiche Konstruktion wie in 16,7b und 16,12b in 16,26c wieder, ebenfalls in Bezug auf das Thema des Wortes Gottes, das rettet. Die literarische Struktur dient der Hervorhebung der theologischen Aussage. Eine nur oberflächliche Kenntnisnahme der Ereignisse könnte beim einfachen wunderhaften Faktum stehen bleiben, ohne seine symbolische Bedeutung zu erfassen: Die tatsächliche Hauptfigur der Ereignisse ist jedoch der Herr und sein Wort, und auf diese Wahrnehmung hin lenkt der Text die Leser.

Text 5 Denn selbst damals, als über sie die entsetzliche Wut wilder Tiere kam und sie durch Bisse gewundener Schlangen umzukommen drohten, blieb dein Zorn nicht bis zum Ende.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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6 Vielmehr wurden sie zur Warnung für kurze (Zeit) in Verwirrung versetzt, wobei sie einen Ratgeber [oder: ein Zeichen] der Rettung besaßen zur Erinnerung an das Gebot deines Gesetzes. 7 Wer sich nämlich hinwandte, wurde nicht durch das Geschaute gerettet, sondern durch dich, den Retter aller. 8 Auch dadurch aber bewiesest du unseren Feinden, dass du es bist, der befreit aus allem Bösen. 9 Jene nämlich töteten die Bisse von Heuschrecken und Fliegen, und es fand sich kein Heilmittel für ihr Leben, denn sie waren würdig, von solchen (Wesen) gestraft zu werden. 10 Deine Söhne aber bezwangen nicht einmal die Zähne giftspritzender Schlangenungeheuer; dein Erbarmen nämlich kam (ihnen schützend) entgegen und heilte sie. 11 Zur Erinnerung an deine Worte nämlich wurden sie angestachelt und alsbald gerettet, damit sie nicht, in tiefes Vergessen verfallend, dein Wohltun verloren. 12 Weder Kraut noch Pflaster nämlich wirkte gesundmachend auf sie, sondern dein Wort, Herr, das alles [oder: alle] heilt. 13 Denn du hast Verfügungsgewalt über Leben und Tod und führst hinab zu den Toren der Unterwelt und führst herauf. 14 Der Mensch aber tötet zwar in seiner Bosheit, aber den hinausgegangenen Geist (kann) er nicht (mehr) zurückkehren lassen und die (unter die Toten) aufgenommene Seele nicht befreien.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 5

6

Zu ἐπέρχομαί τινι im negativen Sinn von „über jmd. kommen, jmd. überwältigen“ s.o. den Kommentar zu 16,4; vgl. Ex 10,1LXX: ἵνα ἐπέλθῃ τὰ σημεῖα ταῦτα ἐπ’ αὐτούς. Bei ἔμεινεν in 16,5c ist, wie auch in 18,20, der Gebrauch des Aorists anstelle des Imperfekts bei Verben, die normalerweise eine Dauer ausdrücken, zu beobachten. Dabei handeltes sich um den sog. „komplexen Aorist“ (BDR § 332; ZERWICK, Graecitas Biblica § 253), der, wenn er ohne Zeitangabe steht, eine Handlung als ganze ungeachtet ihrer Dauer angibt; der Zorn Gottes ist also zeitlich begrenzt. Nach vielen Kommentatoren (vgl. GRIMM, GOODRICK, FARRAR, DEANE, HEINISCH, FELDMANN, REIDER) bezieht sich der Schluss von 16,6b (εἰς ἀνάμνησιν …) auf den ganzen Vers 16,6; ἔχοντες ist ein participium coniunctum (BD § 418), das „angibt, in welcher Weise eine Handlung geschieht, was ihr vorhergeht und was sie begleitet; in 16,6b geht es um einen Umstand mit einer Zweckangabe. Der Sinn von 16,6 ist demnach: „Nur für kurze Zeit wurden sie in Verwirrung gesetzt, da sie ein Zeichen der Rettung besaßen, damit sie sich erinnerten…“. Die Handschriften S und A (auch V 149–260–471–485–606 68 249–754 359* 542 613; einige antike Übersetzungen), lesen anstelle von σύμβολον den Ausdruck σύμβουλον „Ratgeber, Berater“. Diese Lesart war von Konstantin von TISCHENDORF (Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes, Lipsiae 1887, I, 165) übernommen worden. Bemerkenswert dazu ist die Lesart consiliarium salutis in zwei Glossen (94–95) zur Vetus Latina, s. THIELE, Sapientia Salomonis, 526. Die Lesart könnte sich auf die personifizierte eherne

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Weish 16,5–14

Schlange beziehen (aber der Gedanke an die eherne Schlange als „Ratgeberin zur Rettung“ erscheint recht seltsam) oder auf die Person des Mose. In diesem Falle würde an Mose nicht so sehr als Gesetzgeber erinnert, sondern einfach als „Berater“, der damit beauftragt war, dafür zu sorgen, dass die Israeliten sich des Gesetzes Gottes erinnerten. Die Lesart σύμβουλον wurde schon von den ältesten Kommentatoren verworfen und von den neueren fast unbeachtet gelassen.13 Jedoch verdienen die Textzeugen, die die Lesart σύμβουλον vertreten, stärkere Beachtung. LEPROUX (“Moïse – conseiller de salut“) weist darauf hin, dass σύμβουλος in Weish 8,9 von der Weisheit ausgesagt wird, die von „Salomo“ zur Braut, Freundin und Beraterin genommen wird. Darüber hinaus kommt σύμβουλος 27-mal in der LXX vor (vgl. 2Makk 7,25: σύμβουλον ἐπὶ σωτηρίᾳ und 4Makk 9,2, συμβούλῳ Μωυσεῖ); σύμβουλος entspricht dem hebräischen ‫יועץ‬, der meistens den „Berater“ des Königs bezeichnet (LEPROUX, 172). Eine Korrektur von σύμβουλον zu σύμβολον könnte vorgenommen worden sein, als das Buch der Weisheit in der allegorischen Weise Philons (vielleicht unter christlichem Einfluss?) neu interpretiert wurde; bei seiner relecture der Episode mit der ehernen Schlange hat der Verfasser die Erzählung tatsächlich neu interpretiert, aber midraschartig und nicht symbolisch-allegorisch. Die Lesart σύμβουλον könnte kohärent sein mit dem Denken des Verfassers und seiner Weise, Anspielungen zu gestalten. Es könnte jedoch auch das Gegenteil von dem, was LEPROUX vermutet, geschehen sein: Die Variante σύμβουλον könnte entstanden sein aus dem Empfinden einer gewissen Spannung zwischen der Behauptung des wirksamen Besitzes eines Zeichens (σύμβολον ἔχοντες σωτηρίας) und der Nutzlosigkeit des sichtbaren Gegenstandes für die Rettung (οὐ διὰ τὸ θεωρούμενον ἐσῴζετο); dieser empfundene Gegensatz könnte einen Kopisten dazu veranlasst haben, einen Ausdruck einzusetzen (σύμβουλον statt σύμβολον), der recht leicht auf Mose bezogen werden konnte. 7 Bei der Übersetzung von 16,7a sind die Hinweise von SCARPAT (Sapienza III, 195) zu beachten; einige neuere Übersetzungen heben nicht genügend die Passivform des Partizips τὸ θεωρούμενον hervor. Die völlige Passivität des angeschauten Objekts (τὸ θεωρούμενον), der ehernen Schlange, ist betont: Sie wird nicht einmal als solche genannt. Der Ausdruck in 16,7b τὸν πάντων σωτῆρα stellt eher ein exegetisches als ein textkritisches Problem dar; in 16,12b ist ὁ πάντα ἰώμενος zu verstehen als „das alles heilende (Wort)“, d.h., das von jedem Übel heilt. Nach 14,4a kann Gott „aus allem“ retten, so wie er in diesem Diptychon in 16,8b bezeichnet wird als „der Befreiende aus allem Übel“. Der Zusammenhang des ganzen Diptychons verweist jedoch auf die Rettung der Israeliten und legt eher nahe, τὸν πάντων σωτῆρα mit „den Retter aller“ zu übersetzen, d.h. aller Menschen, die sich an ihn zu wenden wissen. 11 Das Wort ἀπερίσπαστοι kann im Sinne von „nicht hin und her gezogen, ungestört, unbehindert“ verstanden werden (so in Sir 41,1); hier wird es jedoch in einem negativen Sinn verwendet „nicht teilhabend“ (vgl. MANESCHG, Die Erzählung, 147: [damit sie nicht] „von deinem Wohltun abgezogen würden“) und bezeichnet eine durch das Vergessen der Worte Gottes entstehende Lage: Hätte die Prüfung durch die Schlangen lange gedauert und wäre Gottes Barmherzigkeit nicht eingeschritten, um sie zu retten, hätten die Israeliten, wenn sie die Worte Gottes vergaßen, von ihm getrennt werden können, ausgeschlossen von seinen Wohltaten.

13 CORNELY, Commentarius in librum Sapientiae, 531: parum verisimile est; aber CORNELY erfasst nicht, dass „Berater“ auch auf Mose bezogen werden könnte und nicht auf die eherne Schlange. LARCHER, Sagesse III, 898, beschränkt sich darauf zu sagen, dass diese Lesart „ne mérite pas de retenir l’attention“. Auch MANESCHG (Die Erzählung, 109) tut die Variante als „hoch unwahrscheinlich“ ab; er hält es ebenfalls nicht für möglich, dass „Berater“ sich auf Mose bezieht.

Synchrone Analyse

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12 In 16,12b lesen einige Handschriften (A C u.a., so auch RAHLFS) ὁ πάντας ἰώμενος; ZIEGLER liest mit B S La u.a. ὁ πάντα ἰώμενος. SCARPAT (Sapienza III, 200) entscheidet sich für die erstgenannte Lesart aus den zu 16,7b aufgeführten Gründen, wegen des Gebrauchs von ἰάομαι in der LXX und der Parallele zu ἐθεράπευσεν αὐτούς in 16,12a. Er weist außerdem darauf hin, dass πάντα, wenn es die Schöpfung bedeuten sollte, den Artikel bei sich haben sollte, also τὰ πάντα, wie in V. Der Text spreche also vom Wort Gottes bzw. von Gott, der alle Menschen heilt (so auch HÜBNER, Weisheit, 193); eine schöne biblische Parallele wäre Ps 106[107MT],20: ἀπέστειλεν τὸν λόγον αὐτοῦ καὶ ἰάσατο αὐτούς. Die Lesart . ὁ πάντα ἰώμενος ist besser bezeugt; s.o. die Erörterung zu 16,7b und auch den Text von 16,8b: Gott rettet alle Menschen (16,7b) aus allem Übel (16,8b). Bei dieser Lesart bezöge sich der Text auf das Wort Gottes, das „alles heilt“, d.h. auf den Herrn, der imstande ist, die ganze Schöpfung wiederherzustellen und zu retten.

Synchrone Analyse Die vorangehende Gegenüberstellung hatte mit der „pädagogischen“ Erinnerung 16,5: Die an die Qual der Ägypter (16,4b) geschlossen. Mit der nun folgenden Betrachtung Schlangen in der in Num 21,4–9 erzählten Episode scheint der Verfasser dem Einwand begegnen der Wüste zu wollen, auch die Israeliten seien doch in der Wüste von Schlangenbissen gepeinigt worden, auch sie seien vom Herrn für ihre Sünden bestraft worden. Aber diese Bestrafung gewinnt gegenüber den Plagen, die Ägypten getroffen hatten, einen völlig neuen Sinn. Das καὶ γὰρ ὅτε am Anfang von 16,5 zeigt eine Stufung an und ist zu übersetzen: „Denn selbst damals, als…“.14 Die Israeliten überkam (ἐπῆλθεν) die entsetzliche (δεινός)15 Wut der giftigen Tiere (θηρίον); vgl. Apg 28,4 wo θηρίον die in Apg 28,3 genannte Viper (ἔχιδνα) bezeichnet; man könnte an Dtn 32,24LXX denken (ὀδόντας θηρίων ἀποστελῶ εἰς αὐτοὺς μετὰ θυμοῦ συρόντων ἐπὶ γῆς; vgl. Dtn 32,33: θυμὸς δρακόντων ὁ οἶνος αὐτῶν; δράκοντες wird in Weish 16,10 die Bezeichnung für die θηρία von 16,5 sein). Die Schlangen „vernichteten“ die Israeliten mit ihren Bissen (das Imperfekt betont die Dauer des Vorgangs); διαφθείρω gewinnt eine theologische Bedeutung: Im Buch der Weisheit wird es immer bei einer Strafe Gottes verwendet, hier an den Israeliten im passivum divinum, in Weish 16,19 (vgl. auch 16,27 im Kodex S und in mehreren Minuskeln) und in 18,12 an den Ägyptern. Grund für die Bestrafung ist die Untreue gegenüber dem Gesetz, oder sie hat die Rückkehr zur Beobachtung des Gesetzes bzw. des Wortes Gottes zum Ziel wie in 16,19.27. Hier erscheint die Bezugnahme auf das Gesetz in 16,6. In 18,4 wird das Licht des Gesetzes ἄφθαρτος „unverderblich, unvergänglich“ genannt. Die Ägypter gehen zugrunde, weil ihnen dieses Gesetz, das Quelle des Lebens ist, fehlt. Die Schlangen werden als „gewunden, verkrümmt“ bezeichnet (σκολιοί) wie die menschlichen Gedanken in Weish 1,3a. Vielleicht handelt es sich um jene großen Würgeschlangen, die sich um ihre Opfer winden, um sie zu töten und zu 14 Vgl. BDR § 442,8a. 15 Das Adjektiv δεινός kommt in Weish 5,2; 11,18; 12,9; 18,17 und 19,16 vor. Es kann „außerordentlich, wunderbar“ bedeuten (vgl. Sophokles, Ant. 334); im Buch der Weisheit ist die Bedeutung „schrecklich, entsetzlich“ häufiger, vgl. 5,2 und 18,17. Abgesehen von 19,16 steht δεινός in Weish immer in einem Gerichtskontext und bezieht sich auf ein Handeln Gottes. Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 19–20.

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Weish 16,5–14

verschlingen, ein Hinweis auf die ägyptische Umwelt, in der der Verfasser schreibt; wahrscheinlicher ist, dass er Num 21,6LXX „todbringende Schlangen“ (ὄφεις θανατοῦντες) mit Jes 27,1LXX (ἐπὶ τὸν δράκοντα ὄφιν σκολιόν) kombiniert hat. Die Schlangen sind das Zeichen des Zorns Gottes, der jedoch nicht „bis zum Ende“ dauert. In der Erzählung des Buches Numeri wird der Zorn Gottes nicht ausdrücklich genannt, aber das Motiv der ὀργή kommt im Buch der Weisheit häufig vor. In 10,3.10 bei Menschen (Kain, Esau), an den übrigen Stellen bei Gott: In 5,20 und 11,9 ist vom Zorn Gottes gegen die Gottlosen die Rede; in 16,5; 18,20.23.25 vom Zorn Gottes gegen das auserwählte Volk, wo der Zorn jedoch zeitlich begrenzt ist (vgl. Jes 57,16). Auch wenn es sündigt, bleibt Israel immer unter dem Zeichen der Barmherzigkeit Gottes. Hinzuweisen ist darauf, dass das Buch der Weisheit es vermeidet, die Ursachen des Zornes Gottes zu nennen, und auch jede direkte Anspielung auf die Sünde Israels, die ihn hervorgerufen hat; ganz anders Ps 77[78MT],21.31 und die Erzählung im Buch Numeri (s.u.). 16,6 enthält erneut eine Anwendung des Prinzips von Weish 11,10. Gegenüber 16,6: Erinnerung an das seinem Volk hat das Strafhandeln Gottes eine doppelte Zielsetzung, die durch die Gesetz zweimalige Präposition εἰς gut ausgedrückt wird: Zunächst werden die Bisse der Schlangen vorgestellt eher als eine „Warnung“ (νουθεσία)16 denn als eine Strafe, eine Warnung, die nur für eine kurze Zeit die Israeliten „verwirrt“ (ταράσσω). Die „kurze“ Zeit verstärkt die Aussage im vorangehenden Kolon über die geringe Dauer des Zornes Gottes. Das Buch der Weisheit vermeidet es, den Tod von Israeliten aufgrund der Schlangenbisse hervorzuheben; ταράσσω ist daher im Sinne einer inneren Verstörung zu verstehen wie in 5,2 und 14,25 (τάραχος); das Passiv zeigt das Handeln Gottes an. Sodann ermahnen die Schlangenbisse zur Erinnerung (εἰς ἀνάμνησιν) an das Gesetz Gottes.dd Die „Erinnerung an dein Gesetz“ ist verbunden mit dem strittigen Ausdruck σύμβολον [σύμβουλον] ἔχοντες σωτηρίας. Nimmt man die Lesart σύμβολον an (s.o. die Anmerkungen zum Text), dann würde der Verfasser damit die eherne Schlange meinen, die in Num 21,8.9LXX mit dem Wort σημεῖον in Verbindung steht; die LXX übersetzt die hebräische Wendung ‫„ על־נס‬auf einer Signalstange“ mit ἐπὶ σημείου.17 Anders als bei Philon ist in Weish 16,6b σύμβολον in seiner normalen Bedeutung „Zeichen, Beweis“i zu verstehen wie in Weish 2,9 und wie σημεῖον in Weish 5,13; σύμβολον und σημεῖον scheinen synonym verwendet zu sein. Weish 16,6b sagt nicht ausdrücklich, dieses „Zeichen“ sei die eherne Schlange; dies kann nur verstehen, wer die biblische Erzählung gut kennt. Der Gebrauch des Partizips Präsens ἔχοντες könnte überraschen;18 der Verfasser möchte so vielleicht die Kürze der Prüfung und die bald einsetzende Hilfe Gottes hervorheben. „Rettung“ bedeutet ja im Buch der Weisheit Bewahrung vor aller Gefahr, eine physische Rettung vor dem Tod.19 16 Vgl. νουθετέω in 11,10; 12,2.26; das Verb drückt das erzieherische Verhalten Gottes gegenüber Israel aus; in ähnlicher Weise verwendet Paulus das Substantiv in 1Kor 10,11; vgl. MANESCHG, Die Erzählung, 122 Anm. 63. 17 Eine gute Darlegung dieser Deutung findet sich bei MANESCHG, Die Erzählung, 124–128. 18 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 899. 19 Vgl. σωτηρία in 5,2; 6,24; 16,6; 18,7; σῴζω in 9,18; 10,4; 14,4; 16,7; 18,5; σωτήρ in 16,7; σωτήριος in 1,14 und διασῴζω in 10,4 (Kodex B); 14,6; 16,11. Vgl. NOËL, „Quelle sotériologie dans le livre de la Sagesse?“.

Synchrone Analyse

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Diejenigen, die die Lesart σύμβουλον (s. die Anmerkungen zum Text) überliefert haben, wollten vielleicht darauf hinweisen, dass das, was die Israeliten besitzen (ἔχοντες), nicht ein sichtbares Zeichen (τὸ θεωρούμενον), die eherne Schlange, ist und dass es nicht diese Schlange ist, die sie rettet, sondern eine „Stimme“, nämlich die des Mose, des „Ratgebers zur Rettung“, die das Volk zum Hören der Gesetzesworte aufruft (vgl. die enge Beziehung von 16,11 zu 16,6). Schließlich ist es der Herr selbst, der rettet (16,7b), und sein Wort (16,12b), dessen Sprecher Mose ist. Die Änderung von σύμβολον zu σύμβουλον (falls die erstgenannte Lesart ursprünglich ist) könnte so ein Zeugnis für eine Art Verweisheitlichung der Figur des Mose sein, der zwar zur Tora in Beziehung gesetzt wird, ohne aber als Gesetzgeber betrachtet zu werden, wie es in zeitgenössischen jüdischen Texten und besonders bei Philon geschieht (vgl. Mos. II, 1–7. 292), sondern als ein Weiser.20

Die eherne Schlange ist notwendig εἰς ἀνάμνησιν ἐντολῆς νόμου σου; ἀνάμνησις kann hier nicht in vollem Umfang die Bedeutung haben, mit der Philon das Wort verwendet,21 und bezeichnet eher den einfachen Rückruf ins Gedächtnis von etwas, das vergessen wurde. Mit νόμος ist hier die mosaische Tora gemeint wie in 2,12 und 18,4. Nur in 2,12 (vor allem im Mund der Gottlosen) betont das Buch der Weisheit den normativen Charakter des Gesetzes; die Parallelität von 16,6 mit 16,11 zeigt, dass hier, wie später auch in 18,4, der Text den Offenbarungsaspekt des Gesetzes im Blick hat. Das Partizip Aorist ἐπιστραφείς von ἐπιστρέφομαι ist hier gebraucht im Sinne von „wer sich hinwandte“. In der LXX kann das Verb auch die Bedeutung „sich bekehren, bereuen“ haben,22 die vom Verfasser vielleicht nicht ganz ausgeschlossen wird. Er könnte an Jes 6,10LXX καὶ ἐπιστρέψωσιν καὶ ἰάσομαι αὐτούς gedacht haben, wo „sich zu Gott hinwenden“ die Bedeutung „sich bekehren“ hat, eine Bekehrung, die die Heilung verursacht bzw. ermöglicht. Was rettet, ist nicht die eherne Schlange, sondern Gott, der in der zweiten Person zum einzigen Mal im Buch als „Retter“ (σωτήρ) angesprochen wird. Der Ausdruck „Retter aller“ ist im AT einmalig (vgl. 1Makk 4,30 und 3Makk 7,16: „Retter Israels“; auch Test. Gad 8,1) und findet sich in 1Tim 4,10 wieder (σωτὴρ πάντων ἀνθρώπων). Gott ist Retter, weil er Bewahrer des Lebens ist, wie schon im programmatischen Text von Weish 1,13–14 angekündigt wurde, aber auch weil er konkret wirkt in der Geschichte seines Volkes. 16,8 nimmt den unterweisenden Aspekt des Handelns Gottes wieder auf; wenn die „Feinde“23 solche geblieben sind und sich nicht bekehrt haben, mussten sie doch mindestens erfahren, dass der Herr in einer Weise handelt, die die Menschen davon überzeugt (ἔπεισας), dass er allein aus allem Übel „befreit“.

20 Zu Mose im Buch der Weisheit vgl. noch 10,16; 11,1.14 und 18,5. Siehe MAZZINGHI, „The Figure of Moses“, passim. 21 Vgl. BOCCACCINI, Middle Judaism, 191–204. 22 Vgl. die Deutungen vieler antiker Kommentatoren im Sinne von „Bekehrung“; MANESCHG, Die Erzählung, 129 Anm. 85. 23 Vgl. Weish 10,12.19; 11,3.5; 12,20.22; 16,8.4.22; 18,5[S*].7.10; Weish 15,14 klärt, dass die Ägypter, die Israel unterdrücken, solche Feinde sind (anders in Weish 12,20.22, wo die Kanaanäer die Feinde sind). Die Härte des Urteils über die Ägypter ist verursacht durch die historischen Umstände, in denen der Verfasser schreibt, steht aber sicher im Gegensatz zur Verkündigung eines Gottes, der „der Retter aller“ ist.

16,7: Gott, der Retter aller

16,8: Gott befreit aus allem Bösen

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Weish 16,5–14

Das hier zur Bezeichnung der Rettung verwendete Verb ist ῥύομαι (vgl. Weish 2,18; 10,6.9.13.15), das sowohl in der LXX als auch im NT fast ausschließlich die Bedeutung „retten, befreien“ hat. Die Texte JesLXX 44,6; 47,4; 48,17; 49,7; 54,8 (vgl. 3Makk 6,10) gebrauchen das Partizip Aorist ῥυσάμενος, wenn es sich auf Gott bezieht; nur in Jes 59,20LXX wird, wie in Weish 16,8b, das Partizip Präsens verwendet. Das dient vielleicht dazu hervorzuheben, dass die Betrachtung der vergangenen Geschichte sich auf die Gegenwart des Handelns Gottes verlagert. Indem er den Sprachgebrauch von JesLXX 40–66 aufnimmt, vermeidet der Verfasser aber einen zu nationalistischen Ton; in Jes 44,6 spricht ὁ θεὸς ὁ βασιλεὺς τοῦ Ἰσραὴλ ὁ ῥυσάμενος αὐτόν, nach Weish 16,8 befreit Gott „aus allem Bösen/ Übel“, ohne dass aber die als Objekt zu denkenden Israeliten ausdrücklich erwähnt werden. Mit 16,9 beginnt ein neuer Absatz des Diptychons. Die Ägypter (οὓς μέν) wer16,9: Plagen ohne Heil- den durch die normalerweise nicht tödlichen Bisse von Insekten getötet, während mittel die Israeliten von den normalerweise tödlichen Bissen der Schlangen geheilt werden (16,10). Die Erwähnung der Heuschrecken verweist auf die achte Plage (Ex 10,1–20, während die Fliegen24 auf die vierte Plage (Ex 8,16–27) anzuspielen scheinen oder auch auf die Plage der Stechmücken (σκνῖφες Ex 8,12–15). Die beiden Insektenarten werden in Ps 104,31LXX nebeneinander genannt (κυνόμυια καὶ σκνῖπες). Der Verfasser weitet die Bedeutung dieser Plagen aus, indem er davon spricht, dass die Bisse dieser Tiere töteten (ἀπέκτεινεν δήγματα). Er geht dabei von Aussagen wie Ex 10,17 aus, wo der Pharao die Heuschreckenplage τὸν θάνατον τοῦτον „diesen Tod“ nennt. Auch hier handelt es sich um eine midraschartige Erweiterung (vgl. die Ausgestaltung der Plagenerzählung bei Flavius Josephus, Ant. 2,14,3–4 [ed. Niese II § 296–303]). Für diese Plage „fand sich kein Heilmittel“; ἴαμα hat hier seine normale Bedeutung „Heilmittel, Medizin“. Die Wörter ἴαμα, ἰάομαι kommen in diesem Diptychon drei Mal vor (16,9b.10b.12b); vgl. Weish 11,4 ἴαμα und 2,1c ἴασις. Die Wendung οὐκ ἔστιν ἴασις wird metaphorisch z.B. in Spr 29,1; Jer 14,19 u. ö.25 verwendet in Bezug auf Rettung aus der Sünde oder vom Tode.26 Die Gottlosen in Weish 2 versichern, die Aussagen der Schrift über einen Gott, der vom Tode errettet, seien nicht wahr (Weish 2,1c); gegen den Tod gibt es kein Heilmittel; ihrer Überzeugung nach lohnt es sich nicht, den Herrn zu bitten, wie der Prophet in Jer 17,14 es tut (ἴασαί με κύριε καὶ ἰαθήσομαι σῶσόν με καὶ σωθήσομαι). Das zweite Diptychon in Kap. 16 soll so eine Antwort auf die Einwände der Gottlosen geben, insbesondere in 16,13– 14: Gott kann durchaus Menschen aus dem Tod erretten. Zu 16,9c vgl. 16,1a. Die Verknüpfung von κολάζω mit ἄξιος verweist auf die Überlegungen zu den gegensätzlichen Wirkungen des Handelns Gottes und zur Angemessenheit der Bestrafung der Ägypter. 24 Der Verfasser spricht einfach von „Fliegen“ (μυῖαι), nicht von „Hundsfliegen“ (κυνόμυιαι) wie die LXX in Ex 8,16–28, vgl. Philon, Mos. I, 130, vielleicht, um den Gegensatz zwischen giftigen Schlangen, die die Israeliten nicht töten, und ganz normalen Fliegen, die jedoch die Ägypter zugrunde richten, zu vergrößern. 25 Vgl. auch Ps 37[38MT],4.8; Sir 3,28; 21,3; Nah 3,19; Sach 10,2. 26 Über die Plagen Ägyptens vgl. Jdt 5,12: καὶ ἐπάταξεν πᾶσαν τὴν γῆν Αἰγύπτου πληγαῖς ἐν αἷς οὐκ ἦν ἴασις.

Synchrone Analyse

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„Unseren Feinden“ (16,8a) werden „deine Söhne (und Töchter)“ gegenübergestellt. Nach dem οὓς μέν (16,9a) würde man ein οὓς δέ erwarten; stattdessen variiert der Verfasser die Satzkonstruktion: τοὺς δὲ υἱούς σου. Zum Thema der Gotteskindschaft vgl. Weish 9,7 und 18,4. Die Söhne und Töchter sind nicht betroffen („die Zähne giftspritzender Schlangenungeheuer … besiegten sie nicht“ οὐδέ … ἐνίκησαν; 16,5 wird hier variiert wieder aufgenommen). Das Adjektiv *ἰοβόλος „Gift ausstoßend“ kommt nur hier in der LXX vor. Mit δράκων wird eine besonders große und furchtbare Schlange bezeichnet, eine weitere Amplifikation von Num 21,4–9. Es ist das Erbarmen Gottes (ἔλεος), das nunmehr an die Stelle des Zornes tritt (vgl. Ps 77[78MT],38; Jes 54,8; vgl. Weish 9,1 und auch 3,9; 4,15) und die Schlangen daran hindert zu siegen. Das Verb *ἀντιπαρέρχομαι bedeutet etymologisch „in Gegenrichtung an jemandem vorbeigehen“.27 Hier dürfte es im Sinne von „(helfend, schützend) entgegenkommen“ verwendet sein. Während es in Num 21,4–9 so scheint, als ließe die Hilfe Gottes auf sich warten, beschreiben die beiden Aoriste in Weish 16,10b eine sofortige Heilmaßnahme Gottes. Er überlässt seine Söhne und Töchter nicht den Schlangen als Beute, sondern ist ihnen entgegengekommen und hat sie sogleich geheilt. Inhaltlich und in der Wortwahl greift 16,11 das in 16,6b Gesagte auf: εἰς ὑπόμνησιν – εἰς ἀνάμνησιν; das „Gebot deines Gesetzes“ wird dabei erweiternd mit den „Worten“ (λόγια), d.h. dem Gesamt der Offenbarung Gottes, verbunden. Israel hat sie nie vergessen, scheint der Verfasser sagen zu wollen, aber sie müssen ständig wieder ins Gedächtnis gerufen werden. Das Verb *ἐγκεντρίζω (in Röm 11,17.19.23.24 mit der Bedeutung „einpfropfen“) bedeutet hier „stechen“ oder besser „anstacheln“;28 die Schlangenbisse in der Wüste verursachen deshalb nicht den Tod. Die Strafe hat, wie das eingefügte Kolon 16,11b erläutert („und alsbald wurden sie gerettet“), zum Ziel, das Volk zu retten, es zur Bekehrung anzuregen, nicht es zu vernichten; erneut wird die Unverzüglichkeit des Handelns Gottes hervorgehoben. Der mit einem finalen ἵνα eingeleitete Teil von 16,11 soll nochmals (vgl. 16,6) zeigen, was bei der Entsendung der Schlangen die Absichten Gottes waren. Die eingefügte Partizipialkonstruktion (εἰς βαθεῖαν ἐμπεσόντες λήθην) ist unmissverständlich: Die Rettung vor den Schlangen soll vermeiden, dass Israel einem Vergessen der Taten Gottes anheimfällt (vgl. Ps 77[78MT],11: ἐπελάθοντο τῶν εὐεργεσιῶν αὐτοῦ); dies könnte den Ausschluss von den Wohltaten, die Gott seinem Volk erweist (vgl. 16,2a), zur Folge haben. Ein solches Vergessen wäre ein noch schwerer wiegendes Fehlverhalten als die womöglich von Israel begangene Sünde (die hier aber nicht beschrieben wird). Was von Israel gefordert wird, ist das „Gedenken“, das Sicherinnern an die Worte Gottes. Die Treue Israels zu den „Worten“ Gottes veranlasst das Eingreifen des heilenden „Wortes“, das in 16,12b genannt wird. Weder Natur (Heilkräuter: βοτάνη) noch medizinische Wissenschaft (Pflaster, Umschlag, Salbe: μάλαγμα) können dem 27 Das Verb erscheint zum ersten Mal beim Stoiker CHRYSIPPOS (vgl. SVF II, 248 frg. 901) im Sinne von „eindringen“ (ins Gehirn und die Eingeweide und die Leber); REESE (Hellenistic Influence, 16 Anm. 82) meint, dass das Buch der Weisheit das Verb in einer ähnlichen Bedeutung verwende bezüglich eines verborgen wirksamen Handelns Gottes. 28 Vgl. CAIRD, „Toward a Lexicon“, 469.

16,10: Die Entdeckung der Barmherzigkeit Gottes

16,11: Die Wohltaten Gottes

16,12: Das Wort Gottes heilt

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16,13: Du führst hinab in die Unterwelt und wieder herauf

16,14: Die Seele im Gefängnis

Weish 16,5–14

Menschen Heilung verschaffen. Es ist das Wort Gottes, das Hauptthema im Diptychon, das „alles“ (oder „alle“, s. die Anmerkungen zum Text) heilt; das Wort Gottes ist, wie seine Barmherzigkeit, das Zeichen seines Heilshandelns gegenüber der Welt. Mit σὺ γάρ wendet sich der Sprecher direkt an Gott und erläutert den Grund, weshalb dieser imstande ist, alles durch sein Wort zu heilen (16,12): Er besitzt absolute Verfügungsmacht (ἐξουσία; vgl. 10,14) über Leben und Tod. Der Vers ist chiastisch formuliert: „Leben“ und „Tod“ in 16,13a entsprechen, in Umkehrung der Reihenfolge, die Verben κατάγω und ἀνάγω in 16,13b. Die Abhängigkeit von 16,13a von 1Sam 2,6b und Dtn 32,39 ist unübersehbar; der Hauptunterschied besteht darin, dass die genannten Texte den Übergang Tod/Leben betonen, Weish 16,13a aber die Herrschaft Gottes über das Leben der Nennung des Todes voranstellt. Der Text von Dtn 32,39, in dem die Macht des einzigen Gottes ausgedrückt wird, ist im Buch der Weisheit als hermeneutischer Schlüssel aufgenommen, um den Sinn des Handelns Gottes gegenüber seinem Volk zu begreifen. Mit anderen Worten: Die Schrift dient dem Verfasser als Deutungsprinzip der Schrift selbst. Die Macht Gottes über das Leben und über den Tod wird veranschaulicht durch ein der LXX bereits bekanntes Bild: hinabsteigen und wieder heraufsteigen aus der Unterwelt; außer an 1Sam 2,6 könnte der Verfasser auch an Tob 13,2 gedacht haben, dessen Text auch in Weish 16,15 ein Echo findet: ὅτι αὐτὸς μαστιγοῖ καὶ ἐλεᾷ κατάγει εἰς ᾅδην καὶ ἀνάγει καὶ οὐκ ἔστιν ὃς ἐκφεύξεται τὴν χεῖρα αὐτοῦ.29 16,14 ist nicht nur ein Anhängsel zu 16,13:30 Im Unterschied zu den Wohltaten Gottes, der das Leben geben kann (16,11d), ist der Mensch in seiner Bosheit (κακία) seinerseits nur dazu fähig, den Tod zu geben. Die beiden Verben ἀναστρέφω und ἀναλύω könnten in intransitivem Sinne verstanden werden, aber die beiden parallel stehenden Akkusative πνεῦμα und ψυχήν beseitigen jede Unklarheit: Subjekt ist immer der Mensch, der unfähig ist, den „hinausgegangenen Geist zurückkehren zu lassen“ und die (vom Tod) „aufgenommene Seele zu befreien“ (s.u.);31 die chiastische Formulierung von 16,14b-c lässt noch deutlicher den Gegensatz zwischen dem machtlosen Tun des Menschen und dem allmächtigen Handeln Gottes hervortreten.

29 Tob 13,2BA (= GI). Die griechischen (GI.II.III) und der hebräische (4Q200,6) Tobit-Text stimmen in Tob 13,2 in den für den Vergleich wesentlichen Wörtern überein. – Im Tobitbuch mündet der Gedanke, dass Gott in die Unterwelt führt und wieder herauf, in keiner Weise zu einer Aussage über eine Auferstehung, sondern kreist um eher allgemeine Bilder. 30 Vgl. GREGG, Wisdom, 155 („only an appendix“). 31 Zu weiteren Gründen dafür, die beiden Verben ἀναστρέφω und ἀναλύω hier transitiv zu verstehen, s. MANESCHG, Die Erzählung, 162; zu ἀναλύω vgl. Weish 2,1. Das Subjekt von 16,14a ἄνθρωπος ist auch Subjekt in 16,14b.c. Das Tun des Menschen wird verglichen mit dem Handeln Gottes; dies hätte keinen Sinn, wenn die beiden Verben intransitiv verwendet wären. Insbesondere das Verb ἀναστρέφω kommt in transitivem Sinn in Bezug auf den Tod sowohl in der LXX (Jdt 1,11.13) als auch in klassischen Texten (vgl. SOPHOKLES, Phil. 446–450) vor.

Diachrone Analyse

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Diachrone Analyse Das „Gebot deines Gesetzes“ steht hier im Singular, während in der LXX meis- 16,6 tens der Plural ἐντολαί verwendet wird. Einige denken an das Gebot Gottes in Gen 2,17 und sehen in den Schlangen eine Anspielung auf die Schlange von Gen 3,32 wie es in der Targum-Überlieferung geschieht (vgl. Tg. N. und Tg. Ps.-J. zu Num 21,9). Die Schlange von Gen 3 spielt jedoch im Buch der Weisheit keine Rolle außer mittels der Erwähnung des διάβολος in Weish 2,24. Vielleicht wird gerade aus diesem Grunde in Weish 16,6 eine ausdrückliche Nennung der ehernen Schlange vermieden und nur neutral „das Angeschaute“ (τὸ θεωρούμενον) erwähnt. In der Bezugnahme auf die „gewundenen Schlangen“ in 16,5b ist es einfacher, eine polemische Spitze gegen die für die hellenistische Welt typischen Kulte und Riten wahrzunehmen, wie die des Asklepios, des Sarapis, der IsisThermuthis, die in der Gestalt einer Schlange dargestellt wird, und die DionysosRiten.33 Eine ähnliche Formulierung (ἐντολὴ νόμου) findet sich in Spr 6,23LXX, wo ἐντολή im Sinne von „Unterweisung, erzieherische Richtschnur“ zu verstehen ist und sich auf das Gesamt des Gesetzes bezieht, das eher als „Unterweisung“ für das Leben des Volkes betrachtet wird denn als Summe der einzelnen zu beobachtenden Vorschriften.34 So ist das, was die Israeliten sich ins Gedächtnis rufen sollen, nicht so sehr eine zu beobachtende Einzelvorschrift (oder eine Reihe von Geboten), sondern die βουλὴ θεοῦ, der Wille Gottes, der im Gesetz ausgedrückt ist (Weish 9,17), den zu erkennen ohne die Gabe der Weisheit unmöglich ist. Der Tg. Ps.-J. zu Num 21,8 verbindet in ähnlicher Weise die Schlangenepisode mit dem Wort Gottes: „Und es wird geschehen, dass jeder, der von der Schlange gebissen wurde und seinen Blick auf ihn richtet, am Leben bleiben wird, wenn er sein Herz auf den Namen des Wortes des Herrn richtet“. Das Verb θεωρέω scheint in 16,7 nicht zufällig gewählt zu sein: Wie in Weish 16,7 6,12; 13,5; 17,6; 19,7.8 bezeichnet es ein „Sehen“ und zugleich ein „Betrachten“ und „Begreifen“; in Num 21,8–9 verwendet die LXX allgemeinere Wörter (ἰδών, ἐπέβλεψεν). Der Verfasser ersetzt diese aktiven Verbformen und damit ein inständiges und andächtiges Hinsehen durch das substantivierte passive Partizip τὸ θεωρούμενον, das der realen Eigenheit des angeschauten Gegenstands (der ehernen Schlange) jede Bedeutung nimmt und die Faszination, die das Bild auf den Betrachter ausüben konnte, hervorhebt. Die Kritik an der alexandrinischen Sichtweise von Religion, die den Eigenwert des Bildes stark betonte, ist demnach offenkundig. In 16,8 geht der Text über die Erzählung im Buch Numeri hinaus, indem er 16,8 annimmt, dass die Ägypter das, was Israel in der Wüste geschehen ist, hätten

32 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 900. 33 Vgl. MANESCHG, Die Erzählung, 183–187; MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 94–95. 97–98; Isis-Termuthis wird oft schlangengestaltig dargestellt. In den Dionysos-Kulten kann Dionysos selbst in der Gestalt einer Schlange erscheinen. Zu Asklepios siehe PAUSANIAS, Descr. II,10,3; IV,14,7; II,26,1–27,6. Vgl. WALTON, Alice, Asklepios. The Cult of the Greek God of Medicine, Chicago: Ares 1894, 91. 34 Vgl. SPICQ, Notes, I, 250–253.

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erkennen können, und durch das, was sie sahen, überzeugt worden seien, dass allein der Herr imstande ist, von allem Übel zu befreien. Dabei geht der Verfasser in einer für einen Midrasch bezeichnenden Weise erweiternd wohl von Texten wie Ex 32,12 und Num 14,13–16 aus. Die nachdrückliche Hervorhebung „unserer“ Feinde verleiht dem Vers eine starke Aktualität: Die Ägypter, die mit uns in Alexandria leben, scheint der Verfasser sagen zu wollen, müssten die Wohltaten kennen, die Gott den Israeliten gewährt hat, deren Rechte sie ständig mit Füßen treten. Die Verbindung der Motive Gott als Retter und Gott als Wohltäter kann 16,11 ohne weiteres als polemische Bezugnahme auf die Königstitulatur der Ptolemäer betrachtet werden, die in der Folge auch vom römischen Kaiser angenommen wird: σωτὴρ καὶ εὐεργέτης.35 Insbesondere im Diotogenes zugeschriebenen Traktat über das Königtum wird die platonisch-stoische Vorstellung eines „Wohltäter“-Gottes auf den Herrscher übertragen, der das universale Gesetz und das Handeln Gottes auf der Erde verkörpert und seinerseits ein „Wohltäter“ wird, der ausschließlich das Wohl seiner Untertanen bewirkt. Unter den Empfehlungen an den König in diesem Traktat lautet die Warnung vor der Habgier so: „Der König soll die Mittel besitzen, die notwendig sind, um seinen Freunden Wohltaten zu erweisen (εὐεργετεῖν)“.36 Kurz danach wird von Diotogenes die εὐεργεσία als eine der Haupteigenschaften des Königs aufgeführt zusammen mit der Unverzüglichkeit, die er bei der Strafverfolgung (κολάσιος) zeigen soll: Dadurch, dass der König die Möglichkeit zu strafen eng verbinden kann vor allem mit seiner Fähigkeit, seinen Untertanen Wohltaten zu erweisen, erweist er sich als θεόμιμος „gottnachahmend“; vgl. ähnliche Vorstellungen in Arist. 190.208.37Das Buch der Weisheit zeigt die Bemühung, die Vorstellung stoisch-platonischer Herkunft, die Gottheit könne nur Gutes tun, und die dementsprechende Vorstellung von einem irdischen Herrscher, der die Gottheit in seinem Handeln verkörpert, anzugleichen an den biblischen Glauben an einen guten Gott, der sich seiner ganzen Schöpfung gegenüber großmütig verhält, aber auch imstande ist, die Bösen zu bestrafen, wie die Exoduserzählung zeigt, die Weish 11–19 zugrunde liegt. In der alexandrinischen Umwelt findet sich das Wortfeld „Heil, Rettung“ sehr häufig in Bezug auf Isis. Sie wird mehrfach σώτειρα genannt, weil sie ihre Verehrer aus gefahrvollen Lagen oder vom Tode errettet. Erst später wird die Vorstellung von Rettung auf ein Heil post mortem ausgedehnt, und Isis wird, vor allem seit der römischen Zeit, die Göttin, die dem Menschen die Unsterblichkeit zusichert (vgl. den Kommentar zu 9,18; 14,1–10). Weiterhin erinnert die Verbindung von „retten“ mit dem Motiv der Schlangen an den Asklepios-Kult (s. die Anmerkung zum Text von 16,6). Auch ist eine deutliche Polemik zu erkennen gegen die Welt der Magie, in der mehrfach das Wortfeld „retten“ im Zusammenhang mit

35 So Augustus im Jahre 13/12 v. Chr. nach DITTENBERGER, Wilhelm (Hg.), Orientis Graeci Inscriptiones selectae, Leipzig: Hirzel 1903–1905, II, 657,1; vgl. MANESCHG, Die Erzählung, 186–187. 36 Vgl. DIOTOGENES, 265,20–21: ed. HENSE, in: DELATTE, Les Traités de la Royauté, 39–40; vgl. MAZZINGHI, „The antithetical pair „to punish“ and „to benefit““, passim. 37 DIOTOGENES, 267,8ff, ed. HENSE, in: DELATTE, Les Traités, 42, vgl. auch 214–216.

Diachrone Analyse

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der Heilung von Krankheiten vorkommt; kein magischer Ritus kann dem Menschen Heilung bringen, nur das Wort Gottes.38 Die Vorstellung vom Wort Gottes, das heilt, könnte angeregt sein von Ps 16,12 106,20LXX: ἀπέστειλεν τὸν λόγον αὐτοῦ καὶ ἰάσατο αὐτοὺς καὶ ἐρρύσατο αὐτοὺς ἐκ τῶν διαφθορῶν αὐτῶν. Der Verfasser zeigt hier, dass er eine Form der Midraschexegese kennt, die sich auch in zwei Randlesarten des Tg. N. zu Ex 15,26 findet.39 Zu 16,12 ist noch anzumerken, dass das Buch der Weisheit nicht selten medizinische Begriffe verwendet. Philon (Sacr. 70) vergleicht das Wirken Gottes gegenüber der Welt mit dem eines Arztes.40 Die Unterscheidung zwischen „Pflanze“ (einzunehmende Medizin) und „Pflaster“ (hergestellte Heilmittel zur äußeren Anwendung) ist klassisch und wird schon von den antiken Kommentatoren angemerkt.41 Heilkräuter werden häufig bei der Magie verwendet;42 dem stellt der Verfasser mit Nachdruck die heilende Wirkung des Wortes Gottes gegenüber.

Die Wendung in Weish 16,13b „die Tore der Unterwelt“ greift ähnliche biblische 16,13 Wendungen auf (vgl. Jes 38,10; 3Makk 5,51; „die Tore des Todes“: Ijob 38,17LXX; Ps 9,14LXX; 106[107MT],18); an den Toren der Unterwelt sein bedeutet „dem Tode ganz nahe sein“. Einige Kommentatoren vermuteten, 16,13b beziehe sich nur auf die Macht Gottes, den Menschen aus physischer Todesgefahr zu befreien, andere nahmen sogar eine mögliche Auferstehung von den Toten an: „Hic de resuscitatione mortuorum agi tenemus“.43 Nach José Vílchez Líndez scheint jedoch „der Inhalt von 16,13 nicht über die traditionelle alttestamentliche Lehre hinauszugehen. Denn sie deutet keine Auferstehung von den Toten an, sondern betont stark die lebendig machende Macht Gottes, die das Leben verleiht und aus den Gefahren

38 Vgl. PGM I, 195–222 (an die Gottheit gerichtetes Gebet um Befreiung; 4. Jh. n. Chr.), IV, 1167–1225 (an Aion als Sonnengott gerichtetes Gebet; Zeit Diokletians; bes. 1211ff.); Zauberspruch gegen eine Schlange, PGM XIII, 262ff.; in allen diesen Texten kehrt das Motiv „retten“ in Verbindung mit der Heilung von Krankheiten mittels eines magischen Ritus wieder; vgl. VERMASEREN, Maarten J. „La sotériologie dans les papyri graecae magicae“, in: BIANCHI, Ugo, – VERMASEREN, Maarten J., (Hg.), La soteriologia dei culti orientali nell’Impero Romano, Atti del Colloquio internazionale su „La soteriologia dei culti orientali nell’Impero Romano“ (EPR 92), Leiden: Brill 1982, 17–32. 39 In Ex 15,26LXX heißt es in präziser Wiedergabe des MT: ἐγὼ γάρ εἰμι κύριος ὁ ἰώμενός σε; Tg. N.: „Ich bin es, JHWH, der euch heilt durch sein Wort“ (marg 1); „… durch das Wort JHWHs“ (marg 2), PRIOTTO, La Prima Pasqua, 124–132. Weish 16,11 scheint das älteste Zeugnis zu sein für das Motiv des Wortes Gottes, das heilt. Vgl. HAYWARD, Robert, Divine name and presence: the Memra, Totowa, NJ: Allanheld 1981, 121; vgl. 39–56 für die Annäherung von Wort und Barmherzigkeit im Targum. Vgl. auch MUÑOZ LEÓN, Domingo, Dios-Palabra, Memra en los Targum del Pentateuco, Granada: Santa Rita 1974, 355– 356. 40 Vgl. LARCHER, Etudes, 179–201. BEAUCHAMP, „Sagesse de Salomon: de l’argumentation médicale à la résurrection“. 41 Vgl. die Zitate in MANESCHG, Die Erzählung, 149–150. 42 Vgl. SCARBOROUGH, John, „The Pharmacology of Sacred Plants, Herbs and Roots“, in: FARAONE, Christopher A. / OBBINK, Dirk (Hg.), Magica Hiera. Ancient Greek Magic and Religion, Oxford/New York: Oxford Univ. Press 1981, 138–174. 43 CORNELIUS A LAPIDE, Commentaria in Scripturam Sacram, VIII, 354; MANESCHG, Die Erzählung, 155.

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Weish 16,5–14

befreit, die es bedrohen, einschließlich der größten von ihnen, dem Tod“.44 Im Anschluss an den Kommentar von Alfred T. S. Goodrick legt Chrysostome Larcher vier Argumente für eine andere Deutung vor:45 Die Verwendung von εἰς lässt einen realen Abstieg in den Tod annehmen; sodann kennt das AT in außergewöhnlichen Fällen schon die Möglichkeit, aus dem Tode zurückzukehren (vgl. 1Kön 17,21–22; u.a.); 16,13 bildet einen Fortschritt gegenüber dem voranstehenden Gedankengang, der sich darauf beschränkte, von einer physischen Heilung zu sprechen; und schließlich hebt 16,14 etwas Gegensätzliches zu 16,13 hervor: Während der Mensch unfähig ist, das Leben zurückzugeben, ist Gott dazu imstande. Der Text scheint also eine wirkliche Möglichkeit, die Gott hat, nämlich den Menschen aus dem Tod ins Leben zurückzuführen, anzudeuten, ohne sie jedoch ausdrücklich zu behaupten, und geht damit über die verwendeten biblischen Texte hinaus. Der Verfasser behält zwar die biblische Vorstellung von der Sche’ol im Sinne eines Aufenthaltsortes der Toten bei, betrachtet sie aber nicht als fähig, die Gerechten festzuhalten. So bahnt sich die Sichtweise der Sche’ol bzw. des Hades als Hölle, als Ort der Bestrafung der Bösen, an.46 16,14 Die Begriffe „Seele“ und „Geist“ tendieren im Buch der Weisheit dazu, sich einander anzugleichen.47 Der „hinausgegangene Geist“ ist eine Vorstellung, die wohl auf das biblische Bild des „Lebensodems“, den Gott dem Menschen einhaucht, zurückgeht, vgl. Gen 2,7; Koh 12,7; Ps 145[146MT],4: ἐξελεύσεται τὸ πνεῦμα αὐτοῦ. Die Seele wird bezeichnet als παραλημφθεῖσα mit einem Partizip Aorist Passiv des Verbs παραλαμβάνω, das üblicherweise als „aufnehmen“ verstanden wird, vgl. Lat. quae recepta est: anima quae jam a Deo recepta, in aliam vitam, suo quoque loco pro meritis in aeternum assignata est (CORNELIUS A LAPIDE, sub loco). Die Seele ist „aufgenommen“ als Gefangene in den Hades entsprechend einer in der klassischen Welt häufigen Vorstellung über den Hades als ein Gefängnis (vgl. auch Weish 17,16) oder jedenfalls als einen Ort, aus dem man nicht entfliehen kann (vgl. in der Bibel Ijob 7,9; 10,21; u.a.).48 Der Kontext scheint eine solche Deutung zu stützen; der Mensch ist nicht imstande, die Seele aus dem Tod zu befreien, während Gott diese Macht hat. In diesem Vers ist eine Antwort auf die Skepsis der Gottlosen zu sehen, die in 2,1d bezweifelten, dass jemand imstande sei, aus der Totenwelt zu befreien (οὐκ ἐγνώσθη ὁ ἀναλύσας ἐξ ᾅδου).49

44 45 46 47

VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 487. LARCHER, Sagesse III, 911–912. Vgl. Weish 1,14; 17,14; MAZZINGHI, „Non c’è regno dell’Ade sulla terra“, passim. Vgl. LARCHER, Etudes, 262–279; GILBERT, „La procréation: ce qu’en sait le livre de la Sagesse“; „Geist“ dient dem Verfasser dazu, „Seele“ genauer zu beschreiben als etwas, das dem Menschen von Gott „eingehaucht“ wurde, vgl. 15,11. 48 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 44–45. 183. Zur Vorstellung der Seele als „Gefangene“ vgl. MANESCHG, Die Erzählung, 160; LARCHER, Sagesse III, 913. Zur Verwendung des Partizips Aorist Passiv von παραλαμβάνω in Bezug auf Gefangene in der Bedeutung „aufnehmen, übernehmen“ s. POLYBIOS, Hist. III, 69, 2. 49 „Hierin könnte man einen Hinweis auf den Auferstehungsglauben des Verfassers erblicken“, MANESCHG, Die Erzählung, 164.

Synthese von Weish 16,5–14

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Synthese von Weish 16,5–14 Das Thema der Rettung bzw. der Heilung, die durch das Wort Gottes und die Beobachtung des Gesetzes erlangt wird, erreicht in 16,13–14 seinen Höhepunkt. Hier geschieht die Rettung nicht mehr nur aus einer physischen Gefahr: Der Herr ist der Gott, der wirklich aus dem Tode retten kann, im Unterschied zum Menschen, der nur den Tod zufügen kann. Die durch 16,13–14 geschaffene Perspektive beleuchtet a posteriori das ganze zweite Diptychon in Kap. 16; indem er sich auf Weish 1,13–14 und auf 2,1, zurückbezieht, stellt der Text von 16,13–14 dem Wirken Gottes das des Menschen gegenüber und führt die eschatologische Perspektive fort, die für den ersten Buchteil bezeichnend war. Die von Gott seinem Volk beim Zug durch die Wüste gewährte Heilung und Rettung wird Zeichen und Grundlage des künftigen Heils, das den Gerechten erwartet. Zusammenfassend kann Weish 16,5–14 als ein wirklicher Midrasch über die Erzählung von der ehernen Schlange (Num 21) bezeichnet werden, der im Rückgriff auf andere biblische Texte erstellt und beständig im Blick auf die alexandrinische Umwelt aktualisiert wurde. Ein solches Vorgehen war griechischsprechenden Juden nicht fremd.50 Charakteristisch für diesen Midrasch ist an erster Stelle die Idealisierung der Vergangenheit Israels, die als Vorbild für das Israel jeder Zeit betrachtet wird; sodann die Tendenz, die biblische Erzählung auszuschmücken und über sie hinauszugehen; drittens die der Tora zuerkannte Bedeutung, die jedoch hier weisheitlich gefiltert und dem Motiv des „Wortes“ nachgeordnet ist; und schließlich: Der Midrasch im Buch der Weisheit nimmt eine Verallgemeinerung der Figuren der Gerechten und der Gottlosen vor, die, zusammen mit einer gewissen weisheitlichen Einschränkung der Figur des Mose,51 den allzu apologetischen Ton aus der Plagenerzählung herausnimmt und eine universalistischere Perspektive und einen nüchterneren und irenischeren Ton anstrebt. Theologisch betrachtet taucht das Motiv der gegensätzlichen Wirkungen des Handelns Gottes wieder auf, das sich schon im vorangehenden Diptychon zeigte: Wie Gott den Gerechten zurechtweist, um ihn zu retten, so bestraft er den Gottlosen mit einer angemessenen Strafe, die in den beiden letzten Diptychen sich in die endgültige Bestrafung verwandeln wird, den Tod, da sie sich weigern, sich zu bekehren. Die gegensätzlichen Wirkungen des Handelns Gottes veranschaulichen den Gegensatz Gerechter/Gottlose, der den ganzen ersten Buchteil prägt, und verwurzeln ihn im geschichtlichen Kontext des Exodus. Der Kommentar hat die Kontakte zwischen Weish 16,5–14 und der Figur der Gottlosen in Weish 2 aufgezeigt. Ägypter und Israeliten verkörpern die Gottlosen und die Gerechten von Weish 1– 6 oder, besser, stellen geschichtlich das eschatologische Schicksal des Menschen dar, das im ersten Buchteil angekündigt wurde. Dieser Bezug hat grundlegende Bedeutung. Das Heil, das die Gerechten erwartet, wie auch die Strafe, die die Gottlosen trifft, sind keine nur eschatologische Wirklichkeit; denn das vorliegende Diptychon fügt Rettung und Strafe in die Heilsgeschichte selbst ein. Das künftige Heil der Gerechten ist nicht etwas Unerwartetes und von der Geschichte Abgelöstes, sondern ist ein in der Geschichte des Volkes 50 MANESCHG, Die Erzählung, 164–167, spricht von einem „wiedererzählenden Midrasch“. 51 Vgl. MAZZINGHI, „La memoria della Legge nel libro della Sapienza“; DERS., „The Figure of Moses“.

420

Weish 16,15–29

fest verwurzeltes Heil. Auf diese Weise, also durch die literarischen Verbindungen zwischen dem ersten und dem letzten Teil des Buches, drückt der Verfasser die Verbindung aus zwischen Eschatologie und Geschichte, vermittelt durch die Rolle des Kosmos.52 Eine interessante neutestamentliche Perspektive könnte sich bei der Gegenüberstellung von Weish 16,5–14 und Joh 3,14–15 eröffnen, ein Vergleich, der in der patristischen Literatur unbekannt zu sein scheint. In beiden Texten ist die Bezugsstelle die Erzählung in Num 21, die in ihrer theologischen Bedeutung neu gelesen wird. Frühere Kommentatoren drücken sich hier deutlich aus, z.B. CORNELIUS A LAPIDE: allegorice, hic serpens quoad figuram similis serpentibus veris et vivis, sed carens illorum veneno, significabat Christum innocentem, aestimatum tamen noxium et sceleratum, pro nobis crucifixum… (allegorisch: diese Schlange ähnelt in ihrer Gestalt richtigen lebendigen Schlangen, hat aber nicht ihr Gift; sie bedeutet den unschuldigen, für uns gekreuzigten Christus, der jedoch für einen schuldigen Verbrecher gehalten wurde), und er merkt an: certum verum est aheneum serpentem typum esse Christi in crucem acti (gewiss ist wahr, dass die eherne Schlange ein Vorausbild des ans Kreuz gebrachten Christus ist).53 Sowohl Weish 16,5– 14 als auch Joh 3,14–15 heben gegenüber ihrem Bezugstext Num 21 den universalen Heilswillen Gottes innerhalb seines präzisen Planes für das Leben des Menschen hervor. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Texte ist, dass beide das rettende Wort Gottes hervorheben, in Weish im Anschluss an den Targum, und ähnlich bei Joh, denn die eherne Schlange verweist im Vierten Evangelium auf den fleischgewordenen Logos.54

Die vierte Gegenüberstellung: Hagel und Manna (Weish 16,15–29) Zur literarischen Struktur von Weish 16,15–29 Das vierte Diptychon ist ein vorzügliches weiteres Beispiel eines Midrasch: Weish 16,15–29 stellt einen Kommentar zur Manna-Erzählung in Ex 16 und in Num 11,6– 9 dar (vgl. Ps 78[79MT],25; 105[106MT],40), der hier der Erzählung in Ex 9,13–35 über die Plage des Hagels, der auf die Ägypter niederprasselte, gegenübergestellt wird. Die Überschrift, das Monokolon 16,15, stellt eine Verbindung her zum vorangehenden Diptychon, besonders zu 16,13–14, und leitet zugleich in das ganze Diptychon ein.55 Dessen erster Teil (16,16–23) ist in zwei Absätze von je 12 Kola gegliedert: 16,16–19 und 16,20–23. Der erste Absatz bezieht sich auf die Gottlosen, der zweite, mit ἀνθ’ ὧν eingeleitete, auf die Gerechten (inclusio τρεφ- 16,20a – 16,23a). Sieben Lexeme des ersten Absatzes werden im zweiten wiederaufgenommen: ὑετ(16,c.22d); χαλαζ- (16,16c – 16,22c, eine weitere inclusio); πυρ- (16,16d.22a.c); φλεγ(16,19a.22c; das Verb φλέγω „aufflammen“ kommt sonst nirgends im Buch 52 Vgl. KOLARCIK, „Creation and Salvation in the Book of Wisdom“. 53 CORNELIUS A LAPIDE, Commentaria in Scripturam Sacram VIII, 591.531. 54 Vgl. PÉREZ FERNÁNDEZ, Miguel, Tradicciones mésianicas en el Targum palestinense, Valencia/ Jerusalem: San Jerónimo 1981, 61 Anm. 89. 55 Vgl. BIZZETI, Il libro della Sapienza, 93–95.

Weish 16,15–23

421

vor); δυναμ- (16,19a.22c); δικαι- (16,17c.23a); ἰσχυ- (16,16b.20c). „Feuer“ (16,16d.17b.19a.22a.c.27a) und „Wasser“ (16,17a.19a.29b) sind die beiden Leitwörter der ganzen Gegenüberstellung. Die gleichen Elemente haben unterschiedliche Effekte je nachdem, ob sie auf die Gerechten oder auf die Gottlosen einwirken, vgl. das in 16,17 genannte Prinzip. In beiden Absätzen wird je zweimal das Ziel von Gottes Handeln formuliert (ἵνα: 16,18b.19b.22b.23a). Der zweite Teil des Diptychons umfasst 16,24–29; sechs Kola über die Schöpfung, in der Mitte drei Kola darüber, was hier zu lernen ist (16,26; mit τρέφουσιν wird das Lexem τρεφ- von 16,20a.23a wieder aufgegriffen), und sechs Kola, die 16,20–23 aufnehmen, über das Manna (16,27–29).

Der erste Teil des Diptychons: Weish 16,15.16–19.20–23 15 Deiner Hand zu entfliehen ist aber unmöglich. 16 Die Gottlosen, die dich zu kennen leugneten, wurden durch die Kraft deines Armes gegeißelt, als sie durch ungewöhnliche Regengüsse und Hagelschläge und unerbittliche Wolkenbrüche verfolgt und von Feuer verzehrt wurden. 17 Das völlig Unerwartbare war: In dem alles löschenden Wasser gewann das Feuer immer mehr Wirkung; der Kosmos ist nämlich Kampfgenosse der Gerechten: 18 Bald mäßigte sich die Flamme, damit sie die gegen die Gottlosen losgelassenen Lebewesen nicht verbrannte, vielmehr sie selbst sähen und wüssten, dass sie durch Gottes Gericht gejagt werden. 19 Bald flammt sie auch mitten im Wasser auf, über die Macht von Feuer hinaus, damit sie eines ungerechten Landes Erträge umkommen lasse. 20 Stattdessen hast du dein Volk mit Engelnahrung ernährt, und fertig bereitetes Brot vom Himmel hast du ihnen unermüdlich gewährt, das jeden Genuss zu bieten vermochte und jedem Geschmack sich anpasste. 21 Die von dir gewährte Substanz ließ deine Süßigkeit gegenüber deinen Kindern aufscheinen; indem sie dem Begehren dessen, der sie zu sich nahm, diente, verwandelte sie sich (jeweils) zu dem, was jemand wollte. 22 Schnee aber und Eis hielten Feuer aus und schmolzen nicht, damit sie erkannten, dass die (Feld-)Früchte der Feinde ein Feuer vernichtete, das im Hagel aufflammt und in den Regengüssen durchblitzt, 23 dieses (Feuer) aber wiederum, damit die Gerechten ernährt würden, sogar seine eigene Macht vergisst.

422

Weish 16,15–23

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 20 Mit „unermüdlich“ wird hier *ἀκοπιάτως übersetzt, ein sehr seltenes Adverb (PHILODEMOS, de pietate, 15: ἀπολαύων ἀκοπιάτως, vgl. GOMPERZ, Theodor, Philodem über Frömmigkeit, Leipzig: Teubner 1866, col. VIII Z. 12–13, S. 82), das auf den Menschen bezogen werden kann, der keine harte Mühe hat, sich das Manna zu verschaffen (vgl. DUMOULIN, Entre la Manne et l’Eucharistie, 72 Anm. 58), oder auf Gott, den es keine Mühe kostet, das Manna zu geben; vgl. Jes 40,28LXX (οὐδὲ κοπιάσει). Für den Stoiker Kleanthes ist die Vorsehung ἀκάματος καὶ ἀκοπίατος „nicht ermüdend und unermüdlich“ (SVF I, 125 frg. 549). Nach einer ausführlichen Erörterung bezieht SCARPAT (Sapienza III, 206–207) ἀκοπιάτως auf das Verb παρέσχες, also auf Gott als Subjekt des Satzes. In 16,20c liest Lat anstelle von ἰσχύοντα omnem delectamentum in se habentem (vgl. Handschrift 534 ἔχοντα; V und einige Minuskeln lesen ἰσχύουσαν), dies scheint aber eine freie Wiedergabe zu sein. Das Partizip ἰσχύοντα hat hier die Funktion eines adjektivischen Attributs, begleitet von einem Akkusativ der Beziehung; ἰσχύω ist hier transitiv zu verstehen wie auch sonst in Weish (11,21; 13,1.9; 15,16; 19,20; vgl. SCARPAT, Sapienza III, 207): Das Manna vermag jeden Genuss zu bieten. Das Wort ἡδονή ist aus Num 11,8LXX übernommen und hat hier eher die Bedeutung „Geschmack, Genuss“ als „Lust, Vergnügen“. Das sehr seltene Adjektiv *ἁρμόνιος haben S und einige Minuskeln durch das geläufigere Substantiv ἁρμονία ersetzt. 21 Das Substantiv ὑπόστασις hat dem Verständnis Schwierigkeiten bereitet. Im stoischen Sprachgebrauch bezeichnet ὑπόστασις die Substanz bzw. das eigentliche Wesen einer bestimmten Sache (vgl. SVF II, 163 frg. 503); in SVF III, 267 frg. 8 dient ὑπόστασις dazu, die realen Substanzen den nur vorgestellten entgegenzustellen (zu Weish 16,21 schrieb CORNELIUS A LAPIDE: manna non erat phantasma, sed substantia ac res vere subsistens, Commentarius in Libro Sapientiae, Parisiis 1910, 542). Falls der Verfasser diesen philosophischen Sprachgebrauch im Sinne hat, beabsichtigt er wohl zu sagen, dass das Manna, obwohl es eine eigene Substanz besitzt, dennoch imstande ist, sich je nach dem Wunsch eines jeden, der es empfängt, zu verändern. Andererseits könnte er ὑπόστασις im einfacheren Sinne verstehen als „Mittel zum Lebensunterhalt“ (vgl. in der LXX Dtn 11,6; Ri 6,4; Ps 28,8) in Bezug auf das Manna, das den Israeliten das Überleben gestattete. Aber ὑπόστασις kann auch in einem absichtlich allgemeinen und unbestimmten Sinne verwendet werden (vgl. DUMOULIN, Entre la Manne et l’Eucharistie, 74–76). Im NT kommt ὑπόστασις nur in Hebr 1,3 vor, wo Jesus als Gottes Sohn „Ausprägung seines Wesens“ genannt wird. Die Verbform μετεκιρνᾶτο ist Imperfekt zu *μετακιρνάω, einem im Griechischen nur hier vorkommenden Kompositum. Das Simplex κιρνάω wird in der stoischen Vorstellung der krasis verwendet (s.o. den Kommentar zu 7,23.24; vgl. LARCHER, Sagesse III, 930) und bedeutet dort das „Sichmischen“ der Elemente (SVF II, frg. 473, S. 154 Z. 36; 155 Z. 1.37–38); das Kompositum in Weish 16,21c kann bedeuten „die Mischung verändern“ oder „sich verwandeln“ in etwas anderes (Lat.: convertebatur).

Synchrone Analyse 16,15–16: Es ist unmöglich, deiner Hand zu entfliehen!

In diesen Versen konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die über die Ägypter verhängte Strafe: Ausgehend von Dtn 32,39 und insbesondere Tob 13,2 formuliert 16,15 in einem ähnlichen Kontext (s. die vorhergehenden Verse 16,13–14) einen allgemeinen Grundsatz: Die Macht des Herrn hat auch im Jenseits keine Grenzen (vgl. Ijob 26,6; Ps 138[139MT],8).

Synchrone Analyse

423

16,16 greift die siebte Plage auf (Ex 9,13–35). Die Gottlosen (ἀσεβεῖς) werden beschrieben als Menschen, die sich weigern, Gott, der hier in der zweiten Person angesprochen wird, anzuerkennen (vgl. Weish 12,27c; Ex 9,34–35) und werden deshalb von der Strafe getroffen („gegeißelt“: dasselbe Verb in Weish 12,22a; Ex 5,14; vgl. 2Makk 9,11) „durch die Kraft deines Armes“, eine in ungewöhnlichem Sinne gebrauchte Formulierung (vgl. Jes 51,9LXX; 62,8, wo die Wendung in einem Heilskontext steht). Der Exoduserzählung entnimmt der Verfasser das Motiv, dass der Pharao sich weigert, Gott anzuerkennen, schmückt es aus und überträgt es auf die ganze Gruppe der „Gottlosen“. Die Aussendung der Plagen wird damit als ein Versuch von Seiten Gottes gesehen, sich als solcher Anerkennung zu verschaffen. In 16,16c wird die in Ex 9,13–35 beschriebene Plage ausgemalt, insbesondere werden die Regengüsse und die unerbittlichen Wolkenbrüche hervorgehoben (ὄμβρος kann auch „Überschwemmung“ bedeuten; *ἀπαραίτητος ist ein hapax der LXX; vgl. Philon, Deus 48: ἀπαραίτητος δίκη). 16,16d fügt noch die vernichtende Wirkung des Feuers hinzu, eine weitere Ausschmückung der biblischen Erzählung, die sich wohl an Ex 9,24 anlehnt: καὶ τὸ πῦρ φλογίζων ἐν τῇ χαλάζῃ. Zum Verb καταναλίσκω „verzehren, auffressen“ vgl. Dtn 4,24, wo Gott ein verzehrendes Feuer“ genannt wird. Philon (Mos. I, 118–119) schmückt diese Plage in ähnlicher Weise aus und setzt dabei wohl eine gleichartige Midraschexegese voraus. Mit 16,17 beginnt eine theologische Reflexion über das Geschehene; 16,17c bildet das Zentrum des kleinen Absatzes (16,16–19). 16,17a-b beschreibt einen ganz außergewöhnlichen Vorgang (τὸ παραδοξότατον; vgl. 5,2b; 14,5a): Im Wasser, das (sonst) alles löscht, gewinnt das Feuer eine immer größere Kraft.56 Im Blick auf Ex 9,24 zeigt sich der Verfasser beeindruckt vom gleichzeitigen Vorhandensein von Feuer und Hagel (Wasser). Die in 16,17c daraus gezogene Schlussfolgerung lässt deutlich werden, dass er das Feuer ansah als ein „Element“ des Kosmos, der dem Willen des Schöpfers folgt. Die Plage des Hagels wird zu einem Wunder, in dem sich der tiefere Sinn des Kosmos zeigt: an der Seite Gottes ein Kampfgenosse (ὑπέρμαχος; vgl. 10,20c) der Gerechten zu sein (16,17c; vgl. 5,17–20). Dies ist ein wichtiger Punkt in der theologischen Perspektive des Verfassers: die Heilsbedeutung der Schöpfung, von der bereits im programmatischen Proömion des Buches in 1,13–15 die Rede war. Es ist sehr schwer zu sagen, an welche Einzelheiten der Exoduserzählung der Verfasser bei 16,18–19 gedacht haben mag. Nach Chrysostome Larcher handelt es sich hier um ein Beispiel „kumulativer Exegese“;57 denn 16,18–19 verschmelzen die Exoduserzählung von der Hagel- mit der Heuschreckenplage, wie es bereits in Ps 77[78MT],46–48 geschieht. So ist dasselbe Feuer imstande, schwächer zu werden, um die Heuschrecken nicht zu verbrennen (ποτὲ μέν 16,18a) und auch, stärker zu werden, um die Ernten der Ägypter zu vernichten (ποτὲ δέ 16,19a; vgl. Ex 9,25), so dass diese begreifen konnten, dass es Gottes Gericht war, das sie traf, und sich bewusst wurden, dass Gott ihnen die Strafe geschickt hatte. 16,20 leitet, wiederum mit ἀνθ’ [ὧν], die Beschreibung des anderen Teils der Gegenüberstellung ein: Für „dein Volk“ regnen vom Himmel nicht Blitze und Hagel, sondern „Engelnahrung“, das Manna – es wird jedoch nie mit diesem Namen

56 Zur theologischen Bedeutung von ἐνεργέω vgl. SCARPAT, Sapienza III, 203–204. 57 Sagesse III, 921–922.

16,17: Der Kosmos als Verbündeter der Gerechten

16,18–19: Das Wirken Gottes erkennen

16,20: Brot der Engel

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Weish 16,15–23

bezeichnet –, eine Speise, mit der Gott Israel ernährt wie es Eltern mit ihren eigenen Kindern tun (ψωμίζω mit dem Objekt Manna auch in Dtn 8,3.16). Der Ausdruck „Brot von Engeln“ stammt aus Ps 77,25LXX und gibt „Brot von Starken“ in Ps 78,25MT wieder: Das Manna ist also eine Speise, die nicht dem irdischen Bereich zugehört. Nach Tob 12,19 essen die Engel nicht; die Vulgata ersetzt das Versende „vielmehr wurde von euch eine Vision geschaut“ des griechischen Textes von Tob 12,19 durch: sed ego cibo invisibili et potu qui ab hominibus videri non potest, utor „sondern ich verwende eine unsichtbare Speise und einen Trank, der von Menschen nicht gesehen werden kann“.58 Engel werden einzig hier im Buch der Weisheit erwähnt, wie auch der διάβολος nur in 2,24. Das Manna ist „Engelnahrung“, weil es vom Himmel kommt (vgl. Ps 104[105MT],40, aber bereits nach Ex 16,4 lässt Gott Brot vom Himmel regnen: ὕω ὑμῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ), d.h., das Manna kommt von Gott selbst, der es unermüdlich gewährt. Es wird in Weish 16,20 aber nicht ἄρτος „Brot“ genannt wie in Ps 77[78 MT],25, sondern „Nahrung“ (τροφή); damit wird auf das Hauptthema von Kap. 16 verwiesen und der eschatologische Ausblick in Weish 19,21 (s.u. den Kommentar dazu) schon vorbereitet. Es handelt sich um eine bereits fertige Speise: ἕτοιμον ἄρτον παρέσχες (vgl. Ps 77[78 MT],19.20: ἑτοιμάσαι τράπεζαν); der Verfasser lässt die Verarbeitung des Manna durch die Israeliten am Tag vor dem Sabbat nach Ex 16,23 unbeachtet. Das Adverb ἀκοπιάτως erinnert an Weish 6,14, wonach der Mensch keine Mühe aufzuwenden braucht (οὐ κοπιάσει), um die Weisheit zu finden. Hier könnte ein Hinweis auf eine gewisse Beziehung zwischen dem Manna und der Figur der Weisheit zu finden sein. Nach Weish 7,27 ist die Weisheit, obwohl sie eine einzige ist und sich selbst gleich bleibt, zu jeder Wirksamkeit in der Lage, so wie das Manna nach 16,20c jeden Geschmack annehmen kann. In 16,21–23 wird die Reflexion über die Beziehung zwischen Manna und 16,21–23: Das Manna und Schöpfung vertieft, ein Thema, das in den älteren biblischen Texten nur implizit die Schöpfung vorhanden ist (nach Ex 16 und Num 11 folgt das Manna einem Siebentage-Rhythmus und berücksichtigt so den Sabbat). In den ältesten jüdischen Überlieferungen wird das Manna als etwas betrachtet, das seit dem Beginn der Schöpfung existiert (so im Tg. Yer. I zu Ex 16,15; Tg Ps-J. zu Num 22,28); aus diesem Grunde stellt das Manna eine außergewöhnliche Speise dar. In Weish 16,21 bezieht sich das Wort ὑπόστασις nicht auf Gott, wie die Mehrzahl der antiken Ausleger dachte, die darin sogar einen Hinweis auf die Trinität sahen,59 sondern auf das Manna selbst. Die Bedeutung von ὑπόστασις genau auszumachen ist ziemlich schwierig (s.o. die Anmerkungen zum Text): Man könnte an „Substanz“ oder „Mittel zum Lebensunterhalt“ denken (der Verfasser könnte Texte wie Ri 6,4 oder Ps 38[39MT],8 im Sinn gehabt haben). Der Ausdruck erlaubt es dem Verfasser, unbestimmt zu bleiben bezüglich der genauen Natur des Manna, das je nach Wunsch sich ändern kann und dem Menschen etwas Außerordentliches offenbart: Es gestattet ihm, Gott und seine Süßheit (γλυκύτης) zu „kosten“, ein Motiv, das von Ex 16,31 und Num 11,8 angeregt war; der süße Geschmack des 58 Vgl. auch NICKLAS, „Food of Angels“; ZSENGELLÉR, „Interpretation of Exodus and Manna“. 59 Vgl. DUMOULIN, Entre la Manne et l’Eucharistie, 169–170; eine knappe Übersicht über die Geschichte der Auslegung findet sich bei LARCHER, Sagesse III, 927. GRIMM (Weisheit, 270) sieht hier eine Bezugnahme auf das Wesen Gottes selbst („kann nur seyn Gottes Wesen…“).

Diachrone Analyse

425

Manna wird für den Verfasser zu einem spürbaren Zeichen der Süßheit Gottes gegenüber seinen Kindern, eine in der Bibel sicher originelle Vorstellung (vgl. Ps 33[34MT],9; 118[119 MT],103 und im NT 1Petr 2,3).60 Das Thema des „Wunsches“ (ὅ τις ἐβούλετο) greift auf das zweite Diptychon zurück (s.o. den Kommentar zu 16,2), hier jedoch wird der Wunsch als ein etwas Positives betrachtet, dem Gott selbst entgegenkommt. Der Wechsel der Eigenheiten wie des Geschmacks (16,21c) bezeugt die Herrschaft Gottes über den Kosmos, hier zugunsten der Gerechten. 16,22–23 bereiten, wie 16,18–19, der Deutung Schwierigkeiten. Das Manna wird kühn in die Nähe von Schnee und Eis gerückt; dabei stützt sich der Verfasser wohl auf Ex 16,14LXX (ὡσεὶ πάγος) und auf Num 11,7 (εἶδος κρυστάλλου);61 vgl. Philon, der in Mos. I, 20 das Manna mit Schnee vergleicht. In jedem Falle hält der Verfasser das Manna für etwas dem Schnee und Eis Ähnliches, und das gestattet ihm, in 16,22a hervorzuheben, dass es trotz des Feuers nicht schmilzt, sondern unverändert bleibt (ὑπέμεινεν). Beim „Feuer“ ist nicht klar, ob es sich um die Hitze der Sonne oder um das Feuer handelt, das man zum Kochen und Backen des Manna angezündet hatte (vgl. Ex 16,23; Num 11,8). In 16,22c-d sind die Israeliten das implizite Subjekt; was mit dem Manna geschieht, das im Feuer nicht schmilzt, lässt das ihm gegenübergestellte Phänomen noch auffälliger werden: Das Feuer, das im Hagel brennt (vgl. Ex 9,24LXX) und aufflammt (*διαστράπτω) im Regen (d.h. der Blitz), ist im Gegensatz dazu in der Lage, die Ernten der Feinde, nämlich der Ägypter, zu vernichten (vgl. Weish 16,19b). 16,23 stellt eine weitere Erläuterung zu 16,22a dar: Das Feuer vergisst seine spezifische Eigenschaft, damit die Gerechten Nahrung erhalten. Während der erste Absatz des Diptychons (16,15–19) mit den „Ungerechten“ schloss (16,19b), endet der zweite Absatz mit der Beschreibung der Wohltaten, die Gott den „Gerechten“, d.h. den Israeliten, gewährte.

Diachrone Analyse Bei der Beschreibung der Plage von Ex 9,13–35 geht der Verfasser in einer bemer- 16,18–19 kenswerten Weise vor: Er schmückt die biblische Erzählung aus und verleiht der Exoduserzählung eine noch größere theologische Dichte. Denn das Buch Exodus neigt dazu, die Plagen als Naturphänomene zu beschreiben, deren Außergewöhnlichkeit in ihrer Häufung und ihrem Ausmaß liegt, die deren Herkunft von Gott her zeigen. Im Buch der Weisheit ist jedoch das Unerwartbare (τὸ παραδοξότατον 16,17a) die Veränderung, oder besser: der Austausch der Eigenschaften der Elemente untereinander. Der Verfasser bedient sich der physikalischen Theorien sei60 Zu möglichen Reminiszenzen an Xenophon in 16,21a-b s. SCARPAT, Sapienza III, 208. Es ist nicht angebracht, „deine Süßigkeit“ auf das Manna zu beziehen, wie ZIEGLER, Joseph, „Dulcedo Dei: Ein Beitrag zur Theologie der griechischen und lateinischen Bibel“, ATA XIII,2 (Münster 1937), 15, vorschlägt. 61 SKEHAN, „Borrowings from the Psalms“, 397, nimmt eher eine Abhängigkeit von den in Ps 148,8 genannten Elementen an, die neben das Wort Gottes gestellt werden – hier neben das Manna.

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Weish 16,15–23

ner Zeit, um zu zeigen, dass der Kosmos tatsächlich „Verbündeter“ Gottes zugunsten der Gerechten ist (vgl. 16,17c und unten 16,24). Wie es erst in einigen späteren, rabbinischen Überlieferungen belegt ist (vgl. 16,20–23 Mekilta zu Ex 16,23, aber vor allem Tbab Yoma 75a),62 stellt der Verfasser sich das Manna als eine wunderhafte Nahrung vor, die sich jedem Geschmack anpassen kann (vgl. 16,21c); er geht damit über die Exoduserzählung (vgl. Ex 16,31 und Num 11,8 in Bezug auf den Geschmack des Manna) hinaus und verleiht der Erzählung eine auch Philon unbekannte Perspektive. Das Manna wird so Symbol der Gabe Gottes, die auf jede Erwartung der Menschen antwortet (der gleiche Gedanke wurde schon in 16,2–3 skizziert), und offenbart zugleich Gottes „Süßheit“ (16,21a).63 Die vom Verfasser ausgedrückte Vorstellung findet sich entsprechend auch in einigen Midrasch-Texten (vgl. Shem. Rab. zu Ex 16,4). Manna und Kosmos

In der philosophischen, vom Stoizismus beeinflussten allegorischen relecture Philons wird das Manna eher als eine Allegorie des Logos Gottes gedeutet (Leg. II, 86; III, 175; Det. 118), der die Menschen lehrt, dass Gott die Ordnung der Elemente umkehren und damit zur ursprünglichen Schöpftungstätigkeit zurückkehren kann (vgl. Mos. II, 267).64 Zwei Texte Philons über das Manna zeigen mit dem Text des Buches der Weisheit gemeinsame Züge: In Mos. I, 201 schreibt Philon, dass „die ganze Welt und ihre Bestandteile Gott unterworfen ist zu jeder Verwendung, zu der er sie einsetzen will, da sie wie Sklavinnen sind, die ihrem Gebieter gehorchen (ὡς δεσπότῃ δοῦλα ὑπηρετήσοντα)“ und in I, 143: „Am erstaunlichsten war, dass durch die gleichen [Plagen] am selben Ort und zur gleichen Zeit die einen vernichtet und die anderen gerettet wurden“; diese Vorstellungen kommen denen in Weish 16,17–19.22–23.24–25 sehr nahe: Die Schöpfung steht im Dienst Gottes, um die Gerechten zu belohnen und die Bösen zu bestrafen. Für Philon wie für das Buch der Weisheit setzt die Gabe des Manna einen erneuerten Kosmos voraus.65 Der Verfasser zeigt auch seine Kenntnis der stoischen Überlegungen zur Ordnung und zur Mischung der Elemente, die in der dem Stoizismus eigenen Perspektive sich ineinander verwandeln können;66 aber das Manna ist in diesen Versen eher Symbol dafür, dass die inneren Gesetze des Kosmos, die zwar als bestehend anerkannt und dem Menschen verständlich sind, tatsächlich doch zweitrangig sind im Verhältnis zum Schöpfer, der ihnen überlegen ist und sie überschreitet und der der wahre Urheber jeder Verwandlung ist (vgl. 16,22–23). Das Manna ist für den Verfasser das Zeichen

62 Vgl. GINZBERG, The Legends of the Jews, VI, 17 Anm. 99; WINSTON, Wisdom, 299; DUMOULIN, Entre la Manne et l’Eucharistie, 59–60; vgl. auch MALINA, Bruce J. The Palestinian Manna Tradition, Leiden: Brill 1968. Zu einigen patristischen Zeugnissen vgl. LARCHER, Sagesse III, 926. 63 Es ist möglich, an eine Polemik gegen die Verwendung besonderer Getränke innerhalb einiger Mysterienkulte zu denken, wie z.B. des κυκεών, eines Mischtranks aus Wasser, Getreide u.a. (möglicherweise auch Drogen), der den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an den eleusinischen Mysterien gereicht wurde. Dazu s. DUMOULIN, Entre la Manne et l’Eucharistie, 136–143. Zu den rituellen Getränken und Speisen innerhalb der Mysterienkulte vgl. außer der von DUMOULIN angegebenen Bibliographie, DELATTE, Armand, Le cycéon, breuvage rituel des mystères d’Eleusis, Paris: Les Belles Lettres 1955; BURKERT, Ancient Mystery Cults, 108.110 mit den Anmerkungen. 64 Vgl. DUMOULIN, Entre la Manne et l’Eucharistie, 79–85. 65 Vgl. BEAUCHAMP, „La cosmologie religieuse“, 197. 66 Vgl. VÍLCHEZ LÍNDEZ, „El libro de la Sabiduria y la doctrina de la transmutación“.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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dieser außerordentlichen Begegnung zwischen Geschöpf und Schöpfer, eine ausgezeichnete Synthese von biblischer Offenbarung und griechischer Kosmologie.67

Der zweite Teil des Diptychons: Weish 16,24–29 24 Die Schöpfung nämlich, die dir, der sie gemacht, dient, strengt sich an zur Bestrafung gegen die Ungerechten und entspannt sich zum Wohltun für die, die auf dich ihr Vertrauen gesetzt haben. 25 Deshalb diente sie auch damals, als sie sich in alles (Gewünschte) veränderte, deinem alle ernährenden Geschenk nach dem Willen derer, die (darum) flehten, 26 damit deine Söhne, die du liebst, Herr, lernten, dass nicht (verschiedenen) Arten von Früchten den Menschen nähren, sondern dein Wort die dir Vertrauenden bewahrt. 27 Das vom Feuer nicht Zerstörte nämlich schmolz einfach, wenn es von einem kurzen Sonnenstrahl erwärmt wurde, 28 damit erkennbar sei, dass man der Sonne zuvorkommen muss mit dem Dank an dich und beim Aufgang des Lichtes sich an dich wenden. 29 Des Undankbaren Hoffnung nämlich wird schmelzen wie winterlicher Reif und zerrinnen wie unnützes Wasser.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 25 Das Partizip μεταλλευομένη stellt nach LARCHER (Etudes, 182) ein Anzeichen der dürftigen Griechischkenntnisse des Verfassers dar, der hier μεταλλεύω „nach Wasser, Erzen, Metallen graben“ mit μεταλλοιόω „umändern“ verwechsle; vgl. SCARPAT, Sapienza I, 486 zu Weish 4,12. Anderer Meinung ist REESE, Hellenistic Influence, 29, der eine Verwendung von μεταλλεύομαι im Sinne von „einer Änderung unterliegen“ annimmt. Der Ausdruck τῇ παντοτρόφῳ σου δωρεᾷ ist schwierig; *παντοτρόφος ist nur einmal in einem Aischylos-Fragment (frg. 192,4 NAUCK) belegt; aber Philon kennt das Adjektiv παντρόφος als Attribut der Weisheit (Congr. 174); gibt man δωρεά mit „Geschenk“ wieder (so schon GRIMM, der das Substantiv mit „Gabe“ übersetzt), ergibt sich die Bedeutung „deinem Geschenk, das alle ernährt“, so wie das Wort Gottes alle heilt (Weish 16,12). Bei τῶν δεομένων kann man an die denken (vgl. 8,21), die etwas erflehen (vgl. Ijob 8,5), die Gott um das Geschenk der Speise bitten. So haben einige alte Übersetzungen den Ausdruck verstanden, die das Pronomen σου, das sich offensichtlich auf Gott bezieht, hinzufügen (vgl. den Apparat bei ZIEGLER). 67 Vgl. DUMOULIN Entre la Manne et l’Eucharistie, 95.

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Weish 16,24–29

Synchrone Analyse 16,24: Die Der letzte Absatz des Diptychons kehrt noch einmal zum Thema der Schöpfung Gott gehor- zurück (16,24) und spricht dann vom Manna als Zeichen des Wortes Gottes (16,25– chende 26) und des Gebetes (16,27–29). Schöpfung 16,24 nimmt die schon in 16,21 beobachtete Vorstellung wieder mit dem Verb

16,25–26: Manna und Wort Gottes

16,27–28: Manna und Gebet

ὑπηρετέω auf: Die Schöpfung steht im Dienst Gottes. Den beiden Verben ἐπιτείνω und ἀνίημι (s.u.) fügt der Verfasser eine doppelte Zielsetzung hinzu: εἰς κόλασιν und εἰς εὐεργεσίαν; um die Ungerechten zu bestrafen und denen, die auf dich vertrauen, Wohltaten zu erweisen. Zum sechsten Mal findet sich hier diese Gegenüberstellung (vgl. 3,4–5; 11,5.13; 16,2.9–11.24). Mit 16,25 kehrt der Text wieder zum Manna zurück. Dieses ist der Beweis dafür, dass die Schöpfung sich allem anpasst (vgl. 16,24); der Sinn ist wohl, dass das Manna imstande ist, die verschiedensten Eigenschaften anzunehmen. Die Schöpfung stellt sich in den Dienst dessen, was hier „dein alle nährendes Geschenk“ genannt wird. Es ist aber nicht das Manna als solches, das alle ernährt, sondern die Freigebigkeit Gottes, eben sein Geschenk, für das das Manna ein handgreifliches Zeichen ist, das denen, die darum bitten, zuteilwird. Damit wird das Manna zu einem Lehrstück für Israel (vgl. 16,26a „damit sie lernten …“), das hier mit „deine Söhne, die du liebst“ umschrieben wird (vgl. Hos 11,2; Mal 1,2); in dem „du“ wird die den dritten Buchteil prägende Lobgebetsform weitergeführt, und die Sprache wird besonders herzlich und ergreifend. So lehrt das Manna Israel, sich dem Wort Gottes anzuvertrauen, ein Thema, das auch schon im vorangehenden Diptychon vorkam (16,7.12b), vor allem (16,25– 26), weil das Manna ein konkretes, handgreifliches Symbol der Wirksamkeit des Wortes Gottes ist, das den Menschen, der ihm vertraut (16,26c; vgl. Dtn 8,3), nährt. Das Manna lehrt sodann die Süßheit Gottes (16,21), das Gericht über die Gottlosen (16,22), die Tatsache, dass die Schöpfung im Dienste Gottes steht (16,24), dass man Gott anflehen und ihm danken soll (16,28). In den Texten Philons über das Manna wird die Lehrdimension noch viel weiter ausgedehnt, vgl. den ganzen Abschnitt Mos. I, 200–299. Ausgehend von einer Einzelheit in Ex 16,21 (das Manna musste gesammelt werden, bevor es unter der Sonnenhitze schmolz) ziehen 16,27–29 aus der MannaEpisode eine letzte, wichtige Lehre über das Bittgebet und das Danken. 16,27 erweitert die Bemerkung in Ex 16,21 beträchtlich: Das Manna, das beim Gekochtwerden dem Feuer widersteht (16,27a), schmilzt jedoch schon bei den ersten Strahlen der Sonne (16,27b). So lernen die Israeliten, dass man Gott noch vor Sonnenaufgang danken und anflehen soll (16,28). In 16,28 erscheint auch das Wort εὐχαριστία, das in der LXX nur sehr selten vorkommt (Est 8,12d [= Est E 4]; Sir 37,11; 2Makk 2,27), aber dann eines der Schlüsselwörter werden wird, die die neutestamentliche Religiosität ausdrücken. Wenn in 16,29 vom Undankbaren gesprochen wird, bestätigt das die Bedeutung von εὐχαριστία als „Dank(-Bezeugung)“ an Gott, der hier wieder in der zweiten Person angesprochen wird. Die Parallelität zum Infinitiv ἐντυγχάνειν in 16,28b veranlasst dazu, εὐχαριστία hier als eine Art „Dankgebet“ zu verstehen und nicht als einfaches Dankeschönsagen. Dass in 8,21 zusammen mit ἐντυγχάνω ebenfalls die Wörter χάρις und δέομαι vorkommen, könnte auf eine weitere Beziehung zwischen Manna und Weisheit hinweisen, um die ja in Weish 9 gebetet wird.

Diachrone Analyse

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Bei Philon ist die Tendenz zu beobachten, das für die LXX bezeichnendere Verb εὐλογέω durch das Verb εὐχαριστέω zu ersetzen.68 Auch für Philon ist eine unaufhörliche εὐχαριστία „Danksagung“ eine Pflicht des Menschen (Spec. I, 297); aber er bringt diese nie mit dem Manna in Verbindung, wie es im Buch der Weisheit geschieht. In 16,28b hat es nicht den Anschein, als ob der Verfasser an Gebetsformen denke, bei denen der Beter sich zur Sonne hin wendet, sondern einfach an ein Gebet, das vor Sonnenaufgang verrichtet wird (vgl. „das Morgenrot wecken“ in Ps 56[57MT],9, wie es auch sonst in der Bibel und der alten jüdischen Tradition bezeugt ist.69 Der Verfasser betont die Verpflichtung zu einem solchen Gebet in der Morgenfrühe und verbindet sie – und darin liegt die Neuheit – mit dem Geschenk des Manna. Im Gegensatz dazu veranschaulicht 16,29 in zwei poetischen Vergleichen das Verhalten und Ergehen des Undankbaren (ἀχάριστος). Seine Hoffnung schmilzt genau wie das Manna unter den ersten Strahlen der Sonne (16,27b). Die Nennung des winterlichen (*χειμέριος) Reifs (πάχνη) ist eine Art flashback auf 5,14b und geschieht wie dort in Bezug auf die Hoffnung des Gottlosen. Im zweiten Vergleich der Hoffnung des Undankbaren, nämlich mit unnützem Wasser, fällt die Alliteration und Assonanz zwischen dem ersten und dem letzten Wort von 16,29 auf: ἀχάριστον … ἄχρηστον. Ohne ein Verhalten der Dankbarkeit lösen sich die von Gott gewährten Güter in Nichts auf. Die Beziehung zu 5,14 und die Erwähnung der Hoffnung sorgen dafür, dass das Manna-Diptychon mit einer wenigstens teilweise eschatologischen Andeutung schließt, die deren Entfaltung in 19,21c über das Manna als Speise der Unverderblichkeit vorbereitet und vorwegnimmt.

16,29: Die nutzlose Hoffnung des Undankbaren

Diachrone Analyse Die in 16,24 gewählten Wörter sind wieder stoischer Herkunft: ἐπιτείνεται καὶ 16,24 ἀνίεται („sie strengt sich an und entspannt sich“); ἐπιτείνω und ἀνίημι werden eigentlich von den Saiten eines Instruments oder eines Bogens ausgesagt; in der stoischen Kosmologie drücken sie die Vorstellung vom Zusammenhalt der Elemente und der Harmonie des Universums aus (vgl. SVF II, 129 frg. 393 Z. 37–38 in Bezug auf die Eigenschaften der Dinge; III, 141 frg. 525 bezüglich der Tugenden). Nach der stoischen Konzeption sichert die Anspannung der Energien die Beständigkeit einer Substanz und ihrer wesentlichen Eigenschaften; ihre Entspannung dagegen gestattet einer Substanz, Wirkungen anderer Substanzen aufzunehmen oder von ihnen durchdrungen zu werden.70 Das Paar ἄνεσις καὶ ἐπίτασις begegnet auch bei Philon (QG 2,64), immer in kosmologischem Zusammenhang; in Mos. I, 201 taucht das Prinzip auf, dass die Elemente der Welt im Dienst Gottes stehen werden ([τὰ τοῦ κόσμου μέρη ὡς δεσπότῃ δοῦλα] ὑπηρετήσοντα).71 Weish 68 CONZELMANN, Hans, εὐχαριστέω, ThWNT IX, 400. 69 Vgl. die Erörterung bei LARCHER, Sagesse III, 941–942 und die von ihm angeführten Texte. 70 LARCHER, Sagesse III, 935, spricht von einer wirklichen potentia oboedientialis der Schöpfung gegenüber ihrem Schöpfer. 71 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 934–936; WINSTON, Wisdom, 300, und die dort angeführten Texte.

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Weish 16,24–29

16,24 bleibt aber eher unbestimmt und beabsichtigt nicht, präzise philosophische Theorien vorzutragen, sondern möchte das seit dem Anfang des Buches mehrfach geäußerte Prinzip bekräftigen (1,14; 5,17–20; wiederaufgenommen in 11,5.15–16), dass die Schöpfung Vermittlerin des Heils für die Gerechten und der Strafe für die Gottlosen ist. Die Gegenüberstellung bestrafen – Wohltaten erweisen (vgl. den Kommentar zu Weish 16,11 für die Beziehung zu den hellenistischen Traktaten über das Königtum) wird von Philon verwendet, um das Verhalten Gottes gegenüber dem Menschen zu beschreiben (Deus 80; Sacr. 131.133), jedoch eines Gottes, der eher geneigt ist zum Erweisen von Wohltaten als zum Bestrafen (Mut. 129; Fug. 65–66). Die Bemühung Philons scheint dahin zu gehen, die beiden gegensätzlichen Vorstellungen vom Handeln Gottes miteinander in Einklang zu bringen: die stoisch-hellenistische Vorstellung, dass ein Gott nur Gutes bewirkt, und die typisch biblische Annahme, dass Gott das sittlich Üble bestraft. Sowohl Philon als auch der Verfasser des Buches der Weisheit sind überzeugt, dass Gott barmherzig, weil allmächtig, ist, und dass eine solche Allmacht sich darin entfaltet, dass Gott seiner Schöpfung, insbesondere dem Menschen, Wohltaten erweist; die Strafe ist nie Ziel an sich, sondern zielt immer auf Umkehr. Das Buch der Weisheit betont dabei sehr viel stärker als Philon die Geschichte und gründet gerade auf die Vergangenheit Israels seine eschatologischen Überlegungen; dabei verzichtet er völlig auf eine allegorische Auslegung.72 Es ist also der Hintergrund der Geschichte Israels mit seiner Fülle von Erzählungen über das zugleich rettende und bestrafende Wirken Gottes, das den Verfasser des Buches der Weisheit dazu veranlasst, den von ihm auch auf die Bestrafung gelegten Akzent nicht zu vernachlässigen. Damit setzt er sich teilweise von Philon, aber auch vom Aristeasbrief und von hellenistischen Auslegungen ab, die er jedoch kennt und benutzt.73 16,25–26 Der Verfasser geht hier von Dtn 8,2–3 aus, formt den Text aber um in eine Anrede an Gott und fügt einen ausdrücklichen Bezug auf seine Liebe hinzu. Die Verbindung zwischen Dtn 8,2 und dem Manna ist der jüdischen Tradition geläufig, vgl. BYoma 76a).74 Dtn 8,3 wird breiter ausgeführt und in einen neuen Kontext versetzt. Im ganzen Buch der Weisheit bedeutet das Wort Gottes viel mehr als das Wort des mosaischen Gesetzes. Die Verwendung von διατηρέω (vgl. 11,25b) verweist sodann auf ein Wort Gottes, das die ganze Schöpfung im Dasein bewahrt und das demnach viel mehr bewirkt, als dem Menschen Rettung und Heil zu gewähren. Das Manna wird zur sinnlich wahrnehmbaren Darstellung des Wortes Gottes.75 Die Verknüpfung der Gabe des Manna mit dem Dankgebet ist eine weitere 16,28 Neuheit des Buches der Weisheit. In Ps 105,40MT wird das Manna beschrieben 72 Im Gegenteil: „Philo’s conception of the world historical process appears to be strictly impersonal. The sequence of world empires is determined by a cosmic principle of equality, a fundamental characteristic of the divine Logos“, WINSTON, „A Century of Research“, 13–14. 73 Vgl. MAZZINGHI, „The antithetical pair ‚to punish‘ and ‚to benefit‘“, passim. 74 Nach MALINA, The Palestinian Manna Tradition, 76, würden Weish 16,26, Tg. N. zu Dtn 8,3 und der LXX-Text von Dtn 8,3 selbst von einer gemeinsamen mündlichen Überlieferung zu Dtn 8,3 abhängen. 75 DUMOULIN, Entre la Manne et l’Eucharistie, 113.

Synthese von Weish 16,15–29

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als Antwort auf die „Anfrage/Forderung“ der Israeliten76 und ist, wie auch in Ps 77[78MT],24–25, in einen weiten Kontext des Lobpreises eingefügt. Sifrè Num. 89 vermerkt, dass das Sammeln des Manna gleich nach dem Morgengebet und der Rezitation des shemac erfolgte.77 Wofür soll man danken? Der Verfasser sagt es nicht, aber der Kontext der Kapitel 10–19 lässt an das ganze Wirken Gottes bei der Schöpfung und in der Geschichte denken.

Synthese von Weish 16,15–29 Das Manna vereint in sich die beiden Hauptperspektiven, die die sieben Gegenüberstellungen prägen: die soteriologische und die kosmologische. Es weist voraus auf den Schluss des Buches (vgl. 19,21c), der eine letzte Bemerkung über den eschatologischen Aspekt des Manna enthält. Das Ganze ist in diesem Diptychon in eine tiefgründige Atmosphäre von Lob und Gebet eingebettet. Ein großer Teil des Wortschatzes im vierten Diptychon spiegelt Ausdrücke und Vorstellungen, die der hellenistischen Kosmologie eigen sind, insbesondere dem Stoizismus. Dennoch lässt sich der Verfasser nicht dazu bringen, einem bestimmten philosophischen System zu folgen, wie es bei Philon geschieht, der immerzu das Manna als Allegorie des Logos Gottes und der den Kosmos bestimmenden Gesetze deutet. Für den Verfasser hingegen ist das Manna nie eine Allegorie, vielmehr ein Symbol, ein Zeichen, wie die eherne Schlange im vorangehenden Diptychon. Innerhalb seines Bemühens um Aktualisierung gelingt es ihm, sich der hellenistischen Kultur zu bedienen und gleichzeitig den biblischen Texten und den jüdischen Überlieferungen treu zu bleiben. Der Reichtum des Manna-Motivs findet sich in zwei Texten des NT wieder: in der Rede über das Lebensbrot (Joh 6) und im Rückgriff des Apostels Paulus auf die Exodusereignisse in 1Kor 10,1–6), wo Paulus von einer „geistgeschenkten Speise“ (πνευματικὸν βρῶμα) spricht. Sowohl Johannes als auch Paulus könnten Weish 16,20–29 gekannt haben.78 Jedenfalls wird dieser Text eine ansehnliche Nachwirkung in der Deutung der Kirchenväter und den liturgischen Überlieferungen der Alten Kirche haben, wo er als Bild und Prophetie des Sakraments der Eucharistie verstanden wird.79 Im Licht der Figur des Manna, wie sie im Buch der Weisheit dargestellt wird, erscheint auch die Eucharistie als ein Zeichen, das Gott in der Schöpfung errichtet hat, eine zugleich himmlische und irdische Speise, die allem Verlangen des Menschen entspricht, eine vom Wort Gottes untrennbare Speise und Gipfel jedes möglichen Dankgebetes, das der Mensch an Gott richten kann für die von ihm empfangenen Gaben.

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ׁ zu lesen ‫שאלו‬ ׁ „sie fragten/forderten“. Mit den alten Übersetzungen ist anstatt ‫שאל‬ Vgl. GINZBERG, The Legends, VI, 17, Anm. 101. So DUMOULIN, Entre la Manne et l’Eucharistie, 156–160. Vgl. DUMOULIN, Entre la Manne et l’Eucharistie, 165–198. In der römisch-katholischen Liturgie wird üblicherweise am Ende einer eucharistischen Anbetung ein Text gesungen, der fast ganz der lateinischen Wiedergabe von Weish 16,20 entspricht: panem de coelo praestitisti eis, omne delectamentum in se habentem „Brot vom Himmel hast du ihnen gegeben, das allen Wohlgeschmack in sich enthält“.

Weish 17,1 – 18,4: Die fünfte Gegenüberstellung: Finsternis und Licht Zur literarischen Struktur von Weish 17,1 – 18,41 Das fünfte Diptychon stellt eine relecture der Plage der Finsternis dar, die in Ex 10,21–23 erzählt wird. Dabei gestaltet Weish 17 drei in der biblischen Erzählung bereits vorhandene Elemente weiter aus: die außergewöhnliche Dauer der Finsternis, ihre außerordentliche Dichte und die Unmöglichkeit für die Ägypter, einander zu sehen und sich zu bewegen. Weish 18,1–4 entfaltet noch ein viertes Element: das Licht, das den Israeliten leuchtet (vgl. 17,20). Verglichen mit den Traditionen über die Plage der Finsternis, die aus den ältesten Targumim und Midraschim bekannt sind, zeigt sich das Buch der Weisheit durchaus originell und bietet eine umfassendere Reflexion, die vor allem durch eine eindringliche psychologische Perspektive gekennzeichnet ist; ein ähnliches Interesse ist z.B. in den Testamenten der zwölf Patriarchen zu beobachten, fehlt aber auch nicht bei Philon:2 Die Finsternis, die über Ägypten hereingebrochen ist, wird zum Zeichen der Angst, die die Ägypter und ihre Zauberer befallen hat. Die Beachtung der psychologischen Dimension dient der Vermittlung einer bestimmten theologischen Aussage.3 Der Verfasser verwendet die Sprache der griechischen καταβάσεις, der Erzählungen über den Abstieg eines Helden in die Unterwelt.4 Zwei andere Schlüssel für das Verständnis des Diptychons sind der häufige Gebrauch von Mysterienterminologie und gleichzeitig ständige Anspielungen auf die magischen Praktiken, die typisch waren für das hellenistische Ägypten. In dieser Weise aktualisiert der Verfasser die biblische Erzählung der Plage der Finsternis auf die Umwelt der Adressaten seines Buches hin. Der Text Weish 17,1 – 18,4 ist nicht leicht zu verstehen; in nur 25 Versen tauchen 44 hapaxlegomena der LXX auf; viele der verwendeten Wörter finden sich auch nicht im NT. In einigen Fällen scheint der Verfasser die verwendeten Wörter aus dem Nichts zu schaffen (s.u.). Das Diptychon ist darüber hinaus unter Verwendung seltener und poetischer Ausdrücke formuliert; auch der Stil, der zeitgenössische rhetorische Mittel nutzt und selbst die Nachahmung alexandrinischer Dichtung nicht scheut, ist poetisch.

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Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, XXX-XXXII; 32–35; (9–90); 136–137; 179–181; 224– 226, mit weiteren Literaturhinweisen. Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 48–55. Vgl. HAY, David M., „The Psychology of Faith in Hellenistic Judaism“: ANRW 20/2 (1987), 881–925. Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 42–43; von diesen Erzählungen gibt es nur noch fragmentarische Texte. In Weish 17 ist die Häufigkeit von Komposita mit der Präposition κατά auffällig; der größte Teil davon sind hapaxlegomena der LXX; vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 27 Anm. 83.

Zur literarischen Struktur von Weish 17,1 – 18,4

433

Der literarische Aufbau des Diptychons ist nicht sehr klar – eine Ausnahme im Rahmen des Buches. Aufgrund einiger inclusiones und der inhaltlich verschiedenen Themen lassen sich fünf Absätze ausmachen: Die Nacht der Ägypter. 17,1 stellt eine Überschrift dar, die die in 17,1 – 18,4 behandelten Themen, das strafende und rettende Gerichtshandeln des Herrn (17,1a) und die Sünde der Ägypter (17,1b), ankündigt und mit dem vorangehenden Diptychon verbindet (γάρ). In 17,2 bilden σκότους und κατακλεισθέντες eine inclusio mit 18,4 (σκότει … κατακλείστους); zugleich verweist κατακλεισθέντες auf κατακλεισθείς am Ende von 17,16 in der Mitte des Gedankengangs. Das Wort νύξ am Ende von 17,5 (νύκτα) kehrt zusammen mit dem zweimaligen Genitiv σκότους in 17,21 wieder und bildet so eine weitere inclusio, die das ganze Kap. 17 umschließt. Nach der Überschrift (17,1) beschreiben die Verse 17,2–3 die aus ihrer Sichtweise (17,2a.3a-b) stammenden Irrtümer der Ägypter und die Folgen solcher Irrtümer (17,2b-c.3c-d). In 17,4a-6b schildert der Verfasser selber die Angst der Ägypter (οὐδέ … ἀφόβους in 4a; φόβου πλήρης in 6b). Zwei abschließende Kola (17,6c-d) beleuchten den Zusammenhang von Angst und angsteinflößenden Visionen. Die Angst der Zauberer. Dieser zweite Absatz hat eigentlich in sich selbst keine eigene Struktur und kann nur aufgrund des deutlichen Beginns eines weiteren Absatzes in 17,12–15 (s.u.) und eines inhaltlichen Einschnitts zwischen 17,6 und 17,7 eingegrenzt werden, wo die Figur der Zauberer, der Hauptakteure in diesem Absatz, eingeführt wird. 17,7 erinnert an das Scheitern der Zauberkünste und der Prahlerei der Zauberer mit ihrer Klugheit, da sie selbst an dem erkrankten, wovon zu heilen sie beabsichtigten. In der Mitte (17,9) erscheint die unbegründete Angst der Zauberer; 17,10 beschreibt ihr unsinniges Verhalten, das ein weiterer Beweis ihres Scheiterns ist, während 17,11 dazu die psychologische und theologische Begründung liefert: das Vorhandensein eines anklagenden Gewissens im Menschen. Eine höllische Angst. Dieser Absatz ist durch eine deutliche inclusio markiert: φόβος, προδοσία, προσδοκία (17,12–13a) und προδοσίᾳ, ἀπροσδόκητος φόβος (17,15b-c). Das Schlüsselwort „Nacht“ (im Akk. sing. νύκτα) findet sich in der Mitte des Absatzes in 17,14a. 17,12–13 sind einer wirklichen Definition von Angst gewidmet. 17,14a-b beschreibt den „höllischen“ Charakter dieser Nacht; 17,14c-15 schildert die Angst von ihren Wirkungen her. Aus dem ersten Absatz wird das Wort μυχός „innerster Ort, Höhle“ (17,4a.14b) nochmals aufgenommen, und φαντασμάτων in 17,15a lässt die φάσματα in 17,4c anklingen. Gefangene der Angst. Beginn (durch κατακλεισθείς) und Ende (durch νύξ und den Genitiv σκότους) in diesem Absatz weisen zurück auf den Beginn des Diptychons (17,2b-c) und voraus auf dessen Abschluss in 18,4 (σκότει und κατακλείστους), s.o. 17,16.17.18 beginnen gleichlautend: εἶθ’ [οὕτως] – εἴ τε – εἴ τε. Mit 17,16 tritt gegenüber dem vorhergehenden Absatz ein Wechsel ein: Die Rede ist nicht mehr nur von den Zauberern, sondern von jedem Ägypter. 17,17–18a führt 17,16 in vier Kola näher aus; beispielhaft werden vier Berufsgruppen von Personen von der Angst erfasst. 17,18b-19 listet in acht Kola sieben Naturphänomene auf, die die Ägypter in Angst versetzen (nach dem Anfang mit εἴ τε in 17,18b beginnen sechs Kola jeweils mit ἤ). Die fünf abschließenden Kola (17,20–21) führen in Entgegensetzung zur Nacht und zur Finsternis (17,21) das Motiv des Lichtes ein. Der Dativ φωτί (17,20a) weist voraus auf φῶς in 18,1a. Ebenso wird das Motiv des κόσμος schon eingeführt (17,20a).

Weish 17,1–6

Weish 17,7–11

Weish 17,12– 15

Weish 17,16– 21

434

Weish 17,1–6

Weish 18,1–4 Das Licht des Gesetzes. Die inclusio φῶς – φωτός (18,1a.4a) bestimmt den ganzen

Absatz. 18,1–4 sind mit dem Schluss des vierten Absatzes (17,20a) und dem Beginn des Diptychons (17,2; s.o.) eng verbunden. 18,1a bilden eine Einleitung, in der „deine Heiligen“ zurückverweisen auf das „heilige Volk“ in 17,2a und vorausweisen auf „deine Söhne“ in 18,4b. In drei Kola (18,1b-2) wird die Lage der Ägypter geschildert, der die der Israeliten entgegengesetzt wird. Beide stehen sodann in 18,4 einander gegenüber.

Weish 17,1–6: Eine Nacht der Angst 1 Ja, groß sind deine Gerichtstaten und schwer verständlich; deshalb gingen ungebildete Menschen in die Irre. 2 Nachdem die Gesetzlosen nämlich gemeint hatten, das heilige Volk unterdrücken (zu können), lagen sie (selber) da als Gefangene der Finsternis und Gefesselte einer langen Nacht, eingeschlossen (wie) unter Dächern, Flüchtlinge vor der ewigen Vorsehung. 3 Während sie meinten, bei ihren heimlichen Verfehlungen verborgen zu bleiben unter einem lichtundurchlässigen Schleier des Vergessens, wurden sie zerstreut – entsetzlich verängstigt – und durch Sinnestäuschungen völlig verschreckt. 4 Auch die sie einschließende Höhle bewahrte sie nicht angstfrei, sondern herabdonnernde Geräusche umtosten sie, und düstere Gespenster mit traurigen Gesichtern erschienen. 5 Und keinerlei Gewalt von Feuer vermochte Licht zu spenden, und den strahlenden Flammen der Sterne gelang es nicht, jene stygische Nacht zu erhellen. 6 Nur erschien ihnen durch (die Finsternis) ein von selbst (brennender) Scheiterhaufen voller Angst; in Schrecken versetzt von jenem unbegreiflichen Anblick aber hielten sie das, was sie sahen, für noch schlimmer.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1

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Das Adjektiv *δυσδιήγητος scheint eine Schöpfung des Verfassers zu sein (SCARPAT, „Ancora sull’autore“, 177) und bedeutet „schwer verständlich, schwer auszulegen“. Das Handeln Gottes entzieht sich dem Verständnis von „ungebildeten Seelen“, d.h. von Menschen, denen der Geist der Weisheit und der παιδεία (1,6) fehlt. Der Ausdruck ἀφεγγεῖ λήθης παρακαλύμματι klingt ausgesprochen gesucht; *παρακάλυμμα ist ein seltenes Wort und bedeutet einen Vorhang oder einen Schleier, der

Synchrone Analyse

4

435

hier als *ἀφεγγής „lichtundurchlässig, undurchsichtig“ beschrieben wird; ἀφεγγῆς ist ebenfalls ein seltenes Wort, das bei den Tragikern verwendet wird (Euripides, Phoen. 543). Der „lichtundurchlässige Schleier“ kann als polemisches Gegenbild auf jenes φέγγος „Licht, Strahlen“ verweisen, das die Nacht der in die Mysterien Eingeweihten erhellt (vgl. Platon, Phaidros 250b3). „Vergessen“ λήθη ist auch der Name eines Flusses in der Unterwelt (Hesiod, Teog. 227; Vergil, Aen. 6,714), ein finsterer Ort (s.u.). Für Philon ist das Vergessen der „Tod der Erinnerung“ (Migr. 206), eine „Krankheit des Gedächtnisses“ (Congr. 40); es überkommt den Menschen von außen und bringt ihn zu einem Verlust des Gedächtnisses selbst. In 18,3c lesen A C, mehrere Minuskeln und Sa Aeth ἐσκοτίσθησαν „sie wurden verfinstert, gerieten in Finsternis“ anstelle von ἐσκορπίσθησαν (S: διεσκορπίσθησαν) „sie wurden zerstreut“. Schon GRIMM hatte die Variante ἐσκοτίσθησαν vorgezogen. Aber auch die Lesart ἐσκορπίσθησαν bietet einen annehmbaren Sinn: Die Ägypter sind paradoxerweise weit voneinander „zerstreut“ und getrennt durch die Finsternis, die sie jedoch in ihren eigenen Behausungen eingeschlossen hält. Die Textzeugen bieten drei verschiedene Lesarten: καταράσσοντες „herabdröhnend“, ταράσσοντες „verwirrend“, ἐκταράσσοτες „schreckenerregend“; ZIEGLER wählt die erstgenannte, RAHLFS die dritte; vgl. SCARPAT, Sapienza III, 231. Eine Entscheidung ist schwierig; die Lesart καταράσσοντες, die von der lateinischen Übersetzung unterstützt wird (sonitus descendens) ergibt am besten Sinn. Das Verb *περικομπέω ist vor dem Buch der Weisheit nicht belegt (vgl. Flavius Josephus, Bell. 1,502); es hat hier die etymologische Bedeutung „ringsum tosen“. Die beiden Adjektive *ἀμείδητος „nicht lächelnd, traurig“ (in einigen Handschriften und alten Übersetzungen missverstanden, s. ZIEGLER) und *κατηφής „düster“ (Od. 24,433 „beschämt nach unten blickend“) werden bei Plutarch, Tranq. An. 20 (= 477E) einmal verwendet, um zu beschreiben, wie einige ihr Leben empfinden (τὸν δ’ ἑαυτῶν βίον ἀμειδῆ καὶ κατηφῆ … ὁρῶντες).

Synchrone Analyse Das Diptychon beginnt mit einer Betrachtung der „großen Gerichtsentscheidungen“ Gottes (vgl. Ex 6,6; 7,4), d.h. seiner zugleich strafenden und rettenden Großtaten, die er beim Exodus wirkte. Die „ungebildeten Menschen“ (hier ist das Wort ψυχή „Seele“ als Subjekt der sittlichen Verantwortung verwendet) können deren Sinn nicht erfassen; dabei geht es um die jüdischen Apostaten, die in Weish 2,12 beschrieben sind, die die παιδεία, die Bildung und Zucht der Weisen Israels, aufgegeben haben. Denn nur aufgrund der Gabe der Weisheit (vgl. Weish 1,6) ist es möglich, den Sinn des Handelns Gottes zu verstehen. Die ἄνομοι, die „Gottlosen“ sind genauer die „Gesetzlosen“, die ohne die Tora leben (vgl. Weish 2,12). Vom Beginn des Diptychons an wird die Exodusplage der Finsternis so aktualisiert: Die Ägypter werden zum Typos jener Juden von Alexandria, die die Tora verlassen haben. Wie in Weish 2,10–20 geschildert, hatte das die Entstehung von Gewalttätigkeit zur Folge; die Gottlosen denken, sie könnten sich als Herren des „heiligen Volkes“ aufspielen, also über die, die Gott angehören entsprechend dem Beiklang, den ἅγιος im Buch der Weisheit hat (vgl. 1,5; 5,5; 7,22 u. ö.). Das Verb καταδυναστεύω ist übernommen aus Ex 1,13 und weist ebenfalls auf die in Weish 2,12 gezeigte Haltung der Gottlosen hin. Als Ergebnis ihrer Taten entdecken die Gottlosen, dass sie Gefangene der Finsternis und der Nacht sind (in 17,2b hebt das hyperbaton [gespreizte Wortstellung] die „Nacht“ besonders hervor), eingeschlossen wie unter Dächern (*ὄροφος

17,1: Groß sind deine Gerichtsentscheidungen!

17,2: Gefangene der Finsternis

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17,3: Ins Vergessen gefallen

17,4: Eingeschlossen in eine höllische Höhle

17,5: Eine höllische Nacht

Weish 17,1–6

„Schilfrohr zur Dachbedeckung“ ist ein seltenes Wort). In feinem psychologischem Gespür verbindet der Verfasser das Eingetauchtsein in die Finsternis mit dem Bestreben der Gottlosen, vor der „ewigen Vorsehung“ (ebenfalls durch hyperbaton hervorgehoben) zu fliehen. Hier wird eine andere typische Reaktion eines Schuldigen beschrieben, nämlich zu glauben, er könne verborgen bleiben; aber Gott entgeht das geheime Tun der Menschen nicht (Jes 29,15; 40,26LXX; Ps 9,32[10,11MT]; u. ö.; vgl. Arist. 132). Paradoxerweise haben die Gottlosen erreicht, was sie wollten: Gott hat sie vergessen, er hat sie mit dem Schleier des Vergessens bedeckt, einem Vergessen jedoch mit Unterweltdimensionen (s.o. die Anmerkungen zum Text). Die Gottlosen befinden sich gleichsam bereits in der Unterwelt, vergessen von Gott und eingehüllt in Finsternis. In einigen biblischen Texten ist die Verborgenheit charakteristisch für die Scheol, vgl. Ps 138[139MT],15; Jes 45,19LXX; Ps 87[88],13 spricht vom „Land des Vergessens“ (MT) bzw. vom „vergessenen Land“ (LXX). Dazu kommt die Angst (θαμβούμενοι δεινῶς), ein weiteres, das ganze Kapitel durchziehendes Motiv (vgl. 18,17). Die Angst ändert die Wahrnehmung. Die Halluzinationen (ἴνδαλμα ist ein seltenes Wort mit psychologischer Bedeutung), die den Gottlosen befallen, sind Frucht seiner eigenen Bosheit und kündigen an, was ihn in der Unterwelt erwartet. In 17,4 werden die Häuser, in denen die Ägypter sich während der Finsternisplage eingeschlossen befinden, μυχοί „Höhlen“ genannt; dieses Wort verwendet Hesiod zur Bezeichnung der finsteren geheimen Winkel des Hades (Theogonia, 119; vgl. auch Or. Sib. 4,183–186). Philon spricht von den μυχοὶ αἵδου in Her. 45; Somn. I, 151; das Wort kehrt in 17,14b in einer Genitivverbindung mit dem Hades wieder. Die Finsternis, die Ägypten befallen hat, gewinnt so eine eschatologische Bedeutung (s.u. zu 17,21) und wird eine innergeschichtliche Ankündigung der künftigen Bestrafung des Gottlosen. Zu den beiden schon genannten Wirkungen der Angst, der Flucht und des Sichversteckens, kommt nun eine weitere: Die Angst lähmt den Menschen und macht ihn zum Gefangenen.5 Die Ägypter glauben, in der Finsternis verborgen zu bleiben, bemerken aber nicht, dass sie sich in etwas viel Furchtbarerem befinden: Sie sind in eine wirkliche Höllenhöhle eingeschlossen, in der seltsame Geräusche tosen und entsetzliche Gespenster erscheinen (s.o. die Anmerkungen zum Text). Mit φάσμα werden auch die Bewohner des Hades bezeichnet;6 in diesem Fall ist die Finsternis, die die Ägypter umhüllt, ebenfalls wie ein Aufenthalt mitten in der Unterwelt. Die finstere Nacht, die kein Licht, weder das eines Feuers noch das der stark leuchtenden Sterne (ἔκλαμπροι), erhellen kann, wird deshalb στυγνή „stygisch, höllisch“ genannt. Das Adjektiv στυγνός ist gebildet vom Namen eines anderen Unterweltflusses, des Styx (Od. 5,185–187; Il. 8,369). Schon in den biblischen Texten wird die Scheol als ein finsterer Ort betrachtet (Ijob 10,21; vgl. auch 15,22; 17,13), einem Gefängnis ähnlich (Ps 106[107MT],10.14); diese Vorstellung findet sich auch in Ps 17,6MT („die Stricke der Scheol“; in Ps 18,6LXX ist von den ὠδῖνες αἵδου

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Zum Vorkommen dieser drei Elemente in der hebräischen Bibel vgl. COSTACURTA, La vita minacciata, 239–241 (die Flucht); 426–427 (das Sichverstecken); 224–225 (die lähmende Wirkung der Angst). Vgl. LARCHER, Sagesse III, 953.

Diachrone Analyse

437

„Schmerzen der Unterwelt“ die Rede), während Ijob 18,9–11.14.18 die Vorstellung vom Gottlosen, den Schlingen gepackt halten (Ijob 18,9), mit der des Todes verbinden, der „König des Schreckens“ genannt wird (Ijob 18,14MT); in Ijob 18,18 wird auch noch die Finsternis genannt. Das einzige Licht, das die Ägypter sehen, ist die albtraumhafte Erscheinung 17,6: Eine uneines Scheiterhaufens, der sich ohne menschliches Zutun entzündet hat, eine wei- heimliche Erteres Zeichen für Tod. Im dunklen Licht dieses Scheiterhaufens wird das, was scheinung gesehen wird, Quelle weiteren Entsetzens. Denn die Angst entsteht in einem Menschen, der vom Gefühl getrieben dazu neigt, alles und jedes als eine mögliche Gefahr anzusehen (vgl. Weish 17,10.18–19). Das ganze Leben des Gottlosen ist so wie ein schlimmer Wachtraum, gleichsam sich in der Hölle zu befinden, ohne schon tot zu sein. Für Philon ist der Hades nichts anderes als das Leben des Gottlosen selbst (Congr. 57).

Diachrone Analyse Der Irrtum der jüdischen Apostaten, auf die 17,1 anspielt, wird mit dem Verb 17,1 πλανάω beschrieben, das hier wie in 2,21 (vgl. 5,6; 11,15; 12,24) einen Anklang an die Mysterienterminologie bietet und in diesem Sinne mit einer polemischen Spitze verwendet wird. Es sind die jüdischen Apostaten, die in den Mysterienkulten den richtigen Weg finden wollten, um nicht im Dunkeln herumzuirren wie die Nichteingeweihten (vgl. Phaidros 248ab, wiederaufgenommen in Plutarch, De anima frg. 178 = Stobaeus 4.52,49), aber das Gegenteil erreichen: Sie fallen selber in die Finsternis. Vor allem im Stoizismus wird Gott als πρόνοια „Vorsehung“ verstanden, der 17,2 gütig die Welt verwaltet (vgl. 14,3). Dadurch, dass Weish 17,2 diese Terminologie verwendet, soll verständlich werden, dass es den Menschen, wenn sie einmal die Weisheit und das Gesetz verlassen haben und in die Gewalttätigkeit abgeglitten sind, nicht mehr gelingt, das Wohlwollen Gottes wahrzunehmen, und dass sie ihm deshalb zu entfliehen versuchen. Zum „höllenartigen“ Charakter der Vorstellung vom „Gefängnis“ s. u. zu Weish 17,5. In 17,3–5 sind mehrere Anspielungen auf Riten der Mysterienkulte enthalten. 17,3–5 Bei ἐπὶ κρυφαίοις ἁμαρτήμασιν denkt der Verfasser möglicherweise an die κρύφια μυστήρια, von denen in 14,23 die Rede war, die Mysterienbräuche, deren Hauptkennzeichen ja die Geheimhaltung war.7 In den Mysterienkulten heißen die Erscheinungserlebnisse, die die Einzuweihenden während der rituellen κατάβασις (Abstieg in die Unterwelt) haben, φάσματα (Plutarch, De anima, frg. 178).8 Auch in 17,5 ist die Anspielung auf die Mysterienkulte offensichtlich. Wenn Philon darauf verweist, dass der Gesetzgeber (Mose) entschieden habe, die in die Mysterien Eingeweihten aus der Stadt zu verbannen, beschuldigt er sie, sich in Nacht und Finsternis zu verbergen und Erdhöhlen aufzusuchen, um ihre Untaten 7 8

„The writer appears to attribute to the ancient Egyptians the mystery cults of his own time“, HOLMES, Wisdom, 563. Zu weiteren Anspielungen auf die Mysterienkulte in Weish 17,1–6 vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 35–41.

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Weish 17,7–11

zu verheimlichen (καταδύσεις ἐπιζητοῦντες καὶ γῆς μυχοὺς καὶ βαθὺ σκότος ἐπικρυπτέσθωσαν) vgl. Philon, Spec. I, 319–323[321]. Das Adjektiv ἔκλαμπροι [φλόγες] (vgl. λαμπρός in 17,20) verweist ebenfalls auf ein Motiv der Mysterien: Nach Phaidros 250b leuchtet das Licht über den Einzuweihenden; hier aber befinden die Gottlosen sich in der tiefsten Finsternis.

Weish 17,7–11: Die Zauberer und das Gewissen 7 Die Kinderspiele der magischen Kunst aber lagen danieder, und die Selbstbezichtigung der Prahlerei bezüglich ihrer Klugheit (war) schmachvoll. 8 Die nämlich, die versicherten, Angstanfälle und Verwirrtheiten kranker Seelen vertreiben (zu können), (gerade) diese waren krank vor lächerlicher Angst. 9 Auch wenn nichts Verwirrendes sie in Angst versetzte – durch das Vorbeiziehen von Getier und das Zischeln von Kriechtieren aufgescheucht 10 kamen sie um vor Zittern und weigerten sich, die Luft, der man doch nirgends entfliehen kann, anzuschauen. 11 Die Schlechtigkeit erweist sich nämlich als etwas eigenartig Furchtsames, wenn sie durch ihr eigenes Zeugnis verurteilt wird; immer aber, bedrängt vom Gewissen, vergrößert sie noch die Schwierigkeiten.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung Der Ausdruck *μαγικὴ τέχνη „Magie, Zauberkunst“ ist vor dem Buch der Weisheit nicht belegt und fehlt auch in den Papyri Graecae magicae, die stattdessen von μαγικὴ ἐμπειρία (PGM I,331) sprechen; vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 65. 9 Anstelle der Lesart μηδὲν ταραχῶδες „nichts Verwirrendes“ haben einige Textzeugen (Sc, V, 613, 674; vgl. Lat ex monstris) μηδὲν τερατῶδες „nichts Wunderbares“; SCARPAT, Sapienza III, 237, zieht diese Lesart vor (vgl. Philon, Mos. I, 118, der die Plagen als τερατωδεστάτην ὄψιν bezeichnet); ταραχῶδες ist besser bezeugt (B, A u. v. a.) und bildet mit ταραχάς „Verwirrtheiten“ in 17,8a ein Wortspiel: Diejenigen, die versuchen, die Verwirrtheiten anderer zu heilen, fallen selbst in noch schlimmere Ängste. Von hier an bis zum Ende von Kap. 17 folgen Übersetzung und Kommentar der Versnummerierung in der Edition von ZIEGLER. 10 Τὸν *μηδαμόθεν *φευκτὸν ἀέρα: „Luft“ ist in Weish 13,2 eines der Elemente der Welt und von ihrer Natur her kühl und finster (SVF II, 141 frg. 430; Philon, Opif. 29; vgl. WINSTON, Wisdom, 306–307; SCARPAT denkt einfach an die Luft in ihren verschiedenen Erscheinungsweisen, vgl. Sapienza III, 238). Der Verfasser sagt also von den Zauberern, sie seien in die tiefste Angst geraten, so dass sie sich sogar weigerten, das anzuschauen, 7

Synchrone Analyse

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wovon sie umgeben waren, die Luft, die ihrerseits schon von ihrem Wesen her auf die finsteren Unterweltvisionen verweist, die die Ägypter befallen. 11 Der von ZIEGLER edierte Text bietet die Lesart: δειλὸν γὰρ ἰδίως πονηρία μαρτυρεῖ καταδικαζομένη „In eigener Weise bezeugt Schlechtigkeit nämlich furchtsam zu sein, wenn sie verurteilt wird“. RAHLFS schlägt stattdessen vor: δειλὸν γὰρ ἰδίῳ (mit 248, 253c) πονηρία μάρτυρι (mit S, A, O, 253c, L b c u.a., Mal) καταδικαζομένη „die Schlechtigkeit erweist sich nämlich als etwas Furchtsames, wenn sie durch ihr eigenes Zeugnis verurteilt wird. Außer auf eine sekundäre Variante (δεινόν: V [δινον], 637, Syh; vgl. Sir 2,12; Kölner Pap: δεινός) ist auf die Lesart von O-Sc, 766, Arm. zu verweisen: δειλὸν γὰρ ἰδίῳ πονηρία ἰδίῳ μάρτυρι καταδικαζομένη und auf Lat cum sit enim timida nequitia dat testimonium condemnationis (condemnationi, condemnata), wohl nach einer Lesart δειλὸν γὰρ πονηρία μαρτυρεῖ καταδικαζομένη. Es ist schwierig, ἰδίως, das vom größten Teil der Textzeugen gelesen wird, nicht als ursprünglich anzunehmen, während das zweite ἰδίω in einigen Textzeugen für die gut bezeugte Lesart μάρτυρι spricht. Daher legt sich als ursprünglicher Text nahe: δειλὸν γὰρ ἰδίως πονηρία [ἰδίῳ] μάρτυρι καταδικαζομένη, wobei vorausgesetzt wird, dass ἰδίῳ weggelassen wurde, da es nach ἰδίως wohl für unpassend gehalten wurde. Dann ergibt sich die Übersetzung: „Die Schlechtigkeit erweist sich nämlich als etwas eigenartig Furchtsames, wenn sie durch ihr eigenes Zeugnis verurteilt wird“.9 In 17,11b ist die Lesart προείληφε[ν] „sie nimmt im Voraus an“ (Sc V 248 u.a.) lectio facilior; der größte Teil der Textzeugen liest προσείληφεν, vom Verb προσλαμβάνω in der Bedeutung „noch hinzunehmen, vergrößern“, hier in Bezug auf die schlimme Lage, die Schwierigkeiten (τὰ χαλεπά).

Synchrone Analyse Als Beispiel der Angst wählt das Buch der Weisheit die Figur der Zauberer, deren „Künste“ nur „Kinderspiele“ (ἐμπαίγματα; vgl. Jes 66,4) sind, die sich als völlig machtlos erweisen. Die Zauberer prahlen damit (ἀλαζονεῖαι),10 eine höhere „praktische Intelligenz, Klugheit“ (φρόνησις) zu besitzen (vgl. Weish 8,6),11 mit der auch die Gottlosen prahlen (Weish 5,8), während hingegen der Gerechte sich rühmt, Gott zum Vater zu haben (Weish 2,16); es besteht also eine enge Verbindung zwischen den Zauberern und den Gottlosen von Weish 2. Aber diese Prahlerei stellt eine schmachvolle Selbstbezichtigung dar (ἔλεγχος *ἐφύβριστος). Das Wort ἔλεγχος bezeichnet bei Philon eine Funktion des sittlichen Gewissens (Decal. 87); ἔλεγχος könnte auf die συνείδησις in 17,11 vorausweisen und so das Thema des Gewissens ankündigen. Damit wäre eine Art inhaltlicher inclusio des Absatzes gegeben. Die Zauberer rühmen sich außerdem, Krankheiten zu heilen und beim Menschen alle Angstanfälle (*δείματα) und Verwirrtheiten der kranken Seele zu be9 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 76–77; SCARPAT schlägt die gleiche Lesart vor (Sapienza, 238–240), ohne aber MAZZINGHI zu erwähnen. 10 Nach Theophrast (Char. 23,1) ist die ἀλαζονεία die „Vortäuschung bestimmter Güter, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind“, vgl. 4Makk 2,15, wo die Prahlsucht zu den Leidenschaften gezählt wird, die die Vernunft imstande ist zu beherrschen. 11 Weish 17,7 stellt ein ausdrückliches flashback auf Weish 8,6 dar (REESE, Hellenistic Influence, 122–124): Die magischen Künste und die Anmaßung von φρόνησις genügen nicht, das zu verwirklichen, was nur die Weisheit vollbringen kann. Zur φρόνησις verstanden als „Kenntnis geheimer Kräfte und Mittel“ vgl. GRIMM, Weisheit, 276.

17,7–8: Das Scheitern der magischen Künste

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17,9–10: Eine unbegründete Angst

17,11: Das Gewissen

Weish 17,7–11

seitigen.12 Aber gerade sie, die Zauberer, erkranken an einer „lächerlichen Ängstlichkeit“ (καταγέλαστος εὐλάβεια; hier ist εὐλάβεια in einem vom Gebrauch in der LXX verschiedenen Sinn verwendet). Die „Ängstlichkeit“ steht auch im Widerspruch zu der Großsprecherei, mit der sie versuchen, die Ängste anderer zu heilen. In 17,9–10 wird nochmals die Unverhältnismäßigkeit (vgl. 17,6) genannt, ein typisches Element in der Psychologie der Angst;13 der Gottlose lebt in Schrecken vor Dingen, die ihm normalerweise keine Angst einzuflößen brauchten; er ist ein Sklave seiner eigenen Ängste. Die Zauberer, die vom Beruf her daran gewöhnt sind, mit Schlangen und anderen Tieren umzugehen, geraten jetzt in Schrecken vor ihnen und fliehen wie aufgescheuchte Vögel (dies ist die Bedeutung von *ἐκσοβέω, einem seltenen, erst spät belegten Wort), sie kommen um (διόλλυμαι) vor Zittern und Angst, vgl. Philon, Ebr. 223–224, über die Seele eines schlechten Menschen. Erneut zeigt sich eine Fluchtreaktion aus Angst, die zur Weigerung führt, die Realität als das, was sie ist, anzusehen.14 Die Verbindung κνώδαλα καὶ ἑρπετά (vgl. Arist. 138; 169, an beiden Stellen in der Reihenfolge ἑρπετὰ καὶ κνώδαλα) weist zurück auf 11,15–16; das Getier und die Reptilien sind die Anwendung des dort genannten Prinzips: Die Ägypter werden mittels der Tiere bestraft, die sie verehrt hatten (vgl. 15,18; 16,1); Bestrafung und Rettung geschehen durch die Schöpfung. In Weish 12,23–27 wird die Tierverehrung der Ägypter mit einem Spiel unvernünftiger Kinder verglichen (ὡς παισὶν ἀλογίστοις), das von Gott mit einer spielerischen Strafandrohung (τὴν κρίσιν εἰς ἐμπαιγμόν) beantwortet wird. Von daher erscheint die Magie in Weish 17,7–10 als eine der abwegigsten Formen des Götzendienstes. Nimmt man die vorgeschlagene Lesart an (s.o. die Anmerkungen zum Text), dann besagt 17,11, Schlechtigkeit sei Zeuge gegen sich selbst, sobald sie verurteilt wird und erweise sich dabei als ausgesprochen feige. Ja, die Schlechtigkeit vervielfältigt noch, gedrängt vom Gewissen, die Schwierigkeiten. Die üble Lage zu verschlimmern ist eine weitere Wirkung der Angst. Aber der Verweis auf das Gewissen und der Exodus-Kontext zeigen, dass die psychologisch erscheinende Erörterung in Wirklichkeit eine theologische Betrachtung der Ereignisse ist. Die Weise, in der der Begriff συνείδησις in Weish 17,11 verwendet wird, ist originell. Innerhalb einer Überlegung zu den „Gerichtstaten“ Gottes (17,1) in der Vergangenheit Israels ist die Angst, die das Gewissen den Gottlosen erfahren lässt, das Zeichen, dass er nicht imstande war, das Wirken Gottes in der Geschichte zu erkennen. Das Gewissen bekommt dadurch eine theologische Bedeutung, dass es der Ort ist, an dem der Mensch das Handeln Gottes erfahren kann. Außerdem erhält es eine eschatologische Dimension: Die Finsternis, die die Ägypter befallen hat, hat eine „höllische“ Bedeutung; sie ist ein Bild (17,21) der ewigen Finsternis, die den Gottlosen erwartet. Im Innern seines Gewissens kann der böse Mensch jedoch schon während seines Lebens eine solche Angst erfahren, wie sie die Gottlosen befallen wird, wenn sie nach ihrem Tod bei der „Zusammen-

12 Die kranke, d.h. verwirrte Seele ist ein häufiger Topos bei den Tragikern, vgl. SCARPAT, Sapienza III, 236. 13 COSTACURTA, La vita minacciata, 192–193. 14 COSTACURTA, La vita minacciata, 242.

Diachrone Analyse

441

rechnung“ furchtsam (δειλοί) auftreten (Weish 4,20). Das Gewissen wird zu einer Art Alarmglocke, viel mehr als ein einfacher Gewissensbiss über eigene schlechte Taten. Es ist der Ort, wo der Mensch in Vorwegnahme der Angst beim künftigen Gericht Gottes zur Umkehr gerufen wird. Der Gedanke von Weish 17,11 bereitet schon die Überlegungen des Paulus (vgl. Röm 2,15) vor und steht ihnen nahe.

Diachrone Analyse Die Plagenerzählung im Buch Exodus erwähnt mehrmals die ägyptischen Zauberer 17,7–8 (Ex 7,11). Bei den ersten beiden Plagen haben sie noch Erfolg (Ex 7,22; 8,3), sind danach aber gezwungen, das Wirken Gottes anzuerkennen (Ex 8,14–15), und müssen sich am Ende geschlagen geben (Ex 9,11). Die Überlegung zur Plage der Finsternis wählt dieses Scheitern der ägyptischen Zauberer zum Ausgangspunkt, geht aber dann erheblich über die biblische Erzählung hinaus; denn bei der neunten Plage in Ex 10,21–23 treten die Zauberer gar nicht mehr auf. Auch in der griechischsprachigen jüdischen Literatur sind die Überlieferungen über die Zauberer nicht so entfaltet wie hier im Buch der Weisheit. Warum sind gerade die Zauberer als Beispiele der Angst gewählt? Hinter den Zauberern, von denen das Buch Exodus spricht, sieht der Verfasser die zeitgenössischen Vertreter der Magie, die behaupten, eine wirksame „Kunst“ auszuüben; dabei handelt es sich in Wirklichkeit um „Kinderspiele“ (ἐμπαίγματα).15 Die von der magischen Kunst erhoffte Wirkung ist also das Gegenteil des Erwarteten, etwas wirklich Lächerliches.16 In Weish 17,11 wird zum ersten Mal in der Bibel die συνείδησις erwähnt, verstanden 17,11: Geals sittliches „Gewissen“ (das Wort συνείδησις kommt auch in Koh 10,20LXX und Sir schichte des 42,18S u. v. a. vor, jedoch nicht in diesem Sinne).17 Die Vorstellung eines Gewissens ist „Gewissens“ dem AT nicht fremd; dafür wird in der Regel die Metapher „Herz“ gewählt.18 Hier wird aber zum ersten Mal in der Bibel ein ausdrücklicher Begriff, der der griechischen Welt entstammt, dafür verwendet. Die Vorstellung der συνείδησις im Sinne eines anklagenden sittlichen Gewissens entwickelt sich ab dem 3. Jh. v. Chr. noch vor der philosophischen Reflexion im Volksleben. Zur Zeit der Abfassung des Buches der Weisheit kennt die hellenistische Welt sehr gut, vor allem in den in Rom verbreiteten stoischen Kreisen, die Vorstellung des „anklagenden sittlichen Gewissens“ als inneren Zeugen der eigenen schlechten Taten (vgl. CICERO, Clu. 58,159: … illud est hominis magni, iudices, atque sapientis, … maximi aestimare conscientiam mentis suae, quam ab dis immortalibus accepimus …; SENECA, Ep. 43,5: Bona conscientia turbam advocat, mala etiam in solitudine anxia atque sollicita est; Ep. 97,15: hic consentiamus, mala facinora conscientia flagellari). So schreibt Polybios (Hist. 18,43,13: „… denn niemand ist ein so schrecklicher Zeuge

15 Mit ἐμπαίγματα ist ein verloren gegangenes Werk des Magiers Bolos (Demokritos) von Mendes (200–190 v. Chr.) überschrieben: vgl. WELLMANN Max, Die ΦΥΣΙΚΑ des Bolos Demokritos und der Magier Anaxilaos aus Larissa, I, Berlin: Akademie der Wissenschaften 1928, 53–62. 16 Zu einem möglichen Mysterien-Hintergrund des Motivs „Lachen“ s. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 97. 17 Eine detaillierte Analyse mit umfassenden Literaturhinweisen findet sich in MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 79–89. 18 Anders MAURER, Christian, συνείδησις, ThWNT VIII, 906.

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Weish 17,12–15 (μάρτυς) und ein so unerbittlicher Ankläger wie das Gewissen (ἡ σύνεσις), das im Innern eines jeden wohnt“. In alexandrinischer Umwelt ist die Vorstellung auch Philon bekannt (Det. 146; Virt. 124; Spec. II, 49); das Gewissen ist gleichsam ein innerer Zeuge, der dem Menschen seine eigene Bosheit aufdeckt und ihn zu Umkehr leitet (vgl. Praem. 163–164); vgl. Test. Rub. 4,3: „Bis zur Stunde drückt (συνέχει) mich mein Gewissen wegen meiner Schandtat“. Weish 17,11 setzt eine solche Vorstellung vom anklagenden sittlichen Gewissen voraus, das durch sein inneres Zeugnis den Übeltäter mit Ängsten und Schrecken bedrückt und ihm seine schlechten Taten bewusst macht. Der Gedanke von Weish 17,11 kommt der Vorstellung des Paulus in Röm 2,15 recht nahe.

Weish 17,12–15: Eine höllische Angst 12 Angst ist nämlich nichts anderes, als im Stich gelassen zu sein von den Hilfstruppen der Vernunft; 13 drinnen aber hält die Erwartung, die unterlegen ist, die (eigene) Unwissenheit für größer als die Ursache, die die Qual zufügt. 14 Die aber, die während jener in Wirklichkeit machtlosen und aus den Höhlen einer machtlosen Unterwelt über sie kommenden Nacht im selben Schlaf dalagen, 15 wurden bald durch gespenstische Ungeheuer gejagt, bald, von der Seele im Stich gelassen, gelähmt; eine plötzliche und unerwartete Angst nämlich ergoss sich über sie.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 13 Der Text von 17,12–13 wird in modernen Übersetzungen oft missverstanden: πλείονα ist als Komparativ zu belassen, ἥττων hat die Bedeutung „(im Krieg) unterlegen, geschlagen“ (Xenophon, Anab. 5,6,32; Cyr. 4,1,16). Das führt zur folgenden Übersetzung: „Im Inneren (ἔνδοθεν) hält die Erwartung (προσδοκία; hier: die Vorausahnung eintretender Übel), da (sie bei der Belagerung) unterlegen ist (ἥττων), die (eigene) Unwissenheit für schwerwiegender (πλείονα) als die die Qual veranlassende Ursache.“ 15 In 17,15c ist es schwierig, zwischen den Lesarten ἐπεχύθη (S V O Arm; ZIEGLER und RAHLFS) und ἐπῆλθεν (B A C, viele Minuskeln, Lat) zu entscheiden. Die Lesart ἐπῆλθεν kann jedoch als lectio facilior betrachtet werden, die aufgrund des Partizips ἐπελθοῦσαν von 17,14b entstand. Das Verb ἐπιχέω kommt in der LXX mehrfach in der Bedeutung „übergießen“ vor. Die Verbindung der Adjektive αἰφνίδιος καὶ ἀπροσδόκητος findet sich bei Thukydides (2,61,3), Aischylos (Prom. 680) und Philon (Ios. 211: αἰφνίδιος καὶ ἀπροσδόκητος ταραχή) immer für etwas, das plötzlich und unerwartet eintritt; αἰφνιδίως kommt gelegentlich in Grabinschriften vor (BERNARD, Inscriptions métriques, 84,11; 96,15–16).

Synchrone Analyse

443

Synchrone Analyse In 17,12–13 liegt die einzige Definition von Angst in der ganzen Bibel vor.19 Die Angst wird vor allem als „im Stich gelassen werden (προδοσία ‚Verrat‘) von den Hilfstruppen der Vernunft“ beschrieben. Damit werden wieder Anleihen bei philophischer, insbesondere platonischer Terminologie gemacht (s.u.). Eine der Folgen der Sünde ist deshalb der Verlust der Fähigkeit, vernünftig zu urteilen. In dieser Hinsicht ist die Angst auch die Niederlage der προσδοκία, d.h. einer vernünftigen Einschätzung dessen, was zu erwarten ist. 17,12–13 bedient sich einiger in der griechischen Welt wohlbekannter Motive. Die Definition der Angst ist hier in einen bestimmten biblischen Kontext eingefügt und zeigt Züge hervorstechender Originalität. Denn die Angst ist nicht nur ein psychologischer Faktor; die Definition folgt unmittelbar auf die Nennung des Gewissens in 17,11. Die Angst ist also die erste Folge des Vorhandenseins eines anklagenden sittlichen Gewissens im Innern des Menschen; wenn er deshalb wie bei einer Art Alarmglocke die Angst spürt, erfährt er schon vorweg den Schrecken der Unterwelt (17,14). Die Angst, die die Übeltäter während ihres Lebens empfinden, ist schon in gewisser Weise ihre Hölle.20 Sie entsteht aus der Unkenntnis der Ursache, die sie bewirkt (17,13), also aus der Unkenntnis Gottes, die nach Weish 14,22 die Wurzel aller Übel ist. Die Ägypter kennen die Ursache ihrer Angst nicht, weil sie Gott nicht kennen, und deshalb sind sie in die Finsternis getaucht; denselben Zusammenhang zwischen Unkenntnis und Finsternis stellt Philon in Ebr. 155–166 dar.21 Diese theologische Dimension der Angst, die, wie schon ausgeführt wurde, auch eschatologische Züge annimmt, stellt ein weiteres Zeichen der Originalität des Verfassers dar. Die Angst ist ein Feind, der den Menschen unfähig macht, die Geschichte zu lesen. Auch in 17,14–15 sind die Zauberer noch Subjekt: Die Nacht, in die sie eingetaucht sind, wird immer deutlicher die Nacht, die sie in unerwarteter Weise überkommt (ἐπέρχομαι; vgl. 1,5; 12,27; 16,4.5) aus den Höhlen (μυχοί; vgl. 17,4a) des Hades, der hier die Eigenschaft eine Bestrafungsortes erhält, der den Gottlosen vorbehalten ist.22 Dieser ist jedoch „machtlos“; als ἀδύνατος wird sowohl die Nacht als auch der Hades bezeichnet und damit auf die programmatische Stelle Weish 1,14 zurückverwiesen: Der Hades herrscht nicht auf der Erde. Das bedeutet, dass die Angst der Gottlosen noch widersinniger ist. Der Hades herrscht nur über die, die von ihm beherrscht sein wollen. Es besteht also ein Abstand zwischen Anschein und Wirklichkeit; der Hades ist in Wirklichkeit machtlos, ironischerweise wird er für diejenigen wirklich, die ihn suchen. Im Gegenzug verweist die Verwendung des Wortes ἀδύνατος auch auf das Wirken des tatsächlichen δυνατός, des Herrn (Weish 10.12; 13,4).

19 Vgl. SCARPAT, „Una singolare definizione della paura (Sap 17,11s)“; DERS., Sapienza III, 216–223. 20 Es handelt sich um eine in epikuräischen Kreisen bekannte Vorstellung: Hic Acherusia fit stultorum denique vita „Hier spielt sich das unterweltliche Leben der Toren ab“, LUKREZ, Rer. Nat. III, 2023 (vgl. 981–982). 21 Die Texte 4Makk 1,5 und 2,24 verbinden das Nichtwissen (ἄγνοια) mit dem Vergessen (λήθη); vgl. Weish 17,3b; in 4Makk nehmen das Vergessen und das (schuldhafte) Nichtwissen von Gott im gleichen Maße zu; vgl. SCARPAT, Quarto Libro dei Maccabei, 70–72. 22 Vgl. MAZZINGHI, „‚Non c’è regno dell’Ade‘“, 245–251.

17,12–13: Eine Definition von Angst

17,14–15: Mitten in der Unterwelt

444

Weish 17,12–15

Die Zauberer schlafen „denselben Schlaf“, in Wirklichkeit sind sie aber wach. Es ist, als ob sie in einem Albtraum lebten; nichts ist zu befürchten, aber alles verwandelt sich für den Übeltäter in erschreckende Erscheinungen von gespenstischen Ungeheuern, „derselbe Schlaf“ ist also der Schlaf der Bewohner des Hades. Das Motiv des Schlafes in Verbindung mit der Unterwelt ist schon in einigen Bibeltexten enthalten, vgl. Ps 12[13MT],4; 87[88MT],6. Die Bestrafung der Zauberer besteht darin, dass sie von monsterartigen Gespenstern verfolgt werden (vgl. Ijob 20,8A: ὥσπερ φάντασμα νυκτερινόν), die auf die schon in 17,4c beschriebene Strafe verweisen, die aber hier eher ungeheuerartige Bilder zu sein scheinen, die nur in der Vorstellung der Zauberer als Auswirkung ihrer Angst vorhanden sind. Zu den unheimlichen Erscheinungen kommt noch der „Verrat der Seele“, d.h. das Gefühl, von der eigenen Lebenskraft im Stich gelassen zu sein, vgl. 17,12a: der „Verrat der Hilfstruppen der Vernunft“. Aber auch das, was bei den Zauberern geschieht, ist unmittelbare Folge ihrer Angst, deren völlige Unvorhersehbarkeit hier betont wird.

Diachrone Analyse 17,12–13 Die Angst wird in 17,12–13 als ein irrationales Element beschrieben, es ist die

Niederlage des λογισμός, der Vernunft, die nach Aristoteles die erhabenste Fähigkeit des Menschen ist (Metaph. 980b28); nach den Stoikern ist die Vernunft als höchster Teil der Seele τὸ ἡγεμονικόν und imstande, die Wahrnehmungen und Leidenschaften zu beherrschen (SVF II, 227 frg. 836; vgl. Philon, Abr. 256; 4Makk 1,30.35; 3,1–5); in 4Makk kommt der Begriff λογισμός mehr als siebzigmal vor.23 Auch in dem Philon-Text Ebr. 160 wird die Lähmung der rationalen Fähigkeiten verglichen mit einer belagerten Stadt, die auf keine Hilfstruppen zurückgreifen kann (μηδὲν … δυναμένη λαβεῖν ἔξωθεν βοήθημα).24 Schon in der biblischen Welt wird die Angst beschrieben als ein Dahinschwinden der Vernunft, das die Wahrnehmung der Wirklichkeit verändert, vgl. Ex 14,11– 12; in Jes 19,3 führt die Angst dazu, Totengeister und Wahrsager zu befragen; in Sir 40,5–7 entsteht die veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit aus dem φόβος θανάτου „Angst vor dem Tod“.25 Die in Weish 17,12–13 formulierte Definition stammt nach Alfred T. S. Goodrick26 wohl von einem Philosophen der stoischen Richtung in Alexandrien; s. Philon in Det. 199: „Die Erwartung (προσδοκία) künftigen Übels erzeugt die Angst (φόβον)“; vgl. auch Mut. 163: ἡ δὲ προσδοκία φόβον ἐγέννησεν. Die προσδοκία μέλλοντος κακοῦ „Erwartung künftigen Übels“ (so Platon, Lach. 198b; vgl. Tim. 70c) ist Teil der klassischen Definition der Angst durch

23 In 4Makk bedeutet λογισμός die Vernunft (in LXX.D übersetzt mit „Denkkraft“), insofern sie imstande ist, den Weg der Weisheit zu wählen und sich den Leidenschaften zu widersetzen. Der stoische Gedanke erlangt hier eine religiöse Bedeutung; denn 4Makk spricht genauer von einem λογισμὸς εὐσεβής; vgl. SCARPAT, Quarto libro dei Maccabei, 66– 70. 24 Diese Art von militärischer Ausdrucksweise ist wohl epikuräischer Herkunft, vgl. die Texte des Philodemos von Gadara bei MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 124. 25 Vgl. COSTACURTA, La vita minacciata, 245–246. 26 GOODRICK, The Book of Wisdom, 344–345.

Weish 17,16–21

445

Platon (vgl. Prot. 358d): Die προσδοκία als die Erwartung künftigen Übels ist es, die die Angst erzeugt (vgl. Sir 40,2). Siehe auch SVF III, 98 frg. 407 (ὁ δὲ φόβος ἐστὶ προσδοκία κακοῦ); SVF III, 94 frg. 386. Der Text von Plutarch De superstitione (Mor. 164E-167A) steht Weish 17,12–13 überraschend nahe.27 Beim Hinweis auf die Machtlosigkeit des Hades in 17,14 ist es nicht unwahr- 17,14–15 scheinlich, dass der Verfasser auch gegen die Behauptung der Zauberer polemisiert, die vorgeben, eine göttliche Kraft zu besitzen: ἡ δύναμις τῆς θείας μαγείας (PGM IV, 2448).28 Die Verwendung des Wortes φάντασμα in 17,15 geht wohl auf eine stoische Anschauung zurück: Nach SVF II, 22 frg. 55 ist ein φάντασμα „ein Anschein im Bewusstsein, wie er in den Träumen entsteht“ (δόκησις διανοίας οἵα γίνεται κατὰ τοὺς ὕπνους).

Weish 17,16–21: Gefangene der Angst 16 So war dann jeder, der also dort gerade niederfiel, in Gewahrsam genommen, eingeschlossen in das eisenlose Gefängnis. 17 Ob jemand nämlich ein Bauer war oder ein Hirt oder ein Schwerarbeiter in der Wüste – überrascht erlitt er die unentrinnbare Notwendigkeit; 18 durch eine einzige Kette der Finsternis nämlich wurden alle gefesselt. Ob nun ein zischender Wind oder ein wohlklingendes Echo von Vögeln in ringsum weit ausladenden Zweigen oder das Rauschen heftig strömenden Wassers 19 oder ein harter Lärm heruntergeworfener Steine oder ein unsichtbares Rennen hüpfender Lebewesen oder ein Laut brüllender, härtester Raubtiere oder ein aus einer Schlucht von Bergen widerhallendes Echo – (alles) hielt sie gelähmt und in Angst. 20 Die ganze Welt nämlich wurde bestrahlt von strahlendem Licht und war unbehindert mit ihren Werken beschäftigt. 21 Allein über jene aber war schwere Nacht gebreitet, ein Bild der Finsternis, die sie aufnehmen sollte, sich selbst aber waren sie schwerer (erträglich) als die Finsternis.

27 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 122–123. 28 Zum Motiv des Schlafs der Zauberer in der jüdischen Überlieferung vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 144–146.

446

Weish 17,16–21

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 17 Das Adjektiv *δυσάλυκτος „schwer zu vermeiden, unentrinnbar“ ist vor dem Buch der Weisheit nur bei Nikandros von Kolophon (2. Jh. v. Chr) belegt: Alexipharmaka 251.537. 19 In 17,19c wird anstelle der besser bezeugten Lesart ἀπενεστάτων als lectio facilior in Kodex A ἀπενεστάτος (- τατη in einigen Minuskeln) gelesen, also auf φωνή bezogen; dies ergäbe ein weiteres hyperbaton. Obwohl in 17,19e die Lesart παρέλυσεν gut bezeugt ist (B S mehrere Minuskeln), dürfte sie sekundär sein; der Kontext erfordert das Imperfekt παρέλυεν.

Synchrone Analyse 17,16: Die Fins- Der Absatz 17,16–21 richtet die Aufmerksamkeit wieder auf die Ägypter und auf ternis als Ge- die Wirkung, die die Finsternis auf sie hat. Zwei schon seit dem Anfang des Kapifängnis tels (17,1–6) genannte Motive kehren wieder: die Finsternis, betrachtet als Gefäng-

17,17–18a: Die unentrinnbare Notwendigkeit

17,18b-19: Natur als Quelle der Angst

17,20–21 Licht für die Welt

nis (17,16–18a) und die Angst (17,18b-19). „Jeder, der dort niederfiel …“: Das Adverb ἐκεῖ „dort“ meint die Höhlen des Hades (17,14) und zugleich die Häuser, in denen die Ägypter sich befinden, eingeschlossen aufgrund der Finsternis (17,2–4; vgl. Koh 9,10LXX und Ijob 3,17–19LXX, wo ἐκεῖ den Hades meint). Die Vorstellung der Finsternis als Gefängnis (εἱρκτή bezeichnet das Gefängnis für Schwerverbrecher), als einem Gefängnis „nicht aus Eisen“, d.h. nicht einem irdischen Gefängnis, verweist ebenfalls auf die Unterwelt (s.o. den Kommentar zu 17,5).29 Niemand kann dieser Situation entfliehen, weder der Bauer, noch der Hirt, noch der Arbeiter, der sich im Steinbruch in der Wüste plagt.30 Die „Generalisierung“ ist typisch für die Beschreibung von Angstsituationen (vgl. Jer 4,9; 27[50MT],36–37).31 Die Finsternis wird in diesem Kapitel immer mehr ein Symbol der Lage des Gottlosen, der als Gefangener seiner eigenen Schuld lebt (vgl. 17,2), gefesselt durch die Kette (ἅλυσις) der Finsternis, überrascht (*προλημφθείς; vgl. Gal 6,1) „von einer unentrinnbaren Notwendigkeit“ (17,17c; man beachte die Verwendung des hyperbaton). Die Übeltäter sind nicht nur Gefangene der Finsternis, sondern, wie schon zu 17,6.10 ausgeführt wurde, wird für sie alles und jedes, auch das Allerunschuldigste, eine weitere Quelle der Angst. In 17,18b-19 listet der Verfasser mit seltenen und gewählten Wörtern sieben Elemente der Natur auf, die, statt Anlass zur Freude zu werden, eine Quelle lähmenden Schreckens sind (17,19e: παρέλυεν αὐτούς). Die übrige Welt ist jedoch hell erleuchtet (λαμπρῷ κατελάμπετο φωτί), so dass alle unbehindert (*ἀνεμπόδιστος ist ein klassisch verwendetes Wort) ihren Arbei-

29 Man könnte auch an eine klassische Reminiszenz denken: an das finstere Gefängnis des Dionysos (Euripides, Bacc. 497: εἱρκταῖσί τ’ ἔνδον σῶμα σὸν φυλάξομεν „im Gefängnis werden wir deinen Leib bewachen“; 549: σκοτίασι κρυπτὸν εἱρκαταῖς „verborgen im finsteren Gefängnis“). 30 Zu dieser Deutung von τῶν κατ’ ἐρημίαν ἐργάτης μόχθων s. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 157–159. 31 Vgl. COSTACURTA, La vita minacciata, 231.

Diachrone Analyse

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ten nachgehen können. Die Finsternis dieser Nacht ist also nichts wirklich Existierendes, sondern ein „Bild“ (εἰκών) der „künftigen“ Finsternis, d.h. der Finsternis des Hades, die nur den Übeltäter treffen wird. Der Ausdruck εἰκών bezeichnet hier wie in Weish 2,23 und 7,26 die konkrete Darstellung einer anderen Wirklichkeit. Die Ursachen der Angst sind nicht so sehr äußere Dinge oder Vorgänge, sondern liegen im Gewissen des Gottlosen: „Sie waren sich selber schwerer erträglich als die Finsternis.“ Die bereits erwähnte Vorstellung, dass die Hölle schon im Leben des bösen Menschen beginnt, kehrt hier wieder: maximum scelerum supplicium in ipsis est „Die größte Strafe für Vergehen liegt in diesen selbst“ (Seneca, Ep. 87,24). Für die Gottlosen war der Gerechte schwer zu ertragen (βαρύς), wenn sie ihn nur schon sahen (2,14); jetzt entdecken sie, dass in Wirklichkeit sie selbst schwer zu ertragen sind. Was für ein Licht ist es, das nach 17,20 die ganze Welt hell erleuchtet? Aufgrund wörtlicher Übereinstimmungen bildet 17,20–21 ein flashback auf Weish 7,29– 30,32 einen Text, der die Überlegenheit der Weisheit im Vergleich mit dem Licht der Sonne hervorhebt. Es ist also das Licht der Weisheit, die den Gottlosen fehlt, das die übrige Welt erhellt. Hier zeigt sich wieder eine universalistische Offenheit, die weit über Ex 10,23 hinausgeht, wo das Licht auf die Israeliten allein beschränkt blieb. Von daher liegt im fünften Diptychon, trotz seiner breiten Ausführungen über die Finsternis, keine pessimistische Weltsicht vor: Die in 17,18b-19 beschriebene Natur wird Quelle der Angst nur für die Bösen; für alle dagegen, die die Weisheit aufnehmen, liegt die ganze Welt in einem „strahlenden Licht“. Die Ägypter, wie schon die Gottlosen in 5,6, sind von diesem Licht ausgeschlossen, weil ihnen das Licht der Weisheit fehlt. Das Motiv des Lichtes erinnert nochmals daran, dass der Kosmos ein Werkzeug in der Hand Gottes ist (vgl. 17,18b-19) und das Heil den Menschen mittels der Schöpfung erreicht.

Diachrone Analyse Der Ausdruck *δυσάλυκτος ἀνάγκη beschreibt den Gott Israels mit der Terminolo- 17,17–18a gie für das Schicksal, wie sie im Stoizismus gebräuchlich ist und nicht selten auch von Philon verwendet wird.33 Das Handeln dieses persönlichen und fürsorgenden Gottes, den der Verfasser sein ganzes Buch hindurch verkündet, nimmt hier die Züge der Unausweichlichkeit an, die die unpersönliche „Notwendigkeit“ bzw. das „Schicksal“ der Griechen kennzeichnen; aber das geschieht nur bei denen, die das Angesicht des biblischen Gottes zurückweisen. In der hellenistischen Zeit erlebt der Mensch sich vom Schicksal erdrückt und sucht Dem Schicksal eine Weise, seiner Macht zu entgehen oder es zu beherrschen: Dies versprachen dem entfliehen Eingeweihten die Mysterienkulte und die Zauberer ihren Klienten. Aber gegenüber der Macht des Gottes des Exodus wirkt kein Mysterienritus und keine Magie; kein Übeltäter kann dem Herrn entfliehen. Der Ausdruck δυσάλυκτος ἀνάγκη findet sich gleichlautend in PGM IV, 2858 im Kontext eines langen Gebetes an Selene, die angerufen wird als „unentrinnbare Notwendigkeit“, die der Zauberer aber durch seine Riten zu beherr32 REESE, Hellenistic Influence, 136. Nur an diesen beiden Stellen im Buch der Weisheit kommt διαδέχομαι zusammen mit „Nacht“ und „leuchtendem Licht“ vor. 33 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 160.

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17,18b-19

Weish 17,16–21 schen vorgibt.34 In den Mysterienkulten wird Isis dafür gepriesen, dass auch die Gefangenen des Schicksals, wenn sie zu ihr rufen, gerettet werden: ὅσσοι δ’ ἐμ μοίραις θανάτου συνέχονται ἐν εἱρκτῇ … „alle, die todbedroht im Gefängnis gehalten werden“ (Isidoros, I, 29), wie es die Ägypter waren, gedrängt (πονηρία … συνεχομένη) von ihrem Gewissen (17,11) und Gefangene (εἰς … εἱρκτὴν κατακλεισθείς), jedoch eines unentrinnbaren Schicksals. Zum Unterweltshintergrund des Gefängnismotivs s.o. den Kommentar zu 17,5; in Menippos oder Nekyomantía 11 des LUKIAN von Samosata erscheinen die Verdammten ἁλύσει μακρᾷ δεδεμένοι „mit einer langen Kette gefesselt“; vgl. Or. Sib. 2,188 (ἐν πυρίναις ἁλύσσεσι δεσμοῖς). Auch das Motiv der Notwendigkeit hat Anklänge an die Unterwelt, vgl. die δύστλητον ἀνάγκη, die „unerträgliche Notwendigkeit“, von der in den Katharmoi des Empedokles von Agrigent im Kontext eines Abstiegs in die Unterwelt die Rede ist; in 1 Hen 103,8 werden die Seelen der Verdammten im Hades ἐν ἀνάγκῃ μεγάλῃ καὶ ἐν σκότει sein.35 Weish 17,18b-19 ist ein gutes Beispiel des „inkulturierten“ Stils des Buches: Der Absatz ist mit großer Sorgfalt und Aufmerksamkeit auf die poetische Dimension formuliert nach rhythmischen Vorbildern, die die klassische Metrik nachahmen.36 17,18c erinnert an einen Text bei Apollonios von Rhodos (Arg. 2,733.741; dort werden die Platanen bei der Höhle (σπέος, μυχός) des Hades ἀμφιλαφεῖς genannt, und man hört das Echo des Meeres (ἠχήεντος). In Weish 17,18b-19 werden seltene poetische Wörter verwendet: *ἀμφιλαφής, *εὐμελής, *κτύπος, *ἀπηνής, *ἀθεώρητος, *ἀντανακλάω, *κοιλότης kommen nur hier in der LXX vor. Der Absatz übernimmt jedoch auch Anregungen über die Angst des Gottlosen aus biblischen Texten wie Ijob 4,13–16; 7,13–15; 33,14–18; vgl. Lev 26,36. Die Beschreibung des wehenden Windes, des Gesangs der Vögel in den Zweigen der Bäume, des laut rauschenden Wassers, der fallenden Steine, der hüpfenden Tiere, der brüllenden Raubtiere, des aus Bergschluchten widerhallenden Echos folgt dem Vorbild klassischer Beschreibungen der in der griechischen Literatur wohlbekannten loci amoeni (vgl. Platon, Phaidros 230b; Theokritos, Thyrsis 1–8; Plutarch, Tranq. An. 20 = Mor. 477C-F). Die Natur wird, anstatt – wie in der griechischen Welt – eine Quelle von Freude und Frieden zu sein, für die Ägypter ein wirklicher Albtraum, eine passende Strafe für die, die durch die Sünde der Götzenverehrung den Sinn der Schöpfung verkehrt haben.

17,20–21 Die alte jüdische Tradition hat über diesen Punkt der Exoduserzählung, dass das

Licht über Israel leuchtet, nachgedacht. Schon der Tg. Ps.-J. zu Ex 10,23 verbindet dies mit dem Studium des Gesetzes (Weish 18,4). Allerdings erscheint im Targum nicht die Vorstellung eines Lichtes, das während der Finsternisplage die ganze Welt erhellt. Vielmehr kommentieren die rabbinischen Traditionen Ex 10,23 von Jes 60,2 her: Die ganze Welt liegt in Finsternis (Pesikta Rabbati 17,7; Pesikta de-Rab Kahana 7,12). Auch Weish 17,20–21 zeigt Berührungen mit Jes 60,1–3LXX, besonders aber mit der Stelle Jes 60,3LXX, die hier in universalistischem Sinne gelesen wird: πορεύσονται βασιλεῖς τῷ φωτί σου καὶ ἔθνη τῇ λαμπρότητί σου „Könige werden in deinem Licht gehen und Völker in deinem Glanz“. Auch eine polemische Spitze gegen die Isis-Verehrung lässt sich feststellen, denn Isis wird φωτὸς κυρία „Herrin des Lichts“ (Pap. Oxyr. 1380, 248) genannt; λαμπρός ist Teil der Mysterienterminologie (s.o. zu 17,5). 34 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 186. 35 ZUNZ, Günther, Persephonae. Three Essays on Religion and Thought in Magna Graecia, Oxford: Clarendon 1971), 247 frg. 10 (= 116 Diesel-Kranz). 36 Beachte auch die Verwendung der Anapher und der (Siebener-)Reihe (accumulatio), MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 162–165.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung

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Weish 18,1–4: Weisheit und Gesetz, Licht für die Welt 1 Deine Heiligen aber hatten sehr großes Licht: Als sie (die Ägypter) zwar deren Stimme hörten, eine Gestalt aber nicht sahen, priesen sie sie glücklich, weil jene nicht auch gelitten hatten; 2 weil sie (ihnen) aber nicht schadeten, obwohl sie vorher Unrecht erlitten hatten, waren sie dankbar, und sie flehten, dass sie weggebracht würden. 3 Stattdessen gewährtest du eine feuerflammende Säule als Geleiterin auf einer unbekannten Reise, eine nichtschadende Sonne aber bei der ehrenvollen Auswanderung. 4 Jene waren nämlich würdig, des Lichtes beraubt und gefangen gesetzt zu werden in Finsternis, da sie deine Söhne eingeschlossen gefangen gehalten hatten, durch die das unverderbliche Licht des Gesetzes der Nachwelt gegeben werden sollte.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1

2

Die Mehrzahl der Textzeugen liest in 18,1c ὅτι μὲν οὖν, d.h. „(die Ägypter) priesen (die Israeliten) selig, obwohl auch jene (= die Israeliten) gelitten hatten“. Auf welche Leiden der Israeliten sollte sich das beziehen? Einige Kommentatoren (HEINISCH, so auch FELDMANN, FICHTNER, FISCHER, WEBER) denken, dass die Ägypter während der Finsternis das Schreien der Israeliten, die Zwangsarbeiten verrichten müssen, hören und sie glücklich preisen, da sie selber noch viel mehr als sie leiden. Mit GRIMM wird im vorliegenden Kommentar die einfache Negation οὐ gelesen (sie wird bezeugt von A 248 b 766, La, Sa, Mal.) und eine Korrektur von οὐ zu οὖν angenommen infolge einer unrichtigen Identifikation von ἐκεῖνοι mit den Ägyptern; dann ergibt sich als Bedeutung von 18,1c: „Sie (= die Ägypter) priesen sie (= die Israeliten) glücklich, weil jene (= die Israeliten) nicht auch gelitten hatten (wie sie = die Ägypter).“ Der Sinn von 18,2b καὶ τοῦ διενεχθῆναι χάριν ἐδέοντο ist nicht klar. Die alten Übersetzungen haben διαφέρω in ganz verschiedener Weise verstanden: Lat übersetzt et ut esset differentia donum petebant; Syh: „und sie erbaten die Gunst, vertauscht zu werden“; Arm: „und weil sie sich entfernten, baten sie sie“; Arab: „sie freuten sich über die Gunst, die sie ihnen erwiesen hatten“. CORNELIUS A LAPIDE übersetzt: petebant ut Deus hoc discrimen differentis providentiae (…) continuaret et perpetuum faceret „sie baten, dass Gott diese Unterscheidung verschiedener Fürsorge … fortsetze und dauerhaft mache“. Tatsächlich kann διαφέρω die Bedeutung „einen Unterschied machen“ nur im Aktiv haben, und außerdem sind die Israeliten gar nicht das Subjekt von ἐδέοντο. VÍLCHEZ LÍNDEZ übersetzt διαφέρω, ausgehend von Ex 10,24 und Weish 19,2, mit „aufbrechen“: „Sie baten um die Gunst, aufbrechen (zu dürfen).“ So auch ALONSO SCHÖKEL und WINSTON, der einen Hinweis auf Ex 11,8 und Ps 104[105MT],38 sieht. Diese Deutung ist schon alt und bereits in einer Glosse des Matthaeus CANTACUZENUS genannt, vgl. LARCHER, Sagesse III, 987; aber man müsste dafür διαφέρω einen völlig neuen Sinn geben. Viele neuere Kommentatoren folgen GRIMM: inimicitiarum gratiam et veniam petebant „sie baten wegen der Feindseligkeiten um Verzeihung“ (DEANE, FARRAR, CORNELY,

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Weish 18,1–4 HEINISCH, WEBER). LARCHER hat gezeigt, dass es, wenn διαφέρω wirklich im Sinne von „in Zwietracht sein“ verstanden werden kann, nicht möglich ist, χάρις die Bedeutung „Verzeihung“ zuzuweisen; διαφέρω kommt in Weish nur hier und in 18,10 vor, wo es, im Medium, die Bedeutung „sich ausbreiten“ hat. Das Verb δέομαι kommt auch in Weish 16,25 und 8,21 vor, in allen drei Fällen im Sinne von „bitten, flehen“; in 8,21 erscheint das Verb im Kontext von χάρις in der Bedeutung „Geschenk“, das dort die Weisheit meint, die Salomo vom Herrn erfleht. Χάρις hat in der LXX noch nicht die theologische Bedeutung, die das Wort im NT haben wird, und bezeichnet an sich eine „Gunst“, ein Entgegenkommen, ein Geschenk, das aus Güte und umsonst gewährt wird.37 So kann die Wendung χάριν ἐδέοντο übersetzt werden „sie baten um den Gefallen“. Demgegenüber versteht SCARPAT χάριν in adverbialem Sinn: „Sie baten darum, die früheren Feindseligkeiten nicht länger zu beachten“ (Sapienza III, 280). Zum Verständnis dieses schwierigen Ausdrucks kann Psal. Sal. 16,3 beitragen, ein Hymnus mit der Überschrift εἰς ἀντίληψιν ὁσίοις „zum Beistand für die Heiligen“. Die Seele des Beters liegt im Schlaf, fern vom Herrn, dem Tode nahe und an den Pforten des Hades: ἐν τῷ διενεχθῆναι ψυχήν μου ἀπὸ κυρίου θεοῦ Ἰσραήλ „als meine Seele weggebracht wurde vom Herrn, dem Gott Israels“. Hier erhält διαφέρω, gebenüber seiner üblichen Bedeutung „verschieden sein, differieren“, den weniger gebräuchlichen Sinn „wegtragen, entfernen“, eine Trennung, die Ergebnis einer Verschiedenheit ist, in diesem Falle bewirkt durch die Sünde, die die Seele von Gott entfernt hat. In diesem Sinne ist es möglich, Weish 18,2b so zu verstehen: Die Ägypter flehen die Israeliten an, sich zu entfernen, wegzuziehen („um des Sichentfernens willen“; ENGEL, „Weisheit“, 2156).

Synchrone Analyse 18,1–2: Ein Unter den ὅσιοι werden die Israeliten verstanden, die in 17,2 ἅγιοι genannt wurLicht für deine den. Während ἅγιος den theologischen Aspekt ausdrückte, bezieht sich ὅσιος auf Heiligen den sittlichen. Das Buch der Weisheit verwendet ὅσιος nur für Personen, nie für

Gegenstände. Im klassischen Griechisch bezeichnet ὅσιος das, was vom göttlichen Gesetz vorgeschrieben oder gestattet ist, und in Bezug auf Personen den „Frommen“, dessen Verhalten mit dieser ewigen Anordnung in Übereinstimmung steht.38 In der LXX entspricht das Adjektiv an den 38 Stellen, in denen ὅσιος ein hebräisches Äquivalent hat, dem Wort ‫„ חסיד‬loyal, verbunden, fromm“, das denjenigen bezeichnet, der eine besonder Beziehung zu Gott hat.39 Dieser Begriff gewinnt eine herausragende Bedeutung im Judentum der hellenistischen Zeit, wo die ἁσιδαῖοι, die dem Gesetz Treuen, zum Vorbild für das Volk werden (1Makk 2,42; 7,13; 2Makk 14,6). In der Verwendung von ὅσιος im Buch der Weisheit40 zeigen sich zwei Hauptlinien: Die ὅσιοι sind vor allem die Gerechten, die dem

37 Vgl. CONZELMANN, Hans, χάρις, ThWNT IX, 363–366.379; SPICQ, Notes II, 960–966. Im Buch der Weisheit kommt das Wort in 3,9.14; 4,15; 8,21; 14,26; 18,2 vor. 38 Vgl. MOTTE, André, „L’expression du sacré dans la religion grecque“, in: RIES, Julien (Hg.), L’expression du sacré dans les grandes religions, III, Louvain-la-Neuve: Homo religiosus 1986, 168. 39 Vgl. STOEBE, Hans J., ‫ חסד‬hͅesed, THAT I, 618–620, und RINGGREN, Helmer / FABRY, HeinzJ., hͅasîd, TWAT III,83–88. 40 Vgl. ZIENER, Begriffssprache, 60; PRIOTTO, La Prima Pasqua, 32–34.

Synchrone Analyse

451

Gesetz treu leben, vgl. Weish 3,9; 4,15; 6,10 in Verbindung mit 6,4. In Weish 7,27; 10,15.17; 18,5.9 wird der Begriff verwendet, um die Treue und Barmherzigkeit Gottes gegenüber dem Volk auszudrücken. In 18,5 wie auch in 18,9 zeigen sich klar beide Bedeutungen: Die ὅσιοι sind die, denen der Herr Wohltaten erwiesen hat gegenüber den Bösen, indem er sie durch die Wüste geführt hat (vgl. 18,3); die Zugehörigkeit zum Herrn wird hervorgehoben durch das Possessivpronomen „deine“. Gleichzeitig handelt es sich um die dem Gesetz, das ihnen anvertraut wurde (18,4c), „Treuen“. So vervollständigt sich die in 17,2 gegebene Sicht auf das Volk. Israel gehört dem Herrn, es ist ein ἔθνος ἅγιον, aber diese „Heiligkeit“ ist nichts Magisches. Denn Israel ist das Volk der „Treuen, Gläubigen“ (ὅσιοι), die die Güte des Herrn erfahren haben und sein Gesetz wahren; Initiative Gottes und Antwort des Menschen verschmelzen so in diesem Absatz. Das „sehr große Licht“, das für „deine Heiligen“ leuchtet, ist das gleiche Licht, das nach 17,20a die ganze Welt erhellt. Wiederum handelt es sich um eine midraschartige Erweiterung von Ex 10,23, die bereits den Übergang zu einer Bedeutung, die die einfache materielle Ebene überschreitet, durchscheinen lässt. Während in 17,20a das Licht das der Sonne ist, wird in 18,1 das Licht mit Gott verbunden: Es leuchtet für seine Heiligen, und 18,4 verdeutlicht noch, dass es um ein Geschenk, das von Gott kommt, geht, so wie die Finsternis die folgerichtige Strafe für die Gottlosen ist. Die inclusio mit dem Beginn von Kap. 17 macht dies alles noch klarer: Während die Gerichtsentscheide des Herrn „groß“ (μεγάλαι) sind (17,1a), ist sein Licht „sehr groß“ (μέγιστον) (vgl. 7,26).41 Die beiden Partizipien in 18,1b (ἀκούοντες und ὁρῶντες) beziehen sich auf die Ägypter; sie können die Stimme der Heiligen Gottes (ὧν) hören, aber keine Gestalt (μορφή)42 erkennen, die Finsternis macht sie blind. Wie schon in 17,3d.4c.6ac.10b.15 bis zur Erwähnung des Lichts in 17,20a kehrt das Thema des Sehens immer wieder. Die Ägypter preisen also die Israeliten selig, weil sie nicht gelitten hatten wie sie. Das 18,1c bestimmende Verb ist μακαρίζω, wie üblich wird der Grund und Inhalt der Seligpreisung mit ὅτι angegeben. Es liegt kein echter Makarismus vor wie in Weish 3,13–15,43 aber das Verb verweist auf die ὅσιοι von 18,1a und das Handeln Gottes, das von der Verwendung von μακαρίζω in Weish 2,16 her mit gemeint ist, wo die Gottlosen sagen, der Gerechte preise sein Endschicksal selig. Hier sind es die Ägypter, die die Israeliten von einem menschlichen Gesichtspunkt aus seligpreisen, aber in Wirklichkeit sind sie selig, weil sie die rettenden Gerichtsentscheide Gottes erfahren haben (vgl. 17,1a) und weil ihnen die Unsterblichkeit bestimmt ist. Das Verb πάσχω drückt den subjektiven Aspekt des Leidens aus. Es ist hier verwendet wie in Weish 12,27 und 18,11. Subjekt sind die Israeliten, aber das Verb 41 Vgl. HEMPEL, Johannes, „Licht, Heil und Heilung im biblischen Denken“: Antaios II/4 (1961), 375–388. 42 Im Buch der Weisheit ist μορφή ein hapax und in der LXX ein relativ seltenes Wort. Mit μορφή wird schon in homerischer Sprache die Form, die Gestalt, das Aussehen bezeichnet. PLUTARCH verwendet bei der Beschreibung der Frau das Wortpaar μορφή – φωνή, Aussehen – Stimme (vgl. Mor. 769CD). 43 Zum griechischen Sprachgebrauch vgl. GLADIGOW, Burkhard, „Zum Makarismos des Weisen“: Hermes 95 (1967), 404–413.

452

Weish 18,1–4

weist auch hin auf die Leiden der Ägypter, die den Israeliten erspart geblieben waren. Diese Leiden hätten für die Ägypter eine Lehre sein sollen, aber die Lehre wurde nicht angenommen, und die Leiden wurden so Vorraum des Todes. Als zweites Handeln der Ägypter stellt der Text (18,2a) dar, dass sie den Israeliten danken. Das ὅτι δέ am Anfang von 18,2a entspricht dem ὅτι μέν in 18,1c, wie auch das Imperfekt ηὐχαρίστουν parallel zum vorausgehenden ἐμακάριζον steht. Das Verb εὐχαριστέω hat noch nicht den ausgeprägten Sinn, den es im neutestamentlichen Sprachgebrauch gewinnen wird; es kommt in der LXX nur in Jdt 8,25; 2Makk 1,11; 12,31; 3Makk 7,16 vor, immer in profanem Kontext mit der Bedeutung „danken“.44 In diesem Sinne drückt das Verb hier einfach Dankbarkeit aus. Im Buch der Weisheit ist das Verb nur hier verwendet, das Substantiv εὐχαριστία kommt in 16,28 vor. Unter dem Einfluss hellenistischer Frömmigkeit sind die beiden Wörter in der Regel an Gott gerichtet45 und erlangen eine prägnantere Bedeutung, sie drücken dann eine allgemeine Haltung des Lobes und der Dankbarkeit aus, die der Mensch Gott gegenüber einnehmen sollte.46 Der Kontext von εὐχαριστία in Weish 16,28 ist dem Absatz 18,1–4 ähnlich: In 16,25 kommen δέομαι (sonst nur noch in 8,20) und in 16,28 ἥλιος und φῶς zusammen vor wie in 18,3. Das Geschenk des Manna ruft im Menschen eine Haltung des Lobes „vom Aufgang des Lichtes an“ hervor. So ist das Verhalten der Ägypter gegenüber den Israeliten dem der Israeliten gegenüber Gott ähnlich! Aber während die Israeliten dem Herrn danken, da sie sein Handeln in der Geschichte (die Gabe des Manna) anerkennen, gelangen die Ägypter nicht zum Erkennen der Hand Gottes, der in der Finsternisplage wirkt, und ihre εὐχαριστία ist ein bloß zwischenmenschlicher Dank, der nur dazu dient, ihr Entferntsein von Gott und das Wohlwollen des Volkes der „Heiligen“ ihnen gegenüber deutlicher hervortreten zu lassen. Der Grund für ihre Dankbarkeit wird durch (οὐ) βλάπτω im Sinne von (nicht) „schaden“ ausgedrückt (vgl. Weish 10,8) und durch *προαδικέω „als Erster Unrecht begehen“ (im Passiv: „… erleiden“) (vgl. Aristoteles, Rhetorica ad Alex. 1452b6; in Philon, Mos. I, 303 sind mit τῶν προηδικηκότων die gemeint, „die als Erste Unrecht getan haben“). Das Präfix προ- verweist auf eine vorausgehende Situation, was auch durch die Verwendung des Partizips Perfekt gekennzeichnet wird. Die Ägypter danken den Israeliten dafür, dass sie sich nicht gerächt und ihnen Schlimmes zugefügt haben, obwohl sie solches vorher erlitten hatten. Schwieriger zu deuten ist, was die Ägypter nach 18,2b tun: καὶ τοῦ διενεχθῆναι χάριν ἐδέοντο. Die gegebene Übersetzung ist nur wahrscheinlich (s.o. die Anmerkungen zum Text): Die Ägypter flehen die Israeliten an, sich zu entfernen. Dies kann als Wiedergabe von Ex 11,7–8 betrachtet werden: Die Unterscheidung zwischen Ägypten und Israel und die Bitte der Ägypter um das Fortziehen

44 Vgl. POLYBIOS 16,25,1; DIODORUS Siculus Bibl. XX, 34,5; JOÜON, Paul, „Reconnaissance et action de grâces dans le Nouveau Testament“: RSR 29 (1939), 112–114; LEDOGAR, Robert J., Acknowledgment, Praise-Verbs in the Early Greek Anaphora, Rome 1968, 101–106. 45 So auch bei FLAVIUS JOSEPHUS und in den Apokryphen, vgl. Test. Abr. 1,15,4; Test. Gad 7,6; Test. Iss. 5,3. 46 Vgl. LAPORTE, Jean, La doctrine eucharistique chez Philon d’Alexandrie, Beauchesne: Paris 1972; DUMOULIN, Entre la Manne et l’Eucharistie, 114–126; bes. 118.

Synchrone Analyse

453

Israels, vgl. Ex 12,33.36;47 Ps 104[105MT],38 (εὐφράνθη Αἴγυπτος ἐν τῇ ἐξόδῳ αὐτῶν). Der Infinitiv Aorist fügt einen Beiklang von Endgültigkeit hinzu: Die Ägypter bitten darum, dass zwischen Ägypten und Israel eine klare Trennung eintritt, die Israeliten sollten ein für alle Mal fortziehen. Es gibt seitens der Ägypter die Anerkennung einer „Unterscheidung“ zwischen Israel und ihnen (vgl. Ex 8,19): Die Verwendung von δέομαι, χάρις und das Passiv von διαφέρω deuten zurückhaltend diese Verschiedenheit an, die aber, im Gegensatz zu dem, was die Ägypter denken, ein Grund für die Überlegenheit wird: Die Israeliten sind verschieden von ihnen, aber aufgrund der Gegenwart Gottes, auf die das Passiv hindeuten kann, einer Gegenwart, die in der Exoduserzählung einige Ägypter anerkennen (vgl. Ex 9,20). 18,3 beginnt mit der Präposition ἀντί, die den abschließenden Gegensatz zum 18,3: Eine ehganzen Kap. 17 einleitet: Anstelle der Finsternis gibt es für die Israeliten die Feuer- renvolle Aussäule. Das Verb παρέσχες (vgl. 17,13) hat Gott zum Subjekt und damit eine große wanderung Bedeutung, die durch die Stellung am Ende von 18,3c verstärkt wird. Objekt ist die Feuersäule, die als „Führerin“ und „Sonne“ bezeichnet wird; zu einer ähnlichen Konstruktion s.o. Weish 16,20 (ἀνθ’ ὧν … παρέσχες). Die Hauptaufgabe der Feuersäule ist, Führerin auf einer „unbekannten Reise“, d.h. auf einer Reise ins Unbekannte zu sein. Das Wort ὁδηγός scheint relativ jung zu sein, es ist in den Papyri nicht vor dem 3. Jh. v. Chr. belegt.48 In der LXX kommt es nicht häufig vor (nur in 2Esdr 8,1; 1Makk 4,2; 2Makk 5,15 von ortskundigen Personen, die als Führer dienen). Häufiger dagegen ist das Verb ὁδηγέω; von den 42 Belegen finden sich 27 in den Psalmen, meist mit Gott als Subjekt. Israel hat das ὁδηγεῖν Gottes beim Auszug aus Ägypten erfahren: Ex 13,17; 15,13; Num 24,8; Ps 76[77MT],21; 77[78MT],53; 105[106MT],9. Dtn 1,33 bezieht das Führen (ὁδηγεῖν) ausdrücklich auf die Feuersäule (vgl. 2 Esdr 19,12.19; Ps 77[78MT],14). In Ps 42[43MT],3 wird ὁδηγεῖν in Beziehung gesetzt zum Licht Gottes. Die Verwendung von ὁδηγός in 18,3b ist eng verknüpft mit diesem alttestamentlichen Hintergrund: Einerseits bezeichnet ὁδηγός die Wolke (so auch Philon, Mos. I, 178: ἡ ὁδηγὸς νεφέλη), andererseits das Wirken Gottes, der der tatsächliche Führer Israels ist. In Weish 7,15 wird Gott selbst als ὁδηγός bezeichnet, in Weish 9,11; 10,10.17 ist die Weisheit Subjekt des Verbs ὁδηγέω (mit Anklängen an Isis-Titel, s.o. den Kommentar). Die Feuersäule gewinnt im Lichte dieser Texte und insbesondere von Weish 10,17 eine symbolische Bedeutung und scheint auf die Weisheit anzuspielen, die die wirkliche Führerin der Israeliten ist, vgl. das flashback von 17,20–21 auf 7,29–30.49 Auch in Weish 18,3 ist es deshalb möglich, eine Anspielung auf die Weisheit zu sehen: Mittels der Feuersäule ist es die Weisheit Gottes selbst, die Israel führt.

47 In Ex 12,36LXX erscheint ebenfalls das Wort χάρις („Gunst, Gefallen“), die der Herr seinem Volk bei den Ägyptern verleiht: καὶ κύριος ἔδωκεν τὴν χάριν τῷ λαῷ αὐτοῦ ἐναντίον τῶν Αἰγυπτίων. 48 Vgl. PREISIGKE, Wörterbuch, II, 150; MICHAELIS, Wilhelm, ὁδηγός, ThWNT V, 101–106. 49 Vgl. Test. Gad 5,7 bezüglich der Umkehr: Sie „vernichtet die Unwissenheit (ἄγνοια), verjagt die Finsternis, erleuchtet (φωτίζει) die Augen, schenkt (παρέχει) der Seele Wissen, leitet (ὁδηγει) den Verstand zum Heil“; die Umkehr ist gerade das, was den Ägyptern fehlt.

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Weish 18,1–4

Eine unbe- Der Zug der Israeliten wird ἄγνωστος ὁδοιπορία genannt (vgl. Herodot, Hist. 2,29; kannte Reise 8,118; Xenophon, Cyr. 1,2,10). Der in der LXX seltene Begriff50 ὁδοιπορία bezeichnet

eine raue, schwierige Reise (Flavius Josephus, Ant. 2,321; 3,37; Ant. 11,159; vgl. Pap. Oxyr. 118,6). Philon verwendet dieses Wort in Bezug auf den Zug der Israeliten durch die Wüste (vgl. Mos. I, 215.216; 2,73; 254). In Mos. II, 1 bezeichnet ὁδοιπορία den Durchzug durch das Rote Meer wie in Weish 19,5. In 18,3 wird schon in gewisser Weise auf diesen Durchzug angespielt, von dem es im Buch Exodus heißt, er sei während der Nacht geschehen (vgl. Ex 14,20.24.27). Diese Reise wird „unbekannt“51 genannt, da Israel vom Herrn auf einer anderen Route geführt wird (Ex 13,17–18), aber auch, weil sie bei Nacht unter der Führung Gottes geschieht und eine „ungewöhnliche“ (παράδοξος) Reise ist, außerhalb des Üblichen, ganz außerordentlich und schwer zu verstehen, wie auch die am Beginn des Diptychons genannten Gerichtsentscheidungen des Herrn (17,1a). Für diese außergewöhnliche Reise ins Unbekannte hat ihnen der Herr eine „nicht schadende Sonne“ gewährt. Das Adjektiv *ἀβλαβής kommt außerdem in der LXX nur noch in Weish 19,6 vor, wo es aber eine passive Bedeutung hat („unbeschädigt“); hier kann es wie im klassischen Sprachgebrauch mit „unschädlich, nicht schadend“ übersetzt werden.52 Die Feuersäule erhellt die Nacht, in der die Israeliten aus Ägypten ausziehen, aber wie eine nicht schadende Sonne, die die Reise nicht durch ihre Hitze behindert, wie es bei der Sonne in der Wüste der Fall ist (vgl. Ps 120[121MT],6; Jes 49,10). In ἀβλαβής lässt sich auch ein Bezug zu 18,2a erkennen: οὐ βλάπτουσιν. Wie die Israeliten sich nicht an den Ägyptern gerächt und nicht versucht haben, ihnen zu schaden, so ist die Feuersäule für Israel eine Sonne, die nicht schadet. Die Feuersäule ist also Führerin und Sonne bei einer φιλότιμος *ξενιτεία, einer „ehrenvollen Auswanderung“. In der LXX und im NT ist ξενιτεία ein hapax; in hellenistischer Zeit bedeutet es „Reise oder Aufenthalt im Ausland“ (Arist. 257; vgl. ξενιτεύω in Philon, Ios. 254 und Flavius Josephus, Ant. 16,401). Verbindet man die Bedeutung „Reise“ mit der von „Ausland“ in Weish 18,3c, gelangt man zur Bedeutung „Auswanderung, Emigration“.53 Sie ist φιλότιμος. Dieses Adjektiv hat in der Regel die Bedeutung „ehrliebend, freigebig, großmütig“, vgl. Arist. 227; Plutarch, Crass. 544B; in der LXX bedeutet das Adverb φιλοτίμως in 2Makk 2,21 „voller Eifer, tapfer“; bei Philon vgl. Virt. 32 und Prob. 133; siehe auch Flavius Josephus, Ant. 15,194, der nach der Anhörung des Herodes den Octavianus τὸν Καίσαρα φιλότιμον καὶ λαμπρόν nennt. In negativem Sinne kann φιλότιμος einen Menschen oder eine Tätigkeit als „ehrgeizig“ kennzeichnen (3 Mac 4,15 ist der einzige andere Beleg für φιλότιμος in der LXX). Die φιλοτιμία ist ein Topos in der hellenistischen Ethik, um den Ehrgeiz zu bezeichnen (vgl. Weish 14,18; Philon, Praem. 11; 50 Vgl. 1Makk 6,41; außerdem Weish 13,18; 19,5 (im NT: Joh 4,6; 2Kor 11,26). S. auch ὁδοιπόρος „Wanderer, Handelsreisender“ in Gen 37,25; Ri 19,17; 2Kgt [2Sam] 12,4; Spr 6,11; Sir 26,12; 42,3. 51 Zu ἄγνωστος vgl. Weish 11,18 und 2Makk 1,19; 2,7; das Adjektiv kann sowohl „unbekannt“ als auch „unerkennbar“ bedeuten. 52 Vgl. PLATON, Resp. 357b: αἱ ἡδοναὶ ὅσαι ἀβλαβεῖς „die unschädlichen / unschuldigen Vergügungen“; SVF III,154 frg. 587–588, und FLAVIUS JOSEPHUS, Ant. 2,266: πῦρ ἀβλαβές. 53 SCARPAT, „Ancora sull’autore“, 180, hält Weish 18,3c für den ältesten Beleg von ξενιτεία in der Bedeutung „Auswanderung“.

Synchrone Analyse

455

Fug. 28 u. ö.; auch schon bei Platon, Resp. 347b). In Weish 18,3c dürfte das Adjektiv aber in positivem Sinne zu verstehen sein: Der Auszug Israels aus Ägypten war eine „ehrenvolle Auswanderung“.54 18,4 ist der Abschluss des ganzen Diptychons und nimmt nochmals die grundlegenden Wörter und Motive auf: das Leitprinzip der Darstellung von 11,16 und die Gegenüberstellung Ägypten-Israel. Diejenigen, die diejenigen unterdrücken wollten, die der Welt das Licht des Gesetzes bringen sollten, sind jetzt des Lichtes beraubt und in Finsternis getaucht; φῶς steht als inclusio in 18,1a und 18,4a.c und wurde bereits in 17,20a angekündigt; σκότει in 18,4a nimmt τοῦ σκότους von 17,21b auf; φυλακισθῆναι und φυλάξαντες in 18,4a.b bilden ein Wortspiel und greifen διεφύλασσεν von 17,4a nach der Logik der Entgegensetzung auf; den Ägyptern geschieht, was sie den Israeliten zugedacht hatten: Gefangenschaft. Zugleich erscheint 18,4 aus für das ganze Buch, insbesondere den ersten Buchteil, typischen Wörtern, die bisher in diesem Diptychon noch nicht vorkamen, formuliert zu sein: ἄξιος, φυλάσσω, υἱός, ἄφθαρτος (vgl. auch ἀφθαρσία in Weish 2,23; 6,19), νόμος, αἰών, δίδωμι. „Jene“ (17,21a; 18,1c), d.h. die Ägypter, sind „wirklich (γάρ) würdig“, des Lichtes beraubt (στερηθῆναι) und in der Finsternis gefangen gesetzt zu werden. Zu ἄξιος in theologischem Sinne vgl. 1,16; die Ägypter haben die Bestrafung verdient. Das Verb *φυλακίζω, ein hapax der LXX, scheint vor dem Buch der Weisheit nicht belegt zu sein, auch nicht in den Papyri;55 die Bedeutung ist „ins Gefängnis werfen“, im Passiv „in Gefangenschaft geraten“. Zum dritten Mal kommt κατακλείω (17,2.16) vor, an den ersten beiden Stellen für die Gefangenschaft der Ägypter in der Finsternis, hier in 18,4b für die Israeliten. Die Erwähnung der „Söhne“ schließt an die der „Heiligen“ in 17,2a (ἔθνος ἅγιον) und 18,1a (οἱ ὅσιοί σου) an: Damit bietet der Verfasser eine dreifache Beschreibung der Israeliten. Das Schlusskolon 18,4c beginnt mit δι’ ὧν in instrumentaler Bedeutung: „durch die“. Das Volk Israel ist das von Gott benutzte Werkzeug, um der Welt sein Gesetz bekannt zu machen. Das grammatische Subjekt des Kolons ist das „unverderbliche Licht des Gesetzes“, aber das logische Subjekt ist Gott, auf den ἤμελλεν … δίδοσθαι verweist. Von den 22 Belegen des Verbs δίδωμι im Buch der Weisheit haben 21 Gott oder das Handeln Gottes zum Subjekt.56 Das Verb μέλλω kam schon in Weish 17,21b vor und fügt einen wichtigen Beiklang hinzu; es lässt nicht einfach nur an etwas denken, was noch geschehen wird (d.h. die Gabe des Gesetzes am Sinai), an etwas, das geschehen soll, etwas, das zum Plan Gottes für die Welt gehört. In 17,20 wird hervorgehoben, dass die Finsternisplage nur Ägypten traf, während der übrige κόσμος sich des Lichtes der Sonne erfreute; nach 18,4 benötigt die Welt, auch wenn sie sich des materiellen Lichts (des von 17,20a) erfreut, ein ganz anderes Einigungsprinzip, das nicht der kosmische „Äon“ (s.o. zu 13,9) ist,

54 Der adnominale Genitiv nach ἥλιον ἀβλαβῆ ist ein „Genitiv des Zweckes und der Richtung“ (BDR § 166): „eine nicht schadende Sonne für ihren ehrenvollen Auszug“. 55 Vgl. SCARPAT, „Ancora sull’autore“, 180. 56 Vgl. Weish 3,14; 6,3; 7,7.15.17; 8,20; 9,4.17; 10,2.10.14; 11,4.7; 12,9.10.11.19. 20.21; 14,3; eine Ausnahme bildet nur 4,3.

18,4: Das unverderbliche Licht des Gesetzes

456

Weish 18,1–4

sondern ein höheres Licht, das des Gesetzes. Αἰών ist hier zu verstehen als „Welt“ (vgl. 13,9) im Sinne von „Menschheit“ oder als „Zeitraum“ wie inWeish 14,6.57 Τὸ ἄφθαρτον νόμου φῶς bedeutet „das unverderbliche Licht, das das Gesetz ist“ (νόμου ist ein genitivus epexegeticus). Nur in Weish 2,2 erscheint das Gesetz in seinem normativen Charakter. Der Verfasser spricht lieber von der σοφία, die sowohl den Offenbarungs- (7,25) als auch den Normcharakter (6,18) des Gesetzes in sich vereinigt. In 18,4c ist das Gesetz mit dem Licht verbunden und so in seinem Offenbarungsaspekt gesehen. Israel soll also nicht als Träger einer Reihe von Vorschriften gedacht werden, sondern als Adressat und Vermittler der Offenbarung Gottes über religiöse und sittliche Wahrheiten, die aus dieser Offenbarung hervorgehen. Das Gesetz wird metaphorisch beschrieben als „unverderbliches Licht“. Zu *ἄφθαρτος vgl. Weish 12,1 und zu ἄφθαρσία 2,23 und 6,19. Es ist bezeichnend, dass im Buch der Weisheit das Gesetz des Gottes Israels mit einem aus der hellenistischen Philosophie entlehnten Adjektiv beschrieben und so eine Verbindung mit 2,23 hergestellt wird. Diese Unverderblichkeit, die die Epikuräer den Göttern vorbehalten, hat Gott dem Menschen vom Anfang der Schöpfung an geschenkt; das Gesetz ist das Mittel, um sie zu erlangen und zu bewahren. Das Gesetz, von dem in Weish 18,4c die Rede ist, zweifellos das Gesetz des Mose, wird nicht mit direkt philosophischen Begriffen eingeführt, wenn auch seine Darstellung der stoischen Konzeption eines universalen, vernunftgemäßen, ewigen, der Natur eingeschriebenen Gesetzes nicht widerspricht und sie nicht ausschließt.58 Besser als von direkten stoischen Einflüssen ist demnach von einer Beschreibung des mosaischen Gesetzes zu sprechen, die nicht im Gegensatz zur stoischen Vorstellung von νόμος steht, aber daraus mindestens zwei Grundelemente miteinbezieht: die Universalität und die Vernunftgemäßheit. Im Unterschied zu Philon jedoch identifiziert der Verfasser weder in Weish 18,4c noch im übrigen Buch das mosaische Gesetz mit dem Naturgesetz, auch wenn er Vorstellungen benutzt, die nicht allzu entfernt sind von der stoischen Konzeption. Noch vor einem Aufruf zum Gehorsam gegenüber einem Naturgesetz, das alle Menschen im Namen einer göttlichen und universalen Vernunft verpflichtet, die im mosaischen Gesetz verkörpert ist (wie es bei Philon geschieht), ist der Verfasser des Buches der Weisheit überzeugt, dass das mosaische Gesetz den universalen Werten, die der hellenistischen Kultur zugrunde liegen, nicht widerspricht; gerade in diesem Kontext wird es möglich, es anzunehmen. Außerdem gibt es, noch vor dem Gesetz, die Weisheit, die ihrerseits Symbol der Gegenwart Gottes in der Welt und im Menschen ist, d.h. eine Figur der Vermittlung. Die Weisheit, nicht so sehr das Gesetz, ist in der Welt am Werk, noch vor der Offenbarung am Sinai (vgl. Weish 10). Vielleicht wird gerade aus diesem Grund das mosaische Gesetz nie ausdrücklich mit der Vernunft oder der Natur identifiziert.

57 Zu einem möglichen Mysterienhintergrund der Erwähnung des Aiôn in Verbindung mit Licht s. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 221–222. 58 Über die Beziehung zwischen Weish 18,4 und der stoischen Vorstellung von „Naturgesetz“ vgl. MAZZINGHI, „Law of nature“, passim.

Diachrone Analyse

457

Diachrone Analyse In 18,1b.c liegen möglicherweise zwei Anspielungen auf Texte im Buch Ijob vor: 18,1–2 In 18,1b wäre an Ijob 4,16LXX zu denken, einen schon mehrmals benutzten Text: Eliphas in seiner nächtlichen Vision schaut, aber sieht nicht (εἶδον καὶ οὐκ ἦν μορφὴ πρὸ ὀφθαλμῶν μου), er hört nur eine Stimme (καὶ φωνὴν ἤκουον). 18,1c könnte auf Ijob 29,10–11LXX anspielen: οἱ δὲ ἀκούσαντες καὶ ἐμακάρισάν με. Damit zeigt sich hier das Thema des Erziehungsleidens und zugleich die bei Philon häufige Vorstellung, dass der Gottlose dem gleichen Leiden entgegengeht, das er einem anderen zugefügt hat (vgl. Ios. 156; Mos. I, 218). In Ex 11,3LXX heißt es: „Der Herr ließ sein Volk Gunst (χάριν) finden in den Augen der Ägypter“, ähnlich in Ex 12,36LXX. Weish 18,2 macht keinerlei Andeutung der in Ex 12,36 danach berichteten „Plünderung“ der Ägypter. Das ist nicht überraschend, wenn man die Schwierigkeiten bedenkt, die die spoliatio der Ägypter den antiken jüdischen und christlichen Exegeten bereitet hat (vgl. dazu den Kommentar zu Weish 10,17). Das Thema „Gunst finden lassen“ bei den Ägyptern erlangt eine gewisse Bedeutung in den rabbinischen Kommentaren;59 Weish 18,2 scheint Auslegungsüberlieferung dieser Art nahe zu stehen, wenn dort die Rede davon ist, dass die Ägypter Israel dafür danken, sich für das erlittene Übel nicht gerächt zu haben. Es sind jedoch auch bezeichnende neue Züge zu beobachten: Das Buch der Weisheit entfernt jeden Hinweis darauf, dass die Israeliten bei den Ägyptern „Gunst gefunden“ hätten; vielmehr sind es die Ägypter, die Israel um eine Gunst bitten, sogar darum flehen! Die Dankbarkeit der Ägypter wird zwar in gleicher Weisemit dem redlichen Verhalten Israels begründet, zeigt sich aber nicht in Geschenken, sondern bleibt unbestimmt, vielleicht wegen der Schwierigkeit, die der Verfasser empfunden hat in Bezug auf die „Plünderung der Ägypter“, die er in Weish 10,17 angedeutet hatte. Es ist verständlich, dass hinter diesen Abänderungen der Überlieferung das Bemühen steht, den jüdischen Lesern eine deutliche Botschaft zukommen zu lassen: Israel hat es nicht nötig, in den Augen Ägyptens „Gunst zu finden“, vielmehr ist Ägypten in gewisser Weise eingeladen zu Umkehr. Um eine „Gunst“ zu bitten ist auch typischer Sprachgebrauch in der Magie des hellenistischen Ägypten, vgl. PGM III, 575ff.; IV, 477.60 739f.; XIa,15; XIII, 704–708.

Es bleibt noch das Thema der Bitte der Ägypter um den Abzug Israels zu prüfen. In der Erzählung der letzten Plage lädt der Pharao Israel ein, fortzuziehen (Ex 12,31–32), wie Mose es in Ex 11,8 angekündigt hatte. Die Targumtradition verwandelt diese Bitte in ein regelrechtes Gebet: Das „Segnet auch mich!“ in Ex 12,32 wird in Tg. Ps.-J. zu: „Ich bitte euch nur darum zu beten, dass ich nicht sterbe“; so Tg. N. und Tg. Onq.: „Betet [auch] für mich!“

59 Vgl. Mekilta de-Rabbi Shim’on, der das „Gunst finden lassen“ gerade mit der Finsternisplage verbindet; Mekilta de-Rabbi Ismael (Pisha 13), wo der Ausdruck „Gunst finden lassen“ verstanden wird als Erhalten der Gegenstände aus Silber und Gold und der Gewänder von den Ägyptern, die damit die Redlichkeit der Israeliten während der drei Tage der Finsternis anerkennen; vgl. Ex. Rab. 14,3 (Stein, „Ein jüdisch-hellenistischer Midrasch“, 572). 60 In diesem Text wird die Vorsehung (πρόνοια) angerufen, dass sie den Mysten der Unsterblichkeit würdig mache aufgrund der ihr eigenen magischen Macht (δύναμις); hier lässt sich nochmals die völlige Umkehrung der Perspektive im Buch der Weisheit beobachten.

458

18,3: Die Wolkensäule

18,4: Ein Volk von Söhnen und Töchtern

Weish 18,1–4

In diesem Sinne ändert Tg. Ps.-J. auch den vorausgehenden Vers Ex 12,31: Aus „Der Pharao ließ Mose rufen“ wird „Der Pharao flehte mit trauriger Stimme“. Weish und Tg. Ps.-J. stehen sich also nahe in der Deutung der Aufforderung der Ägypter an die Israeliten fortzuziehen als ein Flehen. In späteren Überlieferungen erscheint das gleiche Thema viel ausführlicher, vgl. Mekilta de Rabbi Shim’on, der geradezu eine Art Bekehrung des Pharaos vorauszusetzen scheint, der seine hohen Beamten dazu nötigt, die Israeliten um Verzeihung zu bitten für alles, was diese erlitten hatten. Mit der Erwähnung der Feuersäule bezieht sich das Buch der Weisheit zweifellos auf Ex 13,21–22: Gott führte Israel bei Tage ἐν στύλῳ νεφέλης und bei Nacht ἐν στύλῳ πυρός.61 Die Säule wird mit dem Adjektiv πυριφλεγής „feuerflammend“ beschrieben (in der LXX sonst nur noch in 3Makk 3,29); vgl. Ps 77[78MT],14 und 104[105MT],39, wo, wenn auch das Wort „Säule“ genannt wird, von Feuer, das die Nacht erhellt, die Rede ist. Die Ägpter erflehten die Gunst, von Israel getrennt zu werden, d.h., dass Israel fortziehe; demgegenüber sorgt Gott für eine Wolkensäule als Führerin bei der Reise. Israel zieht fort, aber die Trennung, um die Ägypten flehte (vgl. 19,2), führt für sie, gerade aufgrund der Wolkensäule (vgl. 19,7), zu einem „fremdartigen Tod“ (vgl. 19,5). Nochmals erscheint die Ironie des Verfassers: Die Gottlosen erreichen gerade das Gegenteil von dem, was sie erhofft hatten. Der apologetische und polemische Kontext, innerhalb dessen Philon das Wort ξενιτεία verwendet (Flacc. 172), legt es nahe, dass auch das Buch der Weisheit gegen die in Alexandria verbreitete Meinung polemisiert, die Juden seien „Ausländer“ (vgl. Weish 19,13–17). Diese Auffassung wird bezeugt von den antijüdischen Darstellungen des Exodus, die sich bemühten, den Exodus als eine unrühmliche Vertreibung von Aussätzigen zu schildern (so Lysimachos, den Flavius Josephus anführt, Apion. 1,304– 320) oder von Unreinen (so Chairemon, Apion. 1,289–290). Der Exodus wird in diesen Texten zu einem Auszug in Schande, wobei die Hebräer sich den übelsten Schandtaten hingeben (Apion. 1,309–311; vgl. Weish 18,2a) oder als ein Haufen von armen Kranken erscheinen (Apion. 2,15; vgl. Weish 18,1c). Im Gegensatz dazu ist der Exodus nach dem Verfasser eine „ehrenvolle Auswanderung“, ja, Israel erscheint als „unterschieden“, entfernt von Ägypten (vgl. 18,2b); aber diese Unterschiedenheit ist keineswegs ein Schandmal, sondern ein Zeichen der Ehre. Dass Israel Sohn Gottes ist, stellt im AT einen grundlegenden Zug bei der Beschreibung der Beziehung zwischen Gott und dem Volk dar, oft in Verbindung mit dem Exodus: Israel ist der „erstgeborene Sohn“ JHWHS (Ex 4,22; Jer 38[31MT],9; vgl. Dtn 14,1), den er aus Ägypten gerufen hat (Hos 11,1) und den er als geliebten Sohn und Lieblingskind (Jer 38[31MT],20) betrachtet; Gott hat Israel unter den Völkern, die seine anderen Kinder sind (Jer 3,19), ausgezeichnet. Diese Beziehung markiert einerseits den Abstand (vgl. Mal 1,6), betont aber andererseits die Güte und Liebe Gottes (vgl. Ps 102[103MT],13).62 61 Vgl. LUZARRAGA, Jesús, Las tradiciones de la nube en la Biblia y en el judaismo primitivo (AnBib 54), Rom: Pontificio Istituto Biblico 1973; vgl. auch MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 235–236. 62 Vgl. HAAG, Ernst, ben, TWAT I,670–682; FOHRER, Georg, υἱός, ThWNT VIII, 340–353; LE DÉAUT, La nuit pascale, 84–87; zu dem Motiv im Buch der Weisheit vgl. ZIENER, Begriffssprache, 75–81; PRIOTTO, La Prima Pasqua, 112–116; GIMÉNEZ GONZÁLEZ, „Si el justo es hijo de Dios“, 271–306.

Diachrone Analyse

459

Zur Zeit der Abfassung des Buches der Weisheit ist das Thema von Israels Sohnschaft zu Gott sehr verbreitet, vgl. Jos. Asen. 6,2.6; 13,10; 21,3: Josef wird anerkannt als „Sohn Gottes“; Jub. 1,24–25, wo die Erwähnung der „Söhne Gottes“ mit der Beobachtung der Gebote verknüpft ist; vgl. 1QM 17,8 „die Söhne seines Bundes“, und noch Or. Sib. 3,702–703, wo das Motiv „Söhne“ verbunden ist mit einer Verheißung für die Zukunft. Siehe auch Psal. Sal. 17,26–27, wo die „Söhne Gottes“ mit dem „heiligen Volk“ (λαὸς ἅγιος) in Beziehung gesetzt werden. In 3Makk 6,28 und Est E 16 [8,12q], vgl. Jdt 9,4, erscheint das Söhne-Motiv wie in Weish 18,4 in Verbindung mit ihrer Unterdrückung seitens der Gottlosen; so schon in 1 Hen 62,11.63 In der rabbinischen Tradition kommt das Thema der Sohnschaft Israels zu Gott in enger Verknüpfung mit der Gesetzesbeobachtung vor, so R. Aqiba in Abôt 3,21–22; vgl. Dtn. Rab. 7 zu Dtn 29,1: Gott sagte zu den Israeliten: „Möchtet ihr gekennzeichnet werden als meine Söhne? Beschäftigt euch mit der Tora und der Beobachtung der Gebote, so werden alle sehen, dass ihr meine Söhne seid“; die Überlieferung wird R. Jehuda ben Shalom (ca. 370 n. Chr.) zugeschrieben. Das Buch der Weisheit ist wohl die Schrift, in der das Thema der Sohnschaft am eingehendsten behandelt wird. Das Wort υἱός erscheint in 2,18; 5,5; 9,7 (s. den Kommentar); 12,19.21; 16,10.26; 18,4.13, mit einem thematischen Fortschreiten vom einzelnen Gerechten (2,18; 5,5) bis zum ganzen Israel: „Das Israel des Exodus wird Vorausbild und Modell des zeitgenössischen Israel und auch des Einzelnen!“.64 Der dritte Buchteil zeigt, dass Israel in der Geschichte des Exodus die eigene Sohnschaft zu Gott erkennen kann: seine Geduld (12,9.21), seine Barmherzigkeit (16,10), seine Wunder (16,26), bis dahin, dass sogar die Feinde Gottes genötigt sind, eine solche Beziehung zwischen Gott und Israel anzuerkennen (18,13).65 Die Originalität des Buches der Weisheit liegt nicht so sehr in der Darstellung Israels als Sohn Gottes und auch nicht in der Verknüpfung der „Söhne und Töchter“ mit dem „Gesetz“ (vgl. Weish 2,12–13), sondern eher in der Einordnung des Themas der Sohnschaft vor dem Hintergrund der Geschichte Israels. Während in Weish 5,5 „Sohn Gottes“ auf die Zukunft und in 2,18; 9,5.6.7 auf die Gegenwart (vgl. 12,19.21) blickt, verweist Israel, „deine Söhne und Töchter“, in 18,4b-c zugleich auf die Vergangenheit (Aufenthalt in Ägypten und Exodus), lenkt den Blick der Leserschaft auf ihre Gegenwart und begründet die Hoffnung für die Zukunft; denn das Gesetz ist „unverderblich“.

63 Anders ist die Verwendung des Motivs bei Philon: „Söhne (und Töchter) Gottes“ sind alle, die Wissen von dem Einen besitzen (οἱ δὲ ἐπιστήμῃ κεχρημένοι τοῦ ἑνός; vgl. Conf. 145) und sich bemühen, Söhne und Töchter des Logos Gottes zu sein (vgl. Conf. 146– 147); weiterhin sind es die, die das natürlicherweise Wünschenswerte und das Gute tun (Spec. I, 318); „Sohn Gottes“ ist auch Abraham, weil er „Freund Gottes“ und Teilhaber an seiner Weisheit ist (vgl. Sobr. 55–56, wo Gen 18,17 kommentiert wird). Das Thema ist jedenfalls nicht sehr häufig bei Philon; vgl. DELLING, Gerhard, „Die Bezeichnung ‘Söhne Gottes’ in der jüdischen Literatur der hellenistisch-römischen Zeit“, in: JERVELL, Jacob / MEEKS, Wayne A. (Hg.), God’s Christ and His People, Studies in Honour of Nils A. Dahl, Aarhus: University Press 1977, 18–28 [23–24]. 64 PRIOTTO, La Prima Pasqua, 113. 65 In 12,21 und 18,6.22 erscheint neben dem Thema der Sohnschaft auch das des Bundes; die „Söhne und Töchter“ sind zugleich auch die „Heiligen“; es gibt also eine unmittelbare Berührung zwischen Weish 18,1a und 18,4b-c.

460 Gesetz und Aufgabe Israels

Gesetz als Licht

Weish 18,1–4 Angesichts von Weish 18,4 kann diskutiert werden, ob der Verfasser sich eine Aufgabe Israels gegenüber der Welt vorstellte. Auch in Schriften, die eine große Offenheit gegenüber der hellenistischen Welt zeigen wie der Aristeasbrief oder die Testamente der XII Patriarchen taucht nie der Aufruf zu einer ausdrücklichen Sendung Israels gegenüber den anderen Völkern auf; nicht einmal in Josef und Aseneth wird zu einer missionarischen Praxis aufgerufen. Bei Philon ist Israel zur Welt gesandt als Priester und Prophet (vgl. Abr. 98 und Mos. I, 149; Spec. I, 96–97; Israel soll für die Welt beten). Philon setzt Übertritte voraus (vgl. die Vorstellung von denen, die ihre Mythen verlassen, um sich der Wahrheit zuzuwenden: μεταναστὰς εἰς ἀλήθειαν „Übersiedler zur Wahrheit“ Spec. IV, 178; vgl. auch Spec. I, 309; I, 51f.; Mos. I, 244), aber auch er denkt nicht an eine ausdrückliche Mission Israels. Das Buch der Weisheit, das weit entfernt ist vom Partikularismus des Jubiläenbuches, der Qumranschriften und eines großen Teils der rabbinischen Tradition, hebt die universale Bestimmung des Gesetzes und eine gewisse aktive Rolle Israels hervor. Was seine Verantwortlichkeit begründet, ist das Exodusereignis, bei dem der partikuläre Aspekt sich mit der universalen Perspektive verbindet. Für das Israel in der Diaspora geht es darum, den Exodus wieder zu erleben nicht nur als Absonderung, sondern als aktives Zeugnis der Gegenwart Gottes und so „Licht“ zu sein mittels eines Gesetzes, das jedoch eingegliedert ist in das Angebot einer umfassenderen „Weisheit“, die jedem Menschen erreichbar ist.66 Die Metapher des Gesetzes als Licht hat ihre Wurzeln in der biblischen Überlieferung, z.B. Spr 6,23LXX: „Die Vorschrift des Gesetzes (ἐντολὴ νόμου) ist eine Leuchte und ein Licht (φῶς)“; vgl. auch Ps 118[119MT],105: Das Wort des Herrn ist „Leuchte“ für die Füße und „Licht“ für den Weg des Gerechten; vgl. Jes 2,1–5 und Mi 4,1–3. In diesen Texten verweist das Bild des Lichtes an erster Stelle auf die Vorstellung von Führung. Das Gesetz oder das Wort sind Licht, um den Weg des Menschen zu beleuchten; damit wird eine starke ethische Bedeutung des Gesetzes betont. Dem Buch der Weisheit dürfte Sir 45,17A näherstehen: καὶ ἐν νόμῳ αὐτοῦ φωτίσαι Ισραηλ;67 es handelt sich um das mosaische Gesetz, das die Aufgabe der Führung hat und das den sittlichen Weg des Menschen erleuchtet. In Jes 2,3 ist die universalistische Perspektive deutlich; der Gottesknecht wird in Jes 42,1–6; 49,1–6 als „Licht für die Völker“ beschrieben; vgl. Tob 13,13–14S. Ein interessanter Text ist Test. Levi 14,3–4: „Das Licht des Gesetzes ist euch gegeben, um jeden Menschen zu erleuchten …“; aber dort liegt der Akzent eher auf der mangelnden Beobachtung des Gesetzes durch Israel, wenn auch, wie in Weish 18,4, eine universalistische Dimension vorhanden ist. Ein Zug von Originalität bei der Bezeichnung des Gesetzes als Licht im Buch der Weisheit liegt darin, dass es dies mit der Finsternisplage verbindet und zugleich zur „Unverderblichkeit“ in Beziehung setzt, d.h. mit dem ewigen Leben des Gerechten. Der ethische Aspekt, der sich in den anderen jüdischen Überlieferungen, insbesonder in den Targumim und in Qumran, häufig zeigt, ist demgegenüber für den Verfasser des Buches der Weisheit weniger wichtig.68

66 Zu diesem ganzen Komplex vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 251–261, und die dort angeführten Texte. 67 Die meisten Handschriften haben anstelle von φωτίσαι (A) die Verbform φωνῆσαι, der hebräische Text enthält kein dem „Erleuchten“ entsprechendes Wort. Ein ähnliches Problem bildet 4Q Test 17–18: Dtn 33,10 ‫„ יורו‬sie werden [Jakob deine Rechtsvorschriften] lehren“ erscheint in dem Qumran-Text als ‫„ ויאירו‬und sie werden … erleuchten“ (vgl. ALLEGRO, John M., Discoveries in the Judean Desert, V, Oxford: Oxford University Press 1968, 57–60). „The Qumran reading thus reflects a piece of Hellenistic Exegesis which was doubtless motivated not only by the superficial similarity of the Hebrew words, but also by the fact that φωτίζειν was a current terminus technicus of the mystery cults“, GASTER, Theodor H., „A Qumran Reading of Deuteronomy XXXIII 10“: VT 8 (1958), 217–219. 68 Zu dieser ganzen Thematik s. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 247–250, und die dort zitierten Texte.

Synthese von 17,1–18,4

461

Synthese von 17,1–18,4 Vom Beginn des Diptychons an ist deutlich, dass hier die Taten Gottes in einer Gegenüberstellung dargestellt werden sollen nach den in Weish 11,5.16 genannten Prinzipien. Das im Buch vorgestellte Antlitz Gottes ist das eines barmherzigen Gottes. Die Hervorhebung der Bestrafung der Ägypter ist jedoch als eine ernste Ermahnung und als Einladung zur Umkehr zu verstehen. Die Sünde der Ägypter ist eine Form des Götzendienstes; es ist dieselbe Sünde wie die der Juden in Alexandria, die sich von der Magie oder den Mysterienkulten verführen ließen. Der Weg, dem Götzendienst zu entfliehen, wird vom Gesetz gewiesen, das erkannt wird mittels der Gabe der Weisheit und beschrieben wird durch die Metaphern des Lichts (Weish 17,20–21) und der Wolkensäule (Weish 18,3); dieses Gesetz ist wenigstens grundsätzlich für die ganze Welt bestimmt. Finsternis und Angst als Bilder der tragischen Situation der Gottlosen fassen den Sinn des Diptychons zusammen. Finsternis und Angst haben vor allem eine psychologische Bedeutung in Bezug auf das Leben des Gottlosen, der in Finsternis und als Gefangener der Angst lebt (vgl. 17,12–13). Finsternis und Angst haben sodann eine ethische Bedeutung als Symbol der begangenen Sünden (vgl. besonders den ersten Absatz 17,1–6). Sie haben schließlich eine theologische und eschatologische Bedeutung, sie sind Bild dessen, was mit denen geschehen wird, die Gott verlassen haben (vgl. besonders 17,21, aber auch 17,14). Das Unterweltszenario in Kap. 17 soll den theologischen und eschatologischen Charakter von Finsternis und Angst noch verstärken. Der ewigen Bestrafung des Gottlosen wird das Licht gegenübergestellt, das den Gerechten erwartet, der die Weisheit und das Gesetz annimmt. Es handelt sich um ein „unverderbliches“ Licht (18,4), das dem Menschen die Hoffnung auf ein Leben ohne Ende eröffnet. Diese vierfache Bedeutung (psychologisch, ethisch, theologisch und eschatologisch) gilt auch für das Gewissen, das in 17,11 zum ersten Mal in einer Bibelstelle vorkommt. Weish 18,1–4 steht innerhalb der konzentrischen Struktur der Kap. 16–19; der Akzent dieses letzten Teils des Buches liegt nicht auf der Finsternis, sondern auf dem Licht. Das Licht der Weisheit und des Gesetzes werden zusammen mit der Gabe des Manna (Weish 16,15–29) und des Wortes Gottes (vgl. das Motiv des Logos in Weish 18,14–19) zu grundlegenden Wegelementen auf die erneuerte Schöpfung hin, die im letzten Kapitel des Buches beschrieben wird (vgl. besonders 19,18– 21). Die Hervorhebung der Finsternis und des Lichtes im fünften Diptychon weist nochmals auf die Heilsbedeutung des Kosmos hin. Die allgemeine Tonlage des Diptychons schließlich darf nicht unbeachtet bleiben: Sowohl in 17,1a als auch in 18,1–4 richtet sich der Sprecher in der Du-Form an Gott. Das Diptychon über die Finsternis ist deshalb nicht so sehr eine moralische oder theologische Reflexion über das Buch Exodus und die damit verbundenen Überlieferungen, vielmehr, wie schon gesagt wurde, eine „hymnische Erinnerung“ an den Exodus. Durch die direkte Anrede Gottes gestaltet der Verfasser seinen Text gebetsähnlich zu einem Hymnus auf die Güte Gottes, der sich in der Geschichte und im Kosmos offenbart und so für die ihm Treuen eine Hoffnung für die Zukunft eröffnet.

Weish 18,5–25: Die sechste Gegenüberstellung: die Paschanacht Zur literarischen Struktur von Weish 18,5–251 Der Text des sechsten Diptychons enthält eine Betrachtung der Paschanacht (Ex 12,1–13,16), die der Erzählung über die Erstgeburt der Ägypter gegenübergestellt wird (Ex 12,29–40). Das Motiv der „Nacht“ verbindet es mit dem vorangehenden Diptychon. Wie immer verwendet der Verfasser keine Eigennamen, und die Leserschaft kann nur aufgrund ihrer Kenntnis der biblischen Erzählungen verstehen, wovon hier die Rede ist. Der literarischen Struktur des Diptychons wurde bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Eine erste Einheit stellt 18,5–9 dar, markiert durch die zweifache inclusio ὁσίων – ὅσιοι (18,5a.9a) und πατράσιν – πατέρων (18,6a.9e), und es gibt Anzeichen für eine konzentrische Komposition: Dem in der Mitte stehenden Kolon 18,7b gehen sieben Kola voraus und folgen sieben Kola, es fasst den Inhalt des ganzen Absatzes zusammen: „Jene Nacht“ (18,6a) bedeutet Rettung für die Gerechten, aber Untergang für die Feinde (vgl. σωθέντος 18,5b, σωτηρία, 18,7b und ἀπώλεσας 18,5d, ἀπώλεια 18,7b). Eine nächste kleine Einheit, in der es um die Klage der Ägypter über den Tod der Erstgeborenen geht, bildet, eher inhaltlich als durch literarische Signale markiert, 18,10–13. Die Präposition αντ- in der Verbform ἀντήχει kennzeichnet den Beginn der Gegenüberstellung. In 18,13a verweist ἀπιστοῦντες zurück auf ἐπιστεύσαν (18,6b im ersten Absatz) und hebt so das Thema des Glaubens hervor. Im dritten Absatz 18,14–19 tritt der Logos Gottes auf; auch dieser Absatz bildet eine inhaltliche Einheit, deren Ende in 18,19b durch den offensichtlichen Neueinsatz in 18,20a markiert ist. Das Wort ὀλεθρία in 18,15b bildet eine Stichwortverklammerung zu ἐπὶ τῷ ὀλέθρῳ in 18,15b am Ende des vorhergehenden Absatzes. Während 18,14–16 die kosmische Aktion des Logos beschreibt, wendet sich 18,17– 19 der psychologischen Wirkung seines Auftretens zu. 18,19 ist syntaktisch parallel zu 18,6 konstruiert; dem Vorauswissen der Väter (προεγνώσθη πατράσιν ἡμῶν) entsprechen die Vorauszeichen (οἱ ὄνειροι προεμήνυσαν), dem Wissen der Väter (εἰδότες) die beseitigte Unwissenheit (ἵνα μὴ ἀγνοοῦντες) der Erstgeborenen; der Freude der Ersteren (ἵνα … ἐπευθυμήσωσιν) der Untergang der Letzteren (ἵνα … ἀπόλωνται; vgl. ἀπώλεια in 18,7b).2

Der vierte Absatz (18,20–25) ist durch eine deutliche inclusio gekennzeichnet: πεῖρα (18,20a.25b) und ὀργή (18,20c.25b; zu ὀργή vgl. auch 18,23b). Es lässt sich eine

1 2

Vgl. WRIGHT, „The Structure“, 183–184; PRIOTTO, La Prima Pasqua, 28–29; BIZZETI, Sapienza, 96–97. Vgl. PRIOTTO, La Prima Pasqua, 120.

Weish 18,5–9

463

konzentrische Struktur beobachten: 18,20–21 (acht Kola) entspricht 18,23–25 (acht Kola), darin insbesondere 18,20 und 18,25 (s.o. die inclusio), das Thema ist die Ankündigung der Plage und ihrer Begrenzung; 18,21b-c wie auch 18,24 erinnern an die liturgische Funktion Aarons, 18,21d-e und 18,23 verweisen mit zwei Aoristen auf die siegreiche Aktion Aarons (vgl. ἀντέστη in 18,21d und στάς in 18,23b, womit der gleiche Ausdruck von 18,16b aufgegriffen wird). In der Mitte des Absatzes ist 18,22 hervorgehoben: Darin wird der Sieg Aarons, also das Thema dieses letzten Absatzes im Diptychon, beschrieben. In 18,22c kehrt das Motiv des λόγος wieder (vgl. 18,15a). Das Motiv des „Todes“ (18,20a und 18,16b) bildet eine weitere Verbindung zum vorhergehenden Absatz.3 Später wird noch der konzentrische Aufbau der Kap. 16–19 aufgezeigt werden und dass die vier Absätze des sechsten Diptychons den vier Absätzen von Kap. 17 vollkommen entsprechen, so dass der Text über das Licht des Gesetzes in Weish 18,1–4 Mitte und Höhepunkt bildet.

Weish 18,5–9: Die Paschanacht 5 Weil sie beschlossen hatten, die Kleinkinder der Heiligen zu töten, hast du, als das eine Kind ausgesetzt und gerettet war, zur Strafe ihnen eine Menge ihrer Kinder weggenommen und (sie alle) zusammen vernichtet in ungestümem Wasser. 6 Jene Nacht wurde unseren Vätern im Voraus zu erkennen gegeben, damit sie sich freuten im untrüglichen Wissen um die Eide, denen sie geglaubt hatten. 7 Erwartet wurde von deinem Volk die Rettung der Gerechten, aber der Feinde Untergang. 8 Wodurch du nämlich die Gegner straftest, dadurch hast du uns zu dir gerufen und uns verherrlicht. 9 Im Verborgenen nämlich opferten die heiligen Kinder der Guten, und sie verpflichteten sich in Eintracht auf das Gesetz der Gottheit, in gleicher Weise und an denselben Gütern und Gefahren Anteil zu nehmen, und stimmten dabei schon im Voraus die heiligen Loblieder der Väter an.

3

Noch andere Verbindungen dieses Absatzes zu 18,6–9.10–13 werden von PRIOTTO, La Prima Pasqua, 175, beobachtet, die zeigen, dass 18,20–25 nicht als ein isoliertes Textstück betrachtet werden kann (anders WRIGHT, „The Structure“, 183–184).

464

Weish 18,5–9

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 5

6

9

Das Pronomen αὐτῶν hat eine Doppelfunktion: Einerseits gehört es zu ἀφείλω („du hast ihnen weggenommen“), andererseits zu τὸ … πλῆθος τέκνων („die Menge ihrer Kinder“), in beiden Fällen in hyperbaton-Position. Das Verb *ἐπευθυμέω ist ein hapax der LXX und ist anderswo in der griechischen Literatur nicht belegt. Es ist vielleicht eine Neubildung des Verfassers. Jedoch kommt εὐθυμέω im Symmachus-Text von Ps 31[32MT],11a und Spr 15,15 vor; vgl. εὐθυμία in der Symmachus-Übersetzung von Ps 42[43 MT],4 und 50[51 MT],10; εὐθυμία ist ein hellenistisch klingendes Wort (vgl. εὔθυμοι in 2Makk 11,26), sie bedeutet in den Psalmtexten eine Frohgestimmtheit, die von Gott her kommt; dies scheint der Sinn zu sein, in dem Weish das Kompositum ἐπευθυμέω verwendet (zur Nähe von Weish und Symmachus vgl. FICHTNER, Der AT-Text der Sapientiae Salomonis, 191–192). SCARPAT (Sapienza III, 284–285) widmet dem schwierigen Ausdruck ἐθυσίαζον ὅσιοι παῖδες ἀγαθῶν, den er für ganz ungewöhnlich hält, eine ausführliche Erörterung. Er möchte ἀγαθῶν als Neutrum Plural verstehen und übersetzen „sie brachten Opfer von guten Gaben dar“. Es entspricht aber eher dem griechischen Sprachgebrauch, dem Adjektiv ἀγαθός seinen sittlichen Sinn zu belassen und es auf die Erzeltern zu beziehen („fromme Söhne guter Väter“, GRIMM, Weisheit, 284). In 18,9b entscheidet sich SCARPAT (Sapienza III, 285) für die lectio facilior ὁσιότητος (S O und mehrere Minuskeln; Lat Sa Sy Arm; vgl. Weish 2,22; 5,19; 9,3; 14,30) gegen die Lesart der Mehrheit *θειότητος, ein seltenes Wort, das zur hellenistischen religiösen Terminologie gehört (Arist. 95; Röm 1,20; vgl. REESE, Hellenistic Influence, 12). In 18,9d bestimmt SCARPAT (Sapienza III, 286) τοὺς ἁγίους als Attribut in hyperbatonStellung zu αἴνους in 18,9e, dem Objekt zu προαναμέλποντες,das seinerseits participium coniunctum zum Verb διέθεντο ist. Zu *προναμέλπω, hapax der gesamten Gräzität, vgl. SCARPAT, Sapienza III, 287; ENGEL, „Weisheit“, 2156.

Synchrone Analyse 18,5: Einleitung zur sechsten Gegenüberstellung

Das Anfangskolon nennt das Thema des Diptychons und greift dazu vor allem die Erzählung in Ex 1,16–22 auf mit der Anordnung des Pharao, die männlichen Kinder der Hebräer zu töten. Die Hebräer werden hier wie in 18,1 οἱ ὅσιοι genannt, die Gott und seinem Gesetz Treuen, die gemeinsam die Adressaten des ‫ חסד‬Gottes, seiner Zuwendung und Verbundenheit, sind. Damit werden die Israeliten in typischer Midraschart idealisiert. Die Kleinkinder der Hebräer werden als νήπια bezeichnet (vgl. Weish 12,24 und 15,14 im klassischen Sinn von Kindern, die noch nicht ihre Vernunft gebrauchen [können], und Weish 10,21 für die Kleinen der Hebräer im Zusammenhang mit dem Durchzug durch das Meer), hier wie auch in der Regel bei Flavius Josephus in einem Kontext von Verfolgung.4 Die Kinder der Ägypter werden eher neutral τέκνα genannt (18,5c; so auch Mose in 18,5b).18,5b bezieht sich in Form eines Genitivus absolutus auf die Kindheitsgeschichte des Mose, der aus dem Wasser gerettet wurde (Ex 2,1–10). Die Erwähnung der Aussetzung des Mose erinnert an Weish 11,14 (τὸν ἐν ἐκθέσει πάλαι ῥιφέντα „den bei seiner Aussetzung einst [in den Fluss] Geworfenen“); vgl. Apg 7,21.

4

Vgl. BERTRAM, Georg, νήπιος, ThWNT IV, 913–915.

Synchrone Analyse

465

Der Beschluss Gottes, alle Ägypter zusammen5 im Wasser des Roten Meeres umkommen zu lassen (ἐν ὕδατι σφοδρῷ, vgl. Ex 15,10), folgt dem in Weish 11,5.16 formulierten Prinzip (vgl. 18,8a). Am Ende einer Geschichte der Zurückweisung Gottes seitens der Ägypter gibt es für sie nur noch den Tod, was wie ein trauriger Refrain das ganze Diptychon durchzieht; ein anderes Element des Kosmos, das Wasser, begleitet erneut das Handeln Gottes. Zu der Wendung εἰς ἔλεγχον vgl. 1,9; 2,14 und insbesondere 11,7, wo diese Wendung eine strafende Reaktion Gottes einleitet, die hier endgültig zu sein scheint. Wie am Anfang der vorhergehenden Gegenüberstellung in 17,1 und wie in 18,1 ist wieder die Anrede Gottes in 18,5b-c zu beachten; der Verfasser hebt damit die ständige Anwesenheit Gottes bei seinem Volk hervor. In 18,6–9 wird die Paschanacht mit der Wendung „jene Nacht“ wie in Ex 12,42 bezeichnet: Nur an diesen beiden Stellen kommt in der LXX die Formulierung ἐκείνη ἡ νύξ vor. Es geht also um eine andere Nacht als die, von der in der vierten Gegenüberstellung, bes. in Kap. 17, durchgehend die Rede war, die Nacht der Angst, die über die Ägypter hereingebrochen war. „Jene Nacht“ hingegen steht, in Form einer Antonomasie (anstelle des Eigennamens wird eine bezeichnende Eigenschaft oder eine Apposition gesetzt), für die Nacht der Rettung, wie man sie sich im Judentum zur Zeit der Abfassung des Buches der Weisheit vorstellte und sie feierte.6 Diese Nacht wurde im Voraus „unseren Vätern“ bekannt gemacht; damit sind wohl, wie auch später in 18,22, die Erzeltern gemeint (so auch schon in 12,21).7 Die Freude, die der Verfasser erwähnt, könnte eine positive Interpretation des Lachens Abrahams sein, das in Gen 17,17 anlässlich der Ankündigung der Geburt Isaaks berichtet wird (vgl. Jub. 14,21; Philon, Quaest. Gen. 3,55, und im gleichen Sinne Joh 8,56). Diese Freude erwächst daraus, dass die Erzeltern den eidlichen Verheißungen Gottes (ὅρκοι) geglaubt haben, von denen sie eine untrügliche Gewissheit hatten (ἀσφαλῶς εἰδότες); zum Thema Glauben und Vertrauen s.o. zu Weish 12,2 und 16,26. Die Erwartung der Paschanacht (18,7a) durchzieht die ganze Geschichte des Volkes Israel, ist aber insbesondere in dem Volk, das sich in Ägypten befindet, lebendig: Nach Ex 11,4–8 und 12,21 war bereits im Voraus angekündigt worden, was geschehen sollte; das Pronomen ἡμᾶς „uns“ in 18,8b zeigt, dass der Verfasser in seiner gegenwärtigen Situation sich in das damalige Geschehen einbezogen sieht. Es geht aber um „dein Volk“, das er mit einer gewissen Idealisierung als Volk von Gerechten bezeichnet (18,7b), wie es schon seit Weish 10,20 geschah (vgl. 11,14; 12,9; 16,17.23; 18,20); diese „Gerechten“ verweisen, wie bereits bemerkt wurde, auf die Hauptfigur des ersten Buchteils, den „Gerechten“. 5

6 7

An dieser Stelle hat ὁμοθυμαδόν einen von der üblichen Bedeutung „einmütig“ (so in Weish 10,20) abweichenden Sinn; s. u. zu 18,12. PRIOTTO, La Prima Pasqua, 38–40, zeigt, dass zwar die Verbindung des Kindermordbefehls des Pharaos mit dem Tod der Ägypter im Roten Meer schon in der jüdischen Überlieferung vorliegt (vgl. z.B. Jub. 48,14; WINSTON, Wisdom, 314–315), die Verknüpfung mit der Geburt des Mose aber neu ist. Hier ist an das berühmte Gedicht über „Die vier Nächte im Buch der Denkwürdigkeiten“ (Tg. N. zu Ex 12,42) zu erinnern: LE DÉAUT, La nuit pascale, passim. Deutsche Übersetzung in ENGEL, Das Buch der Weisheit, 282–283. Siehe die diesbezüglichen Argumente bei CHEON, Exodus Story, 82.

18,6–9: Die Nacht der Rettung

18,7–8: Die gegensätzlichen Wirkungen der Taten Gottes

466

18,9: Das Paschafest

Pascha und Bund

Weish 18,5–9

Der Kerngedanke des Verfassers ist im chiastisch formulierten Kolon 18,7b zusammengefasst: „Jene Nacht“ bringt Rettung für die Gerechten und für die Feinde Untergang. Das Wort ἀπώλεια erscheint im ersten Buchteil in einem eschatologischen Kontext (s. auch unten), vgl. 1,13 (ein programmatischer Text, der feststellt, dass Gott sich nicht am Untergang der Lebenden freut) und 5,7, wo die Gegenüberstellung von Gottlosen und Gerechten, die Kap. 5 prägt, einen weiteren Berührungspunkt mit dem sechsten Diptychon darstellt. 18,8 greift das Prinzip von 11,5 auf und wendet es darauf an, dass in dieser Nacht die einen gerettet, die anderen jedoch bestraft wurden; man kann hier auch an die Doppelwirkung des Logos Gottes denken, die in 18,14–16 (strafender Logos) und in 18,22 (rettender Logos) beschrieben wird. Dem Tod der Feinde, auf den 18,8a verweist, wird die Verherrlichung der Israeliten gegenübergestellt. Sie werden von Gott zu sich gerufen, um ihm in der Wüste ein Schlachtopfer darzubringen; das Verb προσκαλέομαι „zu sich rufen“ (vgl. Mt 18,32) nimmt ausdrücklich Ex 3,18LXX und 5,3LXX auf, die einzigen Stellen, an denen das Verb Gott als Subjekt und Israel als Objekt hat; durch die Wiedergabe προσκέκληται ἡμᾶς „er hat uns zu sich gerufen“ (MT: „er ist uns begegnet“ gibt die LXX dem Text einen originellen Sinn (vgl. Hos 11,1 μετεκάλεσα). Das Fest in der Wüste scheint also das Ziel des von Gott an Israel ergangenen Rufes zu sein. In diesem Ruf besteht die Verherrlichung des Volkes. In der Paschanacht offenbart sich die „Herrlichkeit“ Gottes durch die Rettung seines Volkes. Das Paschafest wird in 18,9 beschrieben. Die Israeliten heißen hier die „Heiligen“ (vgl. 18,5a; hier aber mit stärkerer Hervorhebung der Treue zum Gesetz), die „Kinder der Guten“; mit den ἀγαθοί sind hier wohl die in 18,6a genannten Erzeltern gemeint (vgl. Philon, Praem. 67; Abr. 235). Zu dem als „Schlachtopfer“ betrachteten Pascha vgl. Ex 12,21.27; Dtn 16,5. Dabei handelt es sich um ein vom ganzen Volk dargebrachtes Opfer, was dessen priesterlichen Charakter hervorhebt (vgl. Philon, Decal. 159; Mos. II, 224; Spec. II, 145–146). Zum Motiv des „Geheimen“ s. u. Die Deutung von 18,9b ist nicht einfach:8 Das Verb διατίθεμαι „verfügen“ wird in der LXX häufig mit διάθηκη „Vertrag, Bund, Testament“ verbunden. Der Aorist διέθεντο scheint auf einen bestimmten Moment bei der Paschafeier zu weisen. Mit νόμος als Objekt ist διατίθεμαι nur bei Platon (Leg. 834a) und bei Strabon (Geogr. X, 4,19) belegt. So lenkt das Verb zu einem Verständnis von νόμος nicht so sehr im Sinne von „Gesetz“ als vielmehr von „Vertrag, Verpflichtung“ mit einer vorausgreifenden Anspielung auf den Sinaibund (vgl. νόμος im Kontext der Paschaerzählung in Ex 12,49); denn es geht um den νόμος τῆς θειότητος „das Gesetz der Gottheit“. Die Verpflichtung, die die Israeliten eingehen, wird zur Antwort, die sie auf den Ruf Gottes (18,8b) geben im Gefolge des Glaubens der Erzeltern (18,6b) und im Gegensatz zur ἀπιστία der Ägypter (18,13a). Die „Heiligen“ (18,9a) verpflichten sich insbesondere, Güter und Gefahren miteinander zu teilen (18,9c-d). Der Text ist allgemein gehalten und kann sich auf die Exodusereignisse wie auch auf die Situation der jüdischen Gemeinschaft in Alexandrien beziehen.

8

Die ausführliche Erörterung bei LARCHER, Sagesse III, 1003–1006, gelangt jedoch nicht zu einem Schluss.

Diachrone Analyse

467

18,9 schließt mit einer Erinnerung an die „heiligen Loblieder der Väter“ (s.o. die Die heiligen Anmerkungen zum Text). Das Verb προαναμέλπω „als Erste anstimmen, im Voraus Loblieder der erklingen lassen“ drückt aus, dass das von den Israeliten gesungene Lob der Trau- Väter erklage der Ägypter (vgl. 18,10) vorausgeht. Die Partikel ἤδη „schon“ bezieht sich wohl auf einen Moment der Feier: Die Israeliten verpflichteten sich zu dieser Bestimmung Gottes, wobei sie Lieder sangen. Bei den „heiligen Lobliedern der Väter“ kann man an die „überlieferten Gesänge“ denken, wobei die „Väter“ in umfassendem Sinn zu verstehen sind als die Vorfahren, angefangen bei den Erzeltern (inclusio mit 18,6a). Vielleicht denkt der Verfasser auch an das Pascha-Hallel, ein mit dem Paschafest verbundener Lobgesang, der die geschwisterliche Gemeinschaft, von der die Rede war (18,9a), ausdrückt und sich als Dank an Gott wendet (vgl. Jub. 49,6).

Diachrone Analyse Zum „ausgesetzten Kind“: Philon benutzt das Verb ἐκτίθημι dreimal in einem 18,5 ähnlichen Kontext (Mos. I, 10–12). Es erscheint seltsam, dass Mose, besonders in 11,14, als „ausgesetzt und in den Fluss geworfen“ bezeichnet wird, gleichsam als ob seine eigenen Eltern ihn verworfen hätten. Wahrscheinlich liest der Verfasser die Mosegeschichte midraschartig in der Weise der Erzählung von Josef, den seine Brüder abgelehnt hatten. Auch bei Philon wird die Aussetzung des Mose als eine Tat der Eltern dargestellt ohne eine direkte Absicht, das Kind zu retten; dass die Rettung erfolgt, geschieht durch den Willen Gottes (Mos. I, 12).9 In nur einem Vers verdichtet der Verfasser den ganzen Erzählbogen von Ex 1–15 in vier Momenten: der Beschluss, die kleinen Kinder der Israeliten zu töten; Geburt und Rettung des Mose; der Tod der ägyptischen Erstgeborenen als Gegenzug gegen den Beschluss der Ägypter (εἰς ἔλεγχον: 18,5c); die Entscheidung Gottes, die Ägypter im Wasser des Meeres zu vernichten. Diese Zusammenstellung ist einmalig in der jüdischen Tradition. Bereits die Texte Gen 15,13–14 und 46,3–4 lassen daran denken, dass Gott den 18,6 Erzeltern in irgendeiner Weise die künftige Paschafeier im Voraus angekündigt hat; das dürfte durch das Passiv von *προγινώσκω angezeigt sein (vgl. 1Petr 1,20, wo das Verb in der gleichen Bedeutung verwendet ist); vgl. die Verwendung dieses Verbs für das Verhalten der Weisheit gegenüber dem Menschen in Weish 6,13 und 8,8; Weish 18,6 könnte behutsam auf dieses Vorauswissen anspielen. Einfacher wäre es anzunehmen, dass sich Weish 18,6 auf Ex 12,21–23 bezieht: Gott erklärt ihnen im Voraus, was bald geschehen wird; dann könnten die „Väter“ auch die Exodusgeneration selbst sein.10 Die Erwartung der Paschanacht lässt auch eine eschatologische Dimension 18,7–8 erkennen, die sich schon in anderen Ausdeutungen des Exodus im AT beobachten

9 Neugeborene auszusetzen war in der damaligen Zeit gängige Praxis (vgl. LARCHER, Sagesse III, 669–670 und 995–996); es könnte sein, dass der Verfasser mit seiner Darstellung eine solche Praxis kritisieren wollte. 10 Vgl. HÜBNER, Weisheit, 213, der hier sowohl an die Erzeltern als auch an die Exodusgeneration denkt, da der Verfasser die Geschehnisse in einer Zusammenschau sehe.

468

Weish 18,5–9

lässt.11 Diese bestätigt die Verwendung des Verbs προσδέχομαι, das in Weish 14,29 in einem eschatologischen Kontext erscheint, wie auch in Ijob 2,9LXXund Ps 54,9LXX; vgl. Lk 2,25.38; das Motiv „Rettung“, in Verbindung mit Weish 5,2 betrachtet, lässt auch an die künftige Rettung des Gerechten (18,7b: der Gerechten) denken und nicht eine bloße Befreiung aus der Gefahr eines physischen Todes. Der Gedanke der „Verherrlichung“ des Volkes (ἐδόξασας 18,8b) findet sich schon in Jes 44,23LXX Ἰσραὴλ δοξασθήσεται, und in Weish 19,22 am Ende des Buches hat ἐδόξασας sicherlich auch einen eschatologischen Beiklang (s.u. den Kommentar).12 Dass das Opfer der Kinder der Guten „im Geheimen“ stattfand, macht etwas 18,9 ratlos. Michelangelo Priotto vermutet eine Bezugnahme auf Ex 11,2LXX, wo der griechische Übersetzer der dem Mose gegebenen Anordnung Gottes das Adverb κρυφῇ „im Geheimen“ hinzufügt. Wahrscheinlicher ist eine aktualisierte relecture des Paschaopfers zu vermuten in (polemischer?) Bezugnahme auf die Mysterienkulte.13 Der literarische Kontakt mit Weish 17,1–6 beleuchtet den Text noch weiter:14 Die Ägypter meinen, bei ihren heimlichen Verfehlungen verborgen zu bleiben (17,3a), auch die Israeliten sind eingeschlossen „im Geheimen“ ihrer Häuser – aber um einem Gott, der rettet, zu begegnen; denn es geht um ein „Gesetz der Gottheit“, um einen Bund, auf den die Israeliten sich in der Paschanacht verpflichten in Eintracht (vgl. 4Makk 3,21; zum hellenistischen Hintergrund von ὁμόνοια s. den Kommentar zu 10,5). Was bedeutet aber nun genau dieses „Gesetz der Gottheit“? Wahrscheinlich meint der Verfasser damit die Paschavorschriften in Ex 12,43–48, es sei denn, dass er sich auf uns unbekannte Riten und Bräuche bezieht. Die Paschanacht drückt in dieser Weise das für Israel charakteristische BrüderSchwestern-Verhältnis zueinander aus; vgl. Philon, Quaest. in Ex. 1,3 und den ganzen Kontext des Mahles vor dem Paschafest in Joh 13. Der liturgische Aspekt, der das Leben der Israeliten kennzeichnet, ist so mit einer konkreten Solidarität verknüpft. Damit gibt der Verfasser auch eine Antwort auf die Anschuldigungen von μισανθρωπία „Menschenhass“, die gegen die Juden seiner Zeit erhoben wurden. Die Verbindung von „Vertrag, Verpflichtung“ („Bund“) und „Pascha“ ist nicht selten in den ältesten jüdischen Überlieferungen und spiegelt die Sorge für die Treue der Gemeinschaft; denn in Situationen drohender Apostasie wird die Paschafeier für Israel Zeichen der Einheit und Bundestreue.15

11 Diese Dimension hat schon KUHN (Beiträge, 336) gesehen; sie wurde ausführlich aufgezeigt von PRIOTTO (La Prima Pasqua, 59–64). Zur eschatologischen Perspektive, in der die Paschanacht in der biblischen Überlieferung betrachtet wird, vgl. LE DÉAUT, La nuit pascale, 119–121. 12 HÜBNER (Weisheit, 212 Anm. 163) sieht eine mögliche Beziehung von Röm 8,30 (ἐκάλεσεν… ἐδόξασεν) zu Weish 18,8b (προσκαλεσάμενος ἐδόξασας). 13 Vgl. PRIOTTO, La Prima Pasqua, 73–75, der darauf hinweist, das es in der jüdischen Tradition keinerlei Geheimhaltungsgebot für das Paschaopfer gibt; vgl. auch WINSTON, Wisdom, 316. 14 Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 292. 15 Vgl. die bei PRIOTTO, La Prima Pasqua, 79–84, angeführten Texte, insbesondere die Targume zu Ex 12,42–49.

Synchrone Analyse

469

Weish 18,10–13: Die Totenklage der Ägypter 10 Dem hallte aber als Echo das uneinige Schreien der Feinde entgegen, und der um die betrauerten Kinder klagende Laut breitete sich aus. 11 Mit gleicher Strafe wurden Sklave wie Herr bestraft, und der einfache Mann erlitt dasselbe wie der König; 12 gemeinsam aber hatten alle unter einer einzigen Bezeichnung „Tod“ unzählige Tote; die Lebenden waren nämlich nicht ausreichend, um (sie) zu begraben, da auf einen einzigen Schlag die Blüte ihres Stammes umgekommen war. 13 Während sie in Bezug auf alles nämlich ungläubig (geblieben waren) wegen der (Praktiken von) Magie, bekannten sie aufgrund des Umkommens der Erstgeborenen, das Volk [Israel] sei Gottes Sohn.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 10 Das Adjektiv ἀσύμφωνος „nicht zusammenklingend, uneins“ kommt in der LXX nur noch einmal in Dan, Bel 15–17LXX vor. Von Texten Platons her (Pol. 262d; Leg. 777d) ist es laut SCARPAT (Sapienza III, 287) „unverstehbar“. 11 Der Begriff δίκη kann verstanden werden als strafende „Gerechtigkeit“ Gottes, hier personifiziert wie in 1,8; 11,20; 14,31 (vgl. PRIOTTO, La Prima Pasqua, 99 mit Anm.); mit VL ist es wohl vorzuziehen, ὁμοίᾳ δίκῃ als modale Bestimmung zu verstehen und δίκη mit „Strafe“ zu übersetzen: „mit gleicher Strafe wurden … bestraft“; κολάζω, kommt in Weish mehrfach vor und hat dort immer, implizit oder ausdrücklich, Gott als Subjekt. 12 Der Ausdruck ἐν ἑνὶ ὀνόματι θανάτου in 18,12a ist seltsam und wird gewöhnlich im Sinne von „durch eine einzige Form von Tod“ verstanden; LARCHER (Sagesse III, 1010) vermutet einen temporalen Sinn: „(sie hatten) kaum die Zeit, das Wort Tod auszusprechen“. Man könnte auch an den hellenistischen Brauch denken, im Grundstückskataster den Titel des Eigentums von jemandem aufzuführen (BIETENHARD, Hans, ὄνομα, ThWNT V, 244); in diesem Sinn bedeutet der Ausdruck, dass alle Ägypter unter einem einzigen Titel aufgeführt werden, dem des „Todes“.

Synchrone Analyse Den freudigen Gesängen der Israeliten (18,9a) hallte plötzlich wie ein Echo die 18,10: Die Totenklage der Ägypter (der „Feinde“) wegen des Todes der Erstgeborenen entge- Klage der gen; der Verfasser gestaltet eine stark dramatische Szene, indem er die Leser aus Ägypter der einen Umgebung in die andere versetzt, von den Feiern der Israeliten zu den schauerlichen Klagen der Ägypter. Die Beschreibung gipfelt in der Feststellung von 18,13b: Die Ägypter müssen bekennen, dass Israel Sohn Gottes ist. Das Verb *ἀντηχέω verweist auf das, was die Ägypter während der Finsternisplage hören (ἦχοι 17,4; ἦχος 17,18; ἠχώ 17,19). Das „Schreien“ (βοή) der Ägypter

470

18,11–12: Eine einheitliche Bezeichnung: „Tod“

18,13: Dieses Volk ist Sohn Gottes!

Weish 18,10–13

ist ἀσύμφωνος „uneinig, unharmonisch“ (oder „unverständlich“, s.o.) und bildet einen Gegensatz zur „Einmütigkeit“ (ὁμόνοια 18,9b) der Israeliten. 18,11 hebt hervor, dass der Tod der Erstgeborenen alle Schichten der Ägypter (vgl. 17,16–17) mit der gleichen Strafe belegt, hier aufgegliedert in Sklaven und Herren, König (d.h. Pharao) und gemeine Volksangehörige (*δημότης): vgl. Ex 11,5; 12,29. Sowohl 18,11 als auch 18,12 beginnen jeweils mit Wörtern, die Ganzheit ausdrücken: ὁμοίᾳ [δίκῃ] und ὁμοθυμαδόν (vgl. in 18,13 ὁμολογέω). Der Ausdruck ἐν ἑνὶ ὀνόματι θανάτου in 18,12a (s.o. die Anmerkung zum Text) kann besagen, dass alle Ägypter in einer einzigen Sparte eingetragen sind, dem „Tod“. Θάνατος erscheint hier fast personifiziert;16 beim Tragiker Ezechiel kommt er genau in diesem Kontext in Exag. 187 vor. Den Toten werden in 18,12c-d die Lebenden gegenübergestellt, die nicht ausreichten, um die Toten zu begraben. Zur Steigerung bezüglich der Ausdehnung der Plage kommt jetzt (18,12d) noch eine weitere hinzu in Bezug auf deren Plötzlichkeit („mit einem Schlag, in einem einzigen Augenblick“), mit der die „Blüte ihres Stammes“ vernichtet wird. Zu διαφθείρω als typischem Verb für eine Strafe Gottes s.o. zu Weish 16,5.19.27: Es kommt in allen drei Fällen vor in Verbindung mit dem Wort Gottes oder seinem Gesetz, diesem Gesetz, dessen Befolgung dem, der es annimmt, die ἀφθαρσία zusichert (vgl. 18,4). 18,13 streicht den Unglauben der Ägypter heraus (vgl. im Gegensatz dazu den Glauben der Israeliten in 18,6b); das Verb ἀπιστέω kommt in der LXX außer in 2Makk 8,13 nur in Weish 1,2; 10,7; 12,17; 18,13 vor. Der Grund ihres Unglaubens sind ihre φαρμακεῖαι, ein Ausdruck, der allgemein den Gebrauch von Heil- oder Zaubermitteln, auch der Magie, bezeichnet; er verweist hier zurück auf die Polemik gegen die Zauberer in Weish 17,7–11; insbesondere ist von φαρμακεῖαι im Kontext des Exodus die Rede in Ex 7,11.22; 8,13.14 (vgl. φαρμακεία in Jes 47,9.12 in einer umfassenderen Bedeutung). Der Unglaube der Ägypter erlischt angesichts des Todes der Erstgeborenen, der hier ὄλεθρος „Verderben, Untergang“ genannt wird, ein Begriff, der schon in Weish 1,12.14 in Zusammenhang mit θάνατος und mit einem eschatologischen Beiklang vorkam wie später im NT (vgl. z.B. 1Thess 5,3; 2Thess 1,9). Der physische Tod der Erstgeborenen wird so beschrieben wie eine Vorwegnahme des ewigen Todes der Gottlosen. Im Licht dieser Erfahrung erkennen die Ägypter an, dass das Volk Israel Sohn Gottes ist. Die Anerkennung wird mit dem Verb ὁμολογέω „(übereinstimmend) bekennen“ ausgedrückt; aber während die Israeliten einmütig sind (ἐν ὁμονοίᾳ) bei der Feier des Bundes mit Gott, ist hier die Anerkennung der Identität des Volkes seitens der Ägypter nicht ein echter Glaubensakt, sondern etwas Erzwungenes. Wahrscheinlich denkt der Verfasser an ein Bekenntnis nicht in Worten, sondern durch Verhalten: Die Ägypter lassen am Ende das Volk wegziehen. Das Umkommen (ὄλεθρος) der Erstgeborenen, die ausdrücklich nur in 18,13b so genannt werden, ist der Anlass für die Anerkennung, dass das Volk Israel Sohn Gottes ist; 18,13b bildet ein deutliches flashback auf Weish 5,5,17 wo die Gottlosen

16 Vgl. DODSON, The „Powers“ of Personification, 57–68 (er erwähnt jedoch nicht Weish 18,12). 17 Vgl. REESE, Hellenistic Influence, 137. Zum Motiv „Sohn Gottes“ s.o. den Kommentar zu 2,17–18.

Diachrone Analyse

471

im Augenblick des Gerichtes Gottes bekennen (ὁμολογεῖν) müssen, dass der Gerechte wirklich Sohn Gottes ist (vgl. Weish 2,13.18); das Gleiche ist bei den Ägyptern gegenüber dem Volk Israel geschehen. Der Sinn dieses flashback ist dreifach: Die Vergangenheit Israels dient als Begründung der eschatologischen Hoffnung; anzuerkennen, dass das Volk Sohn Gottes ist, bedeutet so, Vertrauen zu haben auf die Bestimmung zum ewigen Heil, das jeden dieser Söhne und Töchter Gottes erwartet;18 sodann wird die enge Beziehung hervorgehoben zwischen dem Israel des Exodus, dem Israel zur Zeit der Abfassung des Buches der Weisheit und dem idealen Gerechten, von dem in Weish 1–6 die Rede ist. Ein Volk von Söhnen und Töchtern Gottes zu sein, ist also schon etwas Verwirklichtes und gleichzeitig etwas noch Ausstehendes. Betrachtet man schließlich 18,13b zusammen mit 5,5, befindet man sich an einer der feierlichsten Stellen des Buches: Hier wird die Identität Israels beschrieben.19

Diachrone Analyse In diesem kleinen Absatz wird die dem Verfasser eigene midraschartige Textgestal- 18,10–13 tung deutlich: Das „Schreien“ (βοή) der Ägypter meint das „große Geschrei“ (κραυγὴ μεγάλη), von dem in Ex 11,6 und 12,30 berichtet wird (vgl. Philon, Mos. I, 136–137). Dieses Schreien nennt er ein „uneiniges, unharmonisches Schreien“ (ἀσύμφωνος βοή); diese Bezeichnung ist dem Verfasser eigen (vgl. aber Jub. 49,5–6). Der Tod, der alle Schichten der Ägypter trifft (18,11; vgl. Ex 11,5; 12,29) und unzählige Leichen zur Folge hat (18,12b), ist eine Übertreibung, die die schon tragische Exoduserzählung (Ex 12,30b) noch steigert entsprechend einer der rabbinischen Tradition wohlbekannten Tendenz.20 Auch die Feststellung, dass die Lebenden nicht ausreichten, um die Toten zu begraben (18,12c-d) ist eine originelle Einzelheit, die sich anderswo in den jüdischen Überlieferungen nicht findet; möglicherweise handelt es sich um eine midraschartige Folgerung aus Num 33,4. Zur Aussage über den Unglauben der Ägypter und zur Anspielung auf deren magische Praktiken (18,13a) gelangt der Verfasser wohl von der biblischen Erzählung über das Scheitern der Zauberer her (vgl. Ex 8,14; 9,11); aber er kehrt nochmals zu der Vorstellung zurück, die Ägypter hätten nicht an ein Wirken Gottes geglaubt, weil sie das Geschehen so lange für Zauberei hielten, bis sie unmittelbar sein Wort wirksam sahen wie in diesem Fall. Zu Weish 12,4 wurde aufgezeigt, dass der Verfasser mit φαρμακεία nicht nur das Wirken der Zauberer in den Exoduserzählungen meint, sondern insbesondere den ganzen Bereich der Magie, die in der zeitgenössischen alexandrinischen Welt verbreitet war. Die Magie ist eine wirkliche Weltanschauung und nicht nur eine Frage magischer Praktiken, vgl. die Polemik Philons in Migr. 83–85; Philon stellt die Zauberer Ägyptens den „Sophisten“ an die Seite, die einen wirklichen Logos Gottes ablehnen. In 18,13b nimmt der Verfasser die bekannte „Anerkennungsformel“ auf: „Daran sollen die Ägypter erkennen, dass ich der Herr bin“ (vgl. Ex 7,5 u. ö.). Die Ägypter und durch sie die Gottlosen aller Zeiten werden, auch gegen ihren Willen, 18 Vgl. MAZZINGHI, „L’idea di ‚popolo‘ nel libro della Sapienza“, 31–32. 19 Vgl. ALONSO SCHÖKEL, Sabiduría, 198–199. 20 Vgl. die von PRIOTTO, La Prima Pasqua, 104–105, angeführten Texte.

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Weish 18,14–19

gewahren, dass das Volk Israel, Empfänger der Wohltaten Gottes, wirklich Gottes Sohn ist – eine Entfaltung der Vorstellung, die schon in Ex 4,22 enthalten ist.

Weish 18,14–19: Der strafende Logos 14 Als nämlich tiefes Schweigen das All umfing und die Nacht in ihrem Lauf die Mitte erreicht hatte, 15 sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom königlichen Thron, ein unerbittlicher Krieger, mitten in das zum Verderben bestimmte Land; 16 als scharfes Schwert trug es deine unwiderrufliche Anordnung, stand da und erfüllte das All mit Tod, und es berührte zwar den Himmel, ging aber auf der Erde. 17 Da verschreckten sie sogleich Erscheinungen von entsetzlichen Träumen, und unerwartete Ängste überfielen sie, 18 und jeder wurde halbtot anderswohin geworfen und ließ den Grund aufscheinen, weshalb sie starben. 19 Die Träume nämlich, die sie beunruhigten, kündigten im Voraus dies an, so dass sie nicht ohne zu wissen, weshalb sie schlimm litten, zugrunde gingen.

Synchrone Analyse Dieser Absatz enthält die Schilderung des Todes der Erstgeborenen, der unmittelbar dem Logos Gottes zugeschrieben wird. Die literarische Form ist gefeilt und der theologische Gehalt beachtlich. Etwas poetisch und sehr dramatisch beginnt die Szene mit einem „tiefen Schweigen“, das alles umhüllt – das ganze Universum. Das Adjektiv ἥσυχος (es kommt in der LXX nur noch einmal in Sir 25,20 vor) erinnert an Ps 75[76MT],9– 10: Die Erde ist verängstigt und still geworden (ἡσύχασεν) angesichts des Kommens Gottes zum Gericht. In Ez 38,11 und 1Makk 9,58 bezeichnet ἡσυχία die sich sicher fühlende Ruhe, die dem Angriff der Feinde vorausgeht; vgl. Euripides, Alc. 77–78, wo das Verb σιγάω in Verbindung mit ἡσυχία erscheint. Das „tiefe“ Schweigen ist also eine spannungsgeladene Ruhe voll dramatischer Erwartung (σιγή ist ein sehr seltenes Wort, es kommt in der LXX nur noch in 3Makk 3,23 vor). Das Kolon 18,14b bestimmt die Stunde näher: Mitternacht (vgl. Ex 11,4; 12,29), hier poetisch umschrieben (*μεσάζω „in der Mitte sein“). An dieser Stelle führt 18,15 ein „Wort“ ein, das dieses Schweigen bricht: ὁ Der Logos Gottes παντοδύναμός σου λόγος. Es handelt sich um jenes personifizierte Wort Gottes, das bereits mehrfach vorkam: in 9,1 (als schöpferisches Wort, in Parallele zur σοφία); 12,9 (als vernichtendes Wort); 16,12 (als heilendes Wort).21 In 18,15 nun

18,14–16: Während tiefes Schweigen …

21 Vgl. PIÉ Y NINOT, Salvador, La Palabra de Dios en los libros sapienciales, Barcelona: Facultat de Teologia de Barcelona 1972, 193–228.

Synchrone Analyse

473

wird das Wort als „allmächtig“ (παντοδύναμος) bezeichnet mit einem Attribut, das schon dem Geist galt (7,23) und der strafenden Hand Gottes (11,17). Der Gott, an den der Verfasser glaubt, vermag alles: vgl. δύναμαι in 7,27; 11,23; 14,4 und δύναμις in 7,25; 11,20; 12,15.17. Dieses Wort kommt „vom Himmel her“ wie die Weisheit (9,10.16) oder wie das Manna (16,20), also von Gott, von seinem Königsthron her, wie auch die Weisheit (9,4.10). Die Parallelität des Logos mit der Weisheit, die beide göttlichen Ursprungs sind, fällt hier ins Auge. Aber Weisheit und Wort sind nicht identisch, denn die Weisheit umfasst sowohl die Funktionen des Wortes Gottes als auch die seines Geistes und spielt im Kontext des Buches zweifellos eine bedeutendere Rolle. In 18,15b-16a wird die Beschreibung des Logos fortgesetzt in militärischer Sprache in der Art von Weish 5,17–23, worauf 18,14–16 durch die erneute Verwendung von seltenen und bezeichnenden Wörtern ein weiteres, offensichtliches flashback darstellen;22 das Auftreten des Wortes Gottes in der Paschanacht erscheint im Blick auf diese Beziehung als Zeichen und Vorwegnahme des Endgerichtes Gottes über die Gottlosen. Wiederum begründet die Vergangenheit die Zukunft. Daher kann der in 18,16b erwähnte „Tod“ nicht nur als der physische Tod, nämlich der Erstgeborenen, betrachtet werden; er wird vielmehr Bild des eschatologischen Todes, der die Gottlosen erwartet. Ägypten, ein ungerechtes (16,19) und zum Verderben bestimmtes (18,15b) Land, wird hier zum symbolischen Gegensatz zum Land Israel, dem heiligen (12,3) und von Gott geehrten (12,7) Land. Wie in 18,3 zeigt sich erneut das Bewusstsein des Verfassers, sich im Land Ägypten aufzuhalten, aber als Fremder. In 18,16b-c gewinnt die Tätigkeit des Logos einen kosmischen Charakter. Das Partizip στάς, mit dem 18,16b beginnt, hat eine stark dramatische Bedeutung: Das Wort Gottes bleibt stehen und umfängt Himmel und Erde (18,16c). Die bloße Gegenwart des Logos erfüllt „alles“ mit Tod; unter τὰ πάντα ist, wie in 18,14a, die gesamte Schöpfung zu verstehen (vgl. „Himmel“ und „Erde“ in 18,15a-b.16c). Der Text dehnt die Reichweite der Plage der Tötung der Erstgeburt bis zum Äußersten aus, so dass sie sich gleichsam auf die ganze Welt des Bösen erstreckt. Wenn in Weish 9,1 das Wort Gottes schöpferisch war, bewirkt es hier eine innergeschichtliche Vorwegnahme des Gerichtes Gottes, von dem schon Weish 5,17–23 gesprochen hatte (s.o.). Mit 18,17–19 beginnt ein neues Thema: Traumgesichte überwältigen die ägyptischen Erstgeborenen. Der Ausdruck φαντασία (18,17a), der in der LXX nur noch in Hab 2,18.19; 3,10; Sach 10,1 vorkommt, bezeichnet in einem bei Philon gut bezeugten Sprachgebrauch (vgl. z.B. Ios. 100) Traumerscheinungen. Der Verfasser verwendet hier das Wort ὄνειρος, das griechischer klingt als das in der LXX sonst für einen Traum verwendete ἐνύπνιον. Derartige Träume, die die Erstgeborenen plötzlich überwältigen (ἐκταράσσω: vgl. Weish 17,3), werden „entsetzlich“ genannt; δεινός erinnert ausdrücklich an die Angst der Gottlosen in 5,2 beim Endgericht, aber auch an die Angst der Ägypter in der Nacht, die in 17,3

22 Vgl. πολεμιστής (18,15b) und συνεκπολεμέω (5,20b); ἀπότομος (18,15b) und ἀποτόμως (5,22); ἅλλομαι in 18,15b und 5,21; ὀξύς (18,16a) und ὀξυνεῖ (5,20); *ἀνυπόκριτος „unwiderruflich“ als Eigenschaft des Gerichtes Gottes bzw. seiner Entscheidung in 18,16a und 5,18.

18,17–19: Die psychologische Wirkung des Logos Die Albträume der Ägypter

474

Weish 18,14–19

beschrieben wird. 18,17 greift Wörter aus 17,15 auf und verweist auf die Definition von Angst, die bei Weish 17,12–13 schon kommentiert wurde. Dadurch wird die psychologische, theologische und eschatologische Bedeutung der Angst der Ägypter sehr deutlich. 18,18 malt aus, wie die Erstgeborenen der Ägypter „halbtot“ (*ἡμίθνητος) von ihren Lagern geworfen werden. Der Logos scheint in zwei Schritten vorzugehen: zuerst die Angst, dann der Tod. Eine ähnliche Überlieferung findet sich in der Pesikta de-Rab Kahana 7,5. Die Erstgeborenen hatten nach 18,18b noch Zeit, den Grund ihres eigenen Todes anzugeben. Denn 18,19 erläutert, dass die von ihnen erlebten warnenden Träume dazu dienten, den Grund ihres Leidens offenbar zu machen (zu πάσχω „leiden“ vgl. 12,27; 18,1.11; 19,13). Damit wird auch ein theologisches Problem gelöst: Gott kann ja nicht einen Unschuldigen verurteilen (vgl. Weish 12,15); es war notwendig, dass die Erstgeborenen der Ägypter sich ihrer Mitverantwortung bewusst wurden. 18,17–19 zeigt erneut, wie sehr die Aufmerksamkeit des Verfassers der psychologischen Perspektive gilt. Der verwendete Wortschatz steht dem von Weish 17 (vgl. 17,1–6, insbesondere 17,1523) sehr nahe, verweist aber auch auf die Angst der Gottlosen post mortem, die in Weish 5 beschrieben wurde. Die entsetzlichen Visionen und Träume der Ägypter, von denen hier die Rede ist, haben keine Entsprechung in der Exoduserzählung, sie haben hier zum Ziel, den Ägyptern den Grund ihres Todes bewusst zu machen. Es ist also schon im irdischen Leben möglich, die Strenge des Gerichts Gottes zu erfahren, das die Gottlosen im Augenblick ihres Todes erwartet. In diesem Sinne wird deshalb die Angst zu einer Einladung zur Umkehr.

Diachrone Analyse 18,14–16 In 18,15 bringt das Buch der Weisheit eine interessante Theologie des Wortes

Gottes zum Abschluss. Was ist der Sinn der Personifizierung des Logos in diesen Texten? Der Verfasser kennt sehr wohl, wie aus Weish 18,22.25 hervorgeht, die Figur des „Vernichters“ (Ex 12,23), aber er vermeidet es, diesen auftreten zu lassen, und zieht es vor, die Rolle des „Wortes“ Gottes hervorzuheben. Das „Wort Gottes“ ist eine bekannte biblische Figur, mittels derer der Verfasser die doppelte Eigenschaft und Wirksamkeit des Handelns Gottes veranschaulichen will, das rettende und zugleich das strafende. Das kriegerische Bild des Logos kann von Texten wie Ex 15,3; Jos 5,13–14; Hab 3 angeregt worden sein; zum Bild des scharfen Schwertes vgl. Jes 49,2; Eph 6,17; Hebr 4,12; Apk 1,16 u.a. Die gesteigerte Bedeutung des Wortes Gottes ist außerdem ein Zeichen der großen Nähe des Textes zu den zeitgenössischen jüdischen Überlieferungen, die sich später vor allem in der Targumliteratur spiegeln. Denn die Targume über den Exodus neigen dazu, das direkte Eingreifen Gottes zu ersetzen durch das mittelbare Wirken seines Wortes und diesem sowohl den Tod der Erstgeborenen als auch die Rettung Israels zuzuschreiben. Die Verwendung von παντοδύναμος (s.o.) unterscheidet die Vorstellung

23 Zum Verhältnis von Weish 18,14–19 zu Weish 17,12–15 vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 293.

Weish 18,20–25

475

vom Logos im Buch der Weisheit von der Philons. Denn Philon hebt den Logos von den „Mächten“ δυνάμεις ab (vgl. Leg. II, 86; Somn. I, 62).24 Das Bild in 18,16b könnte von Il. 4,443 angeregt sein (über die Eris, den Streit: „An den Himmel hat er sein Haupt gestützt, während seine Füße auf der Erde gehen“; vgl. Il. I,44–47; Vergil, Aen. 4,177 über die Fama, das Gerücht: ingrediturque solo et caput inter nubila condit), aber man könnte auch an den Engel des Verderbens von 1Chr 21,15 denken, ohne dass der hier beschriebene Logos jedoch engelartige Züge annähme (s.o.). Im hellenistischen Judentum werden Nachtgesichte häufig als Wirkung 18,17–19 menschlicher Schlechtigkeit betrachtet; vgl. Sir 40,5–7 in Bezug auf die Träume des Gottlosen.25 In Weish 18,17–19 verschaffen die Träume den Gottlosen eine Art Vorauserkenntnis der Ereignisse; das Verb *προμηνύω „im Voraus ankündigen“ kehrt bei Philon wieder, vgl. besonders Ios. 107, wo das Verb eine in Träumen gewonnene Vorauserkenntnis bezeichnet (vgl. Sophokles, Ant. 84).

Weish 18,20–25: Die Prüfung der Israeliten und die Fürbitte Aarons 20 Aber auch die Gerechten berührte eine Erfahrung des Todes, und in der Wüste fand ein Gemetzel einer Menge statt. Aber der Zorn hielt nicht lange an. 21 Eilig nämlich warf sich ein untadeliger Mann vorn in den Kampf, der die Waffe seines Dienstes trug, Gebet und Entsühnung durch Rauchopfer. Er widerstand dem Grimm und setzte dem Unheil eine Grenze und zeigte so, dass er dein Diener ist. 22 Er besiegte aber das Heer nicht durch Körperkraft, nicht durch die Wirkkraft von Waffen, sondern durch das Wort unterwarf er den Strafenden, indem er die Eide an die Väter und die Bundesschlüsse in Erinnerung rief.

24 Zur Vertiefung vgl. die ausführliche Darlegung von LARCHER, Sagesse III, 1018–1022, und die gründliche Analyse der Targumtexte bei PRIOTTO, La prima Pasqua, 137–159. SCARPAT, Sapienza III, 264–272, vermutet, dass der Verfasser des Buches der Weisheit Philon kenne und gegen dessen Vorstellung vom Logos polemisiere. Die katholische Liturgie wird diese Verse aus dem Buch der Weisheit auf die Inkarnation Jesu Christi anwenden; der Text Apk 19,11–16 zeigt einigermaßen deutlich eine Abhängigkeit von Weish 18,14– 16, wenn auch der Kontext weniger der der Rettung als der des Gerichts über die Gottlosen ist. Vgl. die relecture bei Ignatius von Antiochien in Efes. 19,1; CABANNIS, Allen, „Wisdom 18:14f: An early Christmas Text“: VC 10 (1956), 97–102. 25 Zum Thema Traum vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 58–59. 144–146 und PRIOTTO, La Prima Pasqua, 160–162.

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Weish 18,20–25

23 Als die Toten nämlich schon haufenweise übereinandergefallen waren, stellte er sich dazwischen und unterbrach den Zorn und schnitt (ihm) den Weg zu den (noch) Lebenden ab. 24 Auf dem bis zu den Füßen reichenden Gewand war nämlich die ganze Welt und die Herrlichkeitserweise an den Vätern auf Steinen mit vierreihiger Eingravierung und deine Erhabenheit auf dem Diadem seines Hauptes. 25 Diesen wich der Verderber, diese scheute er; allein die Erfahrung des Zornes war nämlich ausreichend.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 22 In 18,22a lesen alle Handschriften τὸν ὄχλον „die Menge“ (nur die Minuskeln 248 und 157 setzen hier τὸν ὀλοθρεύοντα ein, wohl von 18,25a her. In seiner Edition übernimmt J. ZIEGLER jedoch die von BAUERMEISTER vorgeschlagene Konjektur τὸν χόλον „den Zorn“. Für die Konjektur lassen sich Gründe anführen (vgl. ἀντέστη τῷ θυμῷ 18,21d; ἀνέκοψεν τὴν ὀργήν 18,23b; οχλ-χολ sind leicht miteinander zu verwechseln), aber sie wird durch keine Textzeugen gestützt. Aufgrund einer Stelle bei Ezechiel dem Tragiker (Exag. 210– 214) deutet REESE (Hellenistic Influence, 2; vgl. PRIOTTO, La Prima Pasqua, 175–178) das gut belegte τὸν ὄχλον im Sinne von „das Durcheinander“. Mit tragfähigeren Argumenten versteht SCARPAT (Sapienza III, 294–296) ὄχλος im Sinne von „Heer“ (vgl. Xenophon, Cyr. 5,5,4; 1Makk 1,17.20.29; 9,35; 2Makk 14,23). 23 In 18,23b schlägt ZIEGLER vor, das in allen griechischen Handschriften belegte τὴν ὀργήν „den Zorn“ durch die Konjektur τὴν ὀρμήν „den Ansturm“ (vgl. VL: impetum) zu ersetzen. Diese Konjektur ist jedoch nicht nötig; ὀργή findet eine vorzügliche Parallele in θυμός in 18,21d; die lateinische Wiedergabe mag aus einer Verlesung von τὴν ὀργήν zu τὴν ὀρμήν entstanden sein (vgl. Num 11,11 u. ö.; PRIOTTO, La Prima Pasqua, 178). 24 Die Verbindung ἔνδυμα ποδῆρες „bis zu den Füßen reichendes Gewand“ kommt anderswo in der LXX nicht vor. In Ex 28,4 wird hebräisches ‫מעיל‬, das bis zu den Füßen reichende Obergewand des Hohenpriesters (Ex 28,31–35; 39,22–26) mit ὁ ποδήρης übersetzt; vgl. das in Ps 132, LXX erwähnte ἔνδυμα Aarons und die Beschreibung bei Flavius Josephus in Ant. 3,159–161. Ein ähnlicher Ausdruck kommt bei Philon, Fug. 185, vor; vgl. Spec. I, 85; vgl. auch noch Flavius Josephus, Bell. 5,231.232. In 18,24b entscheidet sich ZIEGLER für die Lesart λίθων, die von A C V und vielen Minuskeln bezeugt wird, während B S 157 Aeth λίθου im Singular haben. In Ex 25,7; 28,21; 35,9 steht immer der Plural, der auch hier vorzuziehen ist. Der Ausdruck ἐπὶ τετραστίχου λίθων γλυφῆς bedeutet „auf Steinen mit einer vierreihigen Gravur“, vgl. Ex 28,17; 36,17; zu γλυφή vgl. Ex 25,7. Mit διάδημα (vgl. Weish 5,16) wird in 18,24c die Kopfbedeckung des Hohenpriesters (μίτρα, hebr. ‫ )מצנפת‬bezeichnet, an der vorn nach Ex 28,36–38 eine blütenförmige Platte aus reinem Gold (πέταλον χρυσοῦν καθαρόν, hebräisch ‫ )ציץ זהב טהור‬befestigt war, die wie einen Siegelabdruck den Gottesnamen (das Tetragramm) trug: Dieser ist mit μεγαλωσύνη σου „deine Erhabenheit“ gemeint; vgl. PHILON, Fug. 111; διάδημα (statt μίτρα) hebt den königlichen Aspekt Aarons hervor. 25 Verschiedene wichtige Handschriften (B S* C und mehrere Minuskeln) lesen ἐφοβήθησαν „sie gerieten in Furcht“ und beziehen das Verb auf die Israeliten. Dabei handelt es sich wohl um eine theologische Korrektur durch sehr frühe Kopisten, die in dem Vernichter eine Engelsfigur sahen und nicht schreiben wollten, dass er „in Furcht geriet, scheute“ (ἐφοβήθη).

Synchrone Analyse

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Synchrone Analyse In 18,20a werden die Israeliten erneut die „Gerechten“ genannt wie in 18,7. Die Wendung πεῖρα θανάτου kann man in schwachem Sinn als „Erfahrung von Tod“ oder stärker als „Prüfung durch Tod“ verstehen (vgl. πειράζω in 3,5 und 11,9). Hier liegt die Betonung auf dem θάνατος; der „Tod“, den die Israeliten in der Wüste erfahren, wird eine „Prüfung“ wie die durch die Schlangen (Weish 16,5– 15), die Israel jedoch im Gegensatz zu Ägypten imstande sein wird zu bestehen. Dieses Verständnis wird durch die Verwendung von θραῦσις „Zerschmetterung“, hier im Sinne von „Blutbad, Gemetzel“ bestätigt. Das Wort ist Num 17,6–15LXX (in Num 17,12.13.14.15) entnommen, wo es eine religiöse Dichte als von Gott gesandte Bestrafung erhält (vgl. 2Sam 24,21.25; Ps 105,23.30LXX). Die Erwähnung der „Wüste“ und des Gemetzels einer „Menge“ stellt sicher, dass der Verfasser gerade diese Episode hier aufgreift. In Num 17,11 findet sich neben dem Verb θραύω auch das Substantiv ὀργή; der Verfasser bemüht sich aber wie in Weish 16,5c sogleich, den nur vorübergehenden Charakter des Zornes Gottes zu betonen und hebt dadurch, gerade im Blick auf 16,5c (s.o.), indirekt dessen erzieherische Bedeutung hervor. Wie im Buch der Weisheit üblich wird in 18,21, ohne dass sein Name fällt, Aaron vorgestellt: Er ist ein „untadeliger Mann“ (ἀνὴρ ἄμεμπτος) wie Ijob (vgl. Ijob 1,8; 2,3), im Blick auf Weish 10,5 insbesondere Abram (Gen 17,1); vgl. Ester (Est E 13 = 8,12n); alle diese Figuren hatten die Rolle von Fürbittern. Es ist nicht ersichtlich, worin für den Verfasser die „Untadeligkeit“ Aarons bestand. Man könnte ganz allgemein an die Treue zu Gott denken. Jedenfalls wird hier im Vergleich zur älteren biblischen Tradition die Figur Aarons ganz positiv gezeichnet, was mit der späteren jüdischen Überlieferung durchaus übereinstimmt.26 Auch wenn Israel sündigt, kann sich im Volk doch immer ein ἀνὴρ ἄμεμπτος finden, der imstande ist, für es Fürbitte einzulegen. Das Bild Aarons wird in 18,21e vervollständigt durch seine Bezeichnung als θεράπων „Diener“ und das dementsprechende Verhalten: Aaron zeigt, dass er wirklich „dein Diener“ ist (s.u.). Aaron „beeilt sich“, mit den für sein Priestertum typischen Waffen zu kämpfen; σπεύδω „eilen“ erinnert an die Bemühung des Gerechten, die in 4,14 mit demselben Verb beschrieben wird. Zum Motiv der „Eile“ Aarons vgl. Num 17,11.12 (καὶ ἔδραμεν). Die von Aaron eingesetzten Waffen sind die seinem Dienst eigenen. Das Substantiv λειτουργία in 18,21b beginnt in der LXX eine kultische Bedeutung anzunehmen (1Chr 9,13; 23,24); vgl. insbesondere Sir 4,14 (die ihr [der Weisheit] dienen [λατρεύοντες], werden dem Heiligen dienen [λειτουργήσουσιν]) und 24,10; der letztgenannte Text ist besonders wichtig wegen der liturgischen Rolle, die Ben Sira der Weisheit im ganzen Gedicht Sir 24 zuweist; in Sir 45,15 ist sodann gerade Aaron Subjekt des Verbs λειτουργέω. Der priesterliche „Dienst“ Aarons wird in Weish 18,21c nicht durch Opfer ausgeübt, sondern durch Gebet: προσευχή ist in der LXX durchweg die Übersetzung des hebräischen Wortes ‫ ;תפלה‬προσευχή bedeu-

26 Vgl. besonders die Targumîm und FLAVIUS JOSEPHUS; Texthinweise bei PRIOTTO, La Prima Pasqua, 188–189.

18,20: Die Plage in der Wüste

18,21: Die Vorstellung Aarons

478

Weish 18,20–25

tet hier jedoch nicht, wie fast immer bei Philon, die Gebetsstätte, sondern das Gebet selbst.27 Neben dem Gebet nennt 18,21c θυμιάματος ἐξιλασμόν, eine sonst in der LXX nicht vorkommende Genitivverbindung, die wohl aufgrund von Num 17,11–12 gebildet wurde. Der im Räucherfass von Aaron verbrannte Weihrauch soll die Plage des Todes von Israel entfernen, das ist der Sinn von ἱλάσκομαι - ἐξιλάσκομαι; diese Wörter bezeichnen in Texten wie Ex 32,14; Num 25,13; Sir 45,23 eher das „Besänftigen, Günstigstimmen“, d.h. eine Handlung, die die Gottheit von ihrem Zorn abbringen soll, während in Ez 43,20.22.26; Lev 23,27.28 u. ö. sie das „Entsühnen, Entsündigen“ bedeuten, d.h. die Ausführung eines bestimmten Ritus, der die gute Beziehung zur Gottheit wiederherstellt; dies ist der Sinn des hebräischen Verbs ‫( כפר‬pi.), das die LXX meist gerade mit ἐξιλάσκομαι übersetzt.28 In Weish 18,21c hat die Darbringung des Weihrauchs wohl beide Bedeutungen: Besänftigung und Entsühnung. 18,21d-e deutet das Handeln Aarons als einen wirklichen Kampf, worauf schon τὸ ὅπλον in 18,21b und vor allem das Verb *προμαχέω „vorn, in der vordersten Reihe oder zugunsten bzw. in Verteidigung von jmd. kämpfen“ in 18,21a hinweisen; vgl. μάχομαι „den Kampf antreten, Vorwürfe machen“ in 2Esdr 15[Neh 5MT],7; 23[Neh 13MT],11.17.25 immer in übertragenem Sinn wie auch in Weish 18,21a. In Wirklichkeit ist Aaron ein Werkzeug in der Hand Gottes so, wie in Weish 16,17 der Kosmos ὑπέρμαχος Gottes ist. Wie Mose dem Pharao widerstanden hat (10,16), so leistet Aaron dem Zorn Gottes Widerstand (ἀντέστη) kraft des „Wortes“ (18,22c) und setzt so dem „Unheil“ (συμφορά 18,21d; vgl. 2Makk 6,12.16) eine Grenze. In der Mitte des Absatzes 18,20–25 entfaltet 18,22 die Vorstellung eines Kamp18,22: Ein geistiger Kampf fes geistiger Art ohne Waffen. Bemerkenswert ist, dass sich im Buch der Weisheit keinerlei Erinnerung an eine andere berühmte Priesterfigur findet, nämlich an Pinhas; vgl. Num 25 (s. jedoch unten zu Weish 18,23). 18,22 beginnt mit dem Aorist des Verbs νικάω, das wieder auf den Kontext von Weish 16,5–15 zurückweist; vgl. Weish 16,10 (die giftigen Schlangen besiegten nicht …). 18,22a erinnert daran, dass der Sieg Aarons nicht mit Hilfe von Waffen erfolgte, sondern aufgrund des λόγος, der den „Strafenden“ (τὸν κολάζοντα) entfernte. Zunächst scheint mit λόγῳ nur das vorher genannte Gebet Aarons gemeint zu sein. Aber die Eindringlichkeit, mit der in Weish 16,11–12 und 18,14–16 vom „Wort“ gesprochen wird und die erwähnte Bezugnahme auf 16,5–15 veranlassen dazu, in diesem „Wort“ dasselbe Wort Gottes zu sehen, das aus einem strafenden (18,14–16) wieder zu einem rettenden wird wie in 16,11–12. Das Buch der Weisheit greift aber nicht zu einem allegorischen Verständnis wie Philon, bei dem Aaron zu einem Symbol des Logos wird (Leg. I, 76). Zu dem Tun Aarons zählt 18,22d auch die Erinnerung an die Eide und Bundesschlüsse mit den Vätern. Das Verb ὑπομιμνήσκω ist in der LXX selten (1Kön 4,3; 4Makk 18,14; vgl. Weish 12,2) und wird im gleichen Sinne verwendet wie ὑπόμνησις in 16,11 (s. den Kommentar), aber hier ist es Gott, den Aaron an etwas

27 Vgl. GREEVEN, Heinrich, προσευχή, ThWNT II, 808, und HENGEL, Martin, „Proseuche und Synagoge“, in: JEREMIAS, Gert (Hg.), Tradition und Glaube. Das frühe Christentum in seiner Umwelt, FS K. G. KUHN, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1971, 157–184. 28 Vgl. HERMANN, Josef / BÜCHSEL, Friedrich, ἱλάσκομαι, ἱλασμός, ThWNT III, 302–323.

Synchrone Analyse

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erinnert. In Verbindung mit dem Gebet und dem Vollzug der liturgischen Handlung durch Aaron weist das Verb darauf hin, dass der Gottesdienst memoria „Erinnerung“ der rettenden Taten Gottes ist. Die „Eide und Bundesschlüsse mit den Vätern“ meinen die Bundesschlüsse mit Abraham, Isaak und Jakob (vgl. Gen 15,18; 26,3–4; Ex 2,24; 6,4; Lev 26,42; Dtn 4,31); zum einzigen Male wird hier das Wort διαθήκη verwendet, das in der LXX in der Regel ‫ ברית‬übersetzt; wie hier im Plural kommen διαθῆκαι in der LXX sonst nur noch in Sir 44,12.18 vor. Wie in 18,21 ist Aaron in 18,23 wieder Subjekt; hier wird Bezug genommen auf Num 17,14, wo von 14 700 Opfern der Plage in der Wüste gesprochen wird. Nach dem Vorbild von Num 17,13 stellt Weish 18,23 fest, dass Aaron das Aufhören der Plage bewirkt (vgl. 18,21d-e); das Partizip στάς in 18,23b stellt das Tun Aarons neben das des Logos (vgl. 18,16b). Unter den mächtigsten „Waffen“, die Aaron zur Verfügung stehen, zählt 18,24 einige Stücke seiner hohepriesterlichen Bekleidung auf (vgl. Sir 45,6–12); die Symbolik seines Gewandes vervollständigt die Beschreibung des liturgischen Dienstes Aarons von 18,21a-c. Zunächst wird das bis zu den Knöcheln reichende Obergewand genannt, das das ganze Universum (ὅλος ὁ κόσμος) versinnbildlicht.29 Der Dienst Aarons bildet gleichsam einen Aspekt des Kampfes, den der Kosmos zugunsten der Gerechten führt (vgl. 5,17–20; 16,17). Sodann werden die zwölf Steine erwähnt, mit denen die Brusttasche Aarons besetzt ist (vgl. Ex 28,17–21; 39,10–14) und die die „Herrlichkeitserweise an den Vätern“ darstellen. Schon Weish 10,14 hatte im Zusammenhang mit Joseph eine δόξα erwähnt; es ist dieselbe δόξα Gottes, an der Salomo Anteil erhält (8,10) und aus der die Weisheit kommt (7,25). Die πατέρων δόξαι, die auf den Steinen auf der Brusttasche Aarons eingraviert sind, verweisen darauf, dass dieser engstens mit ihnen verbunden ist, und erinnern an die Rettungstaten, die die Väter erfahren haben und aufgrund deren auch sie an der δόξα Gottes teilhaben. Die Beschreibung der Kleidung Aarons wird abgeschlossen mit der Erwähnung des Diadems. Auf ihm befindet sich das Symbol seiner „Größe“, der Erhabenheit Gottes (vgl. Ps 78[79MT],11; 144[145MT],3.6 u. ö.; im NT: Hebr 1,3; 8,1; Jud 25; vgl. Test. Levi 3,9, wo μεγαλωσύνη Synonym Gottes selbst ist). Eine gut bezeugte Überlieferung (Arist. 98; vgl. auch Arist. 99, wo die außergewöhnlichen, schreckenerregenden Wirkungen des Anblicks des Hohenpriesters in seiner feierlichen Gewandung erwähnt werden; Philon, Mos. II, 114–132; Flavius Josephus, Ant. 3,178) lässt vermuten, dass die Inschrift auf der rosettenförmigen Goldplatte (s.o. die Anmerkungen zum Text) das Tetragramm selbst gewesen ist. In dieser Weise repräsentiert Aaron nicht nur den Kosmos und die Väter Israels, sondern Gott selbst. Er ist wirklich „dem Herrn heilig“. In Ex 28,36 und 39,30 wird „Heilig dem Herrn!“ als Inschrift auf der Goldplatte genannt. Die sühnende Kraft des Dienstes Aarons kommt nicht durch irgendeinen magischen Ritus zustande, sondern stammt aus der tiefen Gemeinschaft mit Gott, die seine Liturgie authentisch und das „Wort“, dessen Träger Aaron ist (18,22c), wirksam macht.30

29 Nach WINSTON (Wisdom, 321) wird damit auf eine Vorstellung stoischer Herkunft angespielt, dass der ganze Kosmos der Tempel Gottes ist; vgl. PHILON, Spec. I, 66–97. 30 Vgl. PRIOTTO, La Prima Pasqua, 220–221.

18,23: Das siegreiche Handeln Aarons 18,24: Die Bekleidung Aarons

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Weish 18,20–25

18,25: Das 18,25 entspricht 18,20 (s.o. zur literarischen Struktur) und beschließt das ganze Ende der Diptychon. 18,25a berichtet das Zurückweichen des „Vernichters“ (Ex 12,23; vgl. Plage Weish 18,22c und im NT 1Kor 10,10); alles, was Aaron darstellt (vgl. 18,24), verur-

sacht ihm Angst; so kehrt mit φοβέομαι das Thema der Angst wieder, die die ganze vorhergehende Gegenüberstellung durchzog und in 18,16–19 wieder auftauchte. In 18,25 ist es jedoch der „Vernichter“, der Angst bekommt und zurückweicht. In 18,25b, das mit 18,20 eine inclusio bildet, betont der Verfasser gerade am Ende des Diptychons die Eingeschränktheit der Prüfung, der die Israeliten unterworfen worden waren (vgl. 18,20c). Während es in 18,12 hieß, die Lebenden seien nicht ausreichend (ἱκανοί) gewesen, um die Toten zu begraben, war für die Israeliten schon die Probe des Zornes Gottes ausreichend (ἱκανή). Damit kehrt die Vorstellung der Mäßigung und Milde Gottes, von der der erste Exkurs (Weish 11,15 – 12,27) gehandelt hatte, wieder.

Diachrone Analyse Diese Schlussverse des Kapitels wollen auf einen Einwand antworten: Wieso wurde in der Wüste auch Israel vom Tod heimgesucht? Der Text, an den der Verfasser denkt, ist sicherlich Num 17,6–15, als nach der biblischen Erzählung im Anschluss an die Auflehnung von Korach, Datan und Abiram gegen Gott und gegen Mose tausende von aufrührerischen Israeliten starben. Wie an anderen Stellen auch vermeidet das Buch der Weisheit jedoch, ausdrücklich von der Sünde Israels zu sprechen. Nach dem Verfasser handelte es sich um eine begrenzte Probe des Zornes Gottes (vgl. 18,20c), aus der Israel befreit wurde durch die Fürbitte Aarons. Das, was die Ägypter bestraft hatte, wird jetzt (vgl. 18,22c) Werkzeug der Rettung für Israel. In den Erzählungen der Bücher Exodus und Numeri wird Aaron nicht immer 18,21: Aaron in einem allzu günstigen Licht dargestellt und nicht selten werden seine Vergehen hervorgehoben (vgl. Num 12). Im Judentum der hellenistischen Zeit führt die gewachsene Bedeutung des Priestertums jedoch zu einer Neubewertung seiner Figur, wie schon in Sir 45,6–22 offensichtlich wird, wo das Lob Aarons viermal länger ist als das des Mose (Sir 45,1–5). Von diesen jüngeren Überlieferungen herkommend stellt das Buch der Weisheit Aaron nicht nur als Vorbild wahren Gottesdienstes dar, der imstande ist, von Gott zu erlangen, dass er von seinem Zorn ablässt, sondern beinahe als eine messianische Figur, zu der Aaron in einigen Kreisen des zeitgenössischen Judentums werden wird (vgl. die Erwartung des „Messias (aus?) Aaron“, den einige Qumrantexte bezeugen: 1QS IX,11; CD XII,23-XIII,1). Zur Bezeichnung Aarons als „Diener“: In der LXX ist sonst θεράπων ein Attribut des Mose (Ex 4,10; Num 11,11; 12,7–8), Josuas (Ex 33,11) und Ijobs (Ijob 1,8A; 2,3; 42,7–8), nie aber Aarons, der im Buch der Weisheit so dasselbe Attribut erhält wie Mose in Weish 10,16 (vgl. auch die Verwendung desselben Verbs ἀνθίσταμαι in 10,15–16 und 18,21) und wie die Patriarchen (Weish 10,9). Mose jedoch, der in Num 17,6–15 durchaus eine wichtige Rolle spielt, verschwindet in Weish 18 aus dem Blick.31 31 LARCHER, Sagesse III, 1031–1032, schließt hier mit Recht eine direkte Polemik gegen die Beanspruchung des Hohepriestertums durch die Hasmonäer aus.

Synthese von Weish 18,5–25

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Der Text von Num 17 erwähnt keinerlei Gebet Aarons, das jedoch in Weish 18 eine ganz besondere Bedeutung erhält, was einer Tendenz in der Targumüberlieferung entspricht, in der die Handlung Aarons als eine wirkliche Fürbitte verstanden wird: Tg. N. zu Num 17,13 spricht von Aaron, der „Barmherzigkeit erfleht“, während Tg. Ps.-J. von Aaron sagt, „er stand aufrecht im Gebet mitten unter ihnen“. Offenbar ist es im Kontext der Diaspora, in der der Tempel nicht zur Verfügung steht und die mit ihm verbundenen Riten nicht möglich sind, besonders wichtig, Aaron noch vor dem Weihrauchopfer das Gebet zuzuordnen.32

Das Partizip τὸν κολάζοντα in 18,22c meint sicher den „Vernichter“ (ὁ ὀλεθρεύων) 18,22 aus Ex 12,23, den die Überlieferung manchmal als einen „Engel“ deutet (vgl. 4Makk 7,11 in Bezugnahme auf Num 17); besonders die Targumüberlieferung spricht bei Num 17 vom „Vernichter“ (Tg. N. zu Num 17,11.12). Chrysostome Larcher vermutet eher eine Anspielung auf den Satan, der in Weish 2,24 ja mit der Todesmacht verbunden ist.33 Das Verb κολάζω „strafen“ wird vom Verfasser häufig verwendet, oft in Verbindung mit εὐεργετέω (s.o. den Kommentar zu 11,5; 16,11). In ähnlicher Weise, wie in Weish 18,23b-c die Aktion Aarons dargestellt wird, 18,23 beschreibt Ps 105,30LXX das Tun des Pinhas: καὶ ἔστη Φινεες καὶ ἐξιλάσατο καὶ ἐκόπασεν ἡ θραῦσις (vgl. ἐξιλασμόν in 18,21c; θραῦσις in 18,20b); 18,23c formuliert poetisch, Aaron habe dem „Vernichter“ den Weg zu den Lebenden abgeschnitten.34 Philon wird die allegorische Bedeutung der Priesterkleidung Aarons viel wei- 18,24 ter entfalten als es im Buch der Weisheit geschieht (vgl. den ganzen Abschnitt Mos. II, 117–135); es handelt sich dabei um eine für das griechischsprechende Judentum bezeichnende Tendenz, für die das Buch der Weisheit das älteste Zeugnis zu sein scheint. Während die Edelsteine auf der Brusttasche des Hohenpriesters für Philon eine Allegorie des Tierkreises sind (Mos. II, 124–126), werden sie in Weish 18,24 die „Herrlichkeitserweise an den Vätern“.35

Synthese von Weish 18,5–25 Was in der sechsten Gegenüberstellung am meisten beeindruckt, ist die Hervorhebung des schrecklichen Schicksals, das die Ägypter trifft: der Tod der Erstgeborenen. Eine solche Härte kann einen modernen Leser irritieren, der sich aber immer bewusst halten sollte, dass im Buch der Weisheit der Gegensatz zwischen Barmherzigkeit und Zorn Gottes noch nicht völlig überwunden ist. Man darf nicht vergessen, dass das Diptychon eine relecture der Exoduserzählung darstellt, die sicherlich 32 Vgl. weitere Texte bei PRIOTTO, La Prima Pasqua, 195–199. 33 LARCHER, Sagesse III, 1033–1034. 34 „Aaron kämpft mit dem Gott der Versöhnung gegen den Gott der Todesstrafe und besiegt mit dem einen den anderen. Noch anders gesagt: Aarons Sieg ist der Sieg Gottes über Gott“, HÜBNER, Weisheit, 218. 35 „The doxai seem to have not only an ornamental value, but a ‚sacramental‘ one, as well: They cause and manifest the soteriological God’s might“, RAURELL, „The Religious Meaning“, 382.

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Synthese von Weish 18,5–25

nicht zartfühlend mit den Ägyptern umgeht. Außerdem ist die Strafe, die auf die Bösen fällt, insbesondere im Licht der Ausführungen von Weish 11,15 – 12,27, als eine deutliche Einladung zur Umkehr zu sehen. Schließlich sollte man sich vergegenwärtigen, dass der ganze Text von Weish 18,5–25 in einer eschatologischen Perspektive zu lesen ist, wie der Kommentar mehrfach herausgestellt hat: Was einst in der Paschanacht Ägypten traf, ist Zeichen und Vorwegnahme dessen, was dem Gottlosen beim künftigen Gericht geschehen wird (vgl. in dieser Hinsicht die Berührungspunkte mit dem ersten Buchteil, insbesondere mit Weish 5,17–20). Der Tod der Ägypter ist so das Ergebnis einer hartnäckigen Verweigerung seitens der Gottlosen, für die es kein Heilmittel mehr gibt. Bei diesem Gericht ist die Rolle des Kosmos, der sich in Weish 11–19 nochmals als Verbündeter Gottes im Strafen und im Wohltun erweist, nicht zu unterschätzen. In diesem Diptychon zeigen sich zwei besondere Weisen, in denen der Herr das Heil für sein Volk wirkt: Vor allem durch das Einschreiten seines Wortes (vgl. 18,14–16), dann auch durch die Kraft der priesterlichen Fürbitte Aarons (18,20– 26), ein sonst im Buch nirgends genanntes Motiv. Damit wird die Bedeutung des Gottesdienstes, die im Buch der Weisheit sonst an sich wenig entfaltet wird, aufgewertet. Das rettungbringende Eingreifen Gottes geschieht auf dem Hintergrund des Exodus-Pascha, das so für die jüdische Gemeinde in Alexandria eine starke Aktualität gewinnt und gleichzeitig in diesem Diptychon gleichsam eine Prophetie des künftigen Heils wird. Denn gerade in der Zeit, in der der Verfasser schreibt, verbreitete sich eine wirkliche Spiritualität des Exodus, deren Dreh- und Angelpunkt zweifellos die Paschafeier darstellte. Das Pascha wird in dieser Epoche ein Hauptschlüssel für Israel, die ganze Geschichte der Welt und des Volkes selbst zu deuten.36 Im Licht dieser Gegenüberstellung bedeutet die Entscheidung zur Paschafeier, an die Wirksamkeit des Wortes Gottes und des Gebetes, an die Anwesenheit Gottes und seines Eingreifens in die Geschichte in der Vergangenheit wie in der Gegenwart und auch in der Zukunft zu glauben. Bezeichnenderweise zeigt Weish 18,5– 25, im Vergleich mit dem vorhergehenden Diptychon, weniger Berührungspunkte mit der hellenistischen Welt und viel zahlreichere mit der Überlieferung Israels. Eine der Antworten, die Israel zu geben berufen ist in einer kulturellen Umwelt, die es oft dazu drängt, seinen eigenen Glauben zu vergessen, wenn nicht sogar ihn zu verraten, findet sich gerade in seiner ureigenen Tradition: seine Liturgie, sein Gebet, seine Paschafeier.

36 Vgl. das bereits erwähnte grundlegende Werk von R. LE DÉAUT, La nuit pascale.

Weish 19,1–22: Die siebte Gegenüberstellung und die erneuerte Schöpfung Zur literarischen Struktur von Weish 19 In Bezug auf die innere Struktur von Kap. 19 und seine Funktion am Schluss des ganzen Buches herrscht eine große Unklarheit.1 Die Hauptunterschiede bestehen im Blick auf die literarische Struktur der ersten zwölf Verse, für deren Gliederung keine eindeutigen Signale vorhanden sind.2 Der größte Teil der Kommentatoren stimmt darin überein, 19,13–17 und 19,18–21 als zwei kleine literarische Einheiten zu betrachten. Das Problem liegt darin, wie sie mit dem Rest des Kapitels zu verbinden sind. Als eine erste literarische Einheit kann 19,1–5 bestimmt werden: Dieser Absatz schreitet vom „Grimm“ (θυμός 19,1a) zum „Tod“ (θάνατος 19,5b) voran und hat als Subjekt die Ägypter; eine zeitliche Entsprechung bilden μέχρι τέλους (19,1a) und ἐπὶ τοῦτο τὸ πέρας (19,4a). In 19,5 findet sich die im Buch letzte Gegenüberstellung von Israeliten (ὁ μὲν λαός σου) und Ägyptern (ἐκεῖνοι δέ); 19,5 kann man als Schluss des siebten Diptychons bestimmen. Mit 19,6, beginnt ein langer Abschnitt, der den Abschluss des ganzen Buches bildet (19,6–21); als inclusio können γένει πάλιν (19,6a) und ἀνάπαλιν … γένος (19,21a.c) betrachtet werden; γένος kommt im Buch nur an diesen beiden Stellen vor (vgl. noch γένεσις in 19,10.b.11a). Der ganze Abschnitt 19,6–21 wird also zusammengehalten und durchzogen vom Thema des Kosmos. 19,6–12 bilden einen einheitlichen Absatz (inclusio: θαλάσσης in 19,7c.12), den das γάρ am Anfang mit 19,1–5 verbindet. 19,6 führt überschriftartig das Thema der erneuerten Schöpfung ein. In der Mitte des Absatzes steht 19,9 – dieser Vers besitzt zweifellos eine hohe Bedeutung in der Gesamtstruktur des dritten Buchteils (s.u.).3 Subjekte 1

2 3

Vgl. OFFERHAUS, Komposition und Intention, 171–192, bes. 335 Anm. 261; BIZZETI, Sapienza, 97– 100; GILBERT, „Sagesse“, 76–77; PRIOTTO, „Il confronto Egitto-Sodoma“, 370 Anm. 3; MARBÖCK, Johannes, „Denn in allem, Herr, hast du dein Volk großgemacht“: Weish 18.5 – 19,22 und die Botschaft der Sapientia Salomonis, in: HENTSCHEL, Georg / ZENGER, Erich (Hg.), Lehrerin der Gerechtigkeit (EThS 19), Leipzig: Benno 1991,156–177; ENGEL, Weisheit, 291–312. CHEON (The Exodus Story, 89–93) schlug vor, 19,1–17 als eine eigenständige literarische Einheit zu betrachten. Es fragt sich jedoch, ob man 19,18–21 einfach beiseite lassen darf (s.u.). Eine Übersicht über die Meinungen verschiedener Autoren findet sich bei VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 526 Anm. 2. GILBERT hat mehrfach die Bedeutung von 19,9 hervorgehoben, wobei er 19,1–9 als das siebte Diptychon betrachtete und 19,9 als dessen Abschluss. Es ist zwar richtig, dass Weish 19,9 eine wichtige inclusio mit 10,20 bildet, wodurch der ganze dritte Buchteil unter das Thema des Lobes gestellt wird; nur an diesen beiden Stellen im Buch der Weisheit kommt das Verb αἰνέω „loben“ vor; außerdem findet sich an beiden Stellen die Anrede κύριε. Nach der Meinung von GILBERT hebt sich 19,10–22 vom übrigen Kapitel 19 ab und bildet einen tatsächlichen Abschluss des ganzen Buches, wobei die literarische Form der Reihe oder Aufzählung verwendet sei, ähnlich wie in Weish 10,1–21, der Einleitung zu den Exodusereignissen (Weish 11,1 – 19,9), zu denen dann 19,10–22 den Abschluss bilden würde. Vgl. GILBERT, „Sagesse“, 72–73 und „The Literary Structure“ (= Le livre de la Sagesse), 20–25.

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Weish 19,1–22

in diesem Absatz sind das heilige Volk und die erneuerte Schöpfung. Das Lob in 19,9 verknüpft das Thema des Durchzugs durch das Meer (19,7–8) mit der Erinnerung an die Wachtel-Episode (19,10–12) und stellt so das Zentrum dieses ersten Absatzes des Epilogs dar. Gleichzeitig verweist 19,9 zurück auf den Anfang der Gegenüberstellungen aus den Exoduserzählungen, indem es mit Weish 10,20 eine inclusio bildet. Einen Unterabsatz bilden die Verse 19,10–12, die bereits auf den Abschluss des ganzen Buches (19,18–21) vorausgreifen, aber weder von der Überschrift 19,6, die sie entfalten, noch von 19,9 abgesetzt werden können, da sie dasselbe Subjekt wie 19,9 haben und dazu dienen, die Beweggründe für das in 19,9 beschriebene Lob zu veranschaulichen. Daher bilden 19,7–8 einen ersten Unterabsatz von sechs Kola (inclusio: ἐθεωρήθη 19,7b – θεωρήσαντες 19,8b) und 19,10–12 einen weiteren mit ebenfalls 6 Kola (Themenwort γένεσις in 19,10b.11a); diese beiden Unterabsätze umgeben das Zentrum 19,9. Die Absätze 19,13–17 und 19,18–21 erscheinen nur bei oberflächlicher Betrachtung als unverbunden mit dem Kontext. Das Gericht über die Gottlosen in der Geschichte (19,1–5) kündigt das eschatologische Gericht an, hier symbolisiert durch die Episoden mit den Ägyptern und den Sodomitern (19,13–17).4 Der Rettung der Israeliten in der Geschichte, wobei die Schöpfung eine wesentliche Rolle spielt (19,6–12), entspricht das eschatologische Heil, das in einer erneuerten Schöpfung besteht (19,18–21). Der Absatz Weish 19,13–17 kann anhand der Subjektwechsel folgendermaßen gegliedert werden: v.13: Bestrafung der Ägypter v.14: Israeliten und Ägypter v.15: (eschatologische) Bestrafung der Ägypter v.16: die Behandlung der Israeliten durch die Ägypter v.17: Bestrafung der Ägypter wie die der Sodomiter.

Das folgende Schema zeigt den Sinnzusammenhang von Kap. 19: vv. 1–5: Siebte Gegenüberstellung vv. 6–21: Epilog zum ganzen Buch: Das Thema Kosmos vv. 6–12: Das Volk und die erneuerte Schöpfung v. 6: Überschriftartige Einleitung: Die Schöpfung vv. 7–8: Der Durchzug durch das Meer v. 9: Der Lobgesang (Zentrum von 19,6–12; inclusio mit 10,20) vv. 10–12: Entfaltung des Themas Schöpfung vv. 13–17: Die Ägypter im Vergleich mit den Sodomitern (Thema der Strafe; vgl. 19,1–5) vv. 18–21: Die erneuerte Schöpfung (vgl. 19,6–12) v. 22: Abschluss des ganzen Buches. Die konzentrische Struktur der Kapitel 16–19 Bei der Analyse der literarischen Struktur von Weish 19 zeigt sich eine enge Beziehung zu Weish 16.5 Insbesondere fallen die folgenden Berührungspunkte auf:

4 5

Vgl. PRIOTTO, „Il confronto Egitto-Sodoma“, 371–377. Vgl. BIZZETI, Sapienza, 100–104.

Zur literarischen Struktur von Weish 19

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a. In Weish 16 hat das Thema „Volk“ eine große Bedeutung: In 16,2 und 16,20 wird in Versen mit gleicher Konstruktion von „deinem Volk“ gesprochen; die gleiche Wendung findet sich in 19,5 und im Schlussvers des Buches (19,22). 16,2: ἀνθ’ ἦς κολάσεως εὐεργέτησας τὸν λαόν σου 16,20: ἀνθ’ ὦν ἀγγέλων τροφὴν ἐψώμισας τὸν λαόν σου b. Das Wort κτίσις „Schöpfung“ kommt nur viermal im Buch vor: Neben Weish 2,6 und 5,7 in Weish 16,24 und 19,6; an den beiden letztgenannten Stellen in Verbindung mit dem Partizip ὑπηρετοῦσα „dienend“, um hervorzuheben, dass die Schöpfung den Willensäußerungen Gottes gehorcht; das Verb ὑπηρετέω taucht im Buch der Weisheit nur an diesen beiden Stellen auf. c. Eine weitere Entsprechung ist die Betonung der Außerordentlichkeit des Wirkens Gottes, die durch das Attribut παράδοξος ausgedrückt wird, das sich nur in 5,2; 16,17 und 19,5 findet. d. Einige Schlüssellexeme von Weish 16 erscheinen erneut in ähnlichen Kontexten zu Beginn von Weish 19: – κολάζω (16,1) und κόλασις (19,4) – ἀξίως (16,1) und ἄξιος (19,4) – βασανίζω (16,1) und βάσανος (19,4) – ἐπιθυμία (16,2 und 19,11; nur hier im Sinn von „Verlangen, Appetit“). e. Das seltene Substantiv κρύσταλλος erscheint in 16,22 und wird in Bezug auf das Manna durch κρυσταλλοειδής in 19,21 wieder aufgegriffen. f. Die Wendung μέχρι τέλους in Verbindung mit dem Zorn (ὀργή) bzw. dem Grimm (θυμός) Gottes haben 16,5 und 19,1 gemeinsam. g. Schließlich ist auf die enge Beziehung zwischen 16,22.23 und 19,20 hinzuweisen, wo sich die Wirkung der erneuerten Schöpfung zeigt; übereinstimmende Ausdrücke sind: πῦρ, τῆς ἰδίας δυνάμεως, ἐπιλανθάνω. Bereits auf der Ebene der literarischen Struktur und des Wortschatzes lässt sich schließen, dass Weish 19 das Kap. 16 aufgreift; im Zentrum der Ausführungen von Weish 16– 19 stehen also die Kapitel 17–18, die um 18,1–4 herum angelegt sind, das in der Mitte als Höhepunkt steht.6 Der erste Absatz des fünften Diptychons (Weish 17,1–6) entspricht 18,5–9 (ἐκείνη ἡ νύξ: 17,5c; 18,6); der Nacht, die auf die Ägypter hinabfällt, entspricht die Paschanacht, Untergang für die einen, Rettung für die anderen. Der zweite Absatz des fünften Diptychons (Weish 17,7–11) findet eine direkte Entsprechung in 18,10–13; in beiden Absätzen kommt das Thema der Zauberer vor, aber in 18,10–13 müssen die Ägypter noch dazu anerkennen, dass das Volk „Sohn Gottes“ ist. Der dritte Absatz im fünften Diptychon (Weish 17,12–15) entspricht 18,14–19: Beiden Absätzen ist die Bezugnahme auf die Träume und die Angst gemeinsam. Die Erwähnung des Logos in 18,14–16 macht verständlich, dass die in 17,12–13 beschriebene Angst mit der fehlenden Annahme des Wortes Gottes zu tun hat, was zum nicht nur geschichtlichen, sondern auch zum eschatologischen Gericht führt. Der vierte Absatz im fünften Diptychon (Weish 17,16–21) schließlich entspricht Weish 18,20–25 (ὅλος ὁ κόσμος: 17,20 und 18,24 sind die einzigen Stellen im ganzen Buch, in denen diese Wendung vorkommt). Die ganze Schöpfung wirkt dabei zusammen, um die Gottlosen in Schrecken zu versetzen (17,16–21); die ganze Welt, symbolisiert durch die Kleidung Aarons, wirkt zusammen, um die Gerechten zu retten (18,20–25). Im Zentrum der Kapitel 17–18 erscheint also der Text 18,1–4, wo mittels der Metapher „Licht“ das Thema des „unverderblichen Gesetzes“ eingeführt wird, das, wie gezeigt wurde, verbunden ist mit der Weisheit und mit dem Wort Gottes innerhalb einer ausführli-

6

Vgl. MAZZINGHI, Notte di paura e di luce, 219–298.

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Weish 19,1–5 chen Reflexion über die Rolle Israels und über die Bestimmung zum ewigen Leben, das den erwartet, der sich der Offenbarung Gottes in der Geschichte nicht verschließt. In den letzten vier Kapiteln des Buches kreist also alles um den zentralen Text 18,1–4. Weish 16 bereitet mit der Einführung der Themen „Speise“ (16,1–4), „Rettung vom Tod“ (16,5–14) und „Manna“ (16,15–29) insbesondere auf den Schluss von Weish 19 (19,18–21) vor, wo alle diese Themen aufgegriffen werden im Rahmen einer erneuerten Schöpfung, die den Menschen eine „Speise der Unsterblichkeit“ (Weish 19,21) bietet. Noch einmal sind im Buch der Weisheit die geschichtliche Perspektive und die eschatologische Dimension eng miteinander verbunden, und der Berührungspunkt wird durch die Theologie der Schöpfung dargestellt. Die nachdrückliche Hervorhebung der Rolle des Kosmos gestattet es, sich der Zukunft zu öffnen, die Vergangenheit nicht zu vergessen und gerade in der Schöpfung die Wurzeln der Heilsgeschichte zu entdecken. Weish 19 bildet wirklich den Abschluss des ganzen Buches. Schon die Wendung μέχρι τέλους „bis zum Ende“ in 19,1 zeigt der Leserschaft an, dass sie sich dem Schluss nähern. Kap. 19 greift dann mehrfach Ausdrücke und Themen auf, die im Buch schon behandelt wurden: das in Weish 10,20 begonnene Lob findet seine Entsprechung in 19,9; wie schon ausgeführt wurde, kommt nur an diesen beiden Stellen im Buch das Verb αἰνέω vor (s.o.). Die Bezeichnung von Weish 11–19 als „hymnische Erinnerung an den Exodus“ (GILBERT) ist gerechtfertigt. In dieser Perspektive des Lobs schließt 19,22 das ganze Buch ab.

Weish 19,1–5: Die siebte Gegenüberstellung: Der Durchzug durch das Meer 1 Die Gottlosen aber überfiel bis zum Ende erbarmungsloser Grimm: Er wusste nämlich von ihnen auch das Künftige im Voraus, 2 dass sie, nachdem sie (ihnen) gestattet hätten wegzugehen und sie mit Eile fortgeleitet hätten, sich umbesinnen und sie verfolgen würden. 3 Während sie nämlich noch die Trauerriten vollzogen und an den Gräbern der Toten klagten, fassten sie eine andere unsinnige Idee und verfolgten wie Flüchtlinge die, die sie mit flehentlichem Zureden vertrieben hatten. 4 Es zog sie nämlich das verdiente Schicksal zu diesem Äußersten und flößte ihnen Nichterinnerung an die Geschehnisse ein, so dass sie zu den (bereits erlittenen) Qualen hinzu die noch ausstehende Strafe voll erlitten 5 und, während dein Volk eine unerwartbare Reise erfuhr, jene jedoch einen seltsamen Tod fanden.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 2

19,2a bietet zwei Textprobleme, die schwierig zu lösen sind: Es geht um die unterschiedlichen Lesarten ἐπιτρέψαντες und ἐπιστρέψαντες einerseits und andererseits ἀπεῖναι und

Synchrone Analyse

5

487

ἀπιέναι. Die Lesart ἐπιστρέψαντες bieten B S C, viele Minuskeln und Lat (cum reversi essent); einige Autoren verstehen das Verb ἐπιστρέφω im Sinne von „seine Meinung in Bezug auf etw. ändern“ oder von „jmdn. zu etwas drängen“. Die Lesart ἐπιτρέψαντες enthalten hingegen A Sc V O und mehrere andere Minuskeln; ἐπιτρέπω mit Infinitiv bedeutet „gestatten, erlauben“. Aber auch die Leseweise des Infinitivs, der folgt, ist problematisch: Am besten bezeugt ist die Lesart ἀπεῖναι in der Bedeutung „abwesend, weg sein“ (ZIEGLER); O V und einige Minuskeln haben ἐπιτρέψαντες τοῦ ἀπιέναι mit der Bedeutung „nachdem sie gestattet hatten, wegzugehen“, so RAHLFS und ZIEGLER); der Artikel τοῦ vor dem Infinitiv wäre dann abundant (vgl. BDR § 400.7 und WINSTON, Wisdom, 324). Der Genitiv-Artikel (τοῦ) scheint eher zur Lesart ἐπιστρέψαντες τοῦ ἀπεῖναι zu passen; der Ausdruck könnte dann übersetzt werden: „nachdem sie sie gedrängt hatten wegzusein bzw. wegzugehen“. Die Übersetzung bleibt hypothetisch und der Sinn dunkel (LARCHER, Sagesse III, 1048). SCARPAT (Sapienza III, 312–313) schlägt, wenn auch mit gewissen Bedenken, eine hypothetische Rekonstruktion vor: τοὺς υἱούς σου sei irrtümlich durch einen frühen Kopisten ausgelassen worden: „sie gestatteten, (dass deine Söhne) weggingen“. In 19,2b möchte ENNS (Exodus Retold, 96–97) προπέμπω in der Bedeutung „begleiten“ (to escort) verstehen, wie es für dieses Verbum durchaus möglich ist. Damit sei das Buch der Weisheit das älteste Zeugnis einer Auslegungstradition, die sich in der ׁ in Ex 13,17 Mekilta (Besh. 1,1–3) und auch in Ex. R. 20,3 findet; das hebräische Verb ‫שלח‬ ׁ ‫ )ויהי ב‬wird im Sinne von „begleiten“ (‫ )לוה‬gedeutet anstatt von „wegschi(‫שלח פרעה‬ cken“, da allein Gott einen solchen Befehl geben könne. Die Textzeugen schwanken zwischen den Lesarten πειράσῃ und περάσῃ (die letztgenannte Lesart wird gestützt von A Bc V, Lat Sah Aeth Arm). Das Verb περάω bedeutet „hindurchgehen, durchqueren“; SCARPAT befürwortet mit ausführlicher Argumentation (Sapienza III, 315) diese Lesart als lectio difficilior und übersetzt: „damit dein Volk eine wunderbare Reise durchführe“. LARCHER (Sagesse III, 1053–1054) betrachtet beide Lesarten als gleichwertig und zieht die erstere vor; er versteht πειράζω im Sinne von „eine Erfahrung machen“ (vgl. Weish 2,24; 12,26). Das wiederholte Vorkommen von πειράζω im Buch der Weisheit (auch noch in 1,2; 2,17; 3,5; 11,9) dürfte ein Hinweis sein zugunsten der Lesart πειράσῃ in einem Absatz, der viele Wörter erneut verwendet, welche im übrigen Buch schon vorkamen (anders SCARPAT).

Synchrone Analyse Das δέ am Anfang markiert den Gegensatz zum vorhergehenden Abschnitt, in dem 19,1a: Ein eres um die Rettung der Israeliten vor dem „Vernichter“ aufgrund des Eintretens barmungsloAarons ging (Weish 18,25). Zu ἐφίσταμαι im Sinne von „über jemanden kommen, ser Grimm jemanden überfallen“ in einem ähnlichen Kontext vgl. Weish 6,5; 16,8; 18,17. Die zeitliche Bestimmung „bis zum Ende“ (vgl. 16,5), d.h. bis zur völligen Vernichtung, lässt das Verb einen Beiklang von Dauer annehmen; Objekt sind die Gottlosen. Der Verfasser denkt an die Ägypter, nennt sie aber ἀσεβεῖς „Gottlose“ und verbindet sie so mit den Figuren, die im ersten Buchteil das Subjekt waren. Der Zorn oder Grimm Gottes ist ein im Buch der Weisheit häufiges Motiv (vgl. 16,5a). Die Beschreibung des Grimms Gottes als „erbarmungslos“ (dieses Adjektiv kam bereits in Weish 12,5a vor; vgl. Spr 27,4LXX) weist hin auf die eschatologische Dimension: Mittels der Erinnerung an die Ereignisse am Roten Meer möchte der Verfasser die Vorstellung vom Endgericht an den Gottlosen nahebringen. Der Zorn Gottes steht durchaus nicht im Widerspruch zu seiner Barmherzigkeit; denn der Zorn entfesselt sich nur, wenn die Barmherzigkeit vom Menschen zurückgewiesen wird. In diesem ganzen Absatz (abgesehen von 19,5a) wird von Gott nur in der

488

19,1b-2: Das Vorherwissen Gottes

19,3: Eine weitere unvernünftige Idee der Ägypter

Weish 19,1–5

dritten Person und indirekt gesprochen, und nur wenn wieder „dein Volk“ genannt wird, kehrt die die Kapitel 10–19 durchziehende Anredeform in der zweiten Person Singular zurück. Der Grund für die unerbittliche Strenge Gottes liegt in seinem Vorherwissen, denn „er wusste im Voraus“, was die Ägypter tun würden; das Subjekt des Vorauswissens (zweifellos : Gott) wird nicht genannt; wohl deshalb setzen die Handschriften 443.613 das Verb in die 2. Person Singular.7 Das Verb προοῖδα ist selten und gewählt (in der LXX nur noch einmal in 4Makk 4,25), das Objekt ist hier τὰ μέλλοντα (vgl. Weish 8,8b): Das Vorauswissen bezieht sich auf das, was geschehen wird, aber nicht nur auf die Zukunft im Allgemeinen, sondern auf das, was die Ägypter Israel antun werden. Der Text handelt über das bekannte Exodus-Thema der Herzensverhärtung. 19,2 bezieht sich, ungeachtet der textkritischen Probleme, auf die Genehmigung des Pharaos gegenüber den Israeliten, Ägypten zu verlassen (vgl. Ex 12,31– 32); 19,2b knüpft an Ex 12,33 an, denn die LXX übersetzt die Eile an dieser Stelle mit σπουδή. Bei dieser Gelegenheit geht der Verfasser nicht auf Ex 12,35 ein (die von den Israeliten erhaltenen Geschenke), da er über diese schon in Weish 10,17 gesprochen hat (vgl. Philon, Mos. I, 139). Das Verb im Futur (διώξουσιν 19,2c) hängt direkt von ὅτι in 19,2a ab und führt in die Verfolgungserzählung (Ex 14,6–9) ein. Im Anschluss an Ex 14,5, wonach der Pharao und seine Umgebung ihre Meinung änderten (μετεστράφη ἡ καρδία), heißt es in 19,2c, wenn man dem Vorschlag von Peter Enns (s.o.) folgen will, sie hätten die getroffene Entscheidung, die Israeliten zu begleiten, „bereut“; so erscheint die Entscheidung des Pharaos als wirklicher Unsinn. Das hier verwendete Verb ist μεταμέλομαι, das in der LXX meist die Bedeutung „etwas bereuen“ hat (z.B. 1Chr 21,15; 1Makk 11,10; im NT: Mt 21,29.32; 27,3). In nur drei Kola wird eine dichte Reihe von Angaben, die in der Exoduserzählung enthalten sind, zusammengefasst, um dahin zu gelangen, worum es dem Verfasser geht: zum Durchzug durch das Meer. „In den Händen haben“ ist eine Redewendung, die je nach Kontext verschiedene Bedeutungsschattierungen gewinnt; in 19,3a ist das Objekt τὰ πένθη, ein Plural zu „Trauer“, der verstanden werden kann als äußere Kundgaben der Trauer, d.h. Trauerriten. Der Text scheint nicht auf die lange Zeit anspielen zu wollen, die für eine Einbalsamierung der Leichen nach ägyptischem Brauch erforderlich gewesen wäre.8 Die Erwähnung der Toten weist zurück auf Weish 18,12b-c (vgl. Num 33,4a), aber es besteht ein gewisser Widerspruch: Nach 18,12c genügten die Lebenden nicht, um die Toten zu begraben; in 19,3a-b jedoch scheinen alle gerade damit beschäftigt zu sein. Dies bildet einen Teil der midraschartigen, für das Buch der Weisheit bezeichnenden Ausschmückungen, die nicht immer einer strengen Logik folgen. 19,3b erwähnt die Klagen an der Gräbern der Toten; das Kompositum *προσοδύρομαι „nahe bei etw. wehklagen“ kommt nirgends sonst in der griechischen Literatur vor, üblich ist das Simplex ὀδύρομαι. Der Kontrast zwischen der Klage der Ägypter um die bei der zehnten Plage Getöteten und ihrer noch tragischer

7 8

Vgl. ZIEGLER, sub loco. Vgl. LARCHER, Sagesse III, 1049.

Synchrone Analyse

489

ausgehenden Entscheidung, Israel zu verfolgen, wird deutlich: Dieses Vorhaben wird das ganze Volk in einen tiefen Abgrund hineinziehen. 19,3c bereitet der Deutung ein Problem: Das Verb ἐπισπάομαι hat wie in Weish 1,12 (darauf wird hier möglicherweise zurückverwiesen) die Bedeutung „zu sich heranziehen“. Sowohl die alten Übersetzungen als auch die modernen Autoren verstehen das Kolon im Sinne von „einen anderen unsinnigen Gedanken fassen“ oder „eine andere unsinnige Entscheidung treffen“. Mit Ausnahme von Weish 17,12 wird λογισμός im Buch der Weisheit immer in negativem Sinne verwendet und bezeichnet Pläne, Berechnungen und Überlegungen der Sterblichen,9 die, wie in 1,5, als „unvernünftig“ (ἀσύνετοι), als „verkrümmt“ (σκολιοί 1,3) oder als „ungewiss“ (δειλοί 9,14) beschrieben werden. Der Ausdruck ἄνοια „Vernunftlosigkeit, Verstandesleere“ ist sehr stark und erinnert an 15,18, wo er bei der Bewertung der ägyptischen Tierverehrung verwendet wurde. Die Widersprüchlichkeit des Verhaltens der Ägypter soll sichtbar gemacht werden. 19,4 erhellt den tiefsten Grund der Unvernünftigkeit der Entscheidung der Ägypter: Sie werden zu dieser Handlungsweise veranlasst durch eine Notwendigkeit, die sie in den Irrtum treibt. Das Ziel ist ein doppeltes: die verdiente Strafe zu erteilen (19,4c) und die Befreiung des Volkes zu ermöglichen (19,5). Eine andere Auswirkung des Tuns Gottes ist, dass die Ägypter in ein Vergessen (ἀμνηστία) der Geschehnisse (τῶν συμβεβηκότων) fallen; vgl. Weish 14,26 (χάριτος ἀμνηστία). Das Tun Gottes bewirkt nichts anderes, als die Haltung der Ägypter aufzudecken: dass sie nicht fähig waren, die Gegenwart Gottes in den Ereignissen, deren Zeugen sie waren, anzuerkennen. Der Verfasser wählt, vielleicht absichtlich, einen Begriff, der schon von Platon und später von Plutarch in moralischer Bedeutung verwendet worden war.10 Durch den Gebrauch des Wortes ἀμνηστία erinnert er daran, dass es im Kontrast dazu die ἀνάμνησις und die ὑπόμνησις der Worte und der Wohltaten Gottes waren, die die Erfahrung Israels prägten (vgl. Weish 16,6.11). Das erste Ziel der Notwendigkeit, die die Ägypter trifft, ist, dass sie noch ergänzen, was an ihrer Bestrafung (κόλασις) fehlt. Das Verb *προσαναπληρόω kommt sonst nirgends in der LXX oder im NT vor und gehört der literarischen Sprache an; die Bedeutung ist: „Fehlendes in vollem Umfang ergänzen“; der in 19,4c ausgedrückte Gedanke entspricht 2Makk 6,14. 19,5 beschließt den ersten Abschnitt des Kapitels, indem es dem Tod, der die Ägypter ereilt, die außergewöhnliche Rettung gegenüberstellt, die Gott seinem Volk gewährt. Die Erwähnung des Volkes (λαός) veranlasst den Verfasser gleich wieder zur Verwendung der zweiten Person, denn es geht um dein Volk. Dass der gleiche Ausdruck am Ende des Buches (19,22) nochmals wiederkehrt, hebt seine Bedeutung hervor und unterstreicht seine Aktualität: Das Volk, von dem der Verfasser spricht, ist nicht nur das des Exodus, sondern auch das zeitgenössische Israel, das Publikum in Alexandria, an das er sich wendet. Dieses Volk macht die Erfahrung einer unglaublichen Reise (zu ὁδοιπορία vgl. Weish 18,3). Der Auszug der Israeliten aus Ägypten wird beschrieben als παράδοξος: unerwartet, überraschend, unglaublich. Zur unerwarteten Rettung des Gerechten s. Weish 5,2, zu den ganz überraschenden Eigenschaften des Manna

9 Vgl. Weish 1,3.5; 9,14; 11,15; 12,10. 10 Vgl. REESE, Hellenistic Influence, 20.

19,4–5: Ein gerechtes Schicksal – eine unglaubliche Reise

490

Weish 19,1–5

s. 16,17. An allen drei Stellen wird die Außergewöhnlichkeit und Unerwartetheit eines von Gott bewirkten Rettungsereignisses zugunsten seines Volkes betont. Im Gegensatz dazu erfahren die Ägypter einen seltsamen („fremdartigen“) Tod. Worin liegt das Bemerkenswerte an diesem Tod? Gewiss im Wunder am Meer, worauf der Text anspielt, aber nicht nur darin. Denn von Anfang an hat das Buch der Weisheit nachdrücklich festgestellt, dass Gott den Tod nicht anstrebt (Weish 1,13); er ist etwas Fremdes, das der Mensch zu sich heranzieht und das nicht dem Plan Gottes entspricht (s. die Verwendung von εὑρίσκω). Seltsam ist der Tod außerdem in Bezug auf das, was dann in 19,6 ausgesagt wird: Die ganze Schöpfung formiert sich zum Dienst an den Gerechten.

Diachrone Analyse 19,1 Der Verfasser vermeidet es zu sagen, dass Gott unmittelbar das Herz des Pharao

verhärtete, wie es einige Texte der Exoduserzählung tun (vgl. Ex 7,3; 9,12; 10,1.20.27; 11,10; 14,4), und beschränkt sich darauf, das Vorauswissen Gottes hervorzuheben; dieses ist eine durchaus biblische Vorstellung (vgl. SusLXX 35 = SusTh [Dan 13] 42; sie ist auch Philon vertraut, z.B. Deus, 29). Der Verfasser kann sich dabei auf Ex 14,3–4a stützen, wo Gott davon spricht, er sehe voraus, was der Pharao tun werde: ἐγὼ δὲ σκληρυνῶ τὴν καρδίαν Φαραω καὶ καταδιώξεται ὀπίσω αὐτῶν.

LARCHER erörtert das mit diesem Text gegebene theologische Problem11 und stellt fest, dass der Verfasser nicht zu Fragen des Verhältnisses von Eingreifen Gottes und menschlicher Freiheit Stellung nehmen, sondern nur das Andauern eines unbeugsamen Grimms angesichts der Verhärtung der Ägypter rechtfertigen will. Möglicherweise hilft es zu einem rechten Verständnis mehr, den eschatologischen Hintergrund dieses Abschnitts zu berücksichtigen (gegen LARCHER, der annimmt, der Text beziehe sich hier ausschließlich auf den physischen Tod). Wie die Gottlosen im ersten Buchteil, so erleiden die Ägypter von Gott her die äußerste Strafe für ihre tiefe Ungläubigkeit und erfahren einen „erbarmungslosen Grimm“. 19,3 Die Bemerkung, dass die Ägypter die, die sie gerade erst vertrieben hatten, verfol-

gen wollen, stützt sich ebenfalls auf Ex 14,5–6. Das Buch der Weisheit kombiniert hier in einmaliger Weise eine zweifache Überlieferung im Buch Exodus: Einerseits „flehen“ die Ägypter Israel an (ἱκετεύοντες; vgl. Weish 13,18) fortzuziehen (vgl. Ex 12,31) und andererseits bedrängten sie das Volk, indem sie es eilig aus dem Land vertrieben (vgl. Ex 12,33LXX: καὶ κατεβιάζοντο οἱ Αἰγύπτοι τὸν λαὸν σπουδῇ ἐκβαλεῖν αὐτοὺς ἐκ τῆς γῆς). Was ist der Grund für die von den Ägyptern getroffene Entscheidung? Da Weish 19,3c ihn einen λογισμός ἀνοίας eine „unsinnige Idee“ nennt, könnte man denken, dass der Grund psychologischer Natur war. 19,4 erinnert an das Rätsel der Herzensverhärtung des Pharaos (s.u.). Das Buch der Weisheit zeigt sich hier tief und originell, gerade im Vergleich mit der jüdischen Tradition, die eine derartige Entscheidung zu rechtfertigen versucht.12 Die Berührung mit dem Wortlaut 11 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 1046–1047. 12 Nach Tg. Ps.-J. zu Ex 14,9 z.B. glaubte der Pharao, der Gott Baal-Zefon habe den Israeliten den Weg durch die Wüste verschlossen, vgl. ENNS, Exodus Retold, 99–104.

Diachrone Analyse

491

von Weish 1,12 erscheint hier bedeutsam: Die unsinnigen Gedanken des Menschen sind die Ursache seines Untergangs; der Tod erscheint nicht mehr als Bestrafung, sondern als direkte Folge menschlichen Handelns. Die Weise, in der der Verfasser den Gedanken von Ex 14,4 von griechischen 19,4–5 Vorstellungen her neu formuliert, ist aufschlussreich. 19,4 beginnt mit dem Imperfekt von ἕλκω „ziehen, schleppen“, auch in gewaltsamer und unwiderstehlicher Weise. Von diesem Verb hängt die präpositionale Bestimmung ἐπὶ τοῦτο τὸ πέρας „bis zu diesem Äußersten“ ab; das Äußerste bezeichnet hier wie in Weish 14,27 einen negativen Höhepunkt. Das Subjekt des Satzes, die durch die im Buch der Weisheit beliebte rhetorische Figur des hyperbaton hervorgehobene ἀνάγκη „Notwendigkeit, Schicksal“ (s. den Kommentar zu 17,17) meint nicht das blinde, unpersönliche Schicksal der Griechen, sondern die Folge der von den Ägyptern selbst begangenen Taten und deshalb ein wohlverdientes Schicksal; ἄξιος „würdig, verdient“ wird im Buch der Weisheit immer in einer theologischen Bedeutung verwendet, vgl. 16,9. Der Verfasser denkt an einen Vorgang, bei dem sich die Freiheit Gottes mit dem freien Tun der Menschen verflicht, und damit denkt er sicher biblisch und nicht griechisch. Das Motiv des Vergessens kommt in der Exoduserzählung gar nicht vor. Aber in Ex 14,17 heißt es, dass die ägyptischen Soldaten ins Meer zogen, weil der Herr ihr Herz verhärtet hatte. Dies ist die Erklärung, die der biblische Text wahrscheinlich zur Rechtfertigung einer sehr harten Strafe, die anscheinend unschuldige Personen trifft, geben will. In der midraschartigen Auslegung des Verfassers sind sie aber gleichermaßen schuldig, da sie sich an die selbst erlebten Geschehnisse hätten erinnern können, wie es die Israeliten getan haben; sie aber haben das nicht getan.13 Auch zu 19,4a-b erörtert LARCHER das damit gestellte theologische Problem:14 Es hat ja fast den Anschein, als ob die Ägypter zu sündigen gedrängt wurden von einer geheimnisvollen Macht, die sie in grundlegende Verfehlungen stieß, die nicht mehr vergeben werden konnten. Die Notwendigkeit, von der hier gesprochen wird, ist jedoch, wie schon gesagt wurde, nicht das unpersönliche Schicksal der Griechen; sie ist vielmehr mit der biblischen Vorstellung der Herzensverhärtung des Pharaos verknüpft. Einige Autoren verstehen die ἀνάγκη hier als Ursache-Wirkung-Verhältnis; sie sei das, was aus den Taten der Bösen erfließt, eine Art circulus vitiosus, der sie unerbittlich zum Bösen hintreibt. Tatsächlich aber verkörpert die Notwendigkeit, von der das Buch der Weisheit spricht, Willen und Handeln Gottes. FICHTNER15 hebt die apokalyptische Ausrichtung des Diptychons hervor. Eher kann man von einer eschatologischen Ausrichtung sprechen; dahin weist die Verwendung der Ausdrücke βάσανος und κόλασις, die bereits früher im Buch vorkamen (Weish 16,3; 17,13 u. ö.). Die Perspektive der erneuerten Schöpfung, die das ganze Kap. 19 durchzieht, legt es nahe, hier eher eine Ankündigung des künftigen Gerichtes Gottes über die Gottlosen zu sehen. Man kann 19,4c als ein weiteres Zeugnis der Spannung betrachten, die im Buch der Weisheit zwischen der Barmherzigkeit Gottes und seinem Gericht, der unwiderruflichen Verdammung des Gottlosen, besteht.

13 Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen von ENNS, Exodus Retold, 109–110. 14 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 1051. 15 Vgl. FICHTNER, Weisheit, 67.

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Weish 19,6–12

Weish 19,6–12: Der Durchzug durch das Meer und die Schöpfung im Dienst der Kinder Gottes 6 Die ganze Schöpfung nämlich wurde wieder von Anfang an innerhalb ihrer eigenen Wesensart umgestaltet, als sie deinen Anordnungen diente, so dass deine Kinder unbeschadet bewahrt wurden. 7 Die das Lager überschattende Wolke (wurde wahrgenommen), aus dem Wasser, das vorher da gewesen war, wurde das Auftauchen trockenen Landes geschaut, aus dem Roten Meer ein unbehinderter Weg und eine Grünes tragende Ebene aus gewalttätiger Flut. 8 Durch sie (die Ebene) hindurch zogen vereint die durch deine Hand Beschirmten, die staunenswerte Wunder geschaut hatten. 9 Wie Pferde nämlich weideten sie, und wie Lämmer hüpften sie, während sie dich, Herr, ihren Retter, lobten. 10 Sie erinnerten sich nämlich auch noch der (Geschehnisse) bei ihrem Aufenthalt: Wie anstelle einer Entstehung durch Tiere das Land Stechmücken hervorbrachte, anstelle aber (der Entstehung durch) Wassertiere der Fluss eine Menge von Fröschen ausspie. 11 Zuletzt aber sahen sie auch eine neuartige Entstehung von Vögeln, als sie, von Gier getrieben, Luxusspeisen verlangten: 12 Zum Trost stiegen nämlich für sie vom Meer her Wachteln auf.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 6

9

Anstelle der von J. ZIEGLER in 19,6b gewählten Lesart ταῖς σαῖς ἐπιταγαῖς bieten B C, einige Minuskeln, Arab die Lesart ταῖς ἰδίαις ἐπιταγαῖς; mit der letztgenannten Lesart bezöge sich der Text auf die jeweils besonderen Anordnungen, die Gott seiner Schöpfung gebe. Aber diese Lesart steht im Gegensatz zu der Vorstellung, dass die Schöpfung immer bereit ist, ihrem Schöpfer zu gehorchen. Die Lesart ἰδίαις kann unter dem Einfluss von ἐν ἰδίῳ γένει in 19,6a entstanden sein; das Possessivpronomen der 2. Person Singular σαῖς dagegen verweist direkt auf Gott, der auch in 19,6c in zweiter Person angerufen wird (οἱ σοὶ παῖδες). ἐνεμήθησαν: Die Handschriften 311 766 und die armenische Übersetzung lasen ἐνεθυμήθησαν „sie nahmen es sich zu Herzen, bedachten“; andere Handschriften haben διενεμήθησαν „sie wurden verteilt, verwaltet“; jedenfalls stand dem Verfasser wohl Jes 63,13LXX vor Augen: „er führte sie (ἤγαγεν) durch die Wassertiefe wie ein Pferd durch die Wüste“. Zu anderen Konjekturen vgl. LARCHER, Sagesse III, 1061–1062. Hier wird die

Synchrone Analyse

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bestbezeugte Lesart ἐνεμήθησαν beibehalten (von νέμω: die Bedeutung „zur Weide führen“ ist jedoch nicht ganz sicher). In 19,9c werden als Apposition zu κύριε zwei Formen überliefert: das Partizip Präsens τὸν ῥυόμενον (B S, Minuskeln; so ZIEGLER) und das Partizip Aorist τὸν ῥυσάμενον (A C V, Lat qui liberasti eos, Arm, Syr, so RAHLFS); letztere dürfte eine lectio facilior darstellen. Die erstgenannte Lesart scheint die ursprüngliche zu sein, anders ist ihre Entstehung kaum zu erklären. Das Partizip Präsens kann verstanden werden als ein gerade geschehender Vorgang („der dabei ist, sie zu retten“) oder als eine gerade abgeschlossene Tat („der sie gerade gerettet hatte“); vielleicht ist es aber am besten, das Partizip hier wie ein Adjektiv zu verstehen („ihren Retter“).

Synchrone Analyse Wie schon in Weish 16,24–25 fügt der Verfasser hier eine Überlegung zur Gefügigkeit 19,6: Eine erder Schöpfung gegenüber ihrem Schöpfer ein. Unter ὅλη ἡ κτίσις ist die Natur im neuerte Allgemeinen als „Schöpfung“ zu verstehen (vgl. Weish 5,17; 16,24). Die Bestimmung Schöpfung ἐν ἰδίῳ γένει bereitet eine gewisse Schwierigkeit;16 γένος kann sich von Gen 1LXX her nahegelegt haben, wo zehn Mal (Gen 1,11bis.12bis.21.24bis.25ter) κατὰ γένος die vom Schöpfer bestimmte „Art“ bezeichnet. Das Verb *διατυπόω bedeutet „ausbilden, gestalten“. Die beiden Adverbien πάλιν und ἄνωθεν sind wahrscheinlich synonym und können mit „erneut, nochmals“ übersetzt werden oder aber, wie in Gal 4,9, einen zeitlichen Beiklang erhalten: „von Neuem so wie vorher“. Die offensichtliche Bezugnahme auf die Schöpfungserzählung der Genesis, die den ganzen Abschnitt prägt, lässt eher an die zweitgenannte Möglichkeit, das zeitliche Verständnis, denken: Es handelt sich nicht um eine neue (weitere, andere) Schöpfung, sondern um eine erneuerte. Der Exodus bildet gleichsam einen neuen Anfang, eine Rückkehr an den Ursprung der Schöpfung, die endgültig im Dienst Gottes steht (ὑπηρετοῦσα ταῖς σαῖς ἐπιταγαῖς), wo jedes geschaffene Element endlich enthüllt, was es wirklich ist.17 Der Bezug zum Genesiskontext ist besonders wichtig: Die Betonung liegt darauf, dass die Exodusereignisse (vgl. 19,7) einen Rückverweis auf die ursprüngliche Schöpfung und zugleich eine Umgestaltung der Schöpfung selbst enthalten (vgl. 19,10–12). Man kann also von einer „erneuerten Schöpfung“ sprechen: Sie ist einerseits „wie im Ursprung“ (ἄνωθεν), andererseits stellt sie etwas Neues dar (πάλιν). Ungeachtet des wahrscheinlichen philosophischen Hintergrunds (s.u.) liegt die Betonung in Weish 19,6 zweifellos auf der Verkündigung des Gehorsams der Schöpfung gegenüber ihrem Schöpfer. Es handelt sich deshalb nicht um die Erschaffung einer neuen Materie, sondern um ein Handeln Gottes, das es den Elementen der Schöpfung gestattet, sich zu erneuern, indem sie ihre Natur ändern. Das Verb ὑπηρετέω verweist direkt auf Weish 16,24 zurück (vgl. den Kommentar): Im Unterschied von der stoischen Vorstellung ist Gott nicht in einer immanenten Weise in der Welt gegenwärtig, vielmehr steht die Schöpfung in seinem Dienst. Das Ziel, das das Wirken Gottes gegenüber seiner Schöpfung erreichen soll (ἵνα), ist der Schutz „deiner Kinder“ (19,6c). Wie in Weish 12,7.20 bedeutet παῖς

16 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 1054–1057. 17 Vgl. SWEET, „The Theory of Miracles“, bes. 120.

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Weish 19,6–12

im Plural hier „Kinder, Söhne und Töchter“, nicht „Knechte“. Das Verb φυλάσσω mit prädikativem Adjektiv kommt im Buch der Weisheit mehrfach vor, vgl. 18,4; zu ἀβλαβής s.o. zu Weish 18,3. Die Wunder des Exodus haben deshalb zum Ziel, die Auserwählten, die Söhne und Töchter Gottes, unversehrt zu bewahren; nochmals erscheint die für das Buch der Weisheit charakteristische Vorstellung von Rettung und Heil: nicht eine „Erlösung“, sondern eine Bewahrung und Erhaltung im Leben. Der gesamte Vers 19,7 hängt von ἐθεωρήθη am Ende von 19,7b ab. Wie auch 19,7–8: Zeugen erstaunli- sonst im Buch der Weisheit (6,12; 13,5; 16,7; 19,8) bezeichnet θεωρέω ein aufmerkcher Wunder sames Hinschauen, das auch den Sinn dessen, was gesehen wird, erfasst. Die „erstaunlichen Wunder“, deren Zeuge das Volk wird, sind vier: 1. Die Wolke, die mit ihrem Schatten das Lager bedeckt (19,7a). 2. Das Auftauchen (*ἀνάδυσις) des trockenen Landes an der Stelle, wo das Wasser des Meeres gewesen war (19,7b). Die Präposition ἐκ hat hier die Bedeutung „an der Stelle von“. Das Verb *προϋφίσταμαι ist auch im griechischen Sprachgebrach selten; nach David Winston (Wisdom, 325) ist es hier zum ersten Mal bezeugt; im Partizip Perfekt bedeutet es „das, was zuvor da gewesen war“. 3. Anstelle des Roten Meeres erscheint vor dem Volk ein Weg ohne Hindernisse (19,7c). Das Adjektiv *ἀνεμπόδιστος kam schon in Weish 17,20 vor im Sinne von „unbehindert“. 4. Das vierte Wunder besteht darin, dass sich der Pfad durch das Meer in eine grünende Ebene verwandelt (19,7d). Um die Fluten zu beschreiben, wird wie schon in Weish 14,5 ein seltenes und poetisches Wort benutzt: κλυδών „Woge, Flut“. Die Erwähnung der Woge ist aufschlussreich, da sie gestattet anzunehmen, dass der Verfasser an das eigentliche Rote Meer denkt.18 Auf diesem durch die Wassermassen gebahnten Pfad zieht ein ganzes Volk (19,8). Die Wendung „die durch deine Hand Beschirmten“ erinnert an Jes 51,16 und ist verknüpft mit dem schon in Weish 5,16 Gesagten.19 Dieses Volk wird Zeuge erstaunlicher Wunder; θεωρέω weist zurück auf 19,7b. Die geschauten θαυμαστὰ τέρατα sind die vier in 19,7 aufgezählten. Mit τέρας wird in 17,15 etwas gespenstisch Ungeheuerliches bezeichnet, das Entsetzen hervorruft, wie der Sprachgebrauch im klassischen Griechisch ist. In der LXX dagegen übersetzt τέρας meistens hebräisches ‫מופת‬, oft gerade im Exoduskontext, nicht selten in Verbindung mit σημεῖον wie in Weish 8,8 und 10,16 (vgl. Ex 7,9; 11,9.10; u. ö.). In diesen Fällen verweisen die Wunder auf außerordentliche Ereignisse, die ein wunderbares Eingreifen Gottes offenbaren. Nach Weish 8,8 ist das Unterscheidenkönnen einer solchen Gegenwart Gottes in den „Zeichen und Wundern“ Frucht des Geschenks der Weisheit. Die Wunder des Durchzugs durch das Meer sind „außergewöhnlich“; θαυμαστός kam schon in diesem Zusammenhang in Weish 10,17 vor (vgl. das Verb in Weish 11,14). Alles, was Gott vollbringt, erregt die Bewunderung des Glaubenden (vgl. Ex 34,10LXX: ὅτι θαυμαστά ἐστιν ἃ ἐγὼ ποιήσω σοι) und führt ihn zur contemplatio (vgl. die Verwendung von θεωρέω).

18 Neben der Erwähnung der Pentapolis in Weish 10,6 ist dies (mit 10,18) die einzige Nennung eines Eigennamens innerhalb des Buches der Weisheit. 19 Nach REESE (Hellenistic Influence, 139) ein flashback, in 5,16 ist die Wendung in Bezug auf das ewige Leben des Gerechten, hier in Bezug auf den Durchzug durch das Meer gebraucht. Geschichte und Eschatologie verflechten sich. Siehe oben den Rückverweis auf 1,12 in 19,3 in der gleichen Verbindung.

Synchrone Analyse

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Mit zwei beeindruckenden Vergleichen werden die Israeliten bei ihrem Durchzug durch das Meer beschrieben: Der erste wird mittels des Aorist Passiv des Verbs νέμω „weiden, zur Weide führen“ (s.o. die Anmerkungen zum Text) angestellt. Chrysostome Larcher stellt fest, dass abgesehen von einem einzigen Fall (Sophokles, Phil. 709) das Verb immer für Tiere verwendet wird.20 Der zweite Vergleich ist weniger schwer zu verstehen (s.u.). Das Verb *διασκιρτάω „hin und her springen, hüpfen“ ist vor dem Buch der Weisheit nicht belegt. Wie σκιρτάω in Weish 17,19a dient das Verb eher der Beschreibung von Tieren als von Menschen. Nach den Vergleichen zum äußeren Verhalten der Israeliten wird in 19,9c ihr Lobgesang genannt. Der Vokativ κύριε zeigt von Neuem die Sprechhaltung des Gebets im dritten Buchteil;21 das Verb αἰνέω „loben“ kommt nur hier und in 10,20 vor22 und bildet so eine Art inclusio zum Thema Lob; vgl. Ps 105[106MT],12 über die gleiche Situation nach der Rettung am Meer: καὶ ᾖσαν τὴν αἴνεσιν αὐτοῦ „… und sie sangen sein Lob“. Die Bedeutung von Weish 19,9, dessen poetische Formulierung gut zu seiner Funktion als Rahmung der ganzen „hymnischen Erinnerung an den Exodus“ passt, wurde bereits erörtert. Die Anfangsworte von 19,10 ἐμέμνηντο γάρ bieten eine unmittelbare Erklärung des Lobgesangs von 19,9c, auch wenn sie ein anscheinend neues Thema einführen. 19,10–12 fassen einen guten Teil der vorhergehenden Diptychen zusammen; sie spielen auf den Genesis-Kontext an, entfernen sich aber nicht von dem in 19,7 Dargelegten. 19,10 wendet sich nochmals dem Sicherinnern und dem Gedächtnis zu (vgl. 19,4), ergänzt so die in 16,6.11 begonnene Reflexion und unterstreicht erneut den pädagogischen Charakter der Gegenüberstellungen bei der Wiedergabe der Exoduserzählungen. Die Geschehnisse bei ihrem Aufenthalt in Ägypten, an die die Israeliten sich erinnern, sind die Plagen, die die Ägypter befallen haben, bei denen die gleichen Elemente, die Israel gerettet haben, gegen ihre Feinde verwendet wurden. Erst in der Erinnerung erlangen die Ereignisse ihre wirkliche Bedeutung, werden Zeichen des Wirkens Gottes, gewinnen Aktualität für die Juden in Alexandria, die Adressaten des Buches und werden, wie in 19,9, ständige Quelle von Gebet und Lob.23 Die erste dieser Erinnerungen bezieht sich auf die Plage der Stechmücken (Ex 8,12–15; vgl. Ex 8,14: ἐξαγαγεῖν τὸν σκνῖφα). Aus welchem Grunde bezeichnet das Buch der Weisheit die Entstehung der Stechmücken, die man aus der Erde kommen sah, als außergewöhnlich? Das Wort γένεσις, das schon in Weish 1,14b vorkam, ist hier verstanden im Sinne von „Zeugung, Hervorbringung“ (vgl. auch Weish 16,26 und vor allem γενεσιάρχης in 13,3 und γενεσιουργός in 13,5). Der Verfasser täte nichts anderes, als der normalen Entstehung von Tieren eine außergewöhnliche Entstehung der Stechmücken gegenüberzustellen, oder, ausgehend von Gen 1,20.24LXX (ἐξαγαγέτω) würde er an eine außergewöhnliche Entstehung 20 Vgl. LARCHER, Sagesse IIII, 1061. 21 Die Anrufung κύριε erscheint zum ersten Mal im großen Gebet „Salomos“ (9,1) und kehrt an Stellen, die für den Buchaufbau wichtig sind, wieder: 10,20; 12,2; 16,12.26; 19,9 und im letzten Vers des Buches (19,22). 22 Ebenfalls zu nennen sind noch „die heiligen Loblieder der Väter“ (τοὺς ἁγίους πατέρων αἴνους) in Weish 18,9. 23 „Die memoria der Exodus-Generation von 19,10 ist somit zugleich die memoria der in Alexandrien lebenden Diasporajuden“, HÜBNER, Weisheit, 225.

19,9: Wie hüpfende Lämmer

19,10: Die Erinnerung an die Taten Gottes

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Weish 19,6–12

von Tieren, die fliegen und deshalb nicht aus dem Element „Erde“, sondern eher aus der Luft hervorgebracht werden sollten, denken.24 Die letztgenannte Erklärung dürfte wahrscheinlicher sein im Blick darauf, dass in 19,10c das Element „Wasser“ in Bezug auf die Froschplage erscheint (Ex 7,26 – 8,11).25 Das Verb ἐξερεύγομαι „ausspeien“ ist Ex 7,28LXX entnommen. Das Adjektiv *ἔνυδρος bedeutet „im Wasser lebend“ und bezeichnet substantiviert „Wassertiere“. Die Frösche wären demnach auf der Erde lebende Tiere, die in außergewöhnlicher Weise aus dem Element „Wasser“ entstehen, hier genauer aus dem „Fluss“, d.h. dem Nil. Dies ist der springende Punkt der beiden Kola 19,10b-c: Drei der vier Elemente des Kosmos (Luft, Wasser, Erde) bringen Wesen hervor, die fähig sind, in einem anderen Element zu leben; die Stechmücken, Tiere der Luft, entstehen aus der Erde; die Frösche, Tiere, die auf der Erde leben, entstehen aus dem Wasser; die Wachteln (19,11), Tiere der Luft, kommen jedoch aus dem Wasser. Das dritte Wunder lenkt den Blick zurück auf das Diptychon in Weish 16,1–4: 19,11–12: Die Wunder der die Wachteln. Der präpositionale Ausdruck ἐφ’ ὑστέρῳ ist zu verstehen als „späSchöpfung ter“, d.h., nachdem sie aus Ägypten ausgezogen waren. Die Wachteln sind nicht eine „neue Art“, sondern eine „neue Entstehung(sweise)“ von Vögeln, wobei „neu“ (durch das davorstehende καί verstärkt) die Bedeutung „unerwartet, seltsam“ hat. Diese Sonderbarkeit wird in den beiden folgenden Kola 19,11b-12 beschrieben. Der Verfasser möchte die unerwartete Weise, wie diese Vögel entstanden, hervorheben, um so ein weiteres Mal das in 19,6 formulierte und in 19,18 wieder aufgegriffene Prinzip zu veranschaulichen; es ändern sich die Funktion der Elemente und ihre Eigenschaften, ohne dass sich jedoch ihr Wesen ändert. Das Verb προάγω bedeutet „antreiben, zu etw. bewegen“ (vgl. SirProl 9); zu ἐπιθυμία vgl. 16,2. Das, was die Israeliten verlangt hatten (αἰτέω ist wahrscheinlich aus Ps 104[105MT],40 entnommen), wird ἐδέσματα τρυφῆς (vgl. Num 11,4–6) genannt. Das Wort ἐδέσματα (immer im Plural) kommt in der LXX mit der Bedeutung „Speise“ vor; das Substantiv τρυφή bezeichnet „Üppigkeit, etwas Auserlesenes“. Die Wachteln steigen aus dem Meer auf (die Formulierung ἀνέβη ὀρτογυμήτρα ist aus Ex 16,13 entnommen und ἀπὸ τῆς θαλάσσης aus Num 11,31). Das Substantiv παραμυθία (in der LXX nur hier und in Est E,5 = 8,12e, dort aber in der Bedeutung „[schlechter] Einfluss“) bezeichnet das Ziel der Sendung der Wachteln, den Trost Israels.26

Diachrone Analyse 19,6 In diesem Text ist ein Einfluss der griechischen Theorie der Elemente, die im Lauf

der sieben Diptychen vom Verfasser immer wieder berücksichtigt wurde, nicht

24 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 1064–1065, zur Diskussion weiterer Hypothesen; LARCHER versucht auch, zoologisch zu bestimmen, welche Insektenart mit dem Wort ὁ σκνίψ bezeichnet wird. 25 Das Wort πλῆθος „Menge“ kommt auch in Weish 11,15.17; 16,1; 18,5.20 immer in Bezug auf die von Gott gesandten Plagen vor (die einzige Ausnahme bildet Weish 14,20). 26 Das Wort παραμυθία kann auch „Überredeung, Ermunterung, Ermahnung“ bedeuten, aber dies würde dem Ton von 19,12 nicht entsprechen. Alle negativen Züge sind im Kontext entfernt zugunsten einer Hervorhebung der positiven Taten Gottes für Israel.

Diachrone Analyse

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auszuschließen;27 bei κτίσις kann man also an die „Elemente“ denken, aus denen die Schöpfung besteht. Philon verwendet das Verb διατυπόω im Sinne von (dem Embryo) „eine Form geben“ (Congr. 136) oder aber für den Menschen, der von Gott „geformt“ wurde (Opif. 25); Giuseppe Scarpat verweist noch auf Platon (Prot. 320d).28 Die vier in Weish 19,7 genannten Wunder sind auf dem Hintergrund der Ex- 19,7–8 odusüberlieferungen zu verstehen, aber nicht nur von diesen her: – 19,7a bezieht sich auf Ex 14,19–20 (vgl. auch Num 9,18LXX: σκιάζει ἡ νεφέλη) mit der Wolkensäule (vgl. schon Weish 18,3), die die Israeliten beschützt, indem sie sie vor den Augen der Ägypter verbirgt. In 19,7a hat die Wolke nicht eine lichtgebende Funktion wie in 18,3, sondern schützt das Lager wie in Ps 104[105MT],39.29 Aber in der schattenspendenden (σκιάζουσα) Wolke könnte man vielleicht auch eine Anspielung auf Gen 1,1–2 sehen, d.h. auf die Finsternis über der Urflut oder auf den Geist Gottes, der über den Wassern schwebt (vgl. Sir 24,3, wonach die Weisheit wie ein Nebel die Erde verhüllt).30 – In 19,7b dagegen bevorzugt das Buch der Weisheit, anstatt nach den Überlieferungen in Ex 14 die Aufspaltung des Meeres oder den Wind, der das Wasser forttreibt, zu nennen, das Auftauchen von trockenem Land aus dem Meer hervorzuheben, eine Art aus dem Wasser emporgetretenen Dammweg, auf dem die Israeliten hinziehen können. So gehorchen Wasser und Erde, die beide in diesem Kolon erwähnt werden, den Anordnungen ihres Schöpfers. Nach Chrysostome Larcher ist das Wort ξηρός aus Ex,14,16.22LXX entliehen. Eher ist mit David Winston an Gen 1,9.10LXX zu denken: Das trockene Land taucht aus dem Wasser auf (καὶ ὤφθη ἡ ξηρά…). Diese Anklänge an Gen 1 sind wichtig für die Deutung des ganzen Kapitels.31 – Zu 19,7c: Prophetentexte beschreiben den Durchzug durch das Meer als einen Weg: Jes 43,16 und insbesondere Jes 63,13LXX, wo von der Rettung des aus Ägypten befreiten Volkes gesprochen wird; vgl. Philon, Mos. II, 253–254. – Das Wort „Ebene“ (πεδίον) könnte der Verfasser aus Jes 63,14LXX entliehen haben, wo es innerhalb eines Vergleichs im Zusammenhang mit dem Durchzug durch das Meer vorkommt. Das Adjektiv „Grünes tragend“ (*χλοηφόρος) ist ein literarischer poetischer Ausdruck, der vielleicht von Euripides (Phoen. 647.653) entliehen ist, wo er eine neue Vegetation bezeichnet, die die Erde im Frühling bedeckt. Es handelt sich um eine midraschartige Ausschmückung, die erneut die Vertrautheit des Verfassers mit solchen Überlieferungen zeigt, insbesondere mit solchen im Midrasch Ex. R. zu Ex 14,16 (die israelitischen Frauen pflücken Obst, während sie durch das Meer ziehen); aber vgl. schon Tg. Ps.-J. zu Ex 15,9: „dort

27 Vgl. VAN ROODEN, „Die antike Elementarlehre und der Aufbau von Sapientia Salomonis 11–19“. WINSTON, Wisdom, 324–325, denkt an eine Auswechselbarkeit der Elemente untereinander nach verbreiteten griechischen Vorstellungen, die der stoischen Philosophie wohlbekannt waren. 28 Vgl. SCARPAT, Sapienza III, 300 Anm. 2. 29 Das Buch der Weisheit wäre der frühestes Zeuge einer Tradition, nach der die Wolke schon vor dem Durchzug durch das Meer oder während des Durchzugs Israel schützt; vgl. LUZARRAGA, Las tradicciones de la nube, 88–89; 133 Anm. 509; vgl. auch BEAUCHAMP, „Le salut corporel“, 504. 30 Vgl. WINSTON, Wisdom, 325; GILBERT, „La rélecture de Gn 1–3“, 339–341. 31 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 1059, und WINSTON, Wisdom, 325.

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also sprudelten Süßwasserquellen hervor, standen Obstbäume, gab es Gemüse und erlesene Früchte auf dem Boden des Meeres“. Aber die vorhergehende Bezugnahme auf Gen 1 kann noch besser erklären, wie der Verfasser dazu kam, im Zusammenhang mit dem trockenen Land, das dann als „Grünes tragend“ beschrieben wird, von einer Vegetation zu sprechen (vgl. Gen 1,13–14).32 In 19,8a verwendet der Text das ungewöhnliche Adverb *πανεθνεί.33 Bei 19,8b ist es möglich, dass das Buch der Weisheit den Kern jener Traditionen widerspiegelt, die später von zehn Wundern sprechen, die Gott am Roten Meer gewirkt habe (Mek Rab Ism., Besh., 5,1–14; Midr. Tehillim 114,38; Pirq R. El. 42 u.a.34). Der Vergleich mit den Pferden legt die Vorstellung nahe, die Israeliten seien 19,9 glücklich gewesen wie Pferde, die zur Weide geführt werden, und dies ist vielleicht der wahrscheinliche Sinn.35 Luis Alonso Schökel vermutet, dass der Verfasser auf den Vergleich mit den Pferden in ironischer Absicht gekommen sei angesichts der Reiterei des Pharao, die im Meer ertrank.36 Aber es ist wahrscheinlicher (s.u.), dass der Vergleich aus einer Verwendung von Jes 63,13–14 stammt. Der Vergleich mit den hüpfenden Lämmern ist von Ps 113[114MT],4.6 her, wo auch das Ver σκιρτάω vorkommt, gut bekannt (vgl. auch Mal 3,20LXX); aber schon Jes 63,14 spricht von κτήνη „Vieh(herde)“ im Zusammenhang mit dem Auszug aus Ägypten. In 19,9c denkt der Verfasser an Ex 15,1ff. Zu ῥύομαι vgl. Weish 16,8b; das Verb war sicher durch Ex 14,30LXX nahegelegt. 19,10: AuslänInteressant ist der Ausdruck παροικία zur Bezeichnung des Aufenthalts in derexistenz Ägypten. Im klassischen Griechisch ist πάροικος derjenige, der aus einem anderen Land stammt, aber an seinem gegenwärtigen Wohnort nicht das Bürgerrecht besitzt; παροικία ist ein LXX-eigenes Wort;37 wie in Apg 13,17 meint der Verfasser damit den Aufenthalt der Israeliten in Ägypten und verwendet dazu einen Begriff, der das Ausländersein bezeichnet; dies ist eine der Weisen, wie das Buch der Weisheit die Aufmerksamkeit darauf lenkt, dass die Juden in Alexandria nicht das volle Bürgerrecht besitzen (vgl. 19,13–17) und wie es sich zugleich rückbezieht auf 32 Vgl. auch BIENAIMÉ, Germain., „Un retour du Paradis dans le désert de l’Exode selon une tradition juive“, in: DEROUSSEAUX, Louis / BLANQUART, Fabien (Hg.), La Création dans l’Orient Ancien, Paris: Cerf 1987, 447 Anm. 48; ENNS, Exodus Retold, 119–121. 33 ENNS (Exodus Retold, 123–128) macht drei interessante Lösungsvorschläge, um diesen Ausdruck zu erklären. Der erste ist, dass im MT von Ex 14,30–31 zum ersten Mal im Buch Exodus das Wort ‫ ישׂראל‬allein anstelle des üblicheren ‫ ישׂראל‬erscheint; ein zweiter Vorschlag ist verbunden mit der Deutung von Ex 15,16, die annimmt – im Unterschied zu Ex 12,38 –, dass am Durchzug durch das Meer nur die Israeliten und nicht der „Haufen“, der ihnen folgte, teilgenommen habe; demgegenüber nehme das Buch der Weisheit an, dass alle Flüchtlinge aus Ägypten wie ein einziges Volk durch das Meer gezogen seien. Ein dritter Lösungsvorschlag, der wohl auch der wahrscheinlichste ist, entsteht daraus, dass es in der jüdischen Überlieferung Texte gibt, die von einem mangelhaften Einvernehmen der Stämme am Roten Meer sprechen (PsPhilon, Ant. Bibl. 10,3; Mek. Besh. 3,128–136); das Buch der Weisheit dagegen denke an eine einhellig Entscheidung des ganzen Volkes (ähnlich wie in Weish 18,9b). 34 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 1061, und vor allem ENNS, Exodus Retold, 129–130. 35 So schon GRIMM, Weisheit, 295. 36 Vgl. ALONSO SCHÖKEL, Sabiduría, 204. 37 SCHMIDT, Karl L. / SCHMIDT, Martin A., πάροικος κτλ., ThWNT V, 840–852.

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die biblische Überlieferung, die auch die Erzeltern als „angesiedelte Ausländer“ betrachtet (vgl. Gen 12,10; 23,4; Lev 25,23 u. ö.). Die τρυφή, verstanden als Luxus, Überfluss, Reichtum … kann bestimmt wer- 19,12: Die den als der Lebensstil am ptolemäischen Hof; vgl. den Beinamen Τρύφων „der Tryphé Schwelger“, der Ptolemaios Euergetes I. (246–222 v. Chr.), Ptolemaios Philopator (222–204 v. Chr.) und Ptolemaios Euergetes II. (169–164. 134–132/1. 126–116 v. Chr.) gegeben wurde; Ptolemaios XII Auletes (80–64 v. Chr.) und zu Beginn der römischen Epoche Marcus Antonius haben die Lebensweise der τρυφή besonders gepflegt, beide betrachten sich als νέος Διόνυσος.38 Die Menge der Höflinge und Diener, der Bankette, der seltenen Tiere und kostbaren Pflanzen, der erlesenen Speisen, der Gelehrten, der Bibliothek und des Museion, der Reisen und Luxusobjekte, der großzügig ans Volk verteilten Geschenke … dies alles ist die τρυφή des ptolemäischen Hofes, die sich spiegelt im Lebensstil der in Weish 2 vorgestellten Gottlosen. Nach der Erzählung des Geschichtsschreibers Phylarchos beanspruchte Ptolemaios II. Philadelphos sogar, den Tod herauszufordern und Unsterblichkeit in seinem von der τρυφή geprägten Lebensstil zu finden. Die Suche nach der τρυφή wird gegen Ende der ptolemäischen Dynastie und zu Beginn der römischen Epoche mit einem religiösen Aspekt angereichert: Der Luxus und die Vergnügungen des Hofes werden zu einem Ausdruck des Dionysos-Kultes. Der Herr gewährt Israel hingegen eine ganz andere Art von τρυφή mittels eines unerwarteten und außergewöhnlichen Geschenks; auch für Israel besteht also die Möglichkeit, entsprechend einem der verbreitetsten Ideale der alexandrinischen Aristokratie zu leben, aber nur in der Sichtweise eines Geschenkes von Gott her.

Weish 19,13–17: Ägypter und Sodomiter: die Bürgerrechte der Juden in Alexandria39 13 Und die Bestrafungen kamen über die Sünder, nicht ohne dass vorher Zeichen geschahen durch die Gewalt der Blitze; gerechterweise nämlich litten sie wegen ihrer eigenen Schlechtigkeiten: sie hatten nämlich den schlimmsten Fremdenhass ausgeübt. 14 Die einen nämlich nahmen die nichtgläubigen Anwesenden nicht auf, diese aber versklavten Fremde (oder: Gäste), die ihre Wohltäter waren. 15 Und nicht nur (das)! Wahrlich, eine Heimsuchung wird sie treffen, weil sie die Fremdstämmigen feindselig empfingen, 16 die anderen aber, nach einer Aufnahme mit Festlichkeiten, 38 Vgl. TONDRIAU, Julien, „La Tryphè, philosophie royale ptolémaïque“, Révue des Etudes Anciennes 50 (1948), 49–54. 39 Vgl. zu diesem ganzen Abschnitt MAZZINGHI, „Civil Rights“, passim.

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Weish 19,13–17

denen, die schon an denselben Rechten Anteil gewonnen hatten, durch entsetzliche Mühen Böses antaten. 17 Sie wurden aber auch mit Blindheit geschlagen wie jene an der Türe des Gerechten, als, umgeben von unermesslicher Finsternis, jeder den Durchgang seiner eigenen Türe suchte.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 14 19,14a würde, so wie er von der Mehrzahl der Autoren verstanden wird, unvermittelt von den Sodomitern sprechen als solchen, die die Unbekannten (τοὺς ἀγνοοῦντας), die ankamen (παρόντας; vgl. Gen 19,1–3; zu den Sodomitern: s. Dtn 29,22–23; Jes 1,9; 13,19; Jer 27[50MT],40; 30,12[49,18MT]; Klgl 4,6; Am 4,11; Zef 2,9) nicht aufnahmen.40 Von den beiden Verfehlungen, wegen derer die Sodomiter verurteilt werden, nämlich wegen des sexuellen Vergehens und dessen gegen die Gastfreundschaft, würde das Buch der Weisheit hier nur das zweite aufgreifen (vgl. FLAVIUS JOSEPHUS, Ant. 1,194) und so auf das Problem der Bürgerrechte der Juden in Alexandria hinweisen.41 Jedoch bemerkte schon LARCHER42 dazu, dass dann bei τοὺς ἀγνοοῦντας die aktive Form dort, wo man ein Passiv erwarten würde, ein Problem darstellt. Der Text würde dann nicht nur „die Unbekannten“ bezeichnen, sondern die, „die sich nicht erkennen lassen wollten“. Näher am Text erscheint die Deutung von ENGEL, der τοὺς ἀγνοοῦντας mit „die, die (sie) nicht kannten“ übersetzt, d.h. die beiden von Lot in sein Haus aufgenommenen Gäste, die noch nicht wissen, ob die Sodomiter freundlich oder böse seien; jedenfalls sind nach ENGEL die Sodomiter das Subjekt in 19,14a.43 Davon verschieden und gewiss ansprechend ist die Leseweise von SCARPAT,44 der die Schwierigkeiten von 19,14a so zu lösen versucht: Er bezieht οἱ μέν auf die Israeliten, von denen in 19,6–12 die Rede war, und nicht auf die Sodomiter. Mit οὗτοι δέ bezeichne der Text dann die Ägypter: Die Israeliten hätten peinlich jeden Kontakt mit den Nichtgläubigen, die hier τοὺς ἀγνοοῦντας genannt würden, vermieden; vgl. das Thema des „Nicht(aner)kennens“ Gottes in Weish 13,1 und 14,22 (ἀγνωσία, ἄγνοια). Konsequenterweise ändert Scarpat den Akkusativ παρόντας in einen Nominativ παρόντες, obwohl eine solche Lesart nirgends bezeugt ist. In der Deutung von SCARPAT hätten sich die Israeliten, als sie in Ägypten ankamen (bei παρόντες ist πάρειμι in seinem üblichen Sinn von „ankommen“ verstanden), darauf beschränkt, sich mit den Nichtgläubigen (τοὺς ἀγνοοῦντας) nicht zu vermischen, und seien deshalb von ihnen für Hasser des Menschengeschlechtes gehalten worden; vgl. FLAVIUS JOSEPHUS, Apion. 2,210. Das Buch der Weisheit antworte so auf die Anklage der Misanthropie und begründe seine Antwort religiös. Ein schwerwiegendes Problem des Vorschlags von Scarpat bildet jedoch die durch keine Textzeugen gestützte Änderung von παρόντας in παρόντες. Eine Untersuchung des Gebrauchs von πάρειμι im Buch der Weisheit zeigt, dass das Verb dort immer in der Bedeutung „anwesend sein“ verwendet wird, vgl. 4,2; 9,9; 11,11.21; 12,19; 13,1; 14,17. Bei dem von SCARPAT vorgeschlagenen Verständnis wäre 40 In diese Richtung geht eine Glosse in der SyHex, die auf Gen 19,1–3 verweist; vgl. LARCHER, Sagesse III, 1074. 41 Vgl. PRIOTTO, „Il confronto Egitto-Sodoma“, 384–386. 42 LARCHER, Sagesse III, 1074–1075. 43 ENGEL, Weisheit, 301: „Sie nahmen die (sie) nichtkennenden Angekommenen nicht auf.“ 44 SCARPAT, Sapienza III, 321–322.

Synchrone Analyse

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19,14a der einzige Fall, in dem πάρειμι im Sinne von „hingelangen, ankommen“ gebraucht würde. Bleibt man aber bei der einhellig bezeugten Lesart παρόντας45 und belässt πάρειμι die gut bezeugte Bedeutung „anwesend sein“, könnte man den Text so verstehen: Die Israeliten (οἱ μέν) haben die Nichtgläubigen (τοὺς ἀγνοοῦντας), die anwesend waren, nicht aufgenommen. Mit τοὺς ἀγνοοῦντας würden dann die Ägypter bezeichnet, die in dem Land Anwesenden (παρὀντας), in dem die Israeliten ankommen. Die Letztgenannten hätten sich nur aus religiösen Gründen von den Ägyptern ferngehalten, ohne irgendeinen Hass ihnen gegenüber (vgl. Gen 43,32: Ägypter essen nicht mit den Israeliten gemeinsam). Diese dagegen, d.h. die Ägypter, hätten die Fremden, Gäste ihres Landes, zu Sklaven gemacht, obwohl sie doch ihre Wohltäter waren. 15 Der Text von 19,15 ist problematisch. Der Vorschlag von SCARPAT, Sapienza III, 323, wird hier übernommen: Er liest ἀλλ’ ἤ τις ἐπισκοπή „zweifellos, irgendeine Heimsuchung (wird sie treffen)“. Einen Überblick über den status quaestionis gibt PRIOTTO, „Il confronto Egitto-Sodoma“, 377–380; er schlägt die Lesart ἄλλη τις ἐπισκοπή im Anschluss an die Vetus latina (et non solum, alius erit respectus illorum) vor: „Eine andere Heimsuchung wird es für sie geben“.

Synchrone Analyse Das καί am Anfang stellt eine Beziehung zum Voraufgegangenen her und besagt 19,13: Ein auch eine Steigerung; das unausgedrückte Subjekt des ganzen Verses sind „die schlimmer Ägypter“, hier verborgen in der Bezeichnung ἁμαρτωλοί „Sünder“. Über sie ka- Fremdenhass men die Strafen; τιμωρία (hapax im Buch der Weisheit) bezeichnet eine gerichtlich verhängte Strafe (vgl. das zugehörige Verb in Weish 12,20 und 18,8) und verweist so auf eine Gerichtsentscheidung Gottes gegenüber Ägypten; der Plural bedeutet eine Intensivierung. Zu ἐπέρχομαι vgl. Weish 12,27d und 16,4.5 (dort in Beziehung zu einer von Gott über die Schuldigen verhängten Strafe). 19,13c hebt die Gerechtigkeit Gottes hervor, der die Ägypter wegen ihrer Bosheit leiden lässt, insbesondere wegen ihres Fremdenhasses. Die Untersuchung des Wortgebrauchs von πάσχω im Buch der Weisheit zeigt eine bemerkenswerte Steigerung: In 12,27 und in 18,11 bezeichnet πάσχω eine Art des Leidens, das die Ägypter zur Umkehr führen sollte und zur Abkehr von der Verfolgung des auserwählten Volkes. Da dies nicht geschieht, wird ihr Leiden in 18,19 zum Vorzeichen des Todes; schließlich meint es in 19,13, wo das Verb zum letzten Mal vorkommt, die Katastrophe im Roten Meer. Das seltene Verb ἐπιτηδεύω bedeutet „sich mit etwas beschäftigen“; es hat oft eine Tugend oder ein Laster zum Objekt, hier die *μισοξενία, die ein klassisches Thema der antijüdischen Propaganda anklingen lässt (s.u.). 19,13 bezeugt das Selbstbewusstsein der jüdischen Bevölkerung, dass sie trotz allem in Alexandria ξένοι sind (s.u. zu 19,14b); Gäste ja, aber Ausländer. Im Buch der Weisheit bezeichnet ξένος auch etwas Seltsames und Außergewöhnliches (vgl. Weish 16,16 den ungewöhnlichen Regen; 19,5 den seltsamen Tod). So beanspruchen die Juden mittels der Worte des Buches der Weisheit einerseits ihr Recht, nicht gehasst zu werden, sind sich aber andererseits ihrer Besonderheit bewusst, dass sie ein Leben in der Fremde führen, eine ξενιτεία, wie es in 18,3 ausgedrückt wird. 45 Die nur schwach bezeugte Lesart παριόντας „die Vorübergehenden“ kann unbeachtet bleiben.

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19,14: Gäste und Wohltäter

19,15: Eine Heimsuchung für sie

19,16: Teilhaber an ihren Rechten

Weish 19,13–17

Schon an früherer Stelle (vgl. Weish 12,19) hatte das Buch für die Juden in Alexandria eine Haltung der φιλανθρωπία beansprucht, eine hellenistische Tugend, aufgrund deren der Fremde zum Gast, ja sogar zum Wohltäter wird (vgl. Weish 19,14b). Dabei ist die Botschaft deutlich: Die Ägypter haben die Fremden, die ihre Gäste waren, gehasst (d.h., sie haben uns, die Juden, gehasst); wir Juden dagegen haben, indem wir voll unsere φιλανθρωπία lebten – gewiss eine griechische Tugend, die aber Folge unseres Glaubens an den Gott Israels ist, der alles, was existiert, liebt, – wir haben gezeigt, dass die wahren Feinde des Menschengeschlechts vielmehr jene sind, die uns fälschlich anklagen. Der Verfasser richtet zwar seine Polemik vor allem gegen den griechischen Teil der Bevölkerung Alexandrias, aber die ständige Gegenüberstellung von Ägyptern und Israeliten soll eine Anklage gegen die ägyptische Welt überhaupt sein, die seit den Zeiten Manethos durch eine starke antijüdische Tendenz gekennzeichnet war. Zu 19,14a s.o. die Anmerkung zum Text. In 19,14b ist deutlich, dass die Ägypter gemeint sind. Das Kolon fügt die Bezugnahme auf die Unterdrückung zur Zeit des Exodus (vgl. Weish 17,1; 18,4) mit der Geschichte Josefs, der ein Wohltäter Ägyptens war, und der Situation der Juden in Alexandria zusammen. In 19,14b taucht der Begriff εὐεργέτης auf in einer Anwendung auf die Juden. Zu den Textproblemen von 19,15a s.o. Den Ägyptern wird eine ἐπισκοπή angekündigt, eine Heimsuchung durch Gott, die, wie an den anderen Stellen im Buch (2,20; 3,7.13; 4,15; 14,11) einen strafenden Charakter annimmt. Im Blick auf die ausdrückliche Bezugnahme auf den ersten Buchteil ist ihre eschatologische Bedeutung, die künftige Bestrafung der Gottlosen, anzunehmen.46 Beide Kola von 19,15 sprechen von den Ägyptern;47 die ihnen bevorstehende eschatologische Heimsuchung wird in 19,15b erneut mit der Unterdrückung der Ausländer begründet, die hier ἀλλότριοι „Fremdstämmige“ genannt werden; dieser starke Ausdruck bezeichnet fast einen Feind. Das Adverb ἀπεχθῶς „feindselig“ wird hier in polemischem Sinn verwendet. Im 3. Makkabäerbuch werden solche Wörter (ἀπεχθάνεσθαι κτλ) immer im Zusammenhang mit dem Hass der Nichtjuden gegenüber den Juden verwendet.48 Das Verb προσδέχομαι „aufnehmen; erwarten“ verweist gegenbildlich zurück auf Weish 18,7: Das heilige Volk erwartete das Heil der Gerechten und die Bestrafung der Bösen; die Bösen dagegen „erwarteten“ die Fremden mit Hass.49 Mit οἱ δέ sind weiter die Ägypter gemeint.50 19,16a greift auf die Josefserzählung zurück (s.u.). In 19,16b fällt die Formulierung τῶν αὐτῶν μετεσχηκότας δικαίων auf. Auch dazu liefert die Josefserzählung den biblischen Hintergrund (Gen 45,20). Bei μετέχω „teilhaben“ lässt sich nur vom Kontext her entscheiden, ob es sich auf juridische, moralische oder eher allgemeine Gegebenheiten bezieht.51 In Bell. 7,44 schreibt Flavius Josephus über die Bürgerrechte, die von den Nachfolgern Antiochus’ IV. den Juden in Antiochia verliehen wurden: συνεχώρησαν αὐτοῖς ἐξ ἴσου τῆς πολέως τοῖς Ἕλλησι μετέχειν „sie räumten ihnen ein, in gleicher Weise wie die Griechen an den Bürgerrechten teilzuhaben“. Dies ist genau der Sinn, den 46 47 48 49 50 51

So LARCHER, Sagesse III, 1078–1079, aber auch SCARPAT, Sapienza, 3, 195–196. Eine ausführliche Erörterung findet sich bei LARCHER, Sagesse III, 1076–1078; Vgl. SCARPAT, Sapienza III, 323. Zur Bedeutung des Verbs vgl. PLATON, Leg. 708a; SCARPAT, Sapienza III, 324. Vgl. SCARPAT, Sapienza III, 324. Vgl. SPICQ, Notes II, 555–560.

Diachrone Analyse

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μετέχω hier hat. Zu fragen bleibt, welche Rechte (τὰ δίκαια) der Verfasser hier meint; leider haben weder bei Philon noch bei Flavius Josephus Wendungen, die der in Weish 19,16b ähnlich sind, wie μετέχειν ἀξίων (Apion. 2,42) oder τὰ πολιτικὰ δίκαια (Flacc. 53) eine einheitliche Bedeutung.52 Der Text von Weish 19,16 bleibt im Ungefähren, jedoch fällt das Bewusstsein, „Fremde“ zu sein, neben dem, an den allgemeinen Rechten teilzuhaben, auf. An dieser Stelle wird plötzlich die Bestrafung der Sodomiter erwähnt, die als 19,17: Von biblisches Musterbeispiel von Verletzung der Gastfreundschaft (vgl. Weish 19,14a) Blindheit geangeführt werden, hier gegenüber dem „Gerechten“, d.h. Lot, der schon in Weish schlagen 10,6–7 erwähnt wurde auf seiner Flucht aus einer Stadt von Gottlosen, die als zu Recht von Gott zerstört betrachtet wird. Mit der Blindheit, die nach der Erzählung von Gen 19 die Sodomiter traf, wird die in Weish 19,17a genannte Blindheit der Ägypter verglichen. Wann wurden die Ägypter von Blindheit geschlagen? Die Exoduserzählung spricht nicht davon, aber der Verfasser denkt sicher an die Blindheit, die von der Finsternisplage verursacht wurde (Weish 17,1 – 18,4), die, wie schon gesagt wurde, beachtliche Berührungspunkte mit dem Abschnitt 19,13–17 besitzt. Daher ist die Situation der ἀορασία, des „Nicht-mehr-sehenKönnens“, in der sich die Ägypter befinden, viel mehr als eine physische Blindheit, wie es die der Sodomiter nach Gen 19 war. Es ist vielmehr die Situation des Menschen, der das Licht des Gesetzes zurückgewiesen hat (vgl. Weish 18,4) und darum in der Finsternis herumtappt. Deshalb ist am Ende die Absicht des Verfassers nicht nur, die Ägypter zu kritisieren, sondern auch, mit den jüdischen Apostaten ins Gericht zu gehen, den Gottlosen von Weish 2, die gegenüber dem Licht des mosaischen Gesetzes blind sind und gerechterweise von der Strafe Gottes getroffen werden.

Diachrone Analyse Die Erwähnung der Blitze als der Bestrafung der Ägypter, d.h. ihrem Ertrinken im 19,13 Roten Meer (19,1–5), vorausgehende Warnzeichen ist wahrscheinlich eine midraschartige Ausschmückung von Ex 14,24 wie schon in Ps 76[77MT],15–21 und im Tg. N. zu Ex 14,24;53 die Bestrafung der Ägypter wurde von Gott angekündigt. Das steht in Übereinstimmung mit der Theologie des Buches der Weisheit, die die Pädagogik Gottes gegenüber den Gottlosen hervorhebt: Einerseits sollen sie wissen, wer sie schlägt, andererseits sollen sie die Möglichkeit zur Umkehr haben: Das Gewitter dient gerade dazu. Der Begriff *μισοξενία (19,13d) findet sich als Adjektiv schon bei Hekataios von Abdera Der Fremden(4.-3. Jh. v. Chr.): Die Juden führten ein Leben in Hass gegen die ganze Menschheit: hass ἀπάνθρωπόν τινα καὶ μισόξενον βίον;54 s. auch einige Texte bei Flavius Josephus wie Ant. 1,194, der ganz ähnliche Wörter wie Weish 19,13–17 verwendet, insbesondere für

52 Vgl. PUCCI BEN ZEEV, Miriam, Jewish Rights in the Roman World. The Greek and Roman Documents Quoted by Josephus Flavius (Texts and Studies in Ancient Judaism, 74), Tübingen: J. C. B. Mohr 1998, 481–482. 53 Vgl. auch PHILON, Mos. II, 254; FLAVIUS JOSEPHUS, Ant. 2,343–344; PRIOTTO, „Il confronto Egitto-Sodoma“, 383–384; VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 536 Anm. 8; WINSTON, Wisdom of Solomon, 327. 54 Zit. in Diod. Sic. 50,4 = FHG II, 392; 34,1 = FHG III, 256.

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Weish 19,13–17 die Sodomiter; s. auch Ant. 8,117: „Wir sind nicht von Natur aus gegen die Menschen (ἀπάνθρωποι) und verhalten uns nicht feindselig (ἀλλοτρίως) gegen Andersstämmige“; in beiden Fällen schreibt Flavius Josephus im Kontext einer antijüdischen Polemik. Die Anklage, „Hasser des Menschengeschlechtes“ zu sein, ist einer der in der antijüdischen Propaganda immer wiederholten Slogans; vgl. den Brief Menons an Hermokrates über einen Juden, der seine Verpflichtungen nicht eingehalten hat, und das Schreiben eines gewissen Herakles an einen Beamten namens Ptolemaios, dass die Juden von den Einwohnern von Memphis verabscheut werden (βδελύσσονται).55 Hier kehrt der Verfasser des Buches der Weisheit die Anklage um, die sonst den Juden gilt, und richtet sie gegen die Ägypter. In μισοξενία klingt zweierlei an, da ξένος sowohl den „Fremden, Ausländer“ als auch den „Gast“ bedeuten kann. Das Buch der Weisheit betont vor allem die zweite Bedeutung, wie es die lateinische Übersetzung in 19,13d verstanden hat: detestabiliorem inhospitalitatem instituerunt. Bei den Ägyptern hebt es den Hass gegen Fremde, die gleichzeitig auch Gäste sind, hervor, was den Verfasser gleich an die Sodomitererzählung denken lässt, auf die das folgende Kolon 19,14a anspielt.

19,14–16 In 19,14b kommt der Begriff εὐεργέτης, angewandt auf die Israeliten, vor. Der

biblische Hintergrund ist die ganze Josefserzählung; aber die Absicht, weshalb der Verfasser diesen Begriff gewählt hat, ist apologetisch. Wie schon in Weish 16,2.11.14 sind εὐεργέτης und davon abgeleitete Wörter polemisch gegen den üblichen Gebrauch gerichtet. „Wohltäter“ sind in der alexandrinischen Welt Götter oder staatliche Autoritäten.56 Indem die Juden sich selber so nennen, beanspruchen sie die Anerkennung der positiven Rolle, die sie gegenüber der Gesellschaft, in der sie leben, ausüben. Das Buch der Weisheit spiegelt hier eine aufrichtige Bereitschaft, sich zu integrieren und mit der hellenistischen Kultur in Dialog zu treten, und zugleich das Bewusstein der eigenen Identität. Auch in 19,15 ist ein Echo der antijüdischen Verhaltensweisen in Alexandria am Ende des 1. Jh.s n. Chr. zu beobachten. Den Hintergrund bildet immer noch die Exoduserzählung, aber die Perspektive ist gleichzeitig auf die Gegenwart der Juden in Alexandria und auf das eschatologische Gericht Gottes über die Gottlosen gerichtet. In 19,16 wird daran erinnert, dass Ägypten den Israeliten einen wohlwollenden Empfang bereitet hatte (vgl. Gen 45,17–20); 47,2–12); der Genesistext spricht weder von Festen noch von Mählern; es handelt sich wieder um eine der midraschartigen, hier auch übertreibenden Erweiterungen durch den Verfasser.57 19,16c dagegen greift die Unterdrückung der Israeliten in Ägypten auf, wie sie in Ex 1 erzählt wird. Weish 19,13–17 und die Bürgerrechte der Juden in Alexandria Der dritte Buchteil zeigt eine starke Feindseligkeit gegen die Ägypter, die in dem ins Schlusskapitel des Buches gestellten Abschnitt 19,13–17 einen geradezu dramatischen Höhepunkt erreicht. Sie sind die Ägypter der Exoduserzählung, aber auch die nichtjüdische, hellenistische Bevölkerung in Alexandria, die volles Bürgerrecht besitzt und daran mitgewirkt hatte, dass die Juden bei der römischen λαογραφία (Volkszählung mit dem

55 CPJ I,135 und I,141; vgl. WINSTON, Wisdom, 327–329, und STÄHLIN, Gustav, ξένος κτλ, ThWNT V, 1–36; zu antijüdischen Strömungen in ptolemäischer Zeit vgl. AZIZA, Claude, „L’utilisation polémique du récit de l’Exode chez les écrivains alexandrins (IVième siècle av. J. C. - Ier siècle ap. J. C.)“: ANRW II, 20,1 (Berlin/New York 1987), 41–65; MÉLÈZE MODRZEJEWSKI, Joseph, Les Juifs d’Egypte de Ramses II à Hadrien, Paris: Presses Universitaires de France 1997, 189–219. 56 Vgl. SCARPAT, Sapienza III, 322, und SPICQ, Notes I, 307–314. 57 Vgl. CHEON, Exodus Story, 101.

Diachrone Analyse

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Ziel der Steuerneuberechnung, d.h. der Steuererhöhung) im Jahre 24/23 v. Chr.58 ihre früheren Privilegien verloren und der einheimischen ägyptischen Bevölkerung gleichgestellt wurden. Gegen sie ist ein großer Teil der Götzenpolemik des Buches gerichtet. Angesichts der Situation der jüdischen Gemeinde in Alexandria zu Beginn der römischen Zeit erscheint es schwierig, sich vorzustellen, dass der Verfasser an die gesamten Bürgerrechte, nämlich die völlige Gleichstellung der Juden in Alexandria mit den griechischen Bürgern, gedacht hat.59 Wahrscheinlicher ist, dass der Verfasser eine Bestätigung der Rechte, die mit der Ausübung der „ererbten Gesetze“ verbunden waren, forderte, vgl. z.B. die Situation der Juden von Berenike.60 Und gewiss ging es ihm auch um eine Rücknahme der mit der laographia verbundenen Belastungen. Und vielleicht spricht er deshalb nicht einfach von den Rechten, sondern von ihren bzw. den gleichen Rechten, wie sie die griechischen Bürger von Alexandria besaßen, während die Juden ihre Privilegien durch die laographia verloren hatten. 19,16 scheint einer nicht allzu fernen Vergangenheit, in der die Rechte anerkannt waren und Teilhabe daran möglich war, eine Gegenwart gegenüberzustellen, in der solche Rechte missachtet und die Juden unterdrückt werden. All das verweist auf die während der Herrschaft des Cäsar Augustus Octavianus entstandene Situation. Möglicherweise denkt der Verfasser an die doppelte Politik des Kaisers: Indem er sich auf die von den Römern selbst den Juden gewährten und bestätigten Privilegien beruft, protestiert er, vielleicht in etwas zu schriller Tonart, gegen die Herunterstufung der Juden in Alexandria auf die Ebene einer Untertanenbevölkerung. Aber bis zu den traurigen Zeiten des Kaisers Caligula ist es noch weit. Es bleibt noch die Frage zu beantworten, weshalb dieser Abschnitt gerade am Ende des Buches steht. Der Verfasser möchte seine relecture der Exoduserzählungen mit einer Feststellung von großer Aktualität abschließen, nämlich mit einem Blick auf die Situation seiner Mitjuden. Die Adressaten des Buches sind nicht die Griechen in Alexandria, auch nicht die neuen Regierenden in Rom; ein nichtjüdischer Leser hätte von den Ausführungen fast nichts verstanden. Das Buch ist vielmehr an eine jüdische Gemeinde gerichtet, die eine Reihe nicht geringer innerer Problem gehabt haben dürfte. Der Verfasser stellt sich eindeutig auf die Seite des „armen Gerechten“, der von den Gottlosen unterdrückt wird (vgl. Weish 2,10). Wir wissen, dass in der jüdischen Gemeinde von Alexandria nur die reichsten und gebildetsten Schichten um eine volle Integration in das griechische Bürgertum kämpften; nicht einmal Philon forderte das. Der größte Teil der Juden in Alexandria gehörte jedoch nicht zu den höheren Kreisen;61 der Verfasser ist ein gebildeter Mann, guter Kenner der hellenistischen kulturellen Welt, aber er zählt sicher nicht zu den Reichsten und Mächtigsten, die in seinem Buch ja ständig kritisiert werden. Gegenüber seiner Gemeinde steht der Verfasser in der Mitte zwischen einer polemischen Betrachtungsweise, wie sie das Dritte Makkabäerbuch zeigt, und der Offenheit, die später das Denken Philons kennzeichnen wird. Die vom Buch der Weisheit vertre-

58 Zur laographía vgl. TCHERIKOVER, CPJ, I, 61; SMALLWOOD, E. Mary, The Jews under Roman Rule. From Pompeus to Diocletian, Leiden: Brill 1976, 231. 59 Vgl. MAZZINGHI, „The Civil Rights“, passim. 60 „The Jews seem in effect to have enjoyed both privileges and common rights of the kind of those usually enjoyed by many peoples who lived under Roman government“, PUCCI BEN ZEEV, Jewish Rights, 481; vgl. dort 374–377 die Liste der Rechte; zu Berenike vgl. BOFFO, Laura, Iscrizioni greche e latine per lo studio della Bibbia, Brescia: Paideia 1994, 204–216, bes. 208–209 und 209 Anm. 8. 61 Vgl. TCHERIKOVER, CPJ II,3–5.5; PUCCI BEN ZEEV, New Perspectives on the Jewish-Greek Hostilities in Alexandria during the Reign of Emperor Caligula: JST 221 (2001), 227–235.

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Weish 19,18–21.22 tene Einstellung bezüglich der Rechte der Juden in Alexandria ist die eines Judentums, das sich seiner Besonderheit bewusst ist, aber sich gleichzeitig um eine gewisse Integration bemüht.62 Wie im ganzen übrigen Buch gibt der Verfasser auch im Abschnitt 19,13–17 nie der Versuchung nach, auf die eigene religiöse Überzeugung zu verzichten. Sogar die Ägypter haben durch die Anwesenheit der Israeliten Wohltaten erfahren; und wenn jemand Gäste und Ausländer gehasst hat, dann waren sie es. Das Buch der Weisheit neigt einerseits zu einer gewissen Idealisierung der Wirklichkeit; andererseits ist es aber gerade seine religiöse Überzeugung und das Vertrauen auf den Gott Israels, die zu einer Reflexion über die Realität veranlassen. Der Verfasser scheint sagen zu wollen: Wir möchten unsere religiöse Identität voll beibehalten und zugleich die allgemeinen Rechte zuerkannt bekommen. Für die Griechen bleiben die Juden zu hassende Privilegierte, wie Flavius Josephus den Grammatiker Apion sagen lässt: „Warum ehren sie, wenn sie schon Bürger sind, nicht die gleichen Götter wie die Alexandriner?“ (Apion. 2,65). Für das Buch der Weisheit aber geht es darum, in guten Beziehungen zu den Griechen zu stehen und trotzdem dem eigenen Gesetz treu zu bleiben. Die Geschichte hat dem Verfasser nicht recht gegeben; das Problem stellt sich heute erneut für religiöse Menschen in anderer, aber ähnlicher Art. Schließlich: Im Unterschied zur Apokalyptik, in der die Eschatologie zutiefst entgeschichtlicht erscheint, hebt das Buch der Weisheit, das mehr von der prophetischen Theologie (vor allem von Jes 40–66) beeinflusst ist, das Ineinander von Historie und Eschaton hervor. Der Abschnitt 19,13–17 ist in dieser Hinsicht wichtig, da er dem historischen Gericht über Ägypten, das in 19,1–5 erzählt wird, eine eschatologische Ausweitung gibt, und gewinnt im Zusammenhang von Weish 19 einen hohen theologischen Wert.

Weish 19,18–21.22: Die erneuerte Schöpfung. Abschluss des Buches 18 Untereinander nämlich verändern die Elemente ihre Anordnung, wie auf einer Harfe die Töne die Art des Rhythmus ändern, wobei sie immer beim (selben) Klang bleiben, was aus dem Anblick der geschehenen (Ereignisse) genau zu entnehmen ist: 19 Landwesen veränderten sich nämlich zu Wasserwesen, und Schwimmtiere wechselten über und gingen auf dem Land. 20 Feuer verfügte in Wasser über seine eigene Macht, und Wasser vergaß seine auslöschende Natur. 21 Flammen wiederum verzehrten nicht das Fleisch von leicht verderblichen Lebewesen, die (in den Flammen) umhergingen,

62 „To ask for the advantages of Greek citizenship and then to repudiate some of its obligations as incompatible with their national religion was to attempt to make the best of both worlds“; so SMALLWOOD, The Jews under Roman Rule, 14, zum Problem der Bürgerrechte.

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und schmolzen nicht die eisartige, leichtschmelzliche Form der ambrosischen Nahrung. 22 In allem nämlich, Herr, hast du dein Volk groß gemacht und es verherrlicht, und du hast es nicht übersehen, da du ihm zu jeder Zeit und (an jedem) Ort beistehst.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 21c Die meisten Textzeugen lesen οὐδὲ τηκτόν „und nicht schmelzbar“; bei dieser Lesart wäre jedoch ein in keiner Handschrift überliefertes Verb ἦν bzw. ἐγένετο hinzuzufügen. ZIEGLER mit Lat (nec dissolvebant), Arm, Syr und einigen Minuskeln wählt die Lesart οὐδ’ ἔτηκον „und sie schmolzen [transitiv] nicht“; diese Lesart wird auch von vielen neueren Autoren übernommen, da sie den Parallelismus mit 19,21b und das gleiche Subjekt (φλὀγες) beibehält; das Verb τήκω kam schon mehrfach im Buch vor: 1,16; 6,23; 16,22.27.29.

Synchrone Analyse Dieser Abschnitt bildet, rhetorisch betrachtet, die ἀνακεφαλαίωσις, den zusammenfassenden Höhepunkt des ganzen Werkes. Der Verfasser verbindet ihn in besonderer Weise mit dem Diptychon über das Manna, wobei er daraus einige wesentliche Elemente übernimmt und sie als Werk Gottes darstellt, der die Schöpfung erneuert, indem er in ihr neue Zuordnungen schafft wie in einer Musikkomposition. Damit erscheint das Motiv des Kosmos, das im Denken des Verfassers eine zentrale Rolle spielt, gerade am Ende des Buches wieder und stellt der Hörerschaft die Macht Gottes über die Geschöpfe, nunmehr ohne die strengen Aspekte des eschatologischen Gerichts, vor Augen. In dieser Weise wird der aus der Musik genommene Vergleich in 19,18 der Höhepunkt eines Weges von Lob, der in 10,20 mit dem Freudengesang über den Durchzug durch das Meer begonnen hatte und, nach einem Hinweis auf die Lobgesänge der Erzeltern in 18,9, fortgesetzt wurde in einer erneuten Erwähnung des Gesanges am Meer in 19,9, ein Lob, das die ganze Schöpfung einbezieht. Der Vergleich aus der Musikwelt in 19,18a-c hat lange Zeit den Kommentatoren 19,18: Wie Schwierigkeiten bereitet.63 Chrysostome Larcher weist auf das Problem des Eingangs- eine neue Mekolons 19,18a hin, eine Partizipialkonstruktion ohne finites Verb.64 Die Wendung am lodie… Anfang δἰ ἑαυτῶν ist nicht in ihrer normalen Bedeutung „von selbst“ zu verstehen; denn die Töne, von denen das folgende Kolon spricht, ändern sich nicht von selbst. Vielmehr ist zu übersetzen: „untereinander“. Das Verb *μεθαρμόζω bedeutet „die An-

63 Vgl. LARCHER, Sagesse III, 1082–1089. 64 LARCHER, Sagesse III, 1088: Der Text bleibt für ihn dunkel und unbestimmt: „Cette indétermination peut résulter d’une réelle incompétence musicale chez l’auteur“. ALONSO SCHÖKEL meint, der Verfasser scheine „nicht allzu versiert zu sein in einer Musiktheorie und seine Worte nicht in streng technischem Sinne zu gebrauchen“, zit. bei VÍLCHEZ LÍNDEZ, Sapienza, 539.

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Weish 19,18–21.22

ordnung von etwas verändern“, im musikalischen Bereich: eine Melodie ändern durch Variierung des Metrums (τοῦ ῥυθμοῦ τὸ ὄνομα διαλλάσσων). Die beiden Kola 19,18b-c enthalten den eigentlichen Vergleich mit der Musik: Die Elemente bringen sich untereinander in eine andere Ordnung, sie tauschen untereinander ihre Eigenschaften aus wie die Töne (φθόγγοι) auf einem Saiteninstrument (ψαλτήριον: Harfe, Zither oder Lyra), auf dem sich, je nachdem, welche Saiten wann angeschlagen werden, das Metrum und damit die Melodie ändern. Die Wendung τοῦ ῥυθμοῦ τὸ ὄνομα bereitet Schwierigkeiten; es ist nicht klar, ob sie mit dem Verb oder mit etwas anderem im Kolon zu verbinden ist. Auch 19,18c bietet ein Problem, denn das Partizip μένοντα „bleibend“ bezieht sich grammatisch auf die στοιχεῖα in 19,18a, logisch aber auf den Musikvergleich. Die Verbindung der beiden Wörter wird klarer, wenn στοιχεῖα hier auch eine musikalische Bedeutung hat: Die Elemente des Kosmos ordnen sich untereinander um wie die musikalischen Elemente, d.h. die Töne ändern ihren Rhythmus, behalten jedoch ihren Klang (μένοντα ἤχῳ). Nach vielen Autoren besteht das, was der Verfasser sagen will, einfach in einer Änderung des Rhythmus bei der Tätigkeit der Elemente; sie ziehen sich zusammen oder dehnen sich (vgl. Weish 16,24) über ihre jeweiligen Eigenschaften hinaus, wie in der Musik der Rhythmus von der unterschiedlichen Dauer der Töne bestimmt wird. Andere dagegen meinen, dass hier Gott mit einem Harfenspieler verglichen werde, der die gleichen Töne in einer neuen Weise verwende, d.h. die Elemente der Schöpfung.65 Jedenfalls erscheint von diesem Text her die Schöpfung als eine erneuerte Schöpfung. Der Verfasser stellt mit Nachdruck fest, dass die Elemente in ihren Eigenschaften austauschbar sind und dennoch sie selbst bleiben (s. 19,20–21), wie es normalerweise in der Musik geschieht durch eine einfache Änderung der rhythmischen Beziehungen. Der Vergleich mit der Musik formt den Exodus um in ein großartiges sinfonisches Gedicht, das auf die ganze Schöpfung ausgedehnt wird:66 „Die Schlusssätze scheinen nur auf das Positive der geschehenen Veränderungen zu schauen: Tiere, die ihre vitalen Möglichkeiten aufs Äußerste entfalten im Wasser, auf der Erde, mitten im Feuer; Feuer und Wasser nicht mehr im Konkurrenzkampf miteinander; Flammen, die die Schwachheit winziger Tiere respektieren, und leichte Elemente (Manna – Reif), die einen genauen Plan Gottes verwirklichen. Jedes einzelne dieser Elemente, bewahrt jedoch seine charakteristischen Eigenschaften, an denen es erkennbar ist, während neue Wirkweisen nur in der Beziehung zu anderen Elementen wahrnehmbar sind. Neu ist also die Beziehung, die Gesamtanordnung, in musikalischer Ausdrucksweise: der Rhythmus.“67

Die Vorstellung von 19,18a-c erwächst nicht einfach aus dem Schauspiel der gesehenen Dinge, sondern aus einer eingehenden Beobachtung, die über das Geschehene nachdenkt, um seine Ursachen zu ergründen (19,18d). Die im Buch der Weisheit schon besprochene Spannung zwischen Anschein und Wirklichkeit kehrt hier wieder. Auffällig ist das Verb εἰκάζω, das sonst in der LXX nur noch in Weish

65 Vgl. die Diskussion der verschiedenen Auffassungen bei LARCHER, Sagesse III, 1087–1088. 66 Vgl. ALONSO SCHÖKEL, Sabiduría, 206. 67 PISTONE, „La lira e il creato“, 228; vgl. PASSARO, „L’argomento cosmologico“, 50 Anm. 14, zur Deutung von ῥυθμός. SCARPAT schlägt vor, ῥυθμός im Sinne von „musikalischer Form“ zu verstehen; vgl. Sapienza III, 304–308.

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8,8b; 9,16a und Jer 26[46MT],23 vorkommt. Es bedeutet „vermuten, folgern“, etwas vergleichend mit anderem prüfen, und wird hier verstärkt durch das Adverb ἀκριβῶς „genau, sorgfältig“. Der Austausch der Eigenschaften der Elemente untereinander wird veranschaulicht durch einige Beispiele aus den Erzählungen vom Auszug aus Ägypten. Die Landwesen (χερσαῖα; vgl. Lev 11,29LXX zum Krokodil als Landtier) verwandeln sich (μεταβάλλω) in Wasserwesen (ἔνυδρα*; s.o. zu 19,10c); Wesen, die schwimmen (*νηκτά, ein seltenes und gewähltes Wort) bewegen sich stattdessen auf der Erde. Während das letztgenannte Beispiel sich offensichtlich auf die Frösche bezieht, von denen bereits in 19,10c die Rede war (die gleiche Vorstellung findet sich bei Philon, Mos. I, 103), ist es schwieriger zu verstehen, was der Verfasser mit Landwesen, die Wasserwesen werden, meint. Larcher mit vielen anderen Autoren hält für die einzig mögliche Erklärung, dass an die Israeliten selbst – Landwesen! – gedacht sei, die das Meer durchqueren konnten.68 19,20 nennt ganz direkt den Austausch der Eigenschaften der Elemente untereinander (s.u.). Umgekehrt (*ἀνάπαλιν) verzehrten (ἐμάραναν, vgl. 2,8) die Flammen nicht das Fleisch „leicht verderblicher“ Lebewesen; das Adjektiv *εὔφθαρτος ist ein seltenes Wort und wahrscheinlich von Aristoteles entliehen.69 Wer sind die Tiere, die „herumspazieren in“ den Flammen (ἐμπεριπατέω)? Man könnte von 16,18 her an die Heuschrecken denken, wo die Flammen die von den Ägyptern angezündeten Feuer sein könnten, um die Heuschrecken zu vertreiben. Aber auch in diesem Fall bleibt der Text dunkel. Andere denken eher an eine Anspielung auf Dan 3,24Th, wo beschrieben wird, dass drei Männer inmitten des Feuerofens umhergingen (περιέπατουν ἐν μέσῳ τῆς φλογός). Das leichtverderbliche Fleisch könnte demnach das von menschlichen Wesen sein, die dank der Gabe des Manna nicht in die Verderblichkeit geraten. Das zweite wunderbare Phänomen (19,21c) bezieht sich offensichtlich auf das Manna und schließt sich unmittelbar an das vierte Diptychon an. Der Aufbau dieses Kolons ist sehr gewählt, ebenso wie die Wahl der Wörter: *κρυσταλλοειδής „wie Eis aussehend, eisartig“ verweist absichtlich auf das für das Manna gebrauchte Wort κρύσταλλος in 16,22a. Das Adjektiv findet sich sonst nur einmal, nämlich bei Epikur (Epist. II, 100); selten ist auch das andere Adjektiv *εὔτηκτος „leicht schmelzend“, ein auch bei Aristoteles vorkommender Fachausdruck.70 Das Manna wird γένος ἀμβροσίας τροφῆς genannt; das Adjektiv *ἀμβρόσιος ist ein hapax der LXX und verweist auf die griechische Vorstellung von ambrosia, d.h. auf den Nektar der Götter, der ihnen die Unverderblichkeit gewährte.71 Das Stichwort Speise knüpft wieder an das ganze Kap. 16 an. Die Erwähnung einer ambrosischen Nahrung verweist auf eine Speise, die dem, der sich davon nährt, das ewige Leben gewährt. In dieser Weise führt das Ende des Buches wieder 68 69 70 71

LARCHER, Sagesse III, 1089–1090. ARISTOTELES, Cael. I,11 (280b25); ΙΙΙ,6 (305a6). Vgl. An. 422a19; Probl. 865b1. Vgl. DUMOULIN, Entre la Manne et l’Eucharistie, 133–136. Die alten Übersetzungen umschreiben den Ausdruck mit „göttliche Speise“ (Syrhex); bonam escam (Lat); „unverderblicher Stoff“ (Arab). Das Wort ἀμβρόσιος bedeutet „nicht-sterblich“, was also den Sterblichen (α-βροτοι) gerade nicht zukommt.

19,19–20: Beispiele aus den Exoduserzählungen

19,21: Das Manna, ambrosische Speise

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Weish 19,18–21.22

an den Anfang zurück, zu 1,13–14 und besonders zu 2,23, zum Plan Gottes über das Leben des Kosmos und der Menschheit. Das letzte Wort des Verfassers ist keine apokalyptische Ankündigung eines Gerichts, sondern eine Verheißung ewigen Lebens. Darum sagte Paul Beauchamp mit Recht: Wenn jemals das letzte Wort eines Buches Gewicht hatte, dann ist es hier der Fall.72 Der Exodus gewinnt in Weish 10–19 eine deutliche eschatologische Dimension, die hier ein Element des Kosmos einschließt, das Manna. Die Erwähnung des Manna, Speise der Unverderblichkeit, könnte ein weiteres Zeichen dafür sein, dass der Verfasser an das ewige Leben mit einem Begriff von Auferstehung denkt; denn auch der Leib ist einbezogen in das Leben, das den Gerechten erwartet. Das Manna verweist darum direkt auf die ἀφθαρσία von Weish 2,23. Der Vers, in dem der Verfasser eine Rückschau auf die erzählten Ereignisse 19,22: Abschluss des Bu- vornimmt, bildet einen wirklichen Abschluss des ganzen Buches.73 Formal handelt ches es sich nicht um eine Doxologie, vielmehr um ein Gebet in der Weise einer Erinnerung an die Taten Gottes im Stil des dritten Buchteils. Das Verb δοξάζω kommt nur drei Mal im Buch vor: In 8,3 erscheint das Verb im Zusammenhang des Enkomions auf die Weisheit und hat die Bedeutung „preisen“. In 18,8 ist der Kontext dem von 19,22 ähnlich:74 In der Paschanacht offenbart sich die Herrlichkeit Gottes in der Rettung der Israeliten. In 18,8 und 19,22 ist δοξάζω mit λαός verbunden und gewinnt eine soteriologische Bedeutung. Durch die Verwendung dieses Wortes erinnert der Verfasser ein weiteres Mal daran, dass die Rettung vor allem „dein Volk“ betrifft. Die Verherrlichung drückt sich durch einen ständigen Beistand Gottes aus:75 „zu jeder Zeit und an jedem Ort“. Die Verben im Aorist zeigen, dass das erwartete Heil schon in der Geschichte gegenwärtig ist. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sind untereinander durch die ständige Gegenwart Gottes verbunden. Das Buch endet, wie es schon begonnen hatte, mit einem Wort der Hoffnung. Die Anrede am Schluss κύριε fasst zusammen, wozu der Verfasser am Ende seines Werkes seine Leserschaft einlädt: die Wohltaten Gottes an seinem Volk in Zeit und Raum nicht zu vergessen.

Diachrone Analyse 19,18 In 19,18 scheint der Verfasser auf die stoische Lehre von den Elementen Bezug zu

nehmen (τὰ στοιχεῖα, ein Wort, das in der LXX sonst nur noch in Weish 7,18 und in 4Makk 12,13 vorkommt) und einen Vergleich aus der Musikwelt anzustellen;

72 BEAUCHAMP, „Le salut corporel“, 509. „The argumentation of the author is brilliant“, GILBERT, „The Origins“, 401. 73 Vgl. die Ausführungen dazu bei LARCHER, Sagesse III, 1094; der Verfasser ist sich bewusst, abgeschlossen zu haben, was er mitteilen wollte. Schlussdoxologien, die nicht selten mit Trostworten enden, sind in jüdischen Schriften dieser Zeit üblich (WINSTON, Wisdom, 333, verweist auf Ps 150; Sir 51,30; 3Makk 7,23; 4Makk 18,24; TobS 14,15; vgl. Sifre Dtn 342). 74 Vgl. RAURELL, „The Religious Meaning“, 382; in 19,22 „the author of the Book of Wisdom sees the history of Israel as the history of God who saves His people by manifesting Himself to them“. 75 Die Wendung „du hast nicht übersehen“ stellt eine weitere und letzte Litotes dar.

Diachrone Analyse

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von den vier Elementen des Kosmos nennt der Text aber nur Wasser, Feuer und Erde.76 In 19,19–20, besonders in 19,20, ist der Bezugstext Weish 16,17a.22c-23. Dass 19,19–20 dieselben Ausdrücke wiederaufgenommen werden, geschieht sicher nicht zufällig. Der Umgang mit dem Thema Wasser/Feuer verrät die Kenntnis einer zeitgenössischen, in gebildeten Kreisen wohlbekannten Kosmologie. Hinzuzufügen ist die pythagoräische Vorstellung einer Harmonie des Universums, die aber in den nacharistotelischen Schulen bekannt war.77 Solcher Vorstellungen bedient sich der Verfasser um das „Paradox“ (Weish 16,17) von Wasser und Feuer, die gegenseitig ihre Eigenschaften austauschen, zu verdeutlichen, aber das Ganze erscheint hier dem Wirken des einzigen, personalen Gottes, der die geschaffene Welt transzendiert, unterworfen zu sein.78 Ein möglicher philosophischer Hintergrund von Weish 19,18–21 Seit Pythagoras entwirft das griechische Denken eine Theorie von der gegenseitigen Austauschbarkeit der Elemente, der Heraklit die Vorstellung des Logos, der vernünftigen Norm und des Entstehungsprinzips des Kosmos noch überordnet. Der Stoizismus wird, insbesondere mit Poseidonios, einen großen Teil der Überlegungen der Vorsokratiker aufnehmen, dazu noch die Beiträge Platons und des Aristoteles, und so dazu beitragen, eine genau umrissene Sicht der Welt zu schaffen, die in den gebildeten Kreisen weit verbreitet war.79 Nach einer verbreiteten stoischen Vorstellung bestehen die Elemente, aus denen das Universum zusammengesetzt ist, aus zwei aktiven Prinzipien, die die Seele der Welt bilden, das Feuer und die Luft, und aus zwei passiven (dem Leib der Welt), der Erde und dem Wasser. Luft, Wasser, Feuer und Erde finden ihre Harmonie in der Spannung der Gegensätze, in einer Art von concordia discors.80 In der Konzeption, die dem stoischen Philosophen Kleanthes zugeschrieben wird, sind „die wahren Prinzipien Gott und die Materie. Und die verändert sich zu Wasser, das Wasser zu Luft und die Luft wird nach oben getragen, während das Feuer schnell um die Erde kreist. Die Seele ist im ganzen Körper verteilt und wir selber sind beseelte Wesen, insofern wir an ihr Anteil haben.“81 So können die vier Elemente sich eins ins andere verwandeln, weil sie einen τόνος enthalten, eine Spannung der Substanz des Alls, die niemals nachlässt, wie Kleanthes sagt.82 Der Kosmos bleibt also bestehen aufgrund des Prinzips der Harmonie der Gegensätze, ähnlich wie die Musik. Der Tod selbst ist nichts anderes als die Verwandlung eines Elements in ein anderes. Von daher gesehen sind die Theorie der Austauschbar-

76 LARCHER (Sagesse III, 1088) meint, dass der Verfasser nicht beansprucht, die griechische Lehre von den vier Elementen in ihrem ganzen Umfang anzuwenden, sondern sich darauf beschränkt, von den allgemein üblichen Begriffen auszugehen, um die Vorstellung von einer erneuerten Schöpfung griechischem Denken zugänglich zu machen. 77 Vgl. SPITZER, Leo, „Classical and Christian Ideas of World Harmony“: Traditio 2 (1944), 409–464; 3 (1945), 307–364. 78 Vgl. DUMOULIN, Entre la Manne et l’Eucharistie, 94–95. 79 Vgl. BEAUCHAMP, „Le salut corporel“, 512–520; CHEON, The Exodus Story, 99; Anregungen von PASSARO, „L’argomento cosmologico“greift der vorliegende Kommentar auf; MAZZINGHI, „La creazione rinnovata“. 80 Die Wendung discors concordia findet sich bei OVID, Metamorphosen, I, 430f.; concordia discors bei HORAZ, Epist. I,12.19; vgl. BEAUCHAMP, „Le salut corporel“, 516 Anm. 4. 81 SVF I, 111 frg. 495. Eine recht ähnliche Vorstellung zeigt Philon, de incorruptibilitate mundi, XXI, 108–109; vgl. BEAUCHAMP, „Le salut corporel“, 515–516. 82 SVF I, 111 frg. 497.

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Weish 19,18–21.22 keit der Elemente und der Vergleich mit der Musik ein Allgemeinplatz der griechischen Literatur, häufig auch auf dem Gebiet der Medizin. Die Stoiker bedienen sich der Theorie der Austauschbarkeit der Elemente, insbesondere, um zu zeigen, wie die Götter alles vollbringen können, was sie wollen, ohne damit die Gesetze der Natur zu verletzen, wie Cicero schreibt: „Ihr seid die ersten, die wiederholen, dass die Gottheit alles Beliebige machen kann, und zwar ohne Anstrengung … Und diese eure Behauptungen sind nicht ein Aberglauben alter Frauen, sondern physische Tatsachen, die von einer starken Argumentation gestützt werden. Denn der Stoff der Wirklichkeit, aus dem alles besteht und aus dem alles kommt, ist völlig formbar und veränderbar, da es nichts gibt, was sich nicht plötzlich in ihn verwandeln oder aus ihm kommen könnte. Jedoch ist es die göttliche Vorsehung, die ihm vollständig Form gibt und ihn im Zaum hält, und sie kann deshalb, wohin immer sie sich wendet, alles verwirklichen, was sie will“.83 Dieses philosophische Prinzip veranlasst Philon dazu, die Wunder des Exodus auf der Grundlage einer rationalistischen Erklärung zu betrachten; daraus lässt sich schließen, dass „die Wunder des Exodus, als ein Spiel von Gegensätzen beschrieben, einen Gemeinplatz im Judentum bildeten“.84 Wenn der Verfasser des Buches der Weisheit auch zeigt, dass er diese Art gebildeter Kosmologie gut kennt, ist seine Lösung, die er in 19,18–21 bietet, doch zweifellos originell. Denn für ihn existiert der Kosmos nicht in infinitum in einer ständigen concordia discors, in einer Harmonie von Gegensätzen, wie sie bezeichnend ist für die stoische Vorstellung. Auf die Schöpfung wartet eine Erneuerung, bei der Gott selber eine neue Art von Harmonie errichten wird, die zugleich die Auswechslung der Elemente untereinander und ihre gegenseitige Übereinstimmung ermöglichen wird. Dies wird geschehen, ohne dass etwas zerstört wird, und es wird nur möglich sein dank eines wunderbaren, direkten Eingreifens Gottes. Sowohl in Weish 16,24–25 als auch in 19,6 wird das Verb ὑπηρετέω „dienen“ für den Kosmos verwendet und zeigt, dass der Kosmos selbst nach dem Verfasser nicht als etwas Autonomes zu betrachten ist, sondern als ein Geschöpf im Dienst seines Schöpfers. Im Gehorsam gegen Gott zeigt die Schöpfung, dass sie über ihre eigene Natur hinausgehen kann; das ist im Grunde der Sinn von 19,10– 12 und besonders von 19,18–21, wenn die Verse von 19,18 her gelesen werden: „In Weish 19,18 stellt der Verfasser das Wunder des Durchzugs durch das Rote Meer als Gleichnis für die Zukunft dar und kündigt die Umgestaltung dessen an, was bleibt: Das Feuer bleibt Feuer, das Wasser bleibt Wasser, die Luft bleibt Luft, die Erde bleibt Erde; aber in einer wundersamen Umgestaltung ändern sie ihre Eigenschaften und ihre Wirkungen. Diese Änderungen der Funktion ohne Änderung des Wesens zerstören die Harmonie nicht, verändern sie aber. In dieser Weise verkleinert der Verfasser jedoch, im Unterschied zu den Stoikern, deren Art der Erklärung er übernimmt, das Wunder nicht zu einem rein natürlichen Phänomen, kann vielmehr eine beständige und totale Abhängigkeit der Natur von Gott behaupten“.85 Um wieder zum Vergleich aus der Welt der Musik in 19,18 zurückzukehren: Damit die Welt sich ändert, bedarf es keines neuen Musiksystems; für eine neue Harmonie genügt es, wenn der Rhythmus verändert wird. So hat Gott es nicht nötig, die Schöpfung zu zerstören oder zu ersetzen, als ob sie in irgendeiner Weise schlecht oder in sich böse wäre (vgl. wiederum den programmatischen Text von Weish 1,12–15); in seiner Allmacht ist er vielmehr imstande, sie beständig zu erneuern, ohne die Gesetze, die er selbst aufgestellt hat, verletzen zu müssen:

83 CICERO, Nat. d. III, 92; SVF II, 322 frg. 1107. 84 BEAUCHAMP, „Le salut corporel“, 521. 85 PASSARO, „L’argomento cosmologico“, 57.

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„Wenn man sich in der Hoffnung an die Zukunft Gottes wendet, an die eschatologische Zukunft, ist es nicht notwendig, die Vergangenheit zu leugnen, die Geschichte in Epochen einzuteilen, über die ein Gericht erfolgen müsste. In den Windungen der Vergangenheit gibt es schon das Heil, da die ganze Geschichte, die der allmächtige Gott leitet und die im Schöpfungsakt wurzelt und als erneuerte Schöpfung begriffen wird, bereits Heilsgeschichte ist.“86 Bezüglich dieses Buches der relecture und der Aktualisierung der biblischen Texte kann man sich den Worten REESEs anschließen: „His work is a practical example of how his ardent faith was able to contemplate the marvels of revelation and then use his insights as a means of integrating advances in human learning and culture into an apologia for the divine plan of salvation for mankind“.87 Es ist richtig, dass der Verfasser die hellenistische Kultur nicht auf die gleiche Ebene stellt wie die Offenbarung Gottes; es ist aber auch wahr, dass sein beständiger Versuch, diese zu aktualisieren, als „Inkulturation“ bezeichnet werden kann.

Synthese von Weish 19: Die Theologie von Kap. 19 und der Schluss des Buches der Weisheit88 In Weish 19,18–21 wie überhaupt in seinem ganzen Werk bedient sich der Verfasser typisch griechischer philosophischer Begriffe, um seine Überlegungen einem inzwischen stark hellenisierten Publikum darzulegen. 19,18 zeigt den deutlichen Willen des Verfassers, die Wunder des Exodus neu zu deuten in einer rationalistischen Weise, die einer solchen Leserschaft verständlicher ist, und in einer Sichtweise der Welt, wie sie in zeitgenössischen gebildeten Kreisen vorherrscht. Er berücksichtigt die griechische Theorie der vier Elemente des Kosmos: In Weish 19,13.20–21 erscheint das Feuer, in 19,10–12 das Wasser, in 19,10 die Erde, in 19,13– 17 die Luft. Nach einer auch Philon bekannten Vorstellung (vgl. Mos. I, 143) werden die Elemente der Welt von Gott bald zum Bestrafen, bald zum Retten verwendet. Der vielleicht bezeichnendste Zug in Kap. 19 ist die Fähigkeit des Verfassers, die Exodusereignisse mit Anspielungen auf die Schöpfungserzählung, besonders Gen 1, zusammenzuführen. Damit werden die Bezugnahmen auf die Vergangenheit gleichzeitig Anspielungen auf die Zukunft. Zu erinnern ist an 19,7a, dass die Wolke das Lager beschattend schützte, ein Rückgriff auf die Erzählung von Ex 14,19–20, die hier vielleicht verbunden ist mit einer Anspielung auf den Geist Gottes, der über den Wassern schwebte (Gen 1,2). Das trockene Land erscheint, wo vorher Wasser war (19,7b); vgl. Ex 14,21–22 und Gen 1,9–10. Für die Israeliten öffnet sich eine Straße im Meer und eine grünende Ebene (19,7cd): Diese Aussage findet sich nicht in der Exoduserzählung, sie kann sich aber auf das Hervorspießen von Pflanzen in Gen 1,11–12 beziehen. Weish 19,10 erinnert daran, dass die

86 PASSARO, „L’argomento cosmologico“, 61. 87 REESE, Hellenistic influence, 89; vgl. GILBERT, „Inculturazione“, passim. 88 Vgl. DELL’OMO, „Creazione“; GILBERT, „Nouvelle création“. VÍLCHEZ LÍNDEZ, „El libro de la Sabiduría“.

Ein biblischer Hintergrund: Exodus und Schöpfung

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Synthese von Weish 19 Erde Stechmücken bewirkte, vgl. Ex 8,12–15 und in Gen 1,24, wonach die Erde Lebewesen aller Art hervorbrachte. Weish 19,11 spricht von Vögeln, die an die Wachteln von Ex 16,13 erinnern und an die Erschaffung der Vögel nach Gen 1,20. Der Vergleich der Bestrafung von Ägyptern und Sodomitern (Weish 19,13–17) verweist auf die Finsternisplage (Ex 10,21–23) und die Erschaffung des Lichts, das die Finsternis am Anfang der Schöpfung besiegt (Gen 1,3–5). Auf diesem Hintergrund endet 19,18–21 mit dem Thema Manna (Ex 16), das an die Nahrung erinnert, die Gott den Menschen am Ende der Schöpfung der Welt gibt (Gen 1,29–30). Gerade das Manna aber am Ende des Kapitels lädt dazu ein, den ganzen Text in einer eschatologischen Perspektive zu lesen.

Der wesentliche Grund des Verfassers für ein solches Vorgehen war, dass er bei seiner Komposition des letzten Kapitels, wenn er sich auf die Exodusereignisse bezog, offenbar einem Schema der Schöpfungserzählung folgen wollte. Gleichzeitig ist nicht aus den Augen zu verlieren, dass die von ihm gewählte Sprache deutlich beeinflusst ist von der griechischen Lehre über die vier Elemente und von den medizinischen Vorstellungen der damaligen Zeit; der Schlussteil des Kapitels (19,18–21) ist kaum erklärbar ohne Beachtung dieses hellenistischen Hintergrundes. Welche Folgerungen lassen sich aus dieser einzigartigen Weise des Vorgehens ziehen? Das verbindende Glied zwischen der Geschichte der Rettung (des Exodus) und dem eschatologischen Heil wird gebildet vom Bezug auf die Schöpfung. Es ist also die zentrale Rolle des Kosmos, die die tiefe theologische Einheit des Buches darstellt, und es ist bezeichnend, dass der Schlusstext von Weish 19,21 mit der Erinnerung an das Manna schließt, einem Element des Exodus und der Schöpfung und zugleich Quelle der Unverderblichkeit. „Der Sinn des Kosmos ist enthüllt: Beseelt von der Gegenwart des Geistes Gottes, der die Weisheit ist, sucht der Kosmos das Leben der Freunde Gottes; ihn anzuschauen kann dazu führen, den Schöpfer zu erkennen; darüber hinaus stellt er sich in den Dienst Gottes, um die Schuldigen zu bestrafen und die Gerechten zu retten. Dieser letzte Punkt hat sich während des Exodus bewahrheitet, dem Gründungsereignis Israels und wird sich noch bewahrheiten am letzten Tage“.89

Lange Zeit hindurch ist der Aufmerksamkeit der Leserschaft des Buches der Weisheit die tiefe Verbindung zwischen den drei Buchteilen entgangen. Insbesondere blieb häufig die Beziehung zwischen dem ersten und dem dritten Buchteil unbeachtet. Für diese kommt dem Kap. 19 eine grundlegende Bedeutung zu. Ständen nur die Kap. 1–6 zur Verfügung, würde die Eschatologie des Buches ein wenig vage erscheinen; fügte man die Kap. 7–9 hinzu, könnte man sagen, dass das ewige Leben Lohn für den ist, der das Geschenk der Weisheit angenommen hat. Aber die Einfügung von Kap. 10, das Scharnier zum Schlussteil des Buches (Kap. 11–19), fügt unumgehbar die Geschichte in das Buch ein. Im Unterschied zur Apokalyptik, in der die Eschatologie zutiefst entgeschichtlicht erscheint, betont das Buch der Weisheit, das in dieser Hinsicht mehr von der prophetischen Theologie (besonders von Jes 40–66) beeinflusst ist, das Ineinander von Geschichte und Eschaton. Im Buch der Weisheit gibt es demnach keinerlei dualistische Betrachtungsweise der Schöpfung, und es fehlt das Gefühl eines unmittelbar bevorstehenden Gerichts, das für die Apokalyptik kennzeichnend ist.

89 GILBERT, „Il cosmo secondo il libro della Sapienza“, 199.

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Kap. 19 hat seinerseits im Buch die Funktion eines Scharniers zwischen diesen beiden Aspekten (Geschichte und Eschatologie), die mittels eines das ganze Buch durchziehenden Themas, des Kosmos, behandelt werden. In Weish 1,13–15 hatte der Verfasser seine programmatische These bereits formuliert: Die Schöpfung ist eine heilsbedeutende Wirklichkeit, und der Tod bildet keinen Teil des Planes Gottes; vielmehr wird Gott sich der Schöpfung bedienen, um die Gottlosen zu bekämpfen (5,17–20). Sodann haben die Gegenüberstellungen in den Exoduserzählungen gezeigt, wie dieser Heilsplan sich tatsächlich durch die Geschichte hindurchzieht. Der Gott, der erschafft, ist derselbe Gott, der rettet. Kap. 19 verbindet diese beiden Feststellungen mittels der schönen relecture der Schöpfungserzählung innerhalb der Exoduserzählung vom Durchzug durch das Meer und den damit verbundenen Ereignissen. So tritt die ganze Bedeutung der aufgezeigten Kontakte zwischen Exodustradition und Gen 1 hervor: „Beim Exodus organisiert der Kosmos sich um in eine Art von neuer Schöpfung, um für die Gerechten das Leben und die Nahrung der Unsterblichkeit zu gewährleisten“.90 Kap. 19 antwortet daher auf die im ersten Buchteil implizit gestellte Frage: Haben vielleicht doch die Gottlosen von Weish 2 recht, für die es jenseits dieses Lebens keinerlei Hoffnung gibt?91 Worauf gründet sich demgegenüber die Hoffnung der Gerechten, die ja in der Geschichte gut verwurzelt ist, wie das Nachsinnen über den Exodus in Weish 11–19 gezeigt hat? Dem anfänglichen Plan des Schöpfers entspricht in Weish 19 das Thema der erneuerten Schöpfung. Das Heil besteht darin, die Welt zum ursprünglichen Plan Gottes zurückzuführen. „So wird das Thema der Schöpfung das hermeneutische Kriterium, um zu zeigen, dass sich das Wirken Gottes, auch in seiner eschatologischen Bedeutung, innerhalb der Geschichte, nicht außerhalb oder gegen sie, entfaltet“.92 Die Theologie der Geschichte gründet auf einer tragfähigen Theologie der Schöpfung. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass die Theologie der Schöpfung im Buch der Weisheit die Rolle der Weisheit und des Geistes berücksichtigen muss, die im Mittelteil des Buches (Weish 7–9) dargelegt wurde: Der ganze Kosmos wird erneuert werden zugunsten der Gerechten, weil in ihm der „Geist“ der Weisheit (vgl. Weish 7,22–23; 8,1) gegenwärtig ist. Es ist die Vermittlungsfunktion der mit Gott und den Menschen gerade mittels des Kosmos verbundenen Weisheit, die diese tiefe Verbindung schafft; denn die Weisheit, „Spiegel der Wirkkraft Gottes“

90 GILBERT, „La relecture de Gen 1–3“ (= La Sagesse de Salomon), 426. 91 Es ist aufschlussreich zu beobachten, wie Kap. 19 auch wörtlich die Einwände der Gottlosen in Weish 2,1–20 aufgreift: Für sie ist der Tod nur die Auflösung des Körpers, ein verglimmender Funke (vgl. 2,3); in 19,20 liest man, dass das Wasser seine Kraft, das Feuer zu löschen, verloren hat; Feuer und Wasser sind Elemente der Schöpfung im Dienste Gottes. In Weish 2,5b behaupten die Gottlosen, dass es keine Rückkehr (ἀναποδισμός) aus dem Hades gebe, während der Zug der Gerechten durch das Meer beschrieben wird als ein „unbehinderter“ Weg (ἀνεμπόδιστος, vgl. 19,7c). In Weish 2,8 wollen die Gottlosen die Absurdität des Lebens feiern, indem sie sich mit Rosen bekränzen, ehe diese verwelken (μαραίνω), während in 19,21 die Flammen das Manna, Nahrung der Unverderblichkeit, nicht zerstören (ebenfalls μαραίνω). 92 PASSARO, „Escatologia, profezia e apocalittica“, 111–112.

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(7,26), „erneuert alles … sie geht in heilige Seelen ein und bereitet Freunde Gottes und Propheten“ (7,27). Die Geschichte (vgl. Weish 10–19) veranschaulicht nach der Überzeugung des Verfassers die Struktur des Kosmos, und in diese Geschichte ist die Eschatologie eingefügt. Die Zukunft befindet sich nicht jenseits der Schöpfung und besteht nicht darin, diese zu verleugnen oder hinter sich zu lassen, sondern darin, ihr in neuer Weise zu begegnen. Sie ist so nicht das „Ende der Welt“ und auch nicht eine „neue Schöpfung“, die die alte zunichtemacht, sondern – das sei wiederholt – eine erneuerte Schöpfung. Es gibt eine Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Mensch ist dazu berufen, die Gegenwart eines persönlichen Gottes in der Welt und in der Geschichte lesen zu können, und diese Gegenwart in der Konkretheit seines eigenen Lebens zu erfahren: Das ist das Geschenk der Weisheit, über die der Mittelteil des Buches (Weish 7–9) handelt. Wenn man sich in die Perspektive des „Wozu?“ und nicht so sehr des „Wie?“ versetzt, hat das Buch der Weisheit vielleicht auch unserer Zeit noch eine Botschaft anzubieten. Die großen Fragen nach dem Sinn des Kosmos bleiben dieselben auch für die heutigen Menschen, die dazu gewiss viel umfassendere Kenntnisse haben als der Verfasser. Für ihn führt die Suche nach dem Sinn des Universums, in dem wir uns befinden, nicht notwendigerweise ins Nichts; sie führt vielmehr zur Begegnung mit dem Schöpfer. Und diese Begegnung verhindert, dass die Schöpfung in ihre Auflösung und ins Vergessen stürzt.

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Für die Literatur zum Buch der Weisheit bis 1983 sei auf die von M. GILBERT erstellte vollständige Bibliographie in LARCHER, Sagesse I, 11–48, verwiesen.

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Literatur

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Literatur

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3. Weitere Literatur

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Schlagwortverzeichnis

537

Register Schlagwortverzeichnis Aaron 477, 479–481 Adressaten des Buches 54, 177, 183 Alexandria 34 analogia proportionalitatis 354 Anapher 282, 361 Angst 436, 440, 443 f., 446, 473, 480 Anschein / Wirklichkeit 98, 113, 148, 443, 508 Anthropologie 392 Antijudaismus 502, 504 Apokalyptik 237 Aretalogie 284 Aristeasbrief 39 Aristoteles 355 Athanasius 46 Barmherzigkeit (Gottes) 322, 338 f. bestrafen 400 bestrafen / Wohltaten erweisen 309, 430 Bildung 211 Bitte 264 Bürgerrechte 32, 297, 502, 505 Clemens Romanus 45 Diatribe 76 Einweihungsriten 374 Enkomion 28 Enkomion – exordium 50 Enkomion – Lob 194 Epiphonema 248, 252 Erinnerung 411, 495 Erkenntnis (Gottes) 159, 294, 312 f., 343, 351, 354, 376, 380, 387 Eschatologie 42, 169, 172, 510, 514, 516 Existenz (Gottes) 351 Finsternis 503 flashback 22, 70, 91, 168, 238, 280, 308, 403, 429, 439, 447, 470, 473, 494 Freundschaft 237, 243, 253 früher Tod 374 Führerin 265, 268, 453 Führung (durch die Weisheit) 303 Furcht 153 Gebet 211, 250, 259, 428, 431, 477, 481 Gedächtnis 413 gegensätzliche Wirkungen (des Handelns Gottes) 404 Geist 64 f., 205, 218, 227, 272, 302, 323, 394, 414, 515

Gerechte – Gottlose 48, 148 Gerechter 89, 103, 115, 139, 152, 282, 293, 336, 465 Gerechter als Sohn Gottes 94 Gerechtigkeit 22, 72, 235, 334, 387 Gerechtigkeit Gottes 334, 380 Gericht (Gottes) 151, 167, 171 f., 178, 312, 473 Gesetz 90, 181, 272, 411, 485 Gesetz (des Mose) 455 f. Gewissen 440 Glaube 290, 323 Gott 386 Gottlose 101, 121, 127, 142, 153, 312, 435, 487, 515 Götzenbild 360 f., 364, 367 Götzenverehrung 344, 360, 362, 373, 379, 381, 388, 398, 440 Hades 72, 80, 418, 436, 443 Hass (Gottes) 327, 332, 337 Heil 153, 190, 273, 285, 486, 513 Heimsuchung (durch Gott) 114, 141, 372, 502 Henoch / Henochismus 146 Henochbuch 37 Herrlichkeit 466, 468, 510 Herrscher 176 Herrscherkult 375 Hoheslied 238 hymnische Erinnerung 486, 495 Hyperbaton 25, 435, 446, 464, 491 Inkulturation 43, 269, 369, 506 Ironie 76 Isis 227, 230, 240, 251, 261, 267, 276, 296, 368 f., 416, 448 Kanonizität 45 Kohelet 86 f. Königsfiktion 54 Königtum 169–171, 180, 182, 187, 190, 201, 244, 263, 266, 293, 416 Kosmos 22, 71, 167 f., 172, 222, 280, 312, 324, 423, 426, 473, 482, 507, 510, 513, 515 Kosmos/Schöpfung 493 Krieger (Gott als) 167 Kyrill von Jerusalem 46 Leben 393

538 Leib 249, 252, 273 Licht 222, 447 f., 451, 460, 485 Liebe (Gottes) 326 literarische Einheit 21 literarische Struktur 23, 48, 51, 76, 105, 173, 196, 255, 282, 306, 314, 345, 400, 432 Litotes 26, 55 Lotse (die Weisheit als) 369 Magie 229, 276, 332, 416, 441, 447, 470 f. Manna 421, 423 f., 428, 431, 509 Menschenfreundlichkeit 64 Midrasch 280, 295, 309, 338, 405, 416, 419 f. midraschartig 30, 335, 405 Mose 299, 308 f., 313, 411, 464, 480 Murr-Motiv 35 Mysterien 374 Mysterienkulte 158, 188, 191, 212–214, 228, 238, 254, 276, 332, 377, 381, 437, 468 Nacht 465 Nahrung 400 Naturgesetz 456 Nymphe 233 Pädagogik (Gottes) 343 paideia / Bildung 58 Pascha 465 f., 468, 482 Philon von Alexandria 39 f. Platonismus 41, 228, 233, 252, 273, 324, 353 Prophet 229 Protrepticus 27 Qumran 37 relecture 33, 35 f., 39 Rettung 153, 190, 273, 285, 369, 410 f., 494, 510 Ruhm 241 Schein / Wirklichkeit 76 Schöpfung 258, 321 f., 327, 392, 399, 423, 426, 429, 431, 447 f., 486, 493, 513 Seele 249, 252, 273, 394, 414 Seele – Leib 57 Sohn (Gottes) 161, 262, 332, 336, 458, 470, 472 Sorítes 186 Steuermann (die Weisheit als) 286, 369

Register Stoizismus 41 f., 60, 65, 135, 180, 182, 206, 218, 226, 230, 244, 261, 287, 324, 327, 338, 352 f., 355, 426, 431, 437, 510 f., 513 strafen / Wohltaten erweisen 313 suchen (Gott) 354 Sünde 285, 296, 324 Synkrisis (Vergleich) 28, 281 Tempel 263, 266 Testamente der XII Patriarchen 39 Teufel 99 thematische Bezugnahmen 22 Tierkult 319, 342, 348, 398 f. Tod 71, 79, 99, 148, 342, 394, 470 f., 473, 477, 491 Tod / Leben 417 Träume 445, 473 Tugend 132, 161, 236, 239 Umkehr 318, 333, 336 Unsterblichkeit 117, 242, 247 Unverderblichkeit 187, 323, 456, 510 Unwissenheit 291 Vater (Gott) 91, 312, 365 Vernunft 354, 357 Volk 302, 451 Volk (Gottes) 262, 435, 489 Vorsehung 178, 182, 365, 389, 436 Weisheit 56, 182, 184, 189, 205, 218, 221, 227, 232, 238, 247 f., 253, 259, 263 f., 267, 272, 293, 295, 303, 308, 366, 456, 472, 515 Weisheit – Metaphern zur Beschreibung 218, 228 Weisheit und Königsein 55 Werkmeisterin (die Weisheit) 235 Wesen (Gottes) 356 Wille (Gottes) 270, 272 Wohltaten erweisen 400 Wolkensäule 303, 453, 497 Wort (Gottes) 261, 400, 413 f., 428, 431, 474, 478, 482 Wortschatz 24 Zauberer 444 f. Zeugung 200 Zorn (Gottes) 410, 477, 487 Zorn (Gottes) – Barmherzigkeit 312 zweifacher Tod 73

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Verzeichnis griechischer Wörter

Verzeichnis griechischer Wörter ἄβατος 159, 308 ἀβλαβής 454 ἀγαθότης 54 ἀγαπάω 53, 207, 234, 326 ἀγάπη 115, 186 ἀγερωχία 85 ἅγιος 161, 223, 435 ἄγνοια 382 ἀγνωσία 351 ἄγριος 364 ἀδελφοκτόνος 286 ἀδιάπτωτος 124 ἀδρανής 360 ἀδύνατος 443 ἀθανασία 117, 132, 242, 247, 387 ἀθετέω 153 αἰνέω 301, 495 αἱρετίς 232, 234 αἰών 350, 364 ἀκαταμάχητος 164 ἀκηλίδωτος 139, 220 ἀκοίμητος 204 ἀκοπιάτως 422, 424 ἀκουστής 62 ἀκρίβεια 331 ἀκρότομος 309 ἀκώλυτος 224 ἀλαζονεία 156, 159 ἀλαζονεύω 91 ἀλήθεια 115 ἀληθής 385 f. ἀλλότριοι 502 ἄλογος 319 ἀμάραντος 184 ἁμαρτία 296 ἀμβρόσιος 509 ἀμείδητος 435 ἄμεμπτος 289, 477 ἀμέριμνος 225 ἀμίαντος 123, 133, 250 ἀμόλυντος 224 ἄμυνα 164 ἀναβράσσω 301 ἀνάγκη 447, 491 ἀνάδυσις 494 ἀναιρέω 68 ἀναλάμπω 111, 119 ἀναλόγως 350 ἀναλύω 78, 414 ἀνάμνησις 411

ἀνάπαυσις 144 ἀναποδισμός 81 ἀναστρέφω 414 ἀνατυπόω 371 ἀνδρεία 236 ἀνδρεῖος 243 ἀνεκλιπής 208, 247 ἀνεμπόδιστος 494 ἀνεξικακία 94 ἀνίημι 428 f. ἄνοια 489 ἀνόμημα 129 ἀνομία 169 ἄνομοι 435 ἀνόνητος 121 ἀντερείδομαι 390 ἀντηχέω 469 ἀντιπαρέρχομαι 413 ἀντοφθαλμέω 334 ἀνυπόκριτος 164 ἀνώνυμος 379 ἄξιος 79, 114, 455 ἀξίως 403 ἀοίκητος 308 ἀορασία 503 ἀπαίδευτος 58 ἀπαραίτητος 402, 423 ἀπαύγασμα 220 ἀπεικάζω 361 ἀπείκασμα 359 ἀπεχθῶς 502 ἀπήμαντος 224 ἀπιστέω 53, 290, 470 ἀπιστία 378 ἁπλότης 55 ἀπόβλημα 359 ἀπόγονος 199 ἀποικία 338 ἀποκρύπτω 191 ἀπολαύω 86 ἀπολογία 179 ἀπόρροια 219, 229 ἀπότομος 164, 168 ἀπώλεια 70 ἀργυροχόος 390 ἀρετή 134 ἁρπάζω 140 ἀσεβής 79 ἀσέλγεια 379 ἀσθενής 259

540 ἀσύμφωνος 469 ἀσφαλής 225 ἀσφαλίζομαι 293 ἀσφαλίζω 142 ἀτεκνία 132 ἀτέλεστος 124 ἀτελής 289 ἀτίμητος 204 ἀτμίς 219 αὐτοσχεδίως 78 ἀφανίζω 127 ἀφεγγής 435 ἀφθαρσία 97, 99, 187 ἄφθαρτος 323, 456 ἀφροσύνη 342 ἄφρων 56, 113, 291, 396 ἀχάριστος 429 ἄχρηστος 121 ἄψυχος 361 ἄωρος 131, 374 βασανίζω 403 βάσανος 110, 112 βασιλεία 177, 293 βασίλειον 71, 164 βασκανία 140 βδέλυγμα 342, 373 βδελύσσω 322 βέβαιος 225 βλάπτω 452 βλάσφημος 61 βοήθεια 361 βουλή 273 βραβεύω 295 βραχυτελής 394 βρίθω 271, 273 γενεσιάρχης 353 γενεσιουργός 357 γένεσις 73, 495 γενέτις 204 f. γένος 493 γηγενής 200 γλυκύτης 424 γλύφω 202, 361 γνῶσις 90, 191, 376 γογγυσμός 66 δειλός 270 δεῖμα 439 δεινός 409, 473 δέομαι 250 δεσπόζειν 258 δεσπότης 323 δημιουργέω 392

Register διάβολος 99 διαβούλιον 63 διάγνωσις 124, 128 διάγω 300 διαδέχομαι 447 διάδημα 476 διαθήκη 479 (δια)κυβερνάω 369 διάνοια 141 διασκεδάννυμι 83 διασκιρτάω 495 διαστράπτω 425 διατείνω 230 διατηρέω 323, 430 διατίθεμαι 466 διατρέχω 120 διατυπόω 493 διαφέρω 450 διαφθείρω 409, 470 διαφυλάσσω 287, 293 διδάσκω 272 δίδωμι 455 διέπω 260, 339 διερευνάω 177, 354 δίεσις 331 διήκω 228 δίκαιος 301, 503 δικαιοσύνη 53, 72, 235, 258 δικαστής 176, 262 δίκη 66, 380, 469 διοδεύω 308 διοικέω 230, 242, 335, 388 διόλλυμαι 440 διορθόω 272 διορθωτής 209 δοκιμάζω 56, 59, 111, 312 δοξάζω 510 δράκων 413 δύναμις 56 δυνάσται 241 δυναστεία 177 δυσάλυκτος 446 δυσδιήγητος 24, 434 ἐγκαταλείπω 296 ἐγκρατής 246 ἐγκώμιον 28 ἐδέσματα 496 ἐδράζειν 131 ἔθνη 242 εἰδέχθεια 402 εἰκάζω 236, 271, 508 εἰκών 220, 361, 447

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Verzeichnis griechischer Wörter εἰλικρινής 219 εἰμί 71 εἰρήνη 376 εἱρκτή 446 ἔκβασις 93, 237 ἐκγελάω 142 ἐκδίκησις 319 ἔκδικος 330 ἐκζητέω 238 ἐκπρίω 359 ἐκσοβέω 440 ἐλέγχομαι 53 ἔλεγχος 63, 439 ἐλεέω 322 ἔλεος 120, 257, 386, 413 ἕλκω 491 ἐλπίζω 99 ἐλπίς 117 ἐμμανής 372 ἐμμελέτημα 359 ἔμπαιγμα 441 ἐμπαιγμός 342 ἐμπειρία 360 ἐμπνέω 391 ἐμφανίζω 52 ἔμφυτος 330 ἐναλλαγή 379 ἐνεδρεύω 293 ἐνέργεια 220 ἐνθυμέομαι 209, 270 ἐντυγχάνω 250 ἔνυδρος 496, 509 ἐξαιρέω 285 ἔξαλλος 372 ἐξαποστέλλω 264 ἐξελέγχω 330 ἐξερεύγομαι 496 ἐξέτασις 63 ἐξετασμός 131 ἐξηλλαγμένος 90 ἐξιχνιάζω 191 ἔξοδος 116 ἐξολεθρεύω 333 ἐξουσία 297 ἐπαποστέλλω 319 ἐπεξέρχομαι 380 ἐπέρχομαι 342, 404, 407, 443, 501 ἐπευθυμέω 464 ἐπιβοάω 364 ἐπιείκεια 93, 335 ἐπιθυμέω 179 ἐπιθυμία 405

ἐπικαλέομαι 204 ἐπικουρία 360 ἐπιμίξ 372 ἐπίμοχθος 390 ἐπίνοια 185, 373 ἐπιορκέω 379 ἐπιορκία 378 ἐπισκοπή 93, 95, 114, 141, 372, 502 ἐπίσκοπος 62, 65 ἐπισπάομαι 489 ἐπιστήμη 209, 234, 264 ἐπιστρέφομαι 411 ἐπισφαλής 131, 270 ἐπιτείνω 428 f. ἐπιτηδεύω 501 ἐπιτιμία 121 ἐπιτρέπω 487 ἐπιτυχία 360 ἐπιχέω 442 ἐραστής 233, 388 ἐργάζομαι 235 ἐργατεία 209 ἔρευνα 178 ἔσοπτρον 220 ἔσχατα 91 εὐαρεστέω 139 εὐάρεστον 265 εὐγένεια 233, 238 εὐδράνεια 360 εὔελπις 331 εὐεργετέω 309, 400, 403 εὐεργέτης 416, 502 εὐεργετικός 225 εὔθραυστος 391 εὐθυμία 464 εὐκίνητος 223, 359 εὔκλεια 248 εὔκυκλος 165 εὐλογέω 366 εὐμαθής 359 εὐμενῶς 185 εὐμορφία 207 εὐοδόω 308 εὐπρέπεια 164, 222 εὕρεσις 373 εὐρώστως 230 εὐσέβεια 295 εὐστάθεια 189 εὐτελής 286 εὔτηκτος 509 εὔφθαρτος 509 εὐφραίνομαι 208, 384

542 εὐφροσύνη 87, 243 εὐφυής 249 εὐχαριστέω 452 εὐχαριστία 428 εὐχερής 184 ἐφίσταμαι 176, 487 ἐφύβριστος 24 ἐχθρός 396 ζητέω 54, 233 ἡγέομαι 204 ἡδονή 422 ἥσυχος 472 θάνατος 470, 477 θαυμαστός 494 θειότης 464 θέλω 273 θεραπεύω 290 θεράπων 477 θεωρέω 357, 415, 494 θίασος 329, 337 θράσος 330 θραῦσις 477 θρησκεία 372 θρησκεύω 317, 319 θυμός 168, 286 θυσία 111 θυσιαστήριον 263 ἴαμα 412 ἴασις 80 ἰδιότης 97 ἱκετεύω 360 ἱλάσκομαι - ἐξιλάσκομαι 478 ἴνδαλμα 436 ἰοβόλος 413 ἰσοπολιτεία 33 ἰσχυρός 289 ἰσχύς 334 ἰσχύω 422 καινίζω 217, 221 κακόμοχθος 390 κακοπραγία 165 κακότεχνος 57 κάκωσις 110 καλλονή 353 καρπός 125 καταδαπανάομαι 157 καταδίκη 342 καταδυναστεύω 89, 396, 435 κατακλείω 455 κατακλύζω 299 καταλαλιά 67 καταναλίσκω 423

Register καταπίπτω 203 κατασκευάζω 217, 221, 258, 322, 353 κατασκήνωσις 263 κατάστασις 330 καταχρέω 57 κατηφής 435 κατισχύω 217, 295 κενοδοξία 371 κίβδηλος 88 κλῆρος 87, 126 κλυδών 494 κνώδαλα 319, 403 κοινωνέω 189 κολάζω 113, 309, 367, 400, 403, 469, 481 κολακεύω 371 κοπιάω 264 κόσμος 168, 189, 479 κράτησις 32, 177 κράτος 387 κρίμα 333 κρίνω 337 κρίσις 241, 258 f. κρυσταλλοειδής 509 κτίζω 71, 353 κτίσις 86, 493 κτίσμα 258 κυβερνάω 286 κύριος 90, 142, 375, 495, 510 κῶμος 372 λαμπρός 188, 448 λαογραφία 32 λαός 242, 489 λειτουργία 477 λεπτός 223 λήθη 435 λογίζομαι 122 λογισμός 56, 58, 270, 444, 489 λόγος 472 λυθρώδης 310 μαίνω 384 μακαρίζω 91, 451 μακάριος 125 μακρόθυμος 386 μαρτύριον 289 μάρτυς 62 μάταιος 351 μεθαρμόζω 507 μέλω 334 μερίς 77, 79, 87 μεταβαίνω 221 μετακιρνάω 422 μεταλλεύω 137, 427

Verzeichnis griechischer Wörter μεταμέλομαι 488 μετανοέω 152 μετάνοια 318, 322 μετατίθημι 139 μετέρχεσθαι 372 μετέχω 502 μιαίνω 220 μιασμός 378 μιμέομαι 131 μίμημα 263 μισέω 327, 332 μισοξενία 501 μοιχεία 379 μονογενής 223 μορφή 451 μυριότης 340 μυστήριον 96 μύστης 337 μύστις 234 μυχός 436, 443 μωμάομαι 297 νέμω 495 νέος 241 νηκτός 509 νήπιοι 304 νηπιοκτόνος 311 νήπιος 396 νοερός 223 νοέω 354 νοθεύω 378 νόθος 131 νόμος 58, 411, 466 νουθεσία 410 νουθετέω 312, 323 νοῦς 271 νύμφη 233 ξενιτεία 454 ξένος 404 ὁδηγέω 265, 268, 292, 300, 453 ὁδηγός 211, 453 ὁδοιπορία 454 ὄλεθρος 69 f., 470 ὀλιγοχρόνιος 259 ὁλοκάρπωμα 111 ὁμιλία 247 ὁμοθυμαδόν 301, 465 ὁμοιοπαθής 200 ὁμόνοια 290, 468 ὄνειρος 473 ὀξύνω 164 ὀξύς 224, 241 ὁπλοποιέω 164

543 ὀργή 287, 410, 477 ὄρεξις 365, 388, 405 ὀρθρίζω 184 ὅρκος 337 ὅσιος 116, 182, 221, 450 ὁσιότης 97, 167, 258, 380 ὅτι 55, 97, 176 ὄχλος 241, 476 παγίς 373 παίγνιον 394 παιδεία 57, 186, 191, 211 παιδεύω 113, 179 παῖς 90, 248, 493 πανεθνεί 498 πανεπίσκοπος 225 πανηγυρισμός 394 παντοδύναμος 225, 473 παντοκράτωρ 219 παντοτρόφος 427 παράδοξος 153, 489 παραίνεσις 237 παρακάλυμμα 434 παραλαμβάνω 418 παραμυθία 496 παράπτωμα 285 παράφρων 165 πάρεδρος 188, 261 πάρειμι 264, 267, 369, 500 παρεμπίπτω 219 παροδεύω 290 παροικία 498 παρρησία 154 πάσχω 451, 501 πατήρ 365 πάχνη 429 πεδίον 497 πειράζω 55, 98, 114, 487 περάω 487 περίειμι 248 περικομπέω 24, 435 περιμένω 241 περιξύειν 359 πηλουργός 390 πιπράσκω 296 πιστέυω 323 πίστις 126 πιστός 111 πλανάω 96, 158, 319, 342, 376, 388, 437 πλάνη 70 πλάστιγγες 322 πλεονεξία 294 πλῆθος 319, 496

544 πληρόω 65 πλοῦτος 159, 235 πνεῦμα 57, 169, 206, 323, 394 ποδήρης 476 ποθέω 179 ποιέω 258, 322 πολύγονος 131 πολυετής 138 πολυμερής 223 πολυπειρία 236 πολυτελής 85 πολύφροντις 271 πόνος 251 πορεία 116 πορνεία 373 πρεσβύτεροι 241 πρηνής 138 προάγω 496 προαδικέω 452 προαιρέω 204, 262 προγινώσκω 184, 237, 467 προετοιμάζω 263 προκρίνω 206 προμαχέω 478 προμηνύω 475 προναμέλπω 464 προνοέω 361 πρόνοια 365, 437 προοῖδα 488 προπέμπω 487 προσαναπαύομαι 243 προσαναπληρόω 489 προσδέχομαι 114, 468, 502 προσδοκία 443 προσευχή 477 προσέχω 241 προσκαλέομαι 466 προσμένω 111 προσοδύρομαι 488 προσοχή 187, 337 προϋφίσταμαι 494 πρωτόπλαστος 200 πτῶμα 138 ῥεμβασμός 137 ῥήγνυμι 138 ῥίζα 387 ῥυθμός 508 ῥύομαι 95, 289, 412, 498 σαθρός 364 σαφής 224 σέβασμα 382 σεβαστός 382

Register σκάνδαλον 373 σκεπάζω 167 σκέπη 303 σκιαγράφος 385 σκνίψ 496 σκολιοί 409 σκυλεύω 304 σοφία 56, 179, 184, 206, 365 f. σπέρμα 366 σπεύδω 137, 477 σπιλόω 386 σπλάγχνα 291 σπλαγχνοφάγος 329 σπουδή 488 στοχάζομαι 350 στυγνός 436 συγγνωστός 176 συγγυμνασία 247 σύγκρισις 28 συγχέω 289 συλλογισμός 143 συμβίωσις 233, 243 σύμβουλος 237, 407 συναναστροφή 243 συναπόλλυμαι 286 συνείδησις 441 σύνεσις 140 συνέχω 60, 65 συνθήκη 337 συνοδεύω 188 συνοικέω 222 συνολκή 396 σύντομος 371 σύντριμμα 110 σύστασις 209 σφῆξ 333 σχεδίον 366 σῴζω 273 σῶμα 57 σωτήρ 411, 416 σωτηρία 153, 190, 410 σωφρόνως 265 σωφροσύνη 236 τάλας 396 ταράσσω 153, 410 τάραχος 378 τάχα 350 τεκνοφόνος 377 τελειόω 147 τελεταί 332 τελέω 138 τέρας 494

Verzeichnis griechischer Wörter τέρπω 353 τέρψις 251 τέφρα 80 τεχνάομαι 359 τεχνίτης 351 f. τεχνῖτις 210, 235, 352, 364 τήκω 79, 189 τιμή 241 τιμωρία 501 τρανός 224, 304 τρίβος 293 τρόπιος 156 τροφή 424 τρυφή 496 τρύχω 311 τύπω 360 τυραννέω 297 τύραννος 176, 242 ὕβρις 93, 143 υἱός 94, 459 ὕλη 392 ὑλοτόμος 359 ὑμνέω 301 ὑπερασπίζω 167 ὑπερηφανία 156 ὑπέρμαχος 301, 423 ὑπηρετέω 428, 493, 512 ὑπομιμνήσκω 478 ὑπόστασις 422, 424 ὑπόσχεσις 337 φαντάζομαι 185 φαντασία 473 φαρμακεία 470 φάσματα 437

545 φαυλότης 140 φέγγος 205 φειδώ 335 φθάνω 183 φθορά 378 φιλάγαθος 224 φιλανθρωπία 336, 502 φιλάνθρωπος 64, 225 φιλέω 237 φιλότιμος 454 φιλόψυχος 323 φλοιός 359 φλόξ 303 φοβέομαι 480 φρικτῶς 176 φρόνησις 124, 139, 185, 206, 235, 248, 439 φροντίς 394 φυλακίζω 24, 455 φυλάσσω 67, 182, 494 φύσις 349 χαλεπός 128 χαλκοπλάστης 390 χαρά 243 χάρις 120, 126, 250, 450 χερσαῖος 509 χλοηφόρος 497 χρηστός 386 χρηστῶς 231 χρυσουργοί 390 χωνευτήριον 111 χωρέω 226 ψάμμος 204 ψηλάφησις 396 ψυχή 57, 68, 110, 221, 378, 392

546

Register

Bibelstellenverzeichnis (in Auswahl) Genesis 1–3 35, 70, 98 1,1–2 497 1,1 und 2,4LXX 201 1,1 191 1,2 325 1,3–5 514 1,3 71, 222 1,9–10 513 1,9.10LXX 497 1,11–12 513 1,13–14 498 1,14–16 350 1,20 514 1,20.24LXX 495 1,21.25 397 1,24 514 1,26–28 258, 286 1,26–27 100 1,26 97, 361 1,27 220, 397 1,29–30 514 2,4 191 2,7 65, 286, 392–394, 397 2,7LXX 82, 200 2,18LXX 286 3 285, 415 3,6 264 3,13 140 3,14 397 3,19 393 3,22b 100 4,5LXX 287 5,21–24LXX 146 5,24 139 6,1–4 366 6,9 55, 366 9,25 333 11,1–9 289 12,1–3 289 14,2.8 289 15,1LXX 167 15,6 289 17,1 55, 289, 477 17,17 465 19 503 19,1–3 500 19,8LXX 86 19,12–22 291 19,24 289 19,26 290

19,28 289 22 289 27,41–45 292 28,10–22 292 28,10 293 28,16 294 28,21–22 294 29–31 292 30,2 129 30,25 – 31,16 293 30,43 293 31,42 293 32,4–22 293 32,23–32 293 37–50 297 38,26–28.36 296 39,7–12 296 39,9LXX 296 39,14–18 297 39,20 296 39,21–23 296 41,40–44 297 45,13 298 45,17–20 504 45,20 502 47,2–12 504 Exodus 1–15 467 1,8–14 299 1,13 91, 435 1,16–22 464 2,1–10 313, 464 3,14 355, 375 3,14LXX 351 3,18LXX 466 3,21–22 303 4,22 458, 472 5,1 – 6,1 300 5,2 313 5,3LXX 466 6,6LXX 177 7,4–5 324 7,4; 12,2 319 7,5 471 7,5.17 313 7,11 332, 441 7,17–25 313 7,25 – 8,11 403 7,26 – 8,11 496 7,28LXX 496

8,9–10 404 8,12–15 403, 412, 495, 514 8,14; 9,11 471 8,16–28 403 8,16–28LXX 412 8,16–27 412 8,17 319 8,19 453 8,20 319 8,22 342 9,13–35 420, 423 9,20 453 9,24 423 9,24LXX 425 9,34–35 423 10,1–20 412 10,1LXX 407 10,2LXX 342 10,17 412 10,21–23 38, 432, 514 10,23 448, 451 11,2 303 11,2LXX 468 11,4; 12,29 472 11,6 471 11,7–8 452 12,21–23 467 12,23 480 12,23, 481 12,30 471 12,30b 471 12,31–32 457, 488 12,31 490 12,33 488 12,33LXX 490 12,35–36 303 12,35 488 12,36LXX 453 12.42 465 12,43–48 468 13,17 300, 487 13,21–22 300, 303, 458 14 300 14,3–4a 490 14,4 491 14,5–6 490 14,5 488 14,6–9 488 14,14 304 14,17 491 14,19–20 497, 513

547

Bibelstellenverzeichnis (in Auswahl) 14,21–22 513 14,24 503 14,30–31 498 14,30 301 14,30LXX 498 15 301 15,1ff 498 15,1 304 15,5.8 301 15,6 301 15,16 498 15,17 263 15,22 – 17,16 308 15,26LXX 309, 417 16 405, 420, 514 16,4 424 16,13 403, 496, 514 16,14LXX 425 16,21 428 16,23 425 16,31 424, 426 17,1–7 59, 308 17,1–3; 312 20,3–5 345, 399 20,7 384 23,20 265 23,28 333 23,30 333 25,40 266 28,17–21 479 28,36–38 476 28,36 479 30,12 144 31,3LXX 209 32,12 416 33,11 229 33,13LXX 59 34,6–9 389 34,6 386 34,9LXX 386 34,10LXX 494 39,10–14 479 39,30 479 Levitikus 11,41–43 342 26,1 367 26,43 169 Numeri 5,14.30 66 10,34 303 11 405

11,4–6 496 11,4 403 11,6–9 420 11,7 425 11,8 424–426 11,8LXX 422 11,17.25 300 11,31; 403 14,13–16 416 14,14 303 17,6–15 480 17,6–15LXX 477 17,11–12 478 17,11 477 17,11.12 477 17,13 479 17,14 479 20,2–13 308 20,2–5 312 21,6LXX 410 21,8–9 415 21,8.9LXX 410 33,4 471 Deuteronomium 1,7 36 1,17 181 1,33 303, 453 4,16–19 345, 399 4,24 423 5,1 213 5,7–9 345 5,7–8 362 5,11 384 7,20 333 8,2–5 312 8,2–3 430 8,3 36 8,15 308 12,7 208 12,31 337 14,26 208 18,10–11 332 30,12 248, 274 32,24LXX 409 32,33 409 32,39 414, 422 34,10 308 Josua 14,12 333

Richter 6,4 424 1 Samuel 2,6b 414 2 Samuel 7,12–13 262 24,18–25 263 1 Könige 1,11–40 262 3 233, 275 3,4–15 206 3,5–15 35 3,6 260 3,7–9 275 3,7.9.11 259 3,8.9 262 3,9–11.16–28 176 3,9 180, 262, 265 3,12 206 3,13–14 206 3,13 241 5,9 204, 206 5,13 35, 215 8,28LXX 251 8,61LXX 182 9,4 260 17,21LXX 249 2 Könige 2,3.9 146 3,27 338 20,9–11 81 1 Chronik 16,35 285 28,2 263 28,5 262 29,11.14.16 323 29,17–19LXX 55 29,17 53 2 Chronik 1 275 1,2–12 206 1,7–12 35 1,10–11 262 1,11–12 206, 241 3,1 263 9,1 236

548 Tobit 1,3 158 1,4 263 3,4BA 157 12,7 263 12,19 424 13,2 414, 422 Judit 5,12 412 Ester 4,17l.t (= C14.25) 286 8,12n (= E 13) 477 1 Makkabäer 2,37 55 4,30 411 2 Makkabäer 6,14 489 7,25 408 8,13 53 3 Makkabäer 3,3–4 33 6,2 368 6,3 33, 368 7,11 33 7,16 411 4 Makkabäer 1,5 443 2,15 439 2,24 443 5,22 313 7,9 368 7,11 481 9,2 408 18,23 118 Hiob 1,1 55 1,8; 2,3 477 4,16LXX 457 5,8LXX 178 7,9 84 9,6 148 9,12bLXX 333 9,19b 333 9,25 162 9,26LXX 162 10,10 202

Register 10,20LXX 82 14,2 162 17,15 117 18,9–11.14.18 437 20,8A 444 21,17–18 171 27,10LXX 154 28,15–19 205 28,27 191 29,9–10.21–24 241 29,9 243 29,10–11LXX 457 33,23–25 78 42,12LXX 91 Psalmen Nummerierung nach der LXX, MT-Nummerierung in Klammern. Hochgestelltes LXX oder MT verweist auf Unterschiede der Fassungen. 1,3 129 2 35 2,4 143 2,10 183 2,10LXX 53, 176 5,6 332 6,3 259 8,2–3 305 8,7–9 258 9,30LXX 92 13[14MT],6 117 15,5LXX 87 17[18MT],6 436 17[18MT],8 148 17[18MT],26 179 21[22MT] 103 21[22MT],9 95 22[23MT] 35 23,4LXX 380 26[27MT],11 293 31[32MT],10 340 33,20LXX 152 34,12LXX 134 41,11LXX 161 41[42MT],12 161 42[43MT],3 453 44,8LXX 53 46[47MT],4 242 48[49MT],8–10 78 48[49MT],16 116

50[51MT],19 119 56[57MT],7 373 56[57MT],9 429 75[76MT],8 321 75[76MT],9–10 472 76[77MT],15–21 503 76[77MT],20 365 77,25LXX 424 77[78MT],11 413 77[78MT],19.20 424 77[78MT],46–48 423 78,25MT 424 92,1LXX 164 94,9LXX 59 100,5LXX 67 101[102MT],4 170 102[103MT],5 221 103,30LXX 65 103[104MT],1 164 103[104MT],28–30 327 103[104MT],30 221 104,31LXX 412 104[105MT],39 497 104[105MT],40 403, 424, 496 105,30LXX 481 105,40MT 430 105[106MT],7–9 365 105[106MT],14 403 105[106MT],28 360 106,20LXX 417 106[107MT],10.14 436 106[107MT],20 409 113,1–16[114,1–115,8MT] 36 113,12–15[115,4–7MT] 396 f. 113,12–16[115,4–8MT] 345 113,15[115,7MT] 362 113,24[115,16MT] 274 113[114MT],4.6 498 115,7[116,16MT] 259 118,29–30LXX 158 118[119MT],34–35 265 118[119MT],105 460 126[127MT],3 129 127[128MT] 128 132,2LXX 476 138,5LXX 239 138,7LXX 65 139,13MT 202 145[146MT],4 418 148,8 425

Bibelstellenverzeichnis (in Auswahl) Sprichwörter 1,2aLXX 60 1,3 236 1,7 122, 295 1,21LXX 188 1,23 64 3,11–12 340 3,12 91 3,13–15 205 6,23LXX 415, 460 7,18LXX 86 8,2LXX 185 8,3LXX 188 8,4 213 8,10–11 206 8,13–21 205 8,15–16 54 8,15 369 8,16LXX 176 8,17 237 8,17LXX 187 8,22–31 267 8,22–30 35, 228 8,22–25 222 8,27LXX 267 8,30 216, 239 8,30LXX 267 8,34LXX 185 8,36LXX 81 11,30LXX 131 13,5LXX 154 15,1LXX 287 21,16LXX 158 22,2 178 26,27LXX 324 29,6LXX 245 30,3LXX 294 30,4 274 30,19 163 Kohelet 1,12 – 2,26 54 2,26; 5,19; 8,15; 9,7 5,18 208 7,26 245 8,15 208 9,1 214 9,7–9 87 10,8 324 12,7 393 Hoheslied 6,10 222

87

Weisheit 1,1–11 50 1,1–5 51 1,1 35, 41 1,3 319 1,3a 409 1,5 489 1,6–10 51 1,6 41 1,10–11 35 1,11–12 51 1,12 489, 491 1,(12).13–15 50 1,13–15 35, 51, 167, 399, 423, 515 1,13–14 411, 419 1,13 466, 490 1,14 310, 443 1,15 58, 367 2,1–20 35, 515 2,1–6 42 2,1–5 160 2,1b-20 50 2,1 419 2,1c 412 2,1d 418 2,2d 392 2,6 205 2,8 184 2,9 87 2,10 178, 435, 505 2,11 177, 258 f., 334 2,12–20 262 2,12 45, 435 2,14 447 2,15 158 2,16 159, 365, 439, 451 2,18a 336 2,19 335 2,20 158 2,21–24 50 2,21 158, 319, 437 2,22 189 2,23–24 35 2,23 35, 456, 510 2,24 73, 323 2,24a 45 3–4 35, 50 3,1 116 3,2–3 116 3,2 73 3,3 376

549 3,4–5 309, 403 3,4 117, 242 3,5–6 119 3,7 119 3,9 120, 158 3,13 378 3,15 134 4,7–17 42 4,12 404 4,14 477 5 50 5,2 473, 489 5,5 179, 470 5,7 308, 466 5,8 439 5,14b 429 5,16–23 32 5,16 494 5,17–23 38, 473 5,17–20 35, 423, 479, 515 5,17 308 6,1–21 41 6,1–11 50 6,3 32 6,7a.b 36 6,12–21 50 6,12 159 6,12a 86 6,14 424 6,19 45 6,21 54 6,22–25 28, 50 6,22 210 7–9 35 7,5 191 7,15 44 7,22b-24 41 7,25–26 41, 45 7,26 516 7,27 46, 516 7,29–30 22, 447 7,29 184, 304 8,1 41, 335 8,3 178, 510 8,6 439 8,7 58, 135 8,19–20 41 9 29, 35 9,1 472 9,6 147 9,7 208 9,7b 336

550 9,9–10 369 9,15 41, 46 9,17–18 45 9,17 46, 58, 415 10,4 366, 369 10,5 38, 477 10,6–7 503 10,6 494 10,7 366 10,9 480 10,14 479 10,16 480 10,17 453, 457, 488 10,20 279 11,4–14 44 11,5 403 11,13 309 11,14 464 11,15–16 311, 403, 440 11,15 58 11,17 71, 392 11,20–21 45 11,20 169 11,24 53 12,4 41, 471 12,9 472 12,15 474 12,23–27 440 12,27 501 13,1–9 41, 43 f., 399 13,13 35 13,16 203 14,1–10 288 14,11–31 399 14,15–17 31 14,16–22 32 14,16b-21 41 14,17–20 201 14,22 32 14,23 437 14,26 489 14,30 54 15,1 322 15,6 238 15,8.11 35 15,11 249 15,14 342 15,18 489 16,1–4 496 16,1–2 309 16,2 425 16,4–14 44

Register 16,6 309 16,6.11 489, 495 16,10 478 16,11–12 478 16,11 478 16,12 472 16,14 81 16,15–28 44 16,17 168, 301, 478 f., 490, 511 16,17a.22c-23 511 16,22a 509 16,24–25 512 16,24 167, 309, 493 16,26 36, 74 16,28 452 17 45 17,1 – 18,4 41, 44 f., 303 17,1 24 17,1b 70 17,2 91, 365 17,3 290, 473 17,4 24 17,7–10 332 17,7 24, 342 17,11 144 17,15 203, 474 17,20–21 22 17,20 45, 451 18,1–4 38 18,3 473, 497, 501 18,3b 300 18,4 24, 41, 43, 45, 159, 470, 503 18,5–25 44 f. 18,7 502 18,8 510 18,11 501 18,13 70 18,14–16 478 18,15 168 18,19 501 18,24 170 18,25 487 18,12b-c 488 19,6–12 35 19,6–9 304 19,6 496, 512 19,7a 513 19,7b 513 19,7cd 513 19,9 279

19,10 513 19,11 74, 514 19,13–17 32–34, 291, 514 19,18–21 514 19,18 496, 512 19,21 424, 514 19,21c 429 19,22 293, 468, 489 Sirach 1,2–3.6 274 1,3–4 191 1,11 87 1,12 245 2,1–6 119 2,6 95 4,12 87 4,14 477 6,28 245 9,8 238 14,20 – 15,6 233 15,2 184 15,11–17 70 16,1–3 128 16,3 134 16,11–12 62 16,11 171, 334 16,20 270 18,13 322 21,2 68 23,1.4 92, 368 24 35 24,3 219, 497 24,4 264 24,10 263, 477 24,28 191 30,16 245 40,5–7 444, 475 44–50 36 44,16 140, 146 44,17 366 45,6–22 480 45,6–12 479 45,15 477 45,17A 460 48,23 81 51,14–15 238 Jesaja 1,31 120 3,10LXX 92 4,6 303 5,18LXX 69

551

Bibelstellenverzeichnis (in Auswahl) 6,10LXX 411 11,2 206 13 171 13,8 154 14 151 14,10LXX 158 14,16 157 14,18–22LXX 148 14,22 148 22,13 86 25,9LXX 87 27,1LXX 410 28,2 171 28,15LXX 81 28,24 263 29,5 169 30,30 171 33,6 295 35,6 305 40,3 293 40,12–15 322 40,12LXX 326 40,15 321 40,28LXX 265, 422 41,8MT 229 42,8 375 43,2 171 43,6 266 43,7; 45,7 322 43,16 365 44,6 412 44,6.8 334 44,7LXX 101 44,9–20 36, 345, 362 44,9 351 44,13–17 360 44,13 361 44,20LXX 392 44,23LXX 468 48,22LXX 130 49,26LXX 313 51,16 494 52,13–14 154 52,15 154 53 35, 103 53,2–3.8.12 96 53,3 158 53,4LXX 110 53,6 162 54,1–8 128 54,16–17 35 54,16LXX 101

55,3LXX 182 56,2MT 124 56,3–5 129 56,3 129 57,1–2LXX 147 57,2, 145 57,3LXX 127 57,21LXX 130 59,9–14 162 59,16–17 35, 167 59,17 164, 170 59,20LXX 412 60,1–3LXX 448 61,7.10LXX 87 61,8LXX 53 62,3 170 63,10–14 59 63,11–14 302 63,13–14 498 63,13LXX 492, 497 63,14LXX 497 66,4 342 Jeremia 2,31 148 4,17LXX 122 6,10 161 6,14 383 7,16 – 8,3 345 7,23 386 10,15 372 12,10 159 17,14 412 17,14LXX 82 20,7 161 23,24LXX 65 29,13–14MT 184 38[31MT],18b 336 38[31MT],33–34 275 Epistula Jeremiae [Bar 6,]57 361 [Bar 6,]58 361 [Bar 6],26.70 360 Baruch 3,29 274 4,4 272 4,29 87 Ezechiel 14,13 182 18,32 72

36,26–29 275 37,27 263 Daniel 3,24Th 509 4,37LXX 237 6,27(28)LXX 367 7 35, 103 12 35 12,3Th 119 BelDr 345 Hosea 4,1–2 383 4,2LXX 372 11,2 428 13,14LXX 80 14,10LXX 92 Amos 8,7LXX

83

Jona 1,5 364 4,11 323 Nahum 1,6 321 Habakuk 1,4 91 3,11 171 Sacharja 9,14 171 Maleachi 1,2 428 3,20 162 3,20LXX 498 Matthäus 13,43 119 27,43 95 Markus 7,14 176 Lukas 12,20 392 12,47–48 178 16,19–31 153 17,31–32 291

552

Register

Johannes 2,1–11 44 4,43–54 44 5,1–9a 44 6 44, 431 8,12 45 9 45 11 45 15,14–15 229 17,3 387 Apostelgeschichte 11,23 111 13,17 498 17,27 354 17,30 326 Römer 1,18–23 1,19–20

44, 373 357

1,26–31 384 8,30 468 1 Korinther 10,1–6 431 10,1–4 44 2 Korinther 3,18; 4,4; 229

1 Timotheus 4,10 411 Hebräer 1,3 229 8,1–2 266 9,11–14.24 266 11,5 146

Galater 4,4 278 4,6 278

Jakobus 5,20 69

Kolosser 1,15 229

1 Petrus 1,4 133

1 Thessalonicher 5,1–11 44 5,3 176

553

Außerbiblische Quellen (in Auswahl)

Außerbiblische Quellen (in Auswahl) 1 Clem 3,4 45 1 Clem 27,5 45 1 Henoch 1–5 37 8,3 215 62–63 103 91–105 37 98,4 70 98,5 128 102,6–11 76 103,8 448 104,2 37 108 37 Abôt 3,21–22 459 Aischylos Cho. 751–760 203 Suppl. 576 224 Anakreon, frg. 48,6 Bergk 271 Anth. Pal. IX,258,3 310 Anth. Pal. X,72 395 Apollonios von Rhodos, Arg. 2,733.741 448 Apuleius Met. XI,2 276 Met. XI,5 215, 276 Met. XI,5–6 268 Met. XI,12 268 Met. XI,15 383 Aretalogie von Andros, 139 261 Aretalogie von Andros, 152–154 368 Aretalogie von Kyme, 15 368 Aretalogie von Kyrene 12 216 Aristeasbrief 20 295 Aristeasbrief 98 479 Aristeasbrief 138 398 Aristeasbrief 201 367 Aristeasbrief 208 339 Aristeasbrief 211. 262–263 160 Aristeasbrief 224 181 Aristeasbrief 254 388 Aristoteles Eth. Nicom. 1099b9 207 Eth. Nicom. 1177b30 227 Gen. an. 729a11 202 Gen. an. 739a32–33 202 Metaph. 980a21 350 Athenaios, Deipnosophistai V, 25–35 372 Augustinus Mor. eccl. I, 17–32 186 Trinit. IV, 20, 27 46

Barnabasbrief 7,9 157 BYoma 76a 430 Cicero Fin. III, 76 207 Nat. d. II, 6,16–17 356 Nat. d. II, 90 354 Clemens Alexandrinus Strom. 5,108,2 45 Strom. 6,92,3 45 Clemens Romanus (Kor. 61,2) 260 Dtn. Rab. 7 zu Dtn 29,1 459 Epicharmos, ap. Xen, mem. 2,1,20 251 Epiktet, Diatr. 2,2,15–20 91 Euripides Andr. 228 322 Bacc. 497 446 Bacc. 549 446 Bacc. 1094 372 Phoen. 647. 653 497 Ex. R. 20,3 487 Ezechiel Tragicus, Exag. 187 470 Flavius Josephus Ant. 1,194 503 Ant. 2,268 267 Ant. 3,159–161 476 Ant. 3,178 479 Ant. 3,299 403 Ant. 8,117 504 Ant. 10,278 78 Ant. 15,194 454 Apion. 1,224 398 Apion. 1,239 398 Apion. 2,42 503 Apion. 2,65 33, 506 Bell. 7,44 502 Flacc. 53 503 Fragmentum Muratori 46 Herodot Hist. 1,119 338 Hist. 2,172 393 Hesiod Op. 218 342 Theogonia, 119 436 Hieronymus Ad Paul. 58,1 145 Praef. in libros Sal. 46 Homer Il. 3,179 244 Il. 4,124–125 165 Il. 4,443 475

554 Il. 11,305–308 170 Il. 17,32; 20,198 342 Il. 22,225 65 Od. 5,33 368 Horaz Carm. 3,24,31 135 Sat. 1,8,1–3 362 Sat. 1,8,1–4 393 Irenäus von Lyon, Adv. Haer. 4,38.3 45 Isidoros Hymnus I, 29 448 Hymnus I, 29–34 267 Hymnus I, 32–34 369 Hymnus I, 35–36 276 Hymnus II, 5–6 268 Hymnus III, 2–6 251 Hymnus III, 6 240 Hymnus III, 19–28 268 Jubiläenbuch 11,3–6 381 Juvenal Sat. 12,57–59 368 Sat. 14,204–205 395 Kleanthes, Zeus-Hymnus, 30 368 Lukrez Rer. Nat. III, 232–233 83 Rer. Nat. III, 971 393 Rer. Nat. III, 2023 443 Rer. Nat. V, 222–227 203 Rer. Nat. V, 419–431 78 Mekilta Besh. 1,1–3 487 Mekilta Besh. 3,128–136 498 Mekilta zu Ex 16,23 426 Melito von Sardes, Peri Pascha 22–23 45 Menander, frg. 425 144 Menippos 11 448 Midrasch Ex. R. zu Ex 14,16 497 Midrasch Ex. R. zu Ex 15,1 305 OGIS 168,6 352 Or. Sib. 2,188 448 Or. Sib. 3,36–43.763–765; 4,31–34 384 Origenes Comm. Jo. 13,25 45 Princ. 4,4,6 46 Pap. Oxyr. XI, 1380, 19.31 245 Pap. Oxyr. XI, 1380, 43 369 Pap. Oxyr. XI, 1380, 69 369 Pap. Oxyr. XI, 1380, 109 229 Pap. Oxyr. XI, 1380, 111 238 Pap. Oxyr. XI, 1380, 248 448 Pap. Oxyr. XI, 1380, 248f 230 Pesikta de-Rab Kahana 7,5 474 Pesikta de-Rab Kahana 7,12 448

Register Pesikta Rabbati 17,7 448 PGM IV, 2448 445 PGM IV, 2858 447 Philodemos, de pietate, 15 Philon Abr. 14 117 Abr. 137 339 Abr. 208 97 Conf. 98 367 Congr. 40 435 Congr. 57 437 Congr. 136 497 Decal. 52–54 344 Decal. 66 354 Decal. 69 342 Decal. 76 398 Det. 47–48 287 Det. 122 70 Det. 199 444 Deus 48 423 Deus 73 220 Deus 80 430 Ebr. 88 213 Ebr. 160 444 Ebr. 199 367 Ebr. 223–224 440 Flacc. 172 458 Fug. 55 73 Fug. 65–66 430 Fug. 84 64 Fug. 101 220 Gig. 54 238 Her. 45 436 Ios. 107 475 Ios. 211 442 Leg. I, 38 354 Leg. I, 76 478 Leg. I, 105–106 73 Leg. II, 86 309 Leg. III, 27 52 Leg. III, 79 176 Leg. III, 97–99 355 Leg. III, 115 405 Legat. 211 313 Migr. 83–85 471 Migr. 206 435 Mos. I, 20 425 Mos. I, 102 342 Mos. I, 103 509 Mos. I, 109–110 325 Mos. I, 118 438 Mos. I, 118–119 423

422

555

Außerbiblische Quellen (in Auswahl) Mos. I, 130 412 Mos. I, 139 488 Mos. I, 143 426, 513 Mos. I, 178 453 Mos. I, 200–209 428 Mos. I, 201 426, 429 Mos. I, 209 403, 405 Mos. I, 303 452 Mos. II, 1 454 Mos. II, 114–132 479 Mos. II, 117–135 481 Mos. II, 124–126 481 Mut. 18–19 323 Mut. 126 230 Mut. 129 430 Mut. 163 444 Opif. 25 497 Opif. 151 287 Opif. 164 85 Opif. 169 200 Praem. 42 354 Praem. 43 350 Prob. 13 192 QG 2,64 429 Sacr. 35 251 Sacr. 70 417 Sacr. 131.133 430 Sobr. 57 252 Somn. I, 75 220 Somn. I, 91 65 Somn. I, 151 436 Somn. II, 192–194 326 Somn. II, 280 301 Spec. I, 297 429 Spec. I, 308 322 Spec. I, 319 332 Spec. I, 319–323 438 Spec. I, 319–325 191 Spec. I, 328 325 Spec. I, 345 234 Spec. II, 167 339 Spec. III, 113 86 Spec. IV, 126–130 405 Spec. IV, 128 403 Spec. IV, 187 327 Spec. IV, 235 214 Virt. 182 122 Pindar, Pyth. 8,133 84 Platon Euthyd. 281d-e 207 Gorg. 451e 207 Gorg. 483bcd 92

Gorg. 507ab 97 Gorg. 513ab 90 Leg. 649d 165 Leg. 697b 207 Leg. 757b 3–4 325 Phaidon 64a 117 Phaidon 70a 83 Phaidon 73a 118 Phaidon 81b-c 273 Phaidon 85d 368 Phaidon 99d 369 Phaidon 115a 116 Phaidros 230b 448 Phaidros 247a 191 Phaidros 247b 273 Phaidros 248ab 437 Phaidros 250b 438 Phaidros 250b3 205 Phileb. 36ab 313 Phileb. 55e 325 Polit. 272e 367 Prot. 358d 445 Resp. 358a 239 Resp. 361e-362a 96 Resp. 391c 156 Resp. 602 325 Symp. 209b 244, 252 Theaet. 152c; 160d 212 Tim. 27a 73 Tim. 30c 365 Tim. 32c 209 Tim. 34b 230 Tim. 37e-38e 214 Tim. 42e 367 Tim. 46d 238 Tim. 63b 322 Plautus, Bacch. IV,7,18 144 Plutarch Cons. Apoll. 17 = 111AB 145 Cons. Apoll. 103c-e 202 Cons. Apoll. 115c11 203 Cupid. divit. 2 405 De anima, frg. 178 437 E Delph. 388F 97 Is. Os. 51 228 Is. Os. 358E 97 Superst. = Mor. 164E-167A 445 Tranq. An. 20 = Mor. 477C-F 448 Polybios Hist. 18,43,13 441 Psal. Sal. 16,3 450 Psal. Sal. 17,26–27 459

556 Ps-Aristoteles De mundo 399a 18 339 De mundo 399b 19ff 357 PsPhilon, Ant. Bibl. 10,3 498 Qumran CD XII,23-XIII,1 480 1QH XIV, 32–39 38, 120 1QM 17,8 459 1QS IV,6–8 135, 170 1QS IV,9–12 384 1QS IX,11 480 4Q185 1–2i14–15 38 4Q418 69 ii 4–15 38 4Q521 5ii7 38 Seneca Ep. 77,20 145 Ep. 87,24 447 Nat. 2,35,2 275 Shem. Rab. zu Ex 16,4 426 Sifrè Num. 89 431 Simonides, Anth. Pal. X,105 336 Sophokles El. 528.529 380 Phil. 1417ff 132 Stobaios 2,90,7–8 405 Strabon, Geogr. XVI, 2,35 398 Sueton Aug. 99,1 394 Tib. 69 276 Vesp. 23,5 395 SVF I, 125 frg. 549 422 SVF I, 129 frg. 567 182 SVF II, 22 frg. 55 445 SVF II, 30 frg. 95 225 SVF II, 89 frg. 269 356 SVF II, 135 frg. 411 352 SVF II, 137 frg. 416 230 SVF II, 153 frg. 471 226 SVF II, 154 frg. 473 228 SVF II, 158 frg. 480 230 SVF II, 169 frg. 528 389 SVF II, 301 frg. 1011 356

Register SVF II, 304 frg. 1018 239 SVF II, 305 frg. 1021 228 SVF II, 306 frg. 1027 228 SVF II, 327 frg. 1129 338 SVF III, 40 frg. 169 365 SVF III, 52 frg. 223 182 SVF III, 67 frg. 273 253 SVF III, 98 frg. 407 445 SVF III, 105 frg. 431 245 SVF III, 105 frg. 432 245 SVF III, 106 frg. 434 245 Tacitus Agric. 30 383 Hist. 5,4 302 Hist. 5,5,1 339 Tbab Yoma 75a 426 Test. Levi 13,1 55 Test. Levi 14,3–4 460 Test. Rub. 2,5 396 Test. Rub. 4,1 55 Test. Rub. 4,3 442 Tg. N. zu Dtn 8,3 430 Tg. N. zu Ex 14,24 503 Tg. N. zu Ex 15,26 417 Tg. N. zu Num 17,11.12 481 Tg. N. zu Num 17,13 481 Tg. Ps.-J. zu Ex 10,23 448 Tg. Ps.-J. zu Ex 12,32 457 Tg. Ps.-J. zu Ex 14,9 490 Tg. Ps.-J. zu Ex 15,9 497 Tg. Ps.-J. zu Gen 3,22 286 Tg. Ps.-J. zu Num 21,8 415 TgFrg (Langfassung) 305 Theokritos, Thyrsis 1–8 448 Theophrast Char. 23,1 156, 439 Vergil, Aen. 4,177 475 Xenophon Hier. 2,15 177 Mem. 1,4,13 313 Mem. 3,11,3 135

Editionsplan Genesis I (1–11): David Carr II–III (12–50): Konrad Schmid Exodus I–II: Helmut Utzschneider / Wolfgang Oswald Levitikus Baruch Schwartz / Naphtali Meshel Numeri I–II: NN

Tobit Beate Ego Judit Barbara Schmitz Ester Jean-Daniel Macchi Hiob Melanie Köhlmoos Psalmen I–III: NN

Deuteronomium I–II: Jeffrey Stackert / Joel S. Baden

Sprüche I–II: Jutta Krispenz

Josua I–II: Michaël van der Meer / Cor de Vos

Kohelet Katharine Dell / Tova Forti

Richter Andreas Scherer

Das Hohelied Martien A. Halvorson-Taylor

Rut Shimon Gesundheit

Weisheit Luca Mazzinghi

1./2. Samuel I (1. Sam 1–15): Regine HunzikerRodewald II (1. Sam 16–2. Sam 5): Johannes Klein III (2. Sam 6–24): Thomas Naumann

Sirach NN

1./2. Könige I (1 Kön 1–15): NN II (1 Kön 16–2 Kön 16): Steven McKenzie III (2 Kön 17–25): Suichi Hasegawa

Jesaja I–III: NN Jeremia I (1–25): Christl M. Maier II (26–52): Carolyn J. Sharp Baruch Maria Häusl

1./2. Chronik I–II: Ehud Ben Zvi

Klagelieder Andreas Michel

Esra / Nehemia I–II: NN

Ezechiel Michael Konkel

558 Daniel Devorah Dimant Hosea Eberhard Bons Joel/Obadja Anselm Hagedorn Amos Rainer Kessler Jona Irmtraud Fischer Micha Burkard M. Zapff

Editionsplan

Nahum / Habakuk / Zefanja Walter Dietrich Haggai/Sacharja I Jakob Wöhrle Sacharja II Paul L. Redditt Maleachi Aaron Schart 1. Makkabäer Dov Gera / Jan Willem van Henten 2. Makkabäer Johannes Schnocks Esra LXX Dieter Böhler