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German Pages 398 Year 2017
Laura Schmidt Weihnachtliches Theater
Theater | Band 97
Laura Schmidt (Dr. phil.), geb. in Hamburg, ist Absolventin der Bayerischen Theaterakademie und Musiktheaterdramaturgin. Nach Stationen in Berlin, Wien, Bremen und Klagenfurt arbeitet sie am Luzerner Theater unter der Leitung von Benedikt von Peter.
Laura Schmidt
Weihnachtliches Theater Zur Entstehung und Geschichte einer bürgerlichen Fest- und Theaterkultur
Drucklegung mit freundlicher Förderung durch Studienstiftung Niessen. Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2016 Referent: Prof. Dr. Christopher Balme Koreferent: Prof. Dr. David Roesner Tag der mündlichen Prüfung: 18.07.2016
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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„Weihnachten, Weihnachten, es wird mir ganz weich zumute! Wenn ich jetzt einen Franzosen unter den Händen hätte, ich glaube, ich schlüge ganz sanft zu!“
Roderich Benedix Weihnachten im Felde (1871)
Dank
Die vorliegende Arbeit ist im März 2016 als Dissertation an der LudwigMaximilians-Universität München eingereicht worden. Ohne die Unterstützung vieler Menschen und Institutionen wäre sie nicht zustande gekommen. Herzlich danke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Christopher Balme, der mich als Studentin und Doktorandin über so viele Jahre voller Geduld begleitet, mir den Spaß an der Wissenschaft vermittelt und immer wieder Freiraum für das Abtauchen in die Theaterwelt gegeben hat. Ich danke auch der Studienstiftung des Deutschen Volkes, Prof. Klaus Zehelein, der zum Wegbereiter vieler prägender Jahre an der Bayerischen Theaterakademie wurde, Prof. Dr. David Roesner, meinem Zweitkorrektor, sowie Prof. Dr. Hartmut Schick. Mein Dank geht außerdem an viele Menschen, die mir in den letzten Jahren am Theater wichtige Impulse gegeben, mich inspiriert und ermutigt und mir das Gefühl von Geborgenheit gegeben haben. Mein Dank für das gemeinsame Nachdenken, das gemeinsame Lachen und Träumen über das Theater und die Musik gilt hier Malte Ubenauf, Marco Štorman, Sylvia Brandl, Florian Scholz, Reini Strobl, Benedikt von Peter, Michael Höppner, Tancredi Gusman, Massimo Zanetti, Ingo Gerlach und Yvonne Gebauer. Danken möchte ich auch meinen Freundinnen und Freunden in Berlin, München, Luzern und Italien, ohne die ein Leben nicht vorstellbar ist: Nina Priester, Alicia Becker, Matthias Böttger, Michi Kern, Dörte Wolter, Manuela Genghi, Anna Vogt, Samira Aly, Dorothea Barck, Philipp Götting und Judith Siepmann. Mein Dank geht natürlich auch an meine Familie, meine Mutter, Jan, Jochen, Ulla, Lenchen und Ulrike Schultz für all die jahrelange Unterstützung. Und Nick: Der, erfüllt von Gelassenheit, mich immer wieder daran erinnert hat, wie groß die Welt eigentlich ist.
In memoriam meinem Vater Bernd Schneider, der viel zu früh gehen musste.
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung: Weihnachtstheater | 11
2.
Das Weihnachtsfest im späten 18. und 19. Jahrhundert | 19
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9
Heiligabend als cultural performance | 21 Das Wohnzimmer als Bühne | 25 Zeit | 27 Dramaturgie | 28 Eltern | 29 Kinder | 31 Geschlechterbilder | 33 Gabenbringer | 35 Musikalische Gestaltung | 39
3.
Weihnachtliches Theater im 18. und frühen 19. Jahrhundert | 41
3.1 Weihnachtsspiele im 18. Jahrhundert | 44 3.1.1 Preußen, Sachsen und Zellerfelde | 46 3.1.2 Bayern | 50 3.1.3 Österreich | 52 3.1.4 Württemberg | 53 3.2 Frühe Weihnachtsdramatik | 54 3.2.1 Kennzeichen früher bürgerlicher Weihnachtsdramatik | 56 3.2.2 Aufführungskontexte früher Weihnachtsdramatik | 60 3.2.3 Wirkungsmechanismen früher Weihnachtsdramatik | 61 3.3 Weihnachtliche Kinderschauspiele | 63 3.3.1 Exkurs: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit | 64 3.3.2 Zwei Weihnachtsspiele Christian Felix Weißes | 68 3.3.3 Das Weihnachtsgeschenk | 69 3.3.4 Versprechen muss man halten | 72 3.3.5 Die Darstellung Weihnachtens auf textlicher Ebene | 76 3.3.6 Zur Aufführungspraxis | 78 3.3.7 Kinderschauspiele als theatrales Regulativ | 81 3.4 Gezielte Spielplangestaltung in Wien | 83 3.5 Friedrich Hagemanns Weihnachtsabend | 87 3.5.1 Weihnachten als bürgerliche kulturelle Praxis | 90 3.5.2 Gestaltung der Feier | 92 3.5.3 Kollektives Wissen | 93 3.5.4 Ein konnektives Ritual | 95 3.6 Weihnachtsausstellungen | 97
3.6.1 Julius von Voß’ Die Weihnachtsausstellung | 101 3.7 Musiktheater: Der Weihnachtsabend | 103 3.7.1 Lortzings Darstellung des Bescherfests | 105 3.7.2 Parodistische Verfahren auf textlicher Ebene | 107 3.7.3 Parodistische Verfahren auf musikalischer Ebene | 108 3.8 Volksweihnachten: Ein Traum in der Christnacht | 112 3.9 Erfolgsschlager: Weihnachten | 114 Phantastische Weihnachten | 117 3.9.1 4.
Weihnachtsmärchen | 123
4.1 Professionalisiertes Kindertheater | 126 4.2 Etablierung der Weihnachtsmärchen | 130 4.3 Görners Weihnachtsstücke für Kinder | 136 4.3.1 Musik | 138 4.3.2 Dramaturgische Besonderheiten | 139 4.3.3 Bilddramaturgie | 143 4.3.4 Aufführungspraxis | 149 4.4 Zur Erfolgsstrategie der Weihnachtsmärchen | 152 4.5 Zur Kritik am Weihnachtsmärchen | 156 5.
Die Wiederentdeckung volkssprachlicher Weihnachtsspiele | 161
5.1 Editionen alter Spiele | 163 5.1.1 Weihnachtsspiele als Volkserbe: Konstruktion von Volkskultur | 168 5.1.2 Die Spiele und Regionales | 172 5.1.3 Die Spiele und Religion | 173 5.1.4 Die Spiele und das Fest | 174 5.1.5 Erhalt und Praxis | 176 5.2 Praktische Umsetzungen | 177 5.2.1 Richard von Kralik | 183 5.2.2 Friedrich Vogt | 185 5.3 Otto Falckenberg | 187 5.3.1 Die Textebene | 187 5.3.2 Musikalische Gestaltung | 190 5.3.3 Figuren | 193 5.3.4 Dramaturgische Veränderungen | 197 5.3.5 Die Uraufführung von Ein deutsches Weihnachtsspiel | 200 5.4 Georg Fuchs und Thomas Mann | 210 5.4.1 Georg Fuchs | 210 5.4.2 Thomas Mann | 213 5.5 Ein deutsches Weihnachtsspiel auf den Bühnen | 214 5.6 Das Wunder | 218
5.7 Die Oberuferer Spiele | 226 5.7.1 Die Oberuferer Spiele und Rudolf Steiner | 230 5.7.2 Steiners Aufführungspraxis | 233 5.7.3 Mögliche Funktionen der Spiele | 236 5.7.4 Die Aufführungspraxis nach Steiner | 240 5.8 Die Laienspielbewegung und Weihnachtsspiele | 242 6.
Weitere Entwicklungen des Weihnachtstheaters im Kaiserreich | 249
6.1 Die deutsche Sozialdemokratie und Weihnachten | 250 6.1.1 Weihnachtstheater der Arbeitervereine | 252 6.1.2 Friede auf Erden | 257 6.1.3 Exkurs: Proletarier-Weihnachten | 268 6.2 Erster Weltkrieg: „Der Völker Weihnachtsvolk“ | 270 6.2.1 Kriegstheater | 275 6.2.2 Weihnachtliches Kriegstheater an den Theatern | 277 6.2.3 Weihnachtliches Kriegstheater außerhalb der Theater | 281 6.2.4 Funktionsmechanismen weihnachtlicher Kriegsdramatik | 286 6.2.5 Deutscher Frauen Kriegs-Weihnacht | 294 7.
Weihnachtstheater in der Weimarer Republik | 303
7.1 Weihnachtstheater in den Theatern | 306 7.2 Weihnachtstheater außerhalb der Theater | 309 7.2.1 Sonnenwend-Spiele | 314 7.2.2 Soziale lebende Bilder | 321 7.2.3 Spiele für Kinder | 324 7.2.4 Neue soziale Weihnachts-Bühne | 327 8.
Weihnachtstheater im Dritten Reich | 335
8.1 Das Südender Weihnachtsspiel | 344 8.2 Weihnachtsfeier im Sportpalast 1933 | 348 9.
Resümee | 355
Literaturverzeichnis | 363
Quellen, Literatur und Periodika bis 1945 | 363 Literatur nach 1945 | 383
1. Einleitung: Weihnachtstheater
„Inzwischen haben die abendlichen Feiern im Hause meines Onkels eine fast professionelle Starre angenommen: Man versammelt sich unter dem Baum oder um den Baum herum. Meine Tante kommt herein, man entzündet die Kerzen.“ 1 Anders als in Heinrich Bölls Erzählung Nicht nur zur Weihnachtszeit wird zwar in Deutschland nicht täglich, aber jährlich Heiligabend gefeiert und in den meisten Familien auf eine ähnliche Weise begangen. Sogar Menschen, die sich stark vom kirchlich institutionalisierten Christentum distanziert haben, nehmen den 24. Dezember nach wie vor zum Anlass, eine Feier auszurichten. Doch etabliert sich Weihnachten erst im ausgehenden 18. Jahrhundert als Familienfest. Im Zuge einer Verbürgerlichung der Gesellschaft erfährt vor allem Heiligabend eine starke Normierung, entwickelt sich zunehmend zu einem im privaten Kreis begangenen säkularen Bescherfest für Kinder. Im Rahmen eines radikalen Paradigmenwechsels wandert das ursprünglich vorrangig kirchliche Fest in die bürgerlichen Wohnzimmer. Das moderne Verständnis der weihnachtlichen Festpraxis ist zugleich Ausdruck einer zur Leitkultur werdenden Bürgerkultur. Zeitgleich beginnt sich auch das Theater zu einem Leitmedium bürgerlicher Kultur zu entwickeln. Ab den 1770er Jahren kommt es, unter anderem dank der Bemühungen von Johann Christoph Gottsched und Gotthold Ephraim Lessing, innerhalb des deutschsprachigen Theaters zu einem grundlegenden strukturellen Wandel, dessen markantestes Zeichen die große Zahl an Theaterneugründungen in vielen deutschen Städten ist. Die umfassende Professionalisierung des Theaters betrifft Autoren wie Darsteller und Produzenten gleichermaßen. Nach der Gewerbefreiheit 1869 setzt ein regelrechter Theaterboom ein. Ziel dieser Arbeit ist es, diese beiden für die deutsche Kultur fundamentalen Entwicklungslinien zusammenzuführen und zu untersuchen, inwiefern und auf
1
Böll, Heinrich: „Nicht nur zur Weihnachtszeit“, in: Ders.: Nicht nur zur Weihnachtszeit. Erzählungen. München 1995 (1952), 5. Auflage, S. 47-75 (S. 63).
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welche Art das Theater in Deutschland auf eine sich wandelnde weihnachtliche Festkultur reagiert. Feste stellen Ereignisse dar, die gewissermaßen über den Alltag hinausweisen und in besonderer Weise die Merkmale und das Selbstverständnis von Kulturen prägen. Ihre soziokulturelle Funktion besteht sogar maßgeblich darin, indem sie gewissermaßen den Bestand einer Kultur sichern. In ihrer historischen Dimension spiegeln sie dabei gleichsam Entwicklungen und Veränderungen wider. Feste sind in ihrer Spezifität also einerseits Motoren bzw. Katalysatoren bestimmter Kulturen. Andererseits sind sie gleichermaßen deren Indikatoren: In dem Maße, wie sie Kultur – verstanden als relative Gesamtheit menschlicher Praktiken in ihrer Geschichte – mit hervorbringen, weisen sie diese Kultur auch aus und liefern einen Schlüssel zu deren Verständnis. Theater wiederum steht in der ganzen Bandbreite seiner Erscheinungsformen mit Festen in einem engen Zusammenhang. Darstellungen, Spiele und Aufführungsereignisse sind häufig Bestandteil von Festen. Theater scheint in besonderer Weise geeignet zu sein, die bereits angedeutete Funktion von Festen praktizierbar zu machen. Zum einen kann es garantieren, dass Feste zu einem aus dem Alltag herausgehobenen, besonderen Ereignis werden. Zum anderen vermag es den Festanlass, also das Gefeierte und dessen für die entsprechende Kultur je aktuelle Bedeutung und mögliche Bedeutungsverschiebungen, im Modus der künstlerischen Vorführung zu vergegenwärtigen und mithin zu thematisieren. Dabei können Festteilnehmer auf unterschiedliche Weisen an festlichen Theaterritualen beteiligt sein. Die vorliegende Arbeit untersucht Werke und damit verbundene Aufführungsformen, die das Weihnachtsfest sowohl zum Anlass als auch zum Gegenstand haben und zwischen dem ausgehenden 18. Jahrhundert und dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland2 entstehen. Eine Konzentration auf diesen Zeitraum erscheint sinnvoll, da in dieser Phase erstmalig seit dem Mittelalter viele neue dramatische Texte verfasst und neue Aufführungskontexte dienlich gemacht werden. Daneben gibt es zahlreiche Bemühungen zur Konservierung vormoder-
2
Texte von Autoren aus der Schweiz und Österreich bleiben weitgehend ausgeklammert, ebenso die sehr spezifischen Entwicklungen im Bereich weihnachtlichen Theaters in Wien. Es wird lediglich das Leopoldstädter Theater im 3. Kapitel als Beispiel für die sehr frühe, gezielte weihnachtliche Wiener Spielplanpolitik herangezogen. Des Weiteren können auch im 5. Kapitel die Sammlungen alter Weihnachtsspiele österreichischer Forscher und die Initiaven im Bereich der Reaktivierung von Weihnachtsspielen nicht unerwähnt bleiben, da sie zum Teil großen Einfluss auf deutsche Autoren hatten. Ansonsten ist eine Konzentration auf die deutsche Situation sinnvoll, da Österreich und die Schweiz theatergeschichtlich zum Teil recht eigene Wege gehen.
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nen Weihnachtstheaters. All diese Entwicklungslinien sind eng an die Veränderungen der deutschen Weihnacht gebunden. Im Zusammenhang mit Weihnachten entstandene Theaterformen und ihr Verhältnis zur Herausbildung einer spezifischen Festkultur haben bisher in der theaterwissenschaftlichen Forschung keine Beachtung gefunden. Obwohl Weihnachten noch immer ein Fixpunkt des Kalenders ist, hat die Theaterwissenschaft das Verhältnis von weihnachtlichem Fest und Theater weitgehend unbeachtet gelassen und vor allem mittelalterlichen geistlichen Spielen Aufmerksamkeit geschenkt. Auch hier dominiert aber nach wie vor das Interesse an Passionsspielen,3 so dass Katrin Kröll noch 2009 in einer Darstellung weihnachtlicher hochmittelalterlicher Klerikerspiele eine „ganz auf Osterspiele fixierte“ theaterwissenschaftliche Forschung beklagt.4 Gleichwohl gibt es in der theaterwissenschaftlichen Forschung verstärkte Tendenzen, Fest- und Theaterforschung zusammenzuführen. Hier ist vor allem der von Erika Fischer-Lichte und Matthias Warstat herausgegebene Band Staging Festivity zu nennen. An dessen Ansatzpunkt, einer Hinwendung zur
3
Wichtige Veröffentlichungen zu geistlichen Spielen hat es in den letzten Jahrzehnten vor allem im Bereich der Literaturwissenschaft gegeben: Vgl. Warning, Rainer: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels. München 1974. / Müller, Jan-Dirk: „Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters“, in: Kablitz, Andreas und Gerhard Neumann: Mimesis und Simulation. Freiburg im Breisgau 1998, S. 541-571. / Schulze, Ulrike: „Formen der Repraesentatio im Geistlichen Spiel“, in: Haug, Walter (Hg.): Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Tübingen 1999, S. 312-356. / Müller, Jan-Dirk: „Kulturwissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter“, in: Neumann, Gerhard und Sigrid Weigel (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, S. 53-77. Im Bereich theaterwissenschaftlicher Veröffentlichungen vgl. auch: Fischer-Lichte, Erika: „Theater und Fest. Anmerkungen zum Verhältnis von Theatralität und Ritualität in den geistlichen Spielen des Mittelalters“, in: Dies. und Ingrid Kasten (Hg.): Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel. Berlin / New York 2007, S. 3-17.
4
Kröll, Katrin: „Die mittelalterlichen Verkehrungsfeste junger Kleriker im Kontext von Liturgie, Kirchenpolitik und sozialem Wandel“, in: Fischer-Lichte, Erika und Matthias Warstat (Hg.): Staging Festivity. Theater und Fest in Europa. Tübingen 2009, S. 35-56 (S. 49).
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„Beziehungsgeschichte von Fest und Theater“ und deren „symbiotisch verwobenen Praktiken“,5 wird in dieser Arbeit angeknüpft. Es ist wenig verwunderlich, dass in anderen Disziplinen bisher keine breiter angelegte Auseinandersetzung mit einem primär theatergeschichtlichen Gegenstand wie weihnachtlichem Theater stattgefunden hat. Der Musikwissenschaftler Helmut Loos hat mit Weihnachten in der Musik zwar eine umfangreiche Arbeit verfasst. Sie bietet einen systematischen und detailreichen Überblick über die Vielfalt weihnachtlicher Musik, die zwischen dem 10. Jahrhundert und heute entstanden ist.6 Die hierin aufgeführten Musiktheaterwerke werden jedoch vorrangig in Bezug auf ihre musikalische Struktur und den kompositorischen Umgang mit musikalischen Traditionen untersucht. Aufführungskontexte und Festgeschichtliches werden nicht ausführlich besprochen, dramatische Texte ohne Musik nicht analysiert. Religionswissenschaftliche, volkskundliche und auch kulturgeschichtliche Untersuchungen des Weihnachtsfests finden sich hingegen in großer Fülle.7 Die
5
Fischer-Lichte, Erika und Matthias Warstat: „Einleitung“, in: Ebd., S. 9-18 (S.14).
6
Loos, Helmut: Weihnachten in der Musik. Bonn 1992.
7
Zum Beispiel: Usener, Hermann: Das Weihnachtsfest. Religionsgeschichtliche Untersuchungen. Bonn 1963, 3. Auflage. / Ruland, Josef: Weihnachten in Deutschland. Bonn 1978. / Weber-Kellermann, Ingeborg: Das Weihnachtsfest. Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Weihnachtszeit. Luzern / Frankfurt am Main 1978. / Pannenberg, Wolfhart: „Mythos und Dogma im Weihnachtsfest“, in: Haug, Walter und Rainer Warning: Das Fest. München 1989 (Poetik und Hermeneutik. Band 14), S. 53-63. / Jeggle, Utz: „Vom Schenken. Überlegungen eines Volkskundlers“, in: GutwinskiJeggle, Jutta und Johann Michael Rotmann (Hg.): „Die klugen Sitten pflegend“. Psychoanalytische und kulturkritische Beiträge Hermann Beland zu Ehren. Tübingen 1993, S. 457-474. / Cullmann, Oscar: Die Entstehung des Weihnachtsfestes und die Herkunft des Weihnachtsbaumes. Stuttgart 1994, 4. Auflage. / Sauermann, Dietmar: Von Advent bis Dreikönige. Weihnachten in Westfalen. Münster 1979, 2. Auflage (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland herausgegeben von der Volkskundlichen Kommission für Westfalen, Heft 6). / Gockerell, Nina (Hg.): Weihnachtszeit. Feste zwischen Advent und Neujahr in Süddeutschland und Österreich 1840-1940. Sammlung Ursula Kloiber. Ausstellungskatalog des Bayerischen Nationalmuseums. München 2000. / Demandt, Alexander: „Der Ursprung des Weihnachtsfestes“, in: Ders.: Sieben Siegel. Essays zur Kulturgeschichte. Köln / Wien 2005. / Förster, Hans: Weihnachten – Eine Spurensuche. Berlin 2005, 2. Auflage. / Schumacher, Thomas: Geschichte der Weihnachtsgeschichte. Ein historischer und theologischer Schlüssel. München 2012.
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Volkskundlerin Doris Foitzik konstatiert in ihrer 1997 veröffentlichten Studie Rote Sternen, braune Runen, die sich mit der Geschichte des Weihnachtsfests zwischen 1870 und 1970 auseinandersetzt und in dieser Arbeit immer wieder herangezogen werden wird, dass über viele Jahrzehnte hinweg „das Weihnachtsfest, seine Bräuche und Symbole zu den beliebtesten Themen“ 8 ihres Faches zählte. Dennoch streifen diese Untersuchungen genau wie geschichtswissenschaftliche Studien, die sich mit Weihnachten auseinandersetzen, nur selten theatrale Formate. Und wenn beispielsweise Krippenspiele Erwähnung finden, werden sie weder hinsichtlich ihrer Inhalte noch bezüglich ihrer Aufführungspraxis oder Integration in die weihnachtliche Festkultur diskutiert. Meine Arbeit möchte diese Lücke in der theaterwissenschaftlichen und historischen Forschung schließen. Sie wird deswegen ein Panorama zahlreicher weihnachtlicher, in Deutschland entstandener Stücke geben und sie als Teil eines alljährlich wiederkehrenden und sich dennoch kontinuierlich verändernden Fests begreifen und untersuchen. Auf ein kurzes Kapitel zu zentralen Charakteristika der bürgerlichen weihnachtlichen Festpraxis folgt ein Kapitel, das sich frühen bürgerlichen Weihnachtsstücken widmet. Sie sind allesamt für häusliche und professionelle städtische Aufführungskontexte im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert verfasst worden. Des Weiteren gibt es einen kurzen Exkurs zur Spielpraxis von Weihnachtsspielen in ländlichen Regionen. Das folgende vierte Kapitel analysiert das Phänomen der Weihnachtsmärchen als populärste Form städtischen weihnachtlichen Theaters im 19. und 20. Jahrhundert. Das fünfte Kapitel setzt sich mit einem weiteren relevanten Thema auseinander: Der Sammlung alter Weihnachtsspiele durch bürgerliche Gelehrte im Rahmen einer umfassenden Beschäftigung mit nichtbürgerlicher, vornehmlich bäuerlicher Kultur und der daraus resultierenden Erfindung von Volkskultur inklusive neomittelalterlicher Spiele im 19. Jahrhundert.9 Daneben darf die hieraus resultierende Spielpraxis nicht unerwähnt bleiben. Die restlichen Kapitel verfolgen die Entwicklung weihnachtlichen Theaters chronologisch weiter. Auf eine Untersuchung der Situation im Deutschen Kaiserreich folgen die Darstellungen weihnachtlichen Theaters in der Weimarer Republik und dann im Dritten Reich. Grundlage für die folgenden Ausführungen sind vorwiegend die im Zuge der Recherchen für diese Arbeit ermittelten, erschlossenen und systematisierten
8
Foitzik, Doris: Rote Sterne, braune Runen. Politische Weihnachten zwischen 1870 und 1970. Münster 1997, S. 9.
9
Zur Volkskultur als bürgerlichem Konstrukt vgl. Bausinger, Hermann: „Bürgerlichkeit und Kultur“, in: Kocka, Jürgen: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987, S. 121-142.
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Stücktexte. Da je nach Themenschwerpunkt kaum bis gar kein anderes Quellenbzw. Aufführungsmaterial vorliegt, basiert die Untersuchung primär auf werkimmanenten Analysen ausgewählter Beispiele. Die von mir an das Thema gestellten Fragen und die Orientierung meines Zugriffs machen es außerdem sinnvoll, inhaltlich-dramaturgische Konventionen und Topoi sowie ihre semantische Entwicklung zu destillieren, dafür Stücke einander gegenüberzustellen und miteinander zu vergleichen. Um daneben eine grundsätzliche Verbindung von historischer Festforschung und volkskundlicher theaterwissenschaftlicher Forschung garantieren zu können, werden die Ergebnisse dramaturgischer Werkanalysen mit theoretischen Überlegungen zum Aufführungskontext des Fests verknüpft. Hierfür wird auch anderes Quellenmaterial wie Zeitungsartikel, Spielpläne und historische volkskundliche, theologische sowie festgeschichtliche Abhandlungen hinzugezogen. Die Kontextualisierungen der dramatischen Texte ermöglichen weitere Perspektiven auf den spezifischen Zusammenhang von Fest, künstlerischer Produktion und Aufführung. Dementsprechend ist es wichtig, die Weihnachtsstücke neben ihrer ästhetischen Gestalt auch als kulturhistorische Phänomene zu begreifen. Es musst danach gefragt werden, wie sich ihre Aufführungsbedingungen gestaltet und welche Funktion sie möglicherweise im Rahmen des Weihnachtsfests damit erfüllt haben könnten: Darstellendes Spiel als Feiern eines bürgerlichen Selbstverständnisses, als Ersatz für liturgische Handlungen, als Ersatz für Religion; Aufführungen als Verbildlichung und Umdeutung des christlichen Ursprungsmythos und als kollektive Erfahrung und Bestätigung einer christlichen Gemeinschaft. Dabei kommt insofern ein erweiterter Theatergeschichtsbegriff zur Anwendung, als viele der vorgestellten dramatischen Texte zwar gewissen ästhetischen Ansprüchen nicht genügen, aber neue Kenntnisse zu meist vergessenen Aufführungskontexten zutage treten lassen. Methodisch bedeuten „diese Ausweitung des Gegenstandsbereiches […], die Abkehr von der Fixierung auf das ‚Höhenkamm‘Theater und die Öffnung der Perspektive auf alle Ebenen des Theaters“ eine „kulturwissenschaftlich orientierte Theatergeschichtsschreibung“.10 Um mit Peter W. Marx zu sprechen, folgt hieraus eine Annäherung an Theater als „Teil der gesellschaftlichen Verhandlungen, als Ort sozialer Selbstinszenierung und Selbstreflexion und als Forum kultureller Auseinandersetzungen.“11
10 Marx, Peter W.: Max Reinhardt. Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur. Tübingen 2006, S. 19. 11 Ebd.
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Geht man davon aus, dass in der Vergangenheit „Weihnachten ein wichtiges Einfallstor für politische Tendenzen“12 war und dass Feste allgemein imstande sind, ein „bestimmtes kulturelles Selbstbewusstsein und / oder ein spezifisches Modell von Gemeinschaft zu generieren, zu verstärken oder auch in Frage zu stellen“,13 lassen sich die explizit für einen solchen Anlass verfassten Stücke nicht rein werkimmanent fassen. Die Verschiedenartigkeit ihrer Aufführungsorte, Interpreten und Zuschauer lassen höchst unterschiedliche Wirkungen und Wirkungsabsichten vermuten. Es gilt zu untersuchen, wann und auf welche Weise Theater überhaupt ein konstitutioneller Bestandteil des Weihnachtsfests war, inwiefern um 1800 das Theater als öffentlicher Ort Schauplatz einer künstlerischen Auseinandersetzung mit einem zur Privatisierung drängenden Fest wird, und wo sich diese theatrale Praxis des 19. Jahrhunderts im Diskurs über Säkularisierung der Kunst und eine Familiarisierung, Institutionalisierung oder Ästhetisierung des christlichen Festgeheimnisses verorten lässt. Die Auseinandersetzung mit diesem bisher unbeachtet gebliebenen Kapitel der Theatergeschichte legt das sich nach der Aufklärung immens verändernde Verhältnis von Kirche, Religion und Gesellschaft offen. Es manifestiert sich in der privaten und öffentlichen Gestaltung des Weihnachtsfests ebenso wie in der in diesem Zusammenhang entstehenden künstlerischen Produktion. Gerade am Weihnachtsfest als einem der wichtigsten katholischen und protestantischen Feste werden die Veränderungen von Religiosität und Glaubenspraxis und sich wandelnde Funktionen von Kirche und Religion in der Moderne evident. Demzufolge soll diese Arbeit eingedenk der einleitend angestellten Überlegungen zu Fest und Theater einen, wenngleich überschaubaren, so doch wichtigen Beitrag zu einer historischen Phänomenologie bürgerlicher Kultur im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert liefern: Ein Abriss der historischen Entwicklung des Weihnachtstheaters soll ästhetische und kulturelle Paradigmen und deren Wandlungen verdeutlichen. Die historische Darstellung der Verbindung von Weihnachten und Theater, also eine Untersuchung der Symbiose des zentralen Fests unserer Kultur mit einem ihrer Leitmedien, kann mithilfe konkreter Zeugnisse und Dokumente die Konjunktur der Epoche der Moderne skizzieren, deren zentralen Diskurse 14 in der je aktuellen Verfasstheit von weihnachtsfestlichem Theater aufscheinen.
12 Bausinger, Hermann: „Das Weihnachtsfest der Volkskunde“, in: Faber, Richard und Esther Gajek (Hg.): Politische Weihnacht in Antike und Moderne. Zur ideologischen Durchdringung des Fests der Feste. Würzburg 1997, S. 169-181 (S. 170). 13 Fischer-Lichte und Warstat, Einleitung, S. 9. 14 Orientierung am Foucault’schen Diskursbegriff. Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt 1973.
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Entscheidende geistige und ideologische Strömungen, einschlägige ästhetische Programme, zentrale religiöse und philosophische Konzepte, relevante politische Tendenzen und nicht zuletzt grundlegende soziale und ökonomische Entwicklungen, die in ihrer Gesamtheit unseren Begriff von Moderne als vorherrschendem Prinzip bzw. dominierendem Diskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hervorbringen und ausmachen, sind mit dem zu untersuchenden theatralen Weihnachtsfestvollzug bzw. festlichen Weihnachtstheater in doppelter Hinsicht verbunden: Sie sind durch die kulturellen Aufführungen des Festtheaters zum einen mit hervorgebracht und zum anderen in ihren Überlieferungen dokumentiert.15
15 „Die historische Diskursanalyse geht grundsätzlich vom Konstruktionscharakter soziokultureller Wirklichkeiten aus und fragt vor diesem Hintergrund nach den Arten und Weisen, mit denen im historischen Prozess Formen des Wissens, der Wahrheit und der Wirklichkeit hervorgebracht werden. Als Diskurse werden dabei geregelte und untrennbar mit Machtformen verknüpfte Ordnungsmuster verstanden, in denen diese Konstruktionsarbeit organisiert wird. Sie lassen sich häufig in sprachlicher Form fassen, jedoch können prinzipiell alle Elemente soziokultureller Wirklichkeit zum Gegenstand entsprechender Analysen gemacht werden, denn es gibt kein Medium, keine Praxis und keinen Gegenstand, die nicht zur Formierung mindestens eines Diskurses beitragen würden. Diskurse wirken dabei sowohl produktiv als auch restriktiv, sie sind strukturiert und bringen ihrerseits Strukturen hervor. Da solchen Diskursen Regelhaftigkeiten unterliegen, können sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht werden. Die historische Perspektive gewinnt hierbei besondere Relevanz, weil Diskurse keine andere Basis haben als ihre eigene Historizität.“ Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse. Tübingen 2001, S. 98f.
2. Das Weihnachtsfest im späten 18. und 19. Jahrhundert
Das Weihnachtsfest erfährt seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in Deutschland eine entscheidende Umgestaltung, die als Säkularisierung und Verbürgerlichung zu fassen ist. Wenngleich bereits vor dem 18. Jahrhundert neben dem kirchlichen Fest zahlreiche profane Bräuche oftmals heidnischen Ursprungs wie Umzugsbräuche mit Ruprecht oder Perchten,1 ländliche Los- und Schenkbräuche existierten2 und „Elemente mittwinterlicher Bräuche und christliche Vorstellungen miteinander verschmolzen“,3 entwickelt sich das Weihnachtsfest nun von einem kirchlichen Hochfest hin zu einem vornehmlich säkularen Fest. Ganz unabhängig von der Intensität des individuellen Glaubens, der persönlichen Glaubenspraxis, Konfessionszugehörigkeit und regionalen Herkunft wird es vorrangig innerhalb der eigenen Familie begangen und ist insbesondere auf die Kinder ausgerichtet. „Noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Weihnachten ein Fest gewesen, das vorwiegend in der Kirche und auf den Straßen gefeiert wurde.“4 Die Kirchen veranstalteten Gottesdienste, draußen gab es Weihnachtsmärkte und Umzüge. Der Nürnberger Weihnachtsmarkt beispielsweise existiert schon seit 1697. Diese Festkultur wird nun allmählich transformiert, es vollzieht sich ein Paradigmenwechsel: Das Fest volkstümlicher bzw. religiöser Prägung verliert an Bedeutung,5 auch wenn einige Bräuche beibehalten werden und der Be1
Rumpf, Marianne: Perchten. Populäre Glaubensgestalten zwischen Mythos und Kate-
2
Vgl. Weber-Kellermann, Weihnachtsfest, S. 16ff.
3
Foitzik, Rote Sterne, S. 19.
4
Ebd., S. 21.
5
Weihnachtsmärkte verlieren beispielsweise keineswegs an Bedeutung. Heinrich Wil-
chese. Würzburg 1991.
helm Seyfried, der sich gelegentlich auch Hans von Strippeknall nannte und unter dem Decknamen Tlantlaquatlapatli zwischen 1789 und 1792 die Zeitschrift Chronik von
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zug zur christlichen Religion nicht vollständig verloren geht. Es lässt sich dennoch ein verstärktes Bedürfnis feststellen, Weihnachten vorrangig zur Belebung und Stärkung familiärer Binnenbeziehungen zu nutzen. Hierbei handelt es sich um einen allmählichen und überaus vielschichtigen Prozess, der regional divergiert, konfessionsgebunden ist und zeitlich durchaus versetzt abläuft. Die stattfindende Verminderung bzw. der Verlust öffentlich manifester religiöser Kontur staatlich sanktionierter Feiertage und die Herausbildung eines neuen Festverständnisses finden zum einen ihren sichtbaren Ausdruck in einer zunehmenden Fokussierung sämtlicher Familien auf die Ausrichtung der immer stärker standardisierten und normierten häuslichen Feier am Heiligabend. Zum anderen manifestieren sie sich in einer Zurückdrängung kirchlicher Einflussnahme auf die Feiergestaltung, in der Verlagerung der öffentlichen Festkultur in die Vorweihnachtszeit sowie in einem Rückzug ins Private an den Weihnachtstagen und einer damit einhergehenden Exklusivität der privaten Feier. Vor allem die deutsche Bürgerkultur6 wird zum Träger ebendieser Entwick-
Berlin oder Berlinische Merkwürdigkeiten herausgab, schildert den Berliner Weihnachtsmarkt: „In den ersten acht Tagen, das heißt vom 12. bis 19. Dezember ist der berlinische Christmarkt unerheblich. Viele Buden stehen nicht auf, und nur eine mittelmäßige Anzahl von Käufern besucht denselben. Aber vom 20. bis 24. Dezember ist der Besuch desselben am allerstärksten, wo sich jung und alt, vornehm und reich, in Wagen und zu Fuß einfindet (versteht sich: nicht alle auf einmal) und ein jeder das kaufet, was er zu verschenken gedenkt. Man muß dem berlinschen Erfindungsgeist eingestehen, daß er alle Kunst angewendet hat, den Käufern das Geld aus dem Beutel zu locken. Bis zum 23. Dezember werden nun immer die meisten Sachen verkauft und dauert der Jubel des Volkes höchstens des Abends bis 10 Uhr. Allein der 24. Dezember, als am heiligen Abend, ist der wichtigste Tag des Volksjubels. Denn an diesem Tage nimmt der Christmarkt schon des Morgens um 9 Uhr seinen Anfang. Alle Buden haben in der Zeit alle ihre Sachen zur Schau aufgestellt, und was nun noch etwas von vornehmeren, als mittleren Bürgern benöthigt ist, geht und fährt nach dem Christmarkt und kauft es. Dies währt bis Abends gegen 6 Uhr. In welcher Zeit sich denn nun der geringere Bürger, Handwerksbursche und Tagelöhner einfindet, wodurch denn öfters solcher Drang entstehet, daß man öfters froh ist, mit Ehren und ohne Schaden davon gekommen zu sein.“ Zitiert nach Pomplun, Kurt: Weihnachten und Neujahr im alten Berlin. Ein Beitrag zur Volkskunde der Großstadt. Berlin 1969, S. 8ff. 6
Zur Geschichte des deutschen Bürgertums, basalen bürgerlichen Verhaltensnormen und Lebensformen vgl. etwa folgende Publikationen der Bürgertumsforschung: Bausinger, Bürgerlichkeit und Kultur, S. 121-142. / Hein, Dieter und Andreas Schulz (Hg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert: Bildung, Kunst und Lebenswelt. München
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lung des Weihnachtsfests hin zu einem kommerzialisierten Familien- und Bescherfest. Die damit einhergehende Normierung hat zunehmend auch Einfluss auf die Feierpraxis nichtbürgerlicher Schichten, oder um mit Hermann Bausinger zu sprechen: „Im 19. Jahrhundert wurde die familiäre Weihnacht zur Norm – durch das Vorbild bürgerlicher und adliger Familien […]. Die Norm – einschließlich der äußeren Requisiten, vor allem des Christbaums – war so stark, dass sie sich auch auf nichtbürgerliche Schichten auswirkte.“7
2.1 H EILIGABEND
ALS CULTURAL PERFORMANCE
Die familiäre Bescherfeier am Heiligabend lässt sich als cultural performance fassen, folgt man Milton Singers Definition: „Each performance has a definitely limited time span, a beginning and end, an organized programme of acitivity, a set of performers, an audience and a place and occasion of performance.“8 Gewisse festkulturelle Praktiken werden im Laufe des 19. Jahrhunderts von immer mehr Menschen imitiert.9 Infolgedessen ist der private weihnachtliche Festvollzug in zunehmendem Maße uniformiert und konstituiert durch rituelles Handeln, sprich „formalisiertes Verhalten […], im Charakter autorativ und in der Gestalt ‚traditions-gleich‘.“10 Im Zuge der damit einhergehenden Profanierung der Weihnachtsfeiertage tritt der aus christlicher Perspektive dogmatische Kerngehalt des Fests, das Ereignis der Inkarnation Gottes, in den Hintergrund. Die Grundlage des Inkarnati-
1996. / Bauer, Franz: Das „lange“ 19. Jahrhundert (1789-1917). Profil einer Epoche. Stuttgart 2004. / Schulz, Andreas: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. München 2005. / Marx, Peter W.: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900. Tübingen 2008. / Schäfer, Michael: Geschichte des Bürgertums. Eine Einführung. Köln 2009. 7
Bausinger, Weihnachtsfest der Volkskunde, S. 181.
8
Singer, Milton: Traditional India: Structure and Change. Philadelphia 1959, S. 12f.
9
Vgl. Köpping, Klaus-Peter: „Fest“, in: Wulf, Christoph (Hg.): Handbuch historische Anthropologie. Weinheim 1997, S. 1048-1065.
10 Rao, Ursula und Klaus-Peter Köpping: „Einleitung. Die ‚performative Wende’: Leben – Ritual – Theater“, in: Dies. (Hg.): Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz. Hamburg 2000, S. 1-32 (S. 2).
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onsgedankens ist die „Gegenwart der Zukunft Gottes im Auftreten Jesu“.11 Durch das einmalige, historische Ereignis der Geburt Jesu Christi, einen performativen Akt, hat sich aus christlicher Perspektive grundlegend das Weltgeschehen verändert: Gott ist Mensch geworden, seine Liebe hat sich offenbart. Die Grundlage des bürgerlichen Weihnachtsfests hingegen bildet die Sehnsucht nach in konfliktfreier Liebe miteinander verbundenen Familienmitgliedern, die Bestätigung und alljährliche Wiedergeburt der eigenen Familie. Abbildung 1: Die Bescherung
Moritz von Schwind (um 1850)
Die familiären Festpraktiken des Heiligabends, die sich im 19. Jahrhundert herausbilden und noch heute in Deutschland wirksam sind, weisen in ihrer Gesamtheit als cultural performance ein beträchtliches Maß an Theatralität12 auf.13 An-
11 Pannenberg, Mythos, S. 62. 12 Vgl. Warstat, Matthias: „Theatralität“, in: Ders., Fischer-Lichte, Erika und Doris Kolesch (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart / Weimar 2005, S. 358-364. 13 Die Tatsache, dass Familien sehr unterschiedlich geartete Gebilde mit einer variierenden Anzahl von Kindern und Verwandten sein können, und dass das moderne Bürgertum eine durchaus heterogene soziale Gruppe darstellt, die im 19. Jahrhundert eine zunehmende soziale Ausdifferenzierung erfährt (vgl. Bausinger, Bürgerlichkeit und
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ders als bei Theateraufführungen im engeren Sinn, sind Teilnehmer und Ausführende jedoch dieselben Personen. Die Familie inszeniert und führt sich mithin selber auf,14 jeder einzelne nimmt gestalterischen Einfluss auf seine Umgebung. Oder um mit Ute Jeggle zu sprechen: „Das Stück, das gegeben wurde, hieß […] nicht Weihnachten, sondern Familie.“15 Gerade an Weihnachten sind viele Menschen recht bewusste Darsteller ihrer selbst. Inszenierung erfolgt hier selbstverständlich nicht im Sinne einer künstlerischen szenischen Umsetzung eines originären Kunstwerks, sondern im Sinne einer planvollen „Ästhetisierung der Lebenswelt“,16 einer Inszenierung von Wirklichkeit. In diesem Kontext ist die von Christoph Wulf vorgelegte Definition von Ritualen als „sinnlich erfahrbare soziale Inszenierungen“17 anwendbar. Als konventionalisierte Aufführung wird die häusliche Weihnachtsfeier zumeist im Wohnzimmer am 24. Dezember begangen. Normalerweise nehmen Eltern und Kinder teil, manchmal weitere Verwandte, selten Freunde. Bisweilen treten Bescherfiguren auf. Um das Gelingen der Feier zu garantieren, haben alle Regeln zu befolgen. Das ritualisierte Verhalten ist zwar nicht aktiv einstudiert, aber über immerwährende Praxis tradiert und sich angeeignet worden. Hier wird das Charakteristikum von Ritualen evident, die „kollektiv geteiltes Wissen und kollektiv geteilte Handlungspraxen inszenieren und so eine Selbstdarstellung und Reproduktion der institutionellen bzw. gemeinschaftlichen Ordnung bestätigen.“18 Die Eltern wirken als Spielleiter, Organisatoren und Darsteller in der eigenen Inszenierung, wohingegen Kinder und andere Gäste zugleich als Publikum und Mitspieler fungieren.
Kultur, S. 121), bleibt im Folgenden weitgehend ausgeklammert, vielmehr wird verallgemeinernd von der Norm ausgegangen. 14 Hier Orientierung an Erving Goffmans Analysen von Interaktionsritualen als kulturellen Sinn- und Handlungsmustern. Goffman, Erving: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main 1992. Und ders.: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München / Zürich 2000, 8. Auflage. 15 Jeggle, Ute: „Familienfeste“, in: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium. Band 8. Heft 1 (1979), S. 17-21 (S. 18). 16 Fischer-Lichte, Erika: „Inszenierung“, in: Warstat, Lexikon Theatertheorie, S. 146153 (S. 150). 17 Wulf, Christoph: „Einleitung“, in: Ders. (Hg.): Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. Opladen 2001, S. 7-18 (S. 7). 18 Ders. und Jörg Zirfas: „Die performative Bildung von Gemeinschaften. Zur Hervorbringung des Sozialen in Ritualen und Ritualisierungen“, in: Paragrana. Band 10. Heft 1 (2001), S. 93-115 (S. 97).
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Doch trotz der unverkennbaren Struktur des Bescherrituals erfährt die inszenatorische Konstruktion von Familie als zutiefst performativer Akt, an dem prägnante Merkmale der bürgerlichen Familie formuliert, aus- und dargestellt werden,19 und mit dem man sich auch einer Öffentlichkeit gegenüber positioniert, alljährlich auf makro- und mikrostruktureller Ebene Abweichungen. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die spezifisch bürgerliche Feierpraxis erst im 19. Jahrhundert etabliert, ist sie auf makrostruktureller Ebene über einen langen Zeitraum größeren Veränderungen als heute unterworfen und besitzt einen gewissen Ereignischarakter. Viele lernen die zunächst nur regional verbreiteten Weihnachtsbäume oder den Weihnachtsmann erst im Biedermeier kennen und führen sie zu Hause ein. „Richtig populär auch im Kleinbürgertum“ 20 wird der Weihnachtsbaum dann nach dem Krieg von 1870/71. Er gilt seit „dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts allgemein als das Symbol der deutschen Weihnacht. Geschmückt mit brennenden Kerzen, Zuckerwerk und goldenem Flitterkram überstrahlte er sogar den Glanz der Geschenke und war aus der Weihnachtsstube nicht mehr wegzudenken.“21 Auch ist ein gewisser Wohlstand Voraussetzung für eine intensivere Konsumkultur. Noch im 19. Jahrhundert können viele einkommensschwache Familien Bescherfeiern mangels wirtschaftlicher Prosperität nur eingeschränkt ausrichten. Diejenigen hingegen, die in der Lage sind sich die für die Feier notwendigen Requisiten zu leisten, vermögen Familien- und Standesbewusstsein zu demonstrieren. Mithilfe einer Introvertiertheit und eines Rückzugs von der Gesellschaft anderer können bürgerlicher Stolz repräsentiert, bürgerliches Selbstbewusstsein bestätigt und gefestigt werden. „Nach der Abschaffung der wilden öffentlichen Formen der Weihnachtsfeier ist nicht mehr der Modus des Feierns ein Distinktionszeichen, sondern die Gestaltung der innerhäuslichen Weihnacht“,22 so die Kulturwissenschaftlerin Martina Eberspächer.
19 „Zum anderen ist für das Verständnis von cultural performances wesentlich, daß in ihnen eine Kultur ihr Selbstbild und Selbstverständnis formuliert, das sie vor ihren Mitgliedern ebenso wie vor Fremden dar- und ausstellt.“ Fischer-Lichte, Erika und Jens Roselt: „Attraktion des Augenblicks – Aufführung, Performance, performativ und Performativität“, in: Paragrana, S. 237-254 (S. 247). 20 Weber-Kellermann, Familie, S. 226. 21 Foitzik, Rote Sterne, S. 27. / Vgl. auch Skriver, Carl Anders: Der Weihnachtsbaum. Geschichte und Sinndeutung. München 1966. / Pinzl, Richard und Gustl Tögel: Der Christbaum. München 1968. 22 Eberspächer, Martina: Der Weihnachtsmann. Zur Entstehung einer Bildtradition in Aufklärung und Romantik. Stuttgart 2002, S. 197.
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Auf mikrostruktureller Ebene wiederum bleiben die Weihnachtsfeiern trotz etablierter Festpraktiken insofern stets variabel, als eine Aufführung gleichsam auch immer ein „sozialer Prozess“23 ist. Ihre Mitspieler bringen sie durch ihre Teilhabe, ihre „psychische Präsenz, ihre Wahrnehmung, Rezeption und Reaktion“24 mit hervor. Kinder werden größer, Familien sind flexible Gebilde. Verhaltensweisen schwanken, familienintern geltende Regeln können gebrochen werden. Unkalkulierbare Abweichungen, die letztlich beweisen, dass eine Aufführung während ihres Verlaufs entsteht, können alles zum Scheitern bringen und dem bürgerlichen Ideal einer planbaren und gemäßigten Weihnachtsfeier zuwiderlaufen. Somit haben die Teilnehmer der Bescherfeier eine große Macht über die Effektivität und Wirksamkeit des Rituals. Darüber hinaus enthalten weihnachtliche Aufführungen neben unbeabsichtigten Varianzen stets Elemente, welche die Spielleiter gezielt steuern. Außerordentlich wichtige Requisiten und Elemente der Ausstattung wie Geschenke, Schmuck, Düfte, Licht oder der Tannenbaum, die Gastauftritte eines Weihnachtsmannes, die musikalische Gestaltung oder das Essen werden alljährlich zumindest minimal variiert. Genauso wie der Schmuck des Baumes können auch andere Komponenten, etwa die Auswahl der Lieder, spontan gewählt werden. Es bleibt also Raum für Innovation, Kreativität und Varianz. Dennoch weisen Bescherfeiern als ritualisierte kulturelle Aufführungen grundsätzlich eine verhältnismäßig stabile strukturelle Ordnung auf. Obschon sie immer neu entstehen und viele ihrer Elemente auf einer individuellen Gestaltung basieren, müssen gewisse Konstanten auf zeitlicher, räumlicher und struktureller Ebene gewährleistet sein, damit sie realisierbar sind.
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Für eine bürgerliche häusliche Weihnachtsfeier sind erhebliche materielle Ressourcen notwendig: Es bedarf repräsentativer Räume und eines nicht allzu knappen Haushaltsbudgets für Geschenke, das Festessen und den Weihnachtsschmuck. Deswegen ist es nicht erstaunlich, dass die Entstehung der privaten Bescherfeier mit dem ökonomischen Erstarken bürgerlicher Familien einhergeht. „Die beginnende Industrialisierung und das Anwachsen des Beamten- und Ge-
23 Fischer-Lichte, Erika: „Aufführung“, in: Warstat, Lexikon Theatertheorie, S. 16-26 (S. 18). 24 Ebd., S. 16.
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lehrtenstandes“25 führen zu einer Veränderung der Wohnverhältnisse. „Während Bauern und auch Handwerker noch relativ ungebrochen in der traditionellen Lebensform des ‚ganzen Hauses‘ leben“,26 dessen Allzweckräume von allen Bewohnern gleichermaßen genutzt werden, sieht das neue, sich im 19. Jahrhundert herausbildende bürgerliche Familienideal eine klare Trennung der privaten Sphäre von der beruflichen vor.27 Die Wohnungen oder Häuser des Bürgertums werden zu reinen Wohnhäusern, die eine räumliche Neugliederung in Form einer Trennung von Schlaf- und Wohnbereichen der einzelnen Generationen erfahren. Kinder haben oftmals eigene Zimmer und somit private Räume, die dem kindlichen Spiel vorbehalten sind. Unter Umständen kann dadurch die Nachfrage nach Spielzeug steigen, das für Innenräume prädestiniert ist. Gegebenenfalls wird es an Weihnachten verschenkt.28 Auch können aufgrund veränderter Wohnsituationen Eltern und Kinder nun heimlich Geschenke basteln, bis zum Heiligabend verstecken und so neue Schenkriten befördern. Abbildung 2: Der Christtag (1885)
Johann Michael Voltz, Kinderbilder zur Unterhaltung und mündlichen Belehrung 25 Foitzik, Rote Sterne, S. 20. 26 Vgl. Rosenbaum, Heidi: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1982, S. 251. 27 Vgl. ebd., S. 252ff. 28 Vgl. Foitzik, Rote Sterne, S. 24.
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Die heimische Wohnstube stellt den eigentlichen Aufführungsort, die adäquate Bühne für die Weihnachtsfeier dar. Den Kindern bleibt bis zur Bescherung der Zutritt meist verwehrt. Im Verborgenen schmückt die Mutter den Raum. Die von ihr produzierte geheimnisvolle Stimmung kann bei Kindern Neugierde und Vorfreude provozieren. Das Wohnzimmer wird in einen Ort des Spektakels und der Überraschungen transformiert. Das Betreten des verbotenen Ortes wird gleichsam zum Betreten eines Theaters. Dekorationen und möglicherweise gezielt eingesetztes (Kerzen-)Licht können nun die Aufmerksamkeit sämtlicher Teilnehmer auf den Ereignischarakter der Feier lenken.
2.3 Z EIT In der zeitlichen Verortung der weihnachtlichen Bescherfeier kommt es im 19. Jahrhundert zu einer Verschiebung: Nachdem seit den Tagen des Römischen Reichs vorrangig an Neujahr beschert wurde, gewinnen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts der 6. und der 24. Dezember an Gewicht, bis sich der Nachmittag beziehungsweise Abend des 24. Dezembers endgültig durchsetzen. 29 Noch um 1800 werden sowohl Weihnachten als auch Nikolaus, Neujahr, der 6. Januar als Fest des Bohnenkönigs oder gar des Eiszäpfels im privaten Kreis gefeiert. Es bestehen viele Brauch- und Festformen nebeneinander. Zahlreiche „Möglichkeiten der Bescherung und Festgestaltung sind bekannt.“30 Im bürgerlichen Kalender des 19. Jahrhundert trennt nun zunehmend der im privaten Kreis begangene Heiligabend als arbeitsfreie Zeit alljährlich für einen sehr klar definierten Zeitraum das Private vom Beruflichen, schafft Rückzugsmöglichkeiten für Familien aus dem Alltag. Als kalendarischer Ritus gliedert er gewissermaßen den Ablauf des Jahres. Die vier Adventssonntage führen gleichsam in Etappen zu ihm hin, er fungiert als Kulminationspunkt. Entsprechend der von Erika Fischer-Lichte und Matthias Warstat beschriebenen „Dialektik von Liminalität und Periodizität“ von Festen weisen häusliche Weihnachtsfeiern einerseits eine Regelmäßigkeit im Sinne jährlicher Wiederholung und andererseits eine Transgression auf, „weil sie eine eigene Zeit konstituieren, die die jeweils eingespielte Zeitgestaltung unterbricht.“31 In der Nachweihnachtszeit setzt der 6. Januar dann einen Schlusspunkt hinter die zeitlich gedehnten Feierlichkeiten.
29 Eberspächer, Weihnachtsmann, S. 24. 30 Ebd., S. 30. 31 Fischer-Lichte und Warstat, Einleitung, S. 12.
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Inwiefern dieser Termin als Anlass für Feiern und besondere Ereignisse dient, ist abhängig von Region und Konfession.
2.4 D RAMATURGIE Während es am 25. oder 26. Dezember primär zum besinnlichen Zusammensein im privaten Kreis, zu Verwandten- oder Theaterbesuchen und gegebenenfalls einem Kirchgang kommt, bewirkt eine signifikante Dramaturgie am 24. Dezember eine recht homogene Art der Feiergestaltung.32 Gleichwohl bleiben regional gebundene volkstümliche Bräuche und eine Vielfalt an Praxisformen weiterhin erhalten, die abhängig von Variablen wie Geschlecht, Alter oder Religion der Akteure und familiären Konstellationen sind. In den meisten Familien entzündet der Vater nach dem Kirchgang die Weihnachtskerzen. Ein Glöckchen oder die Türklingel signalisieren daraufhin den Beginn des Bescherrituals, die Familie betritt das Wohnzimmer. Nach der Bescherung singt man gemeinsam. Manchmal werden noch vor dem Verteilen der Geschenke Hausmusik oder Weihnachtsgedichte vorgetragen. Bisweilen treten Bescherfiguren wie ein Weihnachtsmann oder Knecht Ruprecht auf. In manchen Familien liest man das Weihnachtsevangelium vor. Dann wird Tee getrunken33 oder zusammen gegessen.34 Einige Familien gehen auch erst danach oder gar nicht in die Kirche, obwohl im 19. Jahrhundert der Gang zum Gottesdienst noch recht üblich ist. Infolgedessen tritt der religiöse Aspekt des Fests in den Hintergrund. Es manifestiert sich hier die Transformation der christlichen Festkultur in eine vorrangig bürgerliche. Familiäre Dynamiken dominieren insofern über religiöse, als sich die religiöse Praxis in aller Regel auf das Lesen des Evangeliums und den Besuch des Gottesdienstes beschränkt. Eine intensive Frömmigkeitskultur ist für das Gelingen der Veranstaltung nicht notwendig. Sie wird nicht von kirchlichen Würdenträgern organisiert, sondern liegt in den Händen von Eltern.
32 Vgl. Weber-Kellermann, Ingeborg: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte. Frankfurt am Main 1974, S. 226. 33 Vgl. Schleiermacher, Friedrich: Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch. Zürich 1989 (1806), S. 16. 34 Zu zahlreichen unterschiedlichen kulinarischen weihnachtlichen Traditionen vgl. Weber-Kellermann, Weihnachtsfest, S. 166ff.
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2.5 E LTERN Die theatralen Prozesse des Weihnachtsfests zeugen von der sich im Zuge der Emanzipation des Bürgertums wandelnden bürgerlichen Auffassung von Familie. Sämtliche bildlichen und textlichen Quellen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert vermitteln Inszenierungen von Weihnachten als einem von Eltern für Kinder ausgerichteten Fest. Gleichzeitig haben Kinder Verhaltensnormen in einer zumeist autoritär organisierten Aufführung zu respektieren, die integrale Bestandteile eines bürgerlichen Erziehungsprogramms bilden. Eltern tragen alljährlich zum Gelingen einer cultural performance bei, die sowohl einer innerfamiliären Stärkung der Beziehung zwischen den Generationen und privater Organisationsstrukturen dient, als auch Standesbewusstsein generieren und den sozialen Status festigen kann. Mutter und Vater sind zumeist beide an der Vorbereitung und Durchführung des Fests beteiligt, ermöglichen es planerisch und gestalterisch. Im Vorfeld werden Geschenke gekauft, die Kinder eingekleidet, das Essen wird vor- und zubereitet und der Aufführungsort hergerichtet. Mithilfe gezielt eingesetzter Schlüsselreize wie Farben, Düfte oder Licht können Wahrnehmungsprozesse aktiv gesteuert und die kindliche Aufmerksamkeit stimuliert sowie gelenkt werden. Während der Aufführung überwachen die Eltern den reibungslosen Ablauf der Feierlichkeiten. Möglicherweise haben sie bereits im Vorfeld den Mythos eines schenkenden Weihnachtsmannes oder Christkindes zu Hause etabliert und offenbaren sich ihren Kindern nicht als Schenkende, begehen somit ein aktives Spiel der Täuschung, das organisierte Auftritte professioneller Weihnachtsmänner oder verkleideter Verwandter umfassen kann. Eltern können die cultural performance dafür nutzen, ein bürgerliches Idealbild von Familie zu realisieren, das sich durch ein friedvolles Miteinander auszeichnet, oder wie Ingeborg Weber-Kellermann in ihrer Sozialgeschichte der deutschen Familie schreibt: „Unter Benutzung zahlreicher traditioneller Requisiten [...] gestalten die Eltern als Frucht langer Vorbereitungen einen Abend familiärer, verinnerlichter Harmonie, mit der sie alle Konflikte beschwichtigen und für einige Stunden die Utopie einer heilen Welt hervorzaubern möchten.“35
Im Sinne einer Auflösung sämtlicher innerfamiliärer Konflikte kann insbesondere in diesem Kontext, wo alle fern der Verpflichtungen einer Alltagswelt zu-
35 Weber-Kellermann, Familie, S. 226.
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sammenkommen, an zentrale bürgerliche Verhaltensnormen wie Gehorsam, Autoritätshörigkeit, Respekt und Anpassung appelliert werden. Kinder haben Artigkeit zu demonstrieren. Entsprechend innerfamiliärer autoritärer Herrschaftsstrukturen und aufklärerischer Pädagogik gilt es, das Verhalten an die Spielregeln der älteren Generationen anzupassen. Darbietungen wie das Vorsingen von Weihnachtsliedern oder das Vortragen von Gedichten können folglich demonstrieren, ob pädagogische Einflussnahmen während des vergangenen Jahres Erfolg gehabt haben. Weihnachten als zutiefst bürgerliches Fest sucht keinen Exzess. Seine disziplinierte Festpraxis gehorcht dem Primat der Rationalität und Kontrolle. Mithilfe ritueller Praktiken festigt das Bürgertum seinen familiären Binnenraum. Es möchte „Humanität, Liebe, Freiheit und Erziehung“36 erfahrbar machen. Ikonographische Darstellungen aus dem 19. Jahrhundert beispielsweise präsentieren stets fein gekleidete, kultivierte und brave Kinder, die Weihnachten manierlich am Tisch sitzen, Geschenke sittsam auspacken oder kunstvolle Darbietungen zum Besten geben. Diese Bilder zeugen von großen Disziplinierungsmaßnahmen, wenngleich Eltern-Kind-Beziehungen natürlich emotional geprägt sind und viele Eltern sicherlich an Weihnachten ihre Kinder überraschen und erfreuen wollen.37 Das sich im bürgerlichen Zeitalter wandelnde Ideal einer Privatheit impliziert eben auch eine Personalisierung und Intimisierung familiärer Beziehungen, eine verstärkte Emotionalisierung des Privaten. Damit wandelt sich unter anderem die Perspektive auf Kinder, denen nun ein eigener Lebensbereich zugestanden und ein großes Interesse entgegengebracht wird. 38 Dennoch dürfen auch diese Abbildungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade an Weihnachten in vielen Familien konfliktuöse Situationen und Eskalationen auftreten. Rückzugstendenzen aus Alltag und Öffentlichkeit bedingen oftmals ein Zurückgeworfensein auf familiäre Problemfelder, die im öffentlichen Diskurs über Weihnachten aber gleichsam ausgeklammert bleiben.
36 Hassels, Michael: Von der Dynastie zur bürgerlichen Idealfamilie. Studien zum fürstlichen Familienbild des Hauses Hannover in England. Frankfurt am Main 1996, S. 98. 37 Zur „Ausweitung des familiären Gefühlsbereichs auf das Eltern-Kind-Verhältnis“ vgl. Weber-Kellermann, Familie, S. 112. 38 Vgl. Rosenbaum, S. 47ff und Langendorf, Erich: Zur Entstehung des bürgerlichen Familienglücks. Exemplarische Studien anhand literarischer Texte. Frankfurt am Main 1983, 28ff.
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2.6 K INDER Unabhängig davon, ob es an Weihnachten zu Auseinandersetzungen kommt oder nicht, steht im Mittelpunkt des weihnachtlichen bürgerlichen Treibens definitiv keine kollektiv zum Ausdruck gebrachte Ausgelassenheit. Vielmehr geht es primär um die Erziehung der eigenen Kinder zu guten Bürgern und somit die Sozialisation innerhalb der Familie. Die Kinder sind die zentralen Adressaten der Feier. Abbildung 3: Bescherung im Weihnachtsreich (1889)
Viktor Paul Mohn, in: Die Fahrt zum Christkind
Die weihnachtlichen Schenkriten ändern sich im 19. Jahrhundert maßgeblich, denn der Schwerpunkt liegt nun nicht mehr auf dem gegenseitigen sich Beschenken Erwachsener, sondern auf dem Beschenken von Kindern. Erst im Kontext des bürgerlichen, zunehmend kommerzialisierten Weihnachtsfests spielen
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Geschenke als Hauptrequisiten eine grundlegende Rolle, wie Ingeborg WeberKellermann darlegt: „Dass besonders die Kinder zu Weihnachten bedacht wurden, ist seit dem 16. Jahrhundert belegt, doch in zunehmendem Maße wurde der Heiligabend ganz allgemein erst im Biedermeier zum Bescherfest für Kinder. Seit ebendieser Zeit hat sich für sie entscheidend der alte Schenkrhythmus geändert und sie aus dem alten Gesetz der Gegenseitigkeit entlassen. Das Verhältnis ist ein einseitiges geworden, denn Weihnachtsmann und Christkind kann man nicht beschenken, es sei denn durch Artigkeit. Man weiß auch nicht genau, was sie bringen werden, selbst wenn der Wunschzettel rechtzeitig abgeschickt wurde. Der Bereich, aus dem sie kommen und in den sie sich das übrige Jahr hindurch wieder zurückziehen, liegt als Himmel, Wichtelland, Paradies und Werkstatt des Weihnachtsmannes in mythisch-unerreichbarer Ferne, so dass das Kind den Gabenspendern nicht einmal danken kann, sondern ihrer Gebemacht von Süßem und Bitterem ausgeliefert ist. Diese für die kindliche Welt absolute Anonymität des Schenkenden oder auch die Konzentration auf einzelne und einzigartige mythische Gestalten, die im 19. Jahrhundert Allgemeingültigkeit gewinnt, geht parallel mit einer großen Zunahme an Schenk-Vermögen. Denn nie zuvor wurde, von Jahr zu Jahr sich mehrend, so viel verschiedenes und neuartiges Spielzeug geschenkt wie von den weihnachtlichen Gabenbringern des 19. Jahrhunderts.“39
Als Hauptfiguren weihnachtlicher Inszenierungen tragen Kinder also entscheidend dazu bei, ob eine Aufführung scheitert oder erfolgreich abläuft. Ihr früh erlerntes Wissen um die Struktur und den Inhalt des Rituals befördern indes die Bereitwilligkeit sich regelkonform zu verhalten, um beschenkt und nicht bestraft zu werden.40 Sie sind diejenigen, welche den Varianzen des Rituals auf mikrostruktureller Ebene viel Aufmerksamkeit entgegenbringen und sensibel auf Elemente reagieren, die auf materieller Ebene den Aufführungscharakter des Fests konstituieren.
39 Weber-Kellermann, Weihnachtsfest, S. 90. 40 Zu ‚Belohnung‘ und ‚Bestrafung‘ vgl. Martin, Jochen (Hg.): Zur Sozialgeschichte der Kindheit. Freiburg im Breisgau 1986.
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2.7 G ESCHLECHTERBILDER An der Organisation des Weihnachtsfests manifestieren sich signifikante Kennzeichen der bürgerlichen Familie.41 Im Zuge dessen werden bei jeder weihnachtlichen Aufführung Machtstrukturen konstruiert und bestätigt. Denn, wie Christoph Wulf schreibt, Rituale „schaffen und verändern soziale Ordnungen und Hierarchien.“42 Demzufolge findet auch an Weihnachten ein gesellschaftlich wirksamer Herrschaftsdiskurs statt. Ehepartner führen sich gegenseitig und anderen im Sinne bürgerlicher Rollenspiele bestehende Geschlechterverhältnisse vor. Während in bürgerlichen, patriarchalisch geprägten Familien der Ehemann normalerweise durch Arbeit die wirtschaftlichen Voraussetzungen für das Weihnachtsfest schafft, ist die Ehefrau für die Einkäufe der Geschenke und Lebensmittel zuständig und primär im häuslichen Wirkungskreis aktiv. Die Ebene der Ausstattung bietet den Frauen einen Gestaltungsfreiraum, wohingegen die Festdramaturgie eine verhältnismäßig strikte Ordnung darstellt. Somit wird die Bescherfeier nicht nur für die Kinder inszeniert, sondern auch benutzt, um bestehende innerfamiliäre Machtverhältnisse zu bestätigen. 43 Zahlreiche, von Männern im 19. Jahrhundert verfasste Schilderungen des Weihnachtsfests etwa von Theodor Storm,44 Friedrich Schleiermacher45 oder Friedrich
41 Doris Foitzik konstatiert für die Entwicklung der bürgerlichen Familie: „Mit den veränderten Bedingungen des Broterwerbs änderten sich auch die Familienstruktur und das Rollenbild der einzelnen Familienmitglieder. Da die Erwerbstätigkeit nicht mehr im eigenen Haus stattfand, war der Mann den ganzen Tag abwesend, und die Aufgabe der Frau reduzierte sich, statt ihrer vorherigen Mitwirkung bei Handel und Gewerbe, immer mehr auf die Hausarbeit, Kindererziehung und die Schaffung eines gemütlichen Familienlebens.“ Foitzik, Rote Sterne, S. 20. 42 Wulf, Einleitung, S. 8. 43 Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main 1991. / Dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main 1997. 44 „Aber während die Mutter nebenan im Wohnzimmer noch das Fest bereitete, blieben Vater und Sohn allein [...]. Ein paarmal hatte Harro mit bescheidenem Finger an die Tür gepocht, und ein leises ‚Geduld! ‘ der Mutter war die Antwort gewesen. Endlich trat Frau Ellen selbst herein. Lächelnd [...] streckte sie ihre Hände aus und zog ihren Mann und ihren Knaben, jeden bei einer Hand, in die helle Weihnachtsstube.“ Storm, Theodor: Unter dem Tannenbaum. Berlin 1948 (1862), S. 20. 45 „Nicht lange, so öffnete Ernestine die Türe, an der sie angelehnt stehen blieb. Allein, anstatt das die muntere Schar begierig, wie man erwarten sollte, zu den besetzten Ta-
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Nietzsche46 inszenieren dementsprechend Frauen als die eigentlichen Spielleiterinnen des weihnachtlichen Spektakels.47 Sie entwerfen ein Ideal aufopferungsvoller Mütter, die sich vollkommen den Bedürfnissen der Männer und Kinder verschreiben und den Haushalt verwalten. Abbildung 4: Unter dem Weihnachtsbaum
Farblithographie von Robert Beyschlag (1892)
feln geeilt wäre, wendeten sich in der Mitte des Saales, wo man das Ganze überschauen konnte, alle Blicke auf sie. So schön war die Anordnung und ein so vollkommener Ausdruck ihres Sinnes, daß unbewußt und notwendig Gefühl und Auge zu ihr hingezogen wurden. Halb im Dunkel stand sie da und gedachte sich unbemerkt an den geliebten Gestalten und an der leichten Freude zu ergötzen: aber sie war es, an der sich alles zuerst ergötzte.“ Schleiermacher, Weihnachtsfeier, S. 7. 46 „Da, wer beschreibt unsern Jubel, öffnet die Mama die Tür. Hell strahlt uns der Christbaum entgegen und unter ihm die Fülle der Gaben!“ Nietzsche, Friedrich: Autobiographisches aus den Jahren 1856-1869. München 1954, S. 10. 47 Vor dem Biedermeier wurde das Weihnachtsfest in der Literatur kaum thematisiert, im Laufe des 19. Jahrhunderts erscheint es dann häufig als Motiv im bürgerlichen Roman und in Weihnachtserzählungen. Vgl. Foitzik, Rote Sterne, S. 21.
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Am Heiligabend können Frauen also nunmehr demonstrieren, dass sie ihre Rolle als Hausfrau vorbildlich beherrschen, denn zu Beginn des 19. Jahrhunderts beginnen die „drei großen K: Kirche – Küche – Kinder, die als die Lebenswelt der Bürgersfrau gepriesen und gescholten werden, […] ausschließliche Bedeutung zu erlangen.“48 Überdies versucht man mithilfe der Geschenke die Kinder ebenfalls auf ihre zukünftigen Rollen einzustimmen. Oftmals werden Mädchen mit Puppen auf ihr Muttersein vorbereitet. Jungen erhalten hingegen Geschenke, die ihre intellektuellen Fähigkeiten anregen und sie gewissermaßen auf Rollen im öffentlichen Leben vorbereiten. „Dem Jungen standen im Gegensatz zum Mädchen verschiedene berufliche Möglichkeiten offen, das Spielzeug förderte sowohl künstlerische als auch wissenschaftliche Neigungen und diente gleichzeitig der patriotischen Erziehung.“49
2.8 G ABENBRINGER Seit den 1840er Jahren ist der Einsatz externer weihnachtlicher Gabenbringer wie dem Christkind oder dem Weihnachtsmann als Erklärungsmodell für die Herkunft von Geschenken eine immer stärker verbreitete Praxis. 50 Ihre komplexen Traditionsstränge und Entwicklungslinien wurden von der volkskundlichen Forschung intensiv untersucht, wobei weder das Christkind noch der Weihnachtsmann eindeutig einzelnen Regionen oder einer Konfession zuzuordnen ist. Das Christkind verbreitet sich zunächst im evangelischen Deutschland und ist auf Initiativen Martin Luthers zurückzuführen,51 die katholische Verehrung des heiligen Nikolaus durch den ‚Heiligen Christ‘ zu ersetzen. Im 17. und 18. Jahrhundert breitet sich der Brauch auch in katholischen Regionen aus. In der Schweiz vertreibt das Christkind etwa den Chlaus, in manchen Teilen Nord- und Mitteldeutschlands wird es hingegen zunehmend vom Weihnachtsmann abgelöst. Die engelsgleiche Darstellung der Figur des Christkindes als mythischem Gabenbringer hat ihren Ursprung vermutlich primär in weihnachtlichen Umzugsbräuchen, in denen „engelhafte Gestalten, als Herolde und Begleiter mitgin-
48 Weber-Kellermann, Familie, S. 102. 49 Foitzik, Rote Sterne, S. 25. 50 Vgl. Eberspächer, Weihnachtsmann, S. 74. 51 Vgl. Weber-Kellermann, Weihnachtsfest, S. 98.
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gen, weißgewandete Mädchen mit offenem Haar, deren Anführerin das häufig verschleierte ‚Christkind‘ war“.52 Abbildung 5: Der Pelzmärtel
Franz von Pocci (1846)
Der Weihnachtsmann setzt sich erst im 19. Jahrhundert durch und wird als „Sammelbegriff einer Vielfalt von populären männlichen Schenkfiguren der Weihnachtszeit gebraucht.“53 In Grimms Deutsches Wörterbuch ist seine erste 52 Dies., Familie, S. 231. 53 Eberspächer, Weihnachtsmann, S. 10.
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Erwähnung – als Synonym für ‚Christkind‘ – auf 1820 datiert.54 Hoffmann von Fallersleben dichtet fünfzehn Jahre später „Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt mit seinen Gaben“. In der volkskundlichen Forschung wird davon ausgegangen, dass sich in der Figur des Weihnachtsmanns Attribute des Heiligen Nikolaus und Knecht Ruprecht verbinden.55 Der Weihnachtsmann löst jedoch im 19. Jahrhundert andere mythische Gabenbringer zunächst nicht vollständig ab, so dass bildliche und textliche Quellen aus der Zeit weiterhin Nikoläuse, Knecht Ruprechte, Pelzemärtel, Perchte oder Chläuse als weihnachtliche Gabenbringer anführen. Diese unterscheiden sich allerdings nicht signifikant voneinander und stehen weitestgehend für ein ähnliches Phänomen. Als Christkind verkleidete Erwachsene treten zu Hause normalerweise nicht in Erscheinung. Dadurch bleibt das Christikind primär ein geheimnisvolles Wesen, das in der Phantasie der Kinder existieren und als Erklärungsmodell für die Herkunft von Geschenken dienen kann. Der Weihnachtsmann hingegen wird am Heiligabend durchaus manchmal von Familienmitgliedern oder Fremden für Kinder dargestellt. Im Gegensatz zu anderen Familienmitgliedern, die lediglich sich selber spielen, interpretiert hier jemand eine fiktive Figur. Ganz gleich, wer den Weihnachtsmann darstellt, ergibt sich seine Identität als Figur erst über eine unverkennbare Verkleidung, einen artifiziellen Sprachstil und Requisiten. Mithilfe seines Auftritts wird das Wohnzimmer tatsächlich kurzzeitig in eine Bühne transformiert. Der Mythos eines anonymen Gabenbringers wird sinnlich erfahrbar gemacht. Eltern sind hierbei normalerweise insofern Mitspieler, als sie die reale Existenz der fiktiven Gestalt behaupten und verbergen, dass alles nur ein Spiel ist. Die inszenierte Wirklichkeit wird als nicht inszenierte Wirklichkeit ausgegeben. Entweder akzeptieren es die Kinder, oder sie durchschauen alles und spielen ihren Eltern wiederum etwas vor,56 oder alle wissen um die Verkleidung und genießen primär die sich durch den Auftritt einstellende Ereignishaftigkeit des Bescherrituals. Der Einsatz eines verkleideten Gabenbringers, der als einziger weihnachtlicher Gast etwas Familienfernes repräsentiert, verstärkt die Ästhetisierung der Wirklichkeit. In ihm manifestiert sich die Ikonizität des Bescherrituals. Er potenziert den Grad an theatraler Aufladung des Fests. Trotz der vielfältigen Ver-
54 Ebd., S. 11. 55 Vgl. Mezger, Werner: Sankt Nikolaus. Zwischen Kult und Klamauk. Zur Entstehung, Entwicklung und Veränderung der Brauchformen um einen populären Heiligen. Ostfildern 1993, S. 221. 56 So gesteht Harro seinem Vater viele Jahre später: „Ich wußte wohl, daß es Onkel Johannes war!“ Storm, Unter dem Tannenbaum, S. 17.
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kleidungen von Weihnachtsmännern im 19. Jahrhundert dienen als Kostüm fast immer ein langer Mantel und eine Mütze,57 die normalerweise um einen Rauschebart, manchmal auch um eine Brille oder Maske ergänzt sind. Oft wird dieses Kostümbild um einen spezifischen, schlurfenden Gang, eine verstellte Stimme und eine gebückte Haltung erweitert. Dazu kommen Requisiten wie eine Rute, ein Sack und Geschenke. Auf den Auftritt durch die Haus- oder Wohnzimmertür folgt für gewöhnlich die Frage nach dem guten Benehmen, dann entweder die Belohnung mit Geschenken oder die Bestrafung durch die Rute. Danach verschwindet der Gabenbringer wieder. Anders als in Umzügen auftretende Figuren wie Perchten oder Ruprechte ist die Figur des modernen Weihnachtsmannes paradigmatisch für den Prozess des bürgerlichen Rückzugs in einen der wichtigsten Orte bürgerlicher Sozialisation, das Haus. Eingedenk der Wirkungsmöglichkeiten des Weihnachtsmanns, die von der Erzeugung von Furcht hin zur Freude reichen, und seiner Aufgaben, die Belohnung genauso wie Bestrafung umfassen, besitzt er zudem pädagogische Funktionen. Mit seiner Hilfe können Eltern vor ihren Kindern verbergen, wer der eigentlich Schenkende ist.58 Wenngleich Eltern seinen Auftritt vorbereiten und mit ihm absprechen, tritt aus Kinderperspektive gegebenenfalls ein mystisch verklärter Unbekannter auf, der didaktisch auf sie einwirkt. Er erscheint als schenkende und richtende Figur, die Verhalten bewertet. Da er vermeintlich nicht dem innerfamiliären Kreis angehört, kann er als unabhängige Kontrollinstanz fungieren: „Tief war die Gestalt des Weihnachtsmannes in die Bürgerfamilie integriert: eine überhöhte Vaterfigur, gütig und streng zugleich, geliebt und gefürchtet, von unbestechlicher Gerechtigkeit und unantastbarem Urteil, verbreitete er Angst und Hoffnung in den Weihnachtsstuben.“59
Das Gestehen von Missetaten und die anschließende Entlastung durch den Weihnachtsmann kann für Kinder eine beinahe heilsame Wirkung entfalten und den Charakter einer säkularen Beichte annehmen. Der externe Gabenbringer spricht zugleich die Emotionen und den Intellekt an, unterhält und erzieht. Neben einer moralischen und ästhetischen Erziehung vermag er einen Einblick in
57 Vgl. Eberspächer, Weihnachtsmann, S. 165ff. 58 Zum Schenken vgl. Rost, Friedrich: Theorien des Schenkens. Zur Kultur- und humanwissenschaftlichen Bearbeitung eines anthropologischen Phänomens. Essen 1994. / Schmied, Gerhard: Schenken. Über eine Form sozialen Handelns. Opladen 1996. 59 Weber-Kellermann, Familie, S. 240.
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die Welt des Wunderbaren und Übernatürlichen zu gewähren. Auch kann er, wie von Jean Baudrillard dargelegt, als Metapher für elterliche Liebe gedeutet werden: „Was das Kind mit diesem Bild, mit dieser Funktion, mit diesem Alibi konsumiert und an das es glauben würde, selbst wenn es nicht mehr glaubte, ist diese wunderbare elterliche Fürsorge und Pflege, mit der es Vater und Mutter umgeben, um Komplizen dieses Weihnachtsmärchens bleiben zu können, wobei die Geschenke diesen Kompromiß bloß sanktionieren.“
60
2.9 M USIKALISCHE G ESTALTUNG Ein weiteres zentrales Element bürgerlicher häuslicher Weihnachtsfeiern ist Musik. Zumeist besteht die musikalische Gestaltung vor allem aus Weihnachtsliedern. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert werden zahlreiche neue Klavierlieder für einen häuslichen Aufführungskontext komponiert, die sich textlich vorrangig mit dem familiären Fest, der kalten Jahreszeit oder säkularen Bescherfiguren beschäftigen. Lieder wie „O Tannenbaum“, „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ oder „Leise rieselt der Schnee“ beispielsweise thematisieren das weihnachtliche biblische Geschehen keineswegs. Gleichwohl ergeben sich zwischen privater und kirchlicher Singpraxis durchaus interessante Wechselwirkungen. Mitunter finden Lieder, die wie etwa Paul Gerhardts „Ich steh an deiner Krippe hier“ für private Aufführungskontexte konzipiert wurden, ihren Weg in kirchliche Gesangbücher. Und manche Kirchenlieder werden gleichermaßen auch zu Hause aufgeführt. Zudem werden Lieder aus anderen Ländern übernommen. Johannes Daniel Falk und Heinrich Holzschuher schreiben „O du fröhliche“ auf die Melodie des italienischen Marienliedes „O sanctissima“. Karl Riedel z.B. verbreitet das böhmische Lied „Kommet, ihr Hirten“ in deutschsprachigen Gebieten und leitet eine Renaissance älterer Weihnachtslieder wie „Es ist ein Ros entsprungen“ ein. Auf diese Weise etabliert sich im 19. Jahrhundert ein vielfältiges Repertoire an Weihnachtsliedern, die leicht aufführbar sind. Das Singen vermag sowohl im säkularen als auch im kirchlichen Kontext zu kollektivieren, zu emotionalisieren und weihnachtliche Atmosphären zu erzeugen. Zudem ist Gesang in der Lage, das häusliche Wohnzimmer gleichsam in einen Kirchenraum zu transformieren. Auch im
60 Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt / New York 1991, S. 205ff.
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Privaten wird Weihnachtsmusik ein wichtiges Medium für die Schafffung kultureller Identität. Häusliche Vokalmusik kann, wie von Theodor W. Adorno für Kammermusik beschrieben, in der häuslichen „Zufluchtsstätte“ Innerlichkeit unter „Verzicht auf […] Öffentlichkeit“ herstellen.61 Ein zutiefst theatrales Fest wird um eine weitere sinnstiftende, sinnliche Ebene ergänzt. Abbildung 6: Das Weihnachtslied
Oscar Gräf, erschienen in Die Gartenlaube (1893)
61 Adorno, Theodor W.: „Kammermusik“, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Band 14. Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. Darmstadt 1998, S. 271-291 (S. 272).
3. Weihnachtliches Theater im 18. und frühen 19. Jahrhundert
Bereits im Mittelalter wird in der Weihnachtszeit Theater gespielt. Im kirchlichen Kontext entstehen lateinische Spiele.1 Die frühesten Überlieferungen stammen hier aus dem 11. Jahrhundert.2 Die Weihnachtsspiele werden zunächst primär von Geistlichen, auch jungen Klerikern aufgeführt. In Kirchen spielt man Hirten- und Magier- samt Herodesspielen, deren Umfang langsam erweitert wird. Das mittelalterliche „frühe weihnachtliche Repertoire [weist] mit Nikolaus-, Sibyllen- und Prophetenspielen sowie Darstellungen der klugen und törichten Jungfrauen, der Geburt Christi, des bethlemitischen Kindermordes, der Magier und des komischrasenden Herodes eine thematische Vielfalt auf, deren theatrale Gestaltung einen souveränen Umgang mit Bibeltexten und hagiographischen Schriften erkennen lässt.“3 Musik ist konstitutiv, „neben die originalen liturgischen Gesänge sowie Tropen und Sequenzen treten nur langsam und vereinzelt auch landessprachliche Volksgesänge.“4 Ab dem 12. Jahrhundert werden zunehmend auch nichtlateinische Spiele verfasst und aufgeführt, die Weihnachtsspiele lösen sich allmählich aus dem kirchlichen Aufführungskontext. Das älteste deutschsprachige Weihnachtsspiel stammt aus St. Gallen und ist in einer Handschrift des 14. Jahrhunderts überlie-
1
Vgl. Böhme, Martin: Das lateinische Weihnachtsspiel. Grundzüge seiner Entwicklung. Leipzig 1916. / Hardison, Osborne Bennett: Christian Rite and Christian Drama in the Middle Ages. Baltimore 1965, S. 313-315. / King, Norbert: Mittelalterliche Dreikönigsspiele. Freiburg (Schweiz) 1979. / Krieger, Dorette: Die mittelalterlichen Spiele und Spielszenen des Weihnachtsstoffkreises. Frankfurt am Main 1990.
2
Vgl. Loos, Weihnachten, S. 25.
3
Kröll, Verkehrungsspiele, S. 49.
4
Loos, Weihnachten, S. 27.
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fert.5 Im Gegensatz zu den lateinischen liturgischen Spielen werden diese Spiele durchaus außerhalb des Kirchenraums, auf der Straße oder in Gasthäusern dargeboten. Als Darsteller treten Handwerker, Bürger, ab dem 16. Jahrhundert zudem auch Frauen auf.6 Die volkssprachlichen Weihnachtsspiele basieren zwar auf denselben Themenkreisen wie die liturgischen Texte, entstehen ansonsten aber von diesen weitgehend unabhängig. Auf Ebene der inhaltlichen und sprachlichen Gestaltung sind sie gewissermaßen weltlichter und weniger erhaben. Die Sprache ist oftmals gröber als in den lateinischen Spielen, die Hirtenszenen erhalten einen großen Anteil an derbem Humor, Maria wird mit mütterlichen Aufgaben wie Windelwechseln oder dem Kochen von Brei gezeigt. In den folgenden Jahrhunderten werden weiterhin Weihnachtsspiele aufgeführt und stetig modifiziert, zumeist mündlich bzw. mithilfe von Handschriften überliefert und nur äußerst selten gedruckt. Es prägen sich unterschiedliche, konfessionell und regional geprägte Traditionsstränge und Spielformen aus,7 die zum Teil zahlreiche Elemente profaner Weihnachtsbräuche oftmals heidnischen Ursprungs in die Spiele integrieren. Gleichwohl bauen grundsätzlich sämtliche Spiele trotz „aller stofflichen Erweiterung auf den kirchlichen Vorlagen auf, den Evangelientexten.“8 „Wie entwickelten sich nun die Aufführungen im konfessionellen Gegensatz der Landschaften? Den katholischen Weihnachtsspielen mit ihrem Kindleinwiegen und den Einkehrbräuchen des heiligen Nikolaus widersetzen sich bald die von der Reformation ergriffenen Gebiete Mittel- und Norddeutschlands. Bischof Nikolaus als Hauptperson wurde ausgetauscht mit dem Heiligen Christ, und so entstand ein eigener Typus des protestantischen Bescherspiels. Über dessen Anfänge ist aber interessanterweise gerade Ausführliches durch die Verbote eifernder evangelischer Geistlicher des 16. und 17. Jahrhunderts zu erfahren, denen der personifizierte Heilige Christ keineswegs paßte. Sie wandten sich gegen die heidnischen Elemente der Spiele, gegen Larven und Masken, Perchten und Unholde und auch gegen das maskierte ‚Christkind‘; sie wetterten gegen die Spieltexte als ‚päpstische Greuel und Götzendienst‘, gegen die Verunglimpfung der Person Jesu Christi als gabenbringender Heiliger Christ! Während die katholische Kirche es verstand, die Ge-
5
Vgl. ebd., S. 31. / Klapper, Joseph: Das St. Galler Spiel von der Kindheit Jesu. Unter-
6
Vgl. Loos, Weihnachten, S. 28.
7
Vgl. zu den Entwicklungen in den verschiedenen Regionen: Lebold, Reinhold: Die
suchungen und Text. Breslau 1904.
Entwicklung der Bescherungsspiele und die nordostfränkischen Einkehrspiele am Weihnachtsabend. Dissertation Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg 1971. 8
Weber-Kellermann, Weihnachtsfest, S. 60.
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fühle der ‚kleinen Leute‘ aufzufangen und in der wärmenden Hülle buntgestalteter Religiosität zu katholischer Volksfrömmigkeit umzuleiten, wollten die Protestanten klare Verhältnisse: den reinen Glauben ohne Blendwerk.“9
Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert erfährt weihnachtliches Theater in Deutschland dann tief greifende strukturelle Veränderungen, die in einem engen Zusammenhang mit der Transformation der weihnachtlichen Festkultur stehen. Es ist ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel zu beobachten, der sich mit den Begriffen Verbürgerlichung, Literarisierung, Urbanisierung und Professionalisierung fassen lässt, und zu einer neuen Vielfalt im Bereich weihnachtlichen Theaters führt. Einerseits werden aufgrund der zunehmenden Dominanz städtischbürgerlicher Kultur und aufgrund obrigkeitsstaatlicher Dekrete ländliche Bräuche und religiös volkstümliche Spieltraditionen zum Teil drastisch reduziert, obgleich sie partiell durchaus bestehen bleiben. Andererseits entstehen sowohl für professionelle Bühnen als auch für den häuslichen Gebrauch neue Stücke, die für gewöhnlich veröffentlicht werden.10 Im Gegensatz zu den vor allem mündlich tradierten, vorrangig nach handgeschriebenen Manuskripten zur Aufführung gebrachten Weihnachtsspielen, setzen sie sich mit der weihnachtlichen Familienfeier bürgerlicher Prägung auseinander und reflektieren „Festerwartungen, Festkritik, Festentwürfe“11 und die weihnachtliche Bescherfeier als „Praxis rituellen Verhaltens“.12 Deshalb dienen sie nicht der Vergegenwärtigung der biblischen Weihnachtsgeschichte, wohingegen die weihnachtlichen Volksschauspiele, die im 18. und 19. Jahrhundert noch zur Aufführung kommen, selbstverständlich weiterhin darum kreisen. Durch sichtbare Aktionen soll hier das in den Evangelien Berichtete szenisch gestaltet werden.
9
Ebd., S. 64f.
10 Meyer, Reinhart: „Limitierte Aufklärung. Untersuchungen zum bürgerlichen Kulturbewußtsein im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert“, in: Bödeker, Hans Erich und Ulrich Herrmann (Hg.): Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Göttingen 1987, S. 139-200 (S. 186). 11 Primavesi, Patrick: Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800. Frankfurt am Main 2008, S. 406. 12 Ebd.
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3.1 W EIHNACHTSSPIELE
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Zahlreiche im 19. Jahrhundert veröffentlichte Sammlungen deutscher Weihnachtsspiele und Quellen aus dem 18. Jahrhundert belegen,13 dass es im 18. Jahrhundert weder in protestantischen noch in katholischen Regionen zu einer vollständigen Eliminierung weihnachtlicher Volksschauspiele und theatraler Weihnachtsbräuche im öffentlichen Raum kommt,14 wenngleich vielerorts vonseiten der Obrigkeit Initiativen gestartet werden, ältere weihnachtliche Spieltraditionen zu unterbinden oder zu minimieren. „Das Volk schätzte die ausgelassenen Feste und wilde Maskenbräuche; die Obrigkeit betrachtete sie mißtrauisch als unwürdige ‚Ahlefanzereien‘ (Possenreißerei, Narretei) – als Ausschreitungen im Gewand des Volksbrauches.“15 Durch die Favorisierung eines Rückzugs in geschlossene Räume soll auf eine im Privaten begangene Festpraxis hingewirkt werden. Viele dieser Unternehmungen sind Teil der „Diskreditierung des nichtillusionistischen ‚Volkstheaters‘“16 und des umfassenden Versuchs, regional volkstümliche und geistliche Spiele zu limitieren, mit denen die Entstehung des bürgerlich geprägten Literatur- und Bildungstheaters im 18. Jahrhundert grundsätzlich einhergeht. Im Zuge einer „Entkultivierung der Landbezirke“ 17 reduzieren sich in den ländlichen deutschsprachigen Regionen sowohl die Vielseitigkeit nichtprofessioneller theatraler Unterhaltungsformen als auch das Angebot kultureller Aktivitäten zum Teil drastisch zugunsten einer zunehmenden Dominanz bürgerlich städtischer Kultur.18 In den Städten versucht man ebenfalls, gegen verschiedene theatrale Formate vorzugehen. In diesem Sinne werden zeitweilig im Kontext „der Errichtung der stehenden Bürgertheater in fast allen Städten das Krippenspiel vor den Kirchen, die derben Marionettentheater oder die Auftritte von Gauklern“19 verboten. Auch geht man gegen Passionsspiele,20 Fronleich-
13 Vgl. Kapitel 5.1. 14 Vgl. Lebold, Bescherungsspiele, S. 161. 15 Vgl. Eberspächer, Weihnachtsmann, S. 26. 16 Heßelmann, Peter: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel der deutschsprachigen Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750-1800). Frankfurt am Main 2002, S. 166. 17 Ebd., S. 142. 18 Ebd., S. 168. 19 Möller, Frank: „Zwischen Kunst und Kommerz. Bürgertheater im 19. Jahrhundert“, in: Hein, Dieter und Andreas Schulz (Hg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt. München 1996, S. 20-33 (S. 25).
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namsaufführungen und sämtliche Straßenkünstler vor.21 So berichtet etwa 1784 die Litteratur- und Theater-Zeitung: „Die allerbesten Volksspektakel in Bayern sind Komödien und Pferderennen. Unter den Komödien begreife ich alle weltliche und geistliche Schauspiele. Dazu gehören Gaukler, Taschenspieler, Seiltänzer, Marionetten, Komödien, Tragödien, Charfreitagsprozeßionen, Fronleichnamsprozeßionen, Mirakelwirkereien etc. Vor Zeiten hatte die Nation deren die Hüll‘ und Füll‘; man spielte noch in den Jahren 1762 und 1763 in einigen Klöstern am grünen Donnerstag in der Kirche Komödien. Die Passionsspiele am Charfreitag waren ein unvergleichlicher Leckerbissen für den Schauspielhunger der Bayern; es waren manche darunter, die des P. Sebastian Seilers Erschaffung der Welt noch unendlich übertrafen. Die Prozessionen aller Art waren ein andres Gericht, das noch obendrein gratis gegeben ward. Alle diese sind nun zum großen Verdruß der Bayern abgestellt.“22
Ferner versucht man andere weihnachtliche Spieltraditionen wie Umzüge, das „Herumziehen des Klaubaufs“23 oder Bescherbräuche aus dem öffentlichen Leben zu verbannen und ist damit zum Teil recht erfolgreich,24 wie Reinhold Lebold 1971 in seiner Studie zur Entwicklung der Bescherungsspiele und Einkehrspiele am Weihnachtsabend konstatiert: „Die nachhaltige Verbotswelle, die am Ende des 17. und am Beginn des 18. Jahrhunderts gegen das weihnachtliche Vermummungs- und Umzugsbrauchtum, besonders aber gegen die Darstellung des Heiligen Christ in einfachen Umzügen oder in den Bescherungsspielen einsetzte, brachte diese Brauchtumsformen in den Städten bald zum Erliegen. Getragen wurde diese Bewegung gegen die Spiele von den einzelnen Stadt- oder Landesregierungen, gefördert durch die meisten protestantischen Geistlichen und durch eine gelehrte Oberschicht, der die brauchtümlichen Äußerungen des Volkes nicht verständlich sein konnten.“25
20 Vgl. hier z.B. Sikora, Adalbert: „Kampf um die Passionsspiele in Tirol im 18. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für Österreichische Volkskunde. Band 2 (1906), S. 185-207. 21 Vgl. Untersuchung von Frieß, Hermann: Theaterzensur, Theaterpolizei und Kampf um das Volksspiel in Bayern zur Zeit der Aufklärung. Regensburg 1937. 22 O.A.: „Von den Volksspektakeln in Bayern, und besonders von der Schaubühne zu München“, in: Litteratur- und Theater-Zeitung, 23. Oktober 1784, S. 49-56 (S. 49). 23 Vgl. Frieß, Theaterzensur, S. 73f. 24 Vgl. Lebold, Bescherungsspiele, S. 146. 25 Ebd., S. 160f.
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Dennoch beweisen viele historische Quellen, dass gewisse weihnachtliche Spieltraditionen in den Städten und auf dem Land beibehalten werden. „Religionszugehörigkeit, schichtspezifische Bräuche und regionale beziehungsweise Stadt-Land-Differenzen beeinflussen den unterschiedlichen Umgang mit dem Weihnachtsfest in Deutschland“26 und somit auch einen unterschiedlichen Umgang mit lokalen theatralen Traditionen. Während zum einen die verschiedenen deutschen Länder unterschiedlich strikt gegen Spiele, Umzüge etc. vorgehen, sind die Verbote zum anderen in der Praxis nur schwer konsequent flächendeckend umsetzbar. Daneben können von Gemeinden oder einzelnen Personen durchaus Anträge auf Ausnahmegenehmigungen gestellt werden, 27 auch wenn die Verbote gleichwohl nur aufgehoben werden, wenn „ein vor der Aufführung eingereichter Spieltext von der zuständigen Zensurbehörde genehmigt“ 28 wird. Wie Reinhart Meyer 1987 in seiner Untersuchung des bürgerlichen Kulturbewusstseins im ausgehenden 18. Jahrhundert darlegt, geht es hierbei „nicht nur um die ökonomische Leistungsfähigkeit der Provinz, sondern auch um die Kontrolle von Inhalten, die nur anhand gedruckter Texte vorgenommen werden konnte.“29 Lorenz Westenrieder beispielsweise erwähnt 1783 Weihnachtsspiele in Münchener Zechstuben.30 Alexander Tille legt 1893 in Die Geschichte der deutschen Weihnacht dar, dass in der Vergangenheit obrigkeitsstaatliche Verbote und kirchlichen Sanktionen wenig bewirkt hätten,31 wie die exemplarische Betrachtung verschiedener Regionen in den nächsten Kapiteln deutlich macht.
3.1.1 Preußen, Sachsen und Zellerfelde Auch der preußische König versucht, weihnachtlichen Spieltraditionen entgegenzuwirken und erlässt am 23. Dezember 1739 ein Edikt gegen „ChristabendAhlefanzereien“:
26 Eberspächer, Weihnachtsmann, S. 28. 27 Vgl. Beispiele für nicht vergebene Genehmigungen bei Frieß, Theaterzensur, S. 74 und 194. 28 Heßelmann, Gereinigtes Theater, S. 167. 29 Meyer, Limitierte Aufklärung, S.181. 30 Westenrieder, Lorenz: Beschreibung der Haupt- und Residenzstadt München im gegenwärtigen Zustande. 3 Teile. Faksimile-Nachdruck des 1782 bei Strobl, München erschienenen Originals. München 1984, S. 285-287. 31 Tille, Alexander: Die Geschichte der deutschen Weihnacht. Leipzig 1893, o.S.
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„Wir vernehmen missfällig, wie bisher noch der Gebrauch gewesen, daß am Christabend vor Weihnachten Kirche gehalten, das Quem pastores [ein lateinisches, kirchliches Weihnachtslied, auch bekannt als Quempas, A.d.V.] gesungen worden, und die Leute mit Kronen, oder auch Masken von Engel Gabriel, Knecht Ruprecht, u.s.w. gegangen, auch dergleichen Ahlefanzereien mehr getrieben worden. Wenn Wir aber solches Unwesen nicht gestattet wissen wollen, so befehlen Wir Euch hierdurch allergnädigst: den Tag vor Weihnachten die sämtlichen Kirchen des Nachmittags schließen zu lassen, und überall in Eurer Inspektion scharf zu verbieten, daß so wenig die sogenannten Christabend- oder Christnachtspredigten weiter gehalten, noch das Quem pastores weiter gesungen, oder dergleichen bisher üblichen Ahlefanzereien mehr getrieben werden.“32
In den folgenden Jahrzehnten in Preußen und Sachsen publizierte Berichte belegen jedoch, dass in der Weihnachtszeit im öffentlichen Raum begangene weihnachtliche Festbräuche dort durchaus weiterhin existieren. Christian Felix Weiße etwa kritisiert 1776 in der wöchentlich in Leipzig erscheinenden Zeitschrift Der Kinderfreund weihnachtliche Umzüge und außerfamiliäre Bescherbräuche. Er spricht sich somit gewissermaßen für eine Privatisierung der weihnachtlichen Festkultur aus: „So sehr ich also diese Weihnachtsfreude (die Zeit, wo der Erlöser in die Welt kam...) billige, so wenig kann ich doch derjenigen Beyfall geben, die vor Zeiten den dieser Gelegenheit fast durchgängige Mode war, und es vielleicht noch an vielen Orten ist; ich meyne die, die mit den albernsten und kindischsten Vorstellungen, und abergläubischsten Possenspielen begleitet wurde. Man machte nämlich den Kindern weis, Christus selbst gieng wieder auf Erden umher, und belohnte die guten durch Drechslerpuppen, Pfefferkuchen, und andere solche Spielwerke: er habe aber auch einen Knecht Ruprecht, dem man die scheußlichste Gestalt gab, bey sich, der die ungezogenen Kinder statt der Belohnung in den Sack stecke, und ich weiß nicht wohin schleppe. Es giengen selbst in großen Städten Schüler, Handwerksburschen, Soldaten, oft von dem liederlichsten Gesindel verfolgt, unter einer solchen Gestalt umher, wozu sich noch immer die heiligen drey Könige gesellten, spielten in den Häusern die ungereimtesten Fratzen, und wurden von den Aeltern dafür reichlich bezahlt. Man jagte den armen Kindern, denen man nicht wohl wollte, dabey die größte Furcht ein, und ich weiß Beyspiele, daß man sie bis zum bösen Wesen zu fürchten gemacht. Sie mussten wohl ein viertel Jahr vorher die wunderlichsten Gebeter auswendig lernen: und wann sie dann Stunden lang beysammen sassen, und sie herschnatterten, so ließ sich der so genannte heilige Christ, oder vielmehr ein verkappter Hausknecht, mit ei-
32 Zitiert nach Biester, Johann Erich: „Bakchanalien in der Christnacht“, in: Berlinische Monatschrift. Band 4 (1784), S. 431-434 (S. 432).
48 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR nem alten Schellengeläute hören, warf eine Hand voll Haselnüsse in die Stube, streute Goldflinkern und bunte Papierschnipsel, als lauter Spuren von des heiligen Christ Gegenwart. Die Kinder wurden selbst oft bis in ihr zehntes Jahr und drüber in der albernen Unwissenheit erhalten, wer dieser so genannte heilige Christ wäre. Ja, manche Aeltern würden es für eine halbe Gotteslästerung gehalten haben, wenn man ihren Kindern vor der Zeit ihr Vorurtheil benommen hätte.“33
Auch in Zellerfelde34 um 1780 angeblich gefeierte, wilde nächtliche Christmetten sind in den Folgejahren Gegenstand mehrerer Artikel und werden zum Anlass genommen, über öffentliche Weihnachtsbräuche und weihnachtliche Gottesdienste zu reflektieren. Schon zur Zeit der Reformation hatte man damit begonnen, nächtliche Weihnachtsgottesdienste entweder auf den frühen Abend, den Nachmittag des 24. Dezembers oder auf den frühen Morgen des 25. zu verschieben.35 „Doch auch das hat nicht immer den gewünschten Effekt einer Verhinderung nächtlicher Umtriebe gehabt.“36 1783 erscheint eine drastische Schilderung der Zellerfelder Festpraktiken in Johann Ernst Fabris geographisches Magazin, die 1784 nur geringfügig modifiziert in der Berlinischen Monatsschrift referiert wird: „Der Gottesdienst ist in der Christnacht um 4 Uhr: die ganze Kirche ist erleuchtet, es wird musicirt und lateinisch gesungen, wobei die Sänger als Engel angekleidet sind, in weißen Hemden mit grünem Bande. Diese Herrlichkeiten locken den Pöbel aus den benachbarten Bergstädten hin, der, um sich gegen die Kälte zu schützen und um das Christfest zu begehen, sich reichlich vorher mit Brandtewein versieht […] Andere wälzen sich schamlos mit den mitgebrachten Weibspersonen in der öffentlichsten Unzucht herum.“37
33 Weiße, Christian Felix: „Über die Christ- oder Weihnachtsbescherung“, in: Ders.: Der Kinderfreund. Ein Wochenblatt. Teil 1. Leipzig 1776, S. 187-189. 34 Das heute zur Gemeinde Clausthal-Zellerfeld im Harz gehörende Zellerfelde ist seit 1780 Teil des Kurfürstentums Braunschweig-Lüneburg. 35 Vgl. Fuchs, Guido: Unsere Weihnachtslieder und ihre Geschichte. Freiburg 2009. 36 Ebd. 37 E.: „Doch eine Anfrage an den ungenannten Zellerfelder; christliche Bakchanalien in der Christnacht betreffend“, in: Berlinische Monatschrift. Band 1 (1784), S. 56-61 (S. 58ff).
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1788 erscheint zudem eine Radierung Daniel Chodowieckis mit dem Titel Bacchanalien in der Christnacht zu Zellerfelde.38 Im Rahmen der Debatte über die Zellerfelder Ereignisse sprechen sich verschiedene Autoren für eine gemäßigte, geordnete Feierpraxis aus und verurteilen volkskulturelle Weihnachtsbräuche zum Teil stark. Uneinigkeit besteht bei den Kommentatoren allerdings, ob „die Scene der Hölle“,39 dieser „wahrhaftig heidnische Greuel“,40 lediglich in Zellerfelde existiert, oder ob er in verschiedenen deutschen Regionen vollführt wird. Während ein Autor ihn als „ein Faktum von Zellerfelde, welches mir unglaublich vorkömmt“41 bezeichnet, konstatiert ein anderer in Johann Ernst Fabris geographisches Magazin, dass „auch an andern Orten Deutschlands […] die heiligen Gebräuche beobachtet werden“.42 Und Johann Erich Biester legt 1784 dar, dass im Brandenburgischen ebenfalls weihnachtliche „Saturnalien“ gefeiert würden, und dass das preußische Edikt von 1739 keine große Wirkung gezeigt habe. Jedoch ist er der Ansicht, dass man dem Pöbel nicht die verbliebenen Verkleidungs- und Umzugsbräuche wegnehmen solle: „Es ist mir doch erfreulich gewesen, zu sehen, wie lange man schon bei uns im Brandenburgischen gesucht hat, die christlichen Bakchanalien – oder, wie ich es [...] lieber nennen möge: Saturnalien – anzustellen. Ihre Monatsschrift redet dieß von Zellerfelde [...], wo sie noch vor kurzem bestanden; aber glauben Sie mir, sie bestehen noch an vielen Orten, selbst in unsern Landen. Und das, trotz des Befehles, den ich Ihnen abschreiben will; wenn anders nicht dieser Befehl bloß für die Hauptstadt galt. […] In der Hauptstadt mag dieses Edikt gleich gewirkt haben; in den Provinzialstädten ward wohl allenthalben noch vor kurzem, und wird itzt noch meistentheils die heilig geglaubte Feier begangen. Die Knaben lernen ihren Quempas (wie’s gewöhnlich heißt) absingen, und freuen sich auf die öffentliche Vorstellung, wie auf das lustigste Schlaraffenleben. Freilich ist mehrentheils die Zeit aus der Nacht in den Abend verlegt; aber die Kirche muß doch immer mit Lichten erhellt sein, und es bleibt doch immer theils einer Gaukelbude, theils einem tumultreichen Markte ähnlich. – In der Hauptstadt sind nur noch für den Pöbel die Verkleidungen ge-
38 Chodowiecki, Daniel: „Bacchanalien in der Christnacht zu Zellerfelde“, in: Berliner Genealogischer Calender auf das Jahr 1789. Berlin 1788, S. 60. 39 Borheck, August Christian: „Nachtrag zu der Nachricht von christlichen Bakchanalien in der Christnacht“, in: Berlinische Monatschrift. Band 3 (1784), S. 561-571 (S. 562). 40 Ebd. 41 E., Doch eine Anfrage, S. 58f. 42 C. K.: „Etwas aus dem Tagebuche eines Reisenden vom Jahre 1775. Vor diesmal von Zellerfelde auf dem Harze“, in: Johann Ernst Fabris geographisches Magazin. Band 1 (1783), S. 436-440 (S. 439).
50 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR blieben; und ich wünschte nicht, daß man sie ihm nähme. Warum soll er nicht bei den Vorstellungen von Herodes, den der Teufel mitten in seinem Staatsrathe zum bethlehemitischen Kindermorde beredet, indeß sein guter Engel ihn warnt, oder von den drei Königen aus Morgendlande, wovon der eine Mohr ist, oder auch vom schönen Engel Gabriel, oder vom fürchterlichen Knecht Ruprecht; warum soll er bei diesen Vorstellungen nicht, nach Belieben, Lachen oder Schrecken oder Glauben empfinde dürfen, indeß wir vor unserer regelmäßigen Bühne tödtliche Langeweile empfinden? Ich habe mehrere jener grotesken Spiele angesehn: einige Verse, vorzüglich des Teufels, waren drollig genug; und im Ganzen mögen sie den alten Mysterien der Engländer, den Mystéres oder Moralités der Franzosen, und den Autos sacramentales der Spanier nicht viel nachgestanden haben, nur daß die itzigen Schauspieler (gemeiniglich Kinder aus den Vorstädten) ihre Rollen, die ihnen nur durch Tradition überkommen sind, immer mehr verderben und verkürzen.“43
3.1.2 Bayern In Bayern versucht man vonseiten der Obrigkeit ebenfalls gegen weihnachtliche Spieltraditionen anzugehen. 1745 untersagt man von Handwerkertruppen in Wirtshäusern aufgeführte weihnachtliche Spiele mit der Begründung, dass „allerhand ausgelassenheiten, zotten und Possen vorbey gegangen, und weegen der dabey gewesenen Jungen Mägdlein selbst untereinand grein und rauffhandel abgesetzt, auch Gott gelästert worden“44 sei. Am 10. Dezember 1749 wird das bayerische Verbot erneuert: „Maximilian Joseph. Nachdem unser geistl. Rath zu nachdrucksamer abstellung derjenigen ungebühr und ärgernusse so bey denen adventszeiten in alhiesiegen Wührtshäusern mit dem sogenannten Weynacht Spielen vorbeygehn und getrieben werden, anheuer abermalen die Erinnerung gemacht, so hast du alles Ernstes zu verfügen, daß dergleichen schon verbottene Weihnacht und derley Spiel nicht ferner mehr verstattet werden.“45
Vor allem kirchliche Kreise kritisieren Weihnachtsspiele aufgrund des angeblichen Verlustes wahrer Religiosität und eines despektierlichen Umgangs mit der heiligen Weihnachtsbotschaft. So beklagt sich der Geistliche Rat etwa, dass die Spiele, die „in denen hiesigen Präu und Bierzäpflerhäusern zu deren katholisch und unkatholisch öfters berauschten Zechleuthen grösstem Gespött und offenba-
43 Biester, Bakchanalien, S. 431ff. 44 Zitiert nach Frieß, Theaterzensur, S. 74. 45 Ebd.
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rer ärgernus“46 gespielt würden, „nit nur zu keiner veneration dieses allerheiligsten Geheimniss der Menschwerdtung Christi, sondern Villmehres zum Despect dessleben lieffen“.47 Nach einem Verbot sämtlicher Passionsspiele im Kurfürstentum Bayern 1762 (ein Jahr später gibt es lediglich eine Ausnahmeregelung für die Oberammergauer Spiele),48 erweitert man die vormals vorrangig sittlich-religiöse Argumentationsstruktur in der Begründung zum erneuten kurfürstlichen Generalverbot aller geistlichen Spiele im Jahre 1784 um sozioökonomische Argumente und erklärt, Spiele hielten „das Volk von der Arbeit, Gebeth und anderen Geschäften“49 ab und verwöhnten ferner „zum Müßiggehen“.50 Dementsprechend verfügt auch Wilhelm IX. zu Hessen 1789, die weihnachtlichen Feierlichkeiten zu verkürzen und den „dritten Feyertage an Weihnachten, Ostern und Pfingsten“ abzuschaffen, um zu „würklichen Handlungen der Rechtschaffenheit und des arbeitsamen Fleißes“51 zu ermutigen. In Bayern stehen ebenso neben Weihnachtsspielen weitere volkstümliche Weihnachts- und Adventsbräuche unter Beobachtung und in der Kritik. Ein Schreiben des Gerichts Reichenberg von 1803 wirft auch Nikolausbräuchen eine verderbliche Wirkung vor: „In mehreren Gebieten Bayerns herrschet die schädliche Gewohnheit, daß Erwachsene beyderley Geschlechts sich am Vorabend des Nicolaitags in die fürchterlichsten Gestalten vermummen und als sogenannte Nikola von einem Hause zum anderen ziehen, um mit Einverständnis unvernünftiger Eltern den unerfahrenen Kindern Furcht und Schrecken einzujagen. Dieser Unfug, wodurch eben an dem unschuldigsten Theile des Menschengeschlechts die grösste Ungerechtigkeit geübt wird, verursacht in den zartesten Gemüthern nicht nur eine unauslöschliche und für das künftige Leben äusserst schädliche Furchtsam-
46 Ebd. 47 Ebd. 48 Vgl. Twellmann, Marcus: „Pietas Austriaca oder Mysterienschwindel?“, in: Diekmann, Stefanie, Christopher Wild und Gabriele Brandstetter (Hg.): Theaterfeindlichkeit. München 2012, S. 41-58 (S. 42f). 49 Zitiert nach Frieß, Theaterzensur, S. 142. 50 Ebd. 51 Hessen-Kassel, Wilhelm VIII. Landgraf von: „Wiederholte Abschaffung des dritten Feyertags an Weihnachten, Ostern und Pfingsten, im Hessencasselischen“, in: Journal von und für Deutschland. 6. Jahrgang (1789), S. 515-518.
52 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR keit, sondern hat auch auf die moralische Bildung der Jugend den verderblichsten Einfluss.“52
In München beispielsweise wird die Spielpraxis von weihnachtlichen Spielen im öffentlichen Raum wohl tatsächlich massiv reduziert. Hans Moser zeigt in einem Artikel 1953 auf: „Nach zahlreichen Verboten aller Advents- und Weihnachtsspiele in München von 1746 an hatten sich solche Spiele nur bei den Webern in der Vorstadt Au erhalten; gegen sie erging 1803 nochmal eine Verfügung.“ 53 Die kurfürstliche Landesregierung argumentiert in ihrem Verbot von Krippenspielen am 4. Januar 1803: „Sinnliche Darstellungen gewisser Religionsgegebenheiten waren nur in einem solchen Zeitraume nützlich oder gar nothwendig, in welchem das Volk noch auf einer so niedrigen Stufe der Cultur und der Aufklärung stand, daß man leichter durch Versinnlichung der Gegenstände als durch mündlichen Unterricht und Belehrung auf den Verstand wirken und dem Gedächtnisse nachhelfen konnte. Zu diesen sinnlichen Darstellungen gehören die sogenannten Krippen.“54
Gleichwohl werden in einigen bayerischen Regionen Spieltraditionen aufrechterhalten. In Dachau etwa und anderen oberbayerischen Gemeinden werden im 18. und frühen 19. Jahrhundert wiederholt Weihnachtsspiele aufgeführt. 55
3.1.3 Österreich Im Herzogtum Österreich56 zielen ebenfalls die „von Maria Theresia begonnenen und von Joseph II. fortgesetzten Maßnahmen […] auf eine Ersetzung des volkstümlichen Stegreifspiels durch ein literarisiertes Theater, die Durchsetzung einer
52 Zitiert nach Frieß, Theaterzensur, S. 74. 53 Moser, Hans: „Lorenz Westenrieder und die Volkskunde“, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde. 4. Jahrgang (1953), S. 159-188 (S. 186). 54 Zitiert nach May, Adolf: Volksschauspiele in Bayern. Erfurt / Leipzig 1892 (Kleine Studien: Wissenswertes aus allen Lebensgebieten. Heft 5), S. 6. 55 Vgl. Pernpeintner, Andreas: Aloys Georg Fleischmann (1880-1964). Musikalische Mikrogeschichte zwischen Deutschland und Irland. Tutzing 2014 (Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte. Hg. von Hartmut Schick. Band 73), S. 207f. 56 Vgl. etwa Glossy, Carl: „Zur Geschichte der Wiener Theatercensur“, in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft. 7. Jahrgang (1897), S. 238-340 (S. 249f).
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gereinigten deutschen Bildungssprache und die sittliche Erziehung eines bürgerlichen Publikums“57 ab: „Die Verstaatlichung des Theaters ging einher mit einer Unterbindung geistlicher Schauspiele.“58 Maria Theresia beginnt 1752 mit Reformen in Religionssachen, Joseph II. verbietet Volksschauspiele wie Krippenund Dreikönigsspiele 1777.
3.1.4 Württemberg In Württemberg wiederum ergehen im 17. und 18. Jahrhundert ebenfalls viele Verbote, die jedoch unterschiedlich motiviert sind. Zum einen gründen sie auf dem Gedanken einer Gewährleistung bürgerlicher Ruhe. Zum anderen sind sie primär religiös motiviert und basieren auf pietistischen Idealen einer verinnerlichten Frömmigkeit und Schrifttreue im Sinne einer Abwendung von allzu großer Sinnenfreude und Theatralik. „Der Geist der Zeit spricht aber auch aus der Begründung des Verbotes [des Steinheimer Weihnachtsspiels 1719 durch den Herzog]. Deutlich wird ein bestimmender Zug des Zeitgeistes vor allem in den landesväterlichen Ermahnungen, die mit der Begründung des Verbotes gekoppelt sind. Es sei den Seelen der Leute verträglicher, wenn sie sich anstatt zu der Komödie fleißig zur Kirche und zur Kinderlehre verfügen, auch sonst die Feiertage mit anderen geistlichen Übungen christlich-löblich in Stille zubringen würden. Innerhalb dieser Formulierung bietet sich vor allem ein Ausdruck zur Anknüpfung an: Kinderlehre. Sie ist nämlich eine der frühen organisatorischen Erscheinungen des vom Ende des 17. Jahrhunderts an aufkommenden Pietismus, der zuerst ausschließlich von der Oberschicht getragen wird.“59
In Stuttgart wird im 17. Jahrhundert des Öfteren das Singen von Kindern von Haus zu Haus in der Weihnachtszeit verboten. Hermann Bausinger beschreibt Entwicklungen in Württemberg in seinem 1959 erschienenen Sammelband zu Schwäbischen Weihnachtsspielen:60
57 Twellmann, Pietas Austriaca, S. 42. 58 Ebd. 59 Müller, Willi: „Das Steinheimer Weihnachtsspiel von 1688“, in: ebd., S. 7-46 (S. 23). 60 Vgl. Bausinger, Hermann: „Weihnachtliche Spiele der Barockzeit“, in: Ders. (Hg.): Schwäbische Weihnachtsspiele. Stuttgart 1959, S. 69-126.
54 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR „Auch das Schießen in der Neujahrsnacht wird mehr als einmal verboten, und am 21. November 1692 wird auch der Christkindleinsmarkt aufgehoben, weil die heilige Zeit durch ihn „profanirt“ werde. 1721 wird, zwei Jahre nach dem Verbot des Weihnachtsspiels, in Steinheim selber dem „Missbrauch, deß Pfefferns und Gaßen Lauffens“ gesteuert, indem man die Kinder am Tag der unschuldigen Kindlein in geordneter Weise beschenkt. Am 26. Februar 1750 wird in Großbottwar das Umhersingen und Musizieren vor den Häusern in der Christ- und Neujahrsnacht abgestellt.“61
3.2 F RÜHE W EIHNACHTSDRAMATIK Trotz einer Reduktion der Spielpraxis im Bereich traditioneller theatraler Formate und einem gewissen Bedeutungsverlust volkssprachlicher Spiele, findet insofern eine Vervielfältigung weihnachtlichen Theaters statt, als neue Stücke für Weihnachten veröffentlicht und aufgeführt werden. Dieses Phänomen einer speziell für Weihnachten verfassten bürgerlichen Dramatik bedeutet eine Nutzbarmachung stehender Bühnen für neue Entwürfe eines Festtheaters. Doch erweitern sich die Aktivitäten im Bereich weihnachtlichen Theaters und Spiels im 19. Jahrhundert trotzdem zunächst nicht nennenswert. Dies liegt vor allem in der quantitativ nicht hohen Zahl neu produzierter dramatischer Texte begründet. Lediglich ein geringer Teil der veröffentlichten literarischen Weihnachtsstücke wird wiederholt gegeben und in das Repertoire übernommen. Wirkliche Erfolgsstücke oder Kassenschlager sind sie nicht. Somit reagieren die deutschen Hof- und Stadttheater in der Mehrzahl mit ihren Dezemberspielplänen vor den 1860er Jahren kaum auf das Fest. 62 Dieser Umstand liegt u.a. in der grundsätzlichen Abkoppelung religiöser und künstlerischer Praktiken auf institutioneller Ebene des deutschen Theaters in der Moderne und in der erst allmählich sich ausdehnenden Theaterlandschaft vor der Gewerbefreiheit von 1869 begründet. Erst mit den Weihnachtsmärchen etabliert sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine deutlich populärere Form weihnachtlichen Theaters auf den deutschen Spielplänen. Gleichzeitig gehört der Theaterbesuch nicht zum familiären Bescherritual und findet vorrangig in der Vorweihnachtszeit statt, da die Theater am 24. Dezember geschlossen sind. Privaten Festpraktiken wird im Sinne starker Rückzugstendenzen der größtmögliche Raum eingeräumt. Der einzige öffentlich zu-
61 Ebd., S. 70. 62 Vgl. hierzu auch Tornau, Hildegard: Anfänge und Entwicklung des Weihnachtsmärchens auf der deutschen Bühne. Dissertation Universität Köln 1958, S. 231ff.
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gängliche Ort, der gegebenenfalls von Familien an Weihnachten gemeinsam aufgesucht wird, ist die Kirche. Da man an Weihnachten die Aufmerksamkeit ganz auf die reibungslose Aufführung des überaus theatralen weihnachtlichen Rituals lenkt, wird außerdem im Rahmen der häuslichen bürgerlichen Feier am 24. Dezember normalerweise auf Aufführungen im Sinne darstellenden Spiels verzichtet. Anders als in so manchen ländlichen Gebieten, in denen über Jahrhunderte Weihnachtsspiele und Umzüge ein unverzichtbarer Bestandteil des weihnachtlichen Fests waren, konzentriert sich die städtische bürgerliche Familie auf ihre privaten weihnachtlichen Feierformen, die eine beachtliche Theatralisierung erfahren. Auch Aufführungen weihnachtlicher Kinderschauspiele an Weihnachten im privaten Kreis stellen singuläre Ereignisse dar und sind kein konstitutiver Bestandteil des Fests. Christian Felix Weiße etwa verfasst im ausgehenden 18. Jahrhundert Kinderschauspiele, die in Form einer gemeinsamen Lektüre oder in Form von darstellendem Spiel als Unterhaltung, ästhetische Bildung und pädagogisches Mittel in die familiäre weihnachtliche Festkultur eingebunden werden sollen und sich klar der moralisch-sittlichen Erziehung von Kindern widmen.63 Nachweise über eine intensive Aufführungspraxis finden sich jedoch auch hier nicht. Gleichwohl geben einzelne Werke und verschiedene historische Phänomene weihnachtlich bürgerlichen Theaters aufschlussreiche Hinweise auf die Veränderungen der weihnachtlichen Fest- und Theaterkultur im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. In diesem Sinne folgt in den nächsten Kapiteln auf eine kurze Darstellung der typischen Kennzeichen bürgerlicher Weihnachtsdramatik eine Analyse der Kinderschauspiele Weißes und mehrer anderer exemplarischer Werke sowie eine kurze Darstellung der Entwicklung von Weihnachtsausstellungen und einer gezielt weihnachtlichen Spielplanpolitik am Beispiel des Leopoldstädter Theaters in Wien.
63 Weiße, Christian Felix: „Das Weihnachtsgeschenk. Ein kleines Lustspiel“, in: Ders.: Der Kinderfreund. Ein Wochenblatt. Teil 2. Leipzig 1777, 2. Auflage, S. 59-87. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. / Ders.: „Versprechen muß man halten, oder Ein guter Mensch macht andre gute Menschen. Ein Schauspiel für Kinder in Einem Aufzuge“, in: Ders.: Der Kinderfreund. Ein Wochenblatt. Teil 14. Leipzig 1779, 2. Auflage, S. 37-98. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.
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3.2.1 Kennzeichen früher bürgerlicher Weihnachtsdramatik Ganz unabhängig von genrespezifischen Eigenheiten und Schwerpunktsetzungen ähneln sich die Werke des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die für einen bürgerlich weihnachtlichen Aufführungstext konzipiert sind, in verschiedenen Punkten. Sie besitzen zumeist einen geringen Umfang.64 Die nur selten komplexe Handlung wird oft in lediglich einem Akt entwickelt, so dass die Aufführungsdauer nur selten eine Stunde überschritten haben dürfte.65 Bei den wenigen nachweisbaren musiktheatralen Werken wie Johann Baptist Schenks Singspiel Weihnachten auf dem Lande von 1786 oder Albert Lortzings Der Weihnachtsabend. Vaudeville in 1 Akt von 1832 ist die Komposition ebenfalls außerordentlich schlicht gehalten. Besetzungen sind eher klein, die Struktur des musikalischen Textes ist nicht übermäßig vielschichtig. Dennoch spielt bei beinahe allen weihnachtlichen Werken Musik eine wichtige Rolle. Viele Schauspiele enthalten Gesangsnummern. Über die Integration populärer Weihnachtslieder rufen sie weihnachtliche musikalische Topoi auf. Mithilfe der Bezugnahme auf eine zentrale weihnachtliche kulturelle Praxis wie den Gesang von Weihnachtsliedern kann bei einer szenischen Umsetzung weihnachtliche Stimmung multipliziert und auf häusliche sowie liturgische weihnachtliche Festpraktiken rekurriert werden. Auch kann es zu einer verstärkten Identifikation der Zuschauer mit der Bühnenhandlung, der Erzeugung eines Gefühls von Transzendenz, einer größeren Affizierung und emotionalen Beteiligung kommen. Da es sich fast durchweg um berühmte Weisen handelt, sind die Texte der Lieder ohne Noten in den dramatischen Text integriert. In Gustav Hagemanns 1799 veröffentlichtem Schauspiel Weihnachtsabend oder Edelmann und Bürger stimmt die Festgemeinschaft beispielsweise gemeinsam „Vom Himmel hoch da komm ich her“ (Weihnachtsabend oder Edelmann und Bürger, V. Akt, 9. Szene) an,66 in Anton Seyfrieds Der Weihnachts-Abend von 1868 singen arme Kinder „Heute in der heil’gen Nacht“ (Der Weihnachts-Abend, 2. Sze-
64 Ein Werk Louis Angelys trägt sogar den Untertitel „Lokaler Gelegenheits-Scherz“: Angely, Louis: Die Weihnachts-Präsente. Lokaler Gelegenheitsscherz in 1 Akt. Berlin 1842. 65 Werke wie Ein Tag vor Weihnachten oder Der Brautstand oder die Weihnachtsfeyer bilden hier eher Ausnahmen: Schmidt, Friedrich Ludwig: Der Brautstand oder die Weihnachtsfeyer. Ein Lustspiel in vier Aufzügen. Hamburg 1811. / Töpfer, Karl: Ein Tag vor Weihnachten. Schauspiel in 2 Akten. Düsseldorf 1840. 66 Hagemann, Gustav: Weihnachtsabend oder Edelmann und Bürger. Schauspiel in fünf Aufzügen. Grätz 1799. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.
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ne).67 August Wilhelm Hesse hingegen ordnet in seinem im selben Jahr publizierten Stück Weihnachten einen „mehrstimmigen Männer-Gesang (beliebige Einlage)“ (Weihnachten, 8. Szene) an.68 Außerdem sind alle Werke in einem heiteren, versöhnlichen, friedvollen, leicht rührenden und moralisierenden Ton verfasst. Sie haben stets einen guten Ausgang. Die Sphäre des Tragischen wird im Sinne eines Fests, das die Geburt Jesu Christi feiert und trotz Verbürgerlichung und Säkularisierung stets einen freudvollen Grundcharakter bewahrt, weitgehend vermieden. Stattdessen wird gerne umfassend mit Komik gearbeitet. Für sämtliche Konflikte gibt es Lösungsmöglichkeiten. Die Mehrzahl der Stücke ist in einer bürgerlichen Umgebung verortet. Selten treten Adelige auf. Stattdessen gehen die männlichen Hauptfiguren bürgerlichen Berufen nach. Sie sind Bäcker wie in Julius von Voß’ 1823 publiziertem Text Die Weihnachtsausstellung69 und wie bei Hagemann, in dessen Stück tatsächlich auch Adelige an der Handlung beteiligt sind, oder Kaufmänner wie bei Seyfried und Hesse. Inhaltlich scheinen zentrale Themen und Topoi bürgerlicher Dramatik auf.70 Hierzu gehören innerfamiliäre Konflikte, vor allem Werte- und Generationskonflikte. Üblicherweise gibt es mindestens ein Liebespaar. Normalerweise kommt es aufgrund widriger Umstände zunächst nicht zusammen, um dann am Ende doch vereint zu werden. Häufig sind dafür wie bei von Voß oder Lortzing väterliche Verbote verantwortlich,71 die jedoch nie das Organisationsmodell Familie grundsätzlich in Frage stellen. Das Personal umfasst zumeist auch Kinder und andere nahe Verwandte, so dass die (erweiterte) Kernfamilie in ihrer Gesamtheit abgebildet wird, wenngleich Mütter oftmals fehlen. Treten diese auf,
67 Seyfried, Anton: Der Weihnachts-Abend. Ein Lebensbild in 1 Akt mit Gesang. München 1868. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 68 Hesse, August Wilhelm: Weihnachten. Dramatisches Gemälde in 1 Akt. Berlin 1868. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 69 Voß, Julius von: „Die Weihnachtssausstellung“, in: Ders.: Neuere Lustspiele. Band 1. Berlin 1823, o.S. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 70 Vgl. hierzu z.B.: Sasse, Günter: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertesystems im Drama der Aufklärung. Tübingen 1988. / Greis, Jutta: Drama Liebe. Zur Entstehungsgeschichte der modernen Liebe im Drama des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1991. / Dies.: Die Ordnung der Gefühle. Das Drama der Liebesheirat im 18. Jahrhundert. Darmstadt 1996. 71 Lortzing, Albert: Der Weihnachtsabend. Singspiel in einem Aufzug. Launige Szene aus dem Familienleben und Vaudeville. Herausgegeben und eingerichtet von Georg Richard Kruse. Leipzig 1913. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.
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dann sind sie für die Ausgestaltung des Fests verantwortlich und erfüllen sämtliche Rollenbilder der bürgerlichen Familie. Mythische Gabenbringerfiguren sind fast nie in die Dramen integriert, Vertreter des Staates oder der Kirche auch nicht. Die Öffentlichkeit bleibt in den Dramen gleichsam ausgeschlossen, die Handlung spielt stets in Innenräumen und spiegelt wie etwa bei von Voß den Rückzug in das private Heim und den Ausschluss der Öffentlichkeit wider. Man feiert erst, wenn man alleine ist: „Conditor: Nun, es ist Christabend, wir sind allein, / Da laße auch dem Töchterchen bescheeren, / Wies alle Jahre bei uns Sitte war. Auguste (seufzend): O schöne Zeit, wo noch die Weihnachtsgabe mich freute. Gattin: Strafpredigten wohl hat sie / Verdient, und nicht ein Christgeschenk. Conditor: Nein, nein, / Der Weihnachtsmann soll kommen, wirst Dich freun, Auguste!“ (Die Weihnachtssausstellung, 3. Szene)
Folglich kommen in den allermeisten Stücken ähnliche bis identische dramaturgische Verfahren zur Anwendung. Die Einheit von Ort, Zeit und Handlung wird gewahrt. Das dramatische Geschehen vollzieht sich in den Stunden vor dem Heiligabend und findet dann mit einer Bescherfeier seinen Abschluss. So ist das Weihnachtsfest in allen Stücken als Familiensinn und Frieden stiftende Veranstaltung enthalten, zu der sämtliche Figuren zusammenkommen und sich miteinander versöhnen. Weihnachten wird auf diese Weise stets als ein Fest der Liebe und Wunder präsentiert, das Einigkeit innerhalb der Familie herzustellen und Konflikte zu lösen vermag. Die Bedeutsamkeit familiärer Geborgenheit und einer aktiven Erinnerungskultur an die eigenen, vergangenen kindlichen Weihnachtsfreuden wird betont: „Es ist üblich und mein Brauch, der Kindheit Tage / Mir in das Herz zurückzurufen, wenn / Ich Allem, was zu mir gehört, beim Glanz / Der Lichter, nett bescheeren lasse.“ (Die Weihnachtssausstellung, 5. Szene). Dies ist ganz im Sinne Friedrich Schleiermachers, dessen Buch Die Weihnachtsfeier 1806 veröffentlicht wird. Der Theologe verknüpft hier die Schilderung einer weihnachtlichen Feier mit Betrachtungen über die richtige Art religiöser Erziehung, das Verhältnis von Religion und Kunst, Glauben und Festpraxis sowie mit Reflexionen über die christologischen Grundlagen des Weihnachtsfests. Diese Themen werden in Platonischer Manier in lockeren Gesprächen zwischen verschiedenen Familienmitgliedern verhandelt. Schleiermacher ist der An-
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sicht, dass Weihnachten Menschen gleichsam für einen Moment in Kinder zurück verwandelte und alle Schwierigkeiten aufhebe: „Alle Menschen sind mir heute Kinder und sind mir eben darum so lieb. Die ernsthaften Falten sind einmal ausgeglättet, die Zahlen und Sorgen stehen ihnen einmal nicht an der Stirn geschrieben, das Auge glänzt und lebt einmal, uns es ist eine Ahnung eines schönen und anmutigen Daseins in ihnen. Auch ich bin selbst ein Kind geworden zu meinem Glück. Wie ein Kinde den kindischen Schmerz erstickt und die Seufzer zurückdrängt und die Tränen einsaugt, wenn ihm eine kindische Freude gemacht wird, so ist mir heute der lange, tiefe, unvergängliche Schmerz besänftiget wie noch nie. Ich fühle mich einheimisch und wie neugeboren in der besseren Welt, in der Schmerz und Klage keinen Sinn hat und keinen Raum.“72
Obgleich beinahe alle Werke einer intensiven Religiosität entbehren und den religiösen Anlass des Fests kaum bis gar nicht thematisieren, appellieren sie an christliche Tugenden wie Nächstenliebe, Mitleid und die Fähigkeit zur Vergebung. Manchmal werden Nebenfiguren eingeführt, die eine Realität repräsentieren, in der das Schenken aufgrund von Armut nicht möglich ist. Diese Realität wird aber keinesfalls ausführlich dargestellt. Gesellschaftliche Verhältnisse werden mit keinem sozialkritischen Impetus geschildert. Stattdessen können die Vertreter besitzender Schichten über ihren Umgang mit den ärmeren Figuren ihre eigene Tugendhaftigkeit und Fähigkeit zur moralischen Besserung unter Beweis stellen. Hesses Werk etwa beschwört die geheimnisvoll irrationale, emotionale Kraft eines Fests, das eine vollständige moralische Besserung und Läuterung des Protagonisten herbeiführen kann. In Hagemanns Schauspiel schenkt das adelige Fräulein Minna einem bettelnden Greis einen Dukaten. Sie verlangt für ihre Gabe jedoch eine Gegenleistung und nutzt ihre soziale Stellung augenblicklich zur Ausübung von Herrschaft. Die vermeintlich selbstlose Mildtätigkeit ist dementsprechend eng an die Repräsentation von Macht gekoppelt: „Minna: Hier, Vater, habt ihr einen Dukaten, thut euch in den Festtagen etwas zu gut, und heute besonders macht euch einen vergnügten Tag. Das mach’ ich euch zur Bedingung, daß ihr heute aufs Wohl eines jungen Brautpaares ein Glas Wein trinkt. [...] Und ihr wisst doch viele Gebethe auswendig – bethet doch das Gebeth einer lustigen Braut am Verlobungstage, denn ich selbst kann vor lauter Glück zum Bethen nicht kommen.“ (Weihnachtsabend oder Edelmann und Bürger, I. Akt, 2. Szene)
72 Schleiermacher, Weihnachtsfeier, S. 82f.
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Viele Werke stellen den Brauch des Schenkens in den Mittelpunkt einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Festkultur. Hierbei wird trotz eines Verzichts auf explizite Sozialkritik durchaus der ökonomische Aspekt des Bescherfests reflektiert, der sich gleichsam in den obligatorischen Geschenken manifestiert. Der Charakter des Geschenks als neuem Fetisch des säkularen, immer mehr zum Kommerz sich hinentwickelnden Weihnachtsfests und die zentrale Funktion Weihnachtens als großes Kinderbescherfest werden thematisiert. Lortzings Vaudeville beispielsweise parodiert die weihnachtliche Schenkpraxis und wendet sie ins Komische. Seyfrieds Text wiederum legt in einem Gespräch zwischen dem mittellosen Instrumentenbauer Walheim und seinen beiden Kindern die materialistische Dimension des Fests offen, die eine große Erwartungshaltung aufseiten der Kinder erwirkt und den Vater enorm unter Druck setzt: „Muckerl: Kriegen wir auch einen Christbaum und schöne Sachen? Wallheim: Ja – das weiß ich nicht, ob das Christkind etwas bringt. Müßt halt einen Zettel schreiben und zum Fenster hinauslegen. Mariechen: Ja, das haben wir voriges Jahr auch gethan, aber da hat ihn der Wind fortgerissen und wir haben ganz was Anderes bekommen. Muckel: Ja – und das Christkind gibt’s so nicht – das wissen wir schon – Du Vater mußt Etwas kaufen. Wallheim: (für sich). Ja leider – Die frommen Gebräuche wären schon recht – aber für die Eltern sind sie immer kostspielig. (Zu den Kindern.) Na wir wollen schon seh’n, was kommt. Geh und jetzt an’s Lernen in’s Nebezimmer, adieu. Muckerl und Mariechen: Adieu Vater! Also was recht Schönes! Und recht Viel!“ (Der Weihnachts-Abend, 11. Szene)
3.2.2 Aufführungskontexte früher Weihnachtsdramatik Obwohl sich die neuen modernen literarischen Weihnachtsstücke einerseits mit der weihnachtlichen Festkultur auseinandersetzen, sind sie andererseits für Aufführungskontexte konzipiert, die eine konsequente Distanzierung von den eigentlichen weihnachtlichen häuslichen Feierlichkeiten bedeuten. Indem sie für Aufführungsformen entworfen sind, an denen man in Form eines Theaterbesuchs vor
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oder nach den Weihnachtsfeiertagen teilnimmt, wird eine räumliche und zeitliche Trennung von Fest und Spiel unterstützt. Die dramatischen Texte bilden die Grundlage dafür, dass professionelle Darsteller einem zahlenden bürgerlichen Publikum innerhalb der Institution des Theaters eine künstlerische Auseinandersetzung mit den eigenen Feierformen bieten. Das Weihnachtsfest kann dementsprechend innerhalb des zeitlichen Rahmens der (Vor-)Weihnachtszeit auf die Theaterbühne gehoben und auf diese Art zum Gegenstand der Auseinandersetzung mit der eigenen Festkultur, zu einer öffentlichen Selbstvergewisserung der individuellen privaten Feiergestaltung werden; ein säkularisiertes Fest wird in einem säkularen Raum verhandelt. Zudem garantiert diese Aufführungspraxis einen höheren Grad an Exklusivität der theatralen Ereignisse, da sich das Verhältnis von Öffentlichkeit und Publikum wandelt: Während geistliche Spiele und Volksschauspiele in oder vor der Kirche, auf der Straße oder in Wirtshäusern, also kostenlos im öffentlichen Raum, für alle gegeben wurden, muss für die Teilhabe an den neuen Formen von Weihnachtstheater Eintritt gezahlt werden. Darüber hinaus führt die stattfindende Ökonomisierung und Professionalisierung der Produktionsbedingungen von Weihnachtstheater zu einer eindeutigen Aufteilung der beteiligten Personen in Produzenten, Darsteller und Zuschauer. In Anbetracht der Tatsache, dass im Zuge einer grundsätzlichen Veränderung der bürgerlichen Lebenswelt der Gang in die Theater immer beliebter wird, sich Publikumsstrukturen und Repertoire verändern, überrascht es nicht, dass sich weihnachtliches Theater seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert u.a. in professionelle Theater verlagert und sich dort neue Formen erobert, die stark vom religiös geprägten mittelalterlichen Weihnachtsspiel abweichen. Ein Theater, das nicht mehr primär der Repräsentation aristokratischer, sondern bürgerlicher Lebensentwürfe dient, nicht in eine umfassende Frömmigkeitspraxis integriert ist und keine intensivierte Religiosität zum Ziel hat, vertritt zwangsläufig andere Positionen und ist eher geeignet, die bürgerliche weihnachtliche Festkultur zu reflektieren.
3.2.3 Wirkungsmechanismen früher Weihnachtsdramatik Aufgrund struktureller und inhaltlicher Ähnlichkeiten ist das Potential der frühen bürgerlichen Weihnachtsdramatik an möglichen Wirkungsmechanismen und Funktionen im Rahmen einer Aufführung fast identisch. Die Haltung zu einem privaten, im Kreis der Kernfamilie begangenen Weihnachtsfest und zu den neuen kulturellen Praktiken, die sich am Heiligabend manifestieren, ist grundsätzlich affirmativ. Die innerfamiliäre Bescherfeier wird maßgeblich bestätigt. Al-
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ternative Festentwürfe werden mithin nicht aufgezeigt. Die Werke können demzufolge beruhigend wirken. Sie sind in der Lage, kulturelle Praktiken und vor allem die sich in der weihnachtlichen Festkultur ausdrückenden Lebensentwürfe einer stetig an Dominanz gewinnenden deutschen Bürgerkultur zu bekräftigen und zu stärken. Gleichzeitig vermögen sie ihre Leser bzw. Zuschauer zu emotionalisieren. Weihnachtliche Atmosphären, die über die Stücke als familienfreundlich, freudvoll, stimmungsvoll, gemütlich, generös und überraschungsreich generiert, konturiert und definiert werden, können erzeugt und unterstützt werden. Deshalb sind die Werke imstande, als Multiplikatoren von Weihnachtsstimmung zu fungieren, Kohärenz zu stiften und grundlegende Funktionen des Fests zu bekräftigen. Indem die bürgerliche Kernfamilie und der Heiligabend fortwährend als Keimzelle bürgerlicher Ideale in Szene gesetzt werden, die dramatischen Texte zumeist stark moraldidaktische Züge tragen und der Pflege einer bürgerlichen Gefühlskultur, dem Aufruf zur Nächstenliebe und zu tugendhaftem Verhalten insbesondere an Weihnachten verpflichtet sind, dienen sie gleichsam als Regulativ. Sie appellieren an Verhaltenskodexe, bürgerliche Werte und innergesellschaftliche Vereinbarungen. Die frühen dramatischen weihnachtlichen Werke konzentrieren sich allesamt auf säkulare Feierformen. Sie sprechen den christlichen Gehalt des Fests allenfalls am Rande an. So spiegeln sie den überaus vielschichtigen, da regional unterschiedlichen, an die Konfession gebundenen und zeitlich durchaus diskontinuierlichen Prozess der Verminderung bzw. des Verlustes öffentlich manifester religiöser Kontur staatlich sanktionierter Feiertage wider, den Prozess der Säkularisierung. Gleichzeitig besitzen sie das Potential, gerade im Rahmen einer szenischen Realisation an ebendiesen Wandlungsprozessen teilzuhaben und eine Konturierung und Perpetuierung weihnachtlicher Topoi zu erzeugen: In ihnen wird die positive Kraft neuer Feierformen beschworen. Diese spielen seit dem ausklingenden 18. Jahrhundert eine immer wichtigere Rolle im jährlichen Festkalender und verbreiten sich zunächst innerhalb des Bürgertums, um dann im 19. Jahrhundert auch von nichtbürgerlichen Schichten übernommen zu werden. Ein bereits hochgradig theatrales, familiäres Fest wird gleichsam theatralisiert. Somit verwundert es nicht, dass diese neuen Stücke untereinander große Ähnlichkeiten aufweisen. Obschon von verschiedenen Autoren verfasst und an konfessionell unterschiedlich geprägten Orten wie Hamburg, Dresden oder Wien uraufgeführt, sind sie für analoge Aufführungs- und Produktionskontexte konzipiert. Ihr homogener Gestus entspricht dem zunehmend uniformen, weltlichen Charakter des Fests, sie stehen im Dienste einer säkularisierten Kunst. Da eigentlich alle untersuchten Stücke dieser Periode mit einer Weihnachtsfeier enden, eröffnen sie die Möglichkeit, bei einer szenischen Umsetzung die
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Bescherfeier auf der Bühne abzubilden und so Szenen aus dem weihnachtlichen Familienleben darzustellen. Dementsprechend bieten die Texte die Vorlage für eine Mimesis des weihnachtlichen Rituals im Theater, das so von den Zuschauern mit der eigenen Feierpraxis abgeglichen werden kann. Theatraler Weihnachtsvollzug und festliches Weihnachtstheater gehen auf diese Weise eine interessante Verbindung ein. Das privatisierte Fest wird durch das Theater in die Öffentlichkeit zurückgeholt, indem man es auf die Bühne bringt.
3.3 W EIHNACHTLICHE K INDERSCHAUSPIELE Den frühesten nachweisbaren künstlerischen Beitrag zu einer speziell für einen weihnachtlichen Aufführungskontext entstandenen bürgerlichen, weltlichen Dramatik, die sich inhaltlich mit dem privaten Weihnachtsfest auseinandersetzt, stellen zwei Kinderschauspiele Christian Felix Weißes (1726-1804) dar. Sie werden zunächst in Der Kinderfreund und dann 1792 in einer eigenständigen Sammlung von Schauspielen für Kinder veröffentlicht und erfahren vermutlich eine recht große Verbreitung.73 Allerdings kann man davon ausgehen, dass sie nur von den gebildeten Schichten des deutschen Bürgertums rezipiert werden.74 Die Spiele Weißes sind für einen privaten Aufführungskontext entworfen. Paradigmatisch manifestiert sich hier die Entwicklung von darstellendem Spiel hin zu einem möglichen Bestandteil bürgerlichen deutschen Lebens. Eingedenk der Tatsache, dass sie in eben der Phase entstehen, in der sich in Deutschland die Ausgestaltung des Weihnachtsfests grundsätzlich verändert, gehen hier eine neue weihnachtliche Festpraxis und eine neue weihnachtliche theatrale Praxis eine aufschlussreiche Verbindung ein. Als familiäres, städtisch bürgerliches Amateurtheater unterscheiden sich Weißes Kinderschauspiele grundlegend von weihnachtlichen Volksschauspielen. Sie zeichnen sich durch eine originäre dramati-
73 Weiße, Christian Felix: Schauspiele für Kinder. Aus dem Kinderfreunde besonders abgedruckt. In drei Theilen. Leipzig 1792. 74 „Abgesehen davon, dass nur bei einem geringen Teil der Bevölkerung überhaupt die notwendigen familialen, materiellen und sozialen Voraussetzungen für eine Rezeption seiner Kinderzeitschrift gegeben waren, fußt das von Weiße hierin vertretene soziale Tugendsystem – wie Hurrelmann in ihrer Untersuchung des ‚Kinderfreundes‘ festgestellt hat – eindeutig auf den Weltanschauungen, Lebensbedingungen und emanzipatorischen Interessen des gebildeten und wohlhabenden Bürgertums.“ Cardi, Carola: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit. Eine Untersuchung der deutschsprachigen Kinderschauspiele von 1769-1800. Frankfurt am Main 1983, S. 109.
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sche Handlung aus, die keine religiösen Themen verhandelt, sind dramaturgisch in sich geschlossen und weisen einen autonomen Werkcharakter auf. Überdies wird auf Gesang vollständig verzichtet. Sie sind zwar wie volkssprachliche und lateinische Weihnachtsspiele für Laiendarsteller konzipiert, orientieren sich aber inhaltlich an der für professionelle Bühnen verfassten zeitgenössischen Dramatik Johann Christoph Gottscheds, Christian Fürchtegott Gellerts oder Gotthold Ephraim Lessings und ahmen das didaktisch-moralisierende Funktionsprinzip eines aufgeklärten Bildungstheaters nach. Weiße strebt Aufführungen im privaten, häuslichen Raum an. Dieser Aufführungskontext entspricht den Rückzugstendenzen eines im Privaten begangenen Weihnachtsfests und liegt im Genre des für den häuslichen Gebrauch verfassten Kinderschauspiels der Aufklärungszeit begründet.
3.3.1 Exkurs: Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit Mit den von Autoren wie Georg Carl Claudius, Christian Felix Weiße, August Rode oder Christoph Ernst von Houwald verfassten aufklärerischen und biedermeierlichen Kinderschauspielen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts entsteht in Deutschland erstmalig eine eigenständige Dramatik für Kinder, die für einen häuslich privaten Kontext und nicht für öffentliche oder halböffentliche Orte wie Schulen entworfen ist.75 Diese Schauspiele, die von Jungen genauso wie von Mädchen zu Hause gelesen oder aufgeführt werden sollen, werden zumeist in Sammelbänden oder in Journalen veröffentlicht. Oft sind ihnen ausführliche Kommentare der Herausgeber an die Seite gestellt, in denen über Wirkungsmöglichkeiten, Wert und Nutzen von darstellendem häuslichem Spiel im frühen Kin-
75 Während sich die Theaterwissenschaft bisher nicht intensiv mit diesem Themenkomplex auseinandergesetzt hat, gibt es zahlreiche literaturwissenschaftliche Untersuchungen zum Kinderschauspiel. Vgl. dazu Mairbäurl, Gunda: Die Familie als Werkstatt der Erziehung. Rollenbilder des Kindertheaters und soziale Realität im späten 18. Jahrhundert. München 1983. / Wild, Reiner: Die Vernunft der Väter. Zur Psychographie von Bürgerlichkeit und Aufklärung in Deutschland am Beispiel ihrer Literatur für Kinder. Stuttgart 1987. / Cardi, Carola und Hans-Heino Ewers: „Familie im Kinderschauspiel des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts: Christian Felix Weiße, August Rode, Chr. E. von Houwald“, in: Ders. und Inge Wild (Hg.): Familienszenen. Die Darstellung familialer Kindheit in der Kinder- und Jugendliteratur. Weinheim 1999, S. 25-40. / Für ausführliche Darlegungen zum Forschungsstand vgl.: Dettmar, Ute: Das Drama der Familienkindheit. München 2002, S. 23ff.
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desalter reflektiert wird. Alle Autoren streben eine Integration der Spiele in die zu Hause verbrachten Mußestunden der Kinder an, definieren sie als pädagogisches Instrument moralischer Bildung. Anders als bei mittelalterlichen Schuldramen geht es nicht mehr primär um die Vermittlung humanistischer Ideale und Fertigkeiten wie Redekunst oder Beredsamkeit, die der Autor Gottlieb Konrad Pfeffel noch 1769 in der Vorrede zu seinen Dramatischen Kinderspielen einfordert:76 „Je früher man es thun wird, desto größern Nutzen kann man sich davon versprechen. Der kleine Schauspieler wird sich schon in den zartesten Jahren eine artige Leibesstellung, eine gewisse Sprache der Geberden, und eine ungezwungene Dreistigkeit im Reden angewöhnen, die sich oft große Männer zu spät gewünscht haben. Noch ehe er die Buchstaben kennt, wird er mit einem reinen Ausdruck, und mit einer Menge von Ideen bekannt seyn, die in dem gemeinen Umgange nicht vorkommen.“77
Pfeffel fühlt sich ganz offenbar maßgeblich dem humanistischen Bildungsideal verpflichtet und erhofft sich vom Spiel einen direkten Einfluss auf Rhetorik, Gestik und geistige Bildung von Knaben. Rollen für Mädchen enthalten seine drei Dramatischen Kinderspiele nicht. Schulen werden als idealer Aufführungsort empfohlen. 1769 legt Pfeffel im Vorwort zur Ausgabe seiner Spiele dar, dass die ersten beiden veröffentlichten Stücke bereits „würklich durch Kinder von sechs bis neun Jahren aufgeführt worden“ seien und ihn „mehr als alle Gründe, von den mannigfaltigen Nutzen solcher Übungen überzeugt“ hätten: 78 „Der Einwurf, daß dergleichen Uebungen nützlichere Lectionen verdrängen, findet nur alsdann statt, wenn man eine andere Zeit, als die Nebenstunden, zur Vorbereitung aussetzt; hingegen kann man nicht in Abrede stellen, daß diese Spiele einige Kosten erfordern.“79
Die in der Folgezeit entstehenden Kinderschauspiele verschreiben sich dagegen beinahe ausnahmslos dem philanthropischen Ideal des Theologen und Pädagogen Johann Bernhard Basedow. Sie setzen nicht die „Fertigkeit der Vorstellung“
76 Für die literaturwissenschaftliche Forschung markiert Pfeffel häufig die Schwelle vom alten Schuldrama zum Kinderschauspiel: Vgl. Cardi, Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 22. 77 Pfeffel, Gottlieb Konrad: Dramatische Kinderspiele. Straßburg 1769, S. 3f. 78 Ebd., S. 1. 79 Ebd., S. 5.
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und somit die darstellerischen Fertigkeiten in den Vordergrund.80 Vielmehr soll „Lernen […] sich mit Spiel verbinden, das Lernen spielerisch, das Spiel belehrend sein“.81 Oder wie Basedow es in seiner Vorstellung an Menschenfreunde formuliert: „Man muß dahin trachten, daß die Kinder soviel als möglich auch in den Stunden ihrer Ergötzungen etwas Nützliches lernen. Sie ahmen nach, sie folgen einem Rate. Es ist also möglich, fast alle ihre Spiele lehrreich einzurichten, ohne ihnen die Lust daran zu nehmen.“82
Mithilfe der Lektüre und Aufführung von Schauspielen zu Hause wird die Einübung sittlich-moralischen Verhaltens angestrebt, oder um mit der Sprach- und Literaturwissenschaftlerin Ute Dettmar zu sprechen: „Soll die moralische Lehre bei den Adressaten ankommen, muss sie zu dem sozialen Raum führen, innerhalb dessen sich Kindheit seit dem späten 18. Jahrhundert in den bürgerlichen Kreisen, aus denen die aufgeklärte Kinderliteratur hervorgegangen ist, und an die sie sich ganz überwiegend wendet, abspielt: zur Familie.“83
Da die häuslichen Spiele sowohl Rollen für Erwachsene als auch für Jungen und Mädchen unterschiedlichen Alters enthalten, können an den Aufführungen sämtliche Familienmitglieder beteiligt sein. Anders als bei den Schuldramen obliegt die Spielleitung jedoch nicht Lehrern, sondern Eltern, die dementsprechend das Spiel in ihr Erziehungsprogramm im privaten Raum integrieren können. Zahlreiche Pädagogen und Autoren der Zeit bewerten „das Kinderschauspiel als ein vorzügliches Medium, den für abstrakte Morallehren wenig empfänglichen Kin-
80 Campe, Joachim Heinrich: „Soll man Kinder Komödien spielen lassen?“, in: Braunschweigisches Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts. Band 1 (1788), S. 206-256. 81 Begemann, Christian: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1987, S. 28. 82 Basedow, Johann Bernhard: Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen, Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfahrt. Mit einem Plane eines Elementarbuchs der menschlichen Erkenntnis. Hamburg 1768. Zitiert nach Benner, Dietrich und Herwart Kemper: Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 1. Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus. Weinheim 2000, S. 51-83 (S. 72). 83 Dettmar, Drama der Familienkindheit, S. 15f.
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dern anschauliche Exempel moralischen Musterverhaltens auf angenehme Weise vorzuführen und über das eigene Nachspielen im Familienkreis auf spielerische Weise einüben zu lassen.“84 Viele der gemeinsam mit den Spielen publizierten Vorreden und Herausgeberkommentare orientieren sich augenscheinlich an Alexandre Moissys 1770 in deutscher Übersetzung veröffentlichtem Vorbericht in Spiele der kleinen Thalia. In diesem betont Moissy, dass Spiele in hohem Maße dafür geeignet seien, „Kinder, so zu sagen, durch eine Art des Betrugs, und daß sie es nicht merken, daß man sie hat betrügen wollen, zur Tugend“85 zu führen. Diesen Gedanken nimmt auch Ernst Ludwig Sartorius im 1782 veröffentlichten Theater für die Jugend auf: „Ich bin also aus der Erfahrung von dem grossen Nutzen überzeugt worden, den dergleichen Uebungen zur Bildung des Verstandes und Herzens haben, und wünsche, daß ich diesen Endzweck bei vielen Kindern, durch gegenwärtige Sammlung erreichen kann.“86
Die Handlung der didaktischen Kinderschauspiele spielt sich zumeist in einem privaten Kontext ab.87 Aufführungsort und Ort der Handlung stimmen mithin überein. Während Schulkomödien oftmals auf Stoffen der antiken Mythologie oder auf christlichen Legenden beruhten, bewegen sich Kinder bei den Aufführungen dieser Spiele nicht in unbekannten Welten. Stattdessen simulieren sie im Spiel Varianzen des von zu Hause Vertrauten. Stark typisierte Figuren, überwiegend Kinder oder Jugendliche, sind Beteiligte kleiner Konflikte, die in einer privaten, häuslichen Umgebung auftreten. Staatsaktionen oder andere öffentliche Angelegenheiten werden kaum verhandelt. Dramaturgisch sind die Stücke größtenteils sehr einfach gebaut. Am Ende formulieren sie eine Moral.
84 Cardi, Kinderschauspiel der Aufklärungszeit, S. 176. 85 Moissy, Alexandre Guillaume Mouslier de: „Vorbericht“, in: Ders. (Hg.): Spiele der kleinen Thalia, oder: Neue kleine dramatische Stücke über Sprüchwörter, zu Bildung der Sitten der Kinder und jungen Leute von fünf bis zwanzig Jahren. Aus dem Französischen des Herrn von Moissy übersetzt. Berlin 1770, o.S. 86 Sartorius, Ernst Ludwig (Hg.): Theater für die Jugend. Band 1. Frankfurt am Main 1782, o.S. (Vorrede). 87 Natürlich ist das Kinderschauspiel keine homogene Erscheinung. Eine Ausnahme stellen hier zum Beispiel Lustspiele von Christian Friedrich Sander dar, die phantastische Stoffe verarbeiten. Vgl. beispielsweise: Sander, Christian Friedrich: Pusillana. Ein Schauspiel in vier Aufzügen. Dessau 1783.
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Christian Felix Weiße beispielsweise liefert stets Hinweise auf die angestrebte Interpreten- und Adressatengruppe, indem er das Alter seiner Figuren angibt. Den Personenkreis der Schauspiele umfassen „bis zu zehn Kinder von 2 bis 16, manchmal nur ein Kind, um die sich gleichaltrige Freunde, Nachbarskinder und Spielgefährten, gruppieren“.88 Eltern, andere Verwandte, Gouvernanten, Hauslehrer, Nachbarn, Geschäftsfreunde, Bedienstete, Lehrer, Ammen oder Bettler fungieren als Nebenfiguren. Kinder bleiben die Hauptakteure, wobei die „Anzahl der dramatis personae zwischen zehn Kindern oder einigen Kindern mit maximal fünf Erwachsenen“89 liegen kann.
3.3.2 Zwei Weihnachtsspiele Christian Felix Weißes Zwei der 24 ab 1776 in Der Kinderfreund veröffentlichten Kinderschauspiele Weißes sind für die Weihnachtszeit verfasst. 1777 erscheint ein kurzes Stück mit dem Titel Das Weihnachtsgeschenk. Ein kleines Lustspiel. 1779 folgt Versprechen muß man halten, oder Ein guter Mensch macht andre gute Menschen. Ein Schauspiel für Kinder in Einem Aufzuge. In anderen Dramensammlungen und Journalen für Kinder werden in den folgenden Jahren kaum weihnachtliche Spiele veröffentlicht. Ernst von Houwald etwa veröffentlicht 1819 Der WeihnachtsAbend.90 Es spielt im Haus der alleinerziehenden Madame Sturm, die für Geschenke von ihren zwei Töchtern klare Gegenleistungen wie Ordnung, Fleiß und Gehorsamkeit erwartet. Agnes Franz wiederum veröffentlicht in ihrem Sammelband Kindertheater 1841 ebenfalls ein Weihnachtsstück.91 Erst ab Mitte bzw. Ende des 19. Jahrhunderts steigt die Produktion weihnachtlicher Kinderschauspiele für professionalisierte sowie nichtprofessionelle Aufführungskontexte deutlich an.92
88 Mairbäurl, Familie, S. 37. 89 Ebd. 90 Houwald, Ernst von: „Der Weihnachts-Abend. Ein Schauspiel in zwei Aufzügen“, in: Ders.: Buch für Kinder gebildeter Stände. Erstes Bändchen. Schauspiele, Mährchen, Romanzen und Erzählungen. Leipzig 1819, S. 9-56. 91 Franz, Agnes: Kindertheater. Schauspiele, Dramen, Lust- und Festspiele. Breslau 1841. 92 Vgl. Kapitel 4, 6 und 7.
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3.3.3 Das Weihnachtsgeschenk Wie für häusliche Schauspiele typisch, findet die Handlung von Das Weihnachtsgeschenk in einer privaten, wohlhabenden Umgebung statt. Es spielt in Dorchens Zimmer. Das Figurenpersonal umfasst lediglich weibliche Figuren, es treten Madame Filibert, ihre Tochter Dorchen, deren Freundinnen Friedericke und Emilie sowie die Gouvernante des Hauses, Madame Dorval, auf. Das Werk ist dramaturgisch schlicht und kurz gehalten, besteht aus sieben Aufzügen und wahrt die Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Es spielt am Neujahrstag, somit nach Weihnachten.93 Das Weihnachtsgeschenk appelliert vorrangig an Verhaltensnormen wie Bescheidenheit, Verzicht sowie Respekt und rekurriert somit auf die aufklärerische Tugendlehre, die Christian Begemann in seiner Studie zu Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung von 1987 beschreibt: „Von ihren Bestandteilen her ist die Tugendlehre der bürgerlichen Aufklärung keineswegs neu. Die antik-christlichen Tugenden (Mäßigkeit, Tapferkeit, Weisheit, Gerechtigkeit, Glaube, Liebe, Hoffnung) haben sich in ihr großenteils, die sieben christlichen Hauptssünden vollständig erhalten (Hoffart, Neid, Unmäßigkeit, Geiz, Trägheit, Zorn, Unkeuschheit). Neu sind jedoch die sozialen Funktionen der Tugend, ihre rationalen Begründungen und die Akzentsetzungen.“94
In Weißes dramatischem Text werden Eitelkeit, Prahlsucht und Ungehorsam streng sanktioniert und als lasterhaft ausgestellt: Dorchen hat zu Weihnachten eine Spitzenhaube geschenkt bekommen. Zu Beginn des Stückes sitzt sie allein in ihrem Zimmer, bewundert sich im Spiegel und bringt ihre Freude über das Geschenk zum Ausdruck: „Allerliebst! – Ein Weihnachtsgeschenke, wie ich gewünscht! – Wie wird die kleine Wernerinn ihr Gesichte verziehen, wenn sie meine Spitzenhaube sehen wird!“ (Das Weihnachtsgeschenk, 1. Szene)
Die Gouvernante beobachtet die Szene und kritisiert daraufhin Dorchens Stolz und Eitelkeit. Sie verbietet ihr, die Spitzenhaube an dem Tag noch einmal aufzusetzen. Dorchens Freundinnen verspotten sie daraufhin aufgrund ihrer Gehorsamkeit der Gouvernante gegenüber:
93 Vgl. Weiße, Das Weihnachtsgeschenk, 3. Szene. 94 Begemann, Furcht und Angst, S. 29.
70 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR „Friedericke: Du lässest dir von Deiner Guvernante befehlen? Dorchen: Warum nicht? Sie ist klüger als ich, und meynet es mit mir gut, das weiß ich. Ueberdieß will die Mama durchaus haben, daß ich ihr gehorchen soll. Friedericke: Wie? Einer Frau, die in eurem Lohn und Brod ist? Das wäre ja entsetzlich! Emilie: Ja, wahrhaftig, entsetzlich! Was ist denn eine Aufseherin viel besser als eine Dienstmagd? Mann kann eine ja so gut fortschicken, als die andere. Haben wir’s nicht in kurzem mit Dreyen so gemacht? Dorchen: O! Meine ist auch besser als zehn andere! Friedericke: Besser oder nicht besser: sie gehört doch zu dem Gesinde. Emilie: Nicht anders! – und Deine Mama kann Dir befehlen, einer solchen Kreatur zu gehorchen? – ja, eher ließ ich mich todt schlagen.“ (Ebd., 4. Szene)
Nachdem die Freundinnen das Haus verlassen haben, versucht Dorchen ihrer Gouvernante mit eben dem Ungehorsam zu begegnen, den ihr ihre Freundinnen nahe gelegt haben. Doch fordert die Gouvernante sie lediglich dazu auf, „in einem geschmeidigeren Ton“ (ebd., 6. Szene) mit ihr zu reden und hält das Trageverbot weiterhin aufrecht. Bezeichnenderweise greift die Gouvernante auf keine körperliche Strafe wie etwa Prügelstrafe zurück, die von der bürgerlichen Pädagogik tatsächlich eher kritisch gesehen wird, wie Begemann darlegt: „Zunächst befürchtet die bürgerliche Pädagogik […] körperliche Schädigungen von der exzessiven Leibesstrafe. Schwerer noch wiegt, daß die demütigende Strafe das Kind erbittern und gegen den Erzieher aufbringen kann, so daß diesem mit der kindlichen Liebe das wichtigste Beeinflussungsinstrument überhaupt zu entgleiten droht. Und schließlich zeigt sich in diesem Zusammenhang die Furcht in ihrer ganzen Ambivalenz. Einerseits wird die Strafe, deren Funktionsprinzip die Furcht ist, weitgehend als ein nützliches, ja unverzichtbares Erziehungsinstrument befürwortet, andererseits gilt selbst den Autoren, die diese Ansicht teilen, die Furcht grundsätzlich als eine bedenkliche und gefährliche Regung.“95
Die Mutter unterstützt unmissverständlich die Erziehungsmaßnahmen und Autorität Madame Dorvals. Der Tochter wird jeder weitere Umgang mit ihren Freun-
95 Ebd., S. 196.
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dinnen untersagt. Im Zuge dessen wird die Stellung der Gouvernante aufgewertet. Die Mutter etabliert sie als ein moralisches und sittliches Vorbild, als ihre rechtmäßige Vertreterin, die eine weitere Erziehungs- und Kontrollinstanz im Haushalt darstellt: „Ich verlange, daß du für deine Gouvernante so viel Ehrerbietung als für mich haben, sie als mein ander Ich ansehen, und ihr in allem ohne Widerrede gehorchen sollst. [...] Was die Bestrafung anbelanget, so hast du sie unfehlbar verdienet: ich verlange also, daß du dich ihr ohne Widerspruch unterwirfst.“ (Das Weihnachtsgeschenk, 7. Szene)
Während der Text Beständigkeit, Ruhe und Konsequenz zu Handlungsprinzipien der Gouvernante macht, propagiert er über Madame Filibert einen überaus autoritären und restriktiven Erziehungsstil. Ihre Tochter wird zu Gehorsamkeit und Respekt dem Personal gegenüber aufgerufen. Im Falle einer Missachtung des aufgestellten Regelwerks drohen harte Bestrafungen wie etwa Liebesentzug: „Vergiß nicht, was du mir versprichst. Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Aber, das sage ich dir, wo du einmal mir darinnen zuwider handelst, so hast du meine Liebe und Freundschaft auf ewig verscherzt. – Den Augenblick komm, und bitte deine gute Madame Dorval um Verzeihung.“ (Ebd.)
Das Schauspiel Das Weihnachtsgeschenk führt gleichsam die schädliche Wirkung falsch gewählter Freundschaften auf die Entwicklung guter Kinder vor und versucht vor diesem Hintergrund eine intensive Einflussnahme der Eltern auf die Wahl der Freundschaften zu rechtfertigen. Am Ende des Schauspiels ermahnt die Mutter ihre Tochter vom Geschehenen zu lernen und in Zukunft ihre Freundinnen behutsamer auszuwählen: „Sey künftig klug, und laß dich das Vorhergegangene lehren, wie leicht böse Gesellschaften gute Sitten verderben.“ (Ebd.) Dementsprechend muss der These der Germanisten Hans-Heino Ewers und Carola Cardi widersprochen werden, dass in den Kinderschauspielen Weißes „für die Mutter förmlich keine Rolle übrig“ 96 bliebe: „Man sollte die Marginalisierung der Mutterrolle in Weißes Kinderschauspielen auch einmal unter diesem funktionalen Aspekt betrachten: Sie stellt nicht zuletzt eine Konsequenz der Kinderemanzipation dar. Die Kinder sind ihr entwachsen.“97
96 Cardi und Ewers, Familie im Kinderschauspiel, S. 29. 97 Ebd.
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3.3.4 Versprechen muss man halten Auch die dramatische Handlung des aus 15 Auftritten bestehenden Schauspiels Versprechen muss man halten findet unzweifelhaft nach der Weihnachtsbescherung und in einer wohlhabenden Umgebung statt. Es spielt in einem Vorsaal in Herrn Mildeners Haus. Die Figuren sind überwiegend männlich und tragen in der Mehrzahl sprechende Namen. Herr Mildener „ein reicher angesehener Mann“, Karl „sein Sohn, ein Knabe von 10-11 Jahren“, Wilhelm Herzig, der „Sohn einer armen Witwe, die mit den vorhergehenden in einem Hause wohnt, von gleichem Alter“, Trickmann, „eines reichen Kaufmanns Sohn, von demselben Alter“ und Julchen, „Herr Mildeners Tochter, 12 Jahre alt“, treten auf.98 Julchen ist jedoch nur geringfügig an der Handlung beteiligt. Abbildung 7: Der Kinderfreund
Abbildung 8: Ein Lustspiel
Der Kinderfreund. Ein Wochenblatt (1779)
98 Weiße, Versprechen muss man halten, o.S. (Personenverzeichnis).
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Versprechen muss man halten kontrastiert ebenfalls laster- mit tugendhaften Kindern. Wilhelm repräsentiert die Tugenden der Ehrlichkeit, Uneigennützigkeit und Bescheidenheit. Während er ursprüngliche Gutherzigkeit und unverdorbene Gefühle vorführt, demonstriert Trickmann unehrliches und eigennütziges Verhalten. Das Schauspiel zeigt, wie durch Rührung, Erzeugung von Schamgefühl und die Nachahmung tugendhafter Gleichaltriger eine moralische Besserung erreicht werden kann. Trickmann formuliert am Ende des Dramas überaus besonnen, vernünftig und reflektiert die Wirkung des Geschehenen, die seine Besserung bewirkt habe: „Und mich hat er aus einem betrügerischen Knaben zu einem ehrlichen gemacht. Er hat mich (er wischt sich die Augen) durch Ihres guten Karls Aufrichtigkeit und Freygiebigkeit so beschämt, daß ich meinen Fehler bekannt habe, und nimmermehr wieder begehen will.“ (Versprechen muss man halten, 15. Szene)
Auch in diesem Schauspiel stellen Weihnachtsgeschenke Requisiten mit einer zentralen dramaturgischen Funktion dar. Sie begründen einen Interessenskonflikt zwischen drei Jungen: Die aus reichem Hause stammenden Karl und Trickmann haben vor Weihnachten vereinbart, nach Weihnachten ihre Geschenke jeweils zur Hälfte miteinander zu teilen. Nun behauptet Trickmann, nichts geschenkt bekommen zu haben und verlangt dennoch seinen Anteil an Karls Geschenken. Wilhelm versucht ihn davon abzuhalten. In einem Dialog zwischen den beiden erscheinen die Weihnachtsgeschenke als klares soziales Distinktionsmerkmal. Wilhelm, der Sohn einer verarmten Witwe, ist nicht beschenkt worden. Er hebt hervor, dass seine Familie froh sei, wenn sie genug zu essen habe und man ihnen möglicherweise ein paar Almosen zukommen ließe. Über Trickmann gerät Wilhelm in Kontakt mit einer anderen sozialen Realität, deren Lebensbedingungen jedoch nur angedeutet werden. Dramaturgisch wird dieses Element eher als bürgerlicher Appell an die bürgerlichen Tugenden, denn dezidiert als Gesellschaftskritik funktionalisiert: „Trickmann: Nu, wie hälts? Haben Sie recht reichlich Weihnachtsgeschenke bekommen? Wilhelm: Sie scherzen wohl? Wenn meine gute Mutter Brod genug für mich und Mienchen die Feiertage über hat, so sind wir zufrieden. Trickmann: Brot zum Feyertagen und nicht einmal Stollen oder Kuchen?
74 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR Wilhelm: Je nun, es giebt auch hier und da gute Leutchen, die uns ein Stück geben, und ich bin sehr glücklich gewesen.“ (Ebd., 1. Szene)
Im Gegensatz dazu ist Karl reich beschenkt worden: „Wilhelm: Von seinem Papa hat er viel schöne Bücher, eine Camera Obscura, eine kleine elektrische Maschine, ein Reißzeug, ein Mikroskop, viel Kleidungsstücke... Trickmann: Nein, nein; das mag ich nicht wissen: sondern, was hat er von Näschereyen, von Spielsachen und so weiter erhalten. Wilhelm: Von seinem Papa nicht viel; denn der ist, wie ich gehöret, kein Freund davon, und spricht: die Kinder verderben sich nur den Magen damit, und zum Spielsachen wär er zu groß: aber desto mehr von seiner Tante! Trickmann: Nun, zum Exempel? Wilhelm: Außer Aepfel, Stollen, Torten, und beynahe einem ganzen Conditoraufsatze, hat er, wie ich glaube, ein Armee kleine bleyerne Soldaten und Jagden, Lotteriespiele, schöne Augsburgische Rechenpfenninge, einen Haufen artige, Sachen von Porcellan, kurz, eine ganze Spielbude bekommen.“ (Ebd.)
Da Karl zu Recht an Trickmanns Ehrlichkeit zweifelt, möchte er sein Versprechen nicht mehr einhalten. Wilhelm überzeugt ihn aber von der Unehrenhaftigkeit eines Wortbruchs und bestärkt ihn darin, sich generös und aufrichtig zu benehmen. Karls plötzliche Freigiebigkeit beschämt Trickmann. Er gesteht seinen Betrug. Daraufhin verzeihen ihm die Jungen großmütig. Karl und Trickmann entscheiden sich gemeinsam dafür, Wilhelm einen Großteil ihrer Geschenke zu überlassen, da er sie immerhin zu tugendhaftem Verhalten zurückgeführt hat. Im Gegensatz zu Weißes anderem Stück, wo sich die Mutter und die Gouvernante für Dorchens Erziehung verantwortlich zeigen, erziehen sich in Versprechen muss man halten die drei Knaben gewissermaßen gegenseitig. Sie erscheinen weitaus autonomer als die Mädchen. Erst nachdem sie bereits untereinander sämtliche Konflikte eigenständig gelöst haben, treffen sie auf Herrn Mildener. Als Karls Vater hat er den Konflikt mitbekommen. Er belohnt Wilhelm, indem er ihm verspricht, in Zukunft gemeinsam mit Karl erzogen zu werden. Wilhelm, moralisches Vorbild und Repräsentant einer bedürftigen Familie zugleich, wird auf die Weise als vernunftbegabt und klug charakterisiert. Als Belohnung für sein vorbildliches Verhalten soll er in den Genuss eines bürgerlichen
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Erziehungsprogramms kommen. Man will in seine Bildung investieren und glaubt an seine Talente. Die hier zum Ausdruck kommende hohe Wertschätzung von Bildung stellt laut Begemann ein spezifisches Kennzeichen bürgerlicher Kultur dar: „Das bürgerliche Individuum muß, und das prägt die Erziehung und ihre Theorie, sich seine gesellschaftliche Stellung aus eigener Kraft schaffen, durch den frühzeitigen Erwerb von Wissen, besonderen Fertigkeiten und vor allem der Tugend der Arbeitsamkeit.“99 Wilhelms positiver Einfluss auf die anderen beiden Jungen verdeutlicht die Bedeutung wahrer Freundschaft oder wie Ewers und Cardi das grundsätzliche Verhältnis von Geschwistern und Freundschaft bei Weiße beschreiben: „Ja, es kommt zu einer Höherbewertung von Freundschaft gegenüber leiblicher Geschwisternschaft [...]. Die Rede von der ‚geschwisterlichen Gesellschaft‘ bezieht sich also in erster Linie auf eine geistig-moralische Geschwisterlichkeit und nicht auf eine leibliche.“100
Herrn Mildener fordert die Knaben auf, aus dem Geschehenen zu lernen. Auch in Zukunft sollen sie allezeit die Tugend der Brüderlichkeit beherzigen und stabile Freundschaften aufbauen. Kultiviert wird das Ideal eines familienähnlichen Zusammenhalts, der gemeinsamen Pflege bürgerlicher Ideale im engen Freundeskreis und eines „beherrschten, affektfreien Verhaltens“101 untereinander. Am Ende des Schauspiels appelliert Herr Mildener als Vater und Kommentator zugleich in einer episierenden Sequenz nochmals daran, auch unter Freunden ein moralisches Bewusstsein zu pflegen. Er wendet sich an die Knaben und die Zuschauer gleichermaßen. Abschließend die Moral von der Geschichte noch ein letztes Mal appellartig und didaktisierend zu formulieren und zusammenzufassen, ist typisch für Weißes dramatische Texte: „So sehr reizen Beyspiele! Ein guter Mensch macht immer wieder gute Menschen. Haltet euch stets zusammen, und Ihr werdet gewiß ein Kleeblatt guter Jünglinge und Männer werden, wie Ihr itzt ein Kleeblatt guter Knaben seid.“ (Versprechen muss man halten, 15. Szene)
99 Begemann, Furcht und Angst, S. 32. 100 Cardi und Ewers, Familie im Kinderschauspiel, S. 27. 101 Begemann, Furcht und Angst, S. 41.
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3.3.5 Die Darstellung Weihnachtens auf textlicher Ebene Die beiden Kinderschauspiele Weißes setzen sich mit einer nachweihnachtlichen Thematik auseinander. Da Weiße grundsätzlich auf Regieanweisungen verzichtet, vergeben die Texte keine Informationen zur Ausgestaltung der Wohnräume, in denen die Handlung situiert ist. Infolgedessen wird die weihnachtliche Feier weder in der Figurenrede noch im Nebentext direkt thematisiert. Rückwirkend präsentiert sie sich aber über die Gaben eindeutig als ein Bescherfest für Kinder. Die Geschenke fungieren als Reminiszenzen einer Feierlichkeit. Nun gilt es, sie erfolgreich in den Alltag zu integrieren. Auf Ebene der Handlung sind die von Dorchen, Karl und Trickmann erhaltenen Gaben an klare Gegenleistungen gekoppelt. Sie dienen der Stärkung einer intensiven und freundlichen, aber autoritär geprägten Eltern-Kind-Beziehung. Das Weihnachtsgeschenk führt eindringlich vor, welche Folgen ein unangemessener Umgang mit Geschenken haben kann. Versprechen muss man halten dagegen demonstriert, dass Geschenke nicht Gegenstand eines unehrenhaften Handels sein dürfen. Die Diskursstrategien der Schauspiele beabsichtigen somit eine Vermittlung klarer Verhaltensnormen, die familiäre Konflikte verhindern und nach dem Weihnachtsfest, als vom Alltäglichen abweichenden Erfahrung, die Normalität des Alltags wiederherstellen können. Neben der Thematisierung von Verhaltensweisen wie kindlichem Gehorsam und kindlicher Dankbarkeit, die das Zusammenleben innerhalb einer Familie maßgeblich mitbestimmen, setzen sich die beiden Dramen mit Tugenden und ethischen Leitlinien auseinander, die das gesellschaftliche Leben, die Beziehung eines Individuums zu seinem sozialen Umfeld grundsätzlich regeln. Neid und Missgunst werden als lasterhaft charakterisiert und mit sofortiger Wirkung sanktioniert: „Aggressive und mißgünstige Regungen gelten im 18. Jahrhundert samt und sonders als Laster, auch wenn sie nicht die Schwelle zum Verbrechen überschreiten. Zorn, Neid, Haß, Mißvergnügtheit und Argwohn stören das konfliktfreie und berechenbare soziale Zusammenleben, das die Voraussetzung arbeitsteiliger Ökonomie ist.“102
Weißes Kinderschauspiele beschreiben Weihnachten als ein Fest, das nur vom wohlhabenden Bürgertum tatsächlich umfassend begangen werden kann. Anhand Wilhelms Schilderungen erfahren die beiden Jungen, die aus reichem Hause sind, dass Geschenke zu Weihnachten keine Selbstverständlichkeit darstellen. Für Wilhelm und seine Familie fungiert Weihnachten nicht als Bescherfest, sie
102 Ebd., S. 42.
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sind vielmehr existentiellen Nöten ausgesetzt. Dementsprechend erfüllen Geschenke hier einen weiteren pädagogischen Auftrag: Mit ihrer Hilfe lernen Trickmann und Karl sich schon früh in Wohltätigkeit zu üben, ihr Humanitätsdenken und soziales Bewusstsein können geschärft werden. Die Tugend der Wohltätigkeit wird auf Ebene des Textes als säkularisierte Morallehre präsentiert. Auf eine Reflexion der religiösen Dimension des Weihnachtsfests wird grundsätzlich verzichtet. Offensichtlich favorisiert Weiße „das Einüben bürgerlicher Tugenden durch Affektmodellierung und Disziplinierung“ 103, so dass eine moralisch belehrende Funktion über eine mögliche religiöse Bildung dominiert. Auch in seinem Journal fordert er seine kindlichen Leser recht affirmativ dazu auf, ihren Eltern nach Weihnachten angemessen und dankbar zu begegnen und zudem sozial Schwächere nicht zu vergessen: „Fürchterlicher, als alle Knecht Ruprechte in der Welt müsse Euch der Gedanke seyn, durch Vernachlässigung eurer Pflichten, Gott und Menschen zu missfallen, Eure Aeltern zu kränken, und eurer Bestimmung entgegen zu handeln. Um selbst den Anschein jener abergläubischen Vorstellungen zu vermeiden, wünschte ich, daß ihr Euch in Zeiten selbst etwas behutsamer in Euren Redensarten auszudrücken gewöhntet, und statt z.B. zu sagen: ‚Dieß oder jenes hat mir der heilige Christ bescheret‘, sprächt: ‚dieß oder jenes habe ich von meinen Aeltern zum Weihnachtsgeschenke erhalten.‘ Und noch eines, meine liebsten Kinder! Hauptsächlich Ihr, die Ihr im Ueberfluß sitzet, und von Euern Aeltern mit den reichsten und mannichfaltigsten Geschenken überhäuft worden seyd: vergesst bey dieser Gelegenheit Eure armen kleinen Brüder und Schwestern nicht.“104
Die außerfamiliäre Welt wird in Weißes Spielen gleichwohl nur durch einzelne Figuren wie Friedericke, Wilhelm oder Trickmann repräsentiert und in die häusliche Sphäre getragen. Sie sorgen zwar für spontane Irritationen, stören aber die in der Kernfamilie herrschende Ordnung nicht grundlegend. Die von Madame Filibert und Herrn Mildener etablierten familiären Strukturen sind nicht wesentlich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Familien erweisen sich so als unerschütterlich in ihren Ordnungen und immun gegenüber Störungen von außen. Das Private fungiert als Refugium. Externe Gabenbringer wie das Christkind fehlen in beiden Dramen gänzlich. In ebenfalls in Der Kinderfreund erschienenen theoretischen Abhandlungen äußert Weiße sich zu zahlreichen Weihnachtsbräuchen. Hier spricht er sich unter anderem entschieden dafür aus, Kinder darüber zu informieren, dass sie ihre Ge-
103 Heßelmann, Gereinigtes Theater, S. 35. 104 Weiße, Christ- oder Weihnachtsbescherung, S. 195ff.
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schenke von ihren Eltern erhalten haben. Den Einsatz externer Gabenbringer lehnt er kategorisch ab: „Wie herzlich wünsche ich Euch also, meine kleinen Leser und Leserinnen, Glück, daß Ihr zu einer Zeit zu leben anfangt, wo man sich vielen solcher Vorurtheile entrissen, diese kindische Possenspiele wenigstens bey uns abgestellet hat, und Euch von der wahren Beschaffenheit dieser Christbescherung unterrichtet. Ja, glaubt es durchaus nicht, wenn etwa noch ein abergläubischer Thor aus der vorigen Zeit oder eine albernde Magd Euch Etwas von solchen Gauckelspielen vorschwatzen. Eure Aeltern oder Freunde machen Euch zu der Zeit nach dem Maaße ihres Wohlwollens, eures Wohlverhaltens, und nach den Umständen ihres Vermögens Geschenke, und obgleich Gott der Geber aller irdischen Güter ist, so ist er oder sein Sohne es doch nicht, der euch jetzt dieselben unmittelbar hinsetzt. Besonders fürchtet euch nicht vor den albernen Täuschungen eines so genannten Knecht Ruprechts!“105
Weihnachtsgeschenke stellen eine soziale Sanktion dar, die eine soziale Antwort verlangt. Auch in Das Weihnachtsgeschenk und Versprechen muss man halten ist das Schenken mit Erwartungen an den Beschenkten verknüpft und ist somit kein Ausdruck eines altruistischen Verhaltens von Eltern. Die empfangenen Geschenke nehmen Dorchen, Karl und Trickmann in die Pflicht, sich tugendhaft zu verhalten. Da diese um die Identität des Schenkenden wissen, sind sie dazu aufgerufen, den Eltern mit Dankbarkeit zu begegnen.
3.3.6 Zur Aufführungspraxis Weiße merkt in einem kurzen, in Der Kinderfreund publizierten Text an, dass Herr Spirit seinen Kindern Das Weihnachtsgeschenk kurz nach Weihnachten gegeben habe. Die fiktive Figur des Herrn Spirit wird von Weiße bereits im ersten Band von Der Kinderfreund als Hausfreund und als „Dichter voller Empfindsamkeit, Edelmuth und Menschenliebe“ eingeführt.106 „Bisweilen, wenn eine besondere Veranlassung ist, verfertigt er auch kleine Schauspiele, vertheilet die Rollen unter die Kinder, und lässt sie dieselben aufführen.“107 Die Aufführungspraxis der Kinderschauspiele lässt sich heute nur schwer rekonstruieren. Autorenkommentare geben aber zumindest Hinweise hinsichtlich der von den Drama-
105 Ebd., S. 187ff. 106 Ebd., S. 26. 107 Ebd., S. 27.
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tikern angestrebten Art der Darbietung. Auch wenn sie nicht den Rang überlieferten Aufführungsmaterials besitzen, haben sie möglicherweise die häusliche Aufführungspraxis beeinflusst und lassen deswegen Rückschlüsse auf stattgefundene Aufführungen zu. Entsprechend den vorliegenden Informationen ist anzunehmen, dass die Kinderschauspiele mit einer großen Einfachheit der Mittel vonstatten gingen und man sich für die Ausstattung im Haushalt bediente. In der Vorrede zu seinen Dramen fordert August von Rode etwa „häusliche Auftritte, in ganz einfacher Einkleidung“.108 Und auch Weiße lässt in Der Kinderfreund seinen fiktiven Erzähler von einer Aufführung berichten, bei der die Bühne und Kostüme aus ungemein schlichten, aus dem Haushalt stammenden Mitteln hergestellt wurden: „Plötzlich rufte man mich in die Unterstube, unter dem Vorwande, daß mich jemand sprechen wolle. Ich trat hinein, fand alles erleuchtet, ein Paar Schirme aufgestellt, einen Vorhang, der vermuthlich aus einer Schürze von meiner Frau bestehen mochte, vorne herunter gelassen: einige Stühle mit meinen gewöhnlichen Freunden, etlichen Freundinnen von meiner Frau, und einigen kleinen Personchen besetzt: an der Seite aber ein Paar Studenten von Herrn Spirits Bekanntschaft, wovon einer den Baß und die anderen beiden die Violinen spielten, und bey meinem Eintritte sich sogleich hören ließen. Ich errieth sogleich die ganze Geschichte. Der so genannte Vorhang wurde aufgezogen, und die kleinen Schauspieler machten ihre Sachen für ihre Jahre mit aller möglichen Lebhaftigkeit und Wohlanständigkeit. Karl spielte den Herrn von Dorval, Lottchen Fräulein Friederiken, Fritze Ludwigen, Luischen, die man in ein abgefetztes Kleid von Fritzen gesteckt, den kleinen Reinold, und die übrigen drey Knaben waren Söhne von den Freundinnen meiner Frau, die zugegen waren. Wir klatschten ihnen, wie billig, lauten Beyfall zu.“109
Weiße beschreibt hier ein fiktives Ereignis, für das sich eine Familie und Freunde zusammenfinden. Die Erwachsenen bilden das Publikum, die Kinder spielen. Das Spiel der Kinder wird sogar von Musikern begleitet. Ein Vorhang und Stühle für die Zuschauer simulieren eine Theatersituation mit Darstellern, Adressaten und einer klar abgegrenzten Bühne.110 Das Öffnen des Vorhangs, der aus einer Schürze hergestellt worden ist, markiert den Beginn der Vorstellung. Der Verhaltenskodex aller scheint am professionellen Theater orientiert, so dass den
108 Rode, August von: Kinderschauspiele. Leipzig 1776, o.S. (Vorrede). 109 Weiße, Christian Felix: Der Kinderfreund. Teil 1. Leipzig 1780, 3. Auflage, S. 103f. 110 Dettmar hingegen konstatiert: „Schauplatz und Spielort fallen hier zusammen, eine ‚vierte Wand‘ will die Familienbühne nicht errichten.“ Dettmar, Drama der Familienkindheit, S. 20.
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Kindern am Ende selbstverständlich Beifall gespendet wird. Weiße betont, dass sich die Kinder sowohl lebhaft als auch wohlanständig verhielten, bürgerliche Disziplinierungsmaßnahmen also Erfolg zeigten. In diese Sinne betont auch von Rode die Wirksamkeit während einer Aufführung anwesender Erwachsener als Kontrollinstanz. Er fordert die Präsenz und emotionale Beteiligung von Eltern bei Vorführungen gleichsam ein: „Sind die Erwachsenen nicht blos aus Gefälligkeit gegen die Kleinen bey ihrer Vorstellung zugegen, ist vielmehr ihre Aufmerkesamkeit dabey nicht zerstreut, und fühlen sie ihre Herzen von einer gutartigen Empfindung bewegt: So ist meine Absicht bey diesen Kinderschauspielen erreicht.“111
Bei Weiße erscheint anstelle eines Vaters und Familienoberhauptes Herr Spirit als Spielleiter der Veranstaltung, der sogar Musiker organisiert hat. Wenngleich durchaus Hauslehrer oder Gouvernanten und nicht die Eltern Einstudierungen zu Hause geleitet haben mögen, wird jemand wie Herr Spirit, Autor, Regisseur und Lehrer zugleich, in den meisten Familien nicht anzutreffen gewesen sein. Denn Herr Spirit repräsentiert vielmehr die von Weiße als ideal imaginierten, am Berufstheater orientierten Produktionsbedingungen. Da während der Aufführungen häuslicher Schauspiele womöglich kein bzw. ein aus wenigen vertrauten Verwandten und Freunden zusammengesetztes Publikum anwesend ist, zielen sie weniger auf eine intensive theatrale Wirksamkeit denn auf eine besondere Ereignishaftigkeit für die Darsteller ab. Eine Darbietung, bei der unter Umständen der Text abgelesen und nicht auswendig präsentiert wird, die im Wohnzimmer stattfindet, bei der kein Publikum anwesend ist oder bei der das Publikum nur aus den Eltern besteht, stellt den Darsteller und nicht das Publikum ins Zentrum. Man spielt nicht vorrangig für andere, sondern für sich selber und für die Eltern. Dieser Mangel an Öffentlichkeit oder Publikum garantiert eine Innerlichkeit, die das Erleben der Ideenwelt des Stücks, der verkörperten Figuren, der eigenen inneren Verfasstheit sowie die Begegnung mit anderen Familienmitgliedern im Rahmen des Spiels über wirkungsästhetische Überlegungen dominieren lässt. Wenn nicht das Überzeugen anderer im Zentrum des Spiels steht, können sich junge Darsteller stärker auf Inhalte, denn auf Darstellungsformen des Vorgeführten konzentrieren. Rezeptionsästhetische Überlegungen stehen bei Weiße nicht im Vordergrund.
111 Rode, Vorrede, o.S.
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3.3.7 Kinderschauspiele als theatrales Regulativ Die beiden Dramen Weißes lassen sich als Versuch begreifen, Kindern im Sinne eines bürgerlichen Erziehungsprogramms nach Weihnachten Handlungsanweisungen an die Hand zu geben und sie mithilfe von gelenktem darstellendem Spiel im Sinne einer umfassenden Verhaltensmodellierung geschickt sozial zu disziplinieren. Sie sind außerordentlich didaktisch und wollen zu einem tugendhaften Umgang mit den an Weihnachten erhaltenen Geschenken erziehen. Ihnen liegt die Verbindung pädagogischer Prinzipien und festtheoretischer Überlegungen zugrunde. Sie sind für einen privaten Aufführungskontext vorgesehen und ermöglichen ein gemeinsames Spiel von Erwachsenen und Kindern. Die von Weiße intendierte theatrale Praxis und theatrale Verfasstheit einer Aufführung können als Regulativ einer Festpraxis und als Kontrollinstanz im Dienste einer bürgerlichen Ordnung dienen. Im Rahmen eines häuslichen Spiels kann eine „Kontrolle und Modellierung der Triebe und Affekte“112 erzielt werden, sowie eine Verständigung über gemeinsame ideologische Positionen und eine erfolgreiche Integration Weihnachtens in einen bürgerlichen, möglicherweise von Härte, Disziplin, Belohnung und Strafe geprägten Alltag stattfinden. Kinderschauspiele lassen sich problemlos in eine bürgerliche Erziehungspraxis einbinden. Eine Reflexion der religiösen Dimension des Fests oder eine Unterhaltung um ihrer selbst willen sind nicht intendiert. Die Kinderschauspiele vermitteln klare und strikte Verhaltensanleitungen für den Umgang mit Freunden und Familienmitgliedern, so dass bei ihrer szenischen Umsetzung soziale Rollen erprobt und eingeübt, Verhaltensnormen internalisiert und private Herrschaftsstrukturen gesichert werden können. Obwohl die Konflikte der dramatischen Handlung im Privaten situiert sind, können sie eine umfassende Erziehung zum tugendhaften Menschen befördern, die gewissermaßen auf Verhalten in der Öffentlichkeit ausstrahlt. Basedow ist der Ansicht, dass die Erlangung der häuslichen Tugenden des Gehorsams und der Dankbarkeit gegenüber Eltern und Erziehern hervorragend auf die Rolle des systemkonformen Untertanen vorbereitet: „An der Wichtigkeit dieser kindlichen Tugend darf niemand zweifeln. Sie ist die beste Vorbereitung des Gemüts zur Zufriedenheit bei der unvermeidlichen Abhängigkeit eines erwachsenen Untertanen.“113
112 Begemann, Furcht und Angst, S. 38. 113 Basedow, Vorstellung an Menschenfreunde, S. 83.
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Neben pädagogischer Einflussnahme sind die Kinderschauspiele in der Lage, familiären Zusammenhalt zu stärken und Gemeinschaftsgefühl zu generieren, weil sich eine Familie während einer Aufführung als Spielgemeinschaft erfährt. Zumindest suggerieren die Texte, dass mit der Umsetzung einiger strenger, sehr klar zu fassender Verhaltensnormen schnell ein friedliches Zusammenleben und Wohlergehen aller Familienmitglieder und eine erfolgreiche Integration des Fests in den Alltag erzielt werden können. Mithilfe des Spiels kann sich eine Familie kurz nach dem Heiligabend gleichsam neu formieren, eigenes Verhalten reflektieren und fremdes Verhalten erfahren. Gemeinsam werden idealisierte Familienstrukturen dargestellt und somit ein Stück weit erprobt, vielleicht auch mit der eigenen Lebensrealität abgeglichen. Wenn Weißes weihnachtliche Kinderschauspiele tatsächlich von einer Familie kurz nach Weihnachten zu Hause aufgeführt werden, dann stimmen der Aufführungskontext und die Zeit der dramatischen Handlung überein. Kinder führen etwas auf, das aufgrund des Ortes und der Zeit der Handlung, der Figuren und dramatischen Konflikte eine große Nähe zu ihrer Lebenswirklichkeit aufweist und auch in ihrem Zuhause passieren könnte. Sie stellen Kinder ihres Alters und Milieus dar. Die Grenzen zwischen Rolle und Person vermögen zu verwischen. Dadurch, dass die extrem stereotypen Figuren der beiden Schauspiele Weißes als eindeutig tugend- oder lasterhaft charakterisiert sind, können sich die Kinder als Darsteller von ihren Figuren entweder mühelos distanzieren, oder außerhalb des Spiels eine Nachahmung der Verhaltensweisen der von ihnen interpretierten Figur anstreben. Wenn sie kurz nach der Bescherung im Familienkreis ein Schauspiel aufführen, das eine Varianz des von zu Hause Vertrauten darstellt, in dem Kinder ihres Alters aufgrund eines scheinbar falschen Umgangs mit Geschenken zur Rechenschaft gezogen werden und die Warnung ergeht, sich durch Geschenke nicht etwa zu Fehlverhalten hinreißen zu lassen, verlieren sie leicht ein unbeschwertes, unreflektiertes Verhältnis zu ihren eigenen Geschenken. Ein Abgleich mit den eigenen Verhaltensweisen erscheint aufgrund der enormen Kongruenzen zwischen Spiel und sozialem Spiel innerhalb einer Familie beinahe unumgänglich. Wenngleich Kinder unbestritten die Hauptadressaten der beiden Schauspiele sind, ist es auch möglich, Eltern spielende Eltern zu einer Reflexion über ihre Erziehungsmethoden und ihre persönliche Familienrealität anzuregen. Falls tatsächlich eine Gouvernante in Das Weihnachtsgeschenk die Gouvernante darstellt, Realität und Fiktion mithin übereinstimmen, kann mithilfe des durchaus moralisierenden Spiels ihre Position in einer Familie gestärkt werden. Interpretiert jedoch eine Hausherrin die Rolle der Gouvernante, erfährt sie möglicher-
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weise selber, welche Schwierigkeiten diese Stellung mit sich bringen kann. Vielleicht reflektiert und korrigiert sie daraufhin eigene Verhaltensmuster. Neben aller Didaktik können sich über die Freude am Spiel, das erzieherische Moment der Weihnachtsfeier und das erzieherische Moment des darstellenden Spiels durchaus gegenseitig potenzieren und in eine produktive Wechselwirkung treten. Theatrale Praxis wird in den Dienst eines bürgerlichen, geordneten, wahren Exzess ablehnenden Fests gestellt. Trotzdem vermag sie als Multiplikatorin festlicher, ausgelassener Stimmung zu dienen. Einige Jahrzehnte später fordert beispielsweise Agnes Franz im Vorwort zu ihrem 1841 veröffentlichten Sammelband Kindertheater, dass ihre Festspiele dazu beitragen sollen, „durch eine frohe Überraschung die Feier häuslicher Feste zu erhöhen.“114
3.4 G EZIELTE S PIELPLANGESTALTUNG
IN
W IEN
Anders als an den meisten deutschen Theatern kann man an einer Wiener Bühne bereits in den 1780er Jahren Ansätze einer spezifisch weihnachtlichen Spielplangestaltung nachweisen. 1709 wird in Wien das Kärntnertortheater eröffnet, doch bald schon gibt es aufgrund der von Joseph II. 1770 eingeführten Spektakelfreiheit bis zu 80 Theater. Somit setzen die Spezialisierung und Konkurrenz der Spielstätten um Publikum hier früher als in den meisten deutschen Städten ein: Das am 18. Dezember 1786 uraufgeführte Singspiel in drei Aufzügen Johann Baptist Schenks (1753-1836), Die Weihnacht auf dem Lande,115 wird beispielsweise jahrelang regelmäßig in der Weihnachtszeit am Leopoldstädter Theater gespielt. Es nimmt inhaltlich Bezug auf das Weihnachtsfest, scheint dementsprechend für einen weihnachtlichen Aufführungskontext konzipiert worden zu sein. Zeitgenössische Quellen lassen einen großen Publikumserfolg vermuten. 1794 merkt Joseph Sonnleithner im Wiener Theateralmanach an: „Herr Iohann Schenk hat noch mehrere Opern geschrieben, die auf den Nebentheatern gegeben wurden. Auf dem Marinellischen Theater wurde die Weinlese, und die Weihnacht auf dem Land gegeben. Beyde wurden mit außerordentlichem Beyfall aufgenommen, und
114 Franz, o.S. (Vorwort). 115 Schenk, Johann Baptist: Die Weihnacht auf dem Lande. Singspiel in drei Aufzügen. Autographe Partitur: Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, A-Wgm Aut Schenk 11. Ein Textbuch ist nicht überliefert.
84 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR noch alle Iahre werden sie zur Zeit der Weinlese und der Ärnde gegeben, und mit Vergnügen gesehen.“116
1830 berichtet Schenk persönlich in einem Brief seinem Freund Aloys Fuchs von Die Weihnacht auf dem Lande: „Sonach [nach der UA von Die Weinlese am Leopoldstädter] schrieb ich noch für dies Theater: ‚Die Weihnacht auf dem Lande‘, ein Singspiel in drey Aufzügen, welches den 18. Dezember 1786 zur Aufführung kam. Diese zwey Singspiele haben mehr als 18 Jahre auf dieser Bühne sich erhalten.“117
Eine Sichtung der 1934 von Franz Hadamowsky veröffentlichten und katalogisierten Spielpläne des Theaters der Wiener Leopoldstadt bestätigt, dass man Schenks Singspiel zwischen 1786 und 1803 60 Mal aufführt und beinahe alljährlich wieder aufnimmt.118 Man spielt es immer an denselben Tagen rund um Weihnachten, es etabliert sich dementsprechend als fester und verlässlicher Bestandteil des weihnachtlichen Programms. Vom 22. bis 25. Dezember ist das Theater geschlossen. Die Weihnacht auf dem Lande wird stets in den Tagen ab dem 26. Dezember gespielt, manchmal auch Mitte Dezember und Anfang Januar. Hin und wieder gibt man das Singspiel sogar bis in den Februar hinein. Nur zwischen 1794 und 1800 verschwindet es vom Spielplan. Da in jenen Jahren an jedem Weihnachtsfest neue Stücke wie Verschleierte Damen oder Schlangenfest präsentiert werden, die keinen direkten Bezug zum Fest aufzuweisen scheinen,119 führt möglicherweise das Fehlen eines neuen (weihnachtlichen) Erfolgsstückes 1801 zur Wiederaufnahme von Die Weihnacht auf dem Lande. Erst 1845 und 1849 werden im Theater in der Leopoldstadt erneut Werke mit einer weihnachtlichen Thematik ins Programm genommen: August Wilhelm Hesses Weihnach-
116 Sonnleithner, Joseph: Wiener Theateralmanach für das Jahr 1794. Wien 1797, S. 185. 117 Schenk, Johann Baptist: „Autobiographische Skizze in Briefform an Aloys Fuchs. Geschrieben in Baumgarten nächst Krems, den 28. July 1830“, in: Adler, Guido (Hg.): Studien zur Musikwissenschaft. Beihefte der Tonkunst in Österreich. Heft 11. Wien 1924, S. 75-85 (S. 79). 118 Vgl. Hadamowsky, Franz: Das Theater der Wiener Leopoldstadt, 1781-1860. Wien 1934 (Kataloge der Theatersammlung der Nationalbibliothek in Wien. Band 3), S. 283. 119 Ebd., S. 314ff.
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ten120 und Freimund Volkmanns Der Weihnachtsabend eines armen Souffleurs.121 Das 1781 von Karl von Marinelli gegründete Leopoldstädter Theater ist im ausgehenden 18. Jahrhundert neben dem National-/ Burgtheater, dem Kärntnertortheater und dem Freihaustheater auf der Wieden eines der größten und populärsten professionellen Theater Wiens. Es genießt die „Aufmerksamkeit der ganzen Stadt“.122 Offensichtlich nimmt das Theater schon recht früh eine dezidiert auf Weihnachten abgestimmte Spielplangestaltung vor, die auf Konstanz, eine inhaltliche Bezugnahme auf das Fest sowie Unterhaltung abzielt: Das Genre des Singspiels ist zu dieser Zeit in Wien äußerst beliebt; in Marinellis Theater kommen zwischen 1785 und 1809 75 Singspiele zur Uraufführung. Seine Spielstätte spezialisiert sich gewissermaßen auf dieses Erfolg versprechende Genre,123 hat aber keineswegs eine Monopolstellung inne. Das Kärntnertortheater ist beispielsweise ein durchaus ernstzunehmender Konkurrent. Es reduziert zwar ab 1787 den Anteil an Singspielen im Spielplan,124 landet aber mit einigen Singspielen wie z.B. Schenks Dorfbarbier, der zwischen 1796 und 1819 318 Mal auf die Bühne gebracht wird,125 regelmäßig große Erfolge. Die immense, lang anhaltende Popularität wird die unter fortwährenden wirtschaftlichen Zwängen und einem großen Erfolgsdruck stehenden Theaterleiter des Leopoldstädter Theaters dazu veranlasst haben, Die Weihnacht auf dem Lande immer wieder auf den Spielplan zu setzen. Auch die Mitwirkung des in Wien hochgeschätzten und von 1781 bis 1806 als Kasperl-Darsteller auf der Bühne in der Leopoldstadt stehenden Johann Josef La Roche126 ist vermutlich Ausdruck einer gezielten Orientierung am Geschmack breiter Publikumsschichten. Zudem weist das Singspiel inhaltliche Bezüge zum Aufführungskontext auf.
120 Vgl. Kapitel 3.9. 121 Hadamowsky, Theater, S. 283. 122 Ebd., S. 51. 123 Ebd. 124 Vgl. ebd. 125 Takeishi, Midori: Singspiele von Johann Baptist Schenk. Tokyo 1996, S. 112. 126 Vgl. Hadamowsky, Theater, S. 283 und Großauer-Zöbinger, Jennyfer: „Das Leopoldstädter Theater (1781-1806). Sozialgeschichtliche und soziologische Verortungen eines Erfolgsmodells“, in: Dies., Andrea Brandner-Kapfer und Beatrix MüllerKampel (Hg.): Kasperl-La Roche. Seine Kunst, seine Komik und das Leopoldstädter Theater. Graz 2010 (Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie. Sonderband 1), S. 5-55 (S. 5).
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Das vermutlich auf einem Libretto Peter Wiests127 basierende Werk spielt auf dem Lande und thematisiert heiter Verwirrungen in Liebesangelegenheiten,128 die allesamt am Ende eine Auflösung erfahren. Die Handlung lässt sich heute wegen nicht überlieferter Dialoge nur noch eingeschränkt rekonstruieren. Dennoch kann man aufgrund der gesungenen Nummern, der Figurennamen und des Titels annehmen, dass sich das städtische Wiener Publikum nicht mit eigenen weihnachtlichen Festpraktiken, sondern mit einer ihnen diametral entgegengesetzten Lebensrealität konfrontiert sieht. Offenbar finden weder eine private Festkultur als Manifestation bürgerlicher, familiärer Idylle noch bürgerliche musikalische Weihnachtstopoi Verwendung. Städtisch weihnachtliche Festlichkeiten spielen keine zentrale Rolle. Vielmehr dominieren eskapistische Tendenzen. Die Chornummern, mit denen die drei Akte schließen, zeichnen primär ein idyllisches Bild einer ländlichen Szenerie. In der letzten musikalischen Nummer findet eine Bezugnahme auf das Fest statt. Alle besingen „die Ruhe nach dem Gottesdienst am Weihnachtsfest.“129 Demzufolge setzen sich die Zuschauer des Leopoldstädter Theaters, zu denen „sowohl Bewohner Wiens, als auch Touristen aus dem Kaiserreich und diverse Staatsgäste zählten“,130 im Rahmen eines Besuchs von Die Weihnacht auf dem Lande vermutlich eher mit ländlichen denn mit städtischen Weihnachtsfreuden auseinander und können sich dementsprechend vom Bühnengeschehen distanzieren. „Wie im Burgtheater, das seit 1776 aufgrund eines Beschlusses von Joseph II. von Bürgerlichen und Adeligen besucht werden kann, rekrutieren sich die Zuschauer im Theater in der Leopoldstadt wahrscheinlich ebenfalls aus adeligen und bürgerlichen Schichten: Der Neubau des Theaters von 1781 weist ein erstes und zweites Parterre, eine Galerie, einen zweiten und dritten Stock auf,“131
127 Vgl. Sonnleithner, Leopold Edler von: Materialien zur Geschichte der Oper und des Balletts in Wien. Band 3. Wien 1873. Manuskript: Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, 25590/33. Und Hadamowsky, Theater, S. 283. 128 Vgl. die bei Takeishi abgedruckten Hauptthemen der musikalischen Nummern und die Angaben zum Inhalt: Takeishi, Singspiele, S. 43-58 und S. 195ff., vgl. außerdem Rosenfeld-Roemer, Ernst: Johann Baptist Schenk als Opernkomponist. Dissertation Universität Wien 1921, S. 71ff. 129 Takeishi, Singspiele, S. 195. 130 Großauer-Zöbinger, Leopoldstädter Theater, S. 12. 131 Vgl. ebd., S. 46.
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lässt folglich auf differenzierte, gestaffelte Eintrittspreise und heterogene Publikumsschichten schließen.132
3.5 F RIEDRICH H AGEMANNS W EIHNACHTSABEND Friedrich Gustav Hagemanns (1760-circa 1830) in Grätz 1799 veröffentlichtes Werk Weihnachtsabend oder Edelmann und Bürger. Schauspiel in 5 Aufzügen wiederum stellt einen der frühesten weihnachtlichen dramatischen Texte dar, der für einen professionellen Aufführungskontext entstanden ist. Mit den Motiven einer komplizierten Liebesgeschichte voller Hindernisse, Standesdifferenzen zwischen Adel und Bürgertum, dem Scheitern einer Paarbildung über Standesgrenzen sowie eines Autoritätskonfliktes zwischen Vater und Sohn vereint Weihnachtsabend typische Kennzeichen bürgerlicher Dramatik. Das Werk spielt zu Kriegszeiten, am Weihnachtsnachtmittag und -abend, und schildert die Geschichte des Liebespaares Minna und Wilhelm. Ungeachtet ihres Standesunterschieds möchten sich die beiden am Weihnachtsabend im Hause von Minnas Onkel, dem adeligen Hauptmann von Tönnen, verloben. Doch Wilhelm erhält kurz nachdem seine Eltern und seine Geschwister eingetroffen sind, um gemeinsam mit Minnas Familie die Verlobung und Weihnachten zu feiern, überraschend einen Brief. Aus diesem geht hervor, dass seine erste, von ihm tot geglaubte und noch immer geliebte Ex-Verlobte Sophie am Leben und auf dem Weg zum Haus des Hauptmanns ist. Voller Zweifel versucht er sich für eine der beiden Mädchen zu entscheiden. Sein Vater drängt ihn dazu, sich seiner bürgerlichen Herkunft zu erinnern und zu seiner einstigen Verlobten zu stehen:
132 In seinen autobiografischen Skizzen berichtet Schenk stolz, dass zahlreiche Mitglieder der königlichen Familie Die Weinlese besucht hätten: „1785 ist meine erste Oper, betittelt: ‚Die Weinlese‘ in dem Leopoldstädtertheater den 8. Oktober auf dieser Bühne erschienen. Bevor ich aber diese Oper zur Komposition übernahm, bedung ich dem Verfasser mir zur Pflicht, nie meinen Namen kund zu geben, bis ich es selber wolle. Er war verschwiegen und hielt reinen Mund. Meine Musik aber ist mit entschiedenem Beyfall aufgenommen worden und hat in Folge allgemeine Sensation erweckt. Die elfte Vorstellung dieses Singspiels hatten Sr. k. k: Majestät Kaiser Joseph mit Begleitung S. k. Hoheit Erzherzog Franz und Prinzessin Elisabeth mit aller höchst Ihrer Gegenwarth beehrt. Und im selbigen Jahr noch zweymahl, das zweyte Mahl mit Sr. k. Hoheit Erzherzog Leopold, Erzherzog von Florent, und zum dritten: mit Sr. k. Hoheit Erzherzog Maximilian, Khurfürst von Kölln.“ Schenk, Autobiographische Skizze, S. 79.
88 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR „Du bist Rittmeister, ich Bäckermeister, aber du machst mich nicht dumm. Der Hoffartsteufel ist in dich gefahren. Der Wachtmeister beleibt seinen Mädchen treu, dem Herrn Rittmeister ist sie nun zu schlecht; da liegt der Hund begraben.“ (Weihnachtsabend oder Edelmann und Bürger, III. Akt, 6. Szene)
Während Wilhelm um keinen Ausweg aus diesem Konflikt weiß, beschließt Minna, ihn von seinem Versprechen zu entbinden und Sophie heimlich in Empfang zu nehmen. Vernünftig und im Sinne einer rationalen Liebe räumt sie ihrer Konkurrentin den Vortritt ein. Auf der abendlichen Weihnachtsfeier führt sie die Verlobten zusammen. Der dramatische Text ist ein Zeugnis des enormen gesellschaftlichen Wandels seiner Entstehungszeit und beteiligt sich an den damals populären Debatten über die Differenzen verschiedener Stände, den stattfindenden Wertewandel und die Veränderung gesellschaftlicher Normen im Zuge einer Erstarkung des deutschen Bürgertums. Die Figurenzeichnung der im Schauspiel auftretenden bürgerlichen und adeligen Figuren differiert stark. Zwar äußern sie sich allesamt recht explizit zu ihrer Herkunft, ihrem Selbstverständnis, ihren Verhaltensgrundsätzen und Eigenarten, vertreten aber überaus konträre Positionen. Hinzu kommen Unterschiede zwischen den Generationen. Die jungen Leute versuchen die Existenz von Standesunterschieden zu negieren, wohingegen die älteren fortwährend bestrebt sind, sich von anderen Ständen abzugrenzen. Während Sophie etwa Angst vor dem Krieg und einer Bedrohung von Außen hat,133 beunruhigt die Erwachsenen eher die Möglichkeit einer Veränderung und Schwächung etablierter innergesellschaftlicher Strukturen. Solchermaßen wird nicht nur die „typische Abgrenzung der Bürgerlichen gegenüber dem Adel [...] ironisch thematisiert“,134 sondern auch die Abgrenzung des Adels gegenüber dem Bürgertum. „Forstrath: Habt dumme Streiche gemacht, habt unsern Stammbaum verstümmelt. [...] Minna: Ach gehen sie mit dem alten dummen Baum, mit dem man keine warme Stube machen kann! [...] Forstrath: Es ist eine Mißheirath, und ihr Nahme ist ein Klecks auf unserm Stammbaum. [...] Sie sollen sie adeln lassen, und das noch vor der Hochzeit, ich wills bezahlen.
133 Minna: „Wenn nur der fatale Krieg ein Ende hätte.“ Weihnachtsabend oder Edelmann und Bürger, I. Akt, 8. Szene. 134 Eberspächer, Weihnachtsmann, S. 112.
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Wilhelm: Das muß ich verbitten, Herr Forstrath, das heiße, dem Könige vorgreifen. Forstrath: Sie dürfen nicht Stägemann heißen, das klingt gemein, unter allen meinen Ahnen war kein Mann. Wilhelm: Der Nahme meines Vaters ist mein Stolz. Forstrath: Nehmen sie etwas aus dem Thierreich, z.B. Stägebock! Ein Bock von Adel ist doch besser als ein bürgerlicher Mann.“ (Ebd., I. Akt, 6. Szene)
Insbesondere der Forstrath, ein Verwandter Minnas, spricht sich kategorisch gegen eine Annäherung der Stände aus. Sein Standesdünkel dient dramaturgisch der Erzeugung von Komik. Der Text legt die Doppelmoral seines Standesbewusstseins offen: Zwar beruft er sich fortwährend auf die Bedeutung der Ahnen sowie des Stammbaums, möchte gleichzeitig aber Wilhelm einen Titel kaufen. Auf diese Weise wird der von ihm formulierte, auf Abstammung gründende adelige Herrschaftsanspruch ironisch gebrochen. Im Gegensatz dazu tritt Bäckermeister Stägemann immerhin für eine friedliche Koexistenz aller Stände ein. Vom adeligen Standesdünkel distanziert er sich im Rahmen der Kultivierung eines Bürgerstolzes, der auf der Wahrung von Tugenden wie Gutsein, Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit und Kontinuität beruht (vgl. ebd., III. Akt, 6. Szene). Dennoch ist ihm letztlich die Beibehaltung der Monarchie, existierender Hierarchien und einer gewissen Distanz recht. Sein Bürgerstolz verleitet ihn sogar dazu, den Adel zu brüskieren. So weigert er sich beispielsweise, der Obristin seinen Arm zu geben: „Nehmen Sie es nicht übel, aber meinen Arm brauch ich selbst, der muß Weib und Kinder ernähren.“ (Ebd.,V. Akt, 9. Szene) Trotzdem fordert er keine grundlegende Veränderung der Verhältnisse und gesellschaftlicher Strukturen, spricht sich aber für einen starken innerständischen, selbstbewussten Zusammenhalt aus. „Man muß keinen Stand herunter setzen, und jeder Stand muß so viel Stolz haben, sich selbst in Ehren zu halten. War er als Bürger nicht auch Unterthan des Königs? War er nicht eben so nützlich? Konnt er nicht eben so glücklich seyn? Hier ist er Rittmeister geworden, und durch wunderbare Begebenheit; dort konnte er ohne wunderbare Umstände leicht Rathsherr werden. Der Handwerker und der Soldat, der Gelehrte und der Kaufmann, der Bürger und der Edelmann, alle müssen Respekt füreinander haben.“ (Ebd., II. Akt, 5. Szene)
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Hagemanns Werk thematisiert darüber hinaus Schwierigkeiten und Spannungen, welche im Zuge einer Annäherung verschiedener Stände innerfamiliär entstehen können. Die erlangte militärische Position des Sohnes, seine anstehende Hochzeit, der damit verbundene soziale Aufstieg und mangelnde Kenntnisse aristokratischer Umgangsformen bewirken eine große Verunsicherung des Bäckerehepaars sowie eine Entfremdung des Sohnes und seiner Mutter Margarethe: „Nun ja, du bist vornehm geworden, bist du aber auch gut geblieben? [...] Gebrauch doch so vornehme Redensarten nicht, wenn du mit der Mutter sprichst.“ (Ebd., III. Akt, 7. Szene)
3.5.1 Weihnachten als bürgerliche kulturelle Praxis In Hagemanns Drama besitzt das Weihnachtsfest eine zentrale dramaturgische Funktion, da hier sämtliche Konflikte eine Auflösung erfahren und die zuvor gestörte Ordnung wiederhergestellt wird. Der dramatische Text reflektiert also den performativen Charakter des Festrituals Weihnachten.135 Im Rahmen dessen wird das Potential der Vergemeinschaftung erfahrbar gemacht, das dieses Fest in sich trägt. Man kann die These aufstellen, dass Theater in diesem Fall sogar als „Legitimierungsstrategie“136 des weihnachtlichen Bescherrituals dient, und dass es dessen gemeinschaftsbildende Kraft beschwört. Hagemanns Werk zeigt die von Christoph Wulf in seinen Veröffentlichungen zum Performativen im Ritual beschriebene „konstruktive Seite“ von Ritualen, „die Gemeinschaften erzeugt und die es diesen ermöglicht, ihre Probleme und Konflikte zu bearbeiten.“ 137 Darüber hinaus stellt das Werk ein wichtiges kulturhistorisches Zeugnis dar, das den Paradigmenwechsel des Weihnachtsfests im 18. Jahrhundert widerspiegelt, Wandlungsprozesse einer Festkultur und ihre Säkularisierung aufzeigt. Die deutsche Bürgerkultur wird als Träger der Entwicklung des Weihnachtsfests von einem Fest volkstümlicher Prägung hin zu einem Familien- und Bescherfest im kleinen Rahmen präsentiert. Gleichwohl ist diese kulturelle Praxis dem Adel augenscheinlich nicht unbekannt. Nicht der wohlhabende Hauptmann von Tönnen initiiert die Feier. Vielmehr setzt sich primär die Bäckerfamilie Stägemann für ihre Realisierung ein, wenngleich von Tönnen die Mittel bereitstellt. Bäcker Stägemann begründet die
135 Vgl. zum Thema des performativen Charakters von Ritualen: Wulf und Zirfas, Gemeinschaften, S. 93-115. 136 Vgl. ebd., S. 98f. 137 Wulf, Einleitung, S. 7.
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Durchführung und Wahrung des weihnachtlichen Bescherrituals aus seinem bürgerlichen Standes- und Traditionsbewusstsein heraus und nimmt deutlich Bezug auf eine christliche Legitimation des Fests: „Es ist doch heute Weihnachtabend, und ein alter christlicher Gebrauch, an diesem Tage seine Kinder zu beschenken. Wir Bürgersleute halten noch was auf alte Gebräuche.“ (Ebd., II. Akt, 12. Szene) Stägemanns Schilderungen der eigenen familiären Feierpraxis verweisen auf den sich von 1700 bis 1900 vollziehenden „Übergang von der wilden öffentlichen Weihnacht zur Familienfeier“.138 Der Bäckermeister definiert das Fest als ein von der Hausfrau organisiertes, für die Kinder veranstaltetes Bescherfest, das aber gleichzeitig „Bauernhochzeiten“, also ausgelassenen, großen Feiern mit viel Tanz und Trunk, ähnle. Diese Beschreibung impliziert, dass Stägemanns Feierpraxis zum Teil noch älteren Feierpraktiken verpflichtet ist, die weihnachtliche Bescherfeier nicht bedächtig im exklusiven Kreis der bürgerlichen Kernfamilie begangen wird. „Seit mein Wilhelm vier Jahre alt war, hat meine Frau jederzeit den Abend celebriert. Sie hat Tannenbäume ausgeputzt mit Goldschaum, mit Wachskerzen und versilberten Aepfeln, mit Spielzeug und Naschwerk. […] Wir haben auch wohl Musikanten hohlen lassen, uns es ist bey uns hergegangen, wie auf einer Bauernhochzeit.“ (Ebd.)
Über die sprachliche Ebene ist das Bäckerehepaar als ungebildet semantisiert. Es bedient sich einer ungelenken Sprache voller dialektaler Wendungen. Ein gewisser Mangel an Umgangsformen und an Wissen um Etikette lässt es neben den anderen Figuren oft unsicher erscheinen. Das Wissen um eine gelungene Gestaltung der Weihnachtsfeier verleiht den beiden allerdings Macht und Selbstbewusstsein. Trotz aller Skrupel, dass das Fest gegen Gebote der Schicklichkeit verstoßen könnte, richten sie es schlussendlich in einer ihnen unbekannten Umgebung aus: „Stägemann: So packten wir auf, was der Weihnachtsmann bescheren sollte und nahmen die Kinder auch mit, um den Abend hier zu feyern. Hauptmann von Tönnen: Brav! Das kann ja in meinem Hause auch seyn. Margarethe Stägemann: Ach, das würde sich nicht schicken lassen.“ (Ebd.)
138 Althans, Birgit: „Die Stadt als performativer Raum“, in: Wulf, Das Soziale als Ritual, S. 19-36 (S. 28).
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Das Schauspiel reflektiert Funktion und Gestaltung des Bescherfests sowie seine Eigenart als cultural performance. Es vergibt genaue Informationen zur Organisation und Dramaturgie der Feier, welche die dramatische Handlung beschließt.
3.5.2 Gestaltung der Feier Obwohl der dramatische Text ansonsten äußerst sparsam mit Regieanweisungen umgeht, findet sich zu Beginn des fünften Auftritts eine verhältnismäßig detaillierte Beschreibung des Aufführungsortes. Requisiten wie Kerzen und Tannenbäume sind vorhanden, Jungen und Mädchen werden gleichermaßen beschenkt: „Schöner Saal mit einem Kronleuchter. Etwas im Hintergrunde stehn zu beyden Seiten Tannenbäume mit brennenden Wachskerzen und Goldschaum geziert der eine mit Trommel, Steckenpferd, Peitsche und Spielzeug für Jungen; der andere mit Puppen, Schüsseln, Teller und Spielzeug für Mädchen bekleidet. Zwischen diesen Bäumen ist ein helles Gewölke, welches sich theilen kann. An den Seiten des Gewölkes stehn zwey kleine Pyramiden, an der einen hängt ein Lorbeerkranz, an der anderen ein Kranz von Blumen.“ (Ebd., V. Akt, 5. Szene)
Das Bäckerehepaar zeigt sich von dem Prunk der Dekoration beeindruckt. Überwältigt wird es gleichsam zum Beobachter und Kommentator der Veranstaltung: „Ach sieh, wie das hier glänzt.“ (Ebd.) Hiermit legt der dramatische Text offen, wie stark an Weihnachten die Prosperität desjenigen, der die Feier ausrichtet, mithilfe der Ausstattung zum Ausdruck gebracht und die Sehnsucht nach Repräsentation gestillt werden kann. Zwar wird das Fest in einem Innenraum und unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgerichtet, die Anzahl der Gäste geht jedoch weit über die Größe einer Kernfamilie hinaus. Angehörige verschiedener Familien sowie Generationen und Repräsentanten unterschiedlicher Stände kommen zusammen. Der Text präsentiert somit kein rein innerfamiliäres Festritual. Neben der Bäckerfamilie, Sophie, Minna und dem Hauptmann sind noch „Obrist von Torkow, die Obristinn, Junker Kumpen und einige Gäste“ (ebd.) anwesend. Auch Kinder sind da. Demnach kann von ungefähr zwanzig bis dreißig Beteiligten ausgegangen werden. Der sich an die Kinderbescherung anschließende, weitere Verlauf der Feier folgt nicht der sich im 19. Jahrhundert zunehmend etablierenden Festdramaturgie. Das Ritual erscheint verhältnismäßig variabel in seiner Gestaltung, frei von extremer Disziplinierung oder einer starren Geschlechterordnung. Seine Organisation ist verschiedenen Personen anvertraut, eine Hausfrau gibt es nicht. Der
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Hauptmann sorgt für die Durchführung der eigentlichen Feier, Stägemanns fungieren vorrangig als Impulsgeber. Verhaltensweisen und Stimmungen wie Fröhlichkeit, Friedfertigkeit, Mildtätigkeit, Großzügigkeit oder Harmoniestreben werden zwar propagiert. Doch wird weder gemeinsam gegessen, noch die Weihnachtsgeschichte gelesen, gebetet oder gar über den christlichen Ursprung des Fests reflektiert. Die Erwachsenen werden nicht beschenkt. Auf die Kinderbescherung folgt ein vollkommen säkulares, von Sophie geleitetes Spiel im Spiel, das das ludische Potential von Ritualen betont.139 Durch den Einsatz von Musik, Kostüm und Bühnenbild weist es einen hohen Grad an Theatralität auf. Es dient der Zusammenführung der beiden Verlobten, die einander gleichsam beschert werden. Nachdem die Kinder ihre Geschenke erhalten haben, ertönt im Nebenzimmer „ein angenehmes Adagio von blasenden Instrumenten. Unter dieser Musik öffnet sich langsam das Gewölk, dann tritt Minna und Amor heraus, und hat Sophien am Arm.“ (Ebd.) Minna bringt die Musik zum Schweigen. Nachdem Wilhelm und Sophie sich in die Arme gefallen sind, beschwört sie das Fest als Fest der Liebe, das Amor erfunden habe: „Amor hat dies Fest erfunden, / Und mit eigner Götter Hand / Durch dieß frische Rosenband / Ein geliebtes Paar verbunden.“ (Ebd., V. Akt, 10. Szene) Sie gibt Wilhelm frei, um „den Menschenkindern, die immer auf den Adel schimpfen, zu zeigen, daß auch Edelleute sehr gut verstehen, edel zu handeln.“ (Ebd.) So endet das Schauspiel zum Wohlgefallen aller. Stägemann ist froh, dass sein Sohn wieder mit einer Bürgerlichen zusammen ist. Der Hauptmann wiederum lobt seine Nichte und verspricht ihr einen standesgemäßen Partner: „Hast deine Sache gut gemacht. Dafür soll dir auch, wenn wir einmal wieder Weihnachten haben, ein Graf bescheret werden.“ (Ebd.)
3.5.3 Kollektives Wissen Offensichtlich sind alle mit dem Bescherritual vertraut. Das handlungsrelevante Wissen ist ein kollektives. Der Hauptmann übernimmt den Kindern gegenüber die Funktion eines Spielleiters und kündigt einen externen Gabenbringer an. Dieser tritt allerdings nicht auf bzw. ist nicht an der dramatischen Handlung beteiligt. In diesem Zusammenhang ist es interessant hervorzuheben, dass laut der Studie von Martina Eberspächer zur Geschichte des Weihnachtsmanns Hage-
139 Zum Ludischen im Ritual vgl. beispielsweise Wulf, Christoph und Jörg Zirfas: „Das Soziale als Ritual. Perspektiven des Performativen“, in: Das Soziale als Ritual, S. 339-348 (S. 341).
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manns Schauspiel „nicht nur dem Wesen, sondern erstmals auch dem Namen nach“140 vom Auftreten eines Weihnachtsmannes zeugt. Damit sei sein Text der „früheste Beleg für einen Weihnachtmann“141 als mythischem Gabenbringer und eine wichtige kulturhistorische Quelle. Handlungsimmanent dient der Beginn des vermeintlich vom Weihnachtsmann für die Kinder ausgerichteten Bescherrituals als Auftakt für die eigentlichen weihnachtlichen Festlichkeiten. Die mit den Spielregeln des weihnachtlichen Schenkrituals vertrauten Kinder versichern unversehens ihre Artigkeit. Ihnen wird erzählt, dass ein Weihnachtsmann kommen, sie prüfen und ungesehen bescheren werde: „Hauptmann: Der Weihnachtsabend geht an. Heraus da! Heraus da! Fritz: Sind wir erlöst? Julchen: Dürfen wir kommen? Hauptmann: Näher, näher! Der Weihnachtmann kommt! Julchen: Ach! was wird der alles beschert haben? Hauptmann: Erstlich will er wissen, ob ihr recht artig gewesen seyd? Julchen: Recht artig. Fritz: Ganz abscheulich artig. Hauptmann: Zweytens, ob ihr auch noch immer artiger werden wollet? Julchen: Immer, immer artiger! Fritz: Ueber und über. Hauptmann: Dann hat er befohlen, euch die Augen verbinden zu lassen. Julchen: Die Augen?
140 Eberspächer, Weihnachtsmann, S. 110. 141 Ebd.
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Fritz: Dann können wir ja nicht sehn, was er uns beschert hat. Hauptmann: Wenn ich commandire: Augen auf! Dann könnt ihr sie wieder öffnen. Fritz: Dann wird die ganze Herrlichkeit da seyn. Hauptmann (verbindet den Kindern die Augen.): Wer vor der Zeit aufsieht, verliert seine Geschenke!“ (Ebd., V. Akt, 3. und 4. Szene)
Wie die Kinder wissen die Erwachsenen, dass es gewisse Rollen zu spielen gilt, um die gemeinsame Feier erfolgreich zu realisieren. Beinahe sämtliche Erwachsene reflektieren in Hagemanns Text ihr eigenes Verhalten und nehmen sich vor, ein dem Fest adäquates Benehmen an den Tag zu legen. So konstatiert der Obrist: „Lassen sie uns heute Mahl unsern Adel vergessen, oder vielmehr lassen sie uns bedenken, daß wir Edelleute sind, denn es ist unsere verfluchte Schuldigkeit, den edeln Bürger edel zu behandeln.“ (Ebd., V. Akt, 6. Szene)
Und Margarethe Stägemann fordert ihren Mann auf: „Lieber Matthias, vergiß auch nicht den gnädigen Damen die Hände zu küssen. Aber mach es fein manierlich, du hast keinen Bäckergesellen vor dir.“ (Ebd., V. Akt, 7. Szene)
3.5.4 Ein konnektives Ritual Im Verlauf der Feier legen sich jedoch sämtliche Irritationen aller Gäste. Das Fest präsentiert sich schlussendlich als ein Gemeinschaft generierendes Ritual, das sogar über Standesgrenzen hinweg Wirkung zeigt. Hagemann stellt Weihnachten folglich als ein konnektives Ritual dar, das „die Funktion hat, Gemeinschaft zu stabilisieren, zu erneuern oder wiederherzustellen.“142 Es wartet mit wundersamen Überraschungen für Jung und Alt auf und endet mit einer Zusammenführung des bürgerlichen Paares. Die Rückbesinnung auf die glücklichen Stunden der Kindheit schafft Nähe. Als sich die Kinder des Bäckers über die „Pracht“ und den „allerliebsten Weihnachtsmann“ (ebd., V. Akt, 9. Szene) freuen, schwelgt sogar der Obrist nostalgisch in Erinnerungen: „Ein Rückblick in
142 Wulf und Zirfas, Gemeinschaften, S. 106.
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unsere Kinderjahre ist ein schönes Bild. Ich wollt’, ich wäre noch ein Junge, und commandirte meine Soldaten auf dem Tisch.“ (Ebd.) Und auch die Vergegenwärtigung gemeinsamen musikalischen Erbes scheint die gegenseitige Scheu abzubauen. So erinnert sich der Hauptmann: „Die Alten hatten ein Lied: Vom Himmel hoch da komm ich her –“ (ebd.) und Margarethe stimmt freudig ein: „Und bring euch schöne neue Mähr! O, den Gesang kann ich noch recht gut.“ (Ebd.) Das gemeinschaftliche Musikerlebnis und das Rekurrieren auf kulturelles Wissen offenbaren sich hier als bedeutsames Moment für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Hagemanns Text führt die Möglichkeit „performativer Gemeinschaftsbildung“143 während des Weihnachtsfests vor. Das Fest ist hier noch nicht von den bürgerlichen Abschließungstendenzen und der Flucht ins Private bestimmt, die im 19. Jahrhundert seinen Charakter ausmachen. Vielmehr kommt eine äußerst heterogene Gruppe von Menschen zusammen und bemüht sich um eine friedvoll miteinander verbrachte Zeit. Auf diese Weise schafft das Festritual über Standesgrenzen hinweg Zusammenhalt, alle fühlen sich ihm verbunden. Doch auch wenn das Zusammensein Eintracht suggeriert, werden gerade in solch einem Kontext Differenzen und das Konfliktpotential zwischen den Ständen offenbar. Mithilfe einer fröhlichen kollektiven Grundhaltung bleibt letztlich aber alles unter Kontrolle. Die Bemühungen von jedem, den weihnachtlichen Frieden aufrecht zu erhalten, verhindern größere Auseinandersetzungen. Vor dem Hintergrund eines Krieges bedeuten der geschmückte Saal und die feierliche, friedvolle Stimmung eine gleichsam willkommene Ablenkung von möglichen anstehenden Bedrohungen von außen. Unter dem Deckmantel des Komödiantischen entrollt Hagemanns Werk vor dem Hintergrund des weihnachtlichen Fests Themen von großer gesellschaftspolitischer Relevanz und Brisanz, die öffentlich geführte Debatten der Zeit bestimmen. Es leistet einen durchaus ernst zu nehmenden Beitrag zum Diskurs über Herrschaft und kulturelle Hegemonie, lässt Adel und Bürgertum einander an Weihnachten begegnen. Am Ende bleibt aber alles beim Alten, die bestehende gesellschaftliche Ordnung und innerständischer Zusammenhalt werden grundsätzlich bestätigt. Heiligabend garantiert Zufriedenheit auf allen Seiten. Die Tatsache, dass am Ende auch die junge Generation Partner vom eigenen Stand wählt und so der Erwartungshaltung der Älteren gerecht wird, offenbart die bewahrende, konservative Funktion des Fests. Entsprechend der Ehephilosophie der Aufklärung wird die bürgerliche Neigungspartnerschaft propagiert, die auf einer individuellen Partnerwahl gründet. Herrschaftsstrukturen und Hierar-
143 Wulf, Einleitung, S. 10.
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chien bleiben letzten Endes unangetastet und es verwundert nicht, dass der Hauptmann das letzte Wort haben darf. „Mit halber Wendung zum Publikum“ wünscht er allen anwesenden jungen Männern eine Braut im Stile seiner Sophie (vgl. ebd., V. Akt, 10. Szene).
3.6 W EIHNACHTSAUSSTELLUNGEN Die Spielpraxis volkssprachlicher Weihnachtsspiele wird im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert reduziert. Und auch die Spielpläne stehender Theater reagieren kaum auf sich neu etablierende Festkultur. Dahingegen versucht man an anderen Veranstaltungsorten wie etwa dem Kroll’schen Etablissement in Berlin, mithilfe neuer Formate, die fulminante Bilder und optische Vergnügungen bieten, in der Weihnachtszeit Publikum für sich zu gewinnen. Hier organisiert man sogenannte Weihnachtsausstellungen, bei denen ein vielfältiges Unterhaltungsangebot, das Possen, Lustspiele und Attraktionen wie Geister-Illusionen, Schaustellungen oder Lebende Bilder umfasst, für Abwechslung im Dezember sorgt.144 Abbildung 9: Aquarium der Weihnachtsausstellung 1868 (Mitte rechts)
Plakat, 25-jähriges Jubiläum, Kroll’sches Etablissement (25. Februar 1869)
144 Vgl. Lorenz, Christa: Berliner Weihnachtsmarkt. Bilder und Geschichten aus 5 Jahrhunderten. Berlin 1987, S. 60f.
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Dieses neue Veranstaltungsformat nimmt in Berlin, das für seine rasant wachsende Bevölkerung eine stetig wachsende Zahl an Vergnügungen bereit hält, seinen Anfang in kunstvollen, aus „einer Mischung aus Zucker, Mehl und Tragant als Bindemittel“145 gefertigten Figurengruppen, die Konditoren in ihren Schaufenstern ausstellen. Kurt Pomplun erinnert sich 1969 an die Berliner Weihnachtsausstellungen vergangener Tage: „Alte Berliner erinnern sich auch mit gewisser Wehmut der glanzvollen Weihnachtsausstellungen in den großen Warenhäusern der Leipziger Straße. Bei Wertheim war im Lichthof alljährlich im November die riesige (von Ludwig Manzel modellierte) bronzene Symbolfigur ‚Die Arbeit‘ als Weihnachtsmann angezogen und rundherum ein Märchenland für Kinderaugen aufgebaut, in dem die geplagten, ach so geduldigen Eltern von Tisch zu Tisch gezerrt wurden. Man hatte sich aber nicht damit begnügt, Spielwaren aller Art anzuhäufen, sondern reizvolle Bilderfolgen, die unter einem bestimmten Thema standen, mit vielen beweglichen Figuren geschaffen. In erster Linie waren es Themen aus der Märchenwelt der Brüder Grimm. […] Diese Weihnachtsausstellungen hatten eine alte Tradition, die bis in die letzten Regierungsjahre Friedrichs des Großen zurückführt. Erste Nachrichten darüber findet man von 1784 an im Anzeigenteil der Zeitungen, die ersten Beschreibungen druckten 1802/03 die Zeitschriften ‚Brennus‘ und ‚Berlinische Nächte‘, einige Jahre später die ‚Elegante Welt‘ ab. Warenhäuser im heutigen Sinn gab es noch nicht, und die Sache lag vornehmlich in der Hand der Kaufleute und der Konditoren. Einige von diesen hatten sogar Zeichen- und Modellierkurse der Akademie der Künste besucht und durften sich ‚akademische Künstler‘ nennen. Sie zeigten ihre aus Tragant – einer Mischung von Zucker, Stärkemehl und Gummi arabicum – gefertigten Kunststücke auch auf den Akademieausstellungen. Der berühmteste Meister war Friedrich Ludwig Weyde, der seine Zuckerpüppchen nach Schadows Urteil ‚der Natur so sorgfältig nachbildete wie Chodowiecki‘. Den ‚Hogarth unter den Berliner Conditoren‘ nannte ihn E.T.A. Hoffmann, als er Weydes Tragantfiguren in seinem ‚Abenteuer in der Sylvesternacht‘ würdigte.“146
Schon bald werden die sorgsam gefertigten Figuren der Weihnachtsausstellungen um Lichteffekte, Musik, Bewegung und kleine szenische Aktionen erweitert, in die Innenräume von Geschäften verlagert und zudem an anderen Veranstaltungsorten ausgerichtet.147 Karl Friedrich Schinkel zeigt ab 1807 jährlich seine „Eigenartigen Weihnachtsausstellungen“ im Panorama, „große perspektivisch-
145 Ebd., S. 59. 146 Pomplun, Weihnachten, S. 27f. 147 Lorenz, Weihnachtsmarkt, S. 58ff.
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optische Prospekte mit beweglichen Staffagefiguren.“148 Auch die Brüder Gropius veranstalten sie ab 1827 im Diorama. Ab 1844 finden insbesondere im Kroll’schen Etablissement imposante Weihnachtsausstellungen statt: „So eröffnete Kroll am 11. Dezember 1844 eine Weihnachts-Ausstellung; sie bot einen Basar mit 22 ‚reich dekorierten Verkaufszelten‘, 16 große transparente ‚Witz-und Lebensbilder‘, die gegen einen Silbergroschen ‚verabreicht‘ wurden, zwei Bilder vom AkademieProfessor Biermann mit Ansichten des Klosters Assisi und des Golfs von Neapel, schließlich ein ‚Theatrum mundi‘ im Tunnel mit einer Darstellung von Neapel ,und dem feuerspeienden Vesuv; mit Tages- und Nachtbeleuchtung; Seesturm und anderen zur Belebung des Bildes erforderlichen Gegenständen‘. Diese Weihnachts-Ausstellungen bildeten dann in den folgenden Jahren einen festen Bestandteil des Veranstaltungskalenders bei ‚Kroll‘.“149
Die Weihnachtsausstellungen werden stetig erweitert und um neue Attraktionen ergänzt. Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickeln sie sich von kleinen Figurenausstellungen zu prächtigen, abwechslungsreichen Veranstaltungen. 1848 etwa berichtet Max Ring in seinen Erinnerungen von einer in Berlin besuchten Weihnachtsausstellung, die sich aus mehreren simultan dargebotenen Programmpunkten zusammensetzt und für die ganze Familie etwas bereithält. Für Kinder werden Puppenspiele und Zauberpossen gegeben, wohingegen die Erwachsenen sich etwa in mit Prospekten dekorierten Räumen vergnügen können, die in andere Länder entführen: „Dann verwandeln sich die schönen Säle in wahrhafte Feengärten und Zauberreiche... Hier ladet uns ein verschwiegener Kiosk mit rauschendem Springbrunnen zum Verweilen und zum Träumen ein, dort ruhen wir in einer Sennhütte aus und genießen den Anblick des Vierstätter Sees. Ein Schritt und wir stehen in einer chinesischen Pagode oder gar im Palaste des himmlischen Kaisers selbst, der von seinem goldenen Throne gnädig nickt. – Im Königssaale wird zur Weihnachtszeit gewöhnlich auf dem Theater eine für diese Gelegenheit eigens geschriebene Zauberposse mit großartiger Ausstattung gegeben, die hauptsächlich für das kleine Publikum der Kinderwelt berechnet ist. – Aber auch im Tunnel ist eine Bühne entstanden, auf der freilich nur Puppen spielen, die sich aber der besonderen Gunst des Publikums erfreuen, da dessen Liebling, der lustige Kasperle, hier sein Wesen
148 Ebd., S. 60. 149 Reichhardt, Hans Joachim und Gerd Müller (Hg.): Bei Kroll 1844 bis 1957. Etablissement, Ausstellungen, Theater, Konzerte, Oper, Reichstag, Gartenlokal. Ausstellung des Landesarchivs Berlin 14. Juni bis 31. Oktober 1988. Berlin 1988, S. 18.
100 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR treibt und durch seine oft derben Späße und politischen Anspielungen die größte Heiterkeit verbreitet.“150
Abbildung 10: Programmzettel
Kroll’sches Etablissement (1879)
150 Max Ring, zitiert nach Lorenz, Weihnachtsmarkt, S. 53.
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Die Organisatoren der Weihnachtsausstellungen richten die Programme auf ein breites Publikum und verschiedene Zielgruppen aus. Sie beabsichtigen weder eine direkte Bezugnahme auf den christlichen Gehalt des Fests noch eine Auseinandersetzung mit dem familiären Bescherritual. Vielmehr entspricht ihre Programmgestaltung dem zunehmend kommerziellen Charakter des Fests: Gegen Bezahlung bieten die Weihnachtsausstellungen ein aufwendig ausgestattetes, auf Effekt zielendes Überraschungsprogramm an. Gleichzeitig bilden sie einen Kontrast zur häuslichen Feier und sorgen mithilfe ihres Spektakelcharakters für Abwechslung im ritualisierten Festkalender. Das gemäßigte, am Heiligabend begangene Familienfest kann in der Vorweihnachtszeit um ein gleichsam originelleres, aus dem Alltag herausgehobenes Erlebnis ergänzt, die Besonderheit der Weihnachtszeit potenziert werden. 1879 kündigt ein Programmzettel des Kroll’schen Etablissements eine „Große Weihnachts-Ausstellung für Jung und Alt“151 an, bei der offensichtlich nun schon das ganze Haus bespielt wird und zahlreiche spektakuläre Attraktionen aufgeboten werden. Die Ausstellung umfasst in sechs verschiedenen Räumen große Transparentbilder mit plastischen Figuren zu thematischen Schwerpunkten wie „Glückliche Kindheit“ oder „Im Reich der Weihnachtsfee“, außerdem wird Eduard Jacobsohns Liebeszauber. Phantastische Posse mit Gesang und Tanz in 3 Akten und 8 Bildern mit Musik von G. Michaelis aufgeführt. Im Tunnel findet ein Konzert der „Tyrolergesellschaft Hinterwaldner“ statt. Zusätzlich gibt es vor der Darstellung der Posse ein „grosses Konzert“ im Königssaal.
3.6.1 Julius von Voß’ Die Weihnachtsausstellung Das 1823 von Julius von Voß’ (1768-1832) veröffentlichte kurze Lustspiel Die Weihnachtsausstellung zeugt als historische Quelle von den Anfängen dieses Formats, das sich im 19. Jahrhundert immer größerer Beliebtheit erfreut und immer weiter ausgebaut wird. Im Zentrum der Handlung des Lustspiels steht eine Auseinandersetzung, die die 18jährige Auguste mit ihren Eltern auszutragen hat. Das Konditorehepaar möchte einer Hochzeit seiner Tochter mit ihrem Gehilfen Wilhelm nicht zustimmen. Die Mutter empfindet ihre Tochter als zu jung und hat keine allzu hohe Meinung von Liebesheiraten: „Geliebt? Das Leben war zu meiner Zeit / Noch gar nicht Mode, und wie alt ist Sie, / Mamsell, denn schon? Kaum achtzehn Jahre.“ (Die Weihnachtsausstellung, 2. Auftritt)
151 Vgl. Abbildung 10.
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Erst nachdem Wilhelm androht, die Stadt zu verlassen, und der Konditor Einnahmeeinbußen befürchtet, sind sie einverstanden. Am Heiligabend, begangen im engsten Familienkreis, wird Wilhelm seine Auguste beschert: „Sieh wackrer Junge hin, das Püppchen hat / Der heilige Christ für Dich bescheert.“ (Ebd., Letzter Auftritt) Sie wird ihm laut Nebentext wie ein Geschenk, engelsgleich in einem weißen Gewand, präsentiert. Die eigene Tochter wird gleichsam in eine Art verfügbarer Ware transformiert: „Nach geöffnetem Vorhang sieht man zwei hellerleuchtete Piramiden mit den Aufschriften Dankbarkeit und Liebe. Zwischen beiden steht auf einem Piedestall Auguste weiß gekleidet, mit Blumen umwunden, und einer Mirthenkrone auf dem Haupt.“ (Ebd.)
Ähnlich wie bei Hagemann wird Weihnachten als ein friedensstiftendes Moment inszeniert, das innerfamiliäre Konflikte beilegt und tugendhaft treue Liebe belohnt. Einer vorrangig an Profit orientierten, rationalen, rigiden älteren Generation wird eine junge, emotionalere, gefühlsbetonte Generation gegenübergestellt. Gesellschaftliche Wandlungsprozesse und Emanzipationsbemühungen der Jugend werden gerade an Weihnachten evident. Gleichwohl stellt die junge Generation das Fest keineswegs grundsätzlich in Frage. Die ältere Generation verdankt dem Fest ihren Wohlstand und ihre überregionale Reputation, weiß von der erhöhten Bereitschaft zum Konsum in der Weihnachtszeit zu profitieren. Vor allem dank der Weihnachtsausstellungen auf dem Christmarkt (vgl. ebd., 1. Auftritt) und den vom Gehilfen mit Phantasie und Kunstfertigkeit geschaffenen Figuren hat man sich gegen die Konkurrenz durchgesetzt: „Ach, vorher, ich denke noch / Mit Seufzen an die Zeit, da sahen wir / Im Laden oft den lieben langen Tag / Nicht einen Käufer. Unsre Zuckerwaren / Und Eingemachtes waren nicht beliebt, / Die Andern flogen uns voraus, wir hinkten / So nach, die Christmarktzeit sollts ihm denn thun, / die Ausstellung, da saß der Alte denn, / Schlug bald sich an die Stirn, und kratze bald, / Sich hinterm Ohr, sann, sann, und konnte nichts / Gescheites doch ersinnen. Einmal bracht er / Den Großsultan in seinem Harem, mit / Den vielen Weibern und dem Schnupftuch, / paßt das auf ein Christenfest? Und schlecht noch war / Das schlecht erdachte ausgeführt. Es wollte / Auch Niemand sehn, das Licht ward kaum daran / Verdient. [...] Nun kam der Wilhelm, sei der Himmel hoch / Dafür gelobt, der machte eine wahre / Revolution in dem Geschäft, da fing / Die Klinger an dem Laden an zu läuten, / Da gab es Briefe bald von anderen Orten, / Wo unsre Waaren man verschrieb, vor Allem / Glück’ es mit den Weihnachtsausstellungen, / Da stürmten sie uns fast das Haus...“ (Ebd., 2. Auftritt)
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Dementsprechend zeugt dieser dramatische Text von einer Frühphase der Weihnachtsausstellungen, in der diese noch keine großen Veranstaltungen, sondern vielmehr kleinere, vom Einzelhandel ausgerichtete Attraktionen darstellten.
3.7 M USIKTHEATER : D ER W EIHNACHTSABEND Albert Lortzings (1801-1851) Der Weihnachtsabend. Launige Szenen aus dem Familienleben ist eines der wenigen musiktheatralen Werke, die im frühen 19. Jahrhundert für einen weihnachtlichen Aufführungskontext entstehen. Es wird am 21. Dezember 1832 in Münster uraufgeführt. Bei der Premiere spielen sogar der junge Komponist, der auch das Libretto verfasst hat, und seine Kinder mit.152 Es folgt eine Aufführung am 4. Februar 1833 in Detmold. Anschließend verschwindet das Werk bis 1913 von den Spielplänen.153 Neben dem Liederspiel Der Pole und sein Kind oder der Feldwebel vom IV. Regiment und den Singspielen Andreas Hofer sowie Szenen aus Mozarts Leben stellt es Lortzings vierten Einakter dar,154 der jedoch als einziger im Untertitel als Vaudeville bezeichnet ist. Lortzing rekurriert hiermit auf eine ursprünglich aus Frankreich stammende Form eines eher seichten, jedoch durchaus gesellschaftskritischen Unterhaltungstheaters. „Im deutschsprachigen Raum [wurden] etwa Louis Angely und Karl von Holtei als Schöpfer von Vaudevilles und damit […] als Vorbilder Lortzings namhaft. Lortzing stellte sich mit seinen frühen Einaktern von 1832/33 jedenfalls in die Tradition eines Boulevardthea-
152 Vgl. Lortzing, S. 4 (Vorwort), alle Zitate folgen dem von Kruse 1913 herausgegebene Textbuch. Die dort gegebenen Strichvorschläge (eingeklammerte Textabschnitte) werden hier aber ignoriert. 153 Das erhaltene Material, das sich heute im Albert Lortzing-Archiv in Detmold befindet, umfasst eine Partiturabschrift, Stimmen, handgeschriebene Texte, eine autographe Kompositionspartitur der Ouvertüre und ein Rollenheft von 1832: Lippische Landesbibliothek Detmold, D-DT/ Mus-L 35. 154 Capelle, Irmlind: Das Frühwerk von Albert Lortzing. Magisterarbeit. Freie Universität Berlin 1984, S. 74. / Dies.: „Albert Lortzing und das bürgerliche Musiktheater. Zur Abhängigkeit seines Schaffens von seinem jeweiligen Wirkungsort“, in: Dies. (Hg.): Albert Lortzing und die Konversationsoper in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bericht vom Roundtable aus Anlass des 200. Geburtstages von Albert Lortzing am 22. und 23. Oktober 2001 in der Lippischen Landesbibliothek Detmold. München 2004, S. 259-274.
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Der Weihnachtsabend ruft ähnliche Topoi auf wie Hagemanns Schauspiel Weihnachtsabend oder Edelmann und Bürger oder von Voß’ Lustspiel Die Weihnachtsausstellung. Als kulturhistorisches Zeugnis spiegelt es den Wandlungsprozess der deutschen Weihnacht von einem christlichen Hochfest hin zu einem im familiären Kreis begangenen säkularisierten Fest wider.156 Natürlich kann es überdies gewissermaßen zur Etablierung einer neuen Festkultur beigetragen haben, wenngleich dies in Ermangelung einer intensiven Aufführungspraxis minimal gewesen sein wird. Das Werk setzt sich mit dem symbolischen Gehalt des Weihnachtsfests auseinander und inszeniert es als ein Friedensfest. Es weist einen großen Bezug zur Lebenswirklichkeit und privaten Feierkultur des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhunderts auf, bestätigt grundsätzlich das Fest in seiner Ausgestaltung und Funktion. Gleichzeitig wird der institutionelle Rahmen bürgerlicher Kunst aber auch für eine durchaus ironische Reflexion weihnachtlicher Festpraktiken genutzt. Der Einakter spielt am Heiligabend und endet mit einer Weihnachtsfeier, auf der sich Suschen Schwalbe, Frau Käferlings Tochter aus erster Ehe, und Gottlieb Fink, Herrn Käferlings Neffe, endlich das Eheversprechen geben dürfen. Nachdem Herr Käferling sich anfänglich gegen eine Heirat der beiden ausgesprochen und Gottlieb zum Militär geschickt hatte, befördert Vetter Michel in einer Geschenkbox Gottlieb heimlich am Heiligabend in das Wohnzimmer Käferlings. Kaserneninspektor Sommer, ein Freund Herrn Käferlings, ist ihm hierbei behilflich. Das väterliche Verbot wird somit umgangen und der Vater überlistet, da dieser das Versprechen abgegeben hatte, dass Gottlieb Suschen heiraten dürfe, sobald Herr Sommer ihn „wieder ins Haus gebracht hätte“ (Der Weihnachtsabend, 14. Szene). Die Handlung ist während des Krieges situiert. Sommer und Käferling tauschen sich hierüber am Nachmittag des 24. Dezembers aus (vgl. ebd., 5. Szene). Einer äußeren Gefahr wird ein innerer, familiärer Frieden gegenübergestellt. Der Krieg spielt in den Gesprächen der Figuren am Heiligabend erstaunlicherweise keine Rolle und wird als konkrete Gefahr nicht thematisiert. Stattdessen domi-
155 Loos, Helmut: „Lortzings ‚launigte Szenen aus dem bürgerlichen Familienleben‘: Der Weihnachtsabend“, in: Schipperges, Thomas (Hg.): Lortzing und Leipzig. Musikleben zwischen Öffentlichkeit, Bürgerlichkeit und Privatheit. Bericht über die internationale Tagung an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“. Hildesheim / Zürich 2014, S. 371-384 (S. 375). 156 Vgl. ebd., S. 371-384.
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nieren eskapistische Tendenzen, die Figuren sind extrem konzentriert auf die eigenen privaten Belange. Das Vaudeville schildert detailliert, wie Familie Käferling das Weihnachtsfest vorbereitet und begeht. Demnach stellt es innerfamiliäre Strukturen eindeutig in den Mittelpunkt. Es spielt in einer bürgerlichen Umgebung und lässt keine adeligen Figuren auftreten, so dass gesellschaftsrelevante Konflikte wie etwa Ständekonflikte ausgeklammert bleiben. Abgesehen von Herrn Sommer sind alle Figuren verwandtschaftlich miteinander verbunden. Vertreter verschiedener Generationen treten auf, auch Kinder. Mit der Schilderung rührender Familienszenen, dem glücklichen Ausgang und der Vereinigung zweier Liebender nach Überwindung verschiedener Hindernisse weist Lortzings Werk typische Elemente des populären zeitgenössischen Familiendramas auf.
3.7.1 Lortzings Darstellung des Bescherfests Auch bei Lortzing präsentiert sich der Heiligabend als eine ritualisierte kulturelle Aufführung, als cultural performance, die sich auf Ebene der Festorganisation, -gestaltung und -dramaturgie beispielsweise vom Fest unterscheidet, das in Hagemanns Text präsentiert wird. Dementsprechend bringt der dramatische Text die Veränderungen der weihnachtlichen Festkultur im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert zum Ausdruck. Eine ausführliche Regieanweisung beschreibt bei Lortzing die Ausstattung der Feier und aufgebotene Mittel wie Beleuchtung und Dekoration: „Große Stube in Käferlings Hause mit zwei Seitentüren. Links der Haupteingang. Im Hintergrunde in der Mitte ein langer Tisch mit einem weißen Tischtuche bedeckt, darauf ein schön aufgeputzter Weihnachtsbaum, Teller mit Äpfeln, Nüssen, Kuchen usw. Spielzeug vom Vetter Michel, Lichter. Mutter Käferling zündet die Lichter am Baume an und ist beschäftigt, aus einem großen hohen Korbe Geschenke zu nehmen und auf dem Tische zu ordnen.“ (Ebd., 10. Szene)
Anders als im 18. Jahrhundert werden keine kleinen Weihnachtsbäumchen aufgestellt. Stattdessen erstrahlt ein einziger großer Baum mit Kerzen. Zusätzlich sorgen Teller mit Naschwerk und ein schön gedeckter Tisch für eine weihnachtliche Stimmung. Auch die Festdramaturgie ist im Gegensatz zu von Tönnens Feier klar strukturiert und ritualisiert, präsentiert sich zudem als Fest einer Kernfamilie. Der Verlauf des Fests wird von der Hausfrau Frau Käferling gelenkt und überwacht. Nachdem die Kinder ihre Geschenke erhalten haben, beschenken sich auch die Erwachsenen gegenseitig: „Die Kleinen wären abgefunden; jetzt
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kommt die Reihe an die Großen.“ (Ebd., 14. Szene) An die Bescherung schließt sich ein Festmahl an, es gibt „gebratene Gans – mit Borsdorfer Äpfeln, brauner Kohl mit Kastanien“ (ebd.). Außerdem wird Punsch zubereitet. Reflexionen über den christlichen Gehalt des Fests fehlen gänzlich, das Fest gibt sich infolgedessen als vollkommen säkulare, Harmonie stiftende Veranstaltung, die der Deeskalation möglicher Konfliktfelder dient. Vater Käferling fordert auf dem Fest alle zur kollektiven Fröhlichkeit auf: „Kinder, heute abend wollen wird recht vergnügt sein.“ (Ebd.) Am Ende besingen sämtliche Familienmitglieder gemeinsam die einigende Wirkung, die mehrere Generationen zu beglücken vermag: „Es freuen sich die Kleinen / Nicht dieses Fests allein, / Denn auch die Großen scheinen / Ihm gar nicht gram zu sein. / Die Alten laufen, rennen, / Es harrt der Kinder Schar, / Die bunten Lichtlein brennen, / Wie Kerzen am Altar. / Schon sinkt der Abend nieder, / Der Christbaum steht bereit. / Noch oft kehr’sie uns wieder / Die schöne Weihnachtszeit.“ (Ebd., 6. Szene)
Die Rollenverteilung ist bei Ehepaar Käferling klar geregelt, die patriarchalisch organisierte Kleinfamilie erfährt keine Revision. Die Mutter zeigt sich als alleinverantwortlich für die Ausrichtung der Feier, in deren Zentrum die Bescherung steht. Sie artikuliert unmissverständlich, welche große Strapazen häusliche Pflichten wie die Führung der Haushaltkasse, Erziehung der Kinder und Organisation des Fests bedeuten: „Für solchen Kram geht das Geld hin, wo man heutzutage jeden Groschen zum Leben braucht. [...] Ich möchte nur wissen, wenn die Bälge endlich einmal Lebensart lernen werden. [...] Ich habe alle Hände voll zu tun und weiß nicht, wo mir der Kopf steht.“ (Ebd., 2., 3. und 12. Szene) Als Mutter ist sie auch diejenige, welche die Kinder in den Verhaltensweisen schult, die eine Voraussetzung für den Erhalt von Geschenken darstellen: „Die Kinder: Kriegen wir denn was Schönes? Mutter: Wenn ihr hübsch artig seid, ja, sonst nicht. Die Kinder: Ja, wir wollen artig sein.“ (Ebd., 3. Szene)
Herr Käferling hingegen nimmt an den Vorbereitungen keinen Anteil. Derweil fragt er auf der Feier lediglich: „Mutterchen, wie sieht’s aus mit dem Essen?“ (Ebd., 14. Szene). Seine Frau antwortet daraufhin gehorsam: „Ist alles parat.“ (Ebd.) Die exponierte Geschlechterordnung weist somit eine klare Trennung der
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Aufgabenbereiche von Mann und Frau auf. Während der Mann für den Gelderwerb zuständig ist, liegen sämtliche häuslichen Pflichten bei der Frau.
3.7.2 Parodistische Verfahren auf textlicher Ebene Wenngleich Lortzings Werk das weihnachtliche Bescherritual detailliert abbildet und Weihnachten als fröhliches Fest der Liebe deklariert, das am Ende die familiäre Ordnung bestätigt und die Familie als Institution nicht in Frage stellt, reflektiert es zugleich mithilfe verschiedener textlicher und musikalischer Verfahren humorvoll das Fest und familiäre Dynamiken, die insbesondere zu diesem Anlass auftreten können. Es glorifiziert also nicht das bürgerliche Fest, ironisiert es vielmehr mithilfe einer Überzeichnung ins Parodistische. Insbesondere der Brauch des Schenkens und die weihnachtliche Konsumorientierung werden ein Stück weit karikiert. Die Darstellung von Familie dient keinesfalls der Repräsentation intakter Bürgerlichkeit oder modellhafter familiärer Strukturen. Stattdessen entlarvt sie gewissermaßen die Schwierigkeiten, die jegliche Bemühungen um familiären Zusammenhalt und eine friedvolle eheliche Gemeinschaft in sich tragen. Gleichwohl provozieren diese Bemühungen auf Ebene der Handlung keine gravierenden Konflikte, welche den an Weihnachten gefeierten familiären Frieden maßgeblich stören könnten. Das Fest besitzt trotzdem eine ordnende Funktion und bietet die Gelegenheit, Konflikte zu schlichten. Fern jeglicher Erhabenheit sind die Figuren ausnahmslos typenhaft und komisch angelegt. Sie tragen Tiernamen als Nachnamen und sind der Möglichkeit einer komplexen individuellen Charakterzeichnung gleichsam enthoben. Sie sind derlei überzeichnet, dass sie allesamt in ihrem redlichen Bemühen um familiären Frieden gewissermaßen vorgeführt werden. Herr Käferling beispielsweise ist einer kuriosen, ausufernden Sammlerleidenschaft verfallen. Das Familienoberhaupt redet fast ausschließlich von seiner Sammlung ausgestopfter Tiere und wünscht sich zu Weihnachten einen ausgestopften Seebären. Seine Autorität ist geschwächt. Er spricht sich zwar gegen die Hochzeit seiner Stieftochter mit Gottlieb aus, wird aber problemlos von seinen Angehörigen getäuscht. Frau Käferling, die fortwährend von ihrem verstorbenen ersten Ehemann schwärmt, kommentiert die Sammlerleidenschaft ihres Mannes nur lapidar: „Und wenn ich nur ein Ende sähe, aber nein, da sitzt er und studiert, was ihm noch fehlt und was er noch haben muss, und wenn ich nicht wäre, er hätte, Gott verzeih mir meine Sünde, schon seine eigenen Kinder ausgestopft.“ (Ebd., 2. Szene)
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Auf der anderen Seite versucht sie tatsächlich, ihrem Mann seinen Wunsch, ja sein Begehren zu erfüllen und ihm zu Weihnachten einen Seebären zu schenken. Der Brauch des Schenkens wird insofern ironisierend ins Absurde gewendet, als die Ehefrau ein Geschenk besorgen möchte, das für die wirtschaftliche Kaufkraft des Haushaltes vollkommen überproportioniert und allemal unmöglich zu beschaffen ist. Auch Herr Sommer ist eine extrem typisierte Figur und in seiner sprachlichen Ausdrucksweise äußerst überspannt. Zwar trägt er keinen Tiernamen, sein Nachname betont aber gewissermaßen seine Exotik. Er spricht permanent in frei erdichteten, anzüglichen Sprichwörtern und ist einer Ägypten-Schwärmerei vollkommen verfallen. Die Ägyptenmode hatte Jahrzehnte zuvor beispielsweise ein Werk wie Die Zauberflöte maßgeblich geprägt,157 auf das Lortzing musikalisch vielfach Bezug nimmt. Herr Sommer behauptet, in Ägypten gelebt und dort zahlreiche Abenteuer erlebt zu haben: „Possen, Possen! Laß ihn nur erst einmal mit dem Tornister auf dem Rücken über die Grenze sein: eine lüsterne Maus sehnt sich nach dem Mehlkasten, wenn sie der Falle auch kaum entlaufen ist. Sie wird schon andern Sinnes werden, und nun gar er! Wenn einer eine Peitsche wegwirft, hebt sie ein anderer wieder auf. Lehr du mich das junge Volk kennen. Ich selbst, als ich in Ägypten war…“ (Ebd., 5. Szene)
3.7.3 Parodistische Verfahren auf musikalischer Ebene Lortzings Komposition verweigert sich sentimentaler, weihnachtlicher Atmosphären und Klänge. Stattdessen stehen die Erzeugung von Komik und eine humorvolle Darstellung weihnachtlicher Bräuche im Vordergrund. Die Partitur setzt sich vornehmlich aus Kontrafakturen zusammen, folgt nicht der Prämisse kompositorischer Originalität und lässt kein eigenes musikalisches Idiom zum Einsatz kommen. Als Kompositionsprinzip fungiert vorrangig das Parodieverfahren. Musikalische Weihnachtstopoi sakraler Musik werden größtenteils nicht bemüht, auf musikalischer Ebene wird folglich auf eine dezidierte Bezugnahme auf die religiöse Dimension des Fests verzichtet. Die geschlossenen musikalischen Nummern umfassen eine instrumentale Ouvertura, neun gesungene Nummern und eine instrumentale Reminiszenz. Acht Gesangsnummern sind Kontrafakturen populärer Melodien anderer Kom-
157 Vgl. zum Beispiel: Assmann, Jan: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium. München 2005.
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ponisten wie Franz Xaver Eisenhofer, Nicolas Isouard, Franz Schubert, Friedrich Heinrich Himmel oder Wolfgang Amadeus Mozart.158 Lortzing stellt auf musikalischer Ebene intertextuelle Bezüge her, indem er bekannte Melodien anderer Komponisten mit eigenen Texten kombiniert und neu arrangiert. Da diese musikalischen Themen keine nennenswerten Bearbeitungen erfahren, werden Vielfalt und Pluralität der musikalischen Sprache zum Prinzip erhoben. Der ungezwungene Umgang mit den Schöpfungen anderer Komponisten offenbart darüber hinaus ein spielerisches Nachdenken über das Genre Oper, das auch auf textlicher Ebene in der Reflexion über die Mechanismen des professionellen Opernmarktes einen Widerhall findet. In einem Gespräch mit Suschen verspottet Gottlieb den Beruf des Sängers und kritisiert die Tatsache, dass Sänger besser bezahlt würden als Schauspieler: „Gottlieb: Heutzutage ist ein schlechter Sänger noch mehr wert, als der beste Schauspieler. Ich will Dir so eine Oper herunterbrüllen, daß der Plafond samt dem Kronleuchter herunterfällt. Suschen: Pfui Gottlieb, das große Maul kannst du dir doch gar nicht abgewöhnen. Gottlieb: Im Gegenteil, das muß ich mir erst recht angewöhnen, denn wenn die Sänger nicht so große Mäuler hätten, könnten ja jetzt nicht lauter große Opern gegeben werden, und nach den Mäulern werden dann auch die Gagen abgemessen, begreifst du das denn nicht?“ (Ebd., 8. Szene)
Eindeutig weihnachtliche Musik stellt lediglich ein Gesangsstück dar, das sogar als „Weihnachtslied“ betitelt ist und auf keiner Melodie eines anderen Komponisten basiert. Textlich preisen hier Mutter und Suschen Weihnachten. Antithetisch werden Vorzüge des Sommers, der mit einer farbenfrohen Außenwelt assoziiert wird, dem Christfest, das ein gemütliches Beisammensein im Privaten ermöglicht, gegenübergestellt: „Schön ist die Erd’ zur Sommerzeit / In bunter Farbenpracht, / Doch auch des rauen Winters Kleid / Hat Gott recht schön gemacht. / Ergötzlich ist der Wiese Grün, / Der Nachtigall Gesang, / Doch auch am Kamin / Wird uns die Zeit nicht lang. / Viel Labung der Lüfte Hauch, / Der schatt’ge Baum erquickt, / Doch wer gesteht nicht ein, daß auch / Der Weihnachtsbaum entzückt. / Gar manch Vergnügen zähl ich her, / Das eurem Sommer
158 Vgl. Capelle, Frühwerk, S. 74-79.
110 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR weicht, / Doch nennt den Feiertag mir, der / Dem heiligen Christtag gleicht.“ (Ebd., 1. Szene)
Der Text ist mit einer einfachen Melodik in den gesungenen Stimmen, die in Terzparallelen geführt werden, einem 6/8 Takt und einer schlichten Begleitung der Holzbläser und des Streicherapparates vertont.159 „Damit werden Elemente eines alten musikalischen Weihnachtstopos aufgenommen, die von Wiegenlied und Pastorale herstammen und seit dem Mittelalter in Weihnachtsmusiken nachweisbar sind. Während sich diese Elemente aber in dem nur wenige Jahre zuvor komponierten Kirchenlied ‚Stille Nacht‘ zu dem traditionellen weihnachtlichen Klangbild vereinigen, bleiben sie bei Lortzing vereinzelt und bilden lediglich eine Annäherung an den alten musikalischen Topos. Dieser besondere Ton findet sich später im 19. Jahrhundert häufiger in säkularen Weihnachtsstücken, meist allerdings wird in dieser neuen, eigenen Festgestaltung wie auch bei Lortzing allgemein der Verweis auf die christliche Festtradition konsequent vermieden. Lortzing steht damit in einer Reihe mit anderen Schöpfern einer neuen Weihnachtsmusik, etwa Johann Friedrich Reichardt oder Friedrich Heinrich Himmel, die schon früher Weihnachtslieder im Sinne einer ausschließlich häuslichen, bürgerlichen Weihnacht geschrieben haben.“160
Trotzdem wird Weihnachten insgesamt in Lortzings Werk keine eigene, homogene musikalische Sprache verliehen. Da die verwendeten Zitate nur gering bearbeitet sind, sind sie eindeutig als Fremdmaterial identifizierbar. Sie stammen alle aus Werken, die nicht mit Weihnachten konnotiert, aber Teil eines bürgerlichen Kanons sind. In einen neuen Werkzusammenhang gesetzt, erfahren diese direkten, wortwörtlichen Zitate semantische Transformationen und schaffen eine assoziationsreiche Klangwelt. Wenn die Kinder Käferlings beispielsweise in das Wohnzimmer zu einer Reminiszenz aus Die Zauberflöte auf „Es ist das höchste der Gefühle“ (ebd., 14. Szene) stürmen, nachdem ihre Mutter vorher darüber geklagt hat, wie viel Arbeit Kinder machen, wird Papagenas und Papagenos fröhliche Zukunftsschwärmerei konterkariert. Als der Cousin Michel in Käferlings Haus eintrifft, zählt er in einer Arie mögliche Geschenke für die Kinder auf. Der Text ist auf die Melodie von Leporellos Registerarie aus Don Giovanni gelegt, worüber Michel als Organisator der Intrige charakterisiert wird. Ähnlich wie Leporello sorgt er dafür, dass Gottlieb Suschen erhält. Gleichzeitig sind jedoch die Bedeutungsebenen der Musik Mo-
159 Vgl. Partitur. 160 Loos, Weihnachtsabend, S. 379f.
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zarts, in Don Giovanni in einen deutlich komplexeren Sinnzusammenhang eingebettet, drastisch reduziert. Anstelle von Frauen findet eine Aufzählung von Gegenständen statt. Über die Musik werden die Geschenke aber gleichsam sinnlich aufgeladen, beziehungsweise zumindest als Objekte der Begierde charakterisiert. Die im 19. Jahrhundert zunehmende Kommerzialisierung des Weihnachtsfests wird hier thematisiert, wenn nicht sogar kritisiert. „Ganz offenbar wird also die erotische Sphäre der Originale aus Don Giovanni und der Zauberflöte von Lortzing ganz gezielt auf das Schenken übertragen.“161 „Hier für Hermann schöne Bücher, / Bilder, bleierne Soldaten, / Und ein Gewehr mit Bajonett; / Julchen, Lieschen kriegen Tücher, / Kämmchen, Tassen, Teller, Platten / Und für jede Puppe ein Bett. / Ein Hanswurst mit roten Backen; / Hier, um Nüsse aufzuknacken, / Eine Figur mit wackelndem Kinn; / Die süßen Leckereien, / Die der Kleinen Herz erfreuen, / Nehmen sie sicher nicht ungern hin. / Doch was kriegt Suschen? Doch für Suschen ein schöner Husar.“ (Ebd., 6. Szene)
Mithilfe eines Kompositionsprinzips, das auf musikalischer Zitattechnik fußt, und mithilfe verschiedener textlicher Strategien entwirft Lortzing somit humorvolle „Familienszenen“.162 Sie schildern kein individuelles Familienschicksal oder -fest, sondern begreifen die Familie Käferling als exemplarisch, als Stellvertreter einer im 19. Jahrhundert immer weiter verbreiteten, bürgerlichen, standardisierten Festkultur. Indem ein bürgerliches Publikum über die Figuren lacht, kann es über sich selber lachen und die eigenen Rituale sowie familiären Gepflogenheiten mit der Realität der Bühne abgleichen, wenn nicht sogar reflektieren.
161 Ebd., S. 377. 162 Vgl. Lortzing, Albert: Sämtliche Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Irmlind Capelle. Kassel 1995, S. 45.
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3.8 V OLKSWEIHNACHTEN : E IN T RAUM IN DER C HRISTNACHT Ernst Raupachs (1784-1852) Drama Der Müller und sein Kind. Volksdrama in fünf Aufzügen,163 das „im süddeutschen Raum über eine ungebrochene Aufführungstradition bis ins 20. Jahrhundert hinein“ 164 verfügt, und die von Ferdinand Hiller (1811-1885) vertonte, erfolglose, in mehreren Fassungen vorliegende Opernadaption dieses Stoffes Ein Traum in der Christnacht165 stellen in ihrer Art der Auseinandersetzung mit Weihnachten Ausnahmen dar, vergleicht man sie mit anderen zur selben Zeit entstandenen Werken. Auch ist ihre Rezeptionsgeschichte keinesfalls an einen weihnachtlichen Aufführungskontext gebunden, die Uraufführung von Hillers Oper war sogar im April. Beide Stücke widmen sich nicht neuzeitlichen privaten Feierformen, sondern präsentieren eine bäuerliche, Mystizismen und alten Regelwerken verfallene Gemeinschaft. Mit einer städti-
163 Raupach, Ernst: Der Müller und sein Kind. Volksdrama in fünf Aufzügen. Hamburg 1835. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. Außerdem existieren einige Bearbeitungen des Werkes. Vgl. beispielsweise: Ullmayer, Franz: Der Müller und sein Kind. Ein miserablies, lungensüchtiges, komisches, geistreiches Singspiel von einem alten Müller-Eleven. Die Musik ist von verschiedenen Müllermeistern, die Ouverture von einem Windmüller auf vier Flügeln von Bösendörfer. Wien 1868. / Bartl, Hans: Der Müller und sein Kind, oder: Die Erscheinung in der Christnacht. Travestie mit Gesang. O.O. 1875. / Tallavania, Innocenz: Der Müller und sein Kind. Volksstück in vier Akten von Ernst Raupach. Für Kindertheater bearbeitet. Eßlingen 1900. / Schreder, Karl: Der Müller und sein Kind. Volksoper in 5 Aufzügen nach Raupach von Karl Schreder und Robert M. Prosl. Musik von Béla von Ujj. Libretto. Berlin 1910. / Feilitzsch, Karl von: Der Müller und sein Kind. Drama in drei Akten. Dichtung mit Musik. Regiebuch. München 1928. 164 Hinrichsen, Hans-Joachim: „Ferdinand Hillers Dresdner Opern und Richard Wagner“, in: Heinemann, Michael und Hans John (Hg.): Die Dresdener Oper im 19. Jahrhundert. Laaber 1995 (Musik in Dresden. Band 1), S. 251-270 (S. 258). 165 Die in zwei Fassungen vorliegende, großformatige, von der zeitgenössischen Musikkritik viel beachtete Oper wurde nur viermal aufgeführt. Die Premiere in Dresden am 6. April 1845 dirigierte Richard Wagner. Während sich die Kritiker fast durchweg positiv zur Musik äußerten, erhielt das krude Libretto hingegen viel Kritik: Vgl. Becker, Julius, in: Neue Zeitschrift für Musik. Band 22. Nummer 31 (1845), S. 129. Und Krüger, Eduard, in: Neue Zeitschrift für Musik. Band 27. Nummer 35 (1847), S. 208.
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schen Festkultur oder einer bürgerlich häuslichen Weihnachtsfeier setzen sie sich nicht auseinander. Die Handlung des Schauspiels findet zu Beginn des 18. Jahrhunderts in einem Dorf unweit des Grödizberges in Schlesien statt und setzt kurz nach Weihnachten ein. Gleichwohl wird weder im Haupttext noch im Nebentext näher auf das Fest eingegangen. Regieanweisungen fordern lediglich für die Wirtsstube einen „Tisch, auf dem ein Weihnachtsbaum mit Bändern, Goldpapier und Lichtchen steht“ (Der Müller und sein Kind, III. Akt, 1. Szene) und erwähnen mit Geschenken spielende Kinder (vgl. ebd.). Der Text zeugt nur mehr von einer Bescherung, die offensichtlich an einem öffentlich zugänglichen Ort stattgefunden hat. In Hillers Oper hingegen, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts in einem Dorf in der Nähe des Riesengebirges spielt,166 wird Weihnachten im Rahmen einer öffentlichen Feier im Wirtshaus begangen und ist demzufolge in die Handlung integriert (vgl. Ein Traum in der Christnacht, II. Akt, 1. Szene). Arme werden hier beschenkt. In einer großen Chornummer artikulieren sie ihre Freude über die gemeinsame weihnachtliche Bescherfeier in der Kneipe. „Chor: Welch ein Glanz! Welch ein Schimmern, / wie hell die bunten Kerzen flimmern! / Man trauet seinen Augen kaum / Da steht der strahlende Weihnachtsbaum. / O welche Pracht und Herrlichkeit / Für jeden hält er was bereit! / Für mich, für mich / Verzuckert Herzen. / Für mich, für mich / Die farbigen Kerzen. / Für mich, für mich / die seidenen Tücher, / Für mich, für mich / Die schönen Bücher! [...] Mir Aepfel und Nüsse und Goldgezier, / Für mich die Jägertasche hier! Ei seht da Mandeln und Zuckerbrod! / Ein neues Mieder schwarz und roth. / Und da ein Fläschchen für den Durst. [...] O welche Lust, o welche Freude! / Habt Dank, habt Dank, ihr guten Leute! / Du liebe goldne Weihnachtszeit, / Im fröhlichen Glanze der Kerzen / Den trüben Schmerz und alles Leid / Verscheuchst du aus jubelnden Herzen! / O welche Pracht und Herrlichkeit / Du lieb goldne Weihnachtszeit! Veit: Recht so, Kinder, immer lustig, immer frisch, setzt den Tisch bei Seite, drein gesprungen und getanzt, wem darnach zu Mute ist. Nu, nu! Der liebe Gott wird nicht so strenge sein; fröhliche Menschen sieht er am liebsten. Also fange an, wer Lust hat. Nun,
166 Vgl. Hiller, Ferdinand: Ein Traum in der Christnacht. Oper in 3 Aufzügen nach Raupachs Drama: Der Müller und sein Kind. Bearbeitet von Carl Gollmick. Partitur. Dresden 1845. Und ders.: Ein Traum in der Christnacht. Oper in vier Aufzügen. Nach Raupachs Drama: Der Müller und sein Kind, bearbeitet von Carl Gollmick. Libretto. O.O. 1850. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe des Librettos.
114 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR das heiße ich einen lustigen Bescheerabend, wie ihn Tausende nicht haben mögen. Die Reichen in der Stadt können wohl ihre Stuben einheizen, aber hier wills oft nicht so recht warm werden. [...] Conrad: Nirgends Rast – nirgends Ruhe! Was habt Ihr Leute? Marthe: Wir haben uns nur, wie es üblich, des heiligen Abends gefreut! Conrad: Gebt mir Wein!“ (Ebd.)
Hillers im Barock spielende Oper schildert das Beschenken und die damit verbundenen Festfreuden armer Leute in einer nichtstädtischen Umgebung. Gleichwohl handelt es sich eindeutig um die Projektion eines Autors aus dem 19. Jahrhundert: Es ist historisch nicht belegbar, dass im 17. Jahrhundert große geschmückte Weihnachtsbäume bereits verbreitet waren. Das Werk suggeriert, dass die Dorfbewohner nicht des privaten, geschützten familiären Raums bedürfen, um Weihnachten genießen können. Trotzdem romantisiert das Werk Landleben keinesfalls. Es kritisiert implizit vehement den hier verbreiteten mittelalterlich anmutenden Aberglaube, man könne in der Christnacht alle im darauf folgenden Jahr Sterbenden als Geister in einem mitternächtlichen Geisterzug in der Kirche sehen (vgl. ebd., II. Akt, 4. Szene), indem ebendiese Annahme tragische Folgen für den Protagonisten Conrad hat. Gerade an Weihnachten manifestiert sich bei Hiller somit das vermeintlich gefährliche Potential von Geisterglauben.
3.9 E RFOLGSSCHLAGER : W EIHNACHTEN Das auf deutschen Bühnen in der Weihnachtszeit mit Sicherheit erfolgreichste dramatische Werk der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellt August Wilhelm Hesses (1805-1864) Adaption der 1843 veröffentlichten A Christmas Carol Charles Dickens’ dar.167 Hesses Weihnachten. Dramatisches Gemälde in 1 Akt erscheint in zahlreichen Ausgaben, mit und ohne den Hinweis auf Musikeinlagen.168 Wenngleich sich Hesse auf Ebene der Handlung eng an der Vorlage des
167 Dickens, Charles: A Christmas Carol in Prose Being a Ghost Story of Christmas. London 1843. 168 Neben der Ausgabe von 1868, die unter dem Titel Weihnachten erscheint vgl. etwa: Hesse, August Wilhelm: Fröhliche Weihnachten. Weihnachtsspiel in einem Akt
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englischen Autors orientiert, verweisen die Ausgaben nur selten auf Dickens’ Vorlage. In Vorankündigungen und Presseberichten findet ebenfalls zumeist lediglich die Autorschaft Hesses Erwähnung. Auch auf den Bühnen erfreut sich das Stück einer enormen Popularität, es lassen sich nach der Uraufführung 1848 in Hamburg bis ins 20. Jahrhundert hinein eine Vielzahl an Aufführungen im gesamten deutschsprachigen Gebiet bis nach Wien nachweisen. Am 26. Dezember 1850 wird es beispielsweise am Friedrich-Wilhelmstädtischen-Theater in Berlin mit Kompositionen und unter der Leitung von Lortzing gegeben.169 Abbildung 11: Hesses Weihnachten
Titelblatt, Berlin (1868) nach Charles Dickens. Berlin o.J. / Ders.: Weihnachten! Phantastisches Märchen mit Musik in 1 Akt. Nach einer Idee von Boz. Berlin 1849. / Ders.: Fröhliche Weihnachten. Weihnachtsspiel in 1 Akt nach Charles Dickens. Berlin 1922. Die von Helmut Loos aufgestellte These, dass es sich bei dem Text von 1849 um ein zweites Weihnachtsstück Hesses „nach einer Idee von Boz“ handele, kann hier nicht bestätigt werden. Vgl. Loos, Weihnachtsabend, S. 381. Boz wurde von Dickens als Pseudonym verwendet, es ist somit eine andere Ausgabe desselben Stücks. 169 Capelle, Werkverzeichnis, S. 399.
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Hesses Text ruft zahlreiche Topoi bürgerlicher weihnachtlicher Dramatik auf und weist Didaktisierungstendenzen auf. Gleichzeitig ist die Handlung jedoch um Bestandteile erweitert, welche die Grundlage für effektvolle szenische Umsetzungen bilden können und mit Sicherheit maßgeblich zum Erfolg des Stückes beigetragen haben: Wie in Dickens’ Vorlage sind in die Handlung phantastisch wunderbare Elemente integriert. Private sowie soziale Konflikte werden auf eine wundersame Weise gelöst. Indem die Sphäre des Unwahrscheinlichen und Unheimlichen in eine bürgerlich realistische Szenerie einbricht, werden zwei Realitäten zusammengeführt. Diese Verbindung unterschiedlicher Wirklichkeitsbereiche, der Aufbruch ins Imaginäre, dem eine empirische Realität gegenübergestellt ist, stellt ein typisches Merkmal phantastischer Kunstgattungen dar, versteht man das Phantastische als „Konflikt zweier vom Standpunkt der Rationalität aus unvereinbarer Ordnungen bzw. Logiken […], nämlich einer empirischen und einer spirituellen.“170 Somit kann bei Inszenierungen von Hesses dramatischem Text die Darstellung allseits bekannter, weihnachtlich bürgerlicher Szenerien um kraftvolle Bilder und sinnliche Attraktionen ergänzt werden, die eine immense Bühnenwirksamkeit garantieren. Durch eine szenische Umsetzung der auf Handlungsebene integrierten Ebene des Phantastischen, die Weihnachten als Zeit der Wunder und Überraschungen inszeniert, können Zuschauer in Erstaunen versetzt und überwältigt werden. In diesem Sinne wertet Hermann Uhde in seiner 1879 erschienenen Geschichte des Hamburger Stadttheaters das Stück sogar als „erstes Weihnachtsmärchen in Hamburg“.171 Er interpretiert es als zentralen Vorläufer der populären und aufwendig inszenierten Weihnachtsmärchen Carl August Görners,172 wenngleich es auf keinem Märchenstoff basiert. Für Uhde manifestiert sich hier der Versuch einer gezielten Ausrichtung des Dezemberspielplans auf
170 Penning, Dieter: „Die Ordnung der Unordnungen. Eine Bilanz zur Theorie der Phantastik“, in: Fischer, Jens Malte und Christian W. Thomsen (Hg.): Phantastik in Literatur und Kunst. Darmstadt 1980, S. 34-51 (S. 36). Da an dieser Stelle keine Darstellung der Diskussionen um die Definition des Begriffs der Phantastik möglich ist, sei hier verwiesen auf die umfangreiche Bibliographie von Jens Malte Fischer, in: ders. und Thomsen, Phantastik, S. 531-548. Eine aktuellere Auswahlbibliographie bietet Simonis, Annette: Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres. Heidelberg 2005, S. 301-312. 171 Hermann Uhde: Das Stadttheater in Hamburg 1827-1877. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Stuttgart 1879, S. 289. 172 Vergleiche Kapitel 4.
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Weihnachten, um so dem massiven Publikumsschwund des Theaters im Dezember entgegenzuwirken. Auf attraktive Konkurrenzveranstaltungen im öffentlichen Raum wie den Hamburger Weihnachtsmarkt „Domzeit“ habe das Theater mit nicht minder spektakulärem weihnachtlichem Theater mit intensiver Bildwirkung und szenischer Effekte reagiert: „1848 unternahm A. W. Hesse den Versuch, den Reizen der ‚Domwanderung‘ durch ein sinniges Schauspiel entgegenzuwirken. ‚Der Weihnachtsabend‘ von diesem Schriftsteller nach einer Idee des Boz [Charles Dickens. A.d.V.] bearbeitet, machte großes Glück.“173
3.9.1 Phantastische Weihnachten Im Zentrum der Handlung von Hesses Weihnachten steht der reiche, geizige und vereinsamte Kaufmann Cornelius Heidenreich. Er wird im Verlauf des Stücks geläutert und auf wundersame Weise zu den christlichen Tugenden der Nächstenliebe, Großzügigkeit und des Mitleids zurückgeführt. Der in Ansätzen durchaus sozialkritische dramatische Text bestätigt dennoch die bürgerlich häusliche weihnachtliche Feierkultur in ihren Grundzügen. Gleichzeitig beruft er sich auf den symbolischen Gehalt der Christnacht als eines Moments des Wunders und der Erlösung. Allerdings präsentiert sich die christliche Erlösungsthematik hier in einer gleichsam säkularisierten Form. Weihnachten wird als kraftvolles, aus dem Alltag herausgehobenes Ereignis in Szene gesetzt, das Heidenreich als guten und zufriedenen Menschen entlässt, das eine moralische Besserung zu bewirken vermag und ihn die Wichtigkeit familiärer Bindungen und Bürgerpflichten erkennen lässt. Eine zutiefst negativ semantisierte Figur transformiert sich in eine überaus positiv semantisierte. Unter dem Einfluss übernatürlicher Kräfte und dank des Kontakts mit anderen sozialen Realitäten, begreift Heidenreich, dass Reichtum gepaart mit Geiz leicht in Einsamkeit mündet. Schlussendlich verhilft ihm erst das weihnachtliche Fest dazu, den Wert aufrichtiger Großzügigkeit zu begreifen, während er noch zu Beginn soziales Engagement rigoros ablehnt: „Herr: An diesem festlichen Tage, Herr Heidenreich, ist es gewiß mehr als sonst wünschenswerth, wenigstens einigermaßen für die Armuth zu sorgen; die zu dieser Zeit in großer Bedrängnis ist. Tausenden fehlen die nothwendigsten Bedürfnisse. Hunderttausenden fehlen die nothwendigsten Bequemlichkeiten des Lebens.
173 Ebd.
118 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR Cornelius: Wir haben Armenanstalten. Bestehen Sie noch? Herr: Allerdings – doch sind sie vielfach in Anspruch genommen – Cornelius: Es giebt eine Menge Hilfsvereine und Gesellschaften. Haben sie ihre Wirksamkeit aufgegeben? Herr: Nicht doch. Allein sie sind unzureichend. Darum sind einige wohlgesinnte Männer zur Veranstaltung einer Sammlung zusammengetreten, um für diese Armen Nahrungsmittel und Feuerung anzuschaffen. Wir wählen diese Zeit, weil sie vor allen anderen eine Zeit ist, wo der Mangel am bittersten gefühlt wird und der Reiche sich freut. – Welche Summe soll ich für sie notieren? Cornelius: Gar keine!“ (Weihnachten, 3. Szene)
Heidenreichs Veränderung, seine zweite Menschwerdung, wird nicht etwa durch christliche Glaubenspraktiken wie Buße oder Gebet bewirkt. Stattdessen initiieren vier mysteriöse Gestalten den Besserungsprozess, die Elemente christlich mythischer Figuren und Gabenbringerfiguren profanen Ursprungs miteinander verbinden. Heidenreich begegnet ihnen in traumartigen Sequenzen („Traumbildern“), die in die Rahmenhandlung integriert sind. Diese spielt in einem bürgerlich-städtischen, privaten Kontext. Im Figurenverzeichnis sind die drei allegorischen Figuren als „Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige Weihnachten“174 bezeichnet. Heidenreich selber charakterisiert sie als „die drei Weisen aus dem Morgenlande“ (ebd., 13. Szene). Der zweite Geist beschreibt sich selber als jüngsten Weihnachtsgeist von „ueber Eintausend achthundert“ Brüdern (vgl. ebd., 7. Szene). Der Nebentext enthält zahlreiche Informationen zum Erscheinungsbild der Geister. Der erste hat engelhafte Züge: „Eine zarte Figur, nackte Arme und Beine, weiße Tunika und einen von Diamanten strahlenden Gürtel, ein eben solches Diadem auf dem Haupte, einen frischen grünen Stechpalmenzweig in der Hand. Das Haar weiß und fällt in langen Locken auf die Schulter. Das Kinn bedeckt der zarteste Flaum; sein Gesicht ist jugendlich frisch.“ (Ebd., 6. Szene)
Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht hingegen ähnelt Gabenbringerfiguren wie dem Weihnachtsmann oder Nikolaus. Eine Regieanweisung beschreibt ihn als „kräftigen jungen Mann, mit einem dunklen Sammetrock, mit weißem Pelz
174 Hesse, Weihnachten, o.S. (Figurenverzeichnis).
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besetzt, Kranz von Epheu, Weinlaub und Stechpalmen auf dem Kopf, eine Fackel in der Hand“ (ebd., 7. Szene). Der einem Todesboten ähnliche Geist der zukünftigen Weihnacht wiederum ist „ganz in schwarze Schleier gehüllt“ (ebd., 10. Szene). Im Verlauf der Handlung wird Heidenreich in Begleitung der Geister in sehr konkreten Räumen mit Erinnerungen konfrontiert. Zunächst trifft er auf seinen bereits vor sieben Jahren verstorbenen Geschäftspartner Neidinger, der ihn zu Mitgefühl, Emotionalität und sozialem Bewusstsein ermahnt (vgl. ebd., 5. Szene). Daraufhin findet er sich in einer „einfachen, bürgerlichen Stube wieder“ (ebd., 6. Szene), in deren Mitte sich auf einem Tisch der „Weihnachtsbaum mit angezündeten Lichtern“ und seine Familie befinden. Er gedenkt seiner Eltern und Geschwister, verklärt die kindliche weihnachtliche Freude und seine Kindheit als geradezu paradiesischen Zustand. „Das ist mein väterliches Haus, – unser Wohnzimmer – dort ist mein Vater – und meine gute Mutter – und da bin ich – richtig – das bin ich – ich erkenne mich gleich wieder, obschon ich glaube, ich habe mich etwas verändert in der Zeit! – Ach Gott, da steht der Weihnachtsbaum und das große Wiegenpferd – und ich habe das Märchenbuch in der Hand – (das Bild verändert sich). Sieh, sieh – meine Schwester – ach, sie hat mich so lieb gehabt, und da steht auch der arme Wilhelm, der arme Wilhelm, der Sohn unseres Nachbars. Ach Gott, er ist schon als Kind gestorben.“ (Ebd.)
Im zweiten Traumbild ist er als ungesehener Gast auf dem Weihnachtsball seines ersten Prinzipals anwesend, der in einem „hellbeleuchteten bürgerlichen Saal, im Hintergrund auf einer Erhöhung mehrere Musiker“ (ebd.) stattfindet. Dieses Weihnachtsfest vermittelt Wohlstand und Repräsentanz. Heidenreich stellt diese Feste seiner Jugendzeit rückwirkend als Höhepunkte des Jahres dar: „Freuten wir jungen Leute uns doch das ganze Jahr auf nichts so sehr wie auf den Weihnachtsball.“ (Ebd.) Im dritten Traumbild muss Heidenreich sich dann in einem „einfachen Zimmer“ mit dem Anblick seiner trauernden Braut auseinandersetzen. Einst als junger Mann verließ er sie, nachdem er erfahren hatte, dass sie von ihrem Vater nichts erben würde und somit mittellos sei. Im Sinne einer größtmöglichen Kontrastwirkung stellt dieses Traumbild der Geselligkeit und Freude des Balls eine ärmliche, einsame Szenerie entgegen, die bei Heidenreich eine Abwehrreaktion provoziert: „Geist, warum zeigst du mir das? Fort, fort damit! Das ist keine angenehme Erinnerung!“ (Ebd.) Nachdem Heidenreich Vergangenem begegnet ist, begleitet ihn nun der Geist der gegenwärtigen Weihnachten zum fröhlichen Fest seines Neffen Fritz. Dort
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tauscht man sich ausführlich über ihn aus, bemitleidet und tadelt ihn, um dann trotzdem auf sein Wohl anzustoßen. „Cornelius: Das ist ja mein Neffe Fritz. Ist das vielleicht seine Wohnung? Geist: Seine Wohnung! Seine Familie! Seine Freunde! Gieb wohl Acht, damit du siehst, was Du entbehrtest!“ [...] Fritz: Nun, ich wollte nur sagen, daß die Folge seines Mißfallens an uns und seiner Weigerung mit uns zu essen und fröhlich zu sein, die ist, daß er einige angenehme Stunden verliert, die ihm nicht schaden würden. Gewiß verliert er angenehmere Unterhaltung, als ihm seine eigenen Gedanken in seinem dumpfigen, alten Comptoir geben. Ich denke ihn jedes Jahr einzuladen, ob es ihm nun gefällt oder nicht, denn er dauert mich. Er mag auf Weihnachten schimpfen, bis er stirbt, er soll schon besser davon denken, wenn ich jedes Jahr in guter Laune zu ihm komme und sage: Onkelchen, wie befinden Sie sich? Glückliche Weihnachten und fröhliche Feiertage, Hurrah! Wenn ihm das nur den Gedanken giebt, seinem alten Buchhalter hundert Thaler zu vermachen, und ich glaube, ich habe ihn gestern gepackt!“ (Ebd., 8. Szene)
Bevor sich der Geist verabschiedet, lässt er Heidenreich noch zwei Kinder in Lumpen erblicken, Allegorien von „Unwissenheit“ und „Mangel“ (vgl. ebd., 9. Szene), die bei Heidenreich Mitleid auslösen. Voller Reue und Scham sinkt er auf die Knie, als der Geist ihm eine Äußerung vorhält, die er früher einmal getätigt hatte: „Giebt es keine Gefängnisse? Keine Armenhäuser? Und sterben sie – gut, so wird die überflüssige Bevölkerung vermindert.“ (Ebd.) Des kurz darauf auftretenden Geistes der zukünftigen Weihnacht entledigt er sich schnell, indem er gelobt, Weihnachten zukünftig zu ehren und zu feiern sowie christliche Werte zu respektieren. Er formuliert einen regelrechten Schwur: „Ich will Weihnacht in meinem Herzen ehren, und will versuchen, es zu feiern. Ich will in der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft leben, die Geister von allen Dreien sollen in mir wirken, ich will mein Herz nicht ihren Lehren verschließen.“ (Ebd., 10. Szene)
Heidenreich verspricht seinem Angestellten, dessen Einkommen zu erhöhen und sagt seinem Neffen zu, Weihnachten mit ihm zu begehen. Daraufhin huldigt er, am Ende des Dramas, in einem Zustand der Glückseligkeit mit einer sentimental pathetischen Replik dem Fest. Er tätigt hier die Aussage, alles nur geträumt zu haben, greift somit auf ein tatsächlich mögliches Deutungsmodell der Geschichte zurück. Die phantastischen Begebenheiten werden als Traum rational erklärbar.
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Die reale Existenz einer übernatürlichen Sphäre wird zumindest von Heidenreich nicht bestätigt. Das magische Moment wird in einer entzauberten, durchökonomisierten Welt, in der Kapital vorhanden sein muss, damit das Fest vollwertig begangen werden kann, in den Traum verbannt. Demnach versteht Heidenreich Weihnachten zwar als ein aus dem Alltag herausgehobenes Ereignis, an dem Außergewöhnliches und überraschende Wandlungen eintreten, diese sind aber durchweg vernunftgemäß zu deuten und der reinigenden Kraft des Schlafes zuzuschreiben. „Staunet nicht! Wundert Euch nicht! Ich habe heut Nacht geträumt – die drei Weisen aus dem Morgenlande sind bei mir gewesen – sie haben mich bekehrt – ich bin ein anderer Mensch geworden. Gebt mir alle Eure Hände – unterstützt mich, liebt mich, leitet mich – ich will Euch wieder lieben! Möge mein Beispiel jeden hartherzigen Egoisten bekehren, daß alle Menschen in Wahrheit sagen könnten: Fröhliche Weihnachten und ein glückliches neues Jahr!“ (Ebd., 13. Szene)
Trotz sozialkritischer, moralisierender und didaktisierender Tendenzen verzichtet Hesses Text auf eine grundsätzliche Neuordnung gesellschaftlicher Verhältnisse. Heidenreichs Reflexionen über die eigene Prosperität und familiäres sowie gesellschaftliches Engagement erfolgen, damit alles bestehen bleiben kann. Der Text ist eher als eine Warnung an besitzende Klassen, eigenes Handeln zu reflektieren um eine Gewährleistung der Wahrung der Verhältnisse garantieren zu können, denn als ein Appell zu radikalen gesellschaftlichen Veränderungen zu interpretieren. In diesem Kontext wird Weihnachten als eine einzigartige Zeit charakterisiert, die Gelegenheit zum Nachdenken über die persönliche Lebenssituation und die eigenen sozialen Bindungen bietet. In einer kapitalistischen, durchrationalisierten Welt bietet sie Raum für Überraschendes und übernatürlich Mystisches, das aber ebenfalls der Wiederherstellung von Ordnung zuträglich zu sein hat. Mithin wird die traditionell „tiefe Ambivalenz“175 Weihnachtens, unheimlich und lebensbejahend zugleich zu sein, aufrechterhalten. Weihnachten wird vorbehaltlos als im Privaten begangenes, freudvolles Familienfest bestätigt, an dem familiäre Beziehungen und Erinnerungen gepflegt und Generationenkonflikte gelöst werden können. Fritz konstatiert:
175 Macho, Thomas: „Weihnachten – ein unheimliches Fest!“. URL: , letzter Zugriff am 17. August 2015.
122 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR „Aber ich weiß auch, daß ich Weihnachten, wenn das Fest gekommen ist, immer als eine gute Zeit betrachtet habe, als die Zeit der Vergeltung und Barmherzigkeit, als die einzige Zeit, die ich in dem ganzen, langen Jahreskalender kenne, wo die Menschen einträchtig ihre verschlossenen Herzen aufthun und die anderen Menschen betrachten, als wenn Sie wirkliche Reisegefährten nach dem Grabe wären, und nicht eine ganz andere Art von Geschöpfen, die einen ganz anderen Weg gehen.“ (Ebd., 2. Szene)
Heidenreich wird wieder sensibilisiert für sämtliche Sinnenfreuden des Fests und lädt sich am Ende bei seinem Angestellten auf eine „Bowle Punsch“ (ebd., 12. Szene) und bei seinem Neffen zum fröhlichen Trank und Festschmaus mit „Gänsebraten und Karpfen mit Butter und Meerettig“ (ebd., 8. Szene) ein. Gleichzeitig appelliert das Werk an das moralische und soziale Gewissen seiner Leser sowie Zuschauer und gemahnt daran, neben tugendhaftem Verhalten Nächstenliebe zu praktizieren. Es gibt seinen Rezipienten sowohl Empfehlungen für angemessenes, eigenverantwortliches Verhalten im privaten als auch im öffentlichen Raum mit an die Hand. Außerdem kritisiert es bürgerliche Abschließungstendenzen und durch Wohlstand provozierte Ignoranz. Zudem betont es die Relevanz eines kollektiven Bewusstseins für den in einer Gesellschaft gültigen Wertekatalog. Das Potential Weihnachtens als Moment der Reflexion und Korrektur des eigenen Sozialverhaltens wird akzentuiert. Deshalb erstaunt es nicht, dass Hesses Stück parallel zur Läuterung Heidenreichs dessen Wertschätzung des Fests wiederherstellt. Zu Beginn verkündet er noch: „Was heutiger Tag – in meinem Geschäft ist ein Tag wie der andere, da ist kein Unterschied! [...] Hat Dich der Satan hier? – Fröhliche Weihnachten! Pah! Dummes Zeug!“ (Ebd., 1. und 2. Szene), wohingegen er am Ende allen „Fröhliche Weihnachten allerseits und vergnügte Feiertage!“ (Ebd., 13. Szene) wünscht. Daraufhin ruft jede Figur „Fröhliche Weihnachten und ein glückliches neues Jahr“ und der „Vorhang fällt“ (ebd.).
4. Weihnachtsmärchen
Nachdem im Zuge der Aufklärung weltliche Weihnachtsspiele in einigen Regionen systematisch verboten werden, stehende Theater nur allmählich auf das sich verändernde Fest reagieren und die weihnachtliche Dramenproduktion ebenfalls überschaubar bleibt, etabliert sich seit den 1860er Jahren auf den deutschen Bühnen eine einheitliche, sehr spezifische weihnachtliche Spielplangestaltung, die bis heute den Dezemberspielplan der meisten Theater in Deutschland prägt. Im Sinne der verstärkten Ausrichtung der häuslichen Weihnachtsfeier auf die jüngsten Familienmitglieder im „Jahrhundert des Kindes“1 wendet sich der Spielplan rund um das Weihnachtsfest zunehmend an Kinder und Familien als vorrangigem Zielpublikum und präsentiert in üppigen Inszenierungen Werke, die auf Märchenstoffen basieren. Nach einer Theatralisierung und Ritualisierung des privaten Festvollzugs wird der Gang in die Theater in der Weihnachtszeit langsam populär. Die in diesem Kontext entstehenden Stücke, die durchaus verschiedenen Genres zuzuordnen sind, werden gemeinhin unter dem Begriff des Weihnachtsmärchens subsumiert. Zunächst wird die neue weihnachtliche Theaterpraxis aufwendig spektakulärer Aufführungen vor allem durch Carl August Görner (1806-1884) etabliert. Dem „Vater des deutschen Weihnachtsdramas“ 2 folgen viele Autoren und Regisseure mit ähnlichen Arbeiten. 1872 kommentiert die Illustrierte Zeitung seine theatergeschichtliche Bedeutung folgendermaßen: „Für die Entwicklung des deutschen Theaters ist Görner’s Thätigkeit keineswegs eine verlorene. Abgesehen von seiner großen Kunst der Regieführung, welche namentlich in der Massenbehandlung, dem Arrangement von Chorgruppen, Tableaux u.s.w., wo mit breiten
1
Vgl. Key, Ellen Karoline Sofia: Das Jahrhundert des Kindes. Studien. Neu herausge-
2
Tornau, Weihnachtsmärchen, S. 228.
geben von Ulrich Hermann. Weinheim 2000.
124 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR Strichen gearbeitet werden kann, mustergiltiges, unübertreffbares geleistet hat, so ist er der Erfinder eines ganz neuen Genres von Stücken, die den Schauspieldirectoren die Kasse zu einer Zeit ahnsehnlich zu füllen pflegen, welche früher die verrufenste der ganzen Theatersaison gewesen ist, nämlich die kalten vier Wochen vor Weihnachten. Görner hat zuerst Kindermärchen dramatisiert: harmlose, liebenswürdige Arbeiten, von Kindern für Kinder gespielt; leicht gezimmerte Komödien, deren Stoff stets dem unersetzlichen Schatz der deutschen Märchenwelt entnommen ist. Oft erscheint auch der Tannenbaum auf dem Theater, die allegorischen Figuren des Weihnachtsmanns, der guten Fee, des Knechts Ruprecht u.a. treten auf, und so wird auf Gemüth und Phantasie des Kindes eine sittlichedle anregende Wirkung ausgeübt.“3
Görner, als Schauspieler, Regisseur, Theaterleiter und Autor von Possenspielen, Lustspielen sowie Schwänken tätig, schreibt und veröffentlicht ab Mitte des 19. Jahrhunderts etliche Kinder- und Weihnachts-Komödien und inszeniert sie vor allem am Hamburger Stadt- und Thalia-Theater. Seine Aufführungspraxis wird stilbildend für zahlreiche deutsche Theater. Unmittelbar nach der Gewerbefreiheit 1869 setzen sich Görners und ähnlich konzipierte Stücke auf den Spielplänen der großen Stadt- und Privattheater durch.4 In dieser Zeit kommt es zu zahlreichen Theaterneugründungen, einem zunehmenden Konkurrenzdruck, einer
3
Z.: „C. A. Görner“, in: Illustrierte Zeitung. Band 58. Nummer 1501 (1872), S. 244246 (S. 246).
4
Die Weihnachtsstücke Görners und seiner Nachfolger stellen das Kapitel weihnachtlichen Theaters dar, welches am besten untersucht und am ausführlichsten diskutiert worden ist, obwohl die Stücke in keiner der Publikationen in Bezug auf das weihnachtliche Fest und somit ihren sehr konkreten Aufführungskontext besprochen werden. 1958 erscheint Hildegard Tornaus umfassende Arbeit, die in den folgenden Jahrzehnten für fast ausnahmslos alle Untersuchungen dieses Themenkomplexes als wichtiger Referenzpunkt dient. In den 1970er Jahren wird Manfred Jahnkes Dissertation publiziert, die sich – an Tornaus Ergebnissen orientiert – mit der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte, dem Entstehungskontext, dramaturgischen Besonderheiten, der Wirkungsgeschichte und Aufführungspraxis von weihnachtlichen Märchen auseinandersetzt. In den Publikationen Karl Bauers und Melchior Schedlers zum Kindertheater finden sich ebenfalls Ausführungen zum Thema: Schedler, Melchior: Kindertheater. Geschichte, Modelle, Projekte. Frankfurt am Main 1972. / Jahnke, Manfred: Von der Komödie für Kinder zum Weihnachtsmärchen. Untersuchung zu dramaturgischen Modellen der Kindervorstellungen in Deutschland bis 1917. Meisenheim 1977. / Bauer, Karl: Emanzipatorisches Kindertheater. Entstehungszusammenhänge, Zielsetzungen, dramaturgische Modelle. München 1980.
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damit einhergehenden Spezialisierung und einer Fokussierung vor allem der Unterhaltungstheater auf leichte, ein Massenpublikum fesselnde Produktionen. Auch Märchenopern entstehen. Wenngleich sie formal andere Wege gehen, verfolgen sie auf Ebene der inhaltlichen Gestaltung und bei ihren szenischen Umsetzungen ähnliche Erfolgsstrategien wie die Sprechstücke. Märchenstoffe werden hier ebenfalls mit dekorativ aufwendigen Realisationen kombiniert. Mit den Weihnachtsmärchen erfährt erstmalig ein an Kinder adressiertes und trotzdem für die ganze Familie geeignetes professionelles Theater in Deutschland Massenwirksamkeit. Gezielt wird eine weihnachtliche Spielplanpolitik verfolgt, die in einer überregional standardisierten weihnachtlichen Spielplangestaltung mündet. So manifestiert sich an diesem Phänomen die Ausdifferenzierung, Verbürgerlichung, Spezialisierung, Kommerzialisierung und Professionalisierung der deutschen Theaterlandschaft im 19. Jahrhundert. In deren Rahmen werden für verschiedene Publikumsgruppen eigene theatrale Formate geschaffen. In diesem Sinn verschreibt sich die weihnachtliche Theaterpraxis genau wie die weihnachtliche Festpraxis zunehmend vornehmlich dem jungen Publikum. Sie entspricht damit dem modernen Verständnis von Weihnachten als dem vielleicht bedeutsamsten Fest des Kindes. Dementsprechend entdeckt im Kontext des weihnachtlichen Fests nicht nur die erstarkende Industrie zunehmend die Kinder als Konsumentengruppe, auch die Theater wissen mit dem neuartigen, für Kinder konzipierten Format ihre Säle zu füllen. Der These Ute Dettmars, dass die „Idee, die ganze Familie mit einem märchenhaften Theaternachmittag auf die Weihnachtszeit einzustimmen, […] den Theatern bis heute eine wunderbare Einnahmequelle [erschlossen] und für hohe Auslastungszahlen“5 sorge, kann dennoch nur teilweise zugestimmt werden. Weihnachtsmärchen werden heute vor allem von Schulklassen besucht. Selbstläufer sind die Vorstellungen jedoch oft nicht mehr. Sie müssen aktiv beworben werden, damit sich die Karten gut verkaufen. Zudem ist diese Praxis nicht an allen Theatern gängig und auch abhängig davon, ob eine eigene Kinder- und Jugendtheatersparte vorhanden ist. Opernhäuser setzen im Dezember gerne Die Zauberflöte und Ballette auf den Spielplan, die wiederum weniger von Schulklassen und eher von Familien besucht werden.
5
Dettmar, Ute: „Theaterzauber. C. A. Görners Weihnachtsmärchen im Spannungsfeld von kinderliterarischer Tradition, Theaterpraxis und Populärkultur um 1900“, in: Reiß, Gunter (Hg.): Kindertheater und populäre bürgerliche Musikkultur um 1900. Studien zu Weihnachtsmärchen (C. A. Görner, G. v. Bassewitz), zum patriotischen Festspiel, zur Märchenoper, zur Hausmusik (C. Reinecke, E. Fischer) und zur frühen massenmedialen Kinderkultur. Frankfurt am Main 2008, S. 33-54 (S. 33).
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4.1 P ROFESSIONALISIERTES K INDERTHEATER Erstmals in der Geschichte des deutschen Theaters der Neuzeit bildet sich mit den Weihnachtsmärchen für Kinder ein Format im Bereich des professionellen Theaters heraus, das sich explizit an Kinder richtet, auf einer bewusst für Kinder verfassten Dramatik fußt und das von erwachsenen Darstellern in einem professionellen Produktionskontext entwickelt und umgesetzt wird. 6 Im Gegensatz zu Weißes oder Houwalds Kinderschauspielen und den in den 1860er Jahren in Hamburg ebenfalls sehr populären Kinderballetten Kathi Lanners, bei denen vornehmlich Kinder auf der Bühne stehen,7 fungieren bei Görner Kinder nicht primär als Darsteller, sondern als Zuschauer, die mit ihren Eltern gemeinsam in der Weihnachtszeit das Theater besuchen. Doch selbstverständlich ist junges Publikum trotz des Fehlens eines professionalisierten Theaters erwachsener Darsteller für Kinder auch vor Mitte des 19. Jahrhunderts nicht von Theaterbesuchen ausgeschlossen. Es ist normal, „Kinder und Jugendliche ganz selbstverständlich als Theaterbesucher in fast allen Vorstellungen vorzufinden.“ 8 Der Wiener Schriftsteller und Verleger Adolf Bäuerle beispielsweise schildert in seinen Memoiren das eigene kindliche Interesse im späten 18. Jahrhundert am Theater, das für Kinder sogar eigene Eintrittspreise bereithält: „Ach! Sagte ich, theurer lieber Herr Pathe, führen Sie mich doch hin zum ‚Schmerzenreich‘. Kann man diesen auch für einen Kreuzer sehen? Nein, antwortete er, dort kostet das Parterre noble vier Kreuzer, Kinder bezahlen die Hälfte.“9
Vermutlich sind Kinder bis weit in das 19. Jahrhundert hinein bei zahlreichen Produktionen im Zuschauerraum zugegen und zum Teil lautstark vernehmbar. Theater fungiert hier durchaus als zentrales frühes kulturelles Sozialisierungsmedium. Versuche, Kinder aus dem Zuschauerraum zu verbannen, setzen sich indes nicht durch. 1788 fordert der Schauspieler, Schriftsteller, Gelehrte und Goethe-Freund Heinrich Wilhelm Seyfried zum Beispiel, Kinder von Vorstellungen auszuschließen, um so für mehr Ruhe und Konzentration im Saal zu sorgen:
6
Puppentheater bleibt in dieser Untersuchung ausgeklammert.
7
Vgl. Tornau, Weihnachtsmärchen, S. 236ff.
8
Ebd., S. 17.
9
Bäuerle, Adolf: Bäuerle’s Memoiren. Band 1. Wien 1858, S. 19.
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„Zu der exacten Theater-Polizei gehöret auch, daß keine ganz kleinen Kinder, noch weniger vierfüßige Geschöpfe in das Theater gelassen werden. Ohnehin wird doch oft genug gejauchzt und gebellt.“10
1805 setzt sich die satirische Schrift Die Welt im Argen mit der Anwesenheit von Jugendlichen im Theater auseinander. Sie moniert das Vergnügen eines Jungen, beim Theaterbesuch Frauen zu begaffen, und die Freude eines jungen Mädchen, ein Stück gemeinsam mit dem restlichen Publikum „auszuklopfen“. Den Jugendlichen wird ein enormes Desinteresse an einer kritisch inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Gesehenen attestiert, da der Theaterbesuch lediglich als soziales Ereignis, nicht jedoch als Kunstgenuss begriffen werde: „Das zwölfte Jahr rückt bald heran. Zum Liebeln ist er jetzt schon gehörig alt; er liest den schlüpfrigsten Roman, und wittert schon der Wollust Spur, macht seinen Mädchen täglich Cour, beguckt, wenn er spazieren geht, und in des Schauspielhauses gefülltem Raume steht, die Schönen rings umher durch die Lorgnette, und schleicht nachts zu seiner Mägde Bette. [...] Käthe erzählt, sie lasse sich den Sitz im Schauspielhause täglich sperren, und gestern hätte man ein Stück, von Witz, wie eine Schlächterwurst vom Fette, vollgestopft, in dem Parterre recht tüchtig ausgeklopft.“11
Radikale Verbote wie in Breslau oder Berlin, Kinder unter vier bzw. sechs Jahren mit in das Theater zu nehmen,12 sind im frühen 19. Jahrhundert dennoch nicht die Regel, wie Rudolf Weil in seiner Studie zum Berliner Theaterpublikum 1932 darlegt: „In jener Zeit [war] aber auch das Bewußtsein von der allabendlichen Anwesenheit zahlreicher Kinder im Zuschauerraum auf die Leitung des Theaters ohne jeden Einfluß. Denn vorausgesetzt, daß man sich überhaupt zu diesem Phänomen ‚Theater‘ bekannte, hat man sich damals – wie in den Jahrzehnten zuvor – entweder gar keine Gedanken über das
10 Seyfried, Heinrich Wilhelm: Ein dramatisches Wort zu seiner Zeit. Die KöniglicheNational-Bühne in Berlin betreffend. Berlin 1788, S. 90. 11 O.A.: Die Welt im Argen. Mit der Geißel verfolget von Heraklitos, Demokritos. Erste Geißelung. Gedruckt auf Kosten eines Ungenannten. Berlin 1805, S. 35 und 87. 12 Vgl. Weil, Rudolf: Das Berliner Theaterpublikum unter A. W. Ifflands Direktion (1796 bis 1814). Ein Beitrag zur Methodologie der Theaterwissenschaft. Berlin 1932 (Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte. Band 44), S. 132. Wie Weil darlegt, verbietet Iffland zwar das Mitbringen von unter Sechsjährigen, erteilt aber die Erlaubnis des freien Eintritts für unter Zehnjährige.
128 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR Problem ‚Kind und Theater‘ gemacht, die Kinder wahllos zu allen Veranstaltungen der moralischen Anstalt geschickt, oder man hat sie jedes Stück sehen lassen, das ihnen irgendeine Lehre geben konnte oder das wenigstens ihren Geschmack zu bilden geeignet schien. [...] Kinder fand man vielmehr damals offensichtlich bei allen Aufführungen im Zuschauerraum vor.“13
Vielmehr tragen vor allem die Etablierung neuer Verhaltenskodexe im Theater und die zunehmende Reflexion über kindgemäßes Theater im 19. Jahrhundert dazu bei, dass (kleine) Kinder keinen nennenswerten Teil des Publikums bilden bzw. eigene Formate wie die Weihnachtsmärchen für sie entwickelt werden. Im Sinne einer säkularen Kunstfrömmigkeit geben sich die Erwachsenen nunmehr als andächtige, quasireligiöse Gemeinschaft ungestört und still, ohne Essen, Trinken oder Unterhaltungen, im abgedunkelten Zuschauerraum dem Kunstgenuss hin. Mitte des 19. Jahrhunderts stellt also die Anwesenheit von Kindern im Zuschauerraum bei den Weihnachtsmärchen absolut keine Besonderheit oder Neuheit dar, obschon die gezielte Konzeption von Stücken für Kinder und die Umkehrung des Mengenverhältnisses erwachsener und kleiner Zuschauer bei den weihnachtlichen Produktionen eine deutliche Neuerung bedeuten. Vermutlich gestalten die Kinder hier, trotz zahlreicher erwachsener Begleitpersonen, die Atmosphäre im Zuschauerraum und die turbulenten sowie dramaturgisch sehr locker gehaltenen Inszenierungen Görners maßgeblich durch Zwischenrufe mit. Dezidiert als Kindervorstellungen angesetzte Theateraufführungen gibt es im Deutschen Kaiserreich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Ab 1894 werden zunächst in Berlin, Leipzig und Hamburg Vorstellungen für Schüler organisiert, die Initiative geht hier zumeist von Lehrern aus. In folgenden Jahren partizipieren immer mehr Städte an dieser neuen Entwicklung.14 Besucht werden Produktionen wie Der Prinz vom Homburg, Die Jungfrau von Orleans, Minna von Barnhelm, Maria Stuart oder Humperdincks Hänsel und Gretel. Melchior Schedler beschreibt die Mechanismen 1972 in seiner Publikation zum Kindertheater genauer: „Später wird das System der Vorauswahl durch die Lehrer noch perfektioniert, als die der Hamburger Kunsterziehungsbewegung nahe stehende ‚Jugendschriftenwarte‘ ein Verzeichnis wertvoller Spiele für die Schul- und Jugendbühne herausgibt. Zum Modellfall erhoben wird die hamburgische Organisation des Kindertheaters durch die 1898 erschienene
13 Ebd., S. 132. 14 Vgl. Schedler, Kindertheater, S. 74.
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Broschüre Unsere Schüler im Stadttheater, die Lehrer in Bremen, Lübeck, Leipzig, Berlin, Dresden, Düsseldorf, Köln, Frankfurt und anderen Städten veranlaßt, ihrerseits ähnliche Versuche zu unternehmen. Damit hat sich in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts das bis heute effektivste und verbreitetste Organisationsschema des Kindertheaterbesuchs etabliert.“15
Abbildung 12: Kindervorstellung
Programmzettel des Weimarer Hoftheaters (1888)
15 Ebd., S. 75.
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4.2 E TABLIERUNG DER W EIHNACHTSMÄRCHEN Da schon mehrere Studien die Entstehung des deutschen Weihnachtmärchens untersucht haben, wird in dieser Arbeit auf eine detaillierte Darstellung seiner Genese verzichtet. Vor allem in Hildegard Tornaus Dissertation von 1958 und in Manfred Jahnkes Studie von 1977 zum Weihnachtsmärchen finden sich ausführliche Informationen zu den Entstehungszusammenhängen, dem Einfluss anderer Gattungen auf die Märchen Görners, der Entwicklung bis 1918 und zu den Werken von Autoren wie Oscar Will oder Max Möller, die sich zum Teil eng an Görners Stücken orientieren. Trotzdem darf ein kurzer Überblick zur Entstehung und Etablierung dieses Formats nicht fehlen. Görners Stücke für Kinder werden, in seiner Regie und unter der Leitung anderer Regisseure, seit Mitte der 1850er Jahre aufgeführt. Die frühen Werke spielt man überwiegend in Hamburg und Berlin. Oftmals sind an den Inszenierungen zahlreiche Kinder beteiligt. Die am 12. Dezember 1854 in Berlin am FriedrichWilhelmstädtischen-Theater aufgeführte und dann als Gastspiel am Thalia Theater in Hamburg gegebene Bearbeitung des Märchens Die drei Männlein im Walde, Die drei Haulemännerchen oder das gute Liesel und’s böse Gretel ist etwa vom Theaterleiter Deichmann mit Kindern für Kinder inszeniert.16 Trotz der Einladung nach Hamburg, dortiger Eigenproduktionen zwei weiterer Stücke Görners, bei den erneut lediglich Kinder auf der Bühne stehen, 17 und Inszenierungen in Köln und Berlin,18 etablieren sich seine in dieser Zeit entstandenen Komödien für Kinder nicht längerfristig in der Praxis.19 In Hamburg dominieren bis 1866 mit Titeln wie Hans Däumling und seine Abentheuer oder Aladin und die Wunderlampe Kinderballette Kathi Lanners die weihnachtlichen Spielpläne, die mit ihrer Favorisierung von Märchenstoffen und den vielen Vorstellungen bereits ihre typische Prägung besitzen: Die Märchenballette Lanners werden in der Vorweihnachts- und Weihnachtszeit im Durchschnitt 20 Mal wiederholt. Lediglich am 24. Dezember sind die Theater geschlossen.20 Lanners Ballette stellen für Görner mit Sicherheit eine wichtige Inspirationsquelle dar, wie auch Manfred Jahnke konstatiert: „Die artistischen Mittel des Tableaus, des Arrangements, des pantomimischen Balletts, der grotesken
16 Vgl. ebd., S. 43. 17 Vgl. Tornau, Weihnachtsmärchen, S. 233. 18 Vgl. Schedler, Kindertheater, S. 45. 19 Vgl. Tornau, Weihnachtsmärchen, S. 233ff. 20 Vgl. ebd., S. 239ff.
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Tanzeinlagen oder einer sich an der Trivialmusik orientierenden musikalischen Grundierung prägen auch die Görnersche Weihnachts-Komödie.“21 Ab Ende der sechziger Jahre verzeichnen Görners Stücke einen ansteigenden Erfolg. Görner verfasst nun zunehmend längere und in der szenischen Umsetzung technisch äußerst aufwendige Stücke. Sie sind in der Mehrzahl für erwachsene Darsteller verfasst, wenngleich für die Inszenierungen so mancher Texte Kinder als Darsteller gefordert werden.22 Zunächst setzen sich Görners Schauspiele auf den Bühnen der großen Stadt- und Privattheater in den norddeutschen Städten durch, in den siebziger Jahren dann auch in den süddeutschen Städten und auf Provinzbühnen.23 Ab 1867 verfasst Görner beinahe jährlich eine neue Weihnachts-Komödie, die die Stadt- und Privattheater der Großstädte mit Beginn der siebziger Jahre aufführen. Im Dezember 1867 feiert Apfelbaum, Erdmännchen und Flöte. Weihnachtskomödie mit Dialog und Ballett 24 in Hamburg seine erfolgreiche Premiere. „1869 sind es bereits sechs hamburgische Theater, allesamt Privatbühnen, die Weihnachtsmärchen in ihr Sortiment aufnehmen“,25 so Schedler. 1872 findet die Uraufführung von Aschenbrödel, oder: Der gläserne Pantoffel statt,26 einem der beliebtesten Weihnachtsmärchen Görners. Auf dem Titelblatt dessen Ausgabe von 1874 ist vermerkt: „Im Thalia-Theater in Hamburg 38 Mal hintereinander, mit dem größten Beifall aufgeführt. Ebenso im Königlichen Hoftheater zu Dresden und Leipziger Stadttheater.“27 Görners Märchenspiele erlangen im Deutschen Kaiserreich erstaunlich schnell eine hohe Popularität und sind schon bald in beinahe allen größeren Städten präsent. Ein Journalist räsoniert am 11. April 1884 im Braunschweiger Tageblatt:
21 Jahnke, Von der Komödie, S. 48. 22 Zahlreiche Kinder im Alter von 7 bis 14 Jahren sind zum Beispiel aufgelistet im Personenregister von: Görner, Carl August: Der Rattenfänger von Hameln. Nach Sprenger’s Geschichte und Chroniken der Stadt Hameln. Frei bearbeitet. Hamburg 1879 (Weihnachts-Märchen-Komödien. Band 1). 23 Vgl. Jahnke, Von der Komödie, S. 130. 24 Görner, Carl August: Apfelbaum, Erdmännchen und Flöte. Eine Komödie für Kinder in 5 Bildern. Nach einem Märchen bearbeitet. Hamburg 1865, 2. Auflage (KinderTheater. Band 2). 25 Schedler, Kindertheater, S. 46. 26 Vgl. Tornau, Weihnachtsmärchen, S. 245ff. 27 Görner, Carl August: Aschenbrödel, oder: Der gläserne Pantoffel. WeihnachtsKomödie mit Gesang und Tanz in 6 Bildern (Aufzügen). Nach dem gleichnamigen Märchen bearbeitet. Musik von Stiegman. Altona 1874.
132 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR „Und so sicher das Weihnachtsfest seine Weihnachtsbäume, so sicher und unvermeidlich brauchte es auch eine Görnersche Weihnachtskomödie, die zu Lust und Frommen der Kleinen und Großen ihren Weg von Hamburg – und gewöhnlich dem Krollschen Theater in Berlin – zu den sämtlichen Stadttheatern, bis hinab zum Musentempel von Kyritz an der Knatter nahm.“28
Selbstverständlich ist die weihnachtliche Spielplangestaltung im Deutschen Kaiserreich nicht überall kongruent und schwankt abhängig von der Organisationsform der Theater und der Theaterlandschaft der jeweiligen Stadt. Gerade an Orten wie Berlin oder Hamburg, die eine stetig steigende Anzahl miteinander konkurrierender Bühnen aufweisen, werden selbstverständlich nicht nur Görners Märchen gespielt. Stattdessen strebt man eine große Varianz im Dezemberspielplan an.29 Man setzt auch Weihnachtsmärchen anderer Autoren auf das Programm und rückt nicht von dem üblichen, aus Lustspielen, Tragödien, Opern, Operetten und Balletten bestehenden Repertoire ab.30 Somit bieten nur manche Theater, vor allem privatwirtschaftlich organisierte Privattheater, ein oder zwei Weihnachtsmärchenproduktionen en Suite im Dezember dar. Die meisten Häuser wahren eine gewisse Vielfalt und spielen vor allem Produktionen für Erwachsene, wobei Schauspiel- und Opernhäuser hier zweifelsohne eine grundsätzlich unterschiedliche Ausrichtung haben. Auch in Wien bilden sich recht andere Spieltraditionen heraus. „Im Gegensatz zur Spielpraxis im Deutschen Reich blieb das Kindertheater in Wien im 19. Jahrhundert fast ausschließlich ein solches von Kindern für Kinder“,31 wie Jahnke aufzeigt. Zunächst werden einzig in Residenzen, wo es neben der Hofbühne kein weiteres Theater gibt, Kindermärchenvorstellungen dargeboten. An großen Hoftheatern wie Wien oder Berlin, die „auf Grund der Repräsentanzpflichten nicht an der Konjunktur der Märchenaufführungen partizipieren“ 32 bzw. sich wie das Königliche Hof- und Nationaltheater in München auf das Genre Oper konzentrieren, setzen sie sich hingegen erst ab Mitte der 1890er Jahre in Form von Mär-
28 O.A.: „Görners Weihnachtskomödien“, in: Braunschweiger Tageblatt, 11. April 1884, o.S. 29 Vgl. Jahnke, Von der Komödie, S. 142. 30 Vgl. z.B.: Jacobsohn, Eduard: Knecht Ruprecht. Weihnachtsmärchen mit Gesang und Tanz in 2 Akten und 1 Vorspiel von Eduard Jacobsohn und Robert Linderer. Musik von August Conradi. Auf der Kroll’schen Bühne in Berlin 50 Mal mit glänzendem Erfolge aufgeführt. Berlin o.J. 31 Jahnke, Von der Komödie, S. 132. 32 Ebd., S. 130.
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chenopern durch. Vor allem Engelbert Humperdincks spätromantische Märchenoper Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern33 gehört seit der Jahrhundertwende zum festen weihnachtlichen Repertoire vieler Opernhäuser.34 Im Gegensatz zu Humperdinck, der das Genre der Oper für ein großformatiges Weihnachtsmärchen dienlich macht, komponiert etwa Carl Reinecke nur vom Klavier zu begleitende Märchenopern für Kinder, die sich am häuslichen Kinderschauspiel orientieren und den bürgerlichen Haushalt als Aufführungskontext vorsehen. Wilhelm Henzen fordert 1899, dass man die Werke Reineckes auch einmal in Theatern aufführen solle, da ihre Musik viel kindgerechter als etwa Humperdincks Komposition sei: „Wenn wir diese anmuthigen Gebilde mit Humperdincks Hänsel und Gretel in Vergleich stellen, so werden wir nicht leugnen könne, daß der Reinecke’schen Musik der Charakter einfachster Kindlichkeit weit consequenter gewahrt geblieben ist, als der gelegentlich in schwerstem Meistersingerstil einherschreitenen Humperdinckschen Tondichtung, deren Kindlichkeit eigentlich mehr in dem verwendeten Material leitmotivischer Volksliedthemen, als in dem Stile beruht, in dem sie polyphonisch verarbeitet worden sind. Man sollte daher wohl einmal den Versuch machen, eine dieser Reinecke’schen Kinderopern etwa als musikalisches Weihnachtsspiel auf die Bühne zu bringen. Die Kleinen würden jenenfalls nicht genöthigt werden, eine Musik zu verdauen, der ihr Magen nicht gewachsen wäre.“35
Ungeachtet aller regionalen Unterschiede bestimmen die Weihnachtsmärchen im ausgehenden 19. Jahrhundert als große Konstante die Spielpläne der meisten deutschen Theater in der Vorweihnachts- und Weihnachtszeit. Vom späten 19. Jahrhundert bis weit ins 20. Jahrhundert hinein haben zahlreiche Theater, vor allem Unterhaltungstheater, aber auch ‚seriöse Bühnen‘, in allen Gebieten des Deutschen Kaiserreichs Weihnachtsmärchen in ihren ansonsten bunt zusammengesetzten Dezemberspielplänen. Görners prominente Titel wie Aschenbrödel, Dornröschen oder Sneewittchen werden immer wieder gegeben. Der Artikel Aus dem Theaterbureau merkt 1903 an:
33 Humperdinck, Engelbert: Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern. Dichtung von Adelheid Wette. Vollständiger Klavierauszug. Mainz 1894. 34 Vgl. Deutscher Bühnenspielplan. 1.-18. Jahrgang (1896-1914). 35 Henzen, Wilhelm: „Carl Reinecke“, in: Lindau, Paul (Hg.): Nord und Süd. Band 88. Heft 262 (1899), S. 66-81 (S. 78).
134 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR „Am Sonntag den 6. Dezember beginnen die diesjährigen Weihnachtsvorstellungen, die in der altgewohnten Weise aus dem Märchen und beliebten Repertoireopern zusammengesetzt sind.“36
Daneben treten weitere Autoren auf den Plan, die sich zwar an Görners Werken und deren Dramaturgie orientieren, auf Ebene der sprachlichen und inhaltlichen Gestaltung aber andere Ausrichtungen favorisieren. Manche gehen vor allem formal neue Wege, reihen montageartig Tableaux aneinander, die auf verschiedene Märchen rekurrieren. Max Möller beispielsweise integriert in seine Märchen wiederholt als Schlussapotheosen Genrebilder der bürgerlich familiären Weihnachtsfeier und fusioniert so Weihnachtsmärchen mit weihnachtlichen Dramen bürgerlicher Prägung. Andere Autoren experimentieren vorrangig auf sprachlicher Ebene und verleihen den Figuren eine dezidiert kindliche Ausdrucksweise. Wie Wolfgang Schneider in seiner Geschichte des Kindertheaters in Deutschland konstatiert, beschert nach der Jahrhundertwende vor allem die „Reformpädagogik mit ihrer Ideologie vom Reich der Kindheit [...] dem Kindertheater eine neue Kindertümlichkeit“,37 die sich insbesondere „in der Sprache und Figurengestaltung“ manifestiert.38 Auch neue Formate wie etwa das Traum-
36 O.A.: „Aus dem Theaterbureau“, in: Hamburgischer Correspondent, 1. Dezember 1903, S. 11. 37 Schneider, Wolfgang: „Zur Geschichte des Kindertheaters in Deutschland“, in: Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Reclams Kindertheaterführer. 100 Stücke für eine junge Bühne. Stuttgart 1999, S. 9-22 (S. 10). 38 Ein paar Beispiele für die umfangreiche Produktion an Weihnachtsmärchen: Buchholz, Robert: Elternhaus und Elfenschloss: Weihnachtsmärchen mit Gesang und Tänzen, in 8 Bildern. Musik von Arthur Seidel. Erste Aufführung am Hamburger StadtTheater am 6. Dezember 1886. Manuskript: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, A/314338. / Oesau, Ferdinand: Der Waisenkinder Märchenfahrt. Weihnachtsmärchen mit Gesang und Tanz in 6 Bildern. Musik von Carl Krüger. Manuskript (circa 1904): Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Gbk/O. / Möller, Max: Jung Habenichts und das Silberprinzeßchen. Weihnachtsmärchen in sechs Bildern. Leipzig 1906. / Nikisch, Amélie: Prinz Adolar und das Tausendschönchen. Weihnachtsmärchen mit Musik. Manuskript (circa 1906): Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, GbTh/N. / Möller, Max: Meister Pinkepank oder Christnacht bei den SchneeElfchen. Weihnachtsmärchen in fünf Bildern. Leipzig 1908. / Ablass, J.: Die Wunderblume. Ein Weihnachtsmärchen mit Gesang und Tanz in 4 Aufzügen. Hamburg 1909. / Berthal, Hans: Klein Hannes, der Riese. Ein Weihnachtsmärchen mit Gesang und Tanz in 9 Bildern. Hamburg 1909. / Oesau, Ferdinand: Ein Märchen vom lieben Gott.
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Abenteuer-Spiel erfreuen sich großer Beliebtheit. Bekanntheit erlangt hier vor allem Gerdt von Bassewitz’ Peterchens Mondfahrt von 1912. Zwei Jahre später berichtet die Tägliche Rundschau begeistert von einer Inszenierung dieses Werks in Berlin: „Das Berliner Theater erfreute gestern Nachmittag viele große und noch viel mehr kleine Leute durch eine reizende Aufführung von Peterchens Mondfahrt, jenem allerliebsten Märchenspiel des jungen Dichters Gerdt v. Bassewitz, das schon vor einem Jahre im damaligen Deutschen Schauspielhaus an der Weidendammer Brücke in unzählige Kinderaugen so frohen Glanz gezaubert hat. Auch diesmal leitete Friedrich Zelnitz das Spiel, und Baluscheks farbenprächtige und gemütvolle Bühnenbilder sind auch die gleichen geblieben. […] so entfaltete denn das bekannte Märchenspiel wieder seinen ganzen volksliedhaften Zauber, und die vielen großen Kinderaugen, die wie gebannt an den abenteuerlichen Vorgängen auf der Erde, Mond und Himmel spiegelnden Bühne hingen, wurden von Akt zu Akt strahlender.“39
Wolfgang Schneider hingegen macht dem Stück gerade den von der Kritik gelobten Zauber und seine Märchenhaftigkeit zum Vorwurf. Er beschreibt Peterchens Mondfahrt als ein Werk „voll wirklichkeitsferner Elemente […], Ausdruck einer bürgerlichen Erziehungsideologie, die […] Kindern die Welt als heil vorgaukeln will.“40 Ebendiese Ausrichtung des Textes gründet auf zentralen Charakteristika von Görners Oeuvre, das für die Entwicklung des deutschen Weihnachtstheaters paradigmatisch war.
Weihnachtsmärchen in 6 Bildern. Musik von Carl Krüger. Manuskript (circa 1909): Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Gbk/O. / Auerbach-Beckmann, Fanny: Der Baum der Liebe. Ein Weihnachtsmärchen mit Gesang und Tanz in 3 Akten (6 Bilder). Für große und kleine Kinder. Erstaufführung am Thalia-Theater Hamburg am 12.12.1909. Manuskript: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, GbTh/A. / Lehmann-Haupt, Therese: Wie Klein-Else das Christkind suchen ging. Dramatisches Weihnachtsmärchen in 3 Aufzügen. Leipzig 1910. / Hillgenberg, Egon: Hans der Träumer. Weihnachtsmärchen in sieben Bildern. Hamburg 1911. / Albert, Emily: Im Himmel und auf Erden. Ein Weihnachtsmärchen. Hamburg 1912. / Diederich, Benno: Prinzessin Ursula: Ein Weihnachtsmärchen in fünf Akten. Leipzig 1912. 39 O.A.: „Aus dem Kunstleben“, in: Tägliche Rundschau, 3. Dezember 1914, S. 4. 40 Schneider, Geschichte des Kindertheaters, S. 11.
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4.3 G ÖRNERS W EIHNACHTSSTÜCKE
FÜR
K INDER
Anderen Genres des Unterhaltungstheaters entsprechend sind Görners Weihnachtsstücke auf inhaltlicher und formaler Ebene durch eine große Standardisierung gekennzeichnet, so dass man kein einziges als originäres Kunstwerk bezeichnen könnte. Die dramaturgische Gestaltung der einzelnen Stücke weist bemerkenswerte Übereinstimmungen auf, obgleich sie auf überaus vielfältigen Vorlagen basieren. Görner, der neben seinen kinderdramatischen Werken viele Schwänke, Possen und Lustspiele verfasst, veröffentlicht seit Mitte der 1850er Jahre Stücke für Kinder. Sein kinderdramatisches Schaffen umfasst mehr als dreißig Werke. Sieben Werke basieren auf Grimms Märchen, fünf auf Märchen Perraults, die restlichen „vermengen die unterschiedlichsten Stoffe aus dem gesamten Umkreis volkstümlicher Überlieferung von der lokalen Sage oder der Legende bis zum Kunstmärchen Andersens oder freien Eigenschöpfungen nach dem Modell der Feerie.“41 Sie kombinieren vor allem Elemente aufklärerischer Kinderschauspiele, englischer Christmas Pantomimes, französischer und deutscher Volks- und Kunstmärchen, von Zauberopern, des Wiener Volkstheaters und der französischen Feerie miteinander.42 Die Editionsform der Texte macht es heute nicht immer einfach, die Ausgaben zu datieren. 43 Viele Stücke liegen in mehreren Bearbeitungen sowie Ausgaben vor und sind manchmal mit keinem Erscheinungsjahr versehen. Die Änderungen sind oft nur geringfügig und entstehen nach Neuinszenierungen. Die Stücktexte stellen zum Teil eher Regiebücher denn dramatische Werke dar. Sie spiegeln eine Editionspraxis wider, die einen Text primär als Aufführungsmaterial, Gebrauchstext sowie Spielvorlage und erst sekundär als literarisches Werk begreift und behandelt. Dennoch lassen sich die Textbücher trotz der vielen vorliegenden Fassungen qualitativ in zwei Gruppen aufteilen. 1855/56 veröffentlicht Görner sechs Komödien, die in der Reihe Kindertheater erscheinen. 1864/65 legt er eine Neuauflage älterer und nun neu bearbeiteter Stücke unter demselben Titel vor. 44 Außerdem fügt er vier neue Stücke hinzu. In den bearbeiteten Stücken sind die Nebentexte stark erweitert und fordern einen intensiven Einsatz theatraler, musikalischer und technischer Effekte. Doch während Stücke wie Auf dem Hühnerhofe
41 Jahnke, Von der Komödie, S. 87. 42 Vgl. Bauer, Emanzipatorisches Kindertheater, S. 17. 43 Zur Editionspraxis vgl. Jahnke, Von der Komödie, S. 86f. 44 Görner, Carl August: Kindertheater. Berlin 1864.
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und im Walde45 oder Apfelbaum, Erdmännchen und Flöte hier noch als Komödien für Kinder deklariert sind, tragen schon die folgenden Ausgaben im Untertitel den Zusatz, unter dem Görners Werke dann bekannt und erfolgreich werden: Weihnachts-Komödien, ab 1879 dann Weihnachts-Märchen-Komödien.46 Manchmal finden sich im Untertitel noch Zusätze wie Feerie oder Zauberposse.47 Die Weihnachts-Komödien und Weihnachts-Märchen-Komödien sind im Vergleich zu den Komödien für Kinder vom Umfang stark erweitert und enthalten Szenen, die sich nicht in den stofflichen Vorlagen und frühen Bearbeitungen finden. Diese neuen optischen Bilder stehen häufig für sich und sind nicht in die dramatische Handlung integriert. Dem Fortgang der Handlung dienen sie nicht. Vielmehr sind sie in Hinblick auf eine szenische Realisation der Texte verfasst und vor allem szenischen Effekten vorbehalten. Abbildung 13: Schneewittchen
Kinder-Theater, Band 2, Berlin (1864)
Abbildung 14: Sneewittchen
Weihnachts-Komödien, Altona (1879)
45 Ders.: Auf dem Hühnerhofe und im Walde. Eine Kinder-Komödie in zwei Bildern. Neue Ausgabe. Berlin 1864 (Kindertheater. Band 3). 46 Zur schrittweisen Veränderung der dramaturgischen Modelle von Görners Stücken und ihren Charakteristika vgl. Dettmar, Theaterzauber. 47 Vgl. etwa Görner, Carl August: Prinzessin Immergrün und Prinz Eiszapfen. OriginalWeihnachtskomödie (Feerie) in 4 Aufzügen mit Gesang und Tanz. Altona 1873. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.
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4.3.1 Musik Die musikalische Gestaltung der Inszenierungen von Görners Weihnachtsmärchen ist heute aufgrund der Quellenlage nur mit Einschränkungen rekonstruierbar. Die Werke werden als Textbücher ohne Noten vertrieben, die Gestaltung der Schauspielmusik obliegt dem jeweiligen musikalischen Leiter eines Theaters bzw. einer Produktion. Jedoch geben die Textbücher durchaus Aufschluss darüber, an welchen Stellen bei einer Aufführung Musik zum Einsatz kommen soll. Oftmals findet sich an bildstarken Stellen oder bei kleinen szenischen Aktionen der Vermerk „Musik“.48 Manchmal sind Texte für Chöre (vgl. Aschenbrödel,49 V. Aufzug, 6. Szene) enthalten. Selten haben einzelne Figuren kurze Lieder zu singen. Laut der Textbücher ist der Anteil an Musik recht gering. Zahlreiche Anmerkungen Görners im Nebentext spiegeln zudem eine große Freiheit in der musikalischen Detailgestaltung wider. Zum Teil überlässt es der Autor vollkommen den Verantwortlichen einer Inszenierung, welche Musiknummer und Figur etwa einander zugeordnet werden, oder ob Chor oder Ballett zum Einsatz kommen.50 „Wenn die Darstellerin der Minona nicht singen kann, übernimmt Zilli ihren Gesang, und sagt dann Minona: ‚Zilli, theile der kriegerischen Schaar meinen Tagesbefehl mit.‘ Soll der Gesang ausfallen, so wird nach den Worten: ‚Wir sind es!‘ noch nachfolgender Dialog eingeschoben.“ (Der Mann mit der langen Nase, IV. Bild, 4. Szene)
48 Vgl. beispielsweise in Dornröschen: „Urian (satyrisch lächelnd). Hat’s getroffen? Das kommt vor! (Dreht ihnen ein Näschen) Musik. Starker Accord.“ Görner, Carl August: Prinzessin Dornröschen. Weihnachts-Märchen-Komödie in fünf Aufzügen. Nach dem gleichnamigen Märchen frei bearbeitet. Hamburg 1879 (Weihnachts-MärchenKomödien. Band 4), I, 2. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 49 Görner, Carl August: Aschenbrödel, oder: Der gläserne Pantoffel. WeihnachtsMärchen-Komödie in sechs Aufzügen. Nach dem gleichnamigen Märchen bearbeitet. Hamburg 1879 (Weihnachts-Märchen-Komödien. Band 2). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 50 Vgl. beispielsweise in Der Mann mit der langen Nase: „Wo kein Ballett vorhanden ist, fragt Chasid: Sind meine Sänger in Ordnung.“ Ders.: Der Mann mit der langen Nase. Weihnachts-Zauberposse in 5 Bildern. Nach einem Märchen frei bearbeitet. Berlin 1879, V, 5. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.
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Musik übernimmt dementsprechend vorrangig dramaturgische, strukturelle und persuasive Funktionen.51 Sie verknüpft Szenen miteinander, ist atmosphärisch illustrativ, charakterisiert Orte, konstituiert (wenn auch nur marginal) Figuren und emotionalisiert gegebenenfalls Zuschauer. Die Texte überlassen dabei musikalischen Leitern eine große Gestaltungsfreiheit in der Konzeption von Musik, die an spezifische Inszenierungen gebunden und möglicherweise eng mit einem Inszenierungstext verwoben ist. Auch im 20. Jahrhundert veröffentlichte Ausgaben von Görners Werken zeugen von einer enormen Variabilität des musikalischen Textes. Eine 1925 erschienene Neufassung von Schneewittchen und die sieben Zwerge52 vermerkt hingegen im Untertitel, dass die Musik dieser Ausgabe von Walter Angermeyer komponiert und der Text nach Görner sei. Die Fassung nimmt insofern eine Akzentverschiebung auf Ebene der Autorschaft vor, als dem Komponisten eine deutlich zentralere Position als dem eigentlichen Autor eingeräumt wird.
4.3.2 Dramaturgische Besonderheiten Görners Weihnachts-Märchen-Komödien für Kinder sind trotz der zahlreichen Vorlagen, Einflüsse anderer Genres und intertextuellen Bezüge durchaus Texte sehr eigener Prägung. Zumeist hält sich der Autor an die Ereignisabfolge der Prosavorlagen, wobei oftmals viele Details der Handlung verändert und Figuren hinzugefügt werden. Alle Stücke haben vier bis sieben Bilder bzw. Aufzüge, die Figuren sind stets typenhaft, der dramaturgische Aufbau ist leger. Häufig kombiniert Görner mehrere Märchen miteinander. Sein Märchen Klein Däumling, Rapunzel mit dem langen Haar und Riquet mit dem Schopf basiert beispielswei-
51 Zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Schauspielmusik vgl. die Studien von David Roesner und seine Übertragung einer von Claudia Bullerjahn entwickelten Kategorisierung von Filmmusik auf Schauspielmusik: Roesner, David: „No more ‚unheard melodies‘– Zwölf Thesen zur Schauspielmusik im zeitgenössischen Theater“, in: etum – E-Journal for Theatre and Media. Band 2 (2015), S. 11-30. / Bullerjahn, Claudia: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik. Augsburg 2001. 52 Angermeyer, Walter: Schneewittchen und die sieben Zwerge. Ein Märchenspiel mit Musik und Kinder-Ballett in sechs Bildern. Text (nach C. A. Görner) und Musik von Walter Angermeyer. Leipzig 1925.
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se, wie auch im Untertitel angegeben, auf den „drei gleichnamigen Märchen“.53 Das erfolgreichste Weihnachtsmärchen Görners Aschenputtel, oder: Der gläserne Pantoffel ist eine Montage von Perraults Cendrillon ou La petite pantoufle de verre mit Grimms Aschenputtel. Während sich der Verlauf der Handlung auf Perraults Märchen stützt, folgen die Figurenmotivationen der Fassung der Brüder Grimm. Auf eine Bezugnahme auf das Weihnachtsfest wird auf Ebene der dramatischen Handlung prinzipiell verzichtet. Der Hinweis in den Stücktiteln auf Weihnachten ist somit nicht Ausdruck einer inhaltlichen Setzung, sondern einer bewusst in Anschlag gebrachten Vermarktungsstrategie und Bezugnahme auf den Aufführungskontext. Mithilfe verschiedener, vielschichtiger Verfahren erzielt Görner eine Didaktisierung und Moralisierung seiner Stücke. Die Stoffe deutet er gewissermaßen um. Wie die für einen häuslichen Kontext verfassten Kinderschauspiele, die im Sinne eines auf Autoritätshörigkeit fußenden Erziehungsideals zu tugendhaftem Verhalten erziehen möchten, sind seine Texte klar in den Dienst einer Belehrung der Rezipienten gestellt. Die Idee vom Theater als moralischer Anstalt wird auf die Weihnachts-Märchen-Komödien übertragen. In fast ausnahmslos allen Texten finden sich stark moralisierende Passagen, in denen die jungen Hauptfiguren, mögliche Identifikationsfiguren der kindlichen Zuschauer, allesamt auf die Wichtigkeit christlich tugendhaften Verhaltens hingewiesen werden. Sie finden sich nicht selten kurz vor der Schlussapotheose. In Die Hexe vom Süllenberg, oder: Die Unterirdischen bei Blankenese, und: Die Schwestern in Eppendorf54 wendet sich die Hexe direkt vor ihrem Abgang noch einmal an das Mädchen Traude. Ihre letzten Worte sind zugleich auch eine episierende Sequenz, mit der sie ein Publikum ansprechen und in Form eines Lehrsatzes die Moral von der Geschichte folgendermaßen kommunizieren kann: „Vergönne mir noch einen Blick / Bevor ich scheide, fromme Maid / Die meinem Dienste sehr geweiht / Die nie verließ der Tugend Pfad / Die Gutes nur, nie Böses that / Dem
53 Görner, Carl August: Klein Däumling, Rapunzel mit dem langen Haar und Riquet mit dem Schopf. Weihnachtskomödie in fünf Aufzügen. Nach den drei gleichnamigen Märchen bearbeitet. Altona 1874 (Deutsches Theater. Band 28). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 54 Ders.: Die Hexe vom Süllenberg, oder: Die Unterirdischen bei Blankenese, und: Die Schwestern in Eppendorf. Nach alten Chroniken und Dr. O. Beneke’s „Hamburgische Geschichte und Sagen“. Hamburg 1883 (Weihnachts-Märchen-Komödien. Band 17). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.
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Feind gold’ne Brücke baut / Und Gott vertraut. / Bau ferner auch auf Ihn / denn wer dem Herrn vertraut / Hat wohl gebaut.“ (Die Hexe vom Süllenberg, VII. Bild, 4. Szene)
In diesem Sinn wird in keiner Komödie an einer göttlichen Allmacht oder elterlichen Autorität grundsätzlich gezweifelt. Görner verändert sämtliche Vorlagen dahingehend, dass sich am Ende das Prinzip der friedfertigen Versöhnung durchsetzt. Deshalb tanzt sich beispielsweise in Sneewittchen55 die böse Stiefmutter nicht in glühenden Pantoffeln zu Tode. Großmütig erklärt die Hauptfigur: „Sneewittchen verzeiht – und vergißt, / Denn nie muß man Böses mit Bösem vergelten!“ (Sneewittchen, V. Aufzug, 6. Szene) Bei Görner triumphiert also das Gute nicht, wie in vielen Märchen üblich, indem es das Böse ganz einfach eliminiert. Stattdessen nähern sich die Beteiligten einander an. Auch in Prinzessin Dornröschen glänzt die Titelfigur mit mustergültig tugendhaftem Verhalten, demonstriert Mitgefühl und Bescheidenheit. Auf inhaltlicher und formaler Ebene distanziert sich Görners Märchen entschieden von der Vorlage der Brüder Grimm. Es ist in fünf Aufzüge unterteilt, wobei der erste bei den Feen situiert ist, der zweite Dornröschens Taufe darstellt, der dritte 15 Jahre später spielt, im vierten der Spuk der bösen Fee in Erfüllung geht und der fünfte das Erwachen 100 Jahre später darstellt. Während bei den Grimms Dornröschen im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte die Tür zum Raum mit der Spindel öffnet, somit ein Stück weit autonom handelt, wird sie bei Görner auf Veranlassung der mächtigen Fee Dornrosa durch Musik verzaubert (vgl. Prinzessin Dornröschen, V. Aufzug, 1. Szene). Sie handelt dementsprechend nicht eigenverantwortlich, ist fremdbestimmt, naiv und jeglicher Schuld gleichsam enthoben. Dornröschen setzt der Sphäre des Wunderbaren eine große rationale Kraft entgegen, die nur mithilfe von Zauber entkräftet werden kann. Aufgrund ihrer durchweg positiven Charakterzeichnung und exponierten Gottesgläubigkeit wird sie geradezu in ein moralisches Vorbild transformiert. „Dornröschen: Dem lieben Gott bring’ ich knieend Deinen Dank; Nicht mir, dem staubgeborenen Menschenkinde! [...] (freudig herumspringend). Ach, wie glücklich ich mich fühle, eine Prinzeß zu sein, und Gutes thun zu können. Aline: Du bist die Liebe und die Güte selbst.
55 Ders.: Sneewittchen und die sieben Zwerge. Weihnachts-Märchen-Komödie in fünf Aufzügen. Nach dem gleichnamigen Märchen frei bearbeitet. Hamburg 1879 (Weihnachts-Märchen-Komödien. Band 3). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.
142 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR Jucunde: Die Freude deines Vaters! Narr: Der Stolz des ganzen Landes! Dornröschen: Weil ich mich der Nothleidenden annehme? Ist’s denn nicht meine Pflicht, zu helfen, wo ich kann? Urian: Nicht alle Prinzessinnen denken so wie Du. Dornröschen: Ei! Dann sind es keine echten! Doch schaut nur, schaut nur, wie blau der Himmel ist. Die Sonne scheint so hold, so schön herab auf Bäume und Blumen, und Balsamdüfte dringen durch die Luft! Ach, wie schön hat doch der liebe Gott die Welt gemacht!“ (Ebd., III. Aufzug, 4. Szene)
Durch die Hinzufügung einer solchen Szene, in der Dornröschen Bittschriften des Volkes entgegennimmt und ihre privilegierte Position als Prinzessin reflektiert, oder durch Hinzufügung biografischer Details wird Empathie erzeugt und die positive Charakterisierung verstärkt. Dornröschen verliert beispielsweise ihre Mutter. Indem der Figur eine Biografie verliehen wird, wird sie gleichsam vermenschlicht und an die Lebenswirklichkeit der Rezipienten angenähert.56 Das Handeln der Hauptfiguren ist bei Görner nach christlichen Grundsätzen ausgerichtet und folgt den Tugenden der Barmherzigkeit, Nächstenliebe und Wohltätigkeit. Rührselige und komische Szenen werden einander immer wieder kontrastierend gegenübergestellt. In manchen Stücken werden obendrein Tugenden deutschtümelnd vereinnahmt. Der Text suggeriert dann, dass es sich hierbei um typisch deutsche Charaktereigenschaften handele. So beendet der Winter etwa Prinzessin Immergrün und Prinz Eiszapfen57 mit den Worten: „Ich führe ihn und sie nach einer Zone hin, [...] wo deutsche Treue herrscht und deutsche Redlichkeit.“ (Prinzessin Immergrün und Prinz Eiszapfen, IV. Aufzug, 9. Szene) Das in Märchen zumeist angelegte utopische oder subversive Element verstärkt Görner hingegen nicht. Seine Interpretationen der Märchen sind stattdes-
56 „Dornröschen etwa wird in Görners Fassung Halbwaise, was in der Folge nicht nur zu innigen Szenen zwischen Vater und Tochter führt, sondern der Prinzessin darüber hinaus zu einem Auftritt als treusorgende Landesmutter verhilft.“ Dettmar, Theaterzauber, S. 41. 57 Görner, Carl August: Prinzessin Immergrün und Prinz Eiszapfen. Original Weihnachtskomödie (Feerie) in 4 Aufzügen. Hamburg 1879 (Weihnachts-MärchenKomödien. Band 7). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.
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sen im Sinne eines didaktischen Prinzips konzipiert, das auf der Vermittlung von Tugendkatalogen basiert. Sie sollen zu gehorsamem Verhalten und zu ungebrochenem Respekt der göttlichen Allmacht sowie elterlichen Autorität gegenüber führen und demonstrieren darüber hinaus funktionierendes loyales Untertanentum. Damit stellt Görner die Stücke in den Dienst eines im Deutschen Kaiserreich vorherrschenden Erziehungsideals. Er installiert ein verhältnismäßig starres Gerüst an Verhaltensregeln und entwickelt keine Gegenentwürfe, eine Haltung, die ihm vor allem in den 1960er und 1970er Jahren rückwirkend zum Vorwurf gemacht wird. Melchior Schedler etwa kritisiert den für die Ideologie des wilhelminischen Imperialismus typischen „Rückzug in mythische Harmoniewelten und ein mittelalterlich drapiertes historisch-gesellschaftliches Vakuum“58 sowie die „umfassende Wirklichkeitsverschleierung“59. Mit seinen Märchen bestätigt Görner populäre Erziehungsmaximen seiner Zeit und funktionalisiert Kindertheater als pädagogisches Instrument im Sinne bürgerlicher Ideologien. Jedoch gibt er seine Werke als weihnachtlichen Märchenzauber aus, wenngleich es auf Ebene der Handlung normalerweise keinen konkreten Bezug zu Weihnachten gibt. Anders als bei den Stücken Weißes werden den Kindern keine klaren Handlungsanweisungen für das weihnachtliche Fest mit auf den Weg gegeben, außerdem werden sie nicht selber zum Spielen animiert. Die Stücke vermitteln allgemeine Handlungsmaximen. Sie wollen im Rahmen eines passiven Kunstkonsums und mithilfe einer „erlebnisorientierten Ästhetik“60 belehren, unterhalten sowie überwältigen. Hierfür greifen sie geschickt auf Stoffe zurück, die den Kindern zumeist von zu Hause vertraut sind: Spätestens seit den Veröffentlichungen der Brüder Grimm sind Dornröschen, Aschenputtel oder Schneewittchen Teil eines deutschen Bildungskanons, der Kindern im Rahmen von häuslicher Lektüre oder mündlicher Tradierung vermittelt wird.
4.3.3 Bilddramaturgie Neben den moralisierenden und didaktischen Tendenzen weisen sämtliche Weihnachts-Komödien und Weihnachts-Märchen-Komödien ein Charakteristikum auf, das absolut stilbildend ist und diesen Stücken in der Theaterpraxis immensen Erfolg beschert hat: Sie sind allesamt auf dramaturgischer Ebene einer
58 Schedler, Kindertheater, S. 51. 59 Ebd., S. 87. 60 Dettmar, Theaterzauber, S. 48.
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Bilddramaturgie verpflichtet, die zahlreiche Möglichkeiten zur Erzeugung komischer und überwältigender szenischer Effekte bei einer visuellen Präsentation der Werke bereithält.61 An ihrer Oberflächenstruktur wird erkennbar, dass sie in Hinblick auf eine szenische Umsetzung voll prunkendem Schein verfasst und voller szenischer Phantasie sind. In manchen Nebentexten rekurriert Görner sogar explizit auf Illustrationen des berühmten französischen Künstlers Gustav Doré.62 Er schafft mit seinen dramatischen Texten die Voraussetzungen für fulminante Bilder, die Darstellungen der bildenden Kunst in ihrer kraftvollen visuellen Wirkung gleichen. In ausführlichen, langen Nebentexten sind minutiöse Angaben zur Ausstattung, zu technischen Vorgängen, offenen Verwandlungen, Licht, Kostüm, Bühne und Musikeinsatz vergeben. Dramaturgische Stilmittel wie Exotismen, rasante Ortswechsel, der Einsatz unzähliger Nebenfiguren und Gruppen, ständig wechselnde Figurenkonfigurationen und rasche Szenenfolgen bilden die textliche Basis für ein spektakuläres, dynamisches Bühnengeschehen. Für den ersten Aufzug von Dornröschen etwa fordert Görner einen „prachtvollen Feenhain, mit phantastischen Tropenpflanzen“, in dem „bewegliche Fontainen“ stehen und dessen Bühnenmitte mit „einer großen Gruppe hoher, großblättriger, blühender Blumen“ und mit „Blumenketten“ geschmückt ist (vgl. Dornröschen, I. Aufzug, 1. Szene). In Aschenbrödel soll es „elektrische und bengalische Beleuchtung“ geben (vgl. Aschenbrödel, V. Aufzug, 7. Szene). Eine ausführliche Anmerkung Görners am Ende der 1877 erschienenen Ausgabe von Prinz Papagei, die Angaben zu Kostüm, Requisiten, Besetzung, dem Einsatz von Chor und Ballett, technischen Vorgängen und der Durchführung von Bühnentricks umfasst, kann ebenfalls als exemplarisch angeführt werden. Auffällig an diesem Nebentext ist zudem die Tatsache, dass der Autor hier mannigfache Aufführungskontexte bereits einkalkuliert und szenische Alternativlösungen nennt:
61 Vgl. Nic Leonhardt und ihre Verwendung des Terminus „Dramaturgie der Bilder“ für „die Vielfalt der Bilder in begrifflicher, ästhetischer und funktionaler Hinsicht“ im deutschen Theater zwischen 1869 und 1899, die eine „Dominanz visueller über sprachliche Elemente in den Aufführungen“ bedeuteten. Vgl. Leonhardt, Nic: Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899). Bielefeld 2007, S. 148ff. 62 Vgl. etwa: „Alle in diesem Stück aufgeführten Illustrationen von Doré sind in dem Buch: Märchen, neu erzählt von Moritz Hartmann, illustriert von Doré – Stuttgart, bei Eduard Hallenberger, zu finden.“ Görner, Rapunzel, o.S.
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„Der Doppel-Chor No. 2 kann, wenn Kürzungen stattfinden sollen, gestrichen werden. Ebenso der Chor No. 4, doch muß dafür alsdann ein kurzer, wilder Tanz aufgeführt werden. Wo kein Ballett-Personal vorhanden, werden die Chöre Nr. 3, 4 und 5 durch Gruppierungen belebt. Die angegebenen Ballett-Einlagen dürfen nur kurze Zeit in Anspruch nehmen, damit der Gang der Handlung nicht darunter leidet. Lange Tänze sind durchweg zu vermeiden. Bindi bandi barbelbuch erscheint mit einer rüsselartigen Nase. Damit das Erscheinen des Papageis präcis und ohne die Handlung aufzuhalten geschehen kann, müssen mindestens drei ganz gleiche Papageien vorhanden sein. Die Moosleute und Zwerge werden von Kindern dargestellt, und der Chor der Moosleute kann vom Chor-Personal hinter den Coulissen gesungen werden. Die Springwurzel hat die Gestalt einer kleinen gewöhnlichen Wurzel und ist blätterlos. Das Wunderkraut, der Alraun (Galgenmännchen), ist die gewöhnliche Alraunpflanze mit der Wurzel. Die Wurzel ist zweigespalten und hat menschenähnliche Gestalt. Oben hat sie breite grüne Blätter und gelbe Blumen. Daß das Oeffnen der Diamant-Kapsel – worin sich das goldene Haar befinden soll – dem Publikum gegenüber nicht sichtbar zu sein braucht, versteht sich wohl von selbst. Eben so wenig darf das Zertrümmern des Käfigs (bei mangelhafter Maschinerie), das Verschwinden des Papageis, sowie die Erscheinung des Prinzen im Käfig sichtbar werden. Der Käfig hat einen Klapp-Boden, und wird die ganze Metamorphose durch die Versenkung geleitet. Das Verschwinden der Katzen- und Schafsköpfe muss sorgfältig vorbereitet werden, und darf kein Kopf mehr nach der Metamorphose auf dem Podium liegen bleiben, oder wohl gar weggestoßen werden. Nichts ist lächerlicher, als wenn das Publikum die Zauberkunststücke verunglücken sieht und die Leitung derselben bemerkt. Stopp’s Luftspaziergang muß sorgfältig probiert und ausgeführt werden.“63
In diesem Sinn sind in allen Stücken erstens in die Szenen integrierte, einzelne szenische Aktionen, zweitens ganze Szenen, drittens ganze Aufzüge und viertens Schlussapotheosen bildstarken Attraktionen vorbehalten, die sich nicht in den Vorlagen finden. Während manche dieser bildstarken Momente durchaus eine, wenn auch geringe, dramaturgische Funktion besitzen, ist die Mehrzahl ohne jegliche Relevanz für den Fortgang der dramatischen Handlung. Vor allem kleinere, in Form von Regieanweisungen in Dialoge integrierte Anweisungen für kürzere szenische Aktionen von Haupt- und Nebenfiguren sowie Statisten dienen der Erzeugung von Situationskomik und entschleunigen den Fortgang der Handlung. Oftmals fordert der Nebentext hier zu intensivem, extrem körperlichem Spiel auf, bei dem zumeist Requisiten zum Einsatz kommen. Wenngleich diese Momente in einer gewissen Weise der Figurencharakterisierung dienen und
63 Görner, Carl August: Prinz Papagei. Weihnachts-Komödie mit Gesang und Tanz in fünf Aufzügen. Nach einem Märchen bearbeitet. Altona 1877, S. 87.
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dementsprechend durchaus eine dramaturgische Funktion besitzen, sind sie jedoch keinesfalls dramaturgisch unverzichtbar, wie ein Beispiel aus Aschenbrödel demonstriert: „König: Schön also ist sie, meinst du, Wiedekopf? [...] Davon werden wir uns überzeugen! (Zieht eine große Lorgnette vor und putzt sie, alle Herren ziehen ebenfalls Lorgnetten und Brillen hervor und putzen sie.) Ich bin ein alter Praktikus, und lasse mir kein X für ein U machen. (Der Prinz führt Aschenbrödel herein. Alle legen die Lorgnetten und Brillen an und betrachten sie neugierig.)“ (Aschenbrödel, III. Aufzug, 7. Szene)
An manchen Stellen ist der dramatische Text geradezu durchchoreografiert. Wie in einem Regiebuch ist der Rhythmus des Geschehens auf der Szene vorgegeben. Figurenrede, Regieanweisungen mit Informationen zu Musik und Bewegung wechseln sich ab, so dass bei einer textnahen Inszenierung nicht viel Interpretationsspielraum bleibt: „Musik. Starker Accord. Alle (untereinander): Sie erwacht? (Von nun an unter Tremolo.) Dornrosa (sich langsam erhebend): Ist Urian hier? Urian (indem er sich nähert. Mit komischer graziöser Verbeugung): Aufzuwarten, Euer Gnaden! (Für sich.) Immer höflich kann nicht schaden. (Das Blatt, worauf Dornrosa liegt, neigt sich zur Erde.) Dornrosa (zu den Nymphen, indem sie das Blatt verläßt.): Zieht zurück Euch! (zu Urian) Nah’ Dich mir! (Dornrosa zieht sich mit Urian in den Vordergrund – die Nymphen treten zurück, die Schmetterlinge auf dem Blumenhügel verschwinden.) Die Musik hört auf.“ (Dornröschen, I. Aufzug, 2. Szene)
Deutlich imposanter sind vor allem die großformatigen Szenen und Aufzüge, die bei einer szenischen Umsetzung des Textes fulminante Bildwirkungen entfalten können. Diese Passagen sind in den Textbüchern nicht in die Figurenrede integriert und stehen in Form langer Regieanweisungen für sich. Sie dienen primär dem szenischen Effekt und der Erzeugung von Illusion, obschon ihnen insofern eine dramaturgische Funktion zufällt, als sie den Schauplatz und Ort der Handlung illustrieren. Prächtige Ballette, üppige Chöre und der Einsatz zahlreicher Statisten gestatten spektakuläre, fein choreografierte Auftritte und Tableaux, in
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denen die Figuren sich singend oder/und tanzend zu einem Bild gruppieren. In geradezu barocker Manier kann das Theater als Ort der Fülle und szenischen Reichtums, als Zaubertheater brillieren. Belebte Gegenstände, tanzende Tiere, Verwandlungen von Menschen in Tiere und vermenschlichte Pflanzen erschaffen auf der Bühne eine Welt der Wunder und entführen die Zuschauer in ferne, märchenhafte Reiche. Diese Welt des Übernatürlichen und Contraempirischen ist oftmals zunächst aus der dramatischen Märchenhandlung motiviert, verselbständigt sich dann aber gleichsam und verstärkt das auf Ebene der Handlung angelegte phantastische Potential. In Der Mann mit der langen Nase etwa werden bei einer Verfolgungsjagd Besen geschwungen. Diese beleben sich plötzlich aber und entwickeln gegen sämtliche Gesetze der Wahrscheinlichkeit ein beachtliches Eigenleben, dem ein enormes komisches Potential innewohnt. Sie greifen ihre Träger an, die Machtverhältnisse zwischen Mensch und Gegenstand kehren sich gewissermaßen um. Den Besen wird auf diese Weise eine doppelte Bedeutung zugewiesen: Zum einen dienen sie auf Ebene der Handlung als funktionstragendes Requisit, mit welchem dem flüchtenden Besenbinder Mukukuk gedroht wird, zum anderen können sie bei einer Aufführung das Publikum überraschen, visuell beeindrucken sowie zum Lachen bringen. „Alle (indem sie die Besen schwingen): Ihm nach! Alle wenden sich zum Abgang, in demselben Augenblick springen die Besen aus ihren Händen, tanzen in der Luft herum und theilen rechts und links Prügel aus. Alle (schreien): Hülfe! Hülfe! Wollen nach verschiedenen Seiten entfliehen, aber aus allen Wänden springen ihnen lange Besen entgegen, die auf sie einhauen und jeden Ausgang decken. Aus der Luft senken sich tanzende Besen herab, die auf die Fliehenden stoßen. Zugleich stürzen aus dem Hintergrunde, so wie aus allen Wänden eine Menge kleiner Besengeister hervor, die auf die Fliehenden prügeln. Wohin man sieht, nur prügelnde Besen.“ (Der Mann mit der langen Nase, II. Bild, 3. Szene)
Auch in Aschenbrödel ist ein ganzer Aufzug überwiegend szenischen Aktionen und nur geringfügig dialogischen Passagen vorbehalten. Dieses als „Ein Ball in der Küche“ betitelte Bild ist als große szenische Aktion konzipiert. Damit Aschenbrödel, die den Auftrag erhalten hat die Küche zu putzen, erneut zum Ball gehen kann, übernimmt Syfax die Aufgabe und leitet die Reinigung. Doch plötzlich treten überraschend Figuren wie Kobolde und Heinzelmännchen, die ansonsten nicht an der Handlung beteiligt sind, auf den Plan. Sie putzen und beginnen dann mit dem Gemüse und der Küchenausstattung einen großen Tanz:
148 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR „Musik. Aus allen Schränken, Kasten, aus dem Rauchfang und dem Feuerherd, sowie aus Erdlöchern kommen Heinzelmännchen, Heinzelfrauen und Kobolde geschlüpft. [...] Alle laufen wild durcheinander. Einige klettern auf die Schränke, andere beschäftigen sich im untern Küchenraum, auf dem Herd usw. Es wird abgestäubt, ausgefegt, das Geschirr abgewischt, während mehrere verschiedene Gemüse (in natürlicher Größe, als Kohl, Rüben, Zwiebeln, Pilze) aus dem Schrank nehmen und in den am Feuerherd stehenden großen Wasserkessel werfen. Einige gießen dann Wasser in den Kessel, rühren das Gemüse, usw. Das kleine Gemüse quillt auf und wird gewaltig groß. Es wird herausgezogen und fängt an zu tanzen. Sowie das die Heinzemännchen sehen, fangen auch sie an zu tanzen. Der Tanz wird allgemein und steigert sich bis zum Schluße des Aufzugs. Alles Geschirr, Teller, Schüsseln, Terrinen, Kessel, Mörser, Bänke, Eimer – kurz – alles, was sich auf der Bühne befindet, tanzt; selbst der große Eselkopf im Wappen neigt sich nach dem Takt, nach links und nach rechts. Schließlich endet das Tableau mit einer großen komischen Gruppe. Der Vorhang fällt langsam.“ (Aschenbrödel, IV. Aufzug)
Während dieses Bild noch in einem gewissen Zusammenhang zur Handlung steht, gibt es in allen Weihnachts-Märchen-Komödien szenische Aktionen, die keinesfalls aus der Handlung motiviert sind: Alle Stücke enden nämlich mit Apotheosen, in denen sich noch einmal sämtliche Figuren auf der Bühne treffen. Häufig kommt zusätzliches Personal hinzu. Diese Schlussapotheosen ermöglichen eine bildhafte Anordnung aller Mitwirkenden „mit besonderer Akzentuierung der Anschaulichkeit“.64 Zugleich entlarven sie die Theaterhaftigkeit der vorhergegangenen Aktionen, da sich nun die Figuren außerhalb der Fiktion der dramatischen Handlung präsentieren. Für das Ende von Die Hexe vom Süllberg fordert Görner etwa neben den beteiligten Figuren Gestalten zahlreicher Märchen auf der Bühne, so dass die Apotheose hier (mit einer gewissen Beliebigkeit) einen weiten Assoziationsraum öffnet: „Merlin, umgeben von Feen und Genien, sitzt auf einem hohen Berge – vor einem hohen Glaspallast. Vom Berge herunter, bis zum Vordergrund des zauberhaften Gartens, Gruppen aus allen bekannten Märchen: Aschenbrödel, Dornröschen, Sneewittchen, Rothkäppchen, Frau Holle usw.“ (Die Hexe vom Süllberg, VII. Bild, 4. Szene)
In einem anderen Stück hingegen, in Prinzessin Immergrün und Prinz Eiszapfen, übernimmt die Apotheose eine weitere Funktion, indem sie augenscheinlich Lokalkolorit herstellen soll und eine Verbindung zwischen Bühnenfiktion und dem realen Ort der Aufführung aufbaut:
64 Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie, S. 152.
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„Im Hintergrunde erblickt man, hoch in der Luft, gleich einer Fata Morgana, eine Ansicht von Berlin mit dem königlichen Schlosse, im hellsten Sonnenschein. (Die Decoration ist jedes Mal nach dem Lande zu ändern, in welchem das Stück aufgeführt wird.)“ (Prinzessin Immergrün und Prinz Eiszapfen, IV. Aufzug, 9. Szene)
4.3.4 Aufführungspraxis Da Görners Bühnenentwürfe nicht mehr existieren, ist die Ausstattung seiner Regiearbeiten heute nur noch eingeschränkt rekonstruierbar. Eine 1869 im Hamburger Sonntagsblatt erschienene Sonderbeilage zu Görners Inszenierung von Sneewittchen kann aber wohl als exemplarisch gewertet werden.65 Abbildung 15: Sneewittchen
Arnold Guillaume, in: Hamburger Sonntagsblatt (1869)
Die Zeichnungen Arnold Guillaumes zeigen üppig dekorierte Bühnen voller sorgsam arrangierter Gruppen von mindestens 80 Darstellern in phantasievollen Kostümen, die tanzen, akrobatische Kunststücke vollführen, durch die Luft fliegen, schweben oder Musik machen.66 Die Grafiken vermitteln den Eindruck eines sinnenfreudigen, abwechslungsreichen, unterhaltsamen und aufwendigen Spektakels. Der laut Tornau einzige überlieferte, zu Frau Holle entstandene
65 Vgl. Guillaume, Arnold: „Zeichnungen zu C. A. Görners Sneewittchen“, in: Hamburger Sonntagsblatt. Sonderbeilage, 6. Januar 1869, S. 1f. 66 Tornau geht davon aus, dass zumeist auch Kinder als Statisten, Choristen oder Tänzer beteiligt waren. Vgl Tornau, Weihnachtsmärchen, S. 284.
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Bühnenentwurf Görners wiederum scheint dies zu bestätigen. Tornau konstatiert, das Bild sei voll mit „Göttern, Genien, Muscheln und Wasserfontänen“ und habe „Anklänge an barocke Festdekorationen“.67 Zeitungskritiken von Premieren, Wiederaufnahmen oder Neuinszenierungen der Weihnachtsmärchen Görners durch andere Regisseure heben zumeist ebenfalls die aufwendige Ausstattung und Dekoration hervor.68 1872 kritisiert ein Journalist im Hamburgischen Correspondent beispielsweise die zunehmende Dominanz eines überbordenden, sinnentleerten Bühnenzaubers bei den Inszenierungen von Weihnachtsmärchen: „Mit den Weihnachtsmärchen [...] ist man im Stadttheater neuerdings auf Abwege geraten. Wenn anfänglich das Hauptgewicht darauf gelegt wurde, ein dem kindlichen Verständnis angepaßtes Stück vorzuführen [...] und diesem Stück nur soviel an äußerer Ausstattung hinzuzufügen [...] wie nötig schien, um es auch dem erwachsenen Publikum genießbar zu machen, hat man von Jahr zu Jahr auf die äußere Ausstattung mehr Gewicht gelegt, diesem Publikum durch größere Balletteinlagen größere Conzessionen gemacht, und so ist man denn geradezu dahingekommen, daß man Decoration und Maschinen von den größten Lenkern in diesem Fach bezieht, von den Geschwistern Wallach Kostüme dazu dichten läßt, und endlich einen Buchmachermeister damit beauftragt, ein Stück dazu zusammenzuleimen. So werden die Märchen blendend und glänzend genug, aber ihren eigentlichen Zweck, den Kindern zu harmloser Ergötzung zu dienen, verfehlen sie mehr und mehr.“69
Die auf dramaturgischer Ebene belegbare Bilddramaturgie von Görners Weihnachtsmärchen findet augenscheinlich im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert fast immer im Rahmen der szenischen Umsetzung eine Entsprechung auf der Bühne, wenngleich die Aufführungspraxis von Görners Stücken selbstverständlich in Folge unterschiedlicher Produktionsbedingungen, Aufführungsorte sowie Kreativteams beachtlich variiert. Nicht zuletzt bedürfen auch die allseits bekannten Märchenstoffe gewisser Varianzen und überraschender (szenischer) Effekte, um abwechslungsreich zu bleiben. Viele Zeitungskritiken unterstützen die These eines recht freien Umgangs zahlreicher Regisseure mit den Vorlagen Görners. Teilweise werden sogar Ausstattungen anderer Produktionen
67 Ebd., S. 276. 68 Vgl. hierzu die Arbeit von Tornau. 69 Hamburgischer Correspondent, 3. Dezember 1872, zitiert nach Tornau, Weihnachtsmärchen, S. 259f.
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wiederverwertet.70 Manche Regisseure versuchen auf visueller Ebene eine stärkere Bezugnahme auf das Weihnachtsfest zu erzielen. 1902 steht beispielsweise bei einer Hamburger Inszenierung von Aschenbrödel am Ende auf der Bühne „Aschenbrödel mit seinem Prinzen vor der Krippe mit dem Christuskindlein“, die „Engel in weißem Kleide mit schimmernden Flügeln [singen] fromme Weihnachtslieder“ und „goldene Flocken [rieseln] über die schöne Gruppe“. 71 Dementsprechend sei alles „Glanz und Glück und Seligkeit“.72 Doch wenngleich einige Vorschläge Görners für bühnentechnische Vorgänge auch deshalb nicht umgesetzt werden, weil sie immense personelle, finanzielle und technische Ressourcen erfordern, stehen zweifelsohne das Erzielen eines Spektakelcharakters und die Befriedigung von Schaulust im Zentrum fast ausnahmslos aller Bemühungen. In Aschenbrödel zum Beispiel verlangt der Nebentext den Einsatz der Geißlerschen Röhre, mit der Lichteffekte erzeugt werden können, und eines Apparats von Rumford, wobei hier in der Regieanweisung nicht genau spezifiziert wird, um welchen es sich handelt: „Auf der Stelle, wo Aschenbrödel bei der Flucht scheinbar ihren Pantoffel verliert, der von dem ihr nacheilenden Prinzen gefunden wird. Sehr belebtes Tableau, bis zum Schluß noch Unordnung. Aschenbrödel erscheint bei der Flucht in ihrem grauen Kittel. Auf der Stelle, wo Aschenbrödel bei der Flucht scheinbar ihren Pantoffel verliert, muß schon der gläserne Pantoffel liegen, der aus den Geißler’schen Glasröhren gebildet ist, und mit dem großen Rumfordschen Apparat – der unter dem Podium steht – in Verbindung gebracht wurde. Erst wenn der Prinz ihn aufgenommen und in die Höhe hält, leuchtet er, indem der Inductions-Apparat in Bewegung gesetzt wird. Der Vorhang fällt.“ (Aschenbrödel, V. Aufzug, 7. Szene)
Gleichzeitig ist es wichtig festzuhalten, dass die aufwendigen szenischen Umsetzungen der Werke Görners als Orientierungspunkt für sämtliche Inszenierungen von Weihnachtsmärchen wirken. Auch Werke anderer Autoren werden auf eine ähnliche Weise auf der Bühne präsentiert, so dass die Wirkungsmechanismen vermutlich beinahe deckungsgleich sind. Eine Kritik aus dem Hamburgischen
70 Bauer stellt die These auf, dass die Tableau-Technik der Weihnachtsmärchen „die Widerverwendbarkeit der aufwendigen Dekorationen in verschiedenen Stücken“ gewährleistet habe. Bauer, Emanzipatorisches Kindertheater, S. 19. 71 Hamburger Nachrichten, 15. Dezember 1902, zitiert nach Tornau, Weihnachtsmärchen, S. 284. 72 Ebd.
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Correspondenten von 1903 von Ferdinand Oesaus Vater Bergmann’s Weihnachten legt dies offen: „In der berückenden Pracht der Bilder übertrifft ‚Vater Bergmann’s Weihnachten‘ wohl noch die Märchen der beiden Vorjahre. Entzückende Kostüme, wundervolle Dekorationen, hübsche Tänze, die Herr Rudolph Kroll vortrefflich einstudiert, die sorgfältigste Rollenbesetzung und eine in jeder Beziehung abgerundete Darstellung. Eine Riesenarbeit muß hier von Herrn Ludwig Max bewältigt sein. Die Anzahl von Erwachsenen und Kindern in eine harmonische Ordnung und jeden der großen und kleinen Mitspieler zur absolut sicheren Erfüllung seiner künstlerischen Pflicht zu bringen: wie viel mühereiche Tage und Wochen werden dazu nötig gewesen sein! […] Mehr als alles freilich entzückte die Kinder die Werkstatt des Weihnachtsmannes mit Knecht Ruprecht und dem Christkindchen, dem wir hier wohl zum ersten Mal in einem profanen Weihnachtsstück begegnen. In diesen Szenen lag das Beste, was die Kinder dem Märchenspiel entnehmen konnten. Da waren Bilder von wirklich rührender Anmut und Auftritte von prächtigem Humor. […] So schloß sich alles zu einer prächtigen abgerundeten Darstellung zusammen, die das Auge der Erwachsenen entzückte und die Herzen der Kinder erfreute.“73
4.4 Z UR E RFOLGSSTRATEGIE DER W EIHNACHTSMÄRCHEN Mit der Etablierung der auf Märchenstoffen beruhenden Weihnachtsstücke auf den Spielplänen der deutschen Theater wird im Deutschen Kaiserreich der Theaterbesuch in der Weihnachtszeit deutlich populärer. Er sichert den Theatern Gewinne in einem Monat zu, in dem es mit vielen anderen Attraktionen und neuartigen kommerziellen Freizeitangeboten zu konkurrieren hat. Zum ersten Mal etabliert sich eine Form weihnachtlichen Theaters, an der breite, zumeist städtische Bevölkerungsschichten teilhaben. Ein säkularisiertes Weihnachtstheater, das das magische Element in der Kunst wiederherstellt, einen großen Unterhaltungswert hat, mit den Themenkomplexen des literarisch bürgerlichen Theaters bricht und eine direkte Bezugnahme auf Lebenswirklichkeiten des Publikums vermeidet, erzielt einen nennenswerten überregionalen Erfolg. Dabei präsentieren nicht nur die sogenannten Unterhaltungstheater die neuen Werke. Auch Bühnen, die sich normalerweise eher selten Populärkulturellem zuwenden, parti-
73 G.: „Vater Bergmann’s Weihnachten. Weihnachtsmärchen von Ferdinand Oesau“, in: Hamburgischer Correspondent, 14. Dezember 1903, S. 2f.
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zipieren an dieser Entwicklung. Infolgedessen entsteht eine Vielzahl verschiedener künstlerischer Entwürfe, die beispielsweise auch Märchenopern umfasst.74 Der Erfolg der Weihnachtsmärchen basiert zunächst vor allem auf der Verarbeitung von Märchenstoffen als zentralem kulturellem Erbe. Die auf weniger berühmten Märchen und Legenden basierenden Werke Görners finden mit der Zeit wohl aufgrund des Bekanntheitsgrades ihres Verfassers durchaus auch ihr Publikum, wenngleich sie nicht den gleichen Erfolg wie Dornröschen, Aschenputtel oder Sneewittchen erzielen.75 Märchen kommen im 19. Jahrhundert europaweit in Mode. Insbesondere in Deutschland sind sie an die Herausbildung einer nationalen kulturellen Identität geknüpft und werden als volkstümliche, romantische Mythen in Anschlag gebracht. Autoren wie die Brüder Grimm definieren sie als zu tradierendes Volkserbe.76 Die Umsetzung allseits beliebter Märchen auf der Theaterbühne konkretisiert allgemein bekannte Geschichten. Ein Publikum kann folglich bei einem Vorstellungsbesuch sich, die eigene Familie und das Erbe der eigenen Kulturnation feiern. Kindliche und erwachsene Phantasiewelten können bestätigt, hinterfragt und erweitert werden. Konventionalisierte Strukturmerkmale von Märchen wie ein glückliches Ende, eine Zauberhandlung, archetypische Figuren oder unbestimmte Situierungen in Raum und Zeit garan-
74 Zum Themenkomplex von Märchenopern als europäischem Phänomen seit der Romantik und ihrer Beliebtheit bis zum heutigen Tag vgl. Hermann, Matthias und Vitus Froesch (Hg.): Märchenoper. Ein europäisches Phänomen. Dresden 2007. 75 Auf dem Deckblatt von Görners Der Mann mit der langen Nase steht z.B.: „Im Jahre 1864 in Berlin einige 40 Mal mit vielem Beifall zur Aufführung gebracht.“ 76 „Zu diesen Ausgleichserscheinungen der Moderne gehört die Karriere des Märchens. In ihr suchte und schuf zu Beginn der Moderne im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert eine verunsicherte Gesellschaft sich – wie in anderen Kompensationserscheinungen auch – ein Ausgleichsmoment. […] Im Märchen findet im Glauben an seine Naivität, Reinheit und Volkstümlichkeit der Wunsch nach Harmonie, Gerechtigkeit und überzeitlicher Weltordnung eine fassbare Gestalt. Das Märchen ist in seiner Offenheit für Deutungen ein Medium für Sinngebungsbemühungen, so zweifelhaft sie auch sein mögen. Mit seiner scheinbaren Ganzheit bietet es eine Folie zur Stiftung von personaler wie kollektiver Einheit, nicht zuletzt in der Fiktion einer ‚gemeinsamen Heimat‘ in der Kindheitserinnerung.“ Bluhm, Lothar: „Die ‚Kinder- und Hausmärchen‘ der Brüder Grimm. Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Einordnung eines Bestsellers“. URL: , letzter Zugriff am 23.7.2015.
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tieren die Erfüllung von Erwartungshaltungen aufseiten der Zuschauer.77 Über die Märchen wird der Theaterbesuch gleichsam an das bürgerliche Wohnzimmer und die Lektüre dieser Geschichten rückgekoppelt.78 Neben der Verarbeitung von Märchenstoffen, die eine doppelte Adressiertheit garantiert und das Interesse von Kindern und Erwachsenen provoziert, tragen der Spektakelcharakter der Inszenierungen von Weihnachtsmärchen, ihre Allgemeinverständlichkeit, an denen sich die „egalisierende Kraft der Massenkultur“79 manifestiert, sowie ihre Standardisierung und somit Berechenbarkeit, ein Ausdruck der Gewinnorientierung unterhaltender Kunstgattungen, zum großen Erfolg bei. Sie versinnbildlichen den möglichen Warencharakter von Kunst. In der Weihnachtszeit, die zuvor eher von einem Mangel an einem spezifisch weihnachtlichen professionellen Theater geprägt war, garantieren sie nun Vorhersehbares und Überraschungen, die auf inhaltlicher Ebene etwa über die Etablierung neuer Handlungselemente und auf szenischer über einen großen Aufwand erzeugt werden. Die Grundatmosphäre des Theaterereignisses ist für das Publikum jedoch immer bereits im Vorhinein kalkulierbar. Auf diese Weise korrespondiert die primär affirmative sowie apologetische Funktion der Werke vollkommen mit einem Festcharakter, der im Großen der Konstanz, dem Traditions- und Familienbewusstsein verpflichtet ist und alljährlich das Immergleiche, Ritualisierte und Stabile sucht, im Kleinen jedoch nach
77 Vgl. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens. Herausgegeben von Karl Eimermacher. München 1972. 78 „Wie eng der öffentliche Theaterraum und die häusliche (Sing-)Spielpraxis zusammenhängen, zeigt exemplarisch die Entstehungsgeschichte von Engelbert Humperdincks Hänsel- und Gretel-Oper. Aus den Kinderliedern des Märchen-Singspiels im Wetteschen Wohnzimmer wird das opulente, wagnernahe Musikdrama für das Opernhaus. In der prachtvollen Ausschmückung des Kinderspiels zu aufgeputzten, den Geschmack des erwachsenen Publikums bedienender Repräsentationskunst tritt nicht nur ein zeittypischer Charakterzug der Wilhelminischen Epoche in Erscheinung, auch die Ambivalenz der für kinderliterarische Werke beobachtbaren Doppeladressiertheit an Kinder und Erwachsene ist unübersehbar. Die Balance von Kinderbedürfnissen und Erziehungsinteressen wird wie selbstverständlich und effektiv in der ästhetischen Erziehung hergestellt. Traditionen wie etwa das Märchenerzählen werden mit dem Repertoire der erwünschten Verhaltensregeln amalgamiert und als ‚nützliche‘ Unterhaltung für Kinder und Erwachsene angeboten.“ Reiß, Kindertheater, S. 11-13 (S. 12). 79 Maase, Kaspar: „Einleitung: Schund und Schönheit. Ordnungen des Vergnügens um 1900“, in: Ders. und Wolfgang Kaschuba (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900. Köln / Weimar 2001, S. 9-28 (S. 24).
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Abwechslung verlangt. In spektakulären, zirzensischen Bühnenshows präsentiert sich das Theater mit all seinen Facetten wie Tanz, Pantomime, Musik, Gesang, Sprache, Dekoration und Bühnentricks als Wundermaschine und feiert die eigene Prosperität. Es ist davon auszugehen, dass die Musik einfach und eindrücklich zugleich gehalten ist, somit ökonomische und rezeptionspsychologische Metafunktionen erfüllt,80 Niederschwelligkeit, Massentauglichkeit und leichte Eingängigkeit garantiert. Zudem wird auf inhaltlicher Ebene jegliche Konfrontation mit zeitgenössischen Problematiken oder ein (kritischer) Umgang mit der weihnachtlichen Festkultur umgangen. Explizit Weihnachtliches kommt höchstens in der Schlussapotheose in Form einer intakten bürgerlichen Feier als Genrebild auf die Bühne. Somit steht das Theaterereignis inhaltlich in keinem bemerkenswerten Bezug zum privaten weihnachtlichen Festvollzug, kann aber festliche Stimmung multiplizieren. Weihnachtsmärchen entsprechen als säkulares, unkritisches, unterhaltsames, belehrendes Festtheater dem säkularisierten Weihnachtsfest, das im Rahmen seines Paradigmenwechsels von der gesamten Bevölkerung ähnlich begangen wird: Es rückt die Kinder ins Zentrum des Geschehens und feiert die eigene Kernfamilie, die sich in einem Konsumrausch und einer Lust an Attraktionen ergeht. Diese Entwicklung betrifft im Deutschen Kaiserreich in zunehmendem Maße auch die Vorweihnachtszeit, die verstärkt als Festzeit und Moment für besondere Ereignisse und Unternehmungen im privaten, halböffentlichen und öffentlichen Bereich verstanden wird. Da die Weihnachtsmärchen aus dem Alltag herausgehobene, freudvolle Ereignisse gewährleisten, fügen sie sich hier mühelos ein. Gleichzeitig tragen sie zur Profanierung und Säkularisierung einer einst als heilig empfundenen Zeit gleichsam bei. Einer zunehmend an Konsum orientierten Gesellschaft, die gerade an Weihnachten besonders viel erwirbt, bieten sie sogar im Theater etwas leicht Konsumierbares an, ohne dass aber die pädagogischen Prinzipien der bürgerlichen Leitkultur missachtet würden: Vielmehr werden neben aller Unterhaltung Kindern Verhaltensnormen vermittelt, die es in den Alltag zu integrieren gilt.
80 Vgl. Bullerjahn, Filmmusik, S. 65ff.
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4.5 Z UR K RITIK
AM
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Die Weihnachtsmärchen als literarisches Produkt und theatrale Praxis sind seit dem 19. Jahrhundert von intensiven theoretischen Reflexionen flankiert. Im 19. Jahrhundert erscheinen zahlreiche Besprechungen und Kritiken verschiedener Produktionen in regionalen und überregionalen Zeitungen, die verhältnismäßig ausführlich Eigenarten und Wirkungsmechanismen der Märchen und ihrer Aufführungen diskutieren. Vor dem Hintergrund, dass ansonsten kaum Quellenmaterial zu den Aufführungen vorliegt, sind sie für die Theaterwissenschaft heute äußerst dienlich. Aufgrund ihrer Informationen zu den aufgewandten szenischen Mitteln geben sie erheblichen Aufschluss über die Aufführungspraxis der Weihnachtsmärchen. Dabei variieren sie jedoch stark im Grad ihrer Verehrung bzw. Ablehnung der vielen für Weihnachten dramatisierten Märchen, die allzu häufig ausschließlich mit dem Namen Görner verknüpft sind. Während manche Autoren Märchen auf der Bühne grundsätzlich gering schätzen, kritisieren andere die Art des Umgangs mit Märchenstoffen in den Stücken, oder den seichten Charakter vieler Inszenierungen. Nach der Wiederaufnahme von Roderich Benedix’ 1867 veröffentlichtem Stück Aschenbrödel veröffentlicht der Berliner BörsenCourier 1889 folgenden ironischen Kommentar: „Das glückliche Schauspielhaus! Gestern Abend brachte es uns nach mehr als zehnjähriger Pause Aschenbrödel von Roderich Benedix. Welche andere große Bühne dürfte ein Gleiches wagen? Da suchen und jagen die Bühnenleiter alle nach den modernen Novitäten; die frischesten, die verwickeltsten Tagesfragen müssen mit Geist und funkelndem Witz auf der Bühne behandelt werden, das gute alte Schauspielhaus nur darf uns mit den verklungenen Ammenmärchen kommen. Was kümmert uns im Schauspielhaus der moderne Realismus, was fragen wir hier nach den Forderungen der Zeit. Hier tragen uns eben die Traditionen des Hauses hinweg vom Lärm des Tages; hier gemahnen uns die Wände schon an vergangene, harmlose Zeiten.“81
Seit der Jahrhundertwende erscheinen neben den Aufführungskritiken überdies bis weit in das 20. Jahrhundert hinein zahlreiche Texte von Pädagogen, Literaturwissenschaftlern, Journalisten und Theatermachern, die sich kritisch mit den Weihnachtsmärchen auseinandersetzen und anstreben, diese von den Bühnen zu eliminieren. Friedrich Bonn konstatiert in seinem Artikel Zur Kritik des Weih-
81 Zitiert nach URL: , letzter Zugriff am 30. Dezember 2016.
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nachtsmärchens 1936, dass „der Kampf gegen das Weihnachtsmärchen […] fast bis an die Jahrhundertwende“82 zurückreiche. Bei allen Differenzen in den Argumentationsstrategien handelt es sich bei den Texten mehrheitlich um Beiträge zu einem Diskurs, der im Kontext umfassender Diskussionen um die Gestaltung kindgerechten Theaters sowie grundsätzlicher pädagogischer und ästhetischer Positionen zu sehen ist. Auch wenn es an dieser Stelle nicht möglich ist, die komplexen Verläufe dieser sich über 100 Jahre erstreckenden Kritik am Märchenspiel und seinen Autoren hinreichend zu rekonstruieren,83 kann man festhalten, dass im Grunde allen Texten die Ablehnung der dekorativen Üppigkeit der Inszenierungen und ihr geringer intellektueller Anspruch gemeinsam ist. Vornehmlich werden das Ausdrucksniveau der Stücke, der Umgang mit den Vorlagen und die starke Betonung von Effekt und Unterhaltung in den Aufführungen kritisiert. Stellvertretend für viele Theaterleute sei hier ein Artikel des am Münchener Schauspielhaus tätigen Dramaturgen Hanns Hermann Cramer zitiert, veröffentlicht 1917 in der Täglichen Rundschau: „Der Dramaturg, der auf der Suche nach einem geeigneten Weihnachtsmärchen für seine Bühne den Eingang an Kinder-Literatur durchzustehen hat, könnte Bücher schreiben über all die Ungeheuerlichkeiten, die ihm im Laufe der Spielzeit in dieser Hinsicht zugemutet werden von seiten derjenigen, die sich zum Priestertume auf dichterischem Gebiet berufen fühlen. Gerade das Kindermärchen ist der Tummelplatz des furchtbarsten Dilettantismus. […] Die meisten Autoren von Kindermärchen glauben, an ihr Publikum in geistiger Beziehung gar keine Anforderungen stellen zu können und fühlen sich bewogen, zu ihm zu sprechen wie eine Amme zum Säugling. […] Man sollte die bekannten Kinder- und Volksmärchen überhaupt nicht auf die Bühne bringen. Wer erlebt nicht eine herbe Enttäuschung, wenn er als Kind sich in ein Märchen hineingeträumt hatte und nun die dem Text beigefügte Illustration betrachtete? Waren nicht die Gestalten seiner Phantasie ganz anders? Waren sie nicht tausendmal schöner? […] Was bislang diesem Zustande entgegenkam und eine Entschuldigung für die Seichtheit der auf diesem Gebiete produzierten Nichtigkeiten bilden konnte, ist die Ueberlegung, daß Kinder für Psychologie nicht emp-
82 Bonn, Friedrich: „Zur Kritik des Weihnachtsmärchens“, in: Jugendschriften-Warte. 41. Jahrgang. Nummer 12 (1936), S. 90-92 (S. 91). 83 Vgl. Laturell, Volker D.: „Von Weihnachtsapotheosen und Tierballetten oder Was ist kindertümlich? 100 Jahre Kritik am Märchenspiel und seiner Macher“, in: Meyer, Norbert J. (Hg.): Kinder- und Jugendtheater als Sozialisationsagentur. Emanzipation oder Manipulation. München 1974 (Dokumente zum Theater für Kinder- und Jugendliche. Nummer 3), S. 35-43.
158 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR fänglich sein können. Soll aber darum beim Weihnachtsmärchen auf alles Geistige verzichtet werden?“84
Der deutsche Schriftsteller und Pädagoge Jakob Löwenberg spricht in seinem viel diskutierten Pamphlet Das Elend unserer Weihnachtsmärchen Görner gar den Rang eines Dichters ab, der irgendetwas Originäres geschaffen habe. Sein Artikel erscheint 1919 in der Jugendschriften-Warte, dem „wichtigsten Rezensions- und Diskussionsorgan der Jugendschriftenbewegung“.85 Der Titel orientiert sich mit großer Wahrscheinlichkeit an Heinrich Wolgasts 1896 veröffentlichter Schrift Das Elend unserer Jugendliteratur.86 „Aber haben wir nicht Görner? Unsern guten alten Görner? wird vielleicht mancher fragen? Man kann sich an der Schlichtheit vieler Szenen seiner Märchen an der kunstvollen Gruppierung, an der klug erweiterten oder verkürzten Handlung, an der Klugheit mancher seiner Gestalten erfreuen, aber was uns bei ihm packt, ist die Poesie der Volksmärchen, die selbst in der Görnerschen Hülle noch wirkt. Görner ist nur ein geschickter Theatermann, aber kein Dichter, keine Spur eines Dichters.“ 87
Wenige Jahre darauf diskreditiert dann der Theaterhistoriker Ernst Leopold Stahl in seiner 1922 veröffentlichten Studie zum Märchenspiel das Wirken Görners aufgrund der „Respekt-, Geschmack- und Taktlosigkeit“88 im Umgang mit den deutschen Volksmärchen. Mit dem Vorwurf, „fataler [...] als Schundromanlieferanten vom Schlage der Courths-Mahler“89 zu sein, greift er ähnliche Argumente wie Jakob Löwenberg auf. Beide rekurrieren auf Schriften und Initiativen, die in der Weimarer Republik im 1926 eingeführten Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzliteratur kulminieren.90
84 Cramer, Hanns Hermann: „Das Weihnachtsmärchen“, in: Tägliche Rundschau, 24. Dezember 1917, S. 336-337. 85 Wilkending, Gisela: „Die Kommerzialisierung der Jugendliteratur“, in: Maase, Schund und Schönheit, S. 218-251 (S. 222). 86 Wolgast, Heinrich: Das Elend unserer Jugendliteratur. Ein Beitrag zur künstlerischen Erziehung der Jugend. Hamburg 1896. 87 Ebd., S. 15f. 88 Stahl, Ernst Leopold: Das deutsche Märchenspiel. Frankfurt am Main 1922, S. 9. 89 Ebd. 90 Ewers, Hans-Heino: „Peterchens Mondfahrt und der Feldzug gegen das Weihnachtsmärchen. Versuch einer Neubewertung des Kinderschauspiels von Gerdt von Bassewitz“, in: Reiß, Kindertheater, S. 55-66.
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Darüber hinaus lassen sich die Studien Manfred Jahnkes, Karl Bauers oder Melchior Schedlers zum Kindertheater, die in den 1970er Jahren erscheinen, ebenfalls als Bestandteil eines kindertheaterkritischen Diskurses begreifen. Gleichwohl sind ihre Beiträge ideologisch vollkommen anders motiviert und setzen primär beim Eskapismus und der extremen Form von Kommerzialisierung an, die die Weihnachtsmärchen repräsentieren. Schedler etwa konstatiert, dass in den Märchen „der Hochkapitalismus eine Gattung des Kindertheaters, deren Ästhetik allein durch ihre Verkäuflichkeit bestimmt wurde“ 91 entwickelt habe und definiert sie als „kulinarisches Schautheater“.92 Jahnke hält dagegen, dass zwar tatsächlich „die Identität ihrer dramaturgischen Prinzipien mit denen des [...] Unterhaltungstheaters für Erwachsene [...] sie in ihren Ausstattungsmomenten zu einem ‚kulinarischen Vorspiel‘“93 mache, dass aber das „in der Pädagogisierung verbergende Sozialisationskonzept [...] keineswegs ‚harmlose‘ Kulinarien“94 verheiße. Und Bauer konstatiert, „die Märchenaufführungen [dienten] von ihrer Entstehung bis heute primär den rückwärtsgewandten Fluchtphantasien der (kleinbürgerlichen) Erwachsenen“.95 Noch 1999 attestiert Wolfgang Schneider Görner, dass lediglich der „Märchenrahmen [...] als Vorwand für szenische Opulenz“96 gedient habe. Er nimmt die Werke nicht mit in Reclams Kindertheaterführer auf. Ute Dettmar wiederum legt dar: „Der Kritik aus dem Geist des emanzipatorischen Kindertheaters liegt ein Theaterverständnis zugrunde, das in der Kunst vor allem ein Medium des Erkenntnisgewinns und der Bewusstseinsbildung sieht. […] Kunst wird in dieser Tradition als ein Medium der Vermittlung verstanden, sie verfolgt ein didaktisches Interesse, das allerdings nicht länger auf die frühzeitige Internalisierung von moralischen und sozialen Normen zielt. Die emanzipatorische Kinderliteratur versteht sich vielmehr als ein Beitrag zur gesellschaftlichen Veränderung: Sie will zur Kritik anregen und die kindlichen Rezipienten dazu ermuntern, die eigenen Rechte wahrzunehmen. Zugrunde liegt dieser Funktionsbestimmung eine Kindheitsauffassung, die im Gegensatz zur romantischen Tradition in der Kindheit nicht das Andere der Vernunft sieht, sondern Kinder als denk- und handlungsfähige Subjekte versteht und entsprechend mit ihnen kommuniziert. Unterhaltungsaspekte haben in dieser Konzeption einen nachgeordneten Stellenwert; sie sind im Rahmen des prodesse und de-
91 Schedler, Kindertheater, S. 70. 92 Ebd. 93 Jahnke, Von der Komödie, S. 85. 94 Ebd. 95 Bauer, Emanzipatorisches Kindertheater, S. 19. 96 Schneider, Geschichte des Kindertheaters, S. 10.
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Während die Theaterwissenschaft bisher recht zurückhaltend in der Auseinandersetzung mit diesem theaterhistorischen Gegenstand geblieben ist, versuchen in den letzten Jahren Veröffentlichungen aus dem Bereich der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft erstmals eine Rehabilitierung der Weihnachtsmärchen und streben eine wissenschaftliche Betrachtungsweise an, die frei von Geschmacksurteilen ist und nicht auf einer grundsätzlich negativen Beurteilung des Phänomens fußt. So analysiert Hans-Heino Ewers die früh einsetzende Polemik gegen diese populäre Theaterform als „eine der großen antimodernen Kampagnen der Epoche.“98 In seinem 2008 publizierten Artikel zu Gerd von Bassewitz’ Peterchens Mondfahrt beschreibt er die Märchen Görnerscher Prägung als ein massenkulturelles Phänomen.99 Dettmar wiederum beschäftigt sich in demselben Aufsatzband eingehend mit Görners Märchen „im Spannungsfeld von kinderliterarischer Tradition, Theaterpraxis und Populärkultur um 1900.“ 100
97 Dettmar, Theaterzauber, S. 34f. 98 Ewers, Peterchens Mondfahrt, S. 56. 99 „Auf dem Gebiet des Kindertheaters tritt die (massen-)kulturelle Moderne, so meine These, vornehmlich in Gestalt des bühnenaufwendigen Weihnachtsmärchens Görnerscher Prägung in Erscheinung.“ (Ebd.) 100 Vgl. Dettmar, Theaterzauber, S. 31.
5. Die Wiederentdeckung volkssprachlicher Weihnachtsspiele
Während sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Deutschen Kaiserreich mit den Weihnachtsmärchen eine zutiefst säkulare Form professionellen weihnachtlichen Theaters etabliert, kommt es zeitgleich zu einer weiteren sehr spezifischen Entwicklung im Bereich des Weihnachtstheaters. Sie verhält sich gleichsam konträr zu den Weihnachtsmärchen als dekorreichem, sinnenfreudigem Ausstattungstheater und entfaltet nicht annähernd dieselbe Breitenwirkung: Nachdem man im 18. und frühen 19. Jahrhundert noch vielerorts versucht hatte, Spieltraditionen zu dezimieren, wenn nicht sogar zu eliminieren,1 lässt sich seit Mitte des 19. Jahrhundert ein verstärktes Interesse bürgerlicher Kreise an Weihnachtsspielen konstatieren, denen inhaltlich biblische Begebenheiten zugrunde liegen und deren Aufführungspraxis stark von der Inszenierungsweise sämtlicher originärer, literarisch dramatischer Texte divergiert. Doch geschieht diese Wiederannäherung des Theaters an den eigentlichen christlichen Kern des Fests in der Mehrzahl der Fälle nicht aufgrund eines dezidierten Interesses an zutiefst sakraler Kunst und als Gegenbewegung zu einer zunehmend verweltlichten Theaterlandschaft und Festgestaltung. Ähnlich dem Interesse an Märchen im 19. Jahrhundert, „das im Kern ein nationalpolitisches und volkspädagogisches war“, 2 bemühen sich vielmehr Gelehrte um die Rekonstruktion eines volkskulturellen Erbes. Getreu einer deutschtümelnden Ideologie, die langsam auch das Weihnachtsfest in Beschlag nimmt und als ein Fest definiert, das die gesamte deutsche Nation vereint, deutsche Identität begründet, bewahrt und befördert, wird die Rückerinnerung an einfache, nichtbürgerliche theatrale Formate als einigendes Moment propagiert. Die Weihnachtsspiele werden als zutiefst deutsche Kunst definiert, an die es wieder anzuknüpfen gilt. Von ihrem Studium verspricht man 1
Vgl. Kapitel 3.1.
2
Bluhm, Kinder- und Hausmärchen, o.S.
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sich Impulse für die Emanzipation eines nationalen Selbstbewusstseins. Ein Phänomen, das als Teil einer bürgerlichen Mediävalisierung der Gegenwart und einer romantischen Verklärung ländlichen Brauchtums begriffen werden kann. In zahlreichen deutschsprachigen Regionen gibt es Versuche vonseiten akademisch gebildeter, zumeist in Städten ansässiger Gelehrter, Spiele, die einst in mittelalterlichen religiösen Funktionszusammenhängen ausgebildet und dann vorrangig in ländlichen Regionen mündlich tradiert und gepflegt wurden, zu sammeln, zu veröffentlichen, zu literarisieren und vor dem Vergessen zu bewahren. Neben kritischen Sammlungen werden auch wissenschaftliche Abhandlungen zur Geschichte des geistlichen Weihnachtsspiels herausgegeben. 3 Die gesammelten Spiele erfahren schon bald praktische Umsetzungen. Die Modi der Aneignung sind indes sehr vielfältig. Nur selten dienen die Sammlungen als textliche Vorlagen für die Reaktivierung der Weihnachtsspiele in ihren ursprünglichen Entstehungskontexten. Hingegen werden des Öfteren neue Aufführungskontexte fruchtbar gemacht und neue Publikumskreise mit den Spielen in Berührung gebracht. Zudem inspirieren die von den Forschern herausgegebenen Texte und theoretischen Reflexionen über die Relevanz dieses theatralen Erbes zahlreiche Schriftsteller, eigene Weihnachtsspiele zu schreiben oder Bearbeitungen zu erstellen, die in den Jahren nach der Jahrhundertwende häufig ihren Weg auf die Bühne finden und zu einer Erweiterung und Ausdifferenzierung weihnachtlichen Theaters in der Moderne beitragen. Die neomittelalterlichen Neudichtungen orientieren sich in der Regel formal und inhaltlich eng an den Vorlagen, die Bearbeitungen behalten Stil und dramaturgische Verfahren der kritisch herausgegebenen Texte bei. Die große Mehrheit der modernen Aufführungen von Weihnachtsspielen ist durch die Hinwendung zu einfachen Spielformen, Raumkonzepten und Darstellungsweisen geprägt, ganz unabhängig davon, ob in den Sammlungen enthaltene Texte oder neue verfasste Spiele praktisch umgesetzt werden. Die Aufführungen dienen zum Teil durchaus als Alternativentwürfe zu einer bürgerlichen, säkularisierten, auf dem Primat der szenischen Umsetzung literarisch originärer Texte
3
Vgl. Mone, Franz Joseph: Schauspiele des Mittelalters aus Handschriften herausgegeben und erklärt. Karlsruhe 1852. / Pröhle, Heinrich: Geistliche und weltliche Volksschauspiele und Volkslieder. Stuttgart 1863. / Wilken, Ernst: Geschichte der geistlichen Spiele in Deutschland. Göttingen 1871. / Köppen, Wilhelm: Beiträge zur Geschichte der deutschen Weihnachtsspiele. Marburg 1892. / Teuber, Valentin: Die Entwicklung der Weihnachtsspiele seit den ältesten Zeiten bis zum 16. Jahrhundert. Komotau 1898.
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basierenden Theaterpraxis, indem sie auf Elemente des mittelalterlichen Theaters zurückgreifen, sich von der Guckkastenbühne verabschieden oder dem Volksoder Volksfesttheater annähern. Tiefe Religiosität hingegen propagieren sie nur selten, wenngleich innerhalb eines bürgerlichen und außerhalb eines kirchlichen Aufführungskontextes der religiöse Kerngehalt des Weihnachtsfests, der zutiefst performative Akt der Menschwerdung Gottes im Moment der Geburt, theatral umgesetzt und sinnlich erfahrbar gemacht wird.
5.1 E DITIONEN
ALTER
S PIELE
Die Sammlungen in Mundart aufgeführter Weihnachtsspiele und Weihnachtslieder verschiedener deutscher Regionen werden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts publiziert. Neben kleineren Veröffentlichungen,4 die vor allem um die Jahrhun-
4
Schuller, Johann Karl: Herodes. Ein deutsches Weihnachtsspiel aus Siebenbürgen. Mit einleitenden Bemerkungen über Festbräuche der Sachsen in Siebenbürgen. Hermannstadt 1859. / Feifalik, Julius: Volksschauspiele aus Mähren. Olmütz 1861. / Klopfleisch, Friedrich: „Das Weihnachtsspiel zu Groß-Löbichau“, in: Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte und Alterthumskunde. Band 6 (1865), S. 249265. / Panske, Johann Leopold: Weihnachtsspiele. Mit vier Bildern. Schrobenhausen 1890, 3. Auflage. / Schlossar, Anton (Hg.): Deutsche Volksschauspiele. In Steiermark gesammelt. Mit Anmerkungen und Erläuterungen nebst einem Anhange: das Leiden Christi-Spiel aus dem Gurkthale in Kärnten. Halle 1891. / Hofer, August: Weihnachtsspiele aus Niederösterreich. 19. Jahresbericht des niederösterreichischen Landes-Lehrerseminars in Wiener-Neustadt. Wien 1892. / Meissner, Leopold Florian: Weihnachtsspiele. Bilder aus der deutschen Geschichte zu festlichen Aufführungen für Jung und Alt. Wien 1896. / Kraus, Alfred: „Ein Weihnachtsspiel aus dem Erzgebirge“, in: Erzgebirgszeitung. Band 18 (1897), S. 92-102. / Anz, Heinrich: „Ein Thüringisches Weihnachtsspiel“, in: Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte und Altertumskunde. Band 19 (1899), S. 367-380. / Brachmann, Friedrich (Hg.): Christ-Comoedia. Ein Weihnachtsspiel von Johann Hübner. Berlin 1899 (Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts. Band 82). / Jordan, Rudolf: Das Sterzinger Weihnachtsspiel vom Jahre 1511. Krumau 1902 (29. und 30. Jahresbericht des Staats-Obergymnasiums). / Adrian, Karl: „Das Halleiner Weihnachtsspiel. Ein Beitrag zum Volksschauspiel in Salzburg“, in: Zeitschrift für österreichische Volkskunde. Band 9 (1903), S. 89-107. / Auerbach, Alfred: „Ein Geraer Weihnachtsspiel aus dem 18. Jahrhundert“, in: Preußische Forschungen. Jubiläumsschrift für Berthold Schmidt. Weimar 1910, S. 84-95. / Polek, Johann: Deutsche Weihnachtsspiele aus der Bukowi-
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dertwende und dann im Zuge des zunehmenden, völkisch geprägten Interesses an Volkskultur erneut verstärkt in den 1920er und 1930er Jahren veröffentlicht werden,5 stellen die zentralen, da umfang- und einflussreichsten Sammlungen die Editionen Karl Weinholds,6 Karl Julius Schröers,7 Gustav Mosens,8 August Hartmanns,9 Wilhelm Paillers10 und Friedrich Vogts11 dar,12 die deswegen auch im Fokus der Untersuchung stehen. Sie werden zwischen 1853 und 1901 herausgegeben, enthalten Weihnachtsspiele sowie Weihnachtslieder und erscheinen zum Teil sogar in mehreren Auflagen, inspirieren andere Forscher, Autoren und Künstler gleichermaßen. Die Herausgeber selber sind als Philologen, Volkskundler und Theologen tätig. August Hartmann (1846-1917) etwa engagiert sich
na. Czernowitz 1912 (Jahrbuch des Bukowiner Landesmuseums. Band 17/18). / Jungbauer, Adalbert: Das Peilsteiner Weihnachtsspiel. Jahresbericht des K. K. Staatsgymnasiums. Prachatitz 1912. / Braun, Erich: „Das Engelsberger Christkindelspiel“, in: Zeitschrift für Geschichte und Kulturgeschichte Österreich-Schlesiens. Band 8 (1913), S. 124-140. / Wenzel, Fritz: „Die Weihnachtsspiele der südlichen Oberlausitz und ihre literarischen Beziehungen“, in: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde. Band 15 (1913), S. 1-15. / Bolte, Johannes: „Das Görlitzer Weihnachtsspiel von 1667“, in: Mitteilungen der schlesischen Gesellschaft für Volkskunde. Band 16 (1914), S. 249-260. / Reutter, Hans: „Südmährische Weihnachtsspiele“, in: Zeitschrift des Deutschen Vereines für die Geschichte Mährens und Schlesiens. Band 18 (1914), o.S. 5
Zur völkischen Bewegung vgl. Justus, Ulbricht H. (Hg.): Handbuch zur „völkischen Bewegung“ 1871-1918. München 1996. / Puschner, Uwe: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion. Darmstadt 2001. / Breuer, Stefan: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik. Darmstadt 2008.
6
Weinhold, Karl: Weihnachts-Spiele und Lieder auß Süddeutschland und Schlesien.
7
Schröer, Karl Julius: Deutsche Weihnachtsspiele aus Ungarn. Wien 1858.
8
Mosen, Gustav: Die Weihnachtsspiele im sächsischen Erzgebirge. Zwickau 1861.
9
Hartmann, August: Weihnachtslied und Weihnachtsspiel in Oberbayern. München
Mit einer Musikbeilage. Graez 1853.
1875. 10 Pailler, Wilhelm: Krippenspiele aus Oberösterreich und Tirol. Mit 31 Singweisen. Innsbruck 1883. 11 Vogt, Friedrich: Die Schlesischen Weihnachtsspiele. Mit Buchschmuck von M. Wislicenus sowie 4 Gruppenbildern der Batzdorfer Weihnachtsspiele. Leipzig 1901. 12 Vgl. eine Sammlung neueren Datums: Polheim, Karl und Stefan Schröder (Hg.): Volksschauspiele. Band 3. Weihnachtsspiele. Paderborn / München 2000.
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rege für die Erforschung der Volksmusik in Oberbayern. Karl Weinhold (18231901) widmet sich neben der Lehre als Hochschulprofessor in Krakau, Graz, Breslau, Kiel und Berlin vor allem mediävistischen Themen wie der Entwicklung der mittelhochdeutschen Grammatik. Karl Julius Schröer (1825-1900) wiederum, Professor für Literaturgeschichte an der Technischen Hochschule Wien, setzt sich neben seinen Studien des deutschen Volkstums in Ungarn vor allem mit Johann Wolfgang von Goethes Werk auseinander. Wilhelm Pailler (18381895), Priester und Lehrer für Kirchenrecht und -geschichte in Österreich, verfasst neben seinen volkskundlichen Forschungen eine Vielzahl an Theaterstücken für Kinder und Jugendliche sowie für christliche Laienspieltruppen. Gustav Mosen stammt aus Zwickau und ist ähnlich wie sein bekannterer Bruder Julius schriftstellerisch und zudem lehrend tätig. Friedrich Vogt (1851-1923) ist ein arrivierter Germanist seiner Zeit. Nach einer Professur in Kiel geht er als Nachfolger von Weinhold nach Breslau. Ab 1902 unterrichtet er an der Universität Marburg. Abbildung 16: Hartmanns Edition
Abbildung 17: Weinholds Edition
München (1875)
Graez (1853)
Die Editionen widmen sich verschiedenen deutschsprachigen Regionen wie dem sächsischen Erzgebirge, Oberbayern, Oberösterreich, Tirol, Schlesien und deutschsprachigen Gebieten Ungarns. Sie sind im Grunde ähnlich konzipiert und
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variieren nur im Umfang. Beinahe alle umfassen ausführliche Herausgeberkommentare, Ausführungen zur Geschichte der Weihnachtsspiele und -lieder, des Weihnachtsfests und lokaler weihnachtlicher Traditionen, zahlreiche Spiel- und Liedtexte und ergänzende Angaben zu Aufführungstraditionen, Spielorten und verwendeten Kostümen. Die gesammelten Stücke sind vielfältig, basieren aber vorrangig auf biblischen Stoffen, die selbstverständlich durchsetzt sind mit weltlichen Elementen. Es wird ein umfassendes Panorama sehr verschiedener Traditionsstränge und Spieltypen gegeben. Die Editionen umfassen einzelne Szenen zu Maria Verkündigung oder der Herbergssuche und etwas längere Paradeisspiele, Kindelwiegen, Sterngesang und Kampfspiele zwischen Winter und Sommer sowie deutlich umfangreichere Hirten-, Dreikönigs- und Krippenspiele. Da die Herausgeber offensichtlich eine Systematik und Ordnung der mannigfachen Spiele anstreben, sind sie in Gruppen zusammengefasst und katalogisiert. Das Aufzeigen von Unterscheidungskriterien, überblicksartige Darstellungen der regionalen weihnachtlichen Spieltraditionen und Ergänzungen der eigentlichen Stücktexte um Informationen zu Verbreitungsgebieten, Quellen, Aufführungspraktiken und dialektalen Besonderheiten unterstreichen den wissenschaftlichen Anspruch der Herausgeber. In diesem Sinne nehmen sie in einleitenden Kommentaren und Vorworten außerdem Bezug auf andere Sammlungen. Sie betonen auf diese Weise die Ernsthaftigkeit der eigenen Unternehmung und den hohen Grad der eigenen Informiertheit. Insbesondere Weinholds und Schröers Editionen von 1853 bzw. 1858 dienen als Referenzquellen. Schröer widmet sein Buch sogar Weinhold. Pailler artikuliert 1883 in ähnlicher Weise im Vorwort, wie sehr Weinhold ihn zum Sammeln animiert habe und verklärt Mühe und Freuden volkskundlicher Forschung: „Karl Weinhold spricht in der Vorrede zu seinen Weihnachtsspielen und Liedern den Wunsch aus: ‚Mögen sich andre Männer in den übrigen deutschen Ländern veranlasst sehen, mir nachzufolgen, – nur in Westfalen schienen bis jetzt Augen für diese Poesie zu wachen.‘ Es sind zwölf Jahre verflossen, seit wir diese Worte lasen [...]. Wir begannen zu sammeln, freilich ein kurzes Wort; allein wir vertrauten auf das Verständnis und die Würdigung jener, die auch jemals irgendwie ‚sammelten‘. Was birgt sich darunter für eine Fülle von Enttäuschungen, von zahllosen unfruchtbaren Briefen, von vergeblichen Bitten und rauem Abweis; aber auch von inniger Finderlust, freundlicher Aufmunterung, stillem Jubel und genussreicher Arbeit!“13
13 Pailler, Krippenspiele, S. 7f.
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Gleichzeitig sprechen die Herausgeber dem Volk die eigentliche Autorschaft zu und leugnen eigene Eingriffe. In diesem Sinne konstatiert Pailler: „Die Texte der Lieder und Spiele bringen wir unverfälscht und treu nach unsern Quellen, wir suchten keine Lücke auszufüllen, so verführerisch und leicht dieß manchmal sich darbot. Wir lernten Brentano’s Verfahren bei den Liedern des Wunderhorns begreifen, ahmten es aber niemals nach und ließen uns die gegenwärtig allgemeine Verurtheilung seiner Methode zu abschreckender Warnung sein. Was wäre auch den Freunden volksthümlicher Kultur und Literatur mit falschgemünzten Weihnachtsdichtungen gedient?“14
Doch betätigen sich die Autoren allesamt nicht nur als Forscher und Sammler, die keineswegs korrigierend einschreiten. Vielmehr greifen sie auf Manuskripte zurück oder bringen die in Mundarten aufgeführten und oftmals mündlich tradierten Spiele in eine schriftliche Form, redigieren sowie modifizieren sie im Rahmen eines „komplexen Aneignungs- und Anverwandlungsprozesses“.15 Hartmann etwa gesteht tatsächlich ein, dass viele Texte, die er erhalten habe, „entstellt und verwirrt“ gewesen seien, und dass er „aus jenen Texten selbst und durch Vergleichung anderen Materials das Ursprüngliche“16 hätte herstellen müssen. Und auch Pailler merkt an, dass er durchaus sprachliche Bearbeitungen durchgeführt und nur Spiele berücksichtigt habe, die gewissen Qualitätskriterien genügt hätten: „Einige Dutzende von Liedern und Hirtenspielen haben wir deshalb ohne Barmherzigkeit unterdrückt.“ 17 Aus seinen Erläuterungen wird deutlich, dass seine Veröffentlichung auf heterogenen Quellen beruht: „Die Quellen, aus welchen wir diesen kräftigen gewürzten Festwein schöpften, sind in weitaus überwiegender Zahl ältere (oder sagen wir: meist alte) Handschriften, die uns in freundlicher Weise überlassen wurden; wenige Hirten-Spiele fanden sich und zwar in der Regel verderbt und verworren auf fliegende Blättern des vorigen und des laufenden Jahrhunderts, einige Hirten-Szenen sahen wir selbst als Kinder im ‚Krippel‘ oder späterhin durch ‚fahrende Leute‘ aufführen und schrieben letztere unmittelbar nieder, während wir erstere ohnehin unverwüstlich im Gedächtnis behielten.“18
14 Ebd., S. 33. 15 Bausinger, Bürgerlichkeit und Kultur, S. 136. 16 Hartmann, Weihnachtsspiel, S. 4. 17 Pailler, Krippenspiele, S. 10. 18 Ebd., S. 8.
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Innerhalb der Spieltexte werden jedoch zumeist keine Hinweise auf die berücksichtigten Quellen vergeben. Mündlichen und schriftlichen Quellen wird auf diese Weise dieselbe Qualität zugesprochen. Die Texte der von Hartmann veröffentlichten Rosenheimer Spiele beispielsweise, einem Hirten- und einem Dreikönigsspiel aus Oberbayern, erscheinen extrem homogen. In den zahlreichen Fußnoten, in denen vor allem Wortbedeutungen erläutert werden, informiert Hartmann nicht darüber, dass sie auf mehreren, sicherlich nicht identischen, mündlichen Wiedergaben beruhen und es vermutlich verschiedene Varianten der Spiele gab. Nur an anderer Stelle weist er darauf hin, dass sie vorrangig auf Erzählungen und Erinnerungen „alter Leute, welche in ihrer Kindheit mitspielten“,19 basieren. Den Spielen wird dadurch Werkcharakter verliehen, dass ihre schriftliche Darstellungsform der Darstellungstradition literarisch dramatischer Texte folgt. Am Anfang der Texte steht manchmal ein Figurenverzeichnis, der dramatische Text ist in Szenen gegliedert, Regieanweisungen ergänzen den Haupttext. Spiele, die zuvor von Aufführung zu Aufführung und über die Jahrhunderte oftmals nicht unwesentliche Veränderungen erfuhren und variierten, werden gleichsam fixiert, erfahren im Rahmen ihrer Verschriftlichung und Veröffentlichung einen Prozess der Literarisierung. Trotz heterogener und qualitativ disperater Quellen, die von Regiebüchern, über mündliche Berichte bis hin zu über Jahrhunderte tradierten Texten reichen, findet eine Vereinheitlichung statt. Darüber hinaus werden die Spiele von ihren Herausgebern als wichtiges Volkserbe inszeniert und präsentiert.
5.1.1 Weihnachtsspiele als Volkserbe: Konstruktion von Volkskultur Allen Editionen sind eine große Forscherneugierde und ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Bewunderung für ländliche weihnachtliche Spiel- und Festtraditionen gemeinsam, die primär als Volkskunst und erst sekundär als religiöse Kunst definiert und interpretiert werden. Aufgrund dieser hohen Wertschätzung für Bräuche, die bis dato keineswegs Teil einer bürgerlichen Kultur waren, unterscheiden sie sich grundsätzlich von den Positionen bürgerlicher und sogar offizieller kirchlicher Kreise, die noch im ausgehenden 18. Jahrhundert bäuerliche weihnachtliche Festpraktiken häufig ablehnten oder als Aberglauben brandmarkten. Vielmehr wird nun in einem komplexen Prozess Volks-
19 Hartmann, Weihnachtsspiel, S. 154.
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kultur durch bürgerliche Kreise geradezu konstruiert. 20 Im Sinne „volkstumsideologischer“21 Tendenzen werden Traditionen, die generell mit der Kultur der unteren Schichten zusammenhängen, als volkstümlich rezipiert. Oder sie werden modifiziert und dann als originäre Volkskunst ausgegeben, gewissermaßen in vermeintliche Traditionslinien des deutschen Volkes transformiert. Und so ist Volkspoesie, um mit Hermann Bausinger zu sprechen, entweder „Dichtung aus dem Volk oder auch nur angeblich aus dem Volk, die dem Gebildeten im Sinne einer Revitalisierung vermittelt wird und in die eigenen Maßstäbe hineingetragen wird.“22 Die Herausgeber der Weihnachtsspiele idealisieren die Freuden des volkskundlichen Forschens und beschreiben es als eine Form reinen Sammelns von schon Vorhandenem. Dem „jahrhundertealten Genius unseres Volkes“23 wird gehuldigt, der schöpferische Prozess ihm zugeschrieben, beziehungsweise das „Sich-selbst-Machen“24 der Volkskunst beschworen. Die Spiele werden als Ausdruck des „Volksmäßigen“,25 als genuiner Ausdruck der deutschen Seele inszeniert. Pailler etwa hebt die „frischquellende poetische Ader unseres Volkes“26 hervor, die sich hier manifestiere. Weinhold findet, dass die Spiele „von den lieblichen deutschen Weihnachten singen“27 und konstatiert: „Wer sich für das innere Leben unseres Volkes im allgemeinen interessiert, wer im besonderen für die Geschichte unsers geistlichen Liedes und unsers Schauspiels Sinn hat dem werden diese Weihnachtsspiele und Lieder willkommen sein.“28
Das neu entfachte Interesse an volkssprachlichen Spielen konzentriert sich zunächst auf die Osterzeit. Seit ungefähr 1830 wird die Aufmerksamkeit deutscher
20 Bausinger, Bürgerlichkeit und Kultur, S. 135-139. 21 Zur Volkstumsideologie vgl. Emmerich, Wolfgang: Zur Kritik der Volkstumsideologie. Frankfurt am Main 1971. 22 Bausinger, Bürgerlichkeit und Kultur, S. 136. 23 Pailler, Krippenspiele, S. 10. 24 Emmerich, Zur Kritik, S. 33. 25 Vgl. z.B. Hartmann, Weihnachtsspiel, S.12. 26 Pailler, Krippenspiele, S. 8. 27 Weinhold, Weihnachts-Spiele, S. 6. 28 Ebd., S. 5f.
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Gelehrter vor allem den Oberammergauer Passionsspielen zuteil.29 1850 erscheint ein Bericht Eduard Devrients, der weite Verbreitung erfährt. Devrient kritisiert hier einleitend den „Zersetzungsprocess“, den „der moderne Geist mit allem Alten und Ueberkommenen“ vornehme, der alles „Volksthümliche zerbröckeln“ lasse und stellt lobend fest, dass sich das Oberammergauer Spiel so „altdeutsch kerngesund und jugendfrisch“ erhalten hätte.30 Er feiert die Passionsspiele als „kostbare Reliquie des früheren Deutschlands“31 und als „unvertilgbaren und unerschöpflichen Hort des deutschen Volksgeistes“.32 Devrient erhofft sich von den volkskundlichen und philologischen Bemühungen einen Einfluss auf die Theaterpraxis an institutionalisierten Häusern, eine grundsätzliche Intensivierung und Reaktivierung des Passionstheaters in weiteren deutschen Regionen und eine zusätzliche Nutzung der Passionsbühnen für andere Stoffe. Oberammergau dient ihm als Projektionsfläche des Traumes von einer deutschen Kulturnation: „Der Werth und die Bedeutung dieses Spiels ist für Jeden, der eine weitere Entwicklung unseres religiösen, nationalen und künstlerischen Lebens hofft, so groß, daß man sich der andrängenden Betrachtungen kaum erwehren kann.“33
Die deutschen Gelehrten, die sich ab Mitte der 1850er Jahre für die Weihnachtsspiele einsetzen, verwenden Terminologien und Argumentationsstrategien, die denen Devrients stark ähneln. Sie befördern deutsches Traditions- und Nationalbewusstsein, also Zusammengehörigkeitsgefühl, über die Vergegenwärtigung historischer Errungenschaften im Bereich des nichtprofessionellen Theaterspiels. In ihren Sammlungen und Herausgeberkommentaren manifestiert sich der epochentypische Versuch, durch die Herstellung einer oftmals antimodernen Mythologie deutsche Identität zu konstituieren und etwa in den Prozess der Nationenbildung einzubinden. Kulturelle Praktiken des Volkes sollen die nationale Identi-
29 So erwähnt bereits 1830 Sulpiz Boisserée in einem Brief an Goethe diese Spiele. Vgl. Etienne, François: „Oberammergau“, in: Ders. und Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Band 3. München 2001, S. 274-291 (S. 283). 30 Devrient, Eduard: Das Passionsspiel in Oberammergau und seine Bedeutung für die neue Zeit. Mit 6 in den Text gedruckten Illustrationen und einem Titelbild von F. Pecht. Leipzig 1880, 2. Auflage, S. 43. 31 Ebd., S. 1. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 37.
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tätsbildung befördern. Friedrich Vogt moniert noch 1901 den rasanten Schwund sämtlicher Volksbräuche und fordert, dem entgegenzuwirken: „Rücksichtslos räumt das moderne Leben mit den alten Volksüberlieferungen auf. Des Volkes Mundarten und Trachten, seine Sagen und Lieder, seine Spiele und Feste, seine phantasievollen Vorstellungen von den Kräften, die in der Natur wirken [...] das Alles schwindet von Jahr zu Jahr zusammen unter dem Drucke jener Verhältnisse und Bestrebungen der Neuzeit, die auf einen immer weiter gehenden Ausgleich der Bildung wie der Lebensführung der verschiedenen Stände hindrängen. Ein gutes Stück nationaler Eigenart und nationaler Lebenspoesie geht mit diesen Traditionen spurlos zu Grunde, wenn sie nicht wenigstens durch schriftliche Aufzeichnung der Nachwelt überliefert werden.“34
Die vielfältigen Weihnachtsspiele werden den Rezipienten als Bestandteil eines reichhaltigen nationalen Erbes unterbreitet, als „Denkmäler“ 35 und somit zentrale Zeugnisse der kulturellen Entwicklung des Deutschen Reiches definiert. Weinhold bezeichnet sie als erhaltenswerte Werke von „kulturhistorischem […] Wert“:36 „Alzulange haben sie im Dunkel gestanden und sie sind theilweise schon von der Vernichtung ergriffen, so daß es an der Zeit war zu retten was noch zu retten ist. Sie verdienten wenigstens dieselbe Aufmerksamkeit wie manches andere Denkmal unserer Geschichte.“37 Vogt ist der Ansicht, dass sie weitaus stärker als Osterspiele den mittelalterlichen Charakter bewahrt hätten: „Von den alten religiösen Schauspielen des deutschen Volkes haben sich die Passionspiele unter stetem Einfluß geistlicher Mitarbeiter allmählich zu jenen kunstvollen Aufführungen großen Stils entwickelt, wie wir sie in Oberammergau bewundern. Die Weihnachtsspiele blieben in ihrer bescheideneren und intimeren Art mehr dem Volke überlassen, und so haben sie auch den volkstümlichen Stil deutscher Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts treuer bewahrt.“38
Die Veröffentlichungen der alten Weihnachtsspiele fügen sich nahtlos in einen Diskurs ein, der von einem „Wunsch nach Wiederentdeckung [einer] authenti-
34 Vogt, Weihnachtsspiele, S. 7. 35 Vgl. etwa die stete Verwendung des Wortes „Denkmal“ durch Schröer. Zum Beispiel in Weihnachtsspiele, S. 2ff. 36 Weinhold, Weihnachts-Spiele, S. 375. 37 Ebd., S. 4. 38 Vogt, Friedrich: Weihnachtsspiele des schlesischen Volkes. Leipzig und Berlin 1918, 2. Auflage, S. 3.
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schen und intakten Volkskultur“39 geprägt ist und der deshalb diesen Wunsch im Bereich des Theaters auf Spieltraditionen überträgt, die ihre Wurzeln in mittelalterlichen geistlichen Spielen haben und gerade nicht Gelehrsamkeit oder Modernität repräsentieren. In diesem Sinn vertritt Schröer die Meinung, dass bei Aufführungen der Oberuferer Spiele40 den Zuschauern eine Art von purem, archaischem Schauspiel begegne, das frei von moderner Intellektualität sei: „Die fest stehenden alten Sitten und Gebräuche, die bei der Aufführung zum Vorschein kommen, sind der Art, daß wird darin unstreitig ein lebendiges Zeugniss von Einrichtungen des Schauspiels alter Zeiten vor uns haben, wie es gewesen ist, bevor zu der modernen Bühne der Grundstein gelegt worden ist. [...] von unmittelbarem gelehrten Einfluß [ist] in diesen Stücken nichts wahrzunehmen.“
41
5.1.2 Die Spiele und Regionales Ähnlich Devrients klarer Geste, regionalen Spieltraditionen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, zeigen auch die Sammlungen Weinholds, Schröers oder Vogts mit ihrer ausführlich betriebenen Sprach-, Dialekt- und Brauchtumsforschung und dem Interesse für regionale Vielfalt auf, dass sich die Kraft der deutschen Kulturnation aus der Koexistenz verschiedener regionaler Gemeinschaften speist, die eigene Dialekte, eigenes Liedgut und eigene Feierpraktiken besitzen. Gemäß des Topos, dass sich Volksgeist im Sprachgeist manifestiert,42 sind alle Sammlungen extrem bemüht, die jeweiligen, in den Spiel verwendeten Dialekte minutiös zu dokumentieren und zu erläutern. Sie kultivieren einen nicht geringen Lokalpatriotismus. Pailler etwa verkündet: „Wir auch! Wir auch!“43 und konstatiert, die Bewohner seines „Vaterländchens“ Oberösterreich seien „wacker und redlich deutsch“ und besäßen einen „poetischen Geist“.44 Selbstbewusst wird die überregionale Relevanz lokaler Traditionen behauptet, wenngleich stets eingebunden in die Idee der großen Kulturnation. Schröer gar ist der Ansicht, dass sich in Oberufer die Spiele dank des Zugehörigkeitsgefühls einer in ungarischem Gebiet lebenden deutschen Volksgruppe zu
39 Etienne, Oberammergau, S. 283. 40 Vgl. Kapitel 5.7. 41 Schröer, Weihnachtsspiele, S. 4ff. 42 Vgl. Emmerich, Zur Kritik, S. 44ff. 43 Pailler, Krippenspiele, S. 11. 44 Vgl. ebd., S. 8.
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ihrem ursprünglichen Herkunftsland besser und authentischer erhalten hätten als in der eigentlichen deutschen Heimat, da man hier bewusster mit Volksmäßigem umgegangen sei: „In alter Zeit hat man das Volksmäßige nicht beachtet und nicht aufbewahrt; was sich durch sich selbst erhalten hat, ist in mitten der Einflüsse deutscher Cultur umgestaltet worden. Den deutschen Ansiedlungen in fremden Ländern in ihrer Abgeschiedenheit scheint es oft besonders vorbehalten; Altertümliches und Volksmäßiges treu zu bewahren, wenn es außen im Heimatlande längst erloschen ist. [...] Echte volksmäßige Schauspiele, die in ihrer gegenwärtigen Gestalt schon Jahrhunderte zurückgelegt haben, sehen wir hier noch ziemlich wol erhalten vor uns.“45
5.1.3 Die Spiele und Religion Vergleicht man Herausgeberkommentare der Weihnachtsspiele, so fällt auf, dass anders als bei Devrient kein dezidiert religiöses Interesse an den Spielen formuliert wird.46 Mögliche Zusammenhänge zwischen aktueller oder zukünftiger religiöser Praxis und Theaterspiel werden zumeist nicht erörtert, wenngleich in den Abhandlungen zur Geschichte der Weihnachtsspiele natürlich auf den kirchlichen Entstehungskontext hingewiesen wird. Eingedenk der Tatsache, dass die Spiele beinahe allesamt religiöse Thematiken verhandeln und einst in kirchlichen Kontexten entstanden, ist es bemerkenswert, dass die Autoren keine religiösen Gründe für den Erhalt der Spiele anführen oder sie als Teil einer Frömmigkeitspraxis zur Diskussion stellen. Man könnte hier Wolfgang Emmerichs These in Anschlag bringen, wonach in der Romantik die Volkstumsideologie ihre „rational-progressiven Antriebe“ verliert und stattdessen zur „mythisch irrationalen Ersatzreligion“ verkommt,47 die Weihnachtsspiele dementsprechend nicht als religiöse Kunst, sondern als Volkskunst gedeutet werden. In diesem Sinn legt auch Hartmann in seinen Ausführungen Ueber Geschichte und Quellen der volksthümlichen Weihnachtspoesie in Deutschland dar:48
45 Schröer, Weihnachtsspiele, S. 3. 46 „Wie wohltätig sie [die Passionsspiele] das weltliche Volksleben mit dem kirchlichen wieder zu verschmelzen vermöchten; wie sie die Gemüther wieder begieriger den Heilsmitteln der Kirche zuführen könnten.“ Devrient, Passionsspiel, S. 38. 47 Emmerich, Zur Kritik, S. 19. 48 Hartmann, Weihnachtsspiel, S. 7-20.
174 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR Die allmähliche Aufnahme deutscher, häufig komischer Episoden […], das Obsiegen der deutschen Sprache, die an manchen Orten eingetretene Wegverlegung der Scene aus den Kirchen sind weitere Stufen, auf denen das geistliche Drama zum Laienspiel überging.49
Und Gustav Mosen etwa betont in seiner 1861 in Zwickau veröffentlichten Sammlung der Weihnachtsspiele im sächsischen Erzgebirge die Nähe der Protagonisten der Weihnachtsspiele, der göttlichen Familie und der Hirten, zu jeder Familie und zum Volk: „Wie das Weihnachtsfest selbst vorwiegend ein Familienfest ist, so stehen auch Joseph und Maria mit dem Neugebornen dem Vater, der Muter, dem Kinde vertraulich nahe; sie sind ja recht eigentlich ein Vorbild jeder christlichen Familie; die Hirten, welche die Kunde von der Geburt Christi erhalten und ihm die erste Huldigung bringen, sind Vorbilder des Weihnacht feiernden Volkes selber, und deshalb wird das Weihnachtsspiel selbst bei unvollkommener Darstellung seine Wirkung selten verfehlen; es versinnlicht die Geburtsgeschichte Christi doch mindestens mehr als hölzerne oder gemalte Figuren oder das blos gesprochene Wort.“50
Demzufolge zelebriert man die Spiele eindrucksvoll als Eigentum der Dorfgemeinschaften und als Ausdruck von säkularisierter Brauchtumspflege, nicht jedoch als Ausdruck starken Glaubens, wenngleich sie sich im Kern trotz aller Modifikationen weiterhin christlichen Themen zuwenden. Ihre Relevanz wird aus ihrem kulturhistorischen Rang als Bestandteil zentraler deutscher Traditionen, nicht aber aus ihrem ursprünglichen Charakter als Teil einer dezidiert religiösen Festpraxis legitimiert. Als Leitdifferenz für die Konstitution von Identität gilt nunmehr das Volk und somit die Nation, nicht die Religion oder gar Konfession.
5.1.4 Die Spiele und das Fest Nur selten finden sich in den Ausgaben umfangreiche festtheoretische Ausführungen. Lediglich der Germanist und Historiker Johann Karl Schuller (17941865) aus Hermannstadt, Pailler und Weinhold stellen die Spiele insofern in einen größeren Kontext, als sie umfassend die Geschichte des deutschen Weihnachtsfests und zahlreicher Elemente des weihnachtlichen Brauchtums in
49 Ebd., S. 11. 50 Mosen, Weihnachtsspiele, S. 13f.
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Oberösterreich beziehungsweise Süddeutschland, Schlesien und Siebenbürgen diskutieren. Schuller beispielsweise vermerkt auf dem Deckblatt, dass seine Ausgabe von Herodes. Ein deutsches Weihnachtsspiel um „Bemerkungen über Festbräuche der Sachsen in Siebenbürgen“51 erweitert sei. Die drei Autoren richten ihren Fokus auf theatrale Praktiken, die Teil einer Festgestaltung auf dem Land waren und Einblicke in das „Volksherz“52 geben könnten. Weinhold etwa möchte „Zeugnis“ ablegen „von der Weihnachtsbewegung des Volkes.“53 Auch Schenkriten oder Umzugsbräuche finden Erwähnung und der Wert durchweg aller nichtbürgerlichen, weihnachtlichen Feierpraktiken wird betont. Weihnachten wird verklärend als genuin germanisches, uraltes Fest definiert, das seit ewigen Zeiten tief in der Volksseele verankert sei. In pseudo-historischen Darstellungen wird die Entwicklung des Weihnachtsfests abgehandelt. Die Autoren berufen sich hierbei auf Jacob Grimm, 54 der sich ein paar Jahrzehnte früher auf „die Suche nach germanischen und heidnischen Relikten in winterlich-weihnachtlichen Bräuchen“55 machte,56 wenngleich sich die Tradierung mittwinterlicher germanischer Bräuche bis in die Neuzeit eigentlich kaum nachweisen lässt. Wie die Volkskundlerin Doris Foitzik darlegt, hatte Grimms „Fahndung nach den Spuren eines germanischen Julfests als Vorläufer des christlichen Weihnachtsfestes eine ideologische Funktion“:57 „Jacob Grimm und seinen volkskundlichen Nachfolgern ging es um die Legitimation des Nationalbewusstseins, um eine Erhebung des Vaterlandes jenseits von römischer und christlicher Überformung.“58 In diesem Sinne diskutieren Pailler, Schuller und Weinhold in historisch ungenauen, kruden Abhandlungen die „Vermengung christlicher und heidnischer Bräuche“59 und lassen die Spiele als zentrales Element, wenn nicht gar als Kulminationspunkt der festpraktischen Errungenschaften des Volkes erscheinen, betrachtet man einen Kommentar Schullers: „Am vollständigsten ist die volks-
51 Schuller, Herodes, o.S. (Deckblatt). 52 Pailler, Krippenspiele, S. 13. 53 Weinhold, Weihnachts-Spiele, S. 4. 54 Vgl. beispielsweise ebd., S. 5ff oder Schuller, Herodes, S. 3ff. 55 Foitzik, Doris: „Weihnachten“, in: François und Schulze, Erinnerungsorte, S. 154-168 (S. 157). 56 Vgl. Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. Göttingen 1854, 3. Auflage. 57 Foitzik, Weihnachten, S. 157. 58 Dies., Rote Sterne, S. 57. 59 Schuller, Herodes, S. 5.
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thümliche Darstellung von Scenen aus der heiligen Geschichte unstreitig in einem Weihnachtsspiele ausgeführt.“60
5.1.5 Erhalt und Praxis Die Herausgeber bemühen sich letztendlich allesamt um eine Revitalisierung der Weihnachtslieder und -spiele in Form einer künstlerischen Praxis. Im Sinne Johann Gottfried Herders, der schon 1778 klagt, die „Reste aller lebendigen Volksdenkart rollen mit beschleunigtem letzten Sturze in den Abgrund der Vergessenheit hinab“61 und sich mit einem großen konservatorischen Interesse deutschen Volksliedern zuwendet, wird an vielen Stellen auf die Gefahr des Verlustes oder der Reduktion der Spieltraditionen hingewiesen. Vogt vollzieht diese Entwicklung anhand einer Schilderung des Batzdorfer Weihnachtsspiels nach: „Das Spiel von Christi Geburt habe ich noch vollständig, wenn auch mit mancher Entstellung, im Jahre 1899 in dem deutschböhmischen Batzdorf an der Grenze der Graffschaft Glatz von Webern und ihren Frauen aufführen sehen; einige Jahrzehnte früher ist dies Stück und das Herodesspiel selbst noch in verschiedenen Dörfern von den Einheimischen dargestellt worden, und die Texte, nach denen sie spielten, sind handschriftlich erhalten.“62
Untergangsszenarien werden entworfen, die Herausgeber inszenieren sich als Retter und formulieren explizite Aufforderungen zum Erhalt der Spiele, beziehungsweise eines „scheinbar untergegangenen Literaturzweigs“: 63 Pailler schreibt recht affirmativ: „Mögen unsere Lieder nur aufs neue erklingen, unsre Spiele sich wieder entfalten.“64 Weinhold definiert die Spiele als eine „reiche Fundgrube, die nach mehreren Seiten hin zu nutzen wäre.“65 Und Vogt wiederum merkt an, dass die volkskundliche Forschung nicht nur wissenschaftlichen, sondern lebenspraktischen Zwecken dienen solle:
60 Ebd., S. 13. 61 Gaier, Ulrich (Hg.): Johann Gottfried Herder. Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Band 3. Frankfurt am Main 1990, S. 23. 62 Vogt, Weihnachtsspiele, S. 6. 63 Hartmann, Weihnachtsspiel, S. 7. 64 Pailler, Krippenspiele, S. 10. 65 Weinhold, Weihnachts-Spiele, S. 3.
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„Aber nicht nur für die Wissenschaft sollen die Volksüberlieferungen nutzbar gemacht werden, sondern auch für das Leben. Zweifellos hat ja nicht weniges unter ihnen nur noch einen historischen Wert, und ohne jedes Bedauern kann man es den mächtigen Umwälzungen unseres kühn aufstrebenden Zeitalters erliegen sehen; vieles andere aber, was unter der Ungunst der Zeiten zu verkümmern droht, ist tüchtig und lebenswert und unendlicher viel gesunder als die Ausgeburten großstädtischen Wesens, die es verdrängen wollen.“
66
5.2 P RAKTISCHE U MSETZUNGEN Im Zuge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit religiösen, nichtprofessionellen Weihnachtsspielen und im Zuge ihrer Veröffentlichung vollzieht sich eine Aufwertung dieser Spieltraditionen. Sie gehen schon bald mit einer intensiven Praxis außerhalb der ursprünglichen Aufführungskontexte einher und ergänzen damit die auf dem Land noch gepflegte Spielpraxis.67 Vielleicht dank der expliziten Aufforderungen der Herausgeber, sich der Spiele anzunehmen, ihr Überleben zu sichern und sie zu reaktivieren, und mit Sicherheit dank der plötzlichen Verfügbarkeit der Spiele im gesamtdeutschen Gebiet durch ihre Übertragung in eine schriftliche, gedruckte Form, werden praktische Umsetzungen in unterschiedlichsten Kontexten realisiert. Insbesondere städtische, gebildete Schichten entdecken Weihnachtsspiele für sich. Dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass es in Wohnzimmern, Vereinen, aber auch in Konzertsälen, Theatern und im Rathaus zu Aufführungen kommt. Als Textvorlagen dienen entweder die in den Editionen abgedruckten Texte, Bearbeitungen dieser Spiele oder Neudichtungen im Stile der gesammelten Texte. Vor allem längere und umfangreichere Spiele wie Krippen- oder Dreikönigsspiele finden Beachtung. Das breite Repertoire kleinerer Formen wie Kindelwiegen oder Kampfspiele zwischen Winter und Sommer wird zumeist ignoriert. Etliche Bearbeitungen bzw. Neudichtungen werden überdies veröffentlicht. Aufführungen werden von Laiendarstellern oder Schauspielern gestaltet. Bei sämtlichen Versuchen eines Transportes alter Traditionen in neue Aufführungskontexte werden somit die Weihnachtszeit als zeitlicher Rahmen und
66 Vogt, Weihnachtsspiele, S. 10. 67 Wie bereits dargestellt, vollzieht sich eine massive Reduzierung der Pflege ländlicher Weihnachtsspiele im 18. Jahrhundert. Zu einer Untersuchung der im 19. Jahrhundert noch aktiven Spielpraxis vgl. Bencker, Georg: Das deutsche Weihnachtsspiel. Berlin 1933.
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Anlass sowie die grundlegende inhaltliche Ausrichtung als Konstanten bewahrt, wohingegen Texte, Darsteller, Regisseure und Aufführungsorte variieren. Die beibehaltene religiöse Thematik unterscheidet diese Form weihnachtlichen Theaters also prinzipiell vom säkularisierten, kommerzialisierten Weihnachtstheater. Erste Aufführungen, die in einem größeren Umfang innerhalb eines städtischen Kontextes stattfinden, lassen sich in Wien und Breslau nachweisen. Richard von Kralik stellt bereits Anfang der 1890er Jahre als erster im deutschsprachigen Gebiet ein eigenes Weihnachtsspiel nach alten Quellen zusammen. Friedrich Vogt wiederum initiiert 1899 in Breslau Vorstellungen von ihm gesammelter, schlesischer Spiele.68 Auch in Dachau finden in den Jahren 1903 bis 1906 groß angelegte Weihnachtsspiele statt, für die sich der Komponist Aloys Fleischmann einsetzt.69 Georg Fuchs berichtet von einem Besuch der Spiele in seiner Schrift Die Revolution des Theaters.70 1903 kommt Anton Kohls Spiel Sonnenwende zur Aufführung, daran beteiligt sind „50 Mädchen der von Fleischmann gegründeten Singschule Dachau sowie etwa 40 Erwachsene als Chorsänger oder Orchestermusiker.“ 71 1904 folgen Die Jahreswende und Ein altes Weihnachtspiel „in zwei Aufzügen, von Fleischmann für Kinderstimmen, Harfe, Chor und Orchester zu einem Text aus dem 16. Jahrhundert komponiert.“72 1905 wird Die Nacht der Wunder mit Musik von Fleischmann und einem Text von Franz Langheinrich gegeben, das Andreas Pernpeintner in seiner Studie zu Fleischmann als „gleichsam säkulares Mysterienspiel“73 beschreibt. 1906 kommt das Weihnachtsspiel Krippenbilder zur Erhaltung der Dachauer Kinderfestspiele zur Aufführung,74 dessen Titel dem Wunsch einer Konservierung lokaler Spieltraditionen Ausdruck verleiht. Bei dem Spiel handelt sich um „Lebende Bilder“ zum Weihnachtsevangelium, gestaltet von den Malern Hermann Stockmann und August Pfalz.75 Chorpassagen aus Die Nacht der Wunder
68 Beide Unternehmungen werden im folgenden Kapitel kurz näher vorgestellt. 69 Vgl. hierzu die ausführlichen Studien von Andreas Pernpeintner: Pernpeintner, Fleischmann, S. 203-281. 70 Fuchs, Georg: Die Revolution des Theaters. Ergebnisse aus dem Münchener KünstlerTheater: mit 17 Bildbeilagen. München 1909, S. 40-45. 71 Pernpeintner, Fleischmann, S. 211. 72 Ebd., S. 213. 73 Ebd., S. 264. 74 Ebd., S. 216. 75 Ebd., S. 215.
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und von Fleischmann erstellte Arrangements einiger Gesänge von Michael Praetorius bilden den musikalischen Rahmen.76 Im selben Jahr führt auch Otto Falckenberg, möglicherweise beeinflusst von Fleischmanns Initiativen, in München sein Ein deutsches Weihnachtsspiel auf, ähnlich wie von Kraliks Spiel eine Bearbeitung alter Weihnachtsspiele. Es stellt schon bald eines der bekanntesten modernen Weihnachtsspiele dar und erfährt deutschlandweite Verbreitung.77 Von 1907 bis zum Ersten Weltkrieg finden zudem im Münchner Künstlerhaus alljährlich Weihnachtsspiele statt, für die Hermann Stockmann verantwortlich zeichnet.78 Andere Künstler wenden sich ebenfalls der Weihnachtsgeschichte zu und erstellen eigene Werke. Der Komponist Philipp Wolfrum veröffentlicht 1899 Ein Weihnachtsmysterium nach Worten der Bibel und Spielen des Volkes.79 Im Vorwort spricht er sich dafür aus, das Werk in einer Kirche aufzuführen: „Das Weihnachtsmysterium, aus erzählenden und dramatischen Partien bestehend, kann natürlich ebensogut wie die Oratorien in Concert-Form zur Aufführung gebracht werden. Doch sind die Intentionen des Komponisten darauf gerichtet, dass das Werk in der Kirche mit lebenden Bildern und Pantomimen, der Musik-Apparat für die Zuhörer unsichtbar, zur Darstellung gelange. Ich denke mir eine Mysterienbühne im Chore (Altarraume) der Kirche stehend, durch einen Vorhang verhüllbar, den Musikapparat (Orchester, Chor, Solisten) am entgegengesetzten Ende der Kirche, etwa auf einer Empore, so dass er im Rücken des Publicums und zum Teil über dem Publicum sich befände. Leider sind die Kirchen in unserer Zeit meistens geschlossen und für solche Zwecke selten verfügbar, was bekanntlich in dem frommen Mittelalter (und auch später) noch anders war. Da würde sich empfehlen, die Mysterienbühne im Concertsaal vor dem Concertpodium anzubringen, so dass der ganze Musikapparat dem Publikum verdeckt wäre. In diesem Falle stünde der Dirigent hinter der die Bühne abschliessenden Coulisse, und es wäre bei dieser Einrichtung möglich, dass die Darsteller auch zugleich die Sänger wären.“ 80
1910 verfasst Emil Alfred Hermann ein Weihnachtsspiel mit dem Titel Das Gotteskind. Wie von Kralik und Falckenberg formt er vorliegende Quellen um und ergänzt sie. In seinem Spiel, das in stark antiquiertem Deutsch verfasst ist, gibt
76 Ebd. 77 Vgl. Kapitel 5.3. 78 Vgl. Pernpeintner, Fleischmann, S. 271. 79 Wolfrum, Philipp: Ein Weihnachtsmysterium nach Worten der Bibel und Spielen des Volkes. Opus 31. Orchesterpartitur. Heidelberg 1899. 80 Ebd., S. 1.
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es eine märchenhafte Wendung in der Stallszene: Die Tiere beginnen hier zu sprechen. Im letzten Akt ist der Auftritt eines Sternsingers eingefügt. Dieses Spiel wird am 2. Dezember 1913 unter professionellen Produktionsbedingungen, am Dresdner Königlichen Schauspielhaus, uraufgeführt.81 Weitere, zum Teil überaus eigenständige Neubearbeitungen des biblischen Stoffes sind etwa Bernd Isemanns Die Mitternacht,82 Reinhard Johann Sorges Metanoeite,83 Max Mells Erneuerung des Halleiner Weihnachtsspiels Ein altes deutsches Weihnachtsspiel und Das Wiener Kripperl,84 Franz Herwigs Das kleine Weihnachtsspiel,85 Konrad Dürres Ein deutsches Weihnachtsspiel nach alter Art, Ruth Schaumanns Bruder Ginepro-Spiel,86 Leo Weismantels Die Wallfahrt nach Bethlehem87 oder Rudolf Borchardts Krippenspiel.88 Karl Vollmoellers Pantomime Das Wunder stellt ebenso eine besondere Form eines Weihnachtsspiels dar.89 Engelbert Humperdinck erwirkt in Bübchens Weihnachtstraum. Ein melodramatisches Krippenspiel für Schule und Haus für Kinderchor, Chor, Rezitator, mit Klavierbegleitung beziehungsweise Orchester, eine „Rückbindung des bürgerlichen an das christliche Weihnachtsfest“.90 Sein Werk ist zwar als Krippenspiel bezeichnet, kann jedoch durchaus konzertant aufgeführt werden und bedarf nicht notwendigerweise einer szenischen Umsetzung. Uraufgeführt wird es, unter der musikalischen Leitung des Komponisten, am 30. Dezember 1906 im Zirkus Busch in Berlin. In diesem Stück, das natürlich bei weitem nicht denselben Bekanntheitsgrad wie Hänsel und Gretel erreicht, verbindet Humperdinck auf dramaturgisch-textlicher und auf musikalischer Ebene Topoi bürgerlicher Weihnachtsstücke mit biblischen Motiven und religiösen dramatischen Formen. Eine familiäre Weihnachtsfeier dient in diesem aus vierzehn musikalischen Nummern und gesprochenen Texten bestehenden Werk als Rahmen für die längere
81 Deutscher Bühnenspielplan. 18. Jahrgang (1913/14), S. 56. 82 Isemann, Bernd: Die Mitternacht. Ein Weihnachtsspiel. München 1909. 83 Sorge, Reinhard Johannes: Metanoeite. Drei Mysterien. München 1915. 84 Mell, Max: Das Wiener Kripperl von 1919. Wien 1921. / Ders.: Ein altes deutsches Weihnachtsspiel. Umgeschrieben und in kleinen Teilen ergänzt. Wien 1924. 85 Herwig, Franz: Das kleine Weihnachtsspiel. Berlin 1927, 5. Auflage. 86 Schaumann, Ruth: Bruder Ginepro-Spiel. Berlin 1926. 87 Weismantel, Leo: Die Wallfahrt nach Bethlehem. Frankfurt am Main 1925. 88 Dürre, Konrad: Ein deutsches Weihnachtsspiel nach alter Art. Nassau 1918. / Borchardt, Rudolf: Krippenspiel. Berlin 1922. 89 Vgl. Kapitel 5.6. 90 Loos, Weihnachten, S. 245.
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Traumsequenz eines kleinen Jungen,91 der in einem Melodram (Nr. 7) an der biblischen Stallszene zu Bethlehem teilhat. Auf musikalischer Ebene findet diese Rückkoppelung der säkularen Feier an ihren religiösen Kern insofern eine Entsprechung, als ältere, zum Teil geistliche, musikalische Formen und Stücke wie Hirtenpastoralen, Wiegenlieder und Weihnachtslieder („Lob, Ehr sei Gott“ und „Es ist ein Ros entsprungen“) mit Weihnachtsliedern, die erst im 19. Jahrhundert im Rahmen der bürgerlichen Feier verbreitet werden („Stille Nacht, heilige Nacht“ und „O du fröhliche“), kombiniert sind.92 Dank der vielgestaltigen Initiativen Vogts, von Kraliks, Hermanns oder Falckenbergs werden Weihnachtsspiele einer breiten städtischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Während es bei den von ihnen organisierten Darbietungen zu einer Verlagerung der Spiele vom Land in die Stadt kommt, Vereins-, private und öffentliche Räume nutzbar gemacht werden, tragen mitunter auch in der Stadt ansässige Personen die Spiele zurück in ländlichere Gebiete. Ganz unabhängig vom Aufführungsort bewirken diese Aneignungen durch das Bürgertum aber zumeist einen hohen Grad an Professionalisierung und Kommerzialisierung der Spiele. Daneben gibt es nach der Jahrhundertwende eine zunehmende Anzahl an Initiativen, die Spiele zwar zu reaktivieren, aber dennoch ihren laienhaften Charakter beizubehalten. Rudolf Steiner etwa etabliert nur wenige Jahre nach den Münchener Künstlern vor allem in anthroposophischen Kreisen eine überregionale und bis heute andauernde Spielpraxis.93 Und auch die Laienspielbewegung engagiert sich nach dem Ersten Weltkrieg für eine intensive Aufführungspraxis von Weihnachtsspielen in Stadt und Land.94 Dabei entfernen sich die Aufführungspraktiken innerhalb der neuen Produktionskontexte aber zum Teil grundlegend von den ursprünglichen Aufführungskonventionen. Die Darstellung des Lehrers Dr. Hans Klein einer Darbietung der von Schröer notierten und durch Rudolf Steiner und Gottfried Haaß-Berkow weit verbreiteten Oberuferer Spiele, die Maria Heides Laienspielgruppe 1922 in Preßburg bei Oberufer für die dorti-
91 Vgl.: Humperdinck, Engelbert: Bübchens Weihnachtstraum. Ein melodramatisches Krippenspiel für Schule und Haus. Dichtung von Gustav Falke. Klavierauszug. Berlin 1906. / Humperdinck, Wolfgang: Engelbert Humperdinck. Das Leben meines Vaters. Frankfurt am Main 1965, S. 270. 92 Vgl. Loos, Weihnachten, S. 246f. 93 Vgl. Kapitel 5.7. 94 Kapitel 5.7.5 widmet sich dem Engagement der Laienspielbewegung für Weihnachtsspiele.
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ge Bevölkerung veranstaltet,95 thematisiert die Entfremdung ursprünglicher Entstehungskontexte und ihrer kulturellen Produkte: „Wie sehr die Unkenntnis der originalen musikalischen und spieltechnischen Form die Spiele bei solcher Umformung entstellten, sollte sich in grotesk-komischer Form bei einer Spielfahrt der [...] Laienspielgruppe der Maria Heide erweisen. Diese guten Leutchen kamen nach 1920 auf einer ihrer Spielfahrten auch in die Preßburger Gegend und ließen es sich einfallen, den Oberuferern ‚ihr Spiel‘ […] vorzuspielen. Kopfschüttelnd erzählte mir 1926 der Oberuferer Lehrmeister Michael Wendelin davon mit den Worten ‚Das war nit unser Gspiel.‘“96
Abbildung 18: Weihnachtsspiel im Böhmerwald (um 1910)
In: Adolf Spamer, Weihnachten in alter und neuer Zeit
95 Vgl. Kaufmann, Andreas: Vorgeschichte und Entstehung des Laienspieles und die frühe Geschichte der Laienspielbewegung. Dissertation Universität Stuttgart 1991, S. 76. 96 Klein, Dr. Hans: „Die Oberuferer Volksschauspiele und ihre Auswirkung“, in: Emeritzy, Aurel (Hg.): Karpatenjahrbuch. Stuttgart 1962 (Kalender der Karpatendeutschen aus der Slowakei. 13. Jahrgang), S. 50-57 (S. 54f).
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5.2.1 Richard von Kralik Richard von Kralik (1852-1934) verfasst 1892 sein Weihnachtsspiel Das Mysterium von der Geburt des Heilandes: Ein Weihnachtsspiel nach volkstümlichen Überlieferungen.97 Er liest es zunächst in Wien im privaten Kreis mit Mitgliedern der Österreichischen Leo-Gesellschaft, einem 1892 gegründeten und nach Papst Leo III. benannten Verein, der es sich zum Ziel macht, Wissenschaft und Kunst auf katholischer Basis zu fördern. Nachdem die Gesellschaft zustimmt, das Spiel zu veröffentlichen und eine Produktion zu finanzieren, wird es Weihnachten 1893 im Großen Musikvereinssaal vor zahlreichen Honoritäten der Stadt gespielt.98 Von Kralik beschreibt das Publikum in einem 1907 publizierten Aufsatz: „Das Publikum war zahlreich, glänzend und durchaus nicht bloß exklusiv katholisch. Der Nuntius, der Kardinal-Erzbischof, der Feldbischof, Weihbischöfe, der ganze hohe Klerus, die Welt- und Klostergeistlichkeit fehlte ebensowenig wie die hohe Aristokratie, das kaiserliche Haus, die Kreise der Politik, der Wissenschaft und Kunst. Liberale Sozialdemokraten entzogen sich der tiefen volkstümlichen Wirkung nicht. Protestanten begeisterten sich ebenso hier wie in Oberammergau.“99
Alfred von Berger leitet die Inszenierung. Die Darsteller sind bekannte Burgtheater-Schauspieler und Amateure. Der Chor setzt sich aus den Mitgliedern der Wiener Singakademie und Kindern aus einem Heim zusammen. 100 Von Kralik ist der Ansicht, Oberammergaus Initiativen bei weitem übertroffen zu haben: „Zwischen Weihnachten und Neujahr 1893 fanden drei Vorstellungen des Weihnachtsspiels statt. Die Aufnahme war eine durchaus freundliche. Selbst unreligiöse Menschen empfanden eine tiefe Wirkung. Die Juden, die in Wien und im Kunstleben eine so große Rolle spielen, betrachteten den Erfolg fast als nationalen Triumph, als eine jüdische Sache. Besonders gelobt wurden die Prospekte der Maler Groll und Wörndle, die, ohne Kulissen, die Hintergründe zu den sorgfältig herausgearbeiteten Stellungen boten. […] Das Zusam-
97 Zu Inhalt und Aufbau des Stückes vgl. Beniston, Judith: Welttheater: Hoffmannsthal, Richard von Kralik and the Revival of Catholic Drama in Austria 1890-1934. Leeds 1998, S. 93f. 98 Vgl. ebd. 99 Kralik, Richard von: „Die religiöse und nationale Festbühne“, in: Ders.: Kulturfragen. Der Kulturstudien vierte Sammlung. Münster 1907, S. 386-411 (S. 391). 100 Vgl. Beniston, Welttheater, S. 93f.
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Wie Judith Beniston in ihrer Studie zu Hugo von Hoffmannsthal, Richard von Kralik und der Wiederentdeckung des katholischen Dramas in Österreich zwischen 1890 und 1943 darlegt, reagiert die Presse größtenteils positiv. Sie versäumt allerdings, jeglichen ideologischen oder politischen Subtext dieser Unternehmung zu erkennen.102 Kritiker interpretieren die Aufführung als einen „Akt besonnener Rückschau“,103 als ein ästhetisches Experiment, das „eine uralte und uns doch fremde Kunstgattung“104 zu neuem Leben erwecke. Die Reichspost nimmt das Weihnachtsspiel sogar zum Anlass, mit antisemitischen Anspielungen die angebliche Sittenlosigkeit des professionellen Theaters der Zeit zu kritisieren und von Kraliks Spiel als ernstzunehmender Alternative zu huldigen.105 1895 kommt es erneut zu Aufführungen des diesmal zu „einem Dreikönigsspiel ausgedehnten Weihnachtsspiels“.106 In seinen kurz darauf veröffentlichten Kulturstudien widmet von Kralik ein ganzes Kapitel der „Vergangenheit und Zukunft der Bühne“.107 Ganz grundsätzlich sind seine Unternehmungen natürlich von dem Versuch geprägt, Alternativen zur gängigen Theaterpraxis aufzuzeigen. So fordert er eine intensivere Verschränkung „bürgerlicher Festzeiten“108 und der Poesie, damit das Theater die „notwendige Vollendung des Festtages“ 109 werde. Auch mahnt er in seinen Schriften an, sich künftig sowohl des germanischen als auch des religiösen Erbes
101 Kralik, Richard von: Tage und Werke. Lebenserinnerungen. Wien 1922, S. 135. 102 Beniston, Welttheater, S. 96. 103 Schönaich, Gustav: „Ein Weihnachtsspiel“, in: Wiener Tageblatt, 28. Dezember 1893, S. 1-3 (S. 2). 104 O.A.: „Ein Weihnachtsspiel in Wien“, in: Welt-Neuigkeits-Blatt, 30. Dezember 1893, S. 4. 105 O.A.: „Kraliks Mysterium“, in: Reichspost, 1. Januar 1894, S. 5. 106 Kralik, Tage, S. 139. 107 Kralik, Richard von: „Vergangenheit und Zukunft der Bühne“, in: Ders.: Kulturstudien. Münster 1904, 2. Auflage, S. 311-327. 108 Ebd. S. 322 109 Ebd.
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verstärkt zu erinnern. Klerikale Kreise versucht er in die Pflicht zu nehmen, indem er sie auffordert, sich wie früher, auf autoritäre Weise für religiöse Festspiele stark zu machen. „Profane“ Bühnen empfindet er als den grundsätzlich falschen Ort für geistliche Spiele: „In unseren Tagen zeigt sich nun ein allgemeines Bestreben zur Erneuerung religiöser Festspiele. Dem liegen zwei Ursachen zu Grunde: erstens das unaustilgbare religiöse Bedürfnis, das sich auch bei gleichgültigeren Dichtern und Hörern geltend macht; denn gewiß ist die religiöse Frage eine der aktuellsten der Gegenwart geworden. Zweitens äußert sich dieser Drang um so lebhafter, da er nicht genügend von der von der Kunstübung unserer Zeit befriedigt wird. Die profane Bühne soll und darf und kann ihn nicht befriedigen. Es ist daher wünschenswert, daß die Kirche, wie sie es in früheren Zeiten mit größtem Erfolg und größter Wirkung getan hat, die gute Tradition der Festspiele wieder in die Hand nehme, und zwar so autorativ wie möglich, auf Initiative der ordentlichen geistlichen Gewalt.“110
1922 kommentiert von Kralik noch einmal in der Rückschau detailliert seine Motivation für das Verfassen eines Weihnachtsspiels: „Ich war an der Arbeit selbst erglüht. Ich sah wohl eine utopische Zeit vor mir, da ein solches Werk vor einer begeisterten Volksmenge als Mittelpunkt einer nationalen und religiösen Hochkultur wieder könnte aufgeführt werden, die Hörer außer sich hinreißend, meinetwegen ihren Fanatismus entfesselnd, und fähig, eine tieffste Erregung, eine Umkehr, eine Umkehrung aller modernen Philisterhaftigkeit, alles ästhetischen Pharisäertums, alles Kunstschachers zu bewirken. Vier Anregungen hatten mich bei dieser Arbeit geleitet: das antike religiöse Festtheater, Oberammergau, Bachs Matthäuspassion und Bayreuth. Aber dennoch wollte ich etwas durchaus Neues, etwas Höheres, Ergreifenderes, Grundlegenderes erzielen.“111
5.2.2 Friedrich Vogt Friedrich Vogts Engagement im Bereich weihnachtlichen Theaters dient hingegen wohl zunächst vor allem Studienzwecken. In seiner 1901 erschienenen Ausgabe Schlesischer Spiele berichtet er, dass er Batzdorfer Weber, die alljährlich
110 Kralik, Richard von: Kulturarbeiten. Der Kulturstudien dritte Sammlung. Münster 1904, S. 268f. 111 Ders., Tage, S. 119.
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das Batzdorfer Weihnachtsspiel im schlesischen Dialekt aufführten, nach Breslau eingeladen habe, um das Spiel ihm und den anderen aktiven Mitgliedern der „Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde“, die in Schlesien volkskulturelle Überlieferungen zu konservieren versuchten, vorzuführen: „Auf Vermittlung seines Hauswirtes […] hat dann einer der Spieler den nachfolgenden Text aus dem Gedächtnis für unsere Gesellschaft aufgezeichnet. Im Januar habe ich eine Aufführung des Stückes für einige Mitglieder unserer Gesellschaft veranstalten lassen, welche mir Gelegenheit gab, den Text noch einmal zu vergleichen und die Art der Darstellung und des Vortrags genau zu beobachten. Die Singeweisen habe ich mir nach der Aufführung zusammen mit Herrn Dr. Gusinde mehrfach wiederholen lassen, bis dieser sie zuverlässig zu Papier gebracht hat. Die Vorstellung fand in einem Saal statt, an dessen Schmalseite uns unser Zuschauerplatz angewiesen war, während die für vier Darsteller während ihrer Spielpausen bestimmten Stühle links von uns an der Längsseite standen, und so bewegten sich auch die Spiele stets in der Längsrichtung des Saals. Jeder einzelne kam erst zu der unserm Platz gegenübergelegenen Tür herein, sobald er zum erstenmal aufzutreten hatte; dagegen trat er nicht ab, bis das ganze Spiel beendet war. Hauswirt und Haushalter nahmen, sobald sie nicht zu spielen hatten, auf den erwähnten Stühlen Platz; ebenso, in einiger Entfernung von ihnen, Joseph und Maria, und diese beiden blieben natürlich auch während der Anbetungscene sitzen.“112
Diese Art der Aufführung demonstriert das große Interesse vonseiten der Forscher, Volkskultur umfassend kennenzulernen und im Rahmen dessen nicht nur Texte und Singweisen, sondern auch Spielpraktiken genauer zu studieren, in der Sammlung ausführlich zu beschreiben und so dank umfangreicher Kenntnisse für ihre Verbreitung sorgen zu können. Im Vorwort zur zweiten, 1918 erschienenen Ausgabe Schlesischer Spiele merkt Vogt in diesem Sinne stolz an, dass Aufführungen „seit fast nunmehr zwanzig Jahren an vielen Orten in kleinerem und größerem Kreise stattgefunden“113 hätten, und dass sich dadurch „die alte fromme und fröhliche Volkskunst dieser anspruchslosen Stücke […] viele Herzen gewonnen“114 habe. Ganz unabhängig davon, ob diese „Wiedererweckung“, eine Bekanntmachung der Spiele in einem städtischen Umfeld, mithilfe von der Öffentlichkeit zugänglichen Aufführungen oder dank der veröffentlichten Texte stattfindet, sind die Forscher der „Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde“ ganz offensichtlich darum bemüht, einem neuen Rezipientenkreis die Wertschät-
112 Vogt, Weihnachtsspiele, S. 210f. 113 Ders., Weihnachtsspiele 1918, S. 4. 114 Ebd.
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zung ländlich lokaler Traditionen zu vermitteln. Dementsprechend kann man auch ihre Initiativen eher als Engagement für die Reaktivierung und Verbreitung schlesischen, volkskulturellen Erbes, denn als Sehnsucht nach einer originären künstlerischen Praxis oder einer intensivierten Frömmigkeitskultur werten.
5.3 O TTO F ALCKENBERG Das prominenteste Beispiel einer Aneignung der in den Sammlungen veröffentlichten Spiele stellt Otto Falckenbergs (1873-1947) Ein deutsches Weihnachtsspiel dar,115 das Fragmente aus drei bestehenden Spielen zu einem neuen Spiel zusammenfügt. Falckenberg leitet 1906 die erfolgreiche Uraufführung seines Spiels im Münchener Rathaus. 1913 inszeniert er es an den Münchener Kammerspielen. 1915 realisiert Max Reinhardt auf der Bühne des Deutschen Theaters eine sinnenfreudige, üppig ausgestattete, aufwendige szenische Interpretation des Spiels, die sich vom Primat des Textes verabschiedet. Falckenbergs Spiel wird in mehreren Auflagen veröffentlicht, von zahlreichen Laienspielgruppen und an vielen deutschen Bühnen gespielt, von Autoren wie Thomas Mann116 oder Georg Fuchs117 in Debatten über die Zukunft des Theaters integriert und fungiert als vielgestaltige Inspirationsquelle für andere Autoren und Regisseure. Falckenberg verhilft dem christlichen Weihnachtsspiel überregional, außerhalb seiner ursprünglichen Verbreitungsgebiete, zu ungeahnter Popularität: Alte, mündlich tradierte Spiele, die über Jahrhundert nicht an institutionelles und kommerzielles Theater gebunden waren und von Amateuren getragen wurden, werden durch ihn in einen professionalisierten Produktionskontext transportiert.
5.3.1 Die Textebene 1908 erscheint eine Ausgabe von Falckenbergs Ein deutsches Weihnachtsspiel, die zwar auf der einen Seite in dieser Form Verbreitung erfährt und wie ein lite-
115 Falckenberg, Otto: Ein deutsches Weihnachtsspiel. Nach alten Weihnachtsspielen und -liedern eingerichtet und ergänzt. Mit Musik von Bernhard Stavenhagen. München / Leipzig 1908. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 116 Mann, Thomas: „Versuch über das Theater“, in: Thomas Mann. Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band 10: Reden und Aufsätze 2. Frankfurt am Main 1990 (1907), S. 23-61. 117 Fuchs, Revolution, S. 40-45.
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rarisch dramatisches Werk als Grundlage für zahlreiche extrem unterschiedliche szenische Umsetzungen dient, auf der anderen Seite aber von inszenatorischen Charakteristika der zwei Jahre zuvor erfolgten Uraufführung zeugt. Da es zugleich als Regiebuch mit einer Fülle an Nebentexten interpretiert werden kann, die sich auf einen sehr konkreten Aufführungskontext zu beziehen scheinen, wird es dementsprechend in der folgenden Analyse der Uraufführung von Ein deutsches Weihnachtsspiel durch Falckenberg als Quelle genutzt. An zahlreichen Stellen finden sich Regieanweisungen mit Informationen zu Auftrittsorten innerhalb eines sehr konkreten Bühnenbildes, zur Verwendung von Requisiten und Statisten, zum Umgang mit dem Bühnenbild und zum Zusammenspiel von Musik und szenischer Aktion. Dem Textbuch ist gewissermaßen eine mögliche szenische Realisierung eingeschrieben, beziehungsweise legt es von einer bereits erfolgten Realisierung Zeugnis ab. Otto Falckenberg verarbeitet in seinem Werk Texte aus drei verschiedenen Sammlungen von Weihnachtsspielen. Er verwendet Elemente des 1883 in Paillers Sammlung Weihnachtslieder und Krippenspiele aus Oberösterreich und Tirol erschienenen St. Oswalder Spiels, des 1875 von Hartmann in Weihnachtslied und Weihnachtsspiel aus Oberbayern herausgegebenen Rosenheimer Dreikönigspiels und des 1901 von Vogt in Die Schlesischen Weihnachtsspiele veröffentlichten Batzdorfer Weihnachtsspiels, wobei letzteres keinen großen Beitrag liefert und nur kleine Textpartikel beisteuert.118 Das St. Oswalder Spiel stammt aus dem oberen Mühlviertel in Oberösterreich und ist in der dortigen Mundart geschrieben, der „freilich der bairische Dialekt zu Grunde“119 liegt. Laut Pailler geht der Kern des Spiels auf das 15. Jahrhundert zurück. 120 Es umfasst ein Hirtenspiel, den Kindermord und das Dreikönigsspiel, als Einleitung werden Mariaverkündigung und das Suchen der Herberge verhandelt, ein Adventslied dient als Prolog. Hartmanns Rosenheimer Dreikönigspiel stammt, wie der Name vermuten lässt, aus Rosenheim, erkennbar auch an dem zum Teil zum Einsatz kommenden Dialekt. Es ist wohl aus dem 15. oder 16. Jahrhundert. Hartmann legt jedoch dar, dass es bereits seit Jahrzehnten nicht mehr zur Aufführung gekommen sei und nur noch mündlich überliefert werde.121 Inhaltlich ist es ebenfalls aus Marienverkündigung, Herbergssuche, Hirtenspiel, Dreikönigsspiel und Kin-
118 Vgl. Pailler, Krippenspiele Band 2, S. 225-281. / Hartmann, Weihnachtsspiel, S. 152-186. / Vogt, Weihnachtsspiele, S.232-281. Alle Zitate folgen diesen Ausgaben. 119 Pailler, Krippenspiele Band 2, S. 226. 120 Ebd., S. 227. 121 Hartmann, Weihnachtsspiel, S. 154.
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dermord zusammengesetzt. So auch Vogts Spiel, das jedoch auf schlesischen Dialekt zurückgreift. Vergleicht man Falckenbergs Ein deutsches Weihnachtsspiel mit den literarischen Vorlagen, fallen etliche Veränderungen auf. Diese betreffen die sprachliche, musikalische und dramaturgische Gestaltung. Die Bearbeitung umfasst sowohl eine stückweise Umdeutung der Figuren, als auch eine Umstrukturierung der Handlung. Falckenberg verschränkt die Textpartikel der Vorlagen baukastenartig miteinander, wobei die Art des Umgangs mit den in den Sammlungen veröffentlichten Texten variiert. Grundsätzlich wird nur Haupttext wiederverwendet, sämtlicher Nebentext ist gelöscht. An manchen Stellen sind lange Passagen aus nur einer Vorlage übernommen, die Figurenrede ist dann entweder unverändert beibehalten, sprachlich leicht bearbeitet oder massiv umformuliert. In anderen Repliken wird Neugedichtetes, das sich stilistisch eng an den alten Texten orientiert, mit Versen mehrerer Vorlagen kombiniert. Dadurch sind durchaus innerhalb einer Figurenrede aus verschiedenen Quellen stammende Verse aneinandergereiht. Die ersten zwei Verse des folgenden Textes, mit dem sich Maria während der erfolglosen Herbergssuche an Josef wendet, sind beispielsweise aus Paillers Sammlung, wohingegen sich die nachfolgenden drei in Hartmanns Edition finden: „O Josef mein, / Wie mag die Welt so untreu sein! / Vor Angst und Kälten müssen wir sterben, / Wenn wir nicht bald eine Herberg erwerben. / O hab Erbarmen, mein Herr und Gott!“ (Ein deutsches Weihnachtsspiel, III. Vorderbühne)
Eine grundsätzliche Veränderung, die auf alle drei Vorlagen gleichermaßen angewendet wird, betrifft hingegen den Einsatz von Dialekt. Er wird in allen drei Spielen vor allem in den Hirtenszenen und zur Charakterisierung von Maria und Joseph als Angehörige des Volkes und zur Erzeugung von Komik verwendet. Als Beispiel sei hier das bei Vogt veröffentlichte Batzdorfer Weihnachtsspiel angeführt: „Staffa: Du, Bruder Grolms, du host selle lange Zota: / Wie es der denn an der Flachs gerota? Grolmus: Hoho! A es mer gerota, daß Gott erbarmt: / Sechs Mandan Klöbla nahm ech onder da Arm, / On wenn ech man sel recht besahn, / Do warn se mer ni 6 Greschla gan! / On wenn ech mer sel die Haller samman, / Do wie rech ni of a holwa Kreuzer komma. / Bruder Stassa, wos host du denn für a Bauer?“ (Batzdorfer Weihnachtsspiel, 2. Auftritt)
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Im Zuge einer Vereinheitlichung des heterogenen Textmaterials und einer Umformung in einen einheitlichen dramatischen Text, sind die in Dialekt verfassten Passagen in Falckenbergs Spiel jedoch abgeschwächt und umformuliert. Sie sind entweder durch Hochdeutsch oder durch Münchener Mundart (vor allem bei den Hirten) ersetzt, wobei allerdings insgesamt das Hochdeutsche dominiert.
5.3.2 Musikalische Gestaltung Die veröffentlichte Ausgabe von Ein deutsches Weihnachtsspiel umfasst keine Noten. Eine Abschrift der für die Uraufführung von Bernhard Stavenhagen erstellten Kompositionen befindet sich jedoch im Fleischmann-Nachlass in Cork.122 Ausserdem lassen zahlreiche Angaben innerhalb Falckenbergs Text Rückschlüsse auf den von Falckenberg intendierten Einsatz von Musik und mögliche musiktheatrale Wirkungen zu. Die musikalische Gestaltung von Falckenbergs Weihnachtsspiel ist nicht mit den Vorlagen deckungsgleich, wobei Pailler, Hartmann und Vogt wiederum eine jeweils unterschiedliche Editionspraxis verfolgen. Bei Vogt sind Noten für die Gesänge in den dramatischen Text eingefügt. Auch äußert er sich explizit zur grundsätzlichen Verwendung von Musik in Weihnachtsspielen: „Die naiven Reimverse der Weihnachtsspiele pflegen noch den alten Hans Sachsischen Stil festzuhalten, und dazwischen singen Maria und Joseph, Engel und Hirten ihre weihnachtlichen Volksweisen, die zum Teil wie das ‚Joseph, lieber Joseph mein‘ in das Mittelalter zurückreichen, aber auch mancherlei späteren Zuwachs erhalten haben.“123
Das von Pailler veröffentlichte Spiel wiederum hat große gesungene Anteile, wobei nur manche Melodien in einem Anhang zugänglich gemacht werden.124 Hartmann hingegen druckt keine Noten ab. Seine Edition enthält lediglich die Texte einiger Weihnachtslieder, auf die innerhalb des Rosenheimer Dreikönigspiels zum Teil Bezug genommen wird:
122 Stavenhagen, Bernhard: Partitur Krippenspiel (Otto Falckenberg). Autograph: Nachlass Aloys Fleischmann, Archiv des University College Cork. 123 Vogt, Weihnachtsspiele 1918, S. 3. 124 Vgl. Pailler: „Alphabetisches Verzeichnis der Lied- und Spielanfänge“, in: Krippenspiele Band 2, S. 477-485.
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„Die Hirten singen Wir singen Victori, es schon die Zeit, / Wo Jesus geboren im Kripplein da leit. / Wir fallen zu Füssen dem liebreichen Kind; / Es wird uns verzeichen all unsere Sünd. (Hierauf wurde manchmal Lied 113 oder 115 eingelegt.)“125
Im Vergleich zu den alten volkstümlichen Spielen weist Falckenbergs Weihnachtsspiel auf Ebene der musikalischen Gestaltung eine größere Varianz und Komplexität auf. Wie in den Vorlagen sind Gesangstexte in den dramatischen Text integriert. Da in der gedruckten Ausgabe Noten fehlen, obliegt es der künstlerischen Freiheit von Interpreten, bei Aufführungen a cappella zu singen oder mit einer Instrumentalbegleitung zu arbeiten. Bei den Musiknummern handelt es sich um alte Weisen und neuere Weihnachtslieder, solistische sowie chorische Nummern. Es ist anzunehmen, dass Falckenberg intensive Überlegungen zu möglichen Klangwirkungen im Raum und zur Integration von Musik in einen Theaterabend angestellt hat.126 Anders als bei Pailler, Hartmann oder Vogt gibt der Nebentext viele Hinweise auf den Einsatz von Instrumentalmusik (bei der Uraufführung in München erklangen hier die von Stavenhagen komponierten Nummern),127 den Einschub solistischer Gesänge128 oder chorischer Passagen der Engel, in die ein Teil des Personals manchmal sogar mit einfallen soll: „Andere Hirten, darunter der alte und der Hüterbub, Bauern, Bäuerinnen, Mägde und Kinder kommen herzu, bewundernd und anbetend, und stimmen jubelnd in das ‚Gloria‘ der Engel ein.“ (Ein deutsches Weihnachtsspiel, V. Hinterbühne) Laut Regieanweisungen hat aus dem Hintergrund häufig Musik zu erklingen, gleich in der ersten Szene soll beispielsweise ein unsichtbarer Engelchor aus der Höhe ertönen (vgl. ebd., I. Vorderbühne). Musik wird sowohl atmosphärisch persuasiv129 als auch aufgrund dramaturgischer Funktionen130 eingesetzt. Oft-
125 Hartmann, Weihnachtsspiel, S. 176. 126 Vgl. etwa die Regieanweisung „Ferne feierliche Musik wird, näher kommend, vernehmbar.“ (Ein deutsches Weihnachtsspiel, VIII. Mittelbühne), oder „Während des Gesangs umschreiten die kleinen Engel im Reigen die Krippe und legen, einer nach dem andern, ihre Blumen hinein. Dann schleichen sie behutsam hinaus. Ein fernes Geigensolo verklingt.“ (Ebd.) 127 Vgl. Kapitel 5.3.5. 128 Vgl. z.B. Ein deutsches Weihnachtsspiel, VIII. Mittelbühne. 129 Vgl. „Engelchor unsichtbar aus der Ferne“ (Ein deutsches Weihnachtsspiel, IV. Mittelbühne).
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mals sind musikalische Nummern an das Ende von Szenen gestellt, um Überleitungen zur nächsten Szene zu unterstützen. Ferner finden sich zahlreiche Ensemblenummern, die von den Engeln oder anderen Figuren zu singen sind: Die sechste Szene etwa ist als eine rein musikalische, große Ensembleszene gestaltet. Auf das Lied der Hirten und Frauen „Es blühen die Maien“ folgt der vom Engelchor intonierte Vers „Gloria“, der beinahe erinnerungsmotivartig im ganzen Stück immer wieder aufs Neue auftaucht. Hier ist Musik in der Lage, „emotionale und affektive Reaktionen auf das Bühnengeschehen“ zu „produzieren und modifizieren“, Identifikationen und emotionale Bindungen zu provozieren.131 Bekannte Melodien können die Distanz zwischen Bühnengeschehen und Zuschauer reduzieren, die Aufnahmefähigkeit erhöhen, das szenische Geschehen um eine zusätzliche semantische und sinnliche Ebene ergänzen sowie das Verhältnis von Raum und Zeit verändern, ein Gefühl von Transzendenz schaffen. Dank dieser musikalsichen Einschübe nähert sich das Weihnachtsspiel gleichsam der Weihnachtsliturgie an. Eine bemerkenswerte Neuerung Falckenbergs ist die Integration eines im 19. Jahrhundert entstandenen Weihnachtsliedes, das bis heute zumeist am Ende von Weihnachtsgottesdiensten steht, an einer außerordentlich prominenten Stelle: In einer der letzten Szenen, auf die nur noch ein Engelschor und die abschließende Replik des Sprechers folgen, stimmen alle Figuren „O du fröhliche“ an. Laut Nebentext sollen die Zuschauer hier sogar in den Gesang mit einsteigen und auf diese Weise gewissermaßen aktiviert, emotionalisiert und in das Spiel integriert werden, sich im Rahmen einer subtilen Lenkung in eine Festgemeinschaft transformieren.132 Musik kann hier dazu beitragen ein Publikum zu kollektivieren, indem auf den weihnachtlichen Erfahrungshintergrund aller und allseits bekannte kirchliche Traditionen rekurriert wird. So, wie sich Familien im Gesang zu Hause an Weihnachten begegnen und Gemeindemitglieder in der Kirche beim Singen finden, treffen sich hier in der Musik Darsteller und Zuschauer. Eine vierte Wand wird vollends aufgehoben.
130 Als sich die heiligen drei Könige nähern, ist „ferne feierliche Musik […] näher kommend, vernehmbar.“ Aufgrund dieser Klänge ahnt Maria, dass etwas geschehen wird: „O Josef mein, / Was mag das für ein Getümmel sein? / Die Trummel hör ich schallen, / Die Pauken hör ich knallen.“ Vgl. Ein deutsches Weihnachtsspiel, VIII. Mittelbühne. 131 Roesner, No more, S. 12. 132 Vgl. Ein deutsches Weihnachtsspiel, VIII. Mittelbühne.
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5.3.3 Figuren Neben Veränderungen auf Ebene der textlichen und musikalischen Gestaltung finden sich bei Falckenberg weitere strukturelle Modifikationen, die unter anderem das Figurenpersonal betreffen. Manche Figuren, wie der bei Hartmann auftretende Jäger oder die bei Pailler in das Spiel integrierten Juden, sind gestrichen. Alle für das Weihnachtsspiel notwendigen zentralen Figuren wie Maria, Josef, die Bauern, das Wirtsehepaar (bei Pailler gibt es nur einen Wirt), die Könige, Hirten, Herodes und dessen Trabanten sind dagegen beibehalten. Das Personal ist um einen Sprecher erweitert, zudem ist aus Hartmanns Spiel die allegorische Figur des Gewissens übernommen. Wenngleich Falckenbergs Sprecher sich an der im St. Oswalder Spiel enthaltenen Figur des Kalfas orientiert, so übernimmt er doch im Großen und Ganzen andere dramaturgische Funktionen. Kalfas ist sowohl an der Handlung beteiligt, als auch „alter rector, regens, proclamator, praedicator, nuntius, praelusor, der Erklärer und Anordner der ganzen Aufführung, der jedem seinen Platz anweist, jeden herbeiwinkt, wenn er den ‚Spruch‘ zu sagen hat, wie er denn z.B. gleich am Schluss der ersten Abtheilung seiner Aemter waltet, die Handlung erläutert und dann schließt“.133 Der Sprecher in Ein deutsches Weihnachtsspiel fungiert hingegen ausschließlich als spielexterne Figur, die mehrere Publikumsansprachen übernimmt und außerhalb des inneren Kommunikationssystems bleibt. Falckenberg hat hier etliche Verse hinzugefügt, die sich in den Vorlagen nicht finden. Der Sprecher eröffnet und beschließt das Spiel, begrüßt das Publikum und wünscht ihm am Ende eine gute Nacht, verleiht dem Stück infolgedessen eine Rahmung. Zu Beginn informiert er darüber, dass es sich bei dem Spiel um „ein geistlich Komedi“ (ebd., I. Vorderbühne) handele, klärt dementsprechend auf, welchem Genre das dargebotene Spiel zuzuordnen ist. Er erwähnt, dass eine wahre Geschichte dargestellt werde, die „sich vor vielen, vielen Jahren hat zugetragen“ (ebd.). Er bittet um Stille vonseiten des Publikums und fordert dazu auf, aufmerksam zuzuhören. Dem Publikum werden somit Anweisungen für ein regelkonformes Verhalten im Zuschauerraum mit an die Hand gegeben, zudem erfährt es, was es nun zu sehen bekommen wird, wie es dies einzuordnen hat und wie es in Beziehung zu eigenen Seherfahrungen zu setzen ist. Der Sprecher informiert, lenkt die Aufmerksamkeit und klärt vor Beginn des Spiels, wie die nachfolgenden szenischen Aktionen gelesen werden sollen. Dem Publikum wird gleichsam unter die Arme gegriffen. Zu diesem Mechanismus äußert sich Erika Fischer-Lichte in Die Entdeckung des Zuschauers:
133 Pailler, Krippenspiele Band 2, S. 227.
194 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR „Damit wird zugleich der Blick auf die Eigenart gelenkt, dass Theater immer innerhalb eines bestimmten Rahmens stattfindet, der die in ihm vollzogenen Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse steuert. [...] Die Setzung eines spezifischen Rahmens zu Beginn einer Aufführung impliziert insofern eine Metakommunikation aller Beteiligten (Darsteller, Zuschauer) über den Modus, nach dem die innerhalb dieses Rahmens erscheinenden Phänomene und Prozesse wahrgenommen und gedeutet werden können/sollen. In gewisser Weise impliziert sie darüber hinaus auch eine Metakommunikation über den zugrunde liegenden Theaterbegriff. Denn der Vorgang der Rahmung lässt bewusst werden, dass nicht nur die Wahrnehmung bestimmter theatraler Vorgänge durch den jeweiligen Rahmen bestimmt wird, sondern es überhaupt erst eines Rahmens – nämlich des Theaterrahmens – bedarf, um Phänomene und Prozesse als theatral wahrzunehmen: Was als Theater betrachtet wird, hängt vom Rahmen ab, in dem es erscheint.“134
Doch auch innerhalb des Spiels meldet sich der Sprecher dreimal zu Wort und wendet sich in direkten Publikumsansprachen an die Zuschauer, fordert Reaktionen geradezu ein. Er fasst bisher Geschehenes zusammen und kündigt das Kommende an, erleichtert auf diese Weise die Rezeption und das Nachverfolgen der Geschichte. Indem er etwa dazu auffordert, aus der Weihnachtsgeschichte Konsequenzen für das eigene Handeln zu ziehen, erhalten seine Worte eine moralisierende Funktion: „Ihr lieben: Leut, nehmt’s euch zu Herzen, / Seid doch mildtätig zu aller Zeit.“ (Ebd., III. Vorderbühne) Neben der Informationsvergabe und Lenkung der Aufmerksamkeit von Zuschauern dienen bei einer szenischen Umsetzung die Passagen des Sprechers der Gestaltung geschmeidigerer Szenenübergänge. In der dritten Szene etwa ist zwischen das Ende der Herbergssuche und den Beginn der Hirtenszene eine Replik des Sprechers geschoben. Hier erläutert er kurz, dass Maria und Josef sich nun in einem Stall eingerichtet hätten und man zu einem anderen Schauplatz, dem Rastplatz der Hirten, wechsele. Auf diese Weise wird die hochgradig sprunghafte Dramaturgie, die diesen Spiele wegen der stationendramahaften permanenten Ortswechsel und großen Zeitsprünge innewohnt, ein stückweit erklärt und vermittelt. Während bei Hartmann zwischen diesen beiden Szenen kein textlicher Übergang existiert, kann bei Falckenberg über die episierende Sequenz eine Brücke zwischen den Szenen, der Raum für eine von den Zuschauern imaginierte verdeckte Handlung, geschaffen werden. Bei Hartmann sprechen Josef und die schwangere Maria zunächst mit dem Wirt, dann gehen alle ab. Maria und Josef treten gleichwohl sofort wieder auf, haben nun plötzlich „ein Körbchen mit
134 Fischer-Lichte, Erika: Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts. Tübingen / Basel 1997, S. 60f.
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dem Christkind“ (Rosenheimer Dreikönigspiel, S. 171) in der Hand und begrüßen das „edle Kind“ (vgl. ebd.). Bei Pailler ist ähnlich wie bei Falckenberg zwischen die Herbergsszene und den Beginn des Hirtenspiels ein Monolog von Kalfas geschoben, der die Handlung der ersten Szenen zusammenfasst, zu gutem Verhalten auffordert und die Hirtenszene ankündigt. Allerdings ist hier trotz der ebenfalls episierenden Tendenzen der Bruch der Fiktion beziehungsweise die Unterbrechung der Handlung weniger stark, da Kalfas im Gegensatz zum Sprecher an der Handlung beteiligt ist und somit sowohl im inneren als auch im vermittelnden Kommunikationssystem agiert. In Vogts Text lösen musikalische Nummern am Ende der Szenen und ein im Nebentext geforderter Zwischenvorhang die Problematik der abrupten Szenenund Schauplatzwechsel: Am Ende der 1. Szene singt Maria für Joseph „Ach Joseph, liebster Joseph mein“. „Während des letzten Verses“ tritt dann „der Engel Gabriel“ ein, und „indem er mit stummer Geberde hinausdeutet, schreitet er über die Bühne.“ Darauf folgen „Maria und Joseph hintendrein“, es schließt eine „kurze Pause“ (vgl. Batzdorfer Weihnachtsspiel, 1. Szene) an. Der Abtritt des Paares wirkt somit wie von außen, wie von einer göttlichen Instanz gelenkt. Nun findet das Hirtenspiel statt, zu dessen Abschluss die Hirten singen. Dann treten sie (laut Nebentext) einmal ab und wieder auf. Daraufhin gruppieren sie sich vor einem Zwischenvorhang, der sich anschließend teilen sollte: „Maria hinter der Krippe stehend, rechts von ihr zwei Engel, links Joseph und ein Engel.“ (Ebd., 3. Szene) Bei der Figur des Gewissens wiederum orientiert sich Falckenberg an Hartmanns Text, der in seiner Einleitung zum Rosenheimer Dreikönigspiel auch die theatergeschichtliche Herkunft dieser Figur erläutert.135 Anders als in Hartmanns Vorlage, in der das Gewissen nur acht Verse spricht, ist es bei Falckenberg aber mit mehr Text versehen. Es spricht sechsmal und tritt sowohl mit den Teufeln als auch mit Herodes in einen Dialog. Zudem stellt es sich bei seinem Auftritt Herodes vor: „Ich bin dein Gewissen! Kennst du mein’ Stimm?“ (Ein deutsches Weihnachtsspiel, VII. Vorderbühne) Möglicherweise findet diese Informationsvergabe statt, damit Zuschauern, die nicht mit dieser Theaterform vertraut sind, die Einordnung dieser Erscheinung leichter fällt. Mit Sicherheit wendet der Autor die Aufwertung und Erweiterung dieser Figur, die nicht in der biblischen Weihnachtsgeschichte vorkommt und auf mittelalterlichen Theatertraditionen basiert, auf dramaturgisch inhaltlicher Ebene zur Erzeugung größerer Dramatik und Spannung und als Option für eine größere szenische Präsenz an. In diesem Sinne erweitert er auch ohne jegliche dramaturgische Notwendigkeit die Anzahl
135 Vgl. Hartmann, Weihnachtsspiel, S. 161.
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der in derselben Szene auftretenden Teufel von zwei – wie bei Hartmann – auf drei. Eine bemerkenswerte Positionierung Falckenbergs betrifft den Umgang mit der in vielen Weihnachtsspielen üblichen und auch bei Pailler enthaltenen Judenkarikatur. Paillers Text, an dem Falckenberg sich ansonsten stark orientiert, baut zum einen textlich eine historisch inkorrekte, große Opposition zwischen Juden und Christen auf, und integriert zum anderen zahlreiche antisemitische Kommentare in die Figurenrede. Jesus wird als Christ charakterisiert, der in eine scheinbar bereits existente christliche Gemeinschaft hineingeboren wird: „Es soll ein König geboren sein unter den Christen.“ (St. Oswalder Spiel, 20. Szene) „Das Konstrukt eines arischen Jesus“ hatte sich im Kaiserreich „zum Diskurs formiert.“136 Laut des Theologen Martin Leutzsch gibt es „die Idee eines ethnisch nichtjüdischen Jesus seit einer handschriftlichen Notiz Fichtes von 1804“.137 Falckenberg hingegen nimmt diesen Diskurs nicht auf und ersetzt an allen entsprechenden, von Pailler übernommenen Stellen den Begriff des „Christenkönigs“ durch „Judenkönig“. Außerdem ignoriert er eine in Paillers Edition extrem gewichtige Szene, die aus der Handlung vollkommen unmotiviert ist und einer Verspottung von Juden dient. Diese Judenkarikatur legitimiert Pailler in seiner Einleitung aus der Tradition der Weihnachtsspiele heraus: „Weiters haben wir noch eines Kuriosums zu erwähnen; wir meinen die in der III. Abtheilung 20. Sz. auftretenden Juden mit ihrem gleich tollen Gemauschel und Tanz. Dem ersten Anschein nach ein ganz fremdes Element, nach Stil und Inhalt über den sonst so treu bewahrten Rahmen des naiven frommen Spiels hinaus brandend, ist die Judenszene gleichwohl als solche an sich ein altes Recht des ludus de nativitate. Gerade der Tanz ist nicht spätere Narrethei, sondern Entwicklung jenes Benehmens des Archisynagogus und seiner Genossen, welches bereits im Benediktbeurer Spiel (XIII. Jahrhundert) genau beschrieben und vorgeschrieben wird. [...] In dem ‚imitando gestum Judaei in omnibus’ lag schon der Keim zur Karikatur, die sich bald breit machte und von da kostete es nur einen Schritt, um auch den Text zu vertollen und wir haben nun in unserm sonst ganz würdigen Spiel dies pudelnärrische Mauschelei: Doch nur ihr Auftreten ist ganz unmotiviert und geschieht
136 Leutzsch, Martin: „Karrieren des arischen Jesus zwischen 1918 und 1945“, in: Puschner, Uwe und Clemens Vollnhals (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte. Göttingen 2012, S. 195-217 (S. 198). 137 Ebd.
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überraschend; dagegen ist ihr Abgang mit dem Organismus des Spieles in Verbindung gebracht.“138
Diese Szene ist im von Pailler herausgegebenen Spiel dementsprechend gestaltet. Zwei Juden tanzen, singen und treiben Handel miteinander. Sie müssen ein Lied anstimmen, in dem sie selber ihre Bräuche verspotten und erklären, stets alle Christen zu betrügen: „Jud warum gehst du in d’Synagog? / Heitrenei, Schelmachei, wiederum Hei, Hei! / Jud’ warum bußst du die Sau aufs Loch? / Heitrenei, Schelmachei, wiederum Hei, Hei! / Jud’ daß du im Handl alle Christen bescheißt’st etc.“ (Ebd.)
Falckenberg bezieht insofern zu dieser Tradition Stellung, als er diese Szene vollständig außer Acht lässt und sich auf diese Weise indirekt von ihr distanziert. Gleichwohl verzichtet er bei der szenischen Umsetzung seines Spiels 1906 in München offensichtlich nicht auf die Verballhornung fremder Völker als exotistischem Element. So wird von Georg Fuchs berichtet: „Die clownartigen Mohrensklaven des Herodes schienen nichts anderes zu sein als die Brüder der grotesken Maruskatänzer Meister Graßers oben am Sims dieser alten Ratsstube.“139
5.3.4 Dramaturgische Veränderungen Bei einem Vergleich von Falckenbergs Spiel mit den Vorlagen stellt man fest, dass nicht nur auf Ebene der Figuren Änderungen vorgenommen worden sind. Vielmehr hat Falckenberg strukturelle Umgestaltungen der Handlungsabfolge realisiert, welche die Grundlage für effektvollere Inszenierungen schaffen und außerdem eine mittelalterliche Weltsicht durch eine modern christliche zumindest teilweise ersetzen. Falckenberg behält die einzelnen Handlungselemente der Geschichte um Jesu Geburt generell bei, ändert aber die Ereignis- und Szenenabfolge entschieden. Die Herodesszenen, die in den verwendeten Spielen aufgeteilt und auf die Mitte und das Ende des Spiels verteilt sind, bündelt Falckenberg und verlagert sie in das Zentrum des Spiels. Die dramaturgische Maßnahme der Vorverlegung dieser Handlungssequenz führt zu einer Straffung der Handlung und verringert die An-
138 Pailler, Krippenspiele Band 2, S. 230. 139 Fuchs, Revolution, S. 45.
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zahl der Schauplatzwechsel. Bei Falckenberg folgt demzufolge auf den Prolog die Marienverkündung, dann die Herbergssuche, das Hirtenspiel, die Begegnung der Könige mit Herodes, Herodes’ Aufeinandertreffen mit dem Gewissen, Maria und Josef in der Krippe, die Ankunft der Hirten und dann die Ankunft der Könige, so dass am Ende alle in der Krippe vereint sind.140 Anders als in vielen mittelalterlichen Quellen141 und einem Teil der verwendeten Vorlagen, so beispielsweise auch im St. Oswalder Spiel, wo Herodes sich umbringt und Kalfas anschließend das Geschehene kommentiert (vgl. St. Oswalder Spiel, 38. Szene), begeht Herodes bei Falckenberg keinen Selbstmord. Er wird hingegen von den Teufeln gequält und flüchtet dann, ohne dass genaue Informationen darüber vergeben werden, was mit ihm passiert: „Herodes: Wer würgt mich? Ich ersticke! Luft! (Rennt hinaus. Die Teufel hinterdrein.) Der Sprecher: Gott Lob und Dank, daß er entwich, / Der hartgefrorene Wüterich!“ (Ein deutsches Weihnachtsspiel, VII. Vorderbühne)
Im Rosenheimer Dreikönigspiel wird Herodes indessen am Ende von zwei Teufeln in die Hölle gezogen. Deren letzten Worte beschließen das gesamte Spiel: „Wir sind schon da, die du begehrst! / Mit Leib und Seel uns zugehörst! / Gelt! Gelt! wir haben dich gefangen / Mit Ketten und mit Schlangen? / Du Missgeburt, du Last der Welt! / Das Urtheil hat dir Gott gefällt. / Fort mit dem schwarzen Gesell / In die Höll! / Fort, fort!“ (Rosenheimer Dreikönigspiel, S. 187)
Im Batzdorfer Weihnachtsspiel wiederum wird Herodes kurz vor Schluss von der allegorischen Figur des Todes mit einem Pfeil in das Herz gestochen und in die Hölle geschickt. Darauf folgt eine kurze Ansage des 1. Dieners, an der Falckenberg sich ganz offensichtlich orientiert. Der Diener wünscht hier dem Publikum eine gute Nacht: „Ich wünsche allen eine gute Nacht!“ Außerdem verspricht er, dass man das Spiel beim nächsten Mal besser darbiete, falls es diesmal „schlecht gemacht“ gewesen wäre (vgl. Batzdorfer Weihnachtsspiel, 3. Szene). Indem an den Schluss der älteren Spiele der Tod des Herodes verlegt ist, enden sie mit etwas Grauenhaftem. Sie warnen vor der Hölle, vor Gottes Zorn sowie vor jeglichem Fehlverhalten. Auf diese Weise senden sie einen letzten Appell an die Zuschauer, sich gemäß der katholischen Glaubenslehre zu verhalten:
140 Diese Begegnung aller im Stall findet sich bei Hartmann gar nicht, da hier das Dreikönigsspiel fehlt. 141 Zum Selbstmord Herodes’ als Element der Handlung geistlicher Spiele vgl. Hartmann, Weihnachtsspiel, S. 158ff.
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„In der Höll’ wird er jetzt ewig gebrennt. / Gott möchte’ uns alle behüeten davor: / Das wünsch’ ich euch und uns alln zu einem neuen Jahr.“ (St. Oswalder Spiel, 38. Szene)
Falckenbergs Spiel dagegen beschwört nicht den Glauben an eine Hölle und endet stattdessen mit einem großen, festlichen Schluss. Dieses Ende steht ganz im Zeichen des modernen, säkularen Verständnisses von Weihnachten als Fest der Versöhnung und Freude. Zunächst singen alle Figuren gemeinsam „O du fröhliche“. Daraufhin tritt der Trabant des Herodes auf. Er wird von allen überzeugt, das Kind, das eh „weit, weit schon fort“ (Ein deutsches Weihnachtsspiel, VIII. Mittelbühne) sei, nicht zu töten sondern ebenfalls anzubeten. Die vorletzte Szene ist dann als ein großes Tableau angelegt, man huldigt Maria und ihrem Kind, der Chor der Himmlischen singt „Gloria in excelsis deo“. Im Nebentext ist die Szenerie wie folgt beschrieben: „Der Himmel ist offen. Die himmlischen Heerscharen, in ihrer Mitte Maria mit dem gekrönten Jesusknaben. Alle knien anbetend nieder.“ (Ebd., IX. Vorder-, Mittel-, Hinterbühne) In einer letzten, kurzen Replik beschließt der Sprecher das Spiel, löst die Illusion auf und wünscht im Namen aller Beteiligten wie bei Vogt eine gute Nacht: „Dies war das End von unserm Spiel, / Drum ich es eurer Gunst empfiehl, / Wir alle, die es gespielt und erdacht / Wünschen euch eine gute Nacht.“ (Vgl. ebd., X. Vorderbühne) Neben der Verschiebung der Herodesszene, welche die Sprunghaftigkeit der Handlung verringert und die Logik ihres Ablaufes vergrößert, nutzt Falckenberg ferner andere Verfahren, um einzelne Szenenübergänge weitaus eleganter und effektvoller zu gestalten. Wie bereits gesagt, setzt er Musik ein, integriert Passagen des Sprechers oder streicht unmotivierte Auftritte von Figuren. Am Ende des Rosenheimer Hirtenspiels beispielsweise schlafen die Hirten auf einer Wiese ein. Daraufhin tritt Maria auf, es folgt ein kurzer Dialog zwischen den Hirten und Maria (vgl. Rosenheimer Dreikönigspiel, S. 174ff). Plötzlich fordert Maria die Hirten auf, den Stall zu verlassen. Durch den Auftritt Marias wird ein Schauplatzwechsel von einem Außen- in einen Innenraum behauptet, ohne dass die an der vorigen Szene beteiligten Figuren abgetreten wären. 142 Maria verschwindet nach ihrem kurzen Auftritt wieder, ein Jäger, der als Figur zur Erzeugung von Lokalkolorit dient, und ein alter Hirte treten auf und ab. Dann folgen die drei Könige. Der Schauplatz ist nun Herodes’ Reich.
142 Bei der üblichen Aufführungspraxis gab es natürlich keine richtigen Auf- und Abtritte. Dadurch, dass die Darsteller, die gerade nicht an einer Szene beteiligt waren, in einer Reihe im Bühnenhintergrund standen, gab es trotzdem durchaus eine räumliche Trennung zwischen spielenden und wartenden Darstellern.
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Falckenberg hingegen handhabt diese Stelle vollkommen anders, auch wenn er sich eindeutig an Hartmanns Edition orientiert, da bei Pailler direkt auf die Hirten- die Königsszene folgt und es hier keinen Übergang gibt. In Falckenbergs Spiel erscheint Maria nicht. Stattdessen treten am Ende des Hirtenspiels Engel auf, singen und werden bald durch eine hinzutretende Dorfgemeinschaft, Bauern, Mägde und Kinder, unterstützt (vgl. Ein deutsches Weihnachtsspiel, IV. Mittelbühne ff). Alle stimmen nun die Weise gemeinsam an, die Hirten wachen auf und steigen in den Gesang ein. Durch diese große musikalische EnsembleSzene wird dem Moment etwas Wunderbares und Erhabenes verliehen. Der Einsatz von Musik verändert das Verhältnis von gespielter Zeit und Spielzeit und lässt die Zeit gleichsam still stehen. Musik hat hier eine konstitutive Bedeutung, lädt das Szenische atmosphärisch auf, hat ein verbindendes, großes affektives Potential und darüber hinaus strukturelle und dramaturgische Funktionen. Ein Höhepunkt wird herausgearbeitet, eine Szene „durch eine musikalische Schlusswirkung abgerundet“,143 diskontinuierlichen Szenenwechseln entgegengewirkt. Nach der Gesangsnummer verlangt der Nebentext ein Schließen des Vorhangs, der Sprecher tritt auf und leitet zur nächsten Etappe der Geschichte, zur Begegnung der drei Könige mit Herodes, über: „Ihr feinen Herren, schöne Damen und Kindlein fromm, / Ich aus meinem Verließ jetzo wieder herfürkomm, / Muß auch doch fragen, ob euch allen / Unser Spiel bis daher hat gefallen. / Wir haben jetzt gesehn, wie den Hirten auf dem Feld / Der Engel die Geburt des Heilands hat vermeldt. / Die Hirten sind vom Schlaf aufgewacht / Und haben sich gleich nach dem Bethlehem aufgemacht. / Ehvor sie aber kommen dorthin, / Hör ich die heiligen drei König ihre Stimm’.“ (Ab.) (Ebd., VII. Vorderbühne)
5.3.5 Die Uraufführung von Ein deutsches Weihnachtsspiel Ein deutsches Weihnachtsspiel wird unter Falckenbergs Leitung in der Adventszeit des Jahres 1906 uraufgeführt. Trotz der Verarbeitung älterer Textfragmente und des Rückgriffs auf eine aus dem Mittelalter stammende Spieltradition findet er allerdings auf textlicher Ebene und bei der szenischen Umsetzung zu einer völlig eigenen und neuen Form einer theatralen Annäherung an die Weihnachtsgeschichte. Obgleich er im Vorwort der Textausgabe die Schlichtheit der ersten szenischen Umsetzung des Spiels in München anmerkt, dass nur eine Darbietung
143 Bullerjahn, Filmmusik, S. 70.
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im Weihnachtszimmer von „noch reinerer Einfachheit“144 hätte sein können und sich nicht zu dem Umstand äußert, dass er persönlich als Regisseur enormen Einfluss auf ebendiese Uraufführung genommen hat, lassen die Quellen und Berichte eine eigenwillige und zumindest semiprofessionelle Aufführungspraxis vermuten. Mit der Hinwendung zu den Weihnachtsspielen beschäftigt sich Falckenberg mit einem Genre, das sich grundlegend vom Theater bürgerlicher Prägung unterscheidet. Den Bruch mit bürgerlichen weihnachtlichen Stoffen akzentuiert er wie viele andere Vertreter der Theateravantgarde nach der Jahrhundertwende durch eine Inszenierung, die sich auf verschiedenen Ebenen von bürgerlichen Aufführungstraditionen distanziert. Jedoch imitiert er keinesfalls im Gegenzug die in den Sammlungen beschrieben Darstellungspraktiken der Weihnachtsspiele. Er findet stattdessen zu einer ungemein individuellen Art der Präsentation, die sich als eine originäre künstlerische Umsetzung, als eine Inszenierung fassen lässt. Wenngleich das Weihnachtsspiel durch Falckenberg aus dem ursprünglichen, ländlichen Aufführungskontext vollständig herausgelöst und in einem zutiefst städtisch repräsentativen Raum dargeboten wird, nutzt er kein Theater und somit keine Guckkastenbühne als Aufführungsort. Stattdessen experimentiert er mit Räumen, die normalerweise nicht für Theatervorstellungen genutzt werden und lässt die Uraufführung im spätgotischen Münchener Rathaussaal spielen. Die Produktionsbedingungen hingegen orientieren sich am professionellen Theater. Ein aus Spezialisten bestehendes Team ist für die Umsetzung verantwortlich und zeugt von einem außerordentlich hohen künstlerischen Anspruch aufseiten Falckenbergs. Er führt persönlich Regie, Bildhauer Schreiögg, Professor an der „Akademie für bildende Künste“, ist für das Bühnenbild verpflichtet. Professor Stavenhagen, Direktor der „Akademie der Tonkunst“ und Pianist, kümmert sich um das Musikalische. Seine Kompositionen sind zwar in Motivik und Instrumentierung schlicht gehalten, bedeuten aber gegenüber traditionellen Weihnachtsspielen einen umfassenderen Einsatz musikalischer Mittel. Dies drückt sich auf Ebene der Besetzung aus, und wird außerdem aufgrund der offensichtlichen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Klang und Raum deutlich. Stavenhagens Kompositionen sind für mehrere Streichinstrumente, Harfe, Schlagwerk, vier Trompeten und zwei Harmonien erstellt,145 zudem sind ein dreistimmiger Chor und Solisten beteiligt. Folgt man Stavenhagens handschrift-
144 Falckenberg, Weihnachtsspiel, S. 13. 145 Petzet, Wolfgang: Otto Falckenberg. Mein Leben – mein Theater. Nach Gesprächen und Dokumenten aufgezeichnet. München 1944, S. 160.
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lichem Klavierauszug und der erhältichen Ausgabe von Falckenbergs Spiel, soll sowohl im Raum als auch hinter der Bühne musiziert werden. Neben dem Regieteam rekrutieren sich auch Publikum und Darsteller aus einem (gut-)bürgerlichen, akademisch interessierten bzw. gebildeten Personenkreis, der vermutlich nie die in den Sammlungen enthaltenen Spiele selber gesehen, geschweige denn gespielt hat. Professionelle Schauspieler und Laien sind an der Produktion beteiligt. Wolfgang Petzet berichtet, dass „Studenten, Künstler, junge Schriftsteller und ihre Frauen und Kinder“146 auf der Bühne gestanden und die „drei späteren Professoren Otho Orlando Kurz, Hans Schwegerle und Max Unhold, Architekt, Bildhauer und Maler“147 den Ausrufer, Herodes und das Gewissen dargestellt hätten. Die aus der „Schule Reinhardts“148 hervorgegangene „Erna Urfus, die Schwester von Maria Moissi und Leo Greiners junge Frau“,149 spielt Maria. Thomas Mann und Georg Fuchs sind als Zuschauer zugegen. Dank der Zusammenarbeit mit anderen Künstlern und dank des Engagements professioneller Darsteller kommt im Münchener Rathaus ein ungewöhnlich ausgearbeitetes Weihnachtsspiel zur Aufführung. Trotz der Beteuerungen Falckenbergs, sich weniger und einfacher Mittel bedient zu haben, also nah an der ursprünglichen Aufführungstradition der Spiele geblieben zu sein, findet ein nicht unerheblicher Grad an Perfektionierung und Modifikation des Weihnachtsspiels als dramatischer Form statt. Die Münchener Neuproduktion muss sich außerordentlich von zuvor erfolgten Darbietungen des St. Oswalder, Rosenheimer und Batzdorfer Spiels unterschieden haben. Dies wird deutlich, wenn man in Betracht zieht, in welchem Aufführungskontext sich die Weihnachtsspiele bewegten, nachdem sie sich aus einem streng klerikal-kirchlichen Umfeld gelöst hatten und zunehmend in einer ländlichen Umgebung gepflegt wurden: Für die Ausstattung standen nur geringe Mittel zur Verfügung, die Darsteller waren durchaus manchmal Analphabeten und konnten nur in geringem Umfang im Selbststudium die eigene Rolle lernen. Zudem waren Spielleiter und Organisatoren nicht mit professionellen Theaterformen vertraut, so dass die in regelmäßigen Abständen stattfindenden, mit einfachsten Mitteln realisierten Darbietungen der immer selben Stücke mit Sicherheit eine starke Schematisierung aufwiesen. Eine Sichtung verschiedener Quellen beweist tatsächlich, dass der Regisseur Falckenberg deutlich mehr Mittel aufgewendet hat, als im ursprünglichen Auf-
146 Ebd. 147 Ebd. 148 Fuchs, Revolution, S. 46. 149 Petzet, Falckenberg, S. 160.
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führungskontext jemals zur Verfügung gestanden hätten. Nicht nur auf textlicher (durch Bearbeitung der Vorlagen), sondern auch auf aufführungspraktischer Ebene findet eine Aneignung des volkskulturellen Erbes im Sinne verschiedener theaterreformatorischer Gedanken der Moderne statt. Kommentare zur Uraufführung etwa von Thomas Mann und Georg Fuchs zeugen von einer effektvollen szenischen Realisation eines raumgreifenden, imposanten Weihnachtsspektakels. Thomas Mann beispielsweise attestiert der Vorführung, die „Schaulust“ voll befriedigt zu haben.150
5.3.5.1 Bühnen- und Raumkonzept Falckenbergs Bühne für Ein deutsches Weihnachtsspiel ist als ein dreiteiliger Schauplatz mit Proszenium, Mittel- und Hinterbühne angelegt, die durch Vorhänge voneinander getrennt sind. Falckenberg beschreibt die Bühne wie folgt: „Zugleich musste eine Möglichkeit geschaffen werden, die kurzen Szenen unmittelbar aneinanderzureihen und nicht durch Pausen die wechselvolle Einheitlichkeit zu zerreißen. Diese Erwägungen führten mich zu der Konstruktion einer dreiteiligen Bühne, deren vorderer Teil sich weit ausladend in den Zuschauerraum vorbaut und mit ihm durch eine Treppe verbunden ist. Von der Vorderbühne durch eine Art Proszenium getrennt, erhebt sich um eine Stufe die sehr flache Mittelbühne, an die sich die steil ansteigende, rückwärts abgerundete Hinterbühne anschließt. Die Vorderbühne kann durch einen Vorhang von neutralem Blaugrau abgeschlossen werden. Zu beiden Seiten ist sie schräg flankiert von portalartigen Bogen, die mit Gobelins verhängt sind und den Auftritt und Abgang ermöglichen. Hier erscheint der Sprecher, hier spielen sich die kleinen Zwischenszenen ab, wie etwa die Wanderung nach Bethlehem und die Herodesszene. Die Mittelbühne ermöglicht einmal durch einen nischenförmigen Abschluss die streng bildhafte Erscheinung des Verkündigungsengels. Im übrigen wird sie durch einen zweiteiligen Sammetvorhang von tiefdunklem Blau mit aufgestickten silbernen Sternen abgeschlossen.“151
Schreiöggs Bühnenbild verarbeitet demzufolge im Rahmen eines modernen, theaterreformatorischen Aneignungsprozesses Elemente mittelalterlicher Simultanund Shakespearebühnen. Es erinnert an Craigs Vorhangbühne sowie an die von Fuchs theoretisch reflektierte und 1908 im Münchener Künstler-Theater umge-
150 Mann, Versuch, S. 58. 151 Falckenberg, Ein deutsches Weihnachtsspiel, S. 11f.
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setzte Vision einer Reliefbühne.152 Fuchs bezeichnet sie als „eine Vorstufe der Bühne des Künstlertheaters“.153 Mithin wird bei der Uraufführung von Ein deutsches Weihnachtsspiel kein illusionistisches oder gar naturalistisches Prinzip verfolgt: Vorhänge müssen vermutlich von Hand auf und zu geschoben werden, Requisiten gibt es wohl kaum. Vorrichtungen um Bühnenzauber oder wie von Zauberhand, mit technischer Raffinesse organisierte Vorgänge zu schaffen, sind vermutlich nicht vorhanden. Schauplätze sind nicht näher definiert oder nachgebaut. Das Prinzip der Guckkastenbühne ist aufgegeben, die Rampe aufgehoben, auf Kulissenzauber wird verzichtet. Vielmehr nutzt man den ganzen Raum als Spielfläche. Die Dekoration bedient sich einer schlichten Symbolik, ein blauer Samtvorhang mit Sternen symbolisiert den Himmel, Tannengrün die Wiese der Hirten, das mit „duftigen Stoffen von weichstem Weiß“154 ausgekleidete Halbrund der Hinterbühne Wolken. Im Raum aufgestellte Tannenbäume erinnern an den eigentlichen Anlass der Aufführung und sorgen für weihnachtliche Atmosphäre und Düfte.155 Doch trotz ihrer technischen Einfachheit, die in keiner Weise die bühnentechnischen Errungenschaften der Zeit auch nur annähernd nutzt, schafft Schreiöggs Bühne zahlreiche Spielmöglichkeiten und orientiert sich nicht an der für die Weihnachtsspiele typischen Bühnensituation. Sie ist zwar im Vergleich mit anderen Bühnenbildern ihrer Epoche von einer großen Schlichtheit und distanziert sich scheinbar von den Raumkonzepten eines genuin bürgerlichen oder höfischen Theaters. Im Vergleich zur gängigen Aufführungspraxis der Spiele stellt sie aber eine eigene, unabhängige, künstlerische Setzung dar, die nur vorgibt, mittelalterlich zu sein oder ‚aus dem Volk’ zu stammen. Durch ihre Dreiteilung, die zwar sparsame, aber durchaus vorhandene Dekoration und die als Segmentierungsmittel verwendbaren Vorhänge schafft sie zahlreiche Spielorte. Auf-
152 Auch wenn an dieser Stelle das Bühnenbild nicht ausführlich in Zusammenhang zu anderen bühnenbildnerischen Tendenzen und Bestrebungen der Zeit gesetzt werden kann, ist es trotzdem wichtig, auf die Ähnlichkeit zu Georg Fuchs’ Ideen hinzuweisen. Obschon Bühne und Raumkonzept des Künstlertheaters, das auch einen zur Rückwand hin ansteigenden Zuschauerraum mitdachte, deutlich raffinierter und ausgefeilter als Schreiöggs Bühne waren, sind die Ähnlichkeiten unübersehbar. Die Bühne des Künstlertheaters bestand ebenfalls aus einem Proszenium, einer Hauptund einer Hinterbühne. Das Proszenium ragte gleichfalls weit in den Zuschauerraum hinein. Vgl. Littmann, Max: Das Münchener Künstlertheater. München 1908. 153 Fuchs, Revolution, S. 46. 154 Falckenberg, Weihnachtsspiel, S. 12f. 155 Vgl. Petzet, Falckenberg, S. 160.
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und Abtritte sind möglich, zudem gibt es eine Art Hinterbühnen-Bereich, der Umzüge theoretisch möglich macht und als Ort des Geschehens verdeckter Handlung gelesen werden kann. Somit sind Bedingungen für fließende Szenenübergange und ein in sich geschlossenes Spiel gegeben. Bei der Umsetzung der in den Sammlungen enthaltenen Weihnachtsspiele hingegen wird im Gegensatz dazu häufig auf eine Bühne bzw. ein Bühnenbild gänzlich verzichtet. Variabilität in der Nutzung des Raumes wird nicht angestrebt, die Darsteller betreten zum Beginn einer Aufführung gemeinsam den Raum, bleiben in einer Reihe stehen und treten vor, wenn sie an einer Szene beteiligt sind. Abtritte gibt es also bei dieser Aufführungspraxis nicht, die Pailler hinsichtlich des St. Oswalder Spiels erläutert: „Die Spielweise ist insofern interessant, als sich darin die alte deutsche Aufführungsmethode dramatischer Szenen erhielt. Wohl finden, wenigstens jetzt nicht mehr, ähnlich ‚Umzüge der Kompanie‘ wie in dem Oberuferer Spiel nicht statt, immerhin aber treten zu allem Anfang sämtliche Spieler prozessionsweise und gemessenen Schrittes ein, stellen sich in Reih und Glied auf und bleiben während des ganzen Spieles auf dem Bühnenraum, d.h. dem Platz der Wirthsstube oder wo sie spielen dürfen, der zur Aufführung für sie ausgeschieden ist. Die beschäftigten Personen treten vor und begeben sich nach Abspielung ihrer Szene wieder in die Reihe zurück.“156
Ganz offensichtlich entscheiden sich Falckenberg und sein Team gegen diese Art der Darstellung und für eine Bühnenlösung, die zwar Einfachheit und antimoderne Tendenzen suggeriert, keine großen Kulissen hin und her schiebt und oft auf das Verfahren der Wortkulisse zurückgreift, die aber trotzdem die Bühne gleichsam in einen fiktiven Aktionsraum verwandelt, auf dem die Darsteller ausschließlich als Figuren agieren und von dem sie bei Nichtbeteiligung an einer Szene abtreten können, ohne weiterhin sichtbar zu sein. Ihre Bühnenkonzeption schafft vielfältigste Möglichkeiten eines ausdifferenzierten Verhältnisses von Raum und Figuren und somit die Voraussetzungen für das Erstellen einer originären, kreativen Inszenierung im Sinne einer komplexen Nutzung und eines einzigartigen Zusammenspiels zahlreicher Theatermittel. Dank der Bühne kann – wenngleich dieser immer wieder durch episierende Tendenzen durchbrochen wird – ein höherer Grad an Illusion erzielt werden. Unterschiedliche Figurenkonfigurationen bedingen zusätzlich auf der Szene einen größeren Facettenreichtum als bei den ursprünglich üblichen Aufführungspraktiken.
156 Pailler, Krippenspiele Band 2, S. 231.
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Diese Tendenz, bei aller Schlichtheit der Mittel den Grad an Raffinesse szenischer Vorgänge zu erhöhen und so eine künstlerische Einzigartigkeit auf Ebene der Inszenierung und der Aufführungen zu erreichen, wird zusätzlich durch den Umgang mit dem Raum verstärkt. Die durch den Bühnenaufbau erzielte klare Aufteilung des Raumes in einen Bereich für die Zuschauer und eine frontal dazu ausgerichtete Bühne für die Darsteller wird immer wieder unterwandert, da das Spiel nicht auf die Bühne beschränkt ist und stattdessen der komplette Raum als Theaterraum genutzt wird. Auftritte finden sowohl durch die Vorhänge auf der Bühne als auch durch die Saaltüren statt. Die Darsteller erobern sich die ganze Halle und lassen die Zuschauer Teil eines raumgreifenden Spektakels voller Überraschungen werden. Thomas Mann hebt hervor, dass auch die Saaltüren in das Spiel eingebunden waren: „Manche der handelnden Personen, himmlische Heerscharen und rote Teufel, kamen durch die Saaltüren herein und beschritten die Bühne von vorn.“157 Durch diese umfassende Nutzung eines eigentlich theaterfernen Raumes wird der Rathaussaal gleichsam in ein Theater verwandelt. Deshalb konstatiert wohl Georg Fuchs, dass der Bühnenbildner Schreiögg dazu verholfen habe, „im gotischen Prunksaale des alten Rathauses dem Spiel einen architektonischen Rahmen und in Kostüm und Gruppe eine Erscheinungsform zu schaffen, die so wirkte, als ob hier unter der gebräunten Holzdecke, zwischen Zunftbannern und schwerbeschlagenen Eichenpforten immer so gespielt worden wäre.“158
5.3.5.2 Licht und Kostüme Die Kunstfertigkeit, die sich in Falckenbergs Versuch ausdrückt, Einfachheit zu simulieren und trotzdem eigentlich ein ausgefeiltes Raumkonzept zur Anwendung kommen zu lassen, wird durch ein raffiniertes Lichtkonzept unterstützt. Falckenbergs Notizen zeugen von dem Versuch, Licht konsequent als Gestaltungsmittel einzusetzen. Er schildert, dass das „belebende Element“ seiner Bühne das Licht sei. So breche etwa eine „Woge energischen Lichtes machtvoll hervor“ wenn sich „die Himmel öffnen.“ „Die Gruppen des Vordergrundes“ würden hierbei zu „malerischen Silhouetten“ verdunkelt. Die Frauen und Kinder hingegen, die „Gloria in excelsis“ singen, wären „lichtüberflutet“. 159 Auch Georg
157 Mann, Versuch, S. 58. 158 Fuchs, Revolution, S. 45. 159 Falckenberg, Weihnachtsspiel, S. 12f.
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Fuchs attestiert der Darbietung, dass das „elektrische Licht sehr geschickt verwendet“160 worden sei. Die Kostüme erscheinen in den Schilderungen aufwendig und üppig. Hier distanziert man sich augenscheinlich ebenfalls von ländlichen Bräuchen, verwendet keine akkuraten Nachbildungen von Kostümen, die in einer der Regionen, aus denen die dramatischen Vorlagen stammen, gebräuchlich waren. Vielmehr verknüpft man heterogene Elemente. Thomas Mann zeigt auf, dass die Könige mit „prächtigen Gewändern“ aufgetreten seien, die Wirtsleute eine „schwäbische Bauerntracht“ und Herodes’ Häscher eine mittelalterliche Eisenrüstung getragen hätten, also die „Phantasie frei über Raum und Zeit“ geschwebt sei. 161 Georg Fuchs betont, Falckenberg hätte sein Spiel „ohne jeden Archaismus“ auf die Bühne gebracht und habe „nirgends versucht, den Stil durch willkürlichprimitive oder kostümliche Historisierung auf ein altertümliches Wesen zurück zu schrauben.“162
5.3.5.3 Ein religiöses Weihnachtsspektakel Zu einer Zeit, als im Deutschen Kaiserreich die Weihnachtsmärchen in der Weihnachtszeit die Bühnen dominieren und sich das Weihnachtsfest immer stärker zu einem kommerziellen, vorrangig im Privaten begangenen Fest entwickelt, macht Falckenberg eine theatrale Auseinandersetzung mit dem religiösen Kern des Fests wieder populär. Gleichwohl experimentiert er bei seiner Inszenierung mit neuen Ausdrucksformen und reagiert auf die Bedürfnisse eines großstädtisch aufgeklärten Publikums, präsentiert Unbekanntes oder Unvertrautes auf beeindruckende Weise, wie Fuchs’, Manns oder Petzets Kommentare und der nachhaltige Erfolg zeigen. Seine Inszenierung, wohl von einer großen Intensität, distanziert sich zum Teil von der Inszenierungspraxis weihnachtlichen Stehgreiftheaters und macht auf dem Land oder in einer kleineren Stadt wie Rosenheim gepflegte Traditionen theatraler Darstellungen der biblischen Weihnachtsgeschichte für städtisch gebildete Zuschauer erfahrbar. Grundsätzlich wird der nahbare und einfache Charakter der Weihnachtsspiele dadurch beibehalten, dass auf die allseits bekannte Geschichte um die Geburt Christi, den Einsatz von Laiendarstellern, den Verzicht auf ein Theater als Aufführungsort und die Erzeugung von Lokalkolorit durch die Verwendung der Münchener Mundart nicht verzichtet wird. Gleichzei-
160 Fuchs, Revolution, S. 45. 161 Mann, Versuch, S. 57. 162 Fuchs, Revolution, S. 45f.
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tig garantieren ein professionelles Regieteam, eine elaborierte Ausstattung, ein sorgsam ausgearbeitetes Lichtkonzept und vermutlich eine sorgfältig geleistete Regiearbeit ein opulentes Spektakel, das Elemente des weihnachtlichen Gottesdienstes, weihnachtlichen Theaters und der weihnachtlichen säkularen Feier zusammenführt. Weihnachtsbäume fehlen gleichfalls nicht. Das in den Regieanweisungen geforderte effektvolle Finale etwa ähnelt den Schlusstableaux weltlicher Weihnachtsmärchen. Der im Nebentext geforderte Einsatz von Statisten, die Instrumentalmusik, die vielen chorischen Passagen, tableauartigen musikalischen Ensembleszenen und die Nutzbarmachung des ganzen Saales als Bühne lassen ebenfalls ein atmosphärisch dichtes, raumgreifendes Ereignis vermuten. Bei einem gemeinsamen Singen aller (vgl. Nebentext) werden Zuschauer ferner in erhöhtem Maße aktiviert und etwa wie bei einem weihnachtlichen Kirchenbesuch über Gesang in das Ritual integriert. Der auf einer bekannten Melodie beruhende Gesang impliziert folglich nicht nur wie in vielen bürgerlichen Weihnachtsstücken ein imaginäres, sondern ein reales Mitsingen des Publikums, ein kollektives Erlebnis. Diese Form einer Veröffentlichung religiöser Innerlichkeit stiftet und bestärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl von Darstellern und Zuschauern, die so gleichsam zu einer Glaubensgemeinschaft werden können. Ähnlich wie von Kralik und andere Vertreter von Reformbewegungen, die der Moderne kritisch begegnen, macht Falckenberg ursprünglich mittelalterliche Spieltraditionen für eine moderne Theaterpraxis dienlich. Nur scheinbar wendet er sich von der Autonomieästhetik ab. In Herausgeberkommentaren und auf Inszenierungsebene simuliert er Traditionalität sowie Authentizität. Er präsentiert ein sowohl textlich stark bearbeitetes als auch aufführungspraktisch modifiziertes Spiel als „deutsches Weihnachtsspiel“, erklärt es somit gewissermaßen zum kulturellen Allgemeingut. Der dramatische Text gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Falckenberg dem Spiel eine überaus individuelle Prägung gegeben hat. Stattdessen verkündet der Sprecher zu Beginn lediglich, dass es sich bei dem Spiel um eine mehrere Jahrhunderte alte geistliche Komödie handele. Und auch die veröffentliche Textfassung führt Falckenberg nicht als Autor an. Er erscheint hier lediglich als Herausgeber. Die Tatsache, dass Falckenberg (wenngleich Ein deutsches Weihnachtsspiel tatsächlich mit typischen Stoffen und Formen des bürgerlichen Weihnachtstheaters bricht) die Weihnachtsspiele nicht einfach reaktiviert, sondern sich ihnen im Rahmen eines komplexen, kreativen Prozesses nähert und Elemente des modernen bürgerlichen, professionellen LiteraturTheaters mit älteren Spielformen kombiniert, wird verschleiert. Falckenberg agiert durchaus im Sinne einer Autorschaft, kompiliert existentes Textmaterial, baut es neu zusammen, bearbeitet es und schafft so ein eigenes
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Schauspiel. Wie Richard von Kralik in Das Mysterium von der Geburt des Heilandes: Ein Weihnachtsspiel nach volkstümlichen Überlieferungen verwebt er Textbausteine verschiedener alter Spiele ineinander und präsentiert deshalb Überliefertes in einer Neuordnung. Von Kralik betont 1922, er habe mithilfe ebendieses Verfahrens „die Poesie von Jahrhunderten, die Arbeit von Generationen zusammenfassen, retten, erhalten, neubeleben, fruchtbar machen [wollen] für die Gegenwart“.163 Er notiert weiter: „Ich hatte zu diesem Zweck alles zugängliche Material gesammelt, geordnet und ließ nun gewissermaßen aus dem Stoff selbst heraus die Form, den Stil sich abklären.“ 164 Und auch Falckenberg konstatiert 1908, nur „unmerklich ergänzend oder ausgleichend“165 eigenes hinzugefügt zu haben. Er präsentiert sich als Herausgeber, der eben den Elementen, die „in den alten Spielen durch die Jahrhunderte hindurch lebendig geblieben“ 166 waren lediglich dazu verholfen habe, „organisch zusammen zu einer neuen Einheit“167 zu finden: „Nie wurde eine Linie verwischt, eine Farbe übermalt. [...] Uralte Kraft schuf sich selber eine neue, vielleicht die letzte Lebensform: ein deutsches Weihnachtsspiel, dessen Dichter namenlos ist wie die Zeit, und echt wie unser Volk.“168
Demzufolge greift er in seinen Kommentaren auf eine ähnliche Rhetorik wie die Herausgeber der Sammlungen alter Weihnachtsspiele zurück. Er preist die Kraft des Volkes und versteckt die eigene Leistung hinter dessen angeblicher Produktivität. Seine Argumentationsstrategie scheint die von Richard Wagner in Das Kunstwerk der Zukunft propagierten Gedanken, dass in einer zukünftigen Gesellschaft der Künstler durch das Volk als Schöpfer von Kunst abgelöst werden solle,169 geradezu in die Tat umsetzen zu wollen: „Wer wird demnach aber der Künstler der Zukunft sein? [...] Sagen wir es kurz: Das Volk. Dasselbige Volk, dem wir selbst heut zu Tage das in unserer Erinnerung lebende, von uns
163 Kralik, Tage, S. 117. 164 Ebd. 165 Falckenberg, Weihnachtsspiel, S. 11. 166 Ebd. 167 Ebd. 168 Ebd. 169 Vgl. hierzu Münkler, Herfried: „Richard Wagner“, in: François und Schulze, Erinnerungsorte, S. 549-568 (S. 560).
210 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR mit Entstellung nur nachgebildete, einzig wahre Kunstwerk, dem wir die Kunst überhaupt einzig verdanken.“170
Falckenberg suggeriert, von Heimatliebe geleitet deutschem Volkserbe erst so richtig zur Geltung verholfen zu haben. Ungeachtet der Tatsache, dass sein Spiel teilweise in Mundart gehalten ist und auf in Dialekt verfassten Texten beruht, die an lokale Aufführungstexte gebunden waren, wird ihm durch den Zusatz „deutsch“ im Titel gleichsam der Rang eines regionalen Brauchtums ab- und der Rang eines nationalen Erbes zugesprochen. Wie die Sammlungen Paillers, Vogts oder Hartmanns trägt auch dieses Spiel dazu bei, deutsches Mittelalter zu verklären und zum Mythos des deutschen Nationalismus zu erklären. Ursprünglich regional gepflegte weihnachtlich dramatische Traditionen werden zu Hoffnungsträgern der Idee einer Stärkung der deutschen Kulturnation. Das Weihnachtsspiel, das in seiner vorliegenden Form erst von Falckenberg und keinesfalls vom Volk geschaffen worden ist, wird im Sinne einer deutschen Selbstbestätigung in den Dienst genommen.
5.4 G EORG F UCHS
UND
T HOMAS M ANN
Wie an mehreren Stellen bereits angeführt, integrieren Georg Fuchs und Thomas Mann Kommentare zu Falckenbergs Ein deutsches Weihnachtsspiel in ihre theaterkonzeptionellen Reflexionen über die Zukunft des Theaters. Auch wenn an dieser Stelle Fuchs’ umfassendes Reformprogramm, das er in Die Schaubühne der Zukunft und Die Revolution des Theaters entwickelt, und Manns Aufsatz nur kursorisch diskutiert werden können, sollen diese Quellen eine kurze Erwähnung erfahren, weil sie gewissermaßen repräsentativ für das neu geweckte Interesse bürgerlicher Kreise um die Jahrhundertwende für Weihnachtsspiele sind.
5.4.1 Georg Fuchs Georg Fuchs (1868-1949), der sich in den Folgejahren u.a. für eine Neubelebung von Passionsspielen in Bayern einsetzt und den Gedanken eines Massentheaters propagiert, widmet in seiner 1909 erschienenen Schrift Die Revolution des Theaters einen verhältnismäßig langen Abschnitt einem Weihnachtsspiel, dem er „am
170 Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig 1850, S. 220.
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Neujahrstage 1905“171 in Dachau beiwohnte. Darauf folgt ein kürzerer Kommentar zur Uraufführung von Ein deutsches Weihnachtsspiel. Die Dachauer Darbietung hingegen beschreibt Fuchs minutiös und diskutiert Bühne, Kostüme und Darsteller. Wenngleich er den Namen Aloys Fleischmann nicht erwähnt, wird es sich um die Spiele handeln, für die Fleischmann Kompositionen erstellte:172 Fuchs berichtet, dass in Dachau nach einer beinahe 200 Jahre währenden Pause von Münchener Künstlern kurz nach der Jahrhundertwende Krippenspiele wieder eingeführt worden wären. Er schwärmt geradezu von „diesen erneuerten alttraditionellen Krippenspielen“ und erläutert, dass sie in einem neuen Bau, einem „Hof“ stattgefunden hätten, der auch von außen mit „Tannengrün“ und einem „großen, goldpapierenen Stern“ geschmückt gewesen sei.173 Das Publikum hätten „Leute aus München, Künstler und Künstlerinnen“, Dachauer Bauern und Kleriker gebildet.174 Das Bühnenbild sei vom „begabten jungen Maler“ Hermann Stockmann (1867-1938) und August Pfaltz (1859-1917) erstellt worden. Leute aus dem Dorf spielten. Fuchs hebt insbesondere die Einfachheit der Darstellung hervor: die geschickte Verwendung von Musik, das Antinaturalistische, die Vermeidung von Illusionserzeugung oder Kulissenzauber mithilfe eines schlichten, aus Vorhängen bestehenden Bühnenbildes, die sparsame Verwendung von Kostümen, die Arbeit mit Laien und die Orientierung an alten Vorbildern. Zudem vergleicht er die Atmosphäre mit einem Gotteshaus, beschreibt den Charakter der Veranstaltung als gleichsam (semi-)religiös. „Es war wie in der Kirche. Dann wurde es dunkel und die Musik begann. Zwischen Tannenbäumen tat sich ein Vorhang auf und es erschien ein Raum, ein Herdfeuer darin, an dem Männer mit nervigen Armen schwere Arbeit hatten mit den glühenden Eisen. […] Es war kein Versuch gemacht, durch unehrliche Klexereien die Wände als etwas anderes erscheinen zu lassen als das, was sie wirklich waren: ein paar Tücher. […] Ein großer Eindruck war’s, als zu den Buben nun der hl. Joseph trat in rotem Rock, von einem Erwachsenen gespielt. Er war viel, viel größer als die Hirten, recht wie aus einer „anderen Dimension“, ein stilistisch sehr feiner Zug, der noch dadurch verstärkt wurde, daß der hl. Jospeh hochdeutsch sprach. […] In das zweite Bild leitete die Musik mit einer marschartigen Weise ein. Und dann kamen durch den Saal, mitten durch das Publikum, die hl. Drei Könige gezogen.“175
171 Fuchs, Revolution, S. 40. 172 Vgl. Kapitel 5.2. 173 Fuchs, Revolution, S. 41. 174 Vgl. ebd., S. 41f. 175 Ebd., S. 42.
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Auch ist Fuchs der Ansicht, dass vor allem „das szenische Problem des Stalles“ überaus geschickt gelöst worden sei, da man – anstatt ihn realistisch nachzubauen und so „mit der Natur zu konkurrieren“ – auf alles „Naturgetreue“ und „Echte“ verzichtet und stattdessen das „in der alten Krippenkunst traditionelle Requisit des Stalles, mehr ein Stück verfallendes Mauerwerk mit Sparren und starrendem Gebälk, vergrößert auf die Bühne gestellt“, außerdem auf „Flitterwerk und Similitand“ verzichtet habe.176 Weil man also nicht auf Inszenierungspraktiken des „konventionellen Theaters“ zurückgegriffen habe, seien glücklicherweise auch die Kinder nicht in Kostüme gesteckt worden. Deswegen hätten diese in „ihrer Alltagstracht, manche im ärmlichsten Arbeitskittel und barfuß, andere im Sonntagsstaat“ so schön ausgesehen, dass man „unwillkürlich an Dürer und Schongauer dachte.“177 Fuchs romantisiert hier entschieden das ländlich Einfache. Die Armut der Kinder etwa nimmt er keineswegs zum Anlass für Sozialoder Gesellschaftskritik. Stattdessen hebt er hervor, dass die Stärke dieser Aufführung in einem theaterfremden Raum ihr Verzicht auf eine Orientierung am professionellen Theater gewesen sei. Ihre feierlich festliche Stimmung habe sie dabei nämlich nicht eingebüßt. Da man nicht versuche habe, den Raum als etwas anderes erscheinen zu lassen als das, was er tatsächlich sei, und allem „Genre- und Anekdotenhaftem wie auf dem ‚Theater‘“ eine Absage erteilt hätte, sei „ausdrucksvoll das Allgemeine, das Wesentliche zur Empfindung“178 gekommen. Und deshalb könnten hier gerade Kinder, für die das ganze „etwas Großes [sei], das zu Gottes Ehr geschieht“, beeindruckt und ihre „Phantasie“ beflügelt werden.179 Fuchs’ Ausführungen sind nicht unwesentlich von völkischem Gedankengut geprägt. Sein Interesse an religiösen Spielen gründet eher auf einer Faszination für Errungenschaften des Volkes, denn auf einem wirklichen Interesse an einer durch Theaterspiel beförderten christlichen Frömmigkeitskultur oder an dezidiert religiösem Theater, das schichtenübergreifend gemeinschaftsbildend wirkend. Ungeachtet der von ihm zu Beginn der Ausführungen erwähnten Tatsache, dass Münchener Künstler die Spiele wieder einführten sowie leiteten, artikuliert er seine Begeisterung darüber, dass „Typen, Gebärde, Sprache [...] echt Dachau“180 seien und konstatiert, dass alles „aus des Landes Art und Brauch empfunden und
176 Ebd., S. 44. 177 Ebd., S. 45. 178 Ebd., S. 42. 179 Ebd., S. 44. 180 Ebd., S. 43.
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gewollt war.“181 Da Münchener das Bühnenbild erstellten, Fleischmann für die Komposition verantwortlich zeichnete und zum Teil Ortsfremde mit den Bewohnern des Dorfes arbeiteten, ist diese Dachauer Aufführung eindeutig nicht als authentisch einzustufen. „Da konnte man sehen, wie viel rassige Schönheit, wie viel natürlicher Stil und welche Fülle an Ausdruck der Gebärde und Bewegung noch in unserem Volksthume schläft, die bisher noch niemals für die Bühne unverfälscht herangezogen und entwickelt wurde.“182
Fuchs jedoch schenkt den Weihnachtsspielen gerade weil seiner Meinung nach hier „unverfälschtes Volksthume“183 klar in Erscheinung trete viel Aufmerksamkeit. Er ist der Ansicht, dass sie eine beträchtliche Inspirationsquelle für eine moderne Theaterpraxis sein könnten und es auch bereits gewesen sind: „So sind denn die Krippenspiele eine nicht hoch genug anzuschlagende Anregung gewesen im Sinne einer stilistischen Neugestaltung der Schaubühne auf Grund der bodenständigen Ueberlieferung.“184 Aus seinen Ausführungen wird klar ersichtlich, dass er sich von antibürgerlichen theatralen Formaten entschiedene Anregungen für eine professionelle Theaterpraxis erhofft. Dementsprechend deutet er als Abschluss seiner Ausführungen zu den Weihnachtsspielen insbesondere Falckenbergs Versuch, „in München selbst die Krippenspiele wieder neu“185 zu beleben, als eine über alle Maßen lobenswerte und exzellent gelungene Initiative einer Reaktivierung alter Volksspiele innerhalb eines städtischen Umfeldes.
5.4.2 Thomas Mann Wie Georg Fuchs integriert Thomas Mann (1875-1955) Impressionen eines Vorstellungsbesuchs von Falckenbergs Inszenierung in seine Reflexionen über die Zukunft des Theaters. Eingedenk der Tatsache, dass er in seinem Aufsatz von 1907 Versuch über das Theater neben Ausführungen zu Wagners Oeuvre und Falckenbergs Engagement für das Krippenspiel kaum weitere theaterpraktische Beispiele anführt, wird deutlich, welche Relevanz er Falckenbergs Unternehmung beimisst. Und tatsächlich konstatiert er, dass auch wenn „szenische Einfalt
181 Ebd., S. 45. 182 Ebd. 183 Ebd. 184 Ebd. 185 Ebd.
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[…] nicht weiter getrieben“ werden könne als bei dieser Produktion, „Primitivisierung und Vergeistigung der Szene“ keinesfalls „gleichbedeutend mit Dürftigkeit“ sei.186 Es habe vielmehr „nie irgendwelches Theater eine reinere, feinere und lieblichere Wirkung auf [ihn] ausgeübt.“187 Ausgehend hiervon stellt er die These auf, dass „fast gewiß […] dem Volkstheater die Zukunft gehört.“188 In dem „liebevollen Werben von heute um das Puppen-, das Krippen-, das Schattenspiel“,189 somit auch in Falckenbergs Produktion, manifestiere sich wie bei anderen modernen Theaterreform-Bewegungen die „wiedergewonnene Einsicht in die volkstümliche Grundnatur des Theaters“. 190 Inwiefern es sich hierbei auch um eine gezielte Provokation Vertretern der Theaterinstitutionen und eines primär bürgerlich geprägten Betriebs gegenüber handelt, mit der Mann ein verstärktes Nachdenken über den gegenwärtigen Zustand und die Zukunft des Theaters initiieren will, kann an dieser Stelle nicht hinreichend diskutiert werden. Fest steht jedoch, dass seine Forderung nach einer Annäherung des Theaters an die Volkskultur sich erheblich an Richard Wagners Darlegungen zur Schöpferkraft des Volkes zu orientieren scheint, indem er schreibt:191 „[…] ein durch den Geist der Zeiten gebotenes Zurückgehen auf sein Wesentliches, sein populäres Element, ein Sichwiederbesinnen des Theaters selbst – denn aus ihm kommt die Bewegung, nicht etwa aus der Literatur – auf seinen wahren und ursprünglichen Beruf als Volkskunst. Die höfische Epoche des Theaters ist vorüber, die bourgeoise auch, – das Theater will wieder Volksanstalt, Volksveranstaltung werden, niemand zweifelt daran.“192
5.5 E IN DEUTSCHES W EIHNACHTSSPIEL AUF DEN B ÜHNEN Falckenbergs Ein deutsches Weihnachtsspiel weist eine interessante Rezeptionsgeschichte auf. Das Spiel hat nicht nur im Münchener Rathaus, sondern auch andernorts und in recht unterschiedlichen Aufführungskontexten immensen Erfolg.
186 Mann, Versuch, S. 57. 187 Ebd. 188 Ebd., S. 55. 189 Ebd., S. 58. 190 Ebd., S. 59. 191 Vgl. Wagner, Kunstwerk der Zukunft. 192 Mann, Versuch, S. 58.
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An zahlreichen deutschen Bühnen und sogar im Ausland wird es gespielt,193 auch während des Ersten Weltkrieges.194 „Und so geschah es, daß das Deutsche Weihnachtsspiel von München aus seinen Weg nicht nur durch ganz Deutschland, sondern in die Welt nahm, wo irgend deutsche Menschen lebten: zahllose Laienspielscharen und fast alle deutschen Bühnen haben es gespielt; bis nach Amerika und Südafrika hat es deutschen Auswanderern einen Abglanz ihrer seelischen Heimat gebracht.“195
Somit durchläuft Das deutsche Weihnachtsspiel einen aufschlussreichen Prozess der Verarbeitung, Aneignung und überregionalen Verbreitung ursprünglich lokal gebundener Volkskultur. Die von Falckenberg erstellte modernisierte Fassung eines Weihnachtsspiels, die einem nachmittelalterlichen Verständnis von sinnvollem Handlungsverlauf und flüssiger dramaturgischer Gestaltung entgegenkommt, stößt bei vielen Regisseuren auf Interesse. Doch auch fernab der Theater nehmen sich viele des Werkes an, verfolgen gewissermaßen einen Rücktransport in ursprüngliche Aufführungskontexte. Auf der anderen Seite erfolgt durch die Einbindung von Falckenbergs Spiel in den Theaterbetrieb des Deutschen Kaiserreiches eine etappenweise Professionalisierung der Aufführungsbedingungen dieses Krippenspiels. Otto Falckenberg inszeniert sein Werk 1913 abermals. Im Gegensatz zur vorhergehenden Produktion findet die neue allerdings an den Münchener Kammerspielen und nicht im Rathaus statt. Auch stehen nun ausschließlich Berufsschauspieler auf der Bühne. In seinem Vortrag „Die Münchener Kammerspiele in der Augustenstrasse“ hebt Falckenberg die Einfachheit ebendieser Inszenierung hervor, die wie bei der Uraufführung im Rathaus die verschiedenen Schauplätze nicht durch Dekorationen, Kulissen oder Requisiten näher definiert habe. Vermutlich wirkte die Ausstattung im Kontext eines Kunsttheaters noch weitaus reduzierter als an einem alternativen und ungewöhnlichen Spielort wie dem Rathaussaal: „Die Inszenierung gestaltete ich in der Grundidee ebenso wie die im alten Rathaussaale: ganz ohne Dekorationen, die Schauplätze in einer Tannenumrandung, nur durch Vorhänge angedeutet, der Himmel und seine Herrschaaren ganz im Licht. Die Maria spielte – gerade
193 Vgl. Petzet, Falckenberg, S. 161. 194 Vgl. Poensgen, Wolfgang: Der deutsche Bühnen-Spielplan im Weltkriege. Berlin 1934 (Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte. Band 45), S. 133. 195 Petzet, Falckenberg, S. 161.
216 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR zur Bühne gekommen – Käthe Bierkowsky; ich habe nie wieder eine Madonna von solch jungfräulicher Reinheit und Lieblichkeit gesehen.“196
Knapp zwei Jahre nach Otto Falckenberg inszeniert Max Reinhardt eine Neubearbeitung von Ein deutsches Weihnachtsspiel am Deutschen Theater in Berlin, die unter dem Titel Der Stern von Bethlehem auf dem Programm steht. Premiere ist am 27. Dezember 1915, die Produktion wird bis zum 5. Januar 1916 zehnmal gespielt.197 Mit dieser Berliner Aufführung vollzieht sich eine Verlagerung des Spiels und seiner Vorlagen aus einem süddeutschen und katholischen Raum in einen protestantisch-norddeutschen, hauptstädtischen, institutionalisierten Kontext, an eine der großen deutschen Bühnen, ein weiterer Schritt hin zu einer Säkularisierung und Profanisierung ursprünglich religiösen Theaters. Siegfried Jacobsohns, in seiner Zeitschrift Das Jahr der Bühne veröffentlichte Uraufführungskritik vermittelt den Eindruck eines aufwendigen Spektakels, voller repräsentativer Pracht.198 Jacobsohn wirft in seiner Rezension Reinhardt die „Wagnerhaftigkeit“ seiner Inszenierung vor, die nicht zur „Schlichtheit des Stoffes“ passe.199 Auch kritisiert er die musikalische Gestaltung des Abends. Reinhardt habe die musikalischen Nummern der Vorlage um Kompositionen von Bach, „Glockengeläut“, ein „Trompeterquartett und Volksgemurmel“ ergänzt.200 Unerwähnt von Jacobsohn bleibt indes die Tatsache, dass in Berlin außerdem noch die ursprünglich für München entstandenen Kompositionen Bernhard Stavenhagens und Musiken von Georg Schumann und Heinrich Reimann gespielt werden.201 Die Musik Bachs, zu Beginn ertönt die Toccata und Fuge in d-Moll und als Einleitung des zweiten Teiles die Weihnachts-Pastorale in F-Dur, erweist sich laut Jacobsohn als „theaterfremd“.202 Zudem kritisiert er das Lichtdesign, die Ausstattung, die immense Anzahl der Statisten und die vielen szenischen Aktionen. Reinhardts eminent bildgewaltigen Inszenierungsstil und die Üppigkeit
196 Falckenberg, Otto: „Die Münchener Kammerspiele in der Augustenstrasse. Ein Vortrag“, zitiert nach Petzet, Falckenberg, S. 285-324 (S. 289). 197 Boeser, Knut und Renata Vatková (Hg.): Max Reinhardt in Berlin. Berlin 1984, S. 337 und Horch, Franz: Die Spielpläne Max Reinhardts 1905-1930. München 1930, S. 34. 198 Jacobsohn, Siegfried: „Der Stern von Bethlehem“, in: Ders. (Hg.): Das Jahr der Bühne. Band 5 (1915/1916), S. 78-80. 199 Vgl. ebd., S. 78. 200 Ebd. 201 Boeser, Max Reinhardt, S. 337. 202 Jacobsohn, Stern von Bethlehem, S.78.
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der zum Einsatz kommenden Mittel empfindet er offensichtlich als geradezu gigantomanisch: „Jedenfalls hat der bescheidene Falckenberg recht: er hat die Natürlichkeit des dramatischen Ablaufs nicht gestört. Das hat er dem Regisseur überlassen, durch den aus dem ‚Kripperl‘ eine liturgische Tetralogie geworden ist. Mit einem Alberich, namens Herodes, und einer Art Drachen, dem schlechten Gewissen des mächtig mauschelnden Königs. […] Mit Lichteffekten und Opernklimbim. Leitmotiv: Du musst es dreimal sagen! Und jedes Mal in einer andern Tonart. Ein Engel ist als Relief an die Wand geklebt, drei ragen plastisch und golden gen Himmel, der Stern von Bethlehem tanzt dalcrozisch oder sonst wie verkünstelt vor vielzuvielen Statisten einher, Maria gruppiert sich und ihr Kleid und ihr Kind als Lebendes Heiligen-Bild, Holzschnittprimitivität wird angestrebt, aber, mit derselben Inbrunst und erstaunlich geringem Gefühl für die Unverträglichkeit, auch Theaterwirkung von heute.“203
Bezeichnend ist in diesem Kontext, wie sehr sich das für Reinhardts Inszenierung entwickelte Bühnenbild Ernst Sterns von Schreiöggs Entwürfen unterscheidet. Aus Jacobsohns Beschreibungen wird ersichtlich, dass in Berlin die Schauplätze der Weihnachtsgeschichte rund um Jesu Geburt auf der Bühne nachgebaut sind und wie bei einer mittelalterlichen Simultanbühne nebeneinander stehen. Die zwei Kirchenportale gemahnen an den christlichen Grundcharakter der Spiele: „Der Schauplatz ist zwischen zwei Kirchen teils vor einer richtigen Bühne, teils auf ihr – ein vollkommener Nonsens; die Personen treten bald aus den beiden Kirchen, bald aus Lokalitäten, die auf die Bühne gebaut sind, einem Palast, einem Wirtshaus, einem Stall, uns aus den Seitenkulissen hervor: und dies willkürliche Hin und Her, dem nichts weiter als ein Regiebuch, ein technischer Plan zugrunde liegt, ist verwirrend und lästig.“204
Man kann die Feststellung wagen, dass Reinhardts Inszenierung, die dem Primat eines künstlerischen Ausdrucks folgt, eine enorme Distanzierung von der ursprünglichen Darstellungsweise dieser Spiele bedeutet, bei der höchstens eine Krippe aufgebaut ist und der stets eine Spur von Improvisation innewohnt. Reinhardts Herangehensweise macht das Weihnachtsspiel für den professionellen Theaterbetrieb hingegen vollends kompatibel und schafft ein weihnachtliches Spektakel, das sich trotz der im Kern religiösen Handlung nicht grundsätzlich
203 Ebd., S. 79f. 204 Ebd., S. 79.
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von Görners Weihnachtsmärchen unterscheidet: Das Publikum sitzt im „tiefverdunkelten Zuschauerraum“205 und folgt einer sorgsam erarbeiteten, aufwendigen Inszenierung auf der Bühne, einem komplexen Zusammenspiel der verschiedenen Mittel szenischer Interpretation. Falckenbergs Text dient hier somit als Vorlage für eine kreative Umsetzung im Sinne einer individuell künstlerischen Deutung und erfährt eine Nutzbarmachung für das sogenannte Kulturtheater.
5.6 D AS W UNDER Die von Karl Vollmoeller (1878-1948) 1910/11 verfasste Pantomime Das Wunder, zu der Engelbert Humperdinck die Musik komponiert, dient Max Reinhardt ebenfalls als Vorlage für aufwendig spektakuläre, fulminante Theaterereignisse und eine neue Form weihnachtlichen Theaters. Die von Reinhardt zwischen 1912 und 1932 weltweit erstellten szenischen Umsetzungen, die unter dem Titel The Miracle firmieren und so international deutlich leichter zu vermarkten sind, kommen wie die Stückvorlage ohne Sprache aus und haben dementsprechend mit keinerlei Sprachbarrieren zu kämpfen. Sie verknüpfen stummes Spiel, Musik und Tanz miteinander und begeistern trotz zum Teil harscher Kritik vonseiten der Presse weltweit an ungewöhnlichen Spielorten Publikumsmassen immer wieder aufs Neue. Wenngleich Vollmoellers Stück und vor allem Reinhardts Inszenierungen von der Forschung verhältnismäßig ausführlich besprochen worden sind, fehlt eine Diskussion dieses Werkes und seiner szenischen Realisationen unter dem Aspekt weihnachtlichen Theaters bislang.206 Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sich Das Wunder schon bald aus einem weihnachtlichen Aufführungskontext löst und sich ungeachtet nicht zu leugnender inhaltlicher Bezüge
205 Ebd., S. 78. 206 Zur Komposition Humperdincks gibt es kaum musikwissenschaftliche Literatur. Sämtliche Veröffentlichungen zu Reinhardt weisen aber in irgendeiner Form auf die Inszenierungen von Das Wunder hin. Zur Kritik, Inszenierungsweise etc. vgl. beispielsweise Sayler, Oliver Martin: Max Reinhardt and his theatre. New York 1924. / Braulich, Heinrich: Max Reinhardt. Theater zwischen Traum and Wirklichkeit. Berlin 1969, 2. Auflage. / Stefanek, Paul: „Max Reinhardts frühe englische Inszenierungen“, in: Maske und Kothurn. Nummer 15 (1969), S. 374-391. / Marx, Max Reinhardt, S. 126-148. / Tunnat, Frederik D.: Karl Vollmoeller. Dichter und Kulturmanager. Eine Biographie. Hamburg 2008, S. 225-259. / Beniston, Welttheater, S. 143146.
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zum Fest nicht als weihnachtliches Theater im Sinne einer Prädestinierung für den Dezemberspielplan etabliert. Vermutlich wird es weder von der Mehrheit des Publikums noch von der Forschung als dezidiert weihnachtliches Theater wahrgenommen worden sein. Die gigantische Premiere findet unter dem Titel The Miracle tatsächlich am Abend vor Weihnachten,207 am 23. Dezember 1911, mit über 1000 Beteiligten in der Olympia Hall in London statt.208 Dementsprechend liegt die erste Vorstellungsserie in der Weihnachtszeit. Doch schon bald werden aufgrund des immensen Erfolges über das ganze Jahr verteilt Vorführungen gegeben: 1912 kommt The Miracle in Wien, 1913-1915 in Leipzig, Prag, Frankfurt/Main, Karlsruhe, Hamburg, Berlin und auf Gastspielen in Russland zur Aufführung. 1924 inszeniert es Reinhardt am Century Theatre in New York neu, anschließend wandert die Produktion in zahlreiche weitere amerikanische Bundesstaaten und läuft bis 1927 in den USA. 1925 steht es auf dem Programm der Salzburger Festspiele, zudem gibt es 1927 in Dortmund eine Neuinszenierung, Gastspiele in Wien, Prag und Budapest folgen, 1932 Darbietungen im Lyceum Theatre in London.209
207 Vgl. Vollmoeller, Karl: The Miracle. London 1911. 208 „Übertrieben groß waren auch die Requisiten, Kruzifixe, Kirchenfahnen, Baldachine, Armbrüste, Zwiehänder bis zur großen Kanone nach einem Dürerschen Stich. Die Dramaturgie des Hallenspiels verlangte nach Übertreibungen; in letzter Instanz waren alle Maße und Gewichte der Inszenierung von der Dramaturgie des Schautheaters bestimmt: 1800 Mitwirkende, darunter allein 150 Nonnendarstellerinnen, dazu einige Dutzend Ritter zu Pferde, lebende Hunde als Jagdmeute, Auftritte im Zentrum des Kirchenschiffes aus einer 200 Fuß tiefen Versenkung heraus, Scheinwerfer verteilt und auch gebündelt hoch oben am Deckengewölbe, die ihre Lichtkegel in das Kirchenschiff warfen, die Darsteller punktartig erfaßten und verfolgten, Sensationen über Sensationen. Hier war Bewegung, Leben, Tanz, Musik, Zweikampf, Tod und Verderben; hier lebte fromme Andacht neben ausschweifender Orgie.“ Braulich, Max Reinhardt, S. 133. 209 Zum Zusammenhang zwischen der Internationalisierung des Theaterbetriebs zu Beginn des 20. Jahrhunderts und Reinhardts Inszenierungen vgl. Marx, Max Reinhardt, S. 119ff.
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Abbildung 19: London 1911, Bühnenbildentwurf
Nach Entwürfen Ernst Sterns von Hermann Dernburg
Analysen des 1912 veröffentlichten Textbuches von Das Wunder (eigentlich ein Regiebuch mit Anweisungen für das stumme Spiel) sowie von Humperdincks Komposition zeigen jedoch,210 dass es sich hierbei um den Entwurf für eine überaus originäre Form semireligiösen Weihnachtstheaters handelt. Diese Form unterscheidet sich aber grundsätzlich von den zuvor beschriebenen, sich vorrangig der Mimesis biblischer Geschehnisse widmenden Varianten weihnachtlichen Theaters.211 Die gesamte zweite Hälfte der Pantomimenhandlung, welche unter
210 Vgl. Humperdinck, Engelbert: Das Wunder. Grosse Pantomime in zwei Akten und einem Zwischenspiel. Klavierauszug mit Text von Friedrich Schirmer. Berlin 1912. / Vollmoeller, Karl und Max Reinhardt: Das Wunder. Grosse Pantomime in zwei Akten und einem Zwischenspiel. Musik von Engelbert Humperdinck. Berlin 1912. Alle Zitate folgen diesen Ausgaben. 211 Es kommt zu mehr als zehn Bearbeitungen und zahlreichen Inszenierungen von The Miracle durch Max Reinhardt, der auch mit unterschiedlichen Ausstattern (u.a. Ernst Stern, Rudolf Dworsky, Bel Geddes und Oskar Strnad) arbeitet. Die Szenenfolge wird immer wieder variiert, Einar Nilson arrangiert zum Teil die Themen von Humperdincks Musik den szenischen Abfolgen entsprechend neu, für die Salzburger Premiere wird Humperdincks Musik um Kompositionen von Bernhard Paumgartner
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anderem auf einer von Caesarius von Heisterbach im Dialogus miraculorum herausgegebenen mittelalterlichen Marienlegende beruht, 212 findet „am Abend vor dem Christfeste“ (Textbuch, II. Akt, S. 1) statt. Und tatsächlich ruft dieser zweite Akt, in dem die junge Nonne Megildis nach ihrer Flucht in die Welt und allerlei Irrungen in ihr Konvent zurückkehrt, auf Ebene der Musik, der Handlung und der im Nebentext geforderten Ausstattung zahlreiche Weihnachtstopoi auf. Auf dieser Grundlage kann bei Aufführungen eine intensive Weihnachtsstimmung erzeugt werden. Abbildung 20: New York 1923
Bühnenbildentwurf von Bel Geddes
Humperdinck verarbeitet im zweiten Akt kompositorisch ähnlich wie in Bübchens Weihnachtstraum Weihnachtslieder. Bereits der Auftakt des zweiten Aktes führt atmosphärisch direkt in Weihnachten ein, indem ein Chor „Vom Himmel für das Zwischenspiel ergänzt. Seitens des Autors Vollmoeller gibt es vier schriftlich nachgewiesene Überarbeitungen, die u.a. vor allem die Rolle des Spielmanns betreffen. Dementsprechend sind die hier vorgestellten Ergebnisse nicht repräsentativ für sämtliche szenischen Umsetzungen. 212 Zu den von Voellmoller verarbeiteten Quellen vgl. z.B. Tunnat, Karl Vollmoeller, S. 227ff.
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hoch“ singt. Dieser einstimmige Gesang, der laut Klavierauszug „aus der Kuppel“213 erklingen soll, alterniert mit gedämpften, sphärisch anmutenden, intimen kammermusikalischen Streicherklängen (das Streichquartett spielt pianissimo). Dann wird er in seiner Klangwirkung leicht modifiziert, indem der chorische Gesang durch eine solistische Altstimme gedoppelt und somit um eine andere Klangfarbe bereichert wird. Diese Musik kann, zumal wenn der Chor tatsächlich unsichtbar bleibt, eine gleichsam beeindruckende, überirdisch sakral, religiös anmutende Klangwirkung in einem Raum provozieren. Ein Effekt, der sogar noch verstärkt wird, wenn (wie bei Inszenierungen geschehen) der säkulare Aufführungsort in eine Kirche verwandelt wird. „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ stammt von Martin Luther und findet bereits im 16. Jahrhundert auch über den deutschen Sprachraum hinaus Verbreitung. In den ersten fünf Strophen berichtet der Verkündigungsengel den Hirten und damit allen Gläubigen von der Geburt des Jesuskindes. In katholischen Gesangbüchern erscheint das Lied zunächst nur selten, ist dann aber seit dem 19. Jahrhundert verstärkt auch im katholischen und außerkirchlichen Bereich präsent.214 Zu Zeiten der Uraufführung von Das Wunder zählt es bereits zu den berühmtesten deutschen Weihnachtsliedern und ist auch im Ausland bekannt. Seine Integration in eine Aufführung birgt somit die Möglichkeit eines emphatischen, emotionalisierenden Moments in sich. Es kann „Identifikationsprozesse stimulieren und evozieren“,215 an den persönlichen weihnachtlichen Erfahrungshintergrund jedes einzelnen appellieren, ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl und Gefühl von Vertrautheit unter Zuschauern erzeugen, sie über eine kollektive, ähnliche Art der Affizierung in eine Festgemeinschaft, eine gemeinsam Weihnachten zelebrierende Gemeinde transformieren. Darüber hinaus ist das Weihnachtsfest in Das Wunder auch in die Handlung integriert. Eine Gruppe bettelnder Kinder erscheint zu Beginn des Zweiten Akts vor der Kirche und wird von den Nonnen hinein gebeten (vgl. Das Wunder, II.
213 KA, S. 1 (II. Akt). 214 Vgl. Weber-Kellermann, Ingeborg: Weihnachtslieder. München 1982, S. 133ff. / Korth, Hans-Otto: „Zur Entstehung von Martin Luthers Lied Vom Himmel hoch, da komm ich her“, in: Neijenhuis, Jörg und Andreas Marti (Hg.): Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie. Band 44 (2005), S. 139-154. / Ders.: „Martin Luthers Lied Vom Himmel hoch. Zur Herkunft der beiden jüngeren Melodien“, in: Hirschmann, Wolfgang und Hans-Otto Korth (Hg.): Das deutsche Kirchenlied. Bilanz und Perspektiven einer Edition. Bericht über die internationale Tagung in Mainz, November 2008. Kassel 2010, S. 40-51. 215 Bullerjahn, Filmmusik, S. 73.
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Akt, 1. Szene, Nr. 6f). Laut Regieanweisungen sollen Kostüme und Requisiten Bezüge zu Weihnachten herstellen: Alle Kinder haben „große Tannenreiser“ (ebd., Nr. 9) zu tragen, einige sich als „Drei Könige, mit langen Mänteln, Flitterkronen und einem papiernen Stern“ (ebd.) zu verkleiden. Sie werden zu einem Gabentisch geführt (vgl. ebd.) und reich beschenkt. Kurz darauf erscheinen außerdem Bettler sowie Alte an der Tür, die ebenfalls großzügig von den Schwestern bedacht werden (vgl. ebd., Nr. 10). Bei ihrem Auftritt intonieren die Kinder, dabei lediglich von einem Harmonium begleitet, mit „Es ist ein Ros entsprungen“ die zweite berühmte Weise. Diese beruht auf einem kirchlichen Weihnachtslied aus dem 16. Jahrhundert und existiert in katholischen, protestantischen und fremdsprachigen Fassungen. Sie ist gleichsam Teil eines internationalen kulturellen Erbes, ist semantisch eindeutig aufgeladen, auch im Ausland als Zeichen für Weihnachten und vertrautes musikalisches Signal lesbar. Dementsprechend kann sie in zahlreichen Ländern einen ähnlichen Assoziationsraum provozieren.216 Auf diese Weise wird in Das Wunder eine weihnachtliche Feststimmung christlicher Prägung zu Beginn des zweiten Aktes umfassend etabliert. Hinweise hierauf finden sich auf Ebene der musikalischen Gestaltung, der Ereignisabfolge und in den Regieanweisungen, wo etwa eine weihnachtliche Dekoration der Kirche eingefordert wird. Im Gegensatz zu den meisten modernen Weihnachtsstücken wird jedoch weder die bürgerliche Weihnachtsfeier im Privaten, noch die biblische Weihnachtsgeschichte thematisiert. Anstatt einer Orientierung an anderen Formen weihnachtlichen Theaters stellt das Stück den Umgang katholisch kirchlicher Kreise mit dem Fest dar. Die Kirche wird als Ort von Wärme und Zuneigung gezeigt, die Nonnen bestätigen christliche Werte und üben sich in Barmherzigkeit und Nächstenliebe, richten ihre Aufmerksamkeit auf die Schwächsten der Gesellschaft, auf Kinder, Alte, Kranke. Das Fest erscheint demzufolge nicht als Fest der Besitzenden, des Konsumrausches oder als Anlass, die eigene Kernfamilie zu stärken und in Szene zu setzen, sondern als Moment intensiver Wohltätigkeit. Während musikalisch die Geburt von Jesu Christi besungen und gefeiert wird, demonstrieren die Nonnen auf Ebene der Handlung christliche Werte. Gewissenhaft führen sie ihr Amt aus und unterstützen vorbildlich andere Menschen. Dies soll in Ermangelung gesprochener Texte durch sehr klar strukturierte szenische Aktionen vorgeführt werden.
216 Vgl. Weber-Kellermann, Weihnachtslieder, S. 30ff. / Becker, Hansjakob: „Es ist ein Ros entsprungen“, in: Ders. (Hg.): Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder. München 2001, S.135-145.
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Obschon Ironie vermutlich nicht die Wirkungsabsicht der Autoren ist und sich stattdessen bei den Aufführungen atmosphärisch eine Form pseudomittelalterlicher, -katholischer, -christlicher Heiligkeit eingestellt haben mag, weicht die dramatische Handlung genau genommen von katholischen Glaubensgrundsätzen ab. Sie geht insofern spielerisch mit mittelalterlich religiösen Elementen um, als sie ein Ereignis zu einem Wunder erklärt, das durchaus auch als sündhaft beschrieben werden könnte: Schon bald nach dem Auftritt der Nonnen, Kinder und Armen und nachdem die letzte Strophe des Weihnachtsliedes verklungen ist, welche die Reinheit Marias besingt, kommt die Nonne Megildis erschöpft von ihren weltlichen Abenteuern zurück in das Kloster (vgl. ebd., II. Akt, 2. Szene). Anders als in der mittelalterlichen Legende spielt in der folgenden Sequenz das Jesuskind nun eine maßgebliche Rolle und die unbefleckte Empfängnis Marias wird uminterpretiert: Bei ihrer Rückkehr hält Megildis ihr uneheliches, neugeborenes Kind in den Armen. Als sie vor der Marienstatue niederkniet, die sie – nach ihrer Flucht aus dem Kloster lebendig geworden – in ihrem Amt vertreten hatte, bemerkt sie, dass ihr Kind gestorben ist. Daraufhin belebt sich auf wundersame Weise die Statue, der im ersten Akt das Kind abhanden gekommen war (die Sakristanin hatte es ihr entrissen, woraufhin es in den Himmel entschwand), und nimmt den verstorbenen Säugling als ihr Jesuskind an: „Es vergeht einige Zeit. Dann beginnen die gelben Kerzen um das Marienbild zu zucken, wandeln ihr Licht in tiefes bläuliches Glühn. Das Gnadenbild belebt sich noch einmal, beugt sich leise mit den beiden ausgestreckten leeren Armen nieder und hebt das tote Kind empor. Dann schliessen sich die Arme der Madonna wieder fest an ihren Körper, die bildhafte Starre kehrt zurück, die Kerzen leuchten wieder warm und golden wie zuvor und in ihrem Licht wandeln sich die armseligen Windeln des Kindes und Purpur und Brokat. Alle grossen Glocken des Klosters beginnen von selbst laut und feierlich zu läuten.“ (Ebd., Nr. 20)
Kurz darauf erscheinen die anderen Nonnen, feiern die Rückkehr der Marienstatue und des Jesuskindes. Noch einmal erklingt die Stimme des Spielmannes, der einst die junge Nonne dem Schutz des Klosters entlockt hatte, vor der Kirche (vgl. ebd., II. Akt, 4. Szene, Nr. 6). Plötzlich aber erstrahlt das „Gnadenbild in einem warmen himmlischen Licht“. Rosen fallen aus dem Bühnenhimmel, es gibt „vielleicht [eine] Wiederholung des Weihnachtsgesangs vom Anfang“. Die Nonnen feiern das Wunder der Wiederkehr des Jesuskindes und die junge Nonne ist, ohne dass sie Buße hätte tun oder Reue hätte zeigen müssen, ohne jegliche Bestrafung, wieder in den Kreis ihrer Mitschwestern aufgenommen (vgl. ebd., Nr. 7).
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Dieses Wunder, das eine Variante mittelalterlicher Legendenerzählungen darstellt, die auf Ebene der Komposition, Handlung und bei vielen pompösen, eindrucksvollen szenischen Umsetzungen mit modernen Elementen und technischen Errungenschaften vermengt wird, hat immer wieder aufgrund des verhältnismäßig freien Umgangs mit musikalischen liturgischen Traditionen oder der Durchmischung heiliger und profan sinnlicher Elemente zu großer Kritik geführt. So konstatiert der Artikel „Quo vadimus“ in der Kölnischen Volkszeitung vom 31. Juli 1914 etwa: „Was aus katholischem Besitz wird, wenn fremde Hände ihn umformen, das zeigt ja jedem, der sehen will, das Mirakel: Katholizismus, ohne den Geist, der lebendig macht, seelenlose Formen- und Farbenräusche; Mystizismus, der das Ziel verloren hat, und an dem noch immer ein peinlich zu tragender Erdenrest klebt; Romantizismus ohne die blaue Blume, das herzliche Eingewurletsein in die logischen und sittlichen Gründe des Dargestellten; Realismus nur mit dem Scheine geschichtlicher Treue, der mit dem Stoffe arbeitet, den man sogar im Kunstgewerbe ausrottet, nämlich materialunechtem Kitsch.“217
In Vollmoellers Adaption, Humperdincks Komposition und Reinhardts Inszenierungen, die gleichsam eine „religiöse Erfahrung im Spektakel“218 ermöglichen und bei der wie beim Salzburger Großen Welttheater „unterschiedliche Formen einer dogmatisch nicht mehr gebundenen, teils kirchenfernen, teils verweltlichten Religiosität aufeinander“219 treffen, um mit Marcus Twellmann zu sprechen, wird der christliche Urmythos der Geburt des Kindes solchermaßen umgedeutet. Obgleich auch das von Vollmoeller abgebildete Weihnachtsfest den zeitlichen Rahmen für eine Empfängnis bildet, ist diese jedoch nicht unbefleckt. Vielmehr nimmt Maria einen Säugling in ihren Armen auf, der aus einer unkeuschen Beziehung hervorgegangen ist. Er stirbt, wird dann neu geboren und gewissermaßen in das Christuskind transformiert. Auf diese Weise präsentiert das Werk die Weihnachtszeit zwar als eine Zeit der Wunder und der Geburt, die Geburt stellt aber gleichwohl eine ironische Umkehrung der christlichen Tradition dar. Das Christuskind ist sozusagen entheiligt. Mithin bestätigt die Pantomime dennoch grundsätzlich, ohne die unterschiedlichen Bearbeitungen des Werkes, seine Quellen und die mannigfachen
217 Zitiert nach Beniston, Welttheater, S. 145. 218 Diekmann, Stefanie, Christopher Wild und Gabriele Brandstetter: „Theaterfeindlichkeit. Anmerkungen zu einem unterschätzten Phänomen“, in: Theaterfeindlichkeit, S. 7-18 (S. 11). 219 Twellmann, Pietas Austriaca, S. 46.
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Inszenierungen hier näher zu betrachten, Weihnachten als genuin kirchliches Fest. Gleichzeitig wird es jedoch dafür instrumentalisiert, eine in Wirklichkeit zutiefst moderne Interpretation der von Gott initiierten Geburt des Kindes zu entwerfen. Dem Relevanzverlust von Religiosität in der säkularisierten Welt steuert die Pantomime nur scheinbar entgegen. Eine Rückkehr zu einer authentisch mittelalterlichen Form weihnachtlichen Theaters stellt sie nicht dar. Vielmehr eignet sie sich, wie auch bei Ein deutsches Weihnachtsspiel geschehen, mittelalterliche Überlieferungen an und nimmt sie in den Dienst einer Theaterpraxis, die das Wunderbare und Irrationale beschwört und sich von einer Bürgerkultur mit ihren an Rationalität, Zweckdienlichkeit und Realitätsbezug ausgerichteten Überzeugungen abgrenzt.
5.7 D IE O BERUFERER S PIELE Ein weiteres prominentes Beispiel für die Reaktivierung alter Weihnachtsspiele ist die von Rudolf Steiner (1861-1925) etablierte Praxis, in anthroposophischen Kreisen alljährlich Oberuferer Spiele, die 1858 in Karl Julius Schröers Sammlung Deutsche Weihnachtsspiele aus Ungarn veröffentlicht werden, aufzuführen. Der aus Pressburg stammende Schröer, selber Teil einer „deutschsprachigen Minorität des Habsburgerreiches“,220 betätigt sich ausgiebig im Bereich sprachgeschichtlicher und volkskundlicher Forschungen und setzt sich entschieden für die „deutschen Minderheitsrechte“221 sowie regionale Traditionen ein. Im Vorwort seiner Edition betont er, dass er mit seiner Veröffentlichung der deutschen Kultur im Ausland Rechnung tragen wolle, der es „in ihrer Abgeschiedenheit [...] oft besonders vorbehalten [sei], Altertümliches und Volksmäßiges treu zu bewahren, wenn es außen im Heimatlande längst schon erloschen ist.“222 Schröers Sammlung umfasst neben den Oberuferer Spielen223 das Salzburger Paradeisspiel sowie Pressburger, Krikehaier und Kasmarker Weihnacht- und Dreikönigslieder. Spiele und Lieder sind äußerst genau beschrieben, mit Informationen zu ihrer Aufführungspraxis, Quellenlage und Aufführungsgeschichte. In Herausgeberkommentaren hebt Schröer hervor, dass er alle Aufführungsmaterialien, Kostüme und Schriften habe einsehen können, die seit 1827 im Besitz eines Bauern seien, der schon als Kind den Engel Gabriel gespielt habe und nun
220 Zander, Helmut: Rudolf Steiner. Die Biografie. München 2011, 2. Auflage, S. 442. 221 Ebd. 222 Schröer, Weihnachtsspiele, S. 3. 223 Vgl. Kapitel 5.7.1.
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die Lehrmeisterwürde innehabe.224 Den Oberuferer Kostümen widmet Schröer überdies zwei Jahre nach der Veröffentlichung seiner Sammlung einen Aufsatz. Dieser erscheint in der Zeitschrift Faust und ist um detaillierte Zeichnungen der einzelnen Figuren und ihrer Bühnentracht erweitert, „um sie auch von dieser Seite der Vergessenheit zu entziehen.“225 Abbildung 21: Oberuferer Kostüme
Veröffentlicht von Benyovszky, Breslau (1934)
Schröer zielt auf eine umfassende Konservierung der Spieltraditionen ab und wendet sich hierbei insbesondere den Oberuferer Spielen zu, die nach ihrem 224 Vgl. Schröer, Weihnachtsspiele, S. 7. 225 Benyovszky, Karl: Die Oberuferer Weihnachtsspiele. Mit einer Kostümtafel und einem Anhang der Singweisen. Gesammelt und aufgezeichnet von Ludwig Rajter jun. Bratislava / Breslau 1934, S. 13ff.
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Entdeckungsort Oberufer benannt sind, einem Dorf östlich des Neusiedlersees, das sich innerhalb einer deutschen Sprachinsel in Ungarn im Grenzgebiet zu Österreich befand und heute zu Bratislava gehört. Laut Schröer brachten aus der Steiermark, Salzburg und Oberösterreich einwandernde Protestanten in der zweiten Hälfte des 16. oder in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Spiele mit nach Oberufer. Aus einem Art Zugehörigkeitsgefühl zur eigentlichen Heimat heraus pflegten sie diese hier über Jahrhunderte.226 Leopold Schmidt stellt 1936 fest: „Womöglich noch mehr Fragen knüpfen sich an das Spiel, welches nach seinem ersten Fundort als Oberuferer Weihnachtsspiel bezeichnet wird. Seine Verbreitung ist nicht so klar erkenntlich wie die des Böhmerwaldspieles: während dieses fast zur Gänze in einem verhältnismäßig kleinen Raum auftritt, sind die Fassungen des Oberuferer Spieles über weite Strecken verbreitet. Die Hauptverbreitung liegt zweifellos in Oesterreich Osten und den knapp anschließenden Gebieten Westungarns und der Slowakei. In Oesterreich ist an der Verbreitung besonders stark das Burgenland und die Obersteiermark beteiligt, während Kärnten nur mehr Restspuren zeigt. […] Das Spiel weist in seiner Geschichte zudem noch eine einzigartige Erscheinung auf, nämlich den Comediadruck von 1693, der leider keine Ortsangabe trägt. […] Obwohl der Druck von 1693 das älteste datierte Zeugnis unseres Spiels darstellt, ist an der Entstehung des Spieles in bedeutend früherer Zeit kaum zu zweifeln. Vermutlich liegt diese in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Die Entstehungslandschaft lässt sich derzeit nicht erschließen; da jedoch neben der alpenländischen Verbreitung auch noch eine allerdings nur in kümmerlichen Resten erschließbare nordsudetendeutsche Schicht erkenntlich ist, so wird man das ursprüngliche Verbreitungsgebiet des Spieles wohl für ziemlich groß halten. Das Fehlen von Verbindungsgliedern, die in Oberund Niederösterreich liegen müßten, mag darauf zurückzuführen sein, daß gerade in diesen Landschaften die Verbote des 18. Jahrhunderts viele Spuren verwischt haben.“227
Mit seinen Publikationen provoziert Schröer, der sich an keiner Stelle dazu äußert, ob er ebendiesen Comediadruck von 1693 konsultiert habe und der sich stets auf Oberuferer Quellen beruft, in den nächsten Jahrzehnten im Deutschen Kaiserreich zahlreiche Initiativen für eine Neubelebung der Spiele.228 Doch auch in Oberufer führt man die Spieltradition fort: Wenngleich hier bei einem Brand 1877 sämtliche handgeschriebenen Textbücher und Requisiten zerstört werden,
226 Vgl. Schröer, Weihnachtsspiele, S. 6f. 227 Schmidt, Leopold: Formprobleme der deutschen Weihnachtsspiele. Emsdetten 1937, S. 13. Schmidt spricht fälschlicherweise von dem Oberuferer Spiel, obwohl es sich eigentlich um mehrere Spiele handelt. Vgl. Kapitel 5.7.2. 228 Vgl. die folgenden Kapitel.
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können vor Ort dank Schröers Aufzeichnungen und dank einer sechs Jahre nach dem Brand von dem Lehrer Michael Wendelin aus dem Gedächtnis erstellten Abschrift ab 1883 wieder Aufführungen stattfinden.229 Allerdings werden die Spiele auch innerhalb des Dorfes nach und nach modifiziert und „modernisiert“, wie Wendelin berichtet: „[…] im Jahre 1910 haben wir wieder gespilt, dan habe ich den Karl Birnbaum als mitthelfer genohmen, und so arbeiteten wir zusamen im Jahre 1910 haben wir wieder gespilt, da haben wir das ganze Gespil modernisiert, auch eine schöne Bühne haben wir uns geschaft, seit der Zeit spilen wir das Gespil immer auf der Bühne. Ich habe aber die Requisiten und die Kostüme modernisiert, aber den Text habe ich nicht umgeendert.“230
Abbildung 22: Weihnachtsspiele
Titelblatt, Bratislava (1934)
229 Benyovszky, Oberuferer Weihnachtsspiele, S. 71. 230 Ebd., S. 15.
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Nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg wird die Spieltradition zum Teil fortgeführt. In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges tun sich heimatvertriebene Oberuferer Bauern in Süddeutschland zusammen und führen in verschiedenen Kontexten, etwa auf der „Karpatendeutschen Kulturtagung“ in Karlsruhe 1957, ihr Weihnachtsspiel auf.231 Jedoch fungiert die Pflege der Spiele in diesem Kontext offensichtlich viel eher als Beitrag zur Stärkung der eigenen kulturellen Identität, denn als wichtiges Element weihnachtlicher Festlichkeiten. Die Vorführungen finden nämlich laut des in Preßburg tätigen Lehrers Dr. Hans Klein im Hochsommer statt: „Als im August 1957 eine Oberuferer Spielgruppe ab einem Abend der Karpatendeutschen Kulturwoche ihr ehrwürdiges Weihnachts- und Paradeisspiel in der von alters her überkommenen zeremoniellen Weise aufgeführt hatte, da würdigte ein kurzer Aufsatz im Karpatenjahrbuch 1958 dieses volkskundlich hochbedeutsame Ereignis. Denn damals hatte sich erwiesen, daß die Bevölkerung dieses Volksschauspieldorfes so mit ihrem dramatischem Brauchtum verwachsen war, daß sogar die Vertreibung aus der Heimat und die Zerstreuung der Dorfbewohner in die verschiedensten Gebiete Österreichs und Deutschlands nicht imstande waren, die geistige Tradition dieser Volksgemeinschaft zu zerstören.“232
5.7.1 Die Oberuferer Spiele und Rudolf Steiner Rudolf Steiner begegnet Schröer zum ersten Mal, als er 1879 an die Wiener Technische Hochschule kommt.233 In Bilder aus dem Gedankenleben Österreichs erinnert er sich: „Er wurde mir erst Lehrer, dann älterer Freund.“234 Durch ihn lernt er die Oberuferer Spiele kennen: „Die Texte der in Dornach aufgeführten Weihnachtsspiele hat Karl Julius Schröer in der Oberuferergegend bei Preßburg gesammelt und in den fünfziger Jahren des vorigen Jahr-
231 Zur ausführlichen Darstellung vgl. Sembdner, Helmut (Hg.): Karl Julius Schröer. Über die Oberuferer Weihnachtsspiele. Stuttgart 1963, S. 105ff. 232 Klein, Oberuferer Volksschauspiele, S. 50. 233 Vgl. Steiner, Rudolf: „Vom Menschenrätsel (1916)“, in: Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung (Hg.): Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten. Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Band 20. Dornach 1957, S. 88. 234 Ebd., S.89.
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hunderts veröffentlicht. Ich bin mit der Sache bekannt geworden durch Schröer selbst [...]. Seine auf die Spiele bezügliche Schrift heißt: ‚Deutsche Weihnachtsspiele aus Ungarn‘. Man bekommt das Büchlein heute wohl nur noch antiquarisch. Doch ist es jedenfalls in den größeren Bibliotheken vorhanden. Schröer hat in der Einleitung, die er dem Buch beigefügt hat, auch über das Leben der Spiele im Volke und über die Beziehung der Oberuferer Spiele zu denen in anderen Gegenden zu findenden eine, wie ich glaube, auch heute – wo so vieles auf diesem Gebiete veröffentlicht ist – noch aufschlußreiche Auseinandersetzung gegeben.“235
Nach Schröers Tod im Jahre 1900 macht Steiner die Spiele in anthroposophischen Kreisen bekannt. Hierbei kann er sowohl von seinen engen Kontakten zum Forscher Schröer und dessen ausgiebigen Schilderungen profitieren, als auch auf die Stücktexte und das Bildmaterial zu den Spielen zurückgreifen.236 In einem Vortrag von 1922 berichtet Steiner, dass Schröer ihm häufig unter lebhafter Charakterisierung und Nachahmung des Gesichtsausdrucks und der Gebärden der Spieler die Spiele vorgetragen, ihn auf diese Weise mit ihrer Aufführungspraxis und ihren Besonderheiten umfassend vertraut gemacht habe.237 Dennoch bleibt Steiners Kontakt mit den alten Spielen und Spielweisen wohl stets indirekt. Er betreibt keine Feldforschung. Es scheint, als ob er weder als Zuschauer noch als Mitspieler jemals aktiv an Aufführungen in Oberufer teilnimmt und lediglich auf die Berichte des Forschers zurückgreift. Ab 1910, beinahe zeitgleich mit Otto Falckenberg, beginnt Steiner in Berlin die weihnachtlichen Spiele im kleinen Kreis praktisch umzusetzen. Er versucht dementsprechend, Fest, Festtheater und die Inhalte der biblischen Botschaft erneut stärker miteinander zu verbinden, an den religiösen Kern Weihnachtens zu erinnern und obendrein Publikum und Darsteller für fernab vom Kunsttheater entstandene künstlerische Praktiken gleichsam zu interessieren und zu sensibili-
235 Steiner, Rudolf: Briefe. 1890-1925. Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Band 39. Dornach 1987, 2. Auflage, S. 467f. 236 Laut Helmut Zander beeinflusst Schröer auch die „teilweise stramm deutschnationalen Orientierungen Steiners“ auf eine nicht unerhebliche Weise. Vgl. Zander, Rudolf Steiner, S. 442. 237 Vgl. Steiner, Rudolf: „Von den Volkstümlichen Weihnachtsspielen. Eine ChristfestErinnerung“, in: Das Goetheanum, 24. Dezember 1922, zitiert nach: Marks, Reiner: Von den Oberuferer Weihnachtsspielen und ihrem geistigen Hintergrund. Wortlaute aus Vorträgen und Aufsätzen von Rudolf Steiner. Texte von Karl Julius Schröer zu den Oberuferer Spielen. Berichte zu ihrer Aufführungspraxis und weitere Materialien. Dornach 1998, S. 102-107 (S. 105).
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sieren. Zur selben Zeit betätigt er sich auch in professionellen Produktionskontexten als Regisseur und setzt sich hier vorrangig mit Mysterienspielen auseinander. 1910 und 1912 bringt er zum Beispiel mit immensem Erfolg die geistlichen Schauspiele Die Pforte der Einweihung – ein Rosenkranzmysterium und Der Hüter der Schwelle zur Aufführung.238 Die von Steiner initiierten Berliner Vorführungen der Oberuferer Spiele sind zumeist von Vorträgen flankiert, in denen er über die Entstehung der Spiele, über Schröer, dessen Forschertätigkeiten und seine Beziehung zu ihm referiert.239 Ab 1915 organisiert er regelmäßig Aufführungen in der Schreinerei des Goetheanums in Dornach.240 Hier erarbeitet er die Spiele gemeinsam mit Mitgliedern der „Anthroposophischen Gesellschaft“.241 Nur selten wird für externes Publikum gespielt, zumeist bleibt man unter sich. Leopold van der Pals, der für die Spiele Musik komponiert, erinnert sich: „An einem Spieltage war alljährlich das Dorf bei uns zu Besuch. Dann wurden alle Honoratioren des Dorfes eingeladen und das Publikum bestand hauptsächlich aus Dorfbewohnern und einer riesigen Menge von Kindern. [...] Die ‚Schauspieler‘ waren alles Mitglieder der Gesellschaft, die sonst nie an Theaterspiel gedacht hatten. Dank der Mühe, die Herr und Frau Dr. Steiner sich nahmen, lernten sie bald, sich auf der Bühne zu bewegen und den österreichischen Dialekt zu sprechen. Alle waren mit dem ganzen Herzen dabei, und so kamen Aufführungen zustande, die mit ihrer Innigkeit alles hinter sich ließen, was man bei gewöhnlichen Theateraufführungen zu sehen bekommt.“242
238 Vgl. Ullrich, Heiner: Rudolf Steiner. Leben und Lehre. München 2011, S. 62f. 239 Vgl. die gesammelten Vorträge Steiners zu dieser Thematik in Marks, Von den Oberuferer Weihnachtsspielen. 240 Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung (Hg.): Weihnachtsspiele aus altem Volkstum. Die Oberuferer Spiele. Mitgeteilt von Karl Julius Schröer. Szenisch eingerichtet von Rudolf Steiner. Angabe mit zusätzlichen Regieangaben nach der Dornacher Inszenierung. Dornach 1991, S. 5. 241 Die theaterwissenschaftliche Forschung hat sich bisher kaum dem Themenkomplex rund um Steiners Aktivitäten für das Theater gewidmet. Grundsätzlich ist die meiste Forschungsliteratur zu Steiner stark ideologisch gefärbt, entweder von Anhängern verfasst und beim Anthroposophischen Verlag erschienen oder recht polemisch formuliert. 242 Pals, Leopold van der: „Erinnerungen eines Musikers zu den Anfängen der Weihnachtsspiele. Ein Aufsatz von 1948“, zitiert nach Marks, Von den Oberuferer Weihnachtsspielen, S. 115-117 (S. 115).
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5.7.2 Steiners Aufführungspraxis Zu Steiners frühesten szenischen Umsetzungen der Oberuferer Spiele in Berlin findet sich kein Material, da weder Notizen Steiners noch Regiebücher oder Bildmaterial überliefert sind.243 In seinen Vorträgen, die stets aufgezeichnet wurden und heute zugänglich sind, erläutert er zwar in Ansätzen die Gründe für sein Engagement für die Spiele und widmet sich ihrer Geschichte, vergibt aber keinerlei Informationen zu seiner Regiearbeit, zur Ausstattung oder Nutzung der Räume. Aufgrund der Bemühungen seiner Anhänger um eine kontinuierliche Fortführung der Spielpraxis, kann man heute immerhin mithilfe von Fotos aus den 1920er Jahren und einem nachträglich erstellten Regiebuch, das auf Angaben von Mitwirkenden und von Marie Steiner beruht, die wirkungsästhetischen Dimensionen der unter Steiners Leitung in Dornach entstandenen Aufführungen nachvollziehen. Die Oberuferer Spiele in Schröers Sammlung umfassen ein Oberuferer Christigeburtspiel, Paradeisspiel und Fasnachtspiel. Zum Christigeburtspiel gehört auch ein Dreikönigspiel. Die Spiele sind in einer Art niederösterreichischem Dialekt in Reimen abgefasst. Wie für diese Spiele typisch, wird viel solistisch und chorisch gesungen. Sie sind mit derbem Humor durchsetzt. Das biblische Weihnachtsgeschehen ist in ein bekanntes Ambiente verlagert. So beklagen sich die Hirten im Christigeburtspiel etwa auf dem Feld über die klirrende Kälte, rutschen auf dem gefrorenen Boden aus oder versuchen sich gegenseitig ihre Handschuhe zu entwenden, obwohl es in Palästina als eigentlichem Schauplatz im Winter nie dermaßen kalt wird. Steiner setzt alle Spiele des Oberuferer Spielkreises um und bearbeitet die von Schröer aufgezeichneten Texte auf sprachlicher Ebene kaum. Auch die Dramaturgie ist größtenteils beibehalten, die Figuren sind nicht umgedeutet. Lediglich dem Paradeisspiel ist ein selbst verfasster Einleitungschor hinzugefügt.244 Außerdem ist die ursprüngliche Reihenfolge, nach der das Paradeisspiel erst nach dem Christigeburtspiel gegeben wird, insofern geändert, als das Paradeisspiel mit seinem neu gedichteten Einleitungschor vorgezogen ist. Auf Ebene
243 Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung, Ausgabe mit zusätzlichen Regieangaben, S. 5. 244 Steiner, Rudolf: „Zur Aufführung unserer volkstümlichen Weihnachtsspiele“, in: Ders.: „Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis“, in: Das Goetheanum. 2. Jahrgang. Nummer 20/21 (1922). Zitiert nach Marks, Von den Oberuferer Weihnachtsspielen, S. 107-110 (S. 107f).
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der musikalischen Gestaltung nimmt Steiner hingegen größere Eingriffe vor, die laut Dr. Hans Klein die Oberuferer Spiele gar „umformten“ und „entstellten“.245 Da Schröer in seiner Sammlung zwar den eigentümlichen Sprechgesang der Oberuferer erwähnt, aber keine Noten abdruckt und nur auf die Quellen der in den alten Gesangsbüchern enthaltenen Lieder hinweist, lässt Steiner Leopold van der Pals eigens für die Dornacher Aufführungen Musik komponieren. Diese Kompositionen, die erstmals 1919 im Goethenaum-Verlag Dornach unter dem Titel Lieder und Chöre mit Pianofortebegleitung zu den von K. J. Schröer gesammelten deutschen Weihnachtsspielen, komponiert von Leopold van der Pals erscheinen,246 weichen maßgeblich von der eigentlichen musikalischen Gestaltung der Oberuferer Spiele ab, die erst in den 1920er bzw. 1930er Jahren einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird: 1927 zeichnet Klein Singweisen des Spiel vom Sündenfall in Oberufer auf und veröffentlicht sie. 1934 besorgt dann Karl Benyovszky eine neue Ausgabe der Oberuferer Spiele mit Noten: „Das ‚Christigeburtspiel‘ und das ‚Spiel vom Sündenfall‘ hat zwar der Germanist Karl Julius Schröer, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts veröffentlicht, seither ist auch eine Neuauflage dieser Spiele erschienen, Prof. Dr. Hans Klein hat auf Grund der letzten Aufführungen, die im Winter 1926/27 in Oberufer stattfanden, das ‚Spiel vom Sündenfall‘ samt deren Originalwortlaut, durch Erklärungen erläutert veröffentlicht, trotzdem glaube ich keine überflüssige Arbeit verrichtet zu haben, wenn ich jetzt eine Studie über die Oberuferer Weihnachtsspiele, ergänzt durch einige Lieder und das bisher unveröffentlichte ‚Schuster- und Schneiderspiel‘, der Öffentlichkeit übergebe. Ich beabsichtige bloß alles, was sich auf die Spiele bezieht zu sammeln, um es vor dem gänzlichen Verfall zu retten.“247
Während die Oberuferer Singweisen in ihrer Motivik, Harmonik und Struktur schlichte, einfach zu interpretierende einstimmige Gesänge ohne Instrumentalbegleitung darstellen, greift van der Pals nur in wenigen Nummern auf alte Weisen zurück. Seine effektvolle Musik kann trotz ihrer bescheidenen Besetzung
245 Klein, Oberuferer Volksschauspiele, S. 54. 246 Pals, Leopold van der: Lieder und Chöre mit Pianofortebegleitung zu den von Karl Julius Schröer gesammelten deutschen Weihnachtsspielen (1. Oberuferer Paradeisspiel, 2. Oberpfaelzisches Hirtenspiel, 3. Oberuferer Weihnachtsspiel). Neuauflage. Dornach 1974 (1919). / Vgl. außerdem: Graf, Wolfram: Leopold van der Pals. Komponieren für eine neue Kunst. Dornach 2002. Graf geht jedoch nicht näher auf die Kompositionen für die Weihnachtsspiele ein. 247 Benyovszky, Oberuferer Weihnachtsspiele, S. 4.
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und schlichten kompositorischen Struktur den modernen Einfluss, der sich unter anderem in der Verwendung des Klaviers und einigen komplexeren harmonischen Wendungen ausdrückt, nicht verleugnen. Davon abgesehen setzt Steiner ohne große Abweichungen Schröers Text szenisch um und orientiert sich scheinbar an den auf dem Land gepflegten Spielpraktiken, wie sie Schröer überliefert hat. Das nachträglich erstellte Regiebuch und die Fotos zeugen von einer einfach strukturierten Aufführung mit klaren Arrangements, minimaler Ausstattung und großen, klar gesetzten Gesten. Die Anordnung der Spieler im Raum und ihre Auftritte erinnern gewissermaßen an die von Schröer und anderen Sammlern beschriebenen Spielpraktiken bei ländlichen Weihnachtsspielen.248 Das heißt, dass auch bei Steiner etwa zu Beginn bereits alle Darsteller auftreten, sich in einer Reihe formieren, mit ihren ersten gesprochenen oder gesungenen Repliken in das Zentrum der Bühne bewegen und nach Ende ihres Auftritts wieder nach hinten treten.249 Die Kostüme sind ebenfalls von schlichter Machart250 und weisen nicht unerhebliche Ähnlichkeiten mit den Zeichnungen in Schröers Aufsatz auf. Es kommt keine raffinierte Bühne bzw. Bühnentechnik zum Einsatz. Das Team setzt sich aus Mitarbeitern zusammen, es sind keine Theaterprofis verpflichtet. Die Aufführungspraxis ist demnach auf Wiederholbarkeit, Schlichtheit und Schmucklosigkeit ausgerichtet. Anders als bei Falckenberg oder Reinhardt scheint für Steiner – der sich in anderen Kontexten ja durchaus für professionelle Produktionen verantwortlich zeigte – nicht der Wunsch im Vordergrund gestanden zu haben, eine künstlerisch originäre Inszenierung zu schaffen. Vielmehr findet eine gezielte Abwendung von einer künstlerischen Autonomieästhetik statt. Gleichwohl zeugen Veränderungen wie etwa die neue Musik, der Einleitungschor zum Paradeisspiel oder die Tatsache, Frauen mitspielen zu lassen, obgleich in Oberuferer Jungen die weiblichen Rollen spielten,251 von einem gewissen Gestaltungs- und Erneuerungswillen aufseiten Steiners. Es scheint, als ob ihm keine akkurate museale Rekonstruktion vorschwebte. Vielmehr macht er die Spiele für einen neuen Aufführungskontext praktikabel, wenngleich er sie trotzdem laut Marie Steiner „möglichst nah an ihre ursprüngliche Fassung wieder
248 Vgl. Schröer, Weihnachtsspiele, S. 8-12. 249 Vgl. Rudolf-Steiner-Nachlaßverwaltung, Weihnachtsspiele aus altem Volkstum. 250 Ranzenberger, Hermann: „Weihnachtsspiele in Dornach zur Zeit Rudolf Steiners“, in: Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland. Heft 6 (1948). Hier zitiert nach Marks, Von den Oberuferer Weihnachtsspielen, S. 134-140. 251 Sembdner, Karl Julius Schröer, S. 104.
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heranbringen“252 wollte. 1917 beschreibt Steiner in einem Vortrag sein Vorgehen: „Wir [hatten] manche Finessen, die mit jenen Aufführungen verbunden waren, natürlich nicht nachmachen können, obwohl wir uns bemühten, durch unsere eigenen Aufführungen eine Vorstellung von dem hervorzurufen, was dazumal durch die Bauern geboten werden konnte.“253
5.7.3 Mögliche Funktionen der Spiele Auch wenn die Weihnachtsspiele hier nicht im Kontext der komplexen und nicht immer leicht fassbaren Lehre Steiners, die in zahlreichen Schriften und in einem „gigantischen rhetorischen Werk“254 niedergelegt ist, umfassend diskutiert werden können, sind ein paar Anmerkungen zur möglichen Funktion der Spiele innerhalb von Steiners Lebensreformprogramm im Kontext dieser Arbeit relevant. In seinen in schriftlicher Form festgehaltenen Reden nennt Steiner Motivationen für die Unterweisung anderer Anthroposophen im Spiel und reflektiert mögliche Wirkungsmechanismen. Hier wird erkennbar, dass es ihm erstens um eine Gegenreaktion auf eine zunehmend säkularisierte Welt geht, zweitens um eine Reintensivierung des religiösen Gehaltes vom Weihnachtsfest, drittens um eine Schulung seiner Anhängerschaft in Sprachgestaltung und dramatischer Kunst und viertens um eine Heranführung anderer Anthroposophen an die schlichte Kunst des Volkes, die er als „eine einfache, aber eine wirkliche Kunst“ 255 beschreibt. Religiös spirituelle, pädagogische und völkische Beweggründe verbinden sich hier augenscheinlich, wobei Steiner primär möglichen Wirkungsmechanismen auf Ebene der Spieler und nicht der Zuschauer Beachtung schenkt. Ihm geht es also nicht vorrangig um die Überwältigung zahlender Zuschauer, sondern um
252 Steiner, Marie: „Geleitwort zur ersten Buchausgabe Weihnachten 1938“, in: RudolfSteiner-Nachlaßverwaltung, Weihnachtsspiele aus altem Volkstum, S. 112. 253 Ansprache vom 30. Dezember 1917, zitiert nach Sembdner, Karl Julius Schröer, S. 103. 254 Ullrich, Rudolf Steiner, S. 10. 255 Steiner, Rudolf: „Das Weihnachtsfest im Wandel der Zeiten. Vortrag in Stuttgart. 27.12.1910“, in: Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung (Hg.): Wege und Ziele des geistigen Menschen. Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft. Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Band 125. Dornach 1992, 2. Auflage, S. 229-248 (S. 236).
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eine umfassende Bildung und Schulung seiner Anhängerschaft mithilfe des darstellenden Spiels. In diesem Sinne sind die meisten Aufführungen gar nicht öffentlich. In einem Vortrag verwendet er den Begriff der Krippen sogar als Metapher für Räumlichkeiten der eigenen Gruppen: „Versuchen wir so zu empfinden, daß unsere Versammlungsräume zur Weihnachtszeit Krippen sind, Stätten, in denen sich abgeschlossen von der äußeren Welt, ein Großes vorbereitet.“256
Steiner betont, dass die einfache und naiv sinnliche Darstellung der christlichen Weihnachtsgeschichte die Rückgewinnung einer intensiven Frömmigkeitskultur befördern könne. Die Spiele potenzierten gleichsam die außergewöhnliche Stimmung des weihnachtlichen Fests und unterstützten dessen religiöse Wirkung: „Stellen wir uns nicht irgendetwas Theoretisches vor, sondern diesen warmen Zauberhauch von Weihnachtsstimmung, wie er in diesen Weihnachtsspielen lebte. Wir bekommen dadurch zugleich einen Begriff von der Regeneration des Menschen, von dem Glauben des Menschen durch den Christus-Impuls an ein Göttlich-Geistiges. Solch Einstudieren von Weihnachtsspielen, oh, das war etwas, was uns wirklich sehr lehrreich sein könnte für die Gegenwart, wo man den Begriff, wie die Kunst herauswächst aus Frömmigkeit, aus Religion, aus Weisheit, längst verloren hat. Heute, wo man in der Kunst so gerne etwas von allem übrigen Losgelöstes sehen will, wo die Kunst zum Beispiel zum Formalismus ausgeartet ist, heute könnte man viel lernen von der ganzen Art und Weise, wie die Kunst eine Blüte der Menschheit war. So einfach sie in diesen Weihnachtsspielen auftrat, sie war eine Blüte des ganzen Wesens des Menschen. Zuerst mußten die Buben, welche die Spiele aufführten, fromm sein, zuerst mußten sie in ihren ganzen Menschen etwas wie einen Extrakt von der ganzen Weihnachtsstimmung aufnehmen.“257
Steiner strebt eine Gegenbewegung zur modernen Entmythologisierung der Welt an, möchte aus alter künstlerischer Praxis Kraft für den modernen Menschen schöpfen und obendrein Kunst wieder stärker an Religion rückkoppeln. Die Verwendung des Wortes „lehrreich“ beweist ein großes didaktisches Interesse. Neben der spirituellen Belehrung, der Begegnung am „Erinnerungsfest“ Weih-
256 Ebd., S. 248. 257 Ebd., S. 259f.
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nachten,258 aus dem „ein Fest der Gegenwart“ 259 werden müsse, mit alten Spieltraditionen und der sinnlichen Erfahrung der Weihnachtsbotschaft verspricht Steiner sich einen pädagogischen Mehrwert vom Spiel. So verknüpft er Aufführungen stets mit Vorträgen, reflektiert die Spiele folglich, bereitet sie vor und nach. Hierbei berichtet er regelmäßig von Schröer und dessen Verdiensten, vergibt ausgiebig Informationen zum Entstehungs- sowie Aufführungskontext und ordnet die Weihnachtsspiele theatergeschichtlich ein. Neben diesem Bildungsauftrag geht es ihm jedoch auch um eine Nutzung des darstellenden Spiels für eine Arbeit an Sprache, Artikulation und dramatischem Vortrag. Bei einer am 27. September 1910 in Stuttgart gehaltenen Rede zu den Weihnachtsspielen bemängelt er den Verlust der „Kunst des Sprechens im alten Sinne“260 und merkt an, dass gerade die Spiele für die Übung artikulierten Sprechens geeignet seien: „Dann aber mußten sie [die Oberuferer Jungen] in einer streng geregelten Weise rhythmisch sprechen lernen. Heute, wo man überhaupt die Kunst des Sprechens im alten Sinne verloren hat, wo man keine Ahnung mehr hat, wie der Reim eine ungeheure Rolle spielt und der Rhythmus eine solche Rolle spielt, wie jede Bewegung dieser sonst den Dreschflegel handhabenden Menschen, wie jede Geste dieser Menschen einstudiert war bis auf das einzelnste hin, wie sie ganz darin standen durch Wochen in Rhythmus, in Tonung, in Hingegebensein an das, was sie darstellen sollten – man könnte für ein wirkliches Verständnis der Kunst gerade heute unendlich viel davon lernen, heute, wo man zum Beispiel das künstlerische Sprechen soweit verlernt hat, daß kaum noch nach etwas anderem als dem Sinn gesprochen wird, wahrend damals in diesen Weihnachtsspielen gerade das Reizvolle das war, daß Rhythmus, Ton, Geste, der ganze Mensch sprach.“261
Dementsprechend behält Steiner stets den von Schröer notierten Dialekt bei und macht so eine gezielte Arbeit an Sprache und Artikulation geradezu notwendig, da die Darsteller in Berlin und Dornach einen ihnen vollkommen fremden Dia-
258 Steiner, Rudolf: „Das Fest der Erscheinung Christi. Vortrag in Dornach, 25.12.1921“, in: Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung (Hg.): Nordische und mitteleuropäische Geistesimpulse. Das Fest der Erscheinung Christi. Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Band 209. Dornach 1982, 2. Auflage, S. 148-162 (S. 162). 259 Ebd. 260 Vgl. Rudolf Steiners Vortrag in Stuttgart am 27.12.1910, zitiert nach Marks, Von den Oberuferer Weihnachtsspielen, S. 260. 261 Ebd.
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lekt intonieren müssen.262 Marie Steiner bezeugt, dass Rudolf Steiner ein „gründlicher Kenner der Mundart“ gewesen sei und bei Proben stets „vorgesprochen“ und versucht habe, „nahe an der landesüblichen Aussprache“ zu bleiben, also die richtige Aussprache gelehrt habe.263 Und auch Hermann Ranzenberger, der als Architekt maßgeblich am Bau des ersten und zweiten Goetheanums beteiligt war, erinnert sich: „Eine ganz erstaunliche Tatsache war für mich die unentwegte Anwesenheit Rudolf Steiners nicht nur bei den Aufführungen, sondern bei allen Proben. [...] Rudolf Steiner gab Anweisungen für die richtige Aussprache und den Sinn der in österreichischem Dialekt verfaßten Spiele. Diesen Dialekt kannte er als gebürtiger Österreicher natürlich ganz genau, so daß er besonders berechtigt war, etwas Fehlendes hinzuzudichten. So verfaßte er auch einen Prolog zu dem ‚Paradeis‘-Spiel.“264
Auf diese Weise findet keine sprachliche und inhaltliche Annäherung der Spiele an eine Lebenswirklichkeit der Zuschauer und Darsteller statt. Stattdessen werden Darsteller und Zuschauer über die Existenz anderer regionaler, sprachlicher Traditionen informiert. Über das eigene Spiel oder durch Zuschauen und dank der Teilnahme an Vorträgen vermittelt Steiner seinen Anthroposophen eine Wertschätzung für das Regionale, Dialektale, für lokale Überlieferungen und kulturelle Praktiken. Wie in den Herausgeberkommentaren zahlreicher Editionen von Weihnachtsspielen taucht auch bei Steiner wieder der Topos der Kraft volkstümlicher Kunst auf. Der Topos des guten Ländlich-Einfachen, das im Gegensatz zur anonymen Großstadt altes, einfaches, überaus wertvolles Brauchtum besitze und über Jahrhunderte bewahrt habe, ein Schatz, von dem der moderne, urbane Mensch nur profitieren könne, wird in Anschlag gebracht.265
262 Vgl. auch Steiner, Rudolf: Sprachgestaltung und Dramatische Kunst. Dornach 1986, 4. Auflage. 263 Marie Steiner, Geleitwort, S. 112. 264 Ranzenberger, Weihnachtsspiele, S. 136. 265 Vgl. vor allem den 1910 in Stuttgart gehaltenen Vortrag Steiners: Marks, Von den Oberuferer Weihnachtsspielen, S. 260.
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5.7.4 Die Aufführungspraxis nach Steiner Steiner initiiert in anthroposophischen Kreisen eine bis heute wirksame und vollkommen andere Aufführungspraxis von Weihnachtsspielen als Falckenberg oder Reinhardt. Wenngleich er sich an der Oberuferer Spielpraxis orientiert und die Spiele als Laienspiele reaktiviert, handelt es sich keinesfalls um eine pure Imitation Oberuferer Spieltraditionen. Geringe Veränderungen der überlieferten Texte und eine nicht auf Oberufer stammenden Spielerschar bedingen allemal eine veränderte Aufführungsweise inklusive eines anderen Schauspielstils. Gespielt wird nicht aufgrund einer Verbundenheit mit eigenen lokalen Traditionen, sondern aufgrund eines Zugehörigkeitsgefühls zur anthroposophischen Bewegung. Die Imitation eines fremden Dialekts bedeutet einen anderen, artifizielleren Umgang mit Sprache. Darüber hinaus wird die große, zeitintensive Sorgfalt in den Vorbereitungen der Aufführungen, auf die auch die umfassenden theoretischen Reflexionen über die Bedeutung der eigenen Spielpraxis und der Oberuferer Traditionen hinweisen, den improvisierten Charakter der Spiele minimiert haben. Allerdings strebt Steiner in Dornach keine Professionalisierung und Kommerzialisierung des Weihnachtstheaters an. Stattdessen bindet er die Spielpraxis stark in sein umfassendes, weltanschaulich geprägtes Lebensreformprogramm ein. Er arbeitet nicht mit Berufsschauspielern. Seine Darsteller erstellen sogar die Ausstattung gemeinsam. Sie stehen zumeist auch außerhalb der Proben in Kontakt zueinander, sind größtenteils Mitglieder einer Lebensgemeinschaft und bilden infolgedessen deutlich mehr als eine Spielgemeinschaft.266 Indem Steiner in seinen Vorträgen häufig über die Erfahrungen referiert, die sich aus dem Spiel für die Spielenden ergeben können, scheint er sich stärker auf die Darsteller zu konzentrieren. Gedanken zum Publikum finden sich seltener. Auch stehen die Spiele zunächst in Berlin und Dornach einer dörflichen oder städtischen Gemeinschaft, einer zahlenden Öffentlichkeit, nur eingeschränkt zur Verfügung. Sie werden vorrangig für einen gezielt ausgewählten Personenkreis gespielt, der mit der anthroposophischen Bewegung in Beziehung steht. Man spielt für Gleichgesinnte, Mitglieder der eigenen Gruppe, wahrt eine gewisse Exklusivität. Nicht die Einbeziehung eines großen, fremden Publikums hat Vorrang. Vielmehr ist die Selbstvergewisserung im Spiel, zusammen zu gehören und ähnliche Interessen zu teilen, zentral.
266 Vgl. Berichte und Erinnerungen von Heinz Müller, Anna Samweber, Karl Schubert u.a. in Marks, Von den Oberuferer Weihnachtsspielen, S. 115-142.
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Schon früh inspiriert Steiner andere Anthroposophen, die Oberuferer Spiele an verschiedenen Orten und für breitere Publikumsschichten aufzuführen. Sie werden in sehr unterschiedlichen Kontexten etabliert und erzielen hier oftmals eine beachtliche Außenwirkung. Ganz unabhängig von Initiatoren, Spielern und Spielleitern wird jedoch nie der Versuch unternommen, die Aufführungspraxis vollkommen zu professionalisieren und den Produktionsbedingungen von Theatern anzupassen. Ähnlich der Oberuferer Sitte, von Dorf zu Dorf zu ziehen und dort (allerdings gegen Bezahlung) das eigene Weihnachtsspiel feilzubieten,267 führen etwa in Berlin und Wien schon Mitte der 1910er Jahre Anhänger der anthroposophischen Bewegung eigenständig, ohne Steiners Anleitung, für verschiedene Bevölkerungsgruppen das Weihnachtsspiel auf. Die Berliner Kumpanei bringt beispielsweise gezielt Teile der Öffentlichkeit in Kontakt mit den Weihnachtsspielen, tritt unter anderem in Krankenhäusern, Gefängnissen sowie Schulen auf und begreift die Spiele demnach als eine Form sozialen Engagements.268 Und so werden in ähnlicher Weise die Spiele auch „während des [Ersten Welt-] Krieges [in] Bern, Zürich, Aarau und Schaffhausen [aufgeführt und] mehrfach den in der Schweiz internierten deutschen Soldaten vorgespielt.“269 Zu Beginn der 1920er Jahre initiieren Lehrer der ersten, 1919 in Stuttgart gegründeten Waldorfschule nach Steiners Vorbild Aufführungen der von Schröer gesammelten und veröffentlichten dramatischen Weihnachtstexte für ihre Schüler und integrieren sie in ihr pädagogisches Programm. Um die Weihnachtszeit spielen bis heute alljährlich in vielen Waldorfeinrichtungen Schüler, Lehrer, Mitarbeiter und manchmal auch Eltern oder andere mit der Institution verbundene Personen die Oberuferer Weihnachtsspiele. Zahlreiche vom Anthroposophischen Verlag herausgegebene Aufführungsmaterialien wie Noten, Regiebücher und Sammlungen von Steiners Vorträgen können dabei als Orientierungshilfe fungieren.270 Da diese Materialien äußerst genaue Informationen zur szenischen Umsetzung vergeben, kann man davon ausgehen, dass die Spielpraxis noch heute nicht dem Primat künstlerischer und ästhetischer Varianz verpflichtet, möglicherweise sogar verhältnismäßig vereinheitlicht ist. Dementsprechend bewahren die Spiele
267 Schröer, Weihnachtsspiele, S. 8f. 268 Marie Steiner, Geleitwort, S. 112. 269 Sembdner, Karl Julius Schröer, S. 103. 270 Auch die Tradition der Vorträge wird teilweise fortgeführt. Vgl. etwa: Karutz, Matthias: „Ir liabn meini singen…“. Anregungen und Hintergründe zum heutigen Verständnis der Oberuferer Weihnachtsspiele. Stuttgart 1997.
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im Sinne Steiners einen einfachen Charakter, stellen gewissermaßen keine Inszenierung und kunstvolle Umsetzung des dramatischen Textes in den Mittelpunkt: Man spielt eher für ein Publikum, das man kennt, bestätigt sich als Gemeinschaft, gewährleistet eine gewisse Exklusivität und einen pädagogischen Mehrwert, als dass man sich offensiv der Öffentlichkeit anempfiehlt und vollkommen neue Zuschauerkreise mit den Weihnachtsspielen vertraut macht.
5.8 D IE L AIENSPIELBEWEGUNG UND W EIHNACHTSSPIELE Neben Gruppen, die der anthroposophischen Bewegung eng verbunden sind, nimmt auch die Laienspielbewegung die von Schröer aufgezeichneten Spiele mit in ihr Repertoire auf. Zunächst präsentiert der Schauspieler, Regisseur und Anthroposoph Gottfried Haaß-Berkow, der in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg den Begriff des Laienspiels prägt, ab 1914 deutschlandweit mit seinen Wandertruppen unter dem Titel Oberuferer Spiel das Oberuferer Christigeburtspiel. Der Terminus des Laienspiels wird heute in der Theaterwissenschaft verwendet für „eine konkrete historische Erscheinungsform des Theaters jugendbewegter Gruppen im 20. Jahrhundert“, die getrieben von „der Sehnsucht nach einfacher, naturverbundener Gemeinschaft, sozialer Gerechtigkeit und wahrhafter Frömmigkeit“ zu „bäuerlicher Dorfkultur und altem Volksgut“ flüchteten.271 Schon bald folgen Haaß-Berkow andere Gruppen der Laienspielbewegung, so dass er als „wichtigster Multiplikator“272 für die Verbreitung der Oberuferer Spiele außerhalb der anthroposophischen Bewegung im engeren Sinn gewertet werden kann. Haaß-Berkow tritt noch 1913 selbst als Herodes in den Oberuferer Spielen in anthroposophischen Kunststuben in Berlin auf,273 übernimmt dann in den Folgejahren an verschiedenen Orten und mit wechselnden Darstellern die Leitung und Organisation der von Schröer aufgezeichneten Weihnachtsspiele. Ende 1917 führt er sie beispielsweise mit Göttinger Studenten auf, darauf folgen Vorstellungen in Kassel, Magdeburg, Jena, Kiel, Berlin, Leipzig und Stuttgart sowie in
271 Nickel, Hans-Wolfgang: „Laienspiel“, in: Brauneck, Manfred und Gérard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon 1. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Reinbek bei Hamburg 2001, 4. Auflage, S. 574-575. 272 Kaufmann, Vorgeschichte und Entstehung, S. 34. 273 Ebd.
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kleineren Nachbarorten.274 Obgleich seine Spielscharen ab 1919 in eine feste Gruppe mit einer konstanteren Zusammensetzung der Spieler umgewandelt werden,275 diese Gruppe zunehmend Märchenbearbeitungen und mittelalterliche Mysterienspiele hinter sich lässt und sich mehr auf Shakespeare, Goethe und expressionistische Autoren konzentriert,276 bleibt das Oberuferer Spiel zentraler Bestandteil ihres Repertoires und wird an vielen Orten dargeboten. Häufig gibt man es auch unter dem Titel Altdeutsches Krippenspiel.277 Haaß-Berkow, der unter anderem in seiner Schrift Neue Richtungslinien für die Schauspielkunst sein Theaterreformmodell erläutert und versucht, bühnenreformatorische Ansätze Craigs und Fuchs’ umzusetzen,278 verbleibt mit seinen Aufführungen in keinem anthroposophischen Kontext. Gleichwohl sind seine Entscheidungen auf Ebene der Stückwahl (zumindest in den frühen Jahren) und seine Gedanken zur Sprachgestaltung vermutlich enorm von Steiner beeinflusst, der ihn ideologisch maßgeblich prägt.279 Anders als Steiner bringt Haaß-Berkow jedoch das Spiel sowohl einer breiteren Öffentlichkeit als auch der Laienspielbewegung nahe. Seine 1917 bei Breitkopf & Härtel herausgegebenen Bearbeitungen einzelner Teile des Oberuferer Spielkreises erhöhen gewiss dessen Bekanntheitsgrad und provozieren zahlreiche Umsetzungen.280 Auf beinahe allen Spielplänen der ab circa 1920 entstehenden Wanderspielscharen, finden sich Weihnachtsspiele, die vorwiegend auf Sammlungen tradier-
274 Vgl. Niessen, Carl: „Die Haaß-Berkow-Spiele“, in: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur. 14. Jahrgang. Heft 7 (1922), S. 549-552. 275 Ebd. 276 Vgl. Kaufmann, Vorgeschichte und Entstehung, S. 439-449. 277 Vgl. ebd., S. 251. 278 Vgl. Haaß-Berkow, Gottfried: Neue Richtungslinien für die Schauspielkunst. Jena 1919. 279 Zu Haaß-Berkow vgl. Kaufmann, Vorgeschichte und Entstehung, ansonsten steht eine intensivere wissenschaftliche Beschäftigung mit ihm noch aus. Ein öffentlich zugänglicher Teilnachlass liegt im Theaterarchiv Köln-Wahn, ein privater Nachlass ist noch im Besitz der Familie: Vgl. Kaufmann, Vorgeschichte und Entstehung, S. 273. 280 Haaß-Berkow, Gottfried: Spiel vom Sündenfall. Paradeisspiel aus Oberufer bei Preßburg 14. Jahrhundert. Mitgeteilt von K. J. Schröer, eingerichtet von Gottfried Haaß-Berkow. Leipzig 1917 (Deutsche Volksspiele des Mittelalters. Band 1). Und ders.: Oberuferer Christigeburtspiel. Mitgeteilt von K. J. Schröer, eingerichtet von Gottfried Haaß-Berkow. Leipzig 1917 (Deutsche Volksspiele des Mittelalters. Band 3).
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ter volkssprachlicher Spiele beruhen. Neugedichtetes kommt allerdings genauso zur Aufführung. Die Gruppe Maria Haides beispielsweise tritt 1921 mit dem Oberuferer Christgeburts- und Dreikönigsspiel u.a. in Franken auf.281 Walter Blachettas Truppe präsentiert Das Christigeburtspiel, nach alten Volksspielen zusammengestellt von Plenzat282 und die Bearbeitung eines mit den Oberuferer Spielen „verwandten“ Paradeisspiels unter dem Titel Das Spiel vom Sündenfall. Nach einem alten Volksspiel der Stadt Laufen.283 Die „Neue Schau“ führt ebenfalls Weihnachtsspiele auf,284 Malwe Grelling initiiert 1923 Aufführungen des Alten Schlesischen Weihnachtsspiels in Berlin.285 Erich Eckert setzt sich für Krippenspiele ein286 und veröffentlicht 1917 Ein deutsches WeihnachtsMysterienspiel.287 Max Gümbel-Seiling organisiert mit „ausgewählten, geeigneten Laienspielern“288 das Oberuferer Christigeburtspiel. Der Spielkreis Rudolf Mirbts „Kremi“ spielt in München zwischen 1920 und 1927 über 100 Mal das Weihnachtsspiel aus dem baierischen Wald289 in „Waisenhäusern, Volksküchen, Offiziersvereinen, Krankenhäusern, Fürsorgeanstalten“.290 Je nach Ausrichtung der einzelnen Gruppierungen stehen bei diesen Initiativen ein von völkischen Ideen beeinflusstes Interesse an germanischem volkskul-
281 Vgl. Kaufmann, Vorgeschichte und Entstehung, S. 76. 282 Vgl. Deutsche Bühne Ortsgruppe Hamburg (Hg.): Jahresgabe der Deutschen Bühne e.V. Hamburg 1922, o.S. 283 Vgl. Schmidt, Leopold: „Der Oberuferer Spielkreis“, in: Sudetendeutsche Zeitschrift für Volkskunde. 7. Jahrgang (1934), S. 145-157. Und Gerst, Wilhelm Carl (Hg.): Gemeinschafts-Bühne und Jugend-Bewegung. Frankfurt am Main 1924, S. 74. 284 Vgl. Kaufmann, Vorgeschichte und Entstehung, S. 87. 285 Vgl. Bericht von Gert Steuk, in: Streusandbüchse. Nachrichtenblatt der Jugendbewegung in Groß-Berlin und der Mark. 4. Jahrgang. Heft 1 (1924), o.S. 286 Vgl. Poensgen, Der deutsche Bühnen-Spielplan, S. 133. 287 Kosch, Wilhelm und Konrad Feilchenfeldt (Hg.): Deutsches Literatur-Lexikon – das 20. Jahrhundert. Biographisches-bibliographisches Handbuch. Band 7. Berlin 2005, S. 125f. 288 Gümbel-Seiling, Max: „Wegweiser, Erfahrungen eines Pfadsuchers“, in: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur. 14. Jahrgang. Ausgabe Oktober. Heft 7 (1922), S. 553-555. 289 Dörfler, Wilhelm und Hans Weinberg: Weihnachtsspiel aus dem baierischen Wald. Erneuert von Wilhelm Dörfler und Hans Weinberg. Mit Titelholzschnitt von Sepp Kneer. München 1923 (Münchener Laienspiele. Nummer 3). 290 Vgl. Mirbt, Rudolf: Laienspiel und Laientheater. Vorträge und Aufsätze aus den Jahren 1923-1959. Kassel / Basel 1960, S. 43.
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turellem Erbe oder etwa Ablehnung sowie Kritik an der Moderne und daraus resultierende Gegnerschaft zur modernen Kunst und Favorisierung mittelalterlicher kultureller Praktiken im Vordergrund. Auch Freude an einfachen künstlerischen Formen fernab der Hochkultur und das Erzielen von Gemeinschafts- und intensiver Gruppenerfahrung im Rahmen von darstellendem Spiel können bestimmende Faktoren sein. Vermittlungsarbeit für Publikumskreise, die nicht mit diesen Spielformen vertraut sind, und die Sehnsucht nach neu erlebter Religiosität und Vergegenwärtigung der biblischen Weihnachtsgeschichte können ebenfalls Motivation sein. Während für manche Truppen die Zusammenführung von Volksgemeinschaft und Glaubensgemeinschaft bzw. Volksgemeinschaftsideologisches Vorrang hat, treibt andere ein sozialpädagogisches Interesse im Sinne einer Volksbildungsarbeit an, das jedoch durchaus auch völkisch motiviert sein kann. Selbst Kirchen werden vermehrt wieder als Aufführungsorte in Betracht gezogen, die Weihnachtsspiele deshalb in ihren ganz frühen, religiösen Aufführungskontext zurück transportiert. 1920 berichtet Der Zwiespruch, eine Zeitung für Wanderbünde: „Die Ortsgruppe Berlin-Hallische Vorstadt, die schon seit sechs Jahren die alten deutschen Volksspiele pflegt, will dieses Jahr im Weihnachtsmonat in der Dorotheenstädtischen Kirche ein größeres Weihnachtsspiel aufführen.“291
1926 und 1931 werden in der Reihe „Münchener Laienspiele“ tatsächlich für Kirchen verfasste Krippenspiele herausgegeben.292 Es sind Karl Tügges Das heilig Licht leucht uns herfür: Ein Krippenspiel für den kirchlichen Raum und Deutsche Weihnacht. Für den Gottesdienst zusammengestellt von Liselotte Lindenberg,293 ein Stücktitel, der an Falckenbergs Spiel erinnert. Hier hat die Gemeinde Lieder wie „O du fröhliche“, „Es ist ein Ros entsprungen“, „Macht hoch die Tür“, „Stille Nacht, heilige Nacht“, „Kommet, ihr Hirten“, „Ihr Kinderlein kommet“ und „Wenn ich dies Wunder fassen will“ zu singen. Da die Lieder in
291 O.A., in: Der Zwiespruch. Unabhängige Zeitung für die Wanderbünde. 2. Jahrgang. Nummer 21a (1920), o.S. 292 Daneben erscheint in der Reihe z.B. auch: Ameln, Konrad: Ein Hessisches Weihnachtsspiel aus dem fünfzehnten Jahrhundert. München 1926 (Münchener Laienspiele. Nummer 26). 293 Tügge, Karl: Das heilig Licht leucht uns herfür. Ein Krippenspiel für den kirchlichen Raum. München 1931 (Münchener Laienspiele. Nummer 63). / Lindenberg, Liselotte: Deutsche Weihnacht. Für den Gottesdienst zusammengestellt von Liselotte Lindenberg. München 1926 (Münchener Laienspiele. Nummer 14).
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die Handlung integriert sind, kann die Gemeinde zu einem aktiven Teil einer Aufführung werden. Der Kirchenchor hat einigen Text zu sprechen. Im Vorwort betont die Autorin, dass ihr Krippenspiel als „Gottesdienst gedacht“ sei, und deswegen „die Gemeinde in die heilige Handlung einbezogen“294 sein solle. Auf Ausstattung sei hierbei zu verzichten, denn „Engelflügel, Schminke, Perücken und falsche Bärte gehören nicht hierher. Je weniger theatermäßig, je einfacher die Kleidung der Spieler, umso besser.“295 Mithilfe dieser Einfachheit entspreche man dem eigentlichen Entstehungskontext der Spiele, die „in den einfachen Verhältnissen des platten Landes und der Kleinstadt gewachsen“296 seien. Lindenberg strebt offensichtlich mit der Dramaturgie ihres Spiels, das darüber hinaus in zahlreichen Regieanweisungen genaue Informationen zur Nutzung des Kirchenraums und des Einsatzes von Licht liefert (es sollen überwiegend lediglich Kerzen verwendet werden), die Erzeugung einer möglichst intensiven religiösen Erfahrung an: „Nur wenn das Krippenspiel in diesem [einfachen] Geist gespielt wird, kann es zu einer Bereicherung, einer Vertiefung unseres religiösen Lebens werden.“297 Sie verspricht sich vom Spiel, dass endlich einmal „weitere Kreise der Gemeinde und nicht immer nur der Pfarrer zu tätigen Trägern des Gottesdienstes“298 werden. Lindenbergs Überlegungen sind von der Annahme geleitet, dass das Spiel der Gemeinde die Gelegenheit biete, über eine aktive Beteiligung das Alltagsleben hinter sich zu lassen, es zumindest für die Dauer der Vorführung zu transzendieren und das Wunder der Geburt Christi zu empfinden: „Die Gemeinde soll sich über dem Spiel vergessen.“ 299 Denn Kirchen seien „aus inneren Gründen der einzig mögliche Schauplatz eines Krippenspiels.“300 In diesem Sinne betont auch Rudolf Mirbt im Vorwort zum ebenfalls für einen Kirchenraum konzipierten Spiel Tügges die grundsätzliche Verwandtschaft von Gottesdienst und Laienspiel. Spielerschar und Zuschauer bildeten mithin eine Gemeinde, die Spielpraxis wäre einer intensiven Frömmigkeitspraxis analog und stelle wie eine Messe einen Dienst vor und für Gott dar:
294 Ebd., S. 5. 295 Ebd. 296 Ebd. 297 Ebd. S. 6. 298 Ebd. 299 Ebd. 300 Ebd. S. 4.
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„Es wird wirklich nicht leicht sein, ernstliche Bedenken, etwa aus der Furcht vor einer Entweihung oder Verweltlichung des gottesdienstlichen Raumes, gegen diese Dichtung ins Feld zu führen. Denn ganz unumwunden weist es den Spielern und Zuschauern, die im Sinne des Laienspiels eine Gemeinde sind, den Weg zur Krippe, immer mit dem Willen, alle Spielformen aus der Gestalt eines Gottesdienstes zu finden. Wer überhaupt eine Beziehung zur Sitte, ein Gefühl für die Notwendigkeit und Beziehung hat, muß, meine ich, zu einer Bejahung solchen Spiels kommen. Denn ist nicht, im Sinne des Laienspiels, jede gottesdienstliche Handlung und Haltung ein Spiel auf Gott hin, ein Spiel vor Gott?“301
Abbildung 23: Christkindl-Spiel in Mucsi, Komitat Tolna (1926)
In: Adolf Spamer, Weihnachten in alter und neuer Zeit
301 Mirbt, Rudolf: „Vorwort“, in: Tügge, Das heilig Licht, S. 3.
6. Weitere Entwicklungen des Weihnachtstheaters im Kaiserreich
Die im letzten Kapitel beschriebenen Unternehmungen im Bereich weihnachtlichen Theaters vereint der Versuch einer Vergegenwärtigung der Weihnachtsgeschichte. Auf verschiedene Weise wird versucht, diese so darzubieten, dass sie sich tatsächlich in der Aufführung ereignen kann. Dementsprechend interessiert man sich für die aktuelle und konkrete Präsenz ihrer semantischen und sinnlichen Ebenen. Diese Präsenz ist aber zumeist gleichsam gekoppelt an gewisse ideologische Positionen der Produzenten, die beispielsweise neben der Vergegenwärtigung des in den Evangelien Berichteten und eines Sicheinfühlen in die Weihnachtsgeschichte über darstellendes Spiel eine Sensibilisierung aller bei einer Aufführung Anwesenden für nationales, volkskulturelles Erbe anstreben. Folglich treten bei Aufführungen hier Vergegenständlichung und Aktualität mit Überzeitlichkeit und Universalität in einen Dialog, der Sinn und Gemeinschaft stiften kann. Auch die im vorletzten Kapitel besprochenen Weihnachtsmärchen intendieren eine Konkretisierung allgemein bekannter Geschichten im Modus künstlerischer Praxis, wobei hier der christliche Kern des Weihnachtsfests im Sinne des historischen Ereignisses einer Inkarnation Gottes nicht vergegenwärtigt wird. Gleichzeitig kommt es im Deutschen Kaiserreich zu anderen Entwicklungen im Bereich weihnachtlichen Theaters, die mehrheitlich Bezüge zu Lebenswirklichkeiten möglicher Zuschauer bzw. potentieller Darsteller aufweisen. Sie sollen im Folgenden vorgestellt werden. Hierbei konzentriert sich die Untersuchung auf sozialdemokratisches Weihnachtstheater und weihnachtliches Kriegstheater, weil sich in diesem Bereich die signifikantesten Neuerungen ergeben. Da auch die weihnachtliche Festkultur Veränderungen unterworfen ist, gilt es diese ebenfalls kurz zu beleuchten. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg entsteht während des deutschfranzösischen Krieges 1870/71 keine nennenswerte Zahl an Kriegsweihnachts-
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stücken. Dies ist zum einen auf die kürzere Dauer und andere Dimension des Krieges, zum anderen auf eine zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich noch nicht immens hohe Zahl an Veröffentlichungen von Spielen für Laiendarsteller zurückzuführen. Einen interessanten Sonderfall stellt hier das Schauspiel Weihnachten im Felde des überaus populären Dramatikers Roderich Benedix dar. 1 Es wird 1871 zum ersten Mal publiziert, zahlreiche Ausgaben folgen. Es spielt während des deutsch-französischen Krieges an der Front und thematisiert die Weihnachtsfeier deutscher Soldaten sowie einer deutschen Marketenderin. Das extrem patriotische Stück weist dramaturgische Muster auf, die spätere, während des Ersten Weltkrieges entstandene Spiele ebenfalls enthalten. Es inszeniert Weihnachten als genuin deutsches Fest, vereinnahmt es im Sinne der Schaffung einer Nation. Auch wird es zur Abgrenzung von französischen Feinden funktionalisiert. Die Feier, die mit einem Weihnachtsbaum, Geschenken und viel Alkohol begangen wird, erinnert an die Heimat und produziert bei den Figuren ein Bewusstsein kultureller Überlegenheit.
6.1 D IE UND
DEUTSCHE S OZIALDEMOKRATIE W EIHNACHTEN
Eine wiederum eigene Form, Weihnachtsfest und Weihnachtstheater miteinander zu verknüpfen, findet sich im Deutschen Kaiserreich im Bereich der sozialdemokratischen Arbeitervereine. Wie beim Weihnachtsspiel der Laienspielbewegung, der anthroposophischen Gesellschaft oder Reinhardts Versuch eines massenwirksamen Weihnachtsspektakels, steht auch hier die Evozierung, Intensivierung und Multiplikation von Gemeinschaftserfahrung im Mittelpunkt.2 Bereits im späten 19. Jahrhundert etablieren sich in den Arbeitervereinen Weihnachtsfeiern am 24. und 25. Dezember, auf denen ein Programmpunkt unter vielen häufig die Aufführung eines Spiels ist. „Aus der Tradition der studentischen
1
Vgl. Benedix, Roderich: Weihnachten im Felde. Genrebild in 1 Aufzug. Leipzig / Berlin 1871.
2
„Diesen Bestrebungen entsprach ein gesteigertes Interesse am Gemeinschaftsbegriff in den Geisteswissenschaften, aber zum Beispiel auch die Popularität, die Wagners und Nietzsches Idee einer Vergemeinschaftung auf ästhetischer Basis unter Intellektuellen verschiedener Couleur genoss.“ Vgl. Warstat, Matthias: Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918-33. Tübingen / Basel 2005, S. 17.
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Burschenschaften und der bürgerlichen Jugendbewegung übernommen“ 3 gibt es vermutlich bereits ab 1900 außerdem am 23. und 24. Dezember WinterSonnenwendfeiern in der Arbeiterjugendbewegung, wie Matthias Warstat in seiner Studie zur Festkultur der Arbeiterbewegung darlegt: „Wann genau die ersten Sonnenwendfeste der Arbeiterjugendbewegung gefeiert wurden, ist schwer rekonstruierbar. Nachweisbar sind derartige Feiern, die aus der Tradition der studentischen Burschenschaften und der bürgerlichen Jugendbewegung übernommen wurden, seit ca. 1910, es ist aber wahrscheinlich, dass es in einzelnen Arbeiterjugendgruppen schon vorher Sonnenwendfeiern gab. Die ersten SPD-nahen Arbeiterjugendgruppen wurden kurz nach 1900 gegründet.“4
Im deutschen Kaiserreich nehmen die Sozialdemokraten als einzige das Fest zum Anlass für gesellschaftskritische Töne. Sozialdemokratische Zeitungen prangern das „weihnachtliche Wohlleben des Bürgertums, die Verfolgung der organisierten Arbeiter durch die preußische Polizei und das soziale Elend der Arbeiterfamilien“5 an. In sozialkritischen Betrachtungen, umgedichteten und parodierten Weihnachtsliedern6 attackieren sie die kapitalistische Gesellschaft. Doch leiten sich daraus keine „revolutionären Forderungen“ 7 ab, das Weihnachtsfest gilt auch in sozialdemokratischen Kreisen als Symbol der Versöhnung und Solidarität und „als Metapher für die Verheißung einer besseren Zukunft“.8 Diese soll aber nicht erkämpft, sondern friedlich erwartet werden. Und so distanzieren sich die Sozialdemokraten „zwar von der christlich-religiösen Seite des Fests, nicht aber von den bürgerlichen Feierformen.“9 Das Fest stellen sie nicht etwa grundsätzlich in Frage oder boykottieren es. Eher nehmen sie es zum Anlass, Feiern auszurichten, die in den Dienst der eigenen Sache genommen werden. Elemente bürgerlicher Weihnachtsfeierlichkeiten wie beispielsweise Weihnachtslieder werden parodiert, jedoch nicht von radikalen Gegenentwürfen abgelöst. Die von den Vereinen an Weihnachten ausgerichteten Feiern haben den Charakter bunter Abende. Sie ähneln bürgerlichen Feiern und verbinden Reden, De-
3
Ebd., S. 50.
4
Ebd.
5
Foitzik, Rote Sterne, S. 41f.
6
Vgl. z.B. Lammel, Inge: Das Arbeiterlied. Frankfurt am Main 1980, S. 117.
7
Foitzik, Rote Sterne, S. 60.
8
Ebd.
9
Ebd., S. 45.
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klamationen, Konzerteinlagen, Gesangsdarbietungen im Chor und Theateraufführungen miteinander.10 Gesang und Lied stellen ein zentrales Element dar. Häufig werden altbekannte Melodien, die eine vertraut weihnachtliche Stimmung erzeugen, mit neuen, agitatorischen Texten, in denen zentrale sozialdemokratische Anliegen und eine Festkritik formuliert werden, zusammengeführt. Das Heft Arbeiter-Weihnachten in Liedern beispielsweise empfiehlt neben profanen Liedern wie O Tannenbaum und Kling Glöckchen klingelingeling sowohl umgedichtete Kirchenlieder als auch vollkommen neue Lieder: „O du fröhliche, / O du selige, / Gnadenbringende Weihnachtszeit. / Aus Mammonsbanden / Mensch ist erstanden, / Freue, freue dich / Der Volksfreiheit!“11 Von Stille Nacht etwa kursieren mehrere Versionen. Das populäre Lied Arbeiter-Stille-Nacht des sozialistischen Vortragskünstlers Boleslaw Strzelewicz wiederum wird mehrmals von den Behörden als staatsgefährdendes Lied verboten. 12 Nicht selten unterbindet die Polizei, die prinzipiell „viele Aufführungen der Arbeitertheatervereine, der dramatischen Abteilungen der Bildungsvereine und Parteivereine“ 13 nicht zulässt, auch ganze Weihnachtsfeiern oder einzelne Programmpunke wie Schauspiele und Deklamationen.14
6.1.1 Weihnachtstheater der Arbeitervereine Im Deutschen Kaiserreich bildet sich keine sozialdemokratische Weihnachtsdramatik heraus, die sich großer dramatischer Formen bedient und sich ernsthaft kritisch mit dem Fest bzw. der etablierten Festkultur auseinandersetzt. Vielmehr entstehen einige kleinformatige Spiele, die jedoch auf Formen des bürgerlichen Theaters wie etwa Genre- oder Lebensbilder zurückgreifen.15 Sie thematisieren
10 Vgl. ebd., S. 42. 11 Essinger, Adam: Arbeiter-Weihnachten in Liedern. Dortmund o.J., S. 7-14. 12 Lammel, Das Arbeiterlied, S. 219f. 13 Rüden, Peter: Sozialdemokratisches Arbeitertheater (1848-1914). Frankfurt am Main 1973, S. 94f. 14 Vgl. Bebel, August: Die Handhabung des Vereins- und Versammlungsgesetzes im Königreich Sachsen. Berlin 1897, S. 15f und S. 106. 15 Auch in der Reihe „Arbeiterbühne“ des Verlags Lipinski Leipzig, die aus mehr als 40 Bänden besteht, erscheinen nur zwei sehr kurze Lebensbilder für Weihnachten: Werner, Heinrich: Weihnachten. Lebensbild in einem Akt. Leipzig 1912 (Arbeiterbühne. Nummer 44). Außerdem erscheint Arthur Hofmanns Proletarier-Weihnachten, das in Kapitel 6.1.3 besprochen wird. In der Reihe „Neue Arbeiterbühne“ des Verlags Alfred
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zwar soziale Widersprüche zwischen kirchlich-bürgerlichen, besitzenden und besitzlosen Klassen und das gerade an Weihnachten offensichtlich werdende uneingelöste Gebot der Nächstenliebe. Das Weihnachtsfest stellen sie aber nicht prinzipiell in Frage. Erst in der Weimarer Republik wird speziell für weihnachtliche Aufführungskontexte der Arbeiterbewegung eine höhere Zahl an explizit politischen Spielen publiziert. Diese gehen zum Teil auch formal gewissermaßen neue Wege und sind beispielsweise als Sprechchöre konzipiert. Vor allem der Arbeiter-Theaterverlag Jahn veröffentlicht in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren eine Vielzahl an Weihnachtsspielen, die in Reihen wie Sonnwendspiele oder Neue soziale Weihnachts-Bühne zusammengefasst sind.16 Wie viele Gelegenheitsstücke oder kurze Szenen im Deutschen Kaiserreich spontan für die Weihnachtsfeierlichkeiten entstehen, die dann im Folgenden jedoch nicht gedruckt werden, kann zweifelsohne nicht abschließend beantwortet werden. In Zeitungen veröffentlichte Programme von Feiern stützen gleichwohl die These, dass eine eigens für diesen Anlass verfasste Weihnachtsdramatik keine entscheidende Rolle spielt.17 Vielmehr werden häufig Stücke gegeben, die zu anderen Zeitpunkten im Jahr ebenfalls Teil des Repertoires des sozialdemokratischen Arbeitertheaters sind. Dieses wird hauptsächlich von Komödien, Possen und Schwänken dominiert,18 „während sich die ersten politischen Agitationsstücke mit ihren hehren Botschaften nur dann durchsetzen konnten, wenn sie ihr Publikum auch mit humoristischen oder satirischen Qualitäten überzeugten.“ 19 Weihnachten 1894 darf beispielsweise in Leipzig Max Kegels (1850-1902) Stück Die Tochter des Staatsanwalts nicht gespielt werden,20 da das Leipziger Polizeiamt dagegen Einspruch erhebt.21 In Zwickau wird in demselben Jahr eine Weihnachtsfeier vollständig verboten, für die neben mehreren Vorträgen und zwei lebenden Bildern das vom Arbeiterverein Zwickau eingeübte Schauspiel Friedrich Bosses (1848-1909) Die Arbeitervereine haben doch eine Zukunft! So-
Jahn Leipzig ist für den Zeitraum vor dem Ersten Weltkrieg nur ein Weihnachtsstück nachweisbar: Werner, Heinrich: Der Armen Weihnachten. Soziales Schauspiel in 1 Akt. Leipzig 1912 (Neue Arbeiter-Bühne. Nummer 3). 16 Zum proletarischen Weihnachtstheater in der Weimarer Republik vgl. Kapitel 7.1. 17 Zu Programmen von Weihnachtsfesten der Arbeitervereine vgl. Foitzik, Rote Sterne, S. 42. 18 Vgl. Warstat, Theatrale Gemeinschaften, S. 47. 19 Ebd. 20 Kegel, Max: Die Tochter des Staatsanwalts. Schwank in 1 Akt. Berlin 1894 (Sozialistische Theaterstücke. Nummer 1). 21 Bebel, Die Handhabung, S. 26f.
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ziales Bild in 3 Abteilungen geplant war.22 Es wird „wegen der die zum Vortrag bestimmten Nummern leitenden, insbesondere gegen den Staat, die christliche Kirche und deren Einrichtungen, wie gegen die jetzt bestehende Ordnung in gehässiger und zynischer Weise sich richtenden Tendenzen“23 unterbunden. Indes findet in Bosses dramatischem Text keine Bezugnahme auf Weihnachten statt. Er spielt im Handwerkermilieu und setzt sich mit aktuellen Problematiken auseinander, beschäftigt sich mit einer möglichen Alltagswelt von Arbeitern, die sich in Arbeitervereinen engagieren und denen daraus zahlreiche Schwierigkeiten erwachsen. Ein zentrales Thema dieses Sozialen Bildes stellt ein Generationenkonflikt dar: Vater Klaar, Schulze in Bergstedt, versteht zunächst nicht den Drang seines Sohnes nach sozialdemokratischem Engagement. Am Ende der Handlung ist er jedoch von der Bedeutsamkeit sozialdemokratischer Initiative überzeugt. Er erklärt sich bereit, den Sohn zum Stiftungsfest des Arbeitervereins zu begleiten, um dann in sein Dorf zurückzukehren und sich selbstbewusst zu dem Engagement des Sohnes zu bekennen: „Doch da einmal die Gelegenheit so günstig ist, will ich sie nicht vorübergehen lassen und mich auch noch überzeugen, wie ihr die Feste in dem heute schon so oft genannten Verein feiert. Alles was ich heute gehört und gesehen habe, bringt mir den Beweis, daß man dich und deine Handlungen ganz schmählich verleumdet hat. Wohl bin ich alt und kann eure Bestrebungen nicht ganz verstehen, denn jede Zeit ringt nach anderen Idealen. – Wehe der Zeit, welche diese Aufgabe vergißt oder diese Bestrebungen mit Gewalt zurückzuhalten versucht. [...] Haltet alle Zeit fest daran, wenn ihr schwer daran zu tragen habt, denkt, ihr tut es für die Zukunft.“ (Die Arbeitervereine haben doch eine Zukunft, III. Abteilung)
Zudem thematisiert Bosses Text die Fragen danach, wie sich Kindererziehung in sozialdemokratischen Familien, der Umgang von Frauen mit dem politischen Engagement ihrer Männer und die Rolle der Frau überhaupt gestalten können. Die Ehefrau des jüngeren Klaars, die persönlich kein politisches Engagement zeigt und keine Zeit für außerhäusliche Aktivitäten zu haben scheint, konstatiert etwa: „Doch würde manche Frau auch leichter begreifen, wenn es die Herren der Schöpfung nur der Mühe wert hielten, uns auch Aufklärung zu verschaffen; vor der Hochzeit halten sie es
22 Bosse, Friedrich: „Die Arbeitervereine haben doch eine Zukunft! Soziales Bild in 3 Abteilungen“, in: Schröder, Gustav (Hg.): Frühes Leipziger Arbeitertheater. Berlin 1972 (1894), S. 21-76. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 23 Bebel, Die Handhabung, S. 106.
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nicht der Mühe wert. Nach der Hochzeit, ja wenn es nur da für uns arme Frauen überhaupt noch Zeit gäbe, sich mit anderen als den täglichen Fragen zu beschäftigen. Wir waren uns vor der Hochzeit über diesen Punkt vollständig im klaren. Mein Mann sagte, ich will zu der Eheschließung noch mit in die Kirche kommen, wenn du es der Verwandten wegen wünschest, dann aber sind wir mit der Kirche fertig. So war ich mit meinem Manne bald einig. Freilich, als die Kinder kamen, machten sie uns einige Sorgen. [...] Es trat an uns die Frage heran: sollen wir unserer Kinder wieder in der alten Anschauung unterrichten lassen?“ (Ebd., II. Abteilung)
Ein weiteres zentrales Thema stellt sozialdemokratische Überzeugungsarbeit dar, welche die Werbung neuer Mitglieder und Erzeugung von Solidarität innerhalb eines Betriebes umfasst. Während der beim Schuhmachermeister Klaar angestellte Schuhmachergeselle Schaal zu Beginn des Stückes den Aktivitäten seines Chefs noch kritisch und misstrauisch gegenübersteht, zeigt er am Ende überraschend großes Interesse und bekundet seinen Glauben an die Relevanz und Zukunft der Arbeitervereine: „Meister, gestatten Sie, daß ich auch mit zum Stiftungsfest gehe, ich sehe es ein, die Arbeitervereine haben doch eine Zukunft!“ (Ebd.) Dadurch, dass auf Handlungsebene Klaar die anderen Figuren dazu auffordert, nun schnell zum Fest zu eilen, leitet das Stück zum eigentlichen Aufführungskontext, dem Fest eines Arbeitervereins, über. Diese Replik übernimmt implizit auch eine appellative Funktion im äußeren Kommunikationssystem, dient als Aufforderung an die Zuschauer, zu feiern. Bosses Schauspiel, das deutlich kultur- und gesellschaftskritische Töne anschlägt und sich mit Themen wie Urbanisierung, Industrialisierung, Kirche und Glauben kritisch auseinandersetzt, weist keine Bezüge zum Weihnachtsfest auf. Trotz der geplanten Aufführung an Weihnachten 1894 ist es für Feste der Arbeitervereine verfasst und dient der Darstellung klassenbewusster, unbeirrbar engagierter Arbeiter, die andere zu begeistern wissen und sich auch von Schwierigkeiten innerhalb der Familie und des eigenen Betriebes nicht irritieren lassen. Es unterstützt die Stiftung eines Zusammengehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühls in einer Gruppe von Sozialdemokraten und zielt auf eine szenische, agitatorische Erörterung von Problemen ab, die Teil der Lebenswirklichkeit von Darstellern und Zuschauern sein könnten. Ganz anders gestaltet es sich bei Richard Lipinskis Stück Friede auf Erden, oder: Die Ausweisung am Weihnachtsabend. Soziales Bild in 2 Aufzügen,24 das
24 Lipinski, Richard: Friede auf Erden, oder: Die Ausweisung am Weihnachtsabend. Soziales Bild in 2 Aufzügen. Berlin 1895, 2. Ausgabe. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.
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ohne Zweifel für einen weihnachtlichen Aufführungskontext intendiert ist und tatsächlich auch an Weihnachten aufgeführt wurde bzw. aufgeführt werden sollte: 1894 darf der sozialdemokratische Verein in Chemnitz das Stück und die Deklamation Weihnacht nicht aufführen, seine Feier aber dennoch abhalten. So lautet ein Beschluss des Polizeiamts Diebdrat vom 7. Dezember 1894: „Dem Vorsitzenden Haubold eröffnen, daß die angezeigte Lustbarkeit nur unter Weglassung der Deklamation ‚Weihnacht‘ und des Theaterstückes ‚Friede auf Erden‘ genehmigt werden kann, da die Aufführung dieser Erzeugnisse augenscheinlich nur darauf berechnet ist und dazu geeignet erscheint, christliche Feste und dramatische Künste in den Dienst gehässiger, politischer Leidenschaften zu ziehen, in packender Form kirchliche Handlungen herabzuwürdigen, fürstliche Personen zu verdächtigen, Klassenhaß, Neid, Unfrieden und Unzufriedenheit bei den Zuhörern zu erregen und auf diese Weise zu unsittlichen Handlungen, Unmoralität und Gesetzesübertretungen geneigt zu machen.“25
Abbildung 24: Friede auf Erden
Titelblatt, Berlin (1895) 25 Zitiert nach Bebel, Die Handhabung, S. 17f.
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6.1.2 Friede auf Erden Auch wenn Doris Foitzik das Schauspiel des Gewerkschaftlers, Politikers, Schriftstellers und Publizisten Richard Lipinski (1867-1936) als Beispiel für „schnell geschriebene Aufführungen und Deklamationen“ heranzieht, mit denen man sich „schnell behalf“,26 weist das Vorwort des Verfassers in der zweiten, scheinbar überarbeiteten Ausgabe von 1895, bei aller Vorsicht, die im Umgang mit Autorenkommentaren geboten ist, allenfalls auf einen nicht unerheblichen Erfolg und eine große Aufmerksamkeit aufseiten einer Leserschaft und der Polizei hin: „Schon vor Weihnachten 1894 [war] die erste Auflage vollständig vergriffen [...] und viele Bestellungen [mussten] unerledigt bleiben [...]. Wie in Deutschland nicht anders zu erwarten, beschäftigte sich auch die Polizei mit dem Werkchen und verbot einige geplante Aufführungen, weil der Inhalt ‚aufreizend‘ sei. Diese rege polizeiliche Fürsorge und große Nachfrage haben mich veranlaßt, das Stück nochmals durchzuarbeiten, ohne seinen Charakter zu ändern und so der Öffentlichkeit zu übergeben.“27
Lipinskis Schauspiel verarbeitet einen historischen Stoff. Es spielt 1886, demzufolge vor Aufhebung des Sozialistengesetzes, der Kurzbezeichnung für Das Gesetz gegen die die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie. Es galt von 1878 bis 1890 und verbot sämtliche sozialistischen und sozialdemokratischen Organisationen und deren Aktivitäten im Deutschen Kaiserreich. Das Schauspiel handelt nun von der Ausweisung zahlreicher sozialdemokratisch engagierter Familienväter aus Frankfurt am Tag vor Weihnachten. Das stark ideologisch aufgeladene Stück wendet sich einer vermutlich für viele Sozialdemokraten traumatischen Episode in der frühen Phase der Sozialdemokratie zu. Es widmet sich der Entrechtung engagierter Arbeiter, ihrer politischen Ausbürgerung, sozialen Ausgrenzung, Verfolgung am Arbeitsplatz, der Vertreibung aus der vertrauten Umgebung und dem Verlust eines seelischen und sozialen Halts. Die als heldenhaft charakterisierte Hauptfigur, der Schlosser Heinrich Prinz, gemahnt an die heroischen und harten Zeiten des frühen Kampfes um die Durchsetzung der sozialen Demokratie, die von zahlreichen Repressalien geprägt war und sogar eine Trennung von der eigenen Familie mit sich bringen konnte. Drastisch werden Schikanen geschildert, denen sich aktive Arbeiter am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit ausgesetzt sehen konnten. Der Text fordert zum uner-
26 Foitzik, Rote Sterne, S. 42. 27 Lipinski, Friede auf Erden, S. 3.
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müdlichen friedlichen Kampf für die sozialdemokratischen Ideale auf. Trotz expliziter Kritik an der weihnachtlichen Festkultur wird einer bedrohlichen Öffentlichkeit das Weihnachtsfest als Symbol privaten Glücks gegenüber gestellt. Es wird jedoch nicht zum „Symbol der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die man jedoch nicht erkämpfen, sondern vertrauensvoll abwarten wollte“,28 sondern zum Symbol für ein durch staatliche Maßnahmen und Sanktionen bedrohtes privates Glück. Im Vorwort schildert Lipinski den historischen Kontext der Handlung. Mithilfe der Wiedergabe eines Artikels der Frankfurter Zeitung informiert er mögliche Leser über die historischen Ereignisse, die als Vorlage für sein Schauspiel gedient haben. Hierdurch legitimiert er seine eigene schriftstellerische Tätigkeit aus der Notwendigkeit heraus, Zeugnis von historischen Begebenheiten abzulegen. Das von ihm geschilderte Individualschicksal ist zwar fiktiv, bekommt durch die historische Rahmung aber einen exemplarischen Charakter zugewiesen. „Die Vorladungen wurden den Betreffenden gestern, 24. Dezember, zwischen 5 und 6 Uhr abends zugestellt. Wir haben, obwohl uns die Vorladung gezeigt wurde, doch heute Nacht Abstand genommen, von der Mitteilung Notiz zu nehmen, weil wir es für absolut ausgeschlossen hielten, daß die Polizeibehörde am ersten Weihnachtstag eine solche harte Maßregel über eine Anzahl hiesiger Einwohner und ihre Familien verhängen könne. Leider sind uns im Laufe des Vormittags Mitteilungen zugegangen, die keinen Zweifel darüber lassen, daß die Landespolizeibehörde auch diejenige Rücksicht, die selbst die feurigsten Befürworter strenger Maßregeln gegen die Sozialdemokratie von ihr erwartet haben mögen, die Rücksicht auf das häusliche Glück am Weihnachtsfeste nicht hat walten lassen. Den auf heute Vormittag vorgeladenen Personen – eine größere Zahl, darunter viele Familienväter – wurde einzeln eröffnet, daß sie aus dem Bereich des kleinen Belagerungszustandes ausgewiesen seien und bei Strafe der Verhaftung das bezeichnete Gebiet bis spätestens Dienstag Vormittag verlassen haben müßten!“ (Ebd.)
6.1.2.1 Erster Aufzug Richard Lipinskis soziales Bild spielt eben am „Weihnachtsabend 1886 während des Sozialistengesetzes“29 in Frankfurt am Main. Es ist sehr klar strukturiert und recht kurz. Die dramatische Handlung ist auf zwei, an unterschiedlichen Orten spielende Aufzüge verteilt. Das Figurenpersonal umfasst Heinrich Prinz und sei-
28 Foitzik, Rote Sterne, S. 45. 29 Lipinski, Friede auf Erden, S. 4.
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ne Ehefrau Klara Prinz, den Fabrikbesitzer Wörmann, dessen Buchhalter Schumann und den Dreher Schwager. Die Figuren sind eindimensional und stark typenhaft gezeichnet. Heinrich Prinz verkörpert den heldenhaften, engagierten Arbeiter, Klara Prinz die treue, sorgende und starke Gattin, Wörmann einen perfiden Kapitalisten. Schumann dient als dessen treuer Gehilfe und fungiert dramaturgisch wie ein Bote. Er übermittelt Informationen, die für den Fortgang der dramatischen Handlung essentiell sind. Der intrigante, opportunistische, ängstlich angepasste Arbeiter Dreher ist als Prinz’ Antagonist konzipiert. Der erste Aufzug spielt in der Fabrik Wörmanns. Wörmann fordert hier zunächst seinen Mitarbeiter Schumann dazu auf, alle Mitarbeiter, die nicht an der zwischen Weihnachten und Neujahr stattfindenden Inventur teilnehmen, darüber zu informieren, dass sie für diese Zeit aussetzen müssen, damit er effizienter und kostensparender wirtschaften könne. Kaltherzig reagiert er auf den Einwand Schumanns, dass man mit diesem Lohnausfall gerade an Weihnachten den Arbeitern keine Freude bereite. Rücksichtslos weist Wörmann ihn auf seine Rechte als Arbeitgeber hin, die ihn zu keinerlei Schutz der Arbeitnehmer verpflichteten: „Wörmann. Sagen Sie den Leuten bei der Lohnauszahlung, daß sie, soweit sie nicht zur Inventur gebraucht werden, aussetzen müssen. Sie sind doch alle auf tägliche Kündigung angenommen worden? Schumann. Jawohl! Wörmann. Dann ist ja kein Rechtsstreit mit den Arbeitern zu befürchten. Den Lohnausfall müssen sie schon verschmerzen. Schumann. Eine besondere Festfreude wird es ihnen wohl kaum sein. Wörmann. Ist mir gleich. Ich bin nicht gewöhnt, mich von Rücksichten leiten zu lassen. Bin ich denn ein Stück Vorsehung für die Leute? oder verzichte ich damit auf einen Teil meines Geschäftsgewinnes?“ (Friede auf Erden, I. Akt, 1. Szene)
Kurz darauf befragt er Schumann danach, ob auch in seiner Fabrik „die Agitation unter den Arbeitern [...] in neuerer Zeit wieder von der Sozialdemokratie in erhöhtem Maaße betrieben“ (ebd.) werde und ob Versammlungen abgehalten würden. Schumann empfiehlt ihm, sich einmal mit Schwager zu unterhalten. Schwager informiert seinen Chef darüber, dass er persönlich lediglich Mitglied des „evangelischen Arbeiter-Vereins“ (ebd., I. Akt, 4. Szene) sei, der sich gemeinsam mit einem Pastor ausschließlich der Erbauung widme. Er denunziert
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jedoch seinen Kollegen Prinz. Daraufhin ruft Wörmann Prinz in sein Büro und befragt ihn zu seinen Aktivitäten. In langen, leidenschaftlichen und selbstbewussten monologhaften Passagen legt Prinz seinem Chef die Gründe und Ziele seines politischen Engagements dar, führt sie auf den christlichen Gedanken der Nächstenliebe zurück und kritisiert die prekären Arbeitsverhältnisse in der Fabrik. Eindringlich begründet er die Notwendigkeit, sich als Gruppe zu formieren, um gesellschaftliche Veränderungen erwirken zu können. Er versucht erfolglos, seinen Chef zum Umdenken zu bewegen und gerade vor dem Hintergrund des Weihnachtsfests an die sozial Schwächeren zu denken. „Was ist der Hilflose allein, was nutzt die Anspannung seiner ganzen Kraft? Ein Nichts, das seine Kraft zwecklos vergeudet. Darum haben wir uns zusammengethan um gemeinsam, vereint, uns des Hilflosen anzunehmen und zu seinem Besten zu wirken. Wo finde ich die Garantie, daß ich nicht in gleiche Lage wie meine arbeitslosen Kollegen komme? Sie machen es mir zum Vorwurf, daß ich die Verhältnisse Ihrer Fabrik in der Versammlung besprochen habe. Die meiste Zeit wird bei Ihnen – neben der langen Arbeitszeit – in Ueberstunden gearbeitet. [...] Kürzen Sie die lange Arbeitszeit etwas ab, lassen Sie nicht weiter Ueberstunden machen und stellen Sie lieber noch einige Leute ein. Sie schaffen – wenn auch einer kleinen Zahl Arbeiter – Brot und bewahren die Anderen vor dem frühen Siechtum und dem ihm folgenden Elend für die Familie. (Warm.) Hilfreich sei der Mensch, edel und gut. Machen Sie diesen Spruch wahr, dann ist der Zwecke meiner Rede in jener Versammlung zum Teil erreicht. Geben Sie dem kleinen Kreis durch Arbeit die Freude zum morgenden Weihnachtsfest wieder.“ (Ebd., I. Akt, 8. Szene)
Wörmann lässt sich in keinesfalls umstimmen und konstatiert, dass er, solange er noch Herr über sein Eigentum sei, gegen sämtlichen „sozialistischen Unsinn“ (ebd.) vorgehen werde. Prinz warnt ihn vor einem kommenden Kampf der Arbeiter und steht weiterhin unerschütterlich für seine Ideale ein: „Erniedrigen Sie den Menschen so, dann üben Sie die Anarchie, die Sie mir zum Vorwurf machen. Treten Sie den Menschen, ersticken Sie jedes Selbstgefühl in ihm, machen Sie ihn zum willenlosen Werkzeug in Ihrer Hand, aber wundern Sie sich nicht, wenn er sich seiner unwürdigen Lage bewußt wird, und die Fesseln abzuschütteln sucht. [...] Nicht wollen wir den Kampf des Einzelnen gegen den Einzelnen führen, sondern unsere Kraft gemeinsam ausnutzen, den Gefahren des Lebens zu begegnen. Die Uebung des gemeinsamen Willens zum Besten der Gesamtheit, das ist der Sozialismus, den Sie bekämpfen und entgegentreten wollen.“ (Ebd.)
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Auch als sein Chef ihm daraufhin zornentbrannt kündigt, merkt er nüchtern und spöttisch an: „Das ist der Ausdruck ihrer wirtschaftlichen Macht.“ (Ebd.) Konsequent ist er hier vom Autor als standesbewusster und vorbildlicher Arbeiter charakterisiert, der einen solch festen Glauben an die eigenen Ideale hat und dem das Wohlergehen anderer so sehr am Herzen liegt, dass er keine Schwäche zeigt: „Zeigen Sie ihr Gesicht im rechten Licht. Reißen Sie die scheinheilige Maske herab und zeigen Sie den Christ in wahrer Gestalt. Praktische Christen, die die Lehre ihres Meisters: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘ so befolgen. – Ich hatte allerdings eine andere Auffassung seiner Lehren. Sie zeigen mir, wie man sie auch anders deuten kann. [...] Leben Sie wohl, Sie – ‚edler‘ Christ.“ (Ebd.)
6.1.2.2 Zweiter Aufzug Der zweite Aufzug ist in Hinblick auf eine größtmögliche Kontrastwirkung konzipiert. Er spielt in einer privaten Umgebung und ist der männlich dominierten Atmosphäre der Fabrik kontrastreich gegenübergestellt. Zum ersten Mal tritt eine Frau auf. Der Aufzug wird mit einem sentimentalen, stimmungsvollen weihnachtlichen Genrebild eröffnet. Das Schauspiel spielt am Tag vor Heiligabend und bringt deshalb die eigentliche Feier nicht auf die Bühne. Stattdessen erfahren die Vorbereitungen eine große Aufmerksamkeit und werden ausführlich geschildert. Haupt- und Nebentext vergeben detaillierte Informationen zur Organisation und Gestaltung der Feier. Inwiefern das Stück tatsächlich eine annähernd realistische Abbildung einer Arbeiterweihnacht liefert, die mit dem Fest bürgerlicher Prägung prinzipiell übereinstimmt, oder ob es sich auch hier um ein bürgerliches Konstrukt und einen literarischen Beitrag zur Normierung des Fests handelt, kann natürlich nicht abschließend beantwortet werden. Unbestritten bleibt jedoch, dass der Text zahlreiche weihnachtliche Topoi evoziert, die einst eng an das bürgerliche Weihnachtsfest gekoppelt waren. Diese Topoi werden mit einer anderen sozialen Schicht assoziiert, das weihnachtliche, private Fest dementsprechend als ein Fest der Gesamtbevölkerung präsentiert. Wenngleich geringe wirtschaftliche Möglichkeiten den Erwerb von Geschenken und der für die Ausrichtung der Feier notwendigen Requisiten beschwerlich machen, wird dem gesellschaftlichen Druck und der Erwartungshaltung der Kinder nachgegeben. Man aktiviert sämtliche Ressourcen für eine stimmige Ausrichtung der privaten Weihnachtsfeier. Präsentiert wird eine fast mittellose Arbeiterfamilie. Diese formuliert trotzdem ein Festverständnis, das Weihnachten als ein gefühlsbetontes, heimeliges, die bestehende familiäre Ordnung bestätigendes Familienfest und als ein Fest der
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Kinder begreift. Die Generierung von Freude wird ins Zentrum aller Bemühungen gestellt. Man begeht Weihnachten mit der Kernfamilie, grenzt sich von der Öffentlichkeit ab und zelebriert einen familiären Frieden. Klara weist zwar immer wieder auf die Bescheidenheit der Ausstattung hin (vgl. ebd., II. Akt, 3. Szene), schmückt den Innenraum indes mit allen zentralen weihnachtlichen Requisiten. Der Nebentext verlangt einen herausgeputzten Weihnachtsbaum, Geschenke und „Effekte“ für den Baum (vgl. ebd., II. Akt, 2. Szene). Klara soll sogar ihren ersten, verhältnismäßig langen Monolog „wie zufällig“ (ebd.) beim Schmücken des Baumes sprechen. Dabei artikuliert sie ihr Verständnis von Weihnachten als einem Fest, das allen Familienmitgliedern die größtmögliche Freude bereiten solle, gleichzeitig aber auch der Züchtigung der Kinder diene: „Nur artig sein und hübsch schlafen, sonst bringt der Weihnachtsmann euch nichts. (Sie eilt wieder zum Baum zurück und schmückt weiter.) Freuen sollen sie sich alle. Ist ja nur herzlich wenig, aber ich gebe es von Herzen gerne. [...] Jetzt die Geschenke hübsch zurecht gelegt und dann für heute Feierabend. Ein paar Pantoffeln, eine Pfeife und Tabak meinem Heinrich. Eine Schiefertafel, ein Tuschkasten mit Farben für Fritz, und der Marie eine Puppe. Jedem ein Teller mit Aepfeln und Nüssen, einen Pfefferkuchen dazu.“ (Ebd.)
Hiermit führt Klara einen zentralen Bestandteil des weihnachtlichen Rituals aus; verzierte Tannenbäume sind im Deutschen Kaiserreich im Öffentlichen wie im Privaten nunmehr an Weihnachten nicht mehr wegzudenken. Das Wohnzimmer wird in den Aufführungsort eines Rituals verwandelt, das sowohl der Bestätigung und Stärkung der familiären Identität als auch der Erziehung der Kinder dient. Vor Beginn der Bescherung ist den Kindern der Zutritt zu diesem ‚Theaterraum’ verwehrt. Mit Klaras Bezugnahme auf den Weihnachtsmann, der scheinbar als externer Gabenbringer Teil des weihnachtlichen Rituals ist, wird die textliche Darstellung des familiären Weihnachtsfests um ein weiteres typisches Kennzeichen vervollständigt. Anhand des Textes lässt sich nicht nachvollziehen, ob in der Familie Prinz jemand verkleidet als Weihnachtsmann auftritt, oder ob er nur als elterliches Erklärungsmodell für die Herkunft der Geschenke dient. In jedem Fall betreibt die Mutter ein aktives Spiel der Täuschung ihrer Kinder, so dass sich die Eltern nicht als Schenkende offenbaren müssen. Wie zahlreiche andere bürgerliche weihnachtliche Texte propagiert das Schauspiel ein Ideal von Mutterschaft, das Klara als eine aufopferungsvolle und fürsorgliche Frau darstellt. Selbstlos verschreibt sie sich den Bedürfnissen ihres Mannes und ihrer Kinder und verwaltet den Haushalt. Für die perfekte Vorbereitung und Organisation des Bescherfests ist sie alleinverantwortlich. In diesem Sinne sieht Klara auch für ihre Tochter eine Puppe als Geschenk vor, mit der
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Mutterschaft gleichsam spielerisch erprobt werden kann. Ihr Sohn hingegen erhält mit der Schiefertafel und dem Tuschkasten Geschenke, die stärker intellektuelle Fähigkeiten befördern und die einzuübende Rolle nicht so eindeutig definieren. Die Bestätigung Weihnachtens als traditionell begangenem Familienfest wird in der zweiten Szene konterkariert. In einem langen Monolog kommt nun Prinz erneut zu Wort, formuliert hier eine umfassende Festkritik und reflektiert den christlichen Gehalt des Fests. Er legt dar, dass Weihnachten ein Fest der Liebe, Nächstenliebe und Freude sein solle, sich aber in den letzten Jahren immer stärker von seinem eigentlichen Charakter entfernt und eine Veräußerlichung erfahren habe. Er kritisiert eine Gesellschaft, in der es große soziale Unterschiede gebe und die Krieg statt Frieden predige. Scharfzüngig attackiert er die Doppelmoral kirchlicher und christlicher Kreise, die zwar Nächstenliebe anmahnten, sich aber im eigenen Handeln nicht davon leiten ließen. Prinz tadelt die verbreitete Festpraxis einer besitzenden Klasse, die sich im Weihnachtsgottesdienst für Nächstenliebe ausspreche und dann einen Rückzug ins Private antrete, um an einem üppig gedeckten Tisch, unter Ausschluss der Öffentlichkeit und anderer sozialer Realitäten, ungestört zu schlemmen. Er nutzt das Weihnachtsfest somit, um eine von sozialdemokratischen Ideen beeinflusste Gesellschaftskritik zu üben. Atheistisch ist seine Haltung jedoch nicht, vielmehr beanstandet er eine falsch verstandene und falsch gelebte christliche Glaubenspraxis: „Ein Liebesfest soll es sein. Alt schon ist dein Gebrauch, alles hat sich dir im Laufe der Zeit angepaßt und was ist von Dir geblieben? Nichts als der Name, das Aeußerliche. Wo ist die Liebe, wo ist der Friede? Hier in Villen und Palästen üppige Pracht und eitle Wonne, dort in den Hütten die Armen, die kaum ihre Blößen bedecken können. So sind die Erdengüter ungleich verteilt [...] Und wo ist der Friede? Statt allgemeiner Glückseligkeit predigt ihr den Krieg, hetzt ihr die Völker gegen einander auf, damit sie sich zerfleischen. Und im täglichen Leben derselbe Kampf ums Dasein.“ (Ebd., I. Akt, 1. Szene)
Die Festkritik von Herrn Prinz und die Romantisierung der Geschenkfeier durch Frau Prinz werden in der dritten Szene des zweiten Aufzugs zusammengeführt. Klara schwelgt in Kindheitserinnerungen und demonstriert ein großes Traditionsbewusstsein. Sie beschreibt ihre Festpraktiken und die ihres Elternhauses als kongruent. Interessanterweise berichtet sie, dass in ihrer Kindheit die Bescherung am Morgen des 24. und nicht am Nachmittag oder Abend begangen worden sei. Ob der dramatische Text hier als historisches Dokument von einer Varianz der deutschen weihnachtlichen Festkultur zeugt, oder lediglich Frau Prinz’ Familie auf Ebene des fiktiven Textes anders gefeiert hat, sei dahingestellt:
264 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR „Damals ging es uns auch so wie unseren Kindern. Wir mußten zeitig zu Bett und konnten doch vor Neugierde nicht schlafen. Da sind wir oft an die Thür geschlichen und haben versucht zu erspüren, was drinnen vorging. Doch vergeblich, denn Mütterchen hatte wohlweislich selbst das Schlüsselloch verhangen. [...] War dann der Morgen angebrochen, dann war es ein Jubel und eine Freude. Das kleinste Geschenk wurde mit ebenso viel Freude betrachtet, als die anderen Geschenke. Dann waren alle so froh und vergnügt. Sieh’ genau so froh und vergnügt bin ich heute gewesen. Ich freue mich auf das Fest wie damals als Kind, der Kinder wegen.“ (Ebd., II. Akt, 3. Szene)
Heinrich allerdings bleibt bei seiner zweifelnden und kritischen Haltung, spricht sich erneut vehement gegen soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten aus: „Bescheidenheit, Bescheidenheit, das ist das Los der Armen. Und Freude und Glück fast unerreichbare Dinge für ihn. [...] Wir wollen gemeinsam mit den Genossen schaffen, daß bald, recht bald, die Stunde kommt, wo nicht jeder Bissen Brod durch Mühe und Sorge errungen werden muß, wo nicht die Sorge um den nächsten Tag, den Schlaf selbst von den müden Gliedern scheucht.“ (Ebd.)
Und trotzdem gerät er mit Klara ins Schwärmen über ihr häusliches Glück. Anlass hierfür ist sein Weihnachtsgeschenk, eine Pfeife, die Klara ihm bereits am Abend überreicht. Die Pfeife lässt das Ehepaar von ruhigen, abendlichen Stunden zu zweit in ihrem Wohnzimmer träumen (vgl. ebd.). Dementsprechend besteht eine weitere Funktion dieser Szene, in der das Ehepaar erstmals gemeinsam gezeigt wird, in der Repräsentation einer Ehe, die als vorbildlich und durchweg positiv charakterisiert ist. Während Heinrich seine Frau lobt und als „gut“, „stark“ und „treu“ bezeichnet, ist sie äußerst liebevoll und loyal. Vorbehaltlos unterstützt sie ihren Mann und klagt kaum, als sie erfährt, dass ihm gekündigt worden ist. Auch wenn sie kurz Zukunftsängste artikuliert und betont, dass ihr Einkommen als Näherin kaum die Familie ernähren könne, signalisiert sie ihm volle Solidarität (vgl. ebd.). Anders als in Henrik Ibsens fast zeitgleich entstandenem Nora oder Ein Puppenheim, in dem Weihnachten als Metapher für erstarrte Konventionen und die Enge bürgerlicher Welt fungiert, entfaltet sich bei Lipinski eine harmonische, konfliktlose, eheliche Szenerie, die erst durch das Eintreffen eines Repräsentanten des staatlichen Gewaltmonopols gestört wird. Ein Polizist informiert Prinz darüber, dass er sich binnen 24 Stunden aus der Stadt zu entfernen habe, da ihm ansonsten eine Gefängnisstrafe drohe. Mutig gehorcht der Held Prinz dem Sozialistengesetz. Furchtlos ermutigt ihn Klara loszuziehen, sich keine Sorgen um
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seine Familie zu machen und sich weiterhin dem Kampf für das Gute zu widmen. Noch einmal verknüpft diese letzte Szene eine sozialdemokratisch motivierte Anklage gesellschaftlicher Missstände mit dem christlichen Grundgehalt der weihnachtlichen Feier. Kurz nachdem Prinz von seiner Ausweisung erfahren hat, ertönt der Choral „Und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen“. Diese Verse der Engel, die aus der lutherischen Bibelübersetzung stammen und mit der Aussicht auf Frieden einen der zentralen, im Lukasevangelium formulierten Gedanken der Weihnachtsgeschichte artikulieren, sind von Johann Sebastian Bach in der 2. Kantate des Weihnachtsoratoriums vertont worden. Sie drücken die Verheißung aus, dass der Frieden auf Erden durch das Kind in der Krippe, durch Jesu Gewaltlosigkeit, Gestalt gewinne. Gleichwohl verleiten diese Worte Prinz dazu, abermals die Doppelmoral christlicher Kreise anzuprangern: „Warum nicht mal als Parodie, als Hohn auf den Frieden. Auf der Kanzel verkündet ihr den Frieden des Herrn, und so setzt ihr euer Christentum, eure Lehre in Wirklichkeit um. Statt den Frieden zu geben, nehmt ihr den Armen nicht nur den Frieden, sondern auch sein Glück.“ (Ebd., II. Akt, 5. Szene)
Gleichzeitig definiert Prinz sein eigenes Handeln als ein durchaus christlich motiviertes Handeln, das ganz im Sinne von Jesu Botschaft sei: „Weil ich that, was jener Nazarener lehrte. Seine Lehre ganz befolgend, trat ich für die Enterbten ein, ihnen galt meine Arbeit, mein Ringen.“ (Ebd.) Dementsprechend erneuert Prinz zuletzt noch einmal den Appell, unermüdlich für die sozialdemokratischen Ziele einzustehen. Er bezieht sich auf die biblischen Worte und verkündet, der christlichen Weihnachtsbotschaft analog, dass das Ziel des Kampfes der Frieden auf Erden sei: „Doch seien wir die Pioniere, ebnen wir die Wege zum Frieden auf Erden. Vorwärts, hinaus zum erneuten Kampf!“ (Ebd.) Auf diese Weise wird das ursprünglich christliche Ziel des Friedens auf Erden umgedeutet in ein sozialdemokratisches Ziel, das auf einer grundsätzlichen Veränderung der Verfasstheit von Gesellschaft im Deutschen Kaiserreich basiert.
6.1.2.3 Sozialdemokratisches weihnachtliches Agitationstheater Ungeachtet der Tatsache, dass Lipinskis Werk natürlich nicht repräsentativ für sämtliche sozialdemokratischen Weihnachtsfeiern ist, in deren Zentrum nicht notwendigerweise überhaupt ein Schauspiel steht, ergeben sich aus den zuvor angestellten Betrachtungen interessante Erkenntnisse. Paradoxerweise bestätigt der Text auf der einen Seite das private Weihnachtsfest bürgerlicher Prägung,
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während er auf der anderen Seite massive Kritik an der Feierkultur besitzender Schichten übt. Er ist im Stile sozialdemokratischen Agitationstheaters verfasst. Indem er sich direkt und offensiv an Leser und Zuschauer wendet und den Glauben an eine Zeitenwende propagiert, kann er zur Identifikation anregen und Rezipienten zu politischem Handeln und sozialem Engagement motivieren. Der letzte Appell Prinz’, der eindeutig für das externe Kommunikationssystem intendiert ist und sich an ein Publikum richtet, generiert Verbundenheit. Hierzu trägt auch die häufige Verwendung des Wortes „wir“ bei. Dabei steht das Schauspiel aber lediglich im Dienste der deutschen, keiner internationalen Arbeiterbewegung. Es thematisiert eine typisch deutsche Festgestaltung und erinnert an Geschehnisse in Frankfurt. Der Gedanke eines international ausgerichteten Kampfes wird nicht formuliert. Diese Form weihnachtlichen Theaters ist folglich nicht im Sinne der Konstruktion deutscher, sondern im Sinne der Konstruktion deutscher sozialdemokratischer Gemeinschaft formuliert. Es ist in seiner Grundausrichtung christlich und sozialdemokratisch. Das Schauspiel verhandelt ein fiktives Individualschicksal vor dem Hintergrund einer wahren historischen Begebenheit. Es zeugt von Repressalien durch Unternehmer und Staat während der Frühphase der sozialdemokratischen Bewegung. Schwager und Wörmann verkörpern zwei sozialdemokratische Feindbilder: den unsolidarischen Arbeiter und den despotischen Fabrikbesitzer als zentrale Repräsentanten des kapitalistischen Systems. Mithilfe der Vergegenwärtigung und Schilderung einer besonders schmerzhaften, da im Kontext eines Familienfests stattfindenden Ausweisung eines Arbeiters, können unter Arbeitern ein historisches Bewusstsein befördert und eine gemeinsame Erinnerungskultur begründet werden. Die Konstruktion der exemplarischen Figur eines märtyrerund heldenhaften einfachen sozialdemokratischen Arbeiters, der zu Zeiten des Sozialistengesetzes tapfer für die sozialistischen Ideale eintritt, ist einer Mythenbildung zuträglich. Die individuelle Rückerinnerung und Vergegenwärtigung im Falle einer Lektüre oder die gemeinschaftliche Rückbesinnung im Falle einer Aufführung an erlittene Qualen, Wunden und die Tradition des Kampfes können identitätsbildend und -erhaltend wirken sowie auf ein kritisches Verhältnis zum Staat einschwören. Sozialdemokraten vergangener und gegenwärtiger Tage werden gewissermaßen in eine Schicksalsgemeinschaft transformiert. Lipinskis Schauspiel, das mit dem Sozialistengesetz auf ein kollektives Trauma rekurriert (beziehungsweise dieses konstruiert), strebt also die Vergemeinschaftung und Agitation von Arbeitern an und entspricht damit dem Charakter vieler Feste der frühen Arbeiterbewegung:
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„Auf den Festen der frühen Arbeiterbewegung wurden Zusammengehörigkeit und Solidarität der Anhänger beschworen und Gemeinschaftsidentitäten propagiert. In Liedern, Festreden, Lebenden Bildern und Gedichtrezitationen wurden historische Entwicklungen und Traditionen vermittelt, die dem Einzelnen Identifikations- und Integrationsmöglichkeiten offerierten.“30
Dramaturgisch erzielen die Vorbereitungen des weihnachtlichen Rituals eine enorme Kontrastwirkung: Durch die Gegenüberstellung einer friedlichen Privatheit und einer brutalen Außenwelt erscheinen die Grausamkeit des Fabrikanten Wörmann und des Staates noch erbarmungsloser. Wenn das Spiel tatsächlich in der Weihnachtszeit aufgeführt wird, schaffen die Bezugnahme auf einen konkreten Zeitraum im Jahr und die Integration der Feier in die Handlung natürlich einen konkreten inhaltlichen Bezug zum Aufführungskontext und -anlass. Bemerkenswerter ist jedoch, dass der Weihnachtsgestaltung bürgerlicher Prägung Modellcharakter zugesprochen wird: Die Vorfreude auf die Familienfeier ist im dramatischen Text als Symbol für das perfekte, private, nur durch Einwirkung von außen bedrohte Glück inszeniert. Kritik wird lediglich am öffentlichen Verständnis des Fests formuliert. Neben der Schulung rhetorischer Fähigkeiten und der identifikatorischen Verständigung über sozialdemokratische Grundsätze bedeutet eine Aufführung dieses Spiels für die Beteiligten eine Konfrontation mit zentralen Bestandteilen des weihnachtlichen Rituals, der cultural performance Heiligabend. Spielerisch kann die eigene private Praxis einer Feiergestaltung auf einem Fest des Arbeitervereins reflektiert und konsolidiert werden. Die Darstellung einer harmonischen, tapferen ehelichen Gemeinschaft und weihnachtlicher Festvorbereitungen innerhalb einer spezifischen Lebenssituation, die mit den Lebensrealitäten der Rezipienten durchaus Übereinstimmungen aufweisen wird, können als Orientierungspunkte fungieren. Interessanterweise bejaht das Schauspiel somit trotz Kritik an einer angeblich scheinheiligen Frömmigkeitskultur des Bürgertums und Klerus’ eine ursprünglich zutiefst bürgerliche, häusliche Feierform. Lipinskis Stück ist gesellschaftsund kulturkritisch, verzichtet aber auf eine grundlegende Festkritik. Es stellt die Geschenkfeier nicht grundsätzlich in Frage, obgleich der Text den Schwierigkeiten einer armen Familie, den Anforderungen des Bescherfests nachzukommen und Geschenke und Baumschmuck zu kaufen, Ausdruck verleiht. Die angeblich scheinheilige Frömmigkeitskultur besitzender Schichten wird zwar umfassend kritisiert, eine Festkultur, die zutiefst am Konsum orientiert und deshalb primär
30 Warstat, Theatrale Gemeinschaften, S. 47.
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ein Fest für Besitzende ist, paradoxerweise jedoch nicht beanstandet. Die ursprünglich bürgerlich geprägte Gestaltung des Fests im innerfamiliären Rahmen der Kernfamilie lädt stattdessen gleichsam zur Nachahmung ein. Trotz einer Politisierung dieses sozialdemokratischen weihnachtlichen Theaters werden die Weihnachtsbotschaft, der christliche Grundcharakter und die säkulare Feier also nicht durch Alternativentwürfe zur Disposition gestellt. Das Drama steht sowohl im Dienste des Fests als auch im Dienste sozialdemokratischer Ideen und Werte. Es nimmt eine ambivalente Haltung ein und ist insofern mit dem von Doris Foitzik beschriebenen Verhältnis der SPD zum Weihnachtsfest während des Deutschen Kaiserreichs deckungsgleich: „Dennoch dürfen die harschen Zensurmaßnahmen nicht zu der Annahme verleiten, die SPD habe das Weihnachtsfest konsequent zur radikalen proletarischen Kampffeier umgestaltet. Die SPD nahm das Fest zwar als willkommenen Anlass, um gegen soziale und politische Missstände zu protestieren, aber auch als Maßstab bürgerlichen Lebensstils, der, wie die Ausgestaltung der sozialdemokratischen Feiern zeigt, für große Teile der Arbeiterschaft Vorbildfunktion hatte.“31
6.1.3 Exkurs: Proletarier-Weihnachten Interessanterweise weist das im Verlag Richard Lipinski 1914 in zweiter Auflage erschienene, deutlich kürzere Lebensbild in einem Akt von A. Hofmann Proletarier-Weihnachten erhebliche Übereinstimmungen mit dem zuvor besprochenen Werk auf.32 Die beiden Stücke sind in ihrer Handlungsstruktur und ihren thematisch-inhaltlichen Setzungen fast deckungsgleich. Trotz eindeutig gesellschafts- und kirchenkritischer Parolen bestätigt Hofmanns Text ebenfalls die private Weihnachtsfeier als Familien- und Kinderbescherfest, mit der ihm eigenen Konsumkultur und seinen Schenkriten. Das Spiel beginnt mit Vorbereitungen für die am nächsten Tag stattfindende Weihnachtsfeier, Mutter und Tochter schmücken einen Baum in einer „sauberen, bescheidenen Arbeiterwohnung“ (Proletarier-Weihnachten, 1. Szene), in der ein „halbherzig geputzter Weihnachtsbaum“ (ebd.) steht. Auf diese Weise ist ein überaus theatrales Element des weihnachtlichen Rituals in die Ereignisabfolge des dramatischen Textes integriert. Mithilfe dieses symbolischen Akts, der
31 Foitzik, Rote Sterne, S. 44. 32 Hofmann, Arthur: Proletarier-Weihnachten. Lebensbild in einem Akt. Leipzig 1914, 2. Auflage (Arbeiterbühne. Nummer 31). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.
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gleichsam den Beginn des Weihnachtsfests signalisiert und eine Wohnung in einen Aufführungsort für die cultural performance verwandelt kann, werden bei einer textnahen Aufführung die ritualhaften Strukturen des Fests im Modus der künstlerischen Praxis des darstellenden Spiels sinnlich erfahrbar gemacht und die private weihnachtliche Feier auf der Bühne nachgeahmt. Lucie, die Tochter, kommentiert mögliche Wirkungen des Weihnachtsbaumes: „Nun, was meinst Du, Mutter, steht so der Baum schön? Ich glaube, es müsste vielleicht hier (zeigt auf eine leere Stelle des Baumes) – noch etwas Glasschmuck herkommen. Dann bringe ich die Lichthalter an. Ach und nun freue ich mich schon jetzt auf die glänzenden Augen unserer Kleinen, wenn sie morgen früh erwachen und die vielen brennenden Kerzen und ihre Geschenke sehen! Ach, wird das großartig! – Und unser guter Vater erst! Wird der sich freuen über seine neuen Filzschuhe und über die herrlichen, warmen Strümpfe!“ (Ebd.)
Ähnlich wie in Friede auf Erden währt der familiäre Frieden allerdings nicht lang und wird durch einen Vertreter der protestantischen Kirche gestört. Pfarrer Fromm, der am Ende des Schauspiels mit seiner Familie ebenfalls die Bescherung zelebriert (vgl. ebd., 3. Szene), ist als Feind der Familie und der Arbeiterschaft charakterisiert. Im Kontext eines Arbeiterstreiks hatte er sich beim Chef von Frau Krafts Ehemann gegen dessen Weiterbeschäftigung ausgesprochen. Er ist geradezu als Antipfarrer, als genuin negative Figur entworfen, die sich nicht dem Guten verschrieben hat. Stattdessen beschimpft er Familie Kraft als „Sozialistenbrut“ (ebd.). Frau Kraft wiederum wirft dem Kirchenvertreter bei seinem überraschenden Hausbesuch vor, nichts für die Bildung oder Aufklärung der Armen zu tun, und sie lediglich auf das Jenseits zu vertrösten: „Für uns Armen aber haben Sie keinen anderen Trost, als wie das Jenseits, das Jenseits, das von Ihrer Gesellschaft erdacht wurde; um die Armen hier in Demut, Unterwürfigkeit, Frömmigkeit und Dummheit zu erhalten, damit sie beim Blick nach den angeblichen Segnungen des Himmels nicht sehen sollen, wie ihre Rechte hier auf der Erde mit Füßen getreten werden! So, Herr Pfarrer, das ist meine Meinung, an der Sie nichts ändern können.“ (Ebd., 2. Szene)
Proletarier-Weihnachten schließt gleichwohl mit einem tragischen Ende und demonstriert auf diese Weise, vor dem Hintergrund des Freude und Frieden versprechenden Weihnachtsfests, die Erbärmlichkeit proletarischer Lebensverhältnisse im Deutschen Kaiserreich und die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen: Noch bevor das sorgsam vorbereitete Fest beginnen kann, informiert
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der Arbeiter Träger die Familie Kraft darüber, dass Herr Kraft bei einem Arbeitsunfall zu Tode gekommen sei (vgl. ebd., 4. Szene). Wie in Friede auf Erden wird in Hofmanns Text die private weihnachtliche Feier grundsätzlich als innerfamiliäres Glücksversprechen legitimiert. Sie ist als Familientradition, die von einer Pfarrers- und einer Proletarierfamilie gleichermaßen gepflegt wird, und nicht als Akt tiefer Religiosität definiert. Der Text ruft nicht zu anderen Feierformen auf, wohingegen die scheinheilige Religiosität vieler und die Ungerechtigkeit der Besitzverhältnisse, die sich gerade an Weihnachten manifestieren, angeprangert werden. Der christliche Erlösermythos wird nicht beschworen, vielmehr wird an die Solidarität und den Willen für Engagement der Arbeiter appelliert, die so zu Hoffnungsträgern veränderter sozialer Realitäten werden. Folgerichtig konstatiert Krafts Kollege Otto Türke am Ende „resigniert“ (seine Worte werden konterkariert vom Klang von „O du fröhliche“): „Das sind Proletarierweihnachten! (Aus dem Nebenhause ertönen wieder ganz leise bis zum Ende des Stückes Harmoniumklänge: ‚O du fröhliche‘ usw.) Freund Gräber, Kollege Kraft ist als Opfer der Arbeiterbewegung gefallen, denn hätte er als Ausgesperrter aus Not nicht jenen gefährlichen Posten annehmen müssen, dann lebte er heute noch! Jetzt gilt’s zu zeigen, daß die Arbeiter solidarisch denken, fühlen und handeln. Hier tut Hilfe not! Ehren wir das Andenken unseres verstorbenen Freundes dadurch, daß wir uns nun seiner Hinterbliebenen annehmen!“ (Ebd.)
6.2 E RSTER W ELTKRIEG : „D ER V ÖLKER W EIHNACHTSVOLK “ 33 Das private Fest wird im Deutschen Kaiserreich gleichsam veröffentlicht und von den Herrschenden patriotisch vereinnahmt. Auch während des Krieges versuchen die kaiserliche Familie, Teile des Klerus,34 der Heeresführung sowie Verleger und Künstler, die das Bild von Weihnachten in der Öffentlichkeit prägen, die aus Friedenszeiten allseits bekannte, sentimental weihnachtliche Stimmung an der Front und in der Heimat zu etablieren, aufrechtzuerhalten, im Sinne der Kriegslogik umzudeuten und in die Kriegspropaganda zu integrieren. Man ist bestrebt, auf eine Aufrechterhaltung der in der Bevölkerung vorherrschenden, den Krieg bejahenden Stimmung hinzuwirken, zumal sich die christlich weih-
33 Veerling, Otto: Deutsche Kriegsweihnacht 1916. Weihnachtsgruß für Deutschlands Krieger. Berlin 1915 (Volksschriften zum großen Krieg. Band 96/97), S. 8f. 34 Vgl. Foitzik, Rote Sterne, S. 32.
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nachtliche Friedensbotschaft und Krieg eigentlich diametral zueinander verhalten. Schon im deutsch-französischen Krieg 1870/71 stehen im Kriegswinter in Unterständen, Krankenstationen und Unterkünften auf Befehl der Heerführer Tannenbäume.35 Im Ersten Weltkrieg kommen nun die Tannen erneut als zentrales weihnachtliches Requisit zur Anwendung: Viele deutsche Soldaten erhalten Weihnachten 1914 aus öffentlichen Mitteln gestiftete Geschenksendungen ihrer Heimatgemeinden und Pakete ihrer Familien. Zur Hebung der Stimmung an den Festtagen werden von der Obersten Heeresleitung in der Vorweihnachtswoche außerdem Tausende von Miniaturweihnachtsbäumen, teils mit Kerzen an den Zweigen, bis in die Schützengräben und Unterstände an vorderster Linie geliefert. Abbildung 25: Weihnachten im Schützengraben
Zeitgenössische Fotografie (Erster Weltkrieg) 35 Weber-Kellermann vertritt die These, dass überhaupt erst mithilfe dieser Initiativen der Weihnachtsbaum als zentrales Element der weihnachtlichen Feier in Deutschland etabliert worden sei: Zunehmend stellten Kriegsheimkehrer auch bei sich zu Hause an Weihnachten Bäume auf. Vgl. Weber-Kellermann, Weihnachtsfest, S. 118.
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Möglicherweise trägt dies zu dem Ereignis bei, das als „Weihnachtsfrieden“, „Christmas Truce“, „Weihnachtswaffenstillstand“ oder „Weihnachtswaffenruhe“ in die Geschichte eingegangen ist,36 eine von der Befehlsebene nicht autorisierte Waffenruhe während des Ersten Weltkrieges am 24. Dezember 1914 und an den folgenden Tagen. In vielen Darstellungen dieses Ereignisses, bei dem es vor allem an der flandrischen Front zwischen deutschen und britischen Soldaten, aber auch an der Ostfront zum spontanen Fraternisieren, zum gemeinsamen Singen von Weihnachtsliedern, Austausch von Geschenken sowie Fußballspielen kommt, wird den mit Lichtern geschmückten Tannen ein großer Anteil an diesem Moment der Verbrüderung zugesprochen. Als ein zentrales Requisit des Friedens bringenden Fests mögen sie eine gewisse subversive Kraft entwickelt und die Soldaten den Kampfeswillen für einen Moment vergessen haben lassen. So wäre ein profanes Element des privaten Fests außerhalb des häuslichen und heimischen Kontextes zum temporären Friedensbringer und gleichsam zum Initialzünder für die Verwirklichung des christlichen Grundgedankens des Fests geworden. Mithilfe von Weihnachtsfeiern an der Front,37 weihnachtlichen Kurzbesuchen des Kaisers,38 eigens erstellten Postkarten mit idyllischen Szenen von der Front,39 Zeitschriften, Traktaten und Kriegschroniken für Daheimgebliebene und Soldaten wird während des Krieges deutschtümelnde Weihnachtsstimmung erzeugt und in die allgemeine Kriegspropaganda integriert: „Um den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten, hielt man sowohl an der christlichen Sinndeutung
36 Vgl. Eksteins, Modris: Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg. Reinbek bei Hamburg 1990. / Brown, Malcolm und Shirley Seaton: Christmas Truce. The Western Front December 1914. London 1994. / Weintraub, Stanley: Silent Night. The Story of the World War I Christmas Truce. New York 2001. / Jürgs, Michael: Der kleine Frieden im Großen Krieg: Westfront 1914. Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten. München 2005. / Bunnenberg, Christian: „Dezember 1914: Stille Nacht im Schützengraben. Die Erinnerung an die Weihnachtsfrieden in Flandern“, in: Arand, Tobias (Hg.): Die „Urkatastrophe“ als Erinnerung − Geschichtskultur des Ersten Weltkriegs. Münster 2006, S. 15-60. 37 Vgl. z.B. „Illustrierte Kriegs-Chronik des Daheim 1915“, zitiert nach Schedlich, Hajo und Fred Oberhauser: Lieb Vaterland – magst ruhig sein. München 1962, o.S. 38 Vgl. z.B.: O.A.: „Die Weihnachtsfeier im großen Hauptquartier“, in: Hamburger Kriegsbuch 1914. Band 1, S. 324. 39 Vgl. Foitzik, Rote Sterne, S. 36f.
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als auch an profanen weihnachtlichen Traditionen fest und band beides in die Kriegspropaganda ein.“40 Abbildung 26: Herzliche Weihnachtsgrüße
Postkarten aus dem Ersten Weltkrieg
Veröffentlichungen mit Titeln wie Weihnachtsgruß für Deutschlands Krieger, Eine Weihnachtsgabe für unser Heer oder Volksschriften zum großen Krieg vermitteln in Liedern, Gebeten, Erzählungen, Reflexionen, Predigten, Vorschlägen für die Gestaltung von Messen und Abhandlungen zur Geschichte des Weihnachtsfests Traditionsbewusstsein und Zuversicht. Der Krieg wird als notwendiges Mittel zum Erreichen des Friedens – selbstverständlich im Sinne eines deutschen Sieges – verstanden. Die Kriegsweihnachten des Ersten Weltkrieges werden an die Kriegsweihnacht von 1870 rückgekoppelt. Kontinuität im Festkalender wird folgerichtig auch zu Kriegszeiten gewährleistet. So wird 1914 in dem vom Militärgeistlichen Albrecht Saathoff herausgegebenen Weihnachtsbuch für unser Heer und Volk verkündet: „Kriegsweihnacht 1914! Einst vor 44 Jahren haben unsere Väter Weihnachten im Feindesland erlebt – nun gilt’s wieder, dies Fest des Friedens und der Freude in Kriegszeiten zu feiern!“41 Weihnachten wird in seiner Funktion als Identität stiftendes Fest bekräftigt und als urdeutsches Fest interpretiert, das vor einem angeblich gefühllosen Rest
40 Ebd., S. 40. 41 Vgl. Saathoff, Albrecht (Hg.): Kriegsweihnacht 1914. Ein Weihnachtsbuch für unser Heer und Volk. Göttingen 1914, o.S. (Geleitwort).
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der Welt beschützt werden müsse. Der Kaiser beispielsweise nimmt in einer weihnachtlichen Ansprache an der Front Weihnachten zum Anlass, Hoffnung auf Frieden, einen deutschen Sieg und Gottvertrauen zu vermitteln. Die Beteiligung des Deutschen Kaiserreichs am Krieg wird als Akt purer Verteidigung gewertet: „Gott hat es zugelassen, daß der Feind uns zwang, dieses Fest hier zu feiern; wir sind überrascht worden, und wir wehren uns. Und das gebe Gott, daß aus diesem Friedensfest mit unserem Gott für uns und für unser Land aus schwerem Kampf ein reicher Sieg erstehe.“42
Die Friedensbotschaft des Weihnachtsfests wird von zahlreichen Autoren mit der Begründung, nur ein tapferer Kampf für das Vaterland könne erneuten Frieden schaffen, in einen Aufruf zum Kampf umgedeutet. Aufforderungen an Daheimgebliebene und Kämpfende, sich gemeinsam der Wichtigkeit des Fests zu erinnern und an Front und zu Hause zu feiern, erzeugen in den Traktaten ein Gefühl des Zusammenhaltes und der Gemeinschaft. Weihnachten strahlt gleichsam für alle und erzeugt Gefühle des Glückes in verwundeten Kriegshelden, Kindern, daheim gebliebenen Frauen und Soldaten im Schützengraben. Patriotisch wird Weihnachten als ein Fest in Szene gesetzt, das sogar fern von Zuhause Heimatgefühle erwecken und die Identifikation mit der eigenen Nation verstärken kann. Weihnachten wird dafür genutzt, den familiären und nationalen Zusammenhalt zu stärken und Nationalstolz zu fördern. 1916 appelliert Saathoff an die Soldaten: „Deutsche Weihnacht! – Jedem Einzelnen von uns bedeuten diese zwei Worte eine Welt, die ihm alleine gehört. So mannigfaltig die deutschen Stämme, so mannigfach die deutsche Weihnacht. [...] Aber dennoch, so mannigfaltig die Bilder sein mögen, die aus den Worten ‚deutsche Weihnacht‘ uns emporsteigen – wo immer Deutsche in der Welt leben, wird eines jeden Seele von gleichem Zauber benommen, sowie die Weihnachtsglocken ertönen. Deutsche Weihnacht!“43
42 Zitiert nach: Everling, Otto (Hg): Deutsche Kriegsweihnacht 1915. Weihnachtsgruß für Deutschlands Krieger. Berlin 1915 (Volksschriften zum großen Krieg. Band 63/64), S. 3. 43 Saathoff, Albrecht (Hg.): Kriegsweihnacht 1916. Eine Weihnachtsgabe für unser Heer. Von Pastor Saathoff, Militärgeistlicher in Göttingen. Göttingen 1916, S. 10f.
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Er definiert Weihnachten hier als ein dezidiert deutsches Erbe, das sogar im Krieg seinen Zauber nicht einbüße, Deutschtum repräsentiere und Deutschsein zu etwas Besonderem mache: „Unser Weihnachtsfest, deutsche Weihnacht, deren Zauber, Tiefe und Innigkeit unsere Feinde vielleicht ahnen, aber nicht kennen. Weihnacht – Heimat: wie gehört beides zusammen.“
44
Der vom Evangelischen Bund herausgegebene Weihnachtsgruß für Deutschlands Krieger wiederum inszeniert den Krieg als gottgewollt und Weihnachten als für die deutsche Seele zentrales Fest, führt christliche und deutschtümelnd patriotische Sinndeutungen zusammen: „Kriegsweihnacht! O du zwiespältig Wort [...]. / Ob wir gleich kämpfen und bluten müssen, / und schreitet durch Deutschland das dunkle Weh, / Weihnacht, wir feiern dich tiefer denn je! / Wir wurden ein Brüder- und Schwesternland, / und Liebe steht da, wo Selbstsucht stand. / Unsere Seelen sind weihnachtlich offen; / und alle lieben und glauben und hoffen! / Drum strahle mit deiner seligsten Macht, / du deutsche, heilige Weihenacht! [...] Und die Lieben schmücken im Feindesland / ihr Lichterbäumchen mit zärtlicher Hand;/ kann’s nicht einem Herzen bereitet sein, / trägt es inwendigen Weihnachtsschein / und träumt im nachtversunkenen Raum / seinen heimlichen, hellen Lichtertraum. / Ist wo eines deutschen Helden Grab, / die Sterne strahlen die Weihnacht herab, / und liegt wo einer in Weh und Wunden, / die Weihnacht schenkt ihm leuchtende Stunden. / So feiern wir dich, du strahlendes Fest, / mit deutscher Seele, die vom Licht nicht lässt; / der Völker Weihnachtsvolk sollen wir werden, / die starken Schirmer des: ‚Friede auf Erden!‘ / O strahle mit deiner seligsten Macht! / Segne uns, heilige Weihenacht!“45
6.2.1 Kriegstheater Im Deutschen Kaiserreich überwiegen auch im Bereich des Theaters während des Ersten Weltkrieges zunächst optimistisch patriotische, den Krieg bejahende Tendenzen.46 In Berlin etwa werden eine Vielzahl theatraler Formate und Kon-
44 Ebd. S. 2. 45 Veerling, Deutsche Kriegsweihnacht 1916, S. 8f. 46 Martin Baumeister untersucht in seiner Habilitationsschrift Kriegstheater intensiv die vielfältigen Wege des deutschen Theaters im Ersten Weltkrieg. Er analysiert, wie es sich teilweise entschieden auf die Kriegserlebnisse einstellt und diese durchaus auch
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texte in die Kriegspropaganda einbezogen. Vortragskünstler, Sänger und Ensembles wie das „Deutsche Frauen-Quintett Germania“ nutzen den öffentlichen Raum, professionelle Darsteller und Teams die Theater, um ihrer vaterländischen Pflicht nachzukommen.47 Auch das sogenannte Kulturtheater reagiert zu Beginn des Krieges schnell „mit einer grundlegenden Aktualisierung und Politisierung ihres Betriebs“48 auf die Ausnahmesituation, wie Martin Baumeister in seiner 2005 veröffentlichten Studie zum Theater während des Ersten Weltkrieges konstatiert. „Die ‚Nationalisierung‘ der großen Kulturbühnen läßt sich auf unterschiedlichen Ebenen betrachten: in der Gestaltung des Repertoires, in den Formen der Inszenierung, aber auch – blickt man auf die Seite der Rezipienten – im Verhalten des Publikums.“49 Die vielen Unterhaltungsbühnen Berlins haben ebenfalls zahlreiche Produktionen auf dem Spielplan, die sich mit den aktuellen Geschehnissen auseinandersetzen.50 Allerdings verringert sich bereits nach verhältnismäßig kurzer Zeit die starke Konjunktur aktueller Kriegsstücke und die Vereinnahmung des Theaters für scharfe Kriegspropaganda: In der zweiten Hälfte des Krieges kommt es zu einem Rückgang der Aktualisierungstendenzen auf den Bühnen und einen Rückzug in ferne Idyllen, wie sowohl Baumeister51 als auch Wolfgang Poensgen in seiner Untersuchung Der deutsche Bühnen-Spielplan im Weltkriege darlegen: „Eine geistige und gefühlsmäßige Wandlung ist zweifellos in der Gestaltung der deutschen Spielpläne von 1915 bis 1917 wahrzunehmen, und sie kommt besonders lebhaft in den Meinungsverschiedenheiten der öffentlichen Kritik an den Theaterzuständen zum Ausdruck. Die Bühnenleiter hatten das schwierige Problem der Spielplangestaltung mit Rücksicht auf die kriegerische Zeitstimmung zunächst auf eine bewußt nationale Art und Weise zu lösen versucht. Die bedeutenderen Bühnen vollzogen jedoch schon in den ersten Monaten des Jahres 1915 eine bemerkenswerte Schwenkung, die […] schließlich dazu führte, daß fast sämtliche deutschen Theater ihr ausgesprochen patriotisches Repertoire
zu beeinflussen versucht, wendet sich der Theatermetropole Berlin, dem Theater an der Front und in den eroberten Städten zu. Vgl. Baumeister, Martin: Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914-1918. Essen 2005 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. Band 18). 47 Vgl. ebd., S. 33-42. 48 Ebd., S. 52. 49 Ebd. 50 Vgl. ebd., S. 67ff. 51 Vgl. ebd., S. 40ff.
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aufgaben, um ihren Hauptakzent auf die Einstudierung teils alter, teils neuer, im allgemeinen freundlich-harmloser Stücke zu verlegen.“52
Sentimentale Operetten und Singspiele werden nun favorisiert, die gleichsam beruhigend auf die Zuschauer wirken können, und von Schmerz, Verlust und Mangel zumindest für die Dauer einer Aufführung abzulenken in der Lage sind. Und auch an der Front ist man bemüht, das Bedürfnis nach Unterhaltung und Ablenkung zu befriedigen.53 Hier, in Marineunterhaltungsheimen, Lazaretten, Waldlagern oder in dem neuen Theater in Lille wird Theater gespielt. Soldaten oder Zivilisten treten auf, es gibt sowohl Fronttheater der „kämpfenden Truppen“ als auch „feste Ensembles in der Trägerschaft militärischer Einheiten.“54
6.2.2 Weihnachtliches Kriegstheater an den Theatern Auch an Weihnachten überwiegen in den Kriegsjahren im professionellen Bereich eskapistische Tendenzen und eine Distanzierung vom aktuellen politischen Zeitgeschehen, wenngleich einige neue Stücke mit chauvinistischen und den Krieg verherrlichenden Tendenzen verfasst und manche Weihnachtsmärchen durchaus in den Dienst der Kriegspropaganda gestellt werden. Am 13. Dezember 1914 wird beispielsweise mit Clara Krumbiegels Kriegers Weihnacht am Residenztheater Dresden ein großformatiges, weihnachtlich kriegspropagandistisches Schauspiel uraufgeführt.55 Hauptsächlich spielt man aber Opern, Operetten und Schauspiele, die auch zu anderen Jahreszeiten im Programm sind. Zudem sind eben Märchen, deren Konjunktur während der Kriegsjahre stark zunimmt,56 so-
52 Poensgen, Der deutsche Bühnen-Spielplan, S. 65. 53 Vgl. Baumeister, Kriegstheater, S. 211-290. 54 Ebd., S. 223. 55 Krumbiegel, Clara: Kriegers Weihnacht. Märchen in 5 Akten. Musik von Bruno Brenner. Vgl. Deutscher Bühnenspielplan. 19. Jahrgang (1914/15), S. 23. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 56 „Neben dem ausgesprochenen Kindermärchen, das sich vornehmlich auf die Weihnachts- bzw. Osterzeit beschränkt, gewann das Märchen als Kunstgattung für Erwachsene eine steigende Bedeutung. Ebenso wie die Bezeichnung ‚Spiel‘ das Unverbindliche und Unpolitische des Inhalts und der Form hervorheben sollte, erfüllte das Märchen mit seiner vagen Stimmungswelt das Bedürfnis eines Publikums, das sich bereitwillig in eine romantische Atmosphäre versetzen ließ. So waren im Spieljahr
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wie Krippenspiele,57 die einen Rückzug ins Pseudomittelalterliche, Religiöse und Volkskulturelle ermöglichen, im Dezember besonders beliebt, wie auch Poensgen anmerkt: „So begegnet man auf dem Repertoire dem ‚Gotteskind‘ von Emil Alfred Hermann, dem ‚Deutschen Weihnachtsspiel‘ von O. Falckenberg, dem ‚Oberufer Christigeburtspiel‘, dem ‚Spiel vom Kinde‘ von G. Terramare, Girkons ‚Des ewigen Weihnacht‘ von Paul Alverdes, ‚Advent‘, einem Weihnachtsspiel von Franz Herwig, Max Mells ‚Wiener Krippl‘, und schließlich auch den von E. L. Stahl wiedererweckten mittelalterlichen Spielen.“58
Bei den während des Krieges in der Vorweihnachts- und Weihnachtszeit stattfindenden Uraufführungen bilden Weihnachtsmärchen unzweifelhaft die absolute Mehrheit. Laut Deutschem Bühnenspielplan sind das im Dezember 1915 Titel wie Paul Diedickes Der deutsche Hans und die Heinzelmännchen, Weihnachtsmärchen mit Gesang und Tanz in 10 Bildern, Hermann Pauls Hans Gradedurch. Deutsches Märchenspiel in 5 Bildern, L. Heß’ O du mein Heimatland, Weihnachtmärchen in 6 Bildern, Carl Witts Unsere Blaujacken. Weihnachtsspiel in 7 Bildern, Georg Thies’ Der tapfere Zinnsoldat oder Klein-Hänsels Kriegstraum. Weihnachtsmärchen in 7 Bildern, A. d. Trencs Brüderchen und Schwesterchen auf der Weihnachtsreise. Weihnachtsmärchen mit Gesang und Tanz, Emil Meths Des Kriegswaisen Weihnachtstraum. Märchen in 4 Akten, Leo Melitz’ Kasperles Abenteuer. Märchenspiel in 4 Bildern oder Toni Gottscheids Wie Klein Peterchen auszog und seinen Vater wiederfand. Weihnachtsspiel.59 In den anderen Kriegsjahren finden sich ähnliche Titel auf den Spielplänen. Neben zahlreichen Inszenierungen von Märchen, die schon jahrelang im Repertoire sind, gibt es 1916 beispielsweise in der Weihnachtszeit Uraufführungen von Märchenspielen wie Trude Volkners Max und Lieschens Weihnachtsreise, Carl Witts Im Himmel und auf Erden, Paul Diedickes Das Büblein von Hameln und der Rattenfänger, Ludwig Bergers König Drosselbart, E. Schlaikjers Vom bösen König, der nicht lachen konnte, Gerdt von Bassewitz’ Pips, der Pilz, Alf-
1917/18 beispielsweise von 24 Märchenuraufführungen allein neun für Erwachsene berechnet.“ Poensgen, Der deutsche Bühnen-Spielplan, S. 73. 57 In Zürich wird am 31.5.1916 in der „Meierei“ in der Spiegelgasse ein interessantes DADA-Krippenspiel Hugo Balls uraufgeführt: Ball, Hugo: „Simultan Krippenspiel“, in: Hippen, Reinhard (Hg.): Erklügelte Nervenkultur. Kabarett der Neopathetiker und Dadaisten. Zürich 1991, S. 146-148. 58 Ebd., S. 133. 59 Vgl. Deutscher Bühnenspielplan. 20. Jahrgang (1915/16), S. 35.
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red Auerbachs Die Heinzelmännchen, Gustav Pickerts Was das Christkind brachte, Ludwig Lages Schneeweißchen und Rosenrot, Adalbert Ulricks Die Fahrt ins Schlaraffenland oder Thilo Schmidts General Klein-Heinerle.60 Häufig verweisen die Untertitel darauf, dass die Spiele mit Gesang und Tanz sind. Demzufolge setzen die Theaterleiter sowohl Repertoire-Weihnachtsmärchen als auch neue Weihnachtsmärchen, bei denen es sich um neu erstellte Fassungen bekannter Märchen und um vollständig neu gedichtete Weihnachtsmärchen handelt, auf die weihnachtlichen Spielpläne. Hierbei schrecken sie nicht davor zurück, Weihnachtsmärchen in den Dienst der Kriegspropaganda zu stellen und im Sinne von Vaterlandsliebe und Kriegsverherrlichung zu modifizieren. Im Rahmen einer patriotischen Vereinnahmung werden alte Märchen neu erzählt, so dass sie nicht primär aufgrund ihres unterhaltsamen, sinnlich dekorativen Charakters in einer entbehrungsreichen Zeit Ablenkung mit gleichzeitiger Einstimmung in weihnachtliche Atmosphären und entlegene Phantasiewelten garantieren, sondern mithilfe ihres sinnlich spielerischen Charakters das kindliche Publikum auf Kampf, Krieg und Nationalgeist einstimmen. Heike Curtze beschreibt in ihrer Dissertation die in Anna Ethels Königin Schneewittchen und ihre tapferen Kinder61 integrierten Kriegshandlungen: „Deumbien und Goldland, zwei befreundete friedliebende Reiche, werden von ihren Nachbarländern angegriffen. Von Feinden umzingelt, sendet Königin Schneewittchen Botschaft zu ihren Freunden, den sieben Zwergen, um sie um Hilfe zu bitten, diese eilen in den Kyffhäuser, um Verstärkung zu holen. In einem breit angelegten Bild führen die Kyffhäuserzwerge nun alle Errungenschaften der neuen Kriegstechnik vor. Schließlich steigt Kaiser Barbarossa selbst zur Erde hinauf und entscheidet den Kampf für die verbündeten Reiche Goldland und Deumbien. Die große Schlußapotheose, der ein reich ausstaffiertes ‚Weihnachtsbild‘ vorausgeht, zeigte die Symbolfiguren Austria und Germania, die sich die Hände zum ewigen Bund reichen, während die Fahnen der beiden Reiche entfaltet werden und die Hymne erklingt.“62
60 Vgl. Deutscher Bühnenspielplan. 21. Jahrgang (1916/17), S. 36. 61 Ethel, Anna: Königin Schneewittchen und ihre sieben tapferen Kinder. Darmstadt 1916. 62 Curtze, Heike: Theater für Kinder und Jugendliche in Wien von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Dissertation Universität Wien 1970, S. 34f.
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Neben weiteren neuen, stark patriotisch gefärbten Weihnachtsmärchen wie Oscar Wills Klein-Däumling der tapfere Zinnsoldat,63 Marie Waldecks Struwwelpeter wird Soldat oder Die feldgrauen Buben64 oder Walter Fiers Die schwimmende Insel. Kriegsmärchenspiel in 4 Akten 65 nutzt man demgemäß auch die Inszenierungen bestehender Stücke für eine Bezugnahme auf die aktuelle Situation des Krieges und lädt etwa Tischlein deck Dich oder Schneewittchen ideologisch auf.66 Auf diese Weise werden die Intention „religiös-sittlicher Erziehung“ substituiert durch „militaristische Propaganda“,67 die Erzeugung weihnachtlicher Stimmung vermengt mit dem Versuch einer Indoktrination der Kinder. In Inszenierungen von Stücken Carl August Görners etwa werden insbesondere Szenen, die großen szenischen Aktionen vorbehalten sind, um den Krieg idealisierende Elemente erweitert.68 1915 notiert der Sohn eines Journalisten, der eine Aufführung von Görners Prinzessin Dornröschen im Kölner Schauspielhaus besucht hat: „Es war viel Zauberei im Spiel, und es ist auch viel getanzt worden. Die Schauspieler waren nicht alle große Leute, sondern viele bloß so alt wie ich. Einer war da, der war noch jünger und hatte eine Soldatenuniform an und hat mit einem ganz kleinen Mädchen einen Bauerntanz getanzt, und ich möchte auch mal so tanzen. Einmal wurde eine ganz große Kiste hereingetragen, und da waren alles Soldaten drin, Infanterie und Husaren und Kürassiere und ich glaube auch Dragoner. Die haben exerziert und die Musik hat dabei gespielt: ‚Freu dich Fritzchen, morgen gibt’s Selleriesalat.‘“
69
Auch der 1917 in der Täglichen Rundschau erschienene Artikel Dr. Hanns Hermann Cramers70 zeugt von der Praxis deutscher Bühnen, während der Zeit des Ersten Weltkrieges Kinderweihnachtsmärchen für die Kriegspropaganda zu
63 Will, Oscar: Klein-Däumling der tapfere Zinnsoldat. Kindermärchen in 4 Bildern mit einem Prolog. Nach dem gleichnamigen von Grimm, für die Bühne zeitgemäß bearbeitet und eingerichtet. Breslau 1914. 64 Waldeck, Marie: Struwwelpeter wird Soldat oder Die feldgrauen Buben. Eine Kinderkomödie in fünf Bildern. Frankfurt am Main 1915. 65 Deutscher Bühnenspielplan, 1916/17, S. 36. 66 Vgl. hierzu Jahnke, Von der Komödie, S. 200-207. 67 Ebd., S. 201. 68 Ebd. 69 Kölner Tageblatt, 27.12.1915, zitiert nach Poensgen, Der deutsche Bühnen-Spielplan, S. 73. 70 Vgl. Kapitel 4.5.
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missbrauchen und die im Märchen präsente Welt des Wunderbaren nicht mehr primär als Rückzugsraum und Gegenwelt zur Realität zu funktionalisieren: „Die Ereignisse der letzten Jahre brachten einen neuen Faktor für den Inhalt des Kindermärchens mit sich: Die Darstellung des Krieges. Kann man größere Gegensätze finden als Weihnachtsmärchen und Menschenmord? Ist es nicht Sünde, mit seinen gräßlichen Bildern das Kindergemüt zu belasten? Vielfach wurde auf den Krieg in komischen Szenen hingewiesen. Das ist gewiss nicht geschmackvoller: mit dem Kriege hat das Märchen nichts zu tun. Es soll – das gilt von allen Bühnenstücken – die Herzen der Zuschauer emportragen aus dem Grau des Alltags in reinere Sphären und befreiend und erhebend wirken.“71
6.2.3 Weihnachtliches Kriegstheater außerhalb der Theater Während des Krieges werden zahlreiche weihnachtliche Werke veröffentlicht, die aufgrund ihrer Kürze und fehlenden Originalität eher für Aufführungskontexte fernab der großen Bühnen geeignet erscheinen. 72 Inhaltlich setzen sie sich primär mit einem realistischen Kontext, keinen Märchenwelten auseinander und thematisieren private Festbräuche und Kriegsereignisse. Sie weisen die für aktuelle Kriegsstücke typische Mischung aus plakativem Patriotismus und folkloristisch anmutendem Militarismus auf73 und kombinieren sie mit einer völkisch patriotischen, propagandistischen Vereinnahmung des Weihnachtsfests. Auf kriegskritische Töne im Sinne der christlichen Friedensbotschaft wird vollständig verzichtet. Stattdessen unterfüttert man die Friedensbotschaft mit kriegshetzerischen Parolen und zieht sie zur Legitimation eines unermüdlichen Kampfes heran. In der Reihe Aufführungen für Weihnachten und Neujahr, die seit 1899 existiert, werden während der Kriegsjahre Spiele mit programmatischen Titeln wie Die Heimkehr des Vermißten am Heiligen Abend,74 Weihnachten im Schützen-
71 Cramer, Weihnachtsmärchen, S. 336. 72 Vgl. z.B. Gerbrandt, Marie: Weihnachten daheim. Kriegsschauspiel in 1 Akt. Berlin 1914. 73 Vgl. Baumeister, Kriegstheater. 74 Müller, Pfarrer: Die Heimkehr des Vermißten am heiligen Abend. Patriotisches Weihnachtsbild in 1 Akt. Mühlhausen i. Th. 1916 (Aufführungen für Weihnachten und Neujahr. Nummer 52).
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graben,75 Die Daheimgebliebenen,76 Eine Weihnachts-Überraschung77 oder Deutscher Frauen Kriegs-Weihnacht78 herausgegeben. Im Untertitel sind sie als Genrebilder, Schwänke, Zeitbilder, Stimmungsbilder oder Patriotische Weihnachtsbilder bezeichnet. Auch in der Reihe Frohe Feste. Eine Sammlung von Festspielen für Aufführungen in Jungfrauenvereinen, Klubs u.a. publiziert man Stücke wie das Festspiel Weihnachten in großer Zeit79 oder Die drei Schwestern im Walde.80 Kurze Märchenspiele wie In Knecht Ruprechts Weihnachtsheim81 oder Kriegsadvent bei Frau Holle82 sind ebenfalls dabei. Für den Verlag G. Danner scheint bei der Auswahl der Stücke der Wunsch nach einer leichten Realisierbarkeit und einem hohen Gebrauchswert im Vordergrund gestanden zu haben. Abgesehen davon, dass auf dem Titelblatt stets die Aufführungsdauer des jeweiligen Werkes vermerkt ist (normalerweise weniger als eine Stunde), bietet der Verlag neben dem kostenpflichtigen Aufführungsmaterial sogar einen Kostüm- und Perückenverleih an und macht Vorschläge für ei-
75 Bliß, Paul: Weihnachten im Schützengraben. Genrebild in 1 Akt. Mühlhausen i. Th. 1915 (Aufführungen für Weihnachten und Neujahr. Nummer 51). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 76 Rappard, Eva von: Die Daheimgebliebenen. Weihnachtliches Stimmungsbild aus der großen Zeit des Völkerkrieges 1914. Mühlhausen i. Th. 1914 (Kriegstheater. Nummer 8). 77 Bliß, Paul: Eine Weihnachts-Überraschung. Schwank in 1 Akt. Mühlhausen i. Th. 1915. 78 Ewald, Fritz: Deutscher Frauen Kriegs-Weihnacht. Zeitbild in 1 Akt. Mühlhausen i. Th. 1916 (Aufführungen für Weihnachten und Neujahr. Nummer 53). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 79 Fritzsche, Clara: Weihnachten in großer Zeit. Ein Festspiel. Herausgegeben vom Verband der Evangelischen Jungfrauenvereine Deutschlands. Berlin 1915 (Frohe Feste. Band 9). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 80 Anz, Traute: Die drei Schwestern im Walde. Ein Weihnachtsmärchen nach der gleichnamigen Erzählung von Ottilie Wildermuth. Herausgegeben vom Verband der Evangelischen Jungfrauenvereine Deutschlands. Berlin 1913 (Frohe Feste. Band 5). 81 Cölln, Albert von: In Knecht Ruprechts Weihnachtsheim und anderes für die Weihnachtsfeier. Herausgegeben vom Verband der Evangelischen Jungfrauenvereine Deutschlands. Berlin 1914 (Frohe Feste. Band 8). 82 Gerland, Mathilde: Kriegsadvent bei Frau Holle. Ein Festspiel. Herausgegeben vom Verband der Evangelischen Jungfrauenvereine Deutschlands. Berlin 1917 (Frohe Feste. Band 22). Frau Holle appelliert hier an die Deutschen: „Ihr tapferen Deutschen, o haltet aus! / Es kommt einst der Tag, da kehrt ihr nach Haus!“ (2. Szene)
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ne szenische Umsetzung. Die Stücke umfassen alle eine kleine Zeichnung, auf der die Positionen des Souffleurs, von Requisiten und Möbeln auf der Bühne vermerkt sind. Diese Angaben demonstrieren ebenso wie der Service des Kostüm- und Perückenverleihs und die kleinen Besetzungen der durchaus nicht abendfüllenden Stücke, dass für die Autoren und Herausgeber keine individuelle, künstlerisch kreative Umsetzung Priorität hatte. Leichte Umsetzbarkeit, Darstellbarkeit und ein Höchstmaß an emotionaler Wirkung stehen im Vordergrund. Abbildung 27: Weihnachten im Feindesland
Spielanweisungen, Verlag Mühlhausen (1916) Ein Spiel Max Ressels verspricht etwa, dass die Rollen leicht darzustellen seien und vollen Erfolg garantierten.83 Für die Aufführungen von Fritz Ewalds 1916 veröffentlichtem Deutscher Frauen Kriegs-Weihnacht. Zeitbild in 1 Akt empfiehlt der Verlag G. Danner eine 460 Gramm schwere Perücke mit Scheitel aus Wolle, ein mit Silberfäden durchwirktes Engelskleid aus Tarlatan mit Gürtel für Erwachsene, außerdem einen Lorbeerkranz aus feinem Stofflaub und stark kaschierte, goldbronzierte, hängende oder schwebende Engelsflügel.84 Diese Arti-
83 Ressel, Max: Durch Kriegesleid zur Weihnachtsfreud. Schauspiel in 1 Aufzug. Mühlhausen i. Th. 1918 (Aufführungen für Weihnachten und Neujahr. Nummer 54), o.S. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 84 Ewald, o.S.
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kel seien zu recht günstigen Konditionen beim Verlag zu erwerben, der sie sogar gegen Nachnahme versende.85 Im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters entstehen für unterschiedliche Aufführungskontexte fern der stehenden Theater zahlreiche kleinere Stücke. Sie sind allesamt patriotisch. Klar verfolgen sie das Ziel einer Erziehung der Kinder mithilfe von darstellendem Spiel zu Vaterlandsliebe und Traditionsbewusstsein im Rahmen des weihnachtlichen Fests. In Kinderkriegsmärchenspielen, als Titel wäre hier beispielsweise Wie Hänsel und Gretel ihren Vater im Kriege suchen wollen86 zu nennen, werden Motive der Kriegsrealität mit eben den weihnachtlichen und märchenhaften Elementen, die sich bereits in Weihnachtsmärchen vor dem Krieg bewährt hatten, verknüpft. In anderen Spielen wiederum wird weihnachtliches Kriegsgeschehen zu Heldenepen umgestaltet und somit die Notwendigkeit von Kampf und mutigem Einsatz legitimiert. In der vom Pädagogen und Schriftsteller Paul Matzdorf herausgegebenen,87 mehr als 700 Schulspiele umfassenden Reihe Jugend- und Volksbühne etwa werden Stücke wie Kriegers Weihnacht,88 Kriegs-Weihnacht89 oder Kriegers Weihnachtsgedanken. Ein Christrosenstrauß in ernster Zeit90 publiziert. Danner’s Jugendbühne und die Reihe Kriegstheater veröffentlichen Spiele wie Kriegsweihnachten bei den Zwergen,91 Der Kriegswaisen Weihnacht,92 Des Kriegers Weihnacht93 oder
85 Ebd. 86 Günther, Alice: Wie Hänsel und Gretel ihren Vater im Kriege suchen wollen. Märchenspiel in 1 Akt mit Gesang und Tanz. Mühlhausen i. Th. 1916 (Danner’s Jugendbühne. Nummer 73). 87 Erlach, Thomas: „Das patriotische Festspiel – Schultheater im Dienst der Kriegserziehung“, in: Reiß, Kindertheater, S. 97-116 (S. 99f). 88 Berger, Alfred: Kriegers Weihnacht. Leipzig 1915 (Jugend- und Volksbühne. 260. Heft). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 89 Harless, Hermann: Kriegs-Weihnacht. Ein Jugendspiel. Leipzig 1914 (Jugend- und Volksbühne. 247. Heft). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 90 Döpel, Waldemar und Oskar Großkopf: Kriegers Weihnachtsgedanken. Ein Christrosenstrauß in ernster Zeit. Leipzig 1915 (Jugend- und Volksbühne. 265. Heft). 91 Reinicke, Ludwig: Kriegsweihnachten bei den Zwergen. Märchenspiel mit Gesang und Reigen in 3 Bildern. Mühlhausen i. Th. 1915 (Danner’s Jugendbühne. Nummer 71). 92 Renker, Felix: Der Kriegswaisen Weihnacht. Patriotisches Weihnachtsspiel in 1 Akt. Mühlhausen i. Th. 1918. 93 Hümmer, Friedrich Karl: Des Kriegers Weihnacht. Kleines vaterländisches Spiel für Kinderheime, Volksschulen usw. Bamberg 1914.
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Weihnachten in Kriegszeiten,94 die zum Teil als kleine dramatische Formate sogar auf eine Handlung verzichten. Kriegers Weihnachtsgedanken beispielsweise verbindet kurze szenische Darbietungen mit Liedern und Gedichtrezitationen, die thematisch nur lose zusammenhängen und keine geschlossene Dramaturgie aufweisen. Des verwundeten Kriegers Weihnachtsabend95 von E. Mantel ist eine mit Musik zu begleitende, durch Gesang und lebende Bilder ergänzte Deklamation. Häufig werden sehr genaue Angaben zur Spieldauer und notwendigen Menge an Darstellern sowie zum favorisierten Aufführungskontext vergeben. Es entstehen Spiele für Kinderheime, Volksschulen, evangelische Frauenverbände, Vereine oder den privaten Kreis. Am Ende der Inhaltsangabe eines Spiels von Paul Strauss etwa ist vermerkt, dass es infolge seiner anspruchslosen Bühnenausstattung selbst im kleinsten Kreis aufführbar sei und sich für Weihnachtsfeiern in Vereinen, Schulen und zu Hause eigne.96 Viele Spiele werden also für Kontexte verfasst, in denen der Kreis der Spielenden und der Zuschauer große Übereinstimmungen aufweist und in denen vielleicht gar kein zahlendes, aus einem unbekannten Personenkreis zusammen gesetztes Publikum anwesend ist. Es scheint, als ob hingegen häufig das Gruppenerlebnis und die kollektive Auseinandersetzung mit Themen, die aus der eigenen Lebensrealität bekannt sind, im Vordergrund stehen. Demzufolge manifestiert sich auch im Bereich weihnachtlicher Kriegsstücke der epochentypische Trend einer verstärkten Reaktivierung des Theaterspiels von und für Laien innerhalb der Weihnachtszeit. Dies betrifft zumindest die Produktionsebene. Inwieweit sie zu Kriegszeiten wirklich in einer aktiven künstlerischen Praxis mündet, kann nicht beantwortet werden. Es ist schwer mithilfe der vorhandenen Quellen zu klären, wie sich die Spielpraxis in der Heimat und an der Front in diesem Bereich gestaltete. Man kann aber wohl mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass keine eigene Gruppe von Weihnachtsstücken für ein Theaterspiel an der Front entstand. Entweder griff man auf die zuvor genann-
94 Haag, Paul: Weihnachten in Kriegszeiten. Ein Spiel für die Jugend zur Aufführung in Schule, Verein und Haus. Mühlhausen i. Th. 1914 (Kriegstheater. Nummer 6). 95 Evangelischer Verband zur Pflege der weiblichen Jugend Deutschlands (Hg.): Des verwundeten Kriegers Weihnachtsabend. Deklamation mit Gesang und Musikbegleitung von E. Mantel und andre Weihnachtsgedichte. Mühlhausen i. Th. 1915 (Frohe Feste. Band 13). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 96 Strauss, Paul: Des Kindes Glaube. Weihnachts-Versspiel mit Gesang in 2 Bildern. Mühlhausen i. Th. 1917 (Aufführungen für Weihnachten und Neujahr. Nummer 55), o.S.
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ten Spiele zurück. Oder die von offizieller und privater Seite organisierten Weihnachtsfeiern an der Front nahmen bereits soviel Zeit und Raum ein, besaßen ein solch hohes Maß an Feierlichkeit und lenkten dermaßen stark vom Kriegsgeschehen ab, dass die Beteiligten nicht das Bedürfnis verspürten, den Festcharakter noch zusätzlich durch Theaterspiel zu potenzieren. In den Berichten von Weihnachtsfeiern an der Front, bei denen beispielsweise der Kaiser anwesend war, und in den zuvor erwähnten weihnachtlichen Schriften für Soldaten, die durchaus zahlreiche Vorschläge für die Gestaltung von Weihnachtsfeiern, Gedichte, Lieder, Predigten und Vorträge umfassen, sind nirgendwo Theaterstücke oder kurze Genreszenen enthalten. Inwiefern die zuvor genannten Stücke unter Umständen außerhalb der Heimat aufgeführt wurden, ist nicht zu abschließend zu beantworten. Abbildung 28: Soldaten unterm Weihnachtsbaum
Postkarte (1916)
6.2.4 Funktionsmechanismen weihnachtlicher Kriegsdramatik Weihnachtliche Kriegsdramatik zeugt von der öffentlichen, patriotischen Vereinnahmung des privaten Fests im Deutschen Kaiserreich beziehungsweise trägt aktiv zur Konstruktion Weihnachtens als zentralem deutschem Fest bei. Die bereits beschriebene Integration des Weihnachtsfests in die Kriegspropaganda durch Klerus, Kaiser und Heeresführung lässt sich somit im Bereich der darstel-
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lenden Künste ebenfalls feststellen. An den Stücken manifestiert sich der Versuch einer Indienstnahme des Theaterspiels in und außerhalb der Theater für die Kriegspropaganda und die Verbreitung eines neuen Festverständnisses, das nicht mehr vorrangig die Stärkung der Kernfamilie, sondern die Stärkung der Nation anstrebt. Sie bewegen sich im Beziehungsfeld der Größen Familie, Fest, Volk, Nation und Krieg.97 Ganz unabhängig von inhaltlichen oder formalen Unterschieden bestätigen die Schauspiele Weihnachten und Krieg zugleich, formen und vermitteln kollektive Vorstellungen von beidem. Die weihnachtliche Feier wird dafür instrumentalisiert, durch die Aufrechterhaltung einer allseits bekannten Feierpraxis innergesellschaftliche Homogenität zu gewährleisten, nationalistische Werteloyalitäten zu verlangen, deutsche Identität zu stiften sowie zur Solidarität aufzufordern. Weihnachten wird somit zum Symbol für zu verteidigende, kulturelle Werte. Fest-, Kultur- oder Gesellschaftskritik bleiben ausgeklammert. Stattdessen wird das Fest national kodiert und dient der Konstruktion von Feind- und Freundbildern. Die Artikulation emotionaler Verbundenheit mit der eigenen Nation und die Interpretation des Weihnachtsfests als Ausdruck kultureller Überlegenheit sind häufig an die Abwertung anderer Nationen gekoppelt, denen die Fähigkeit, Weihnachten auf die richtige Weise zu feiern oder Weihnachten überhaupt zu feiern, abgesprochen wird. Die Texte bewegen sich infolgedessen im Spannungsfeld zwischen der Festlegung von Feindbildern und der Erzeugung von Gemeinschaftsgefühl auf Ebene der eigenen Nation,98 wie beispielsweise ein Zitat aus Alfred Bergers 1915 veröffentlichtem Spiel Kriegers Weihnacht verdeutlicht: „Ja, in der Heimat, da feiern sie heute den Geburtstag des Herrn. […] Nun mögen die welschen Fluren mal sehn, wie Deutsche das Geburtsfest des Heilands begehen.“ (Kriegers Weihnacht, S. 11ff) In den Texten wird das Fest also nicht etwa wie noch 1895 bei Richard Lipinski in Friede auf Erden funktionalisiert, um die Kernfamilie zu stärken und die private Sphäre gegen eine als feindlich interpretierte staatliche Gewalt abzugrenzen, oder um wie bei Gustav Hagemann in Weihnachtsabend oder Edelmann und Bürger von 1799 zentrale gesellschaftspolitische Debatten zu führen. Vielmehr verfolgen die Werke ganz entschieden eine andere Form von Mythenbil-
97 Vgl. Baumeister, der sich in seiner Studie u.a. den Veränderungen in den Darstellungsweisen des Beziehungsgeflechts von „Volk, Nation und Krieg“ widmet. Vgl. Baumeister, Kriegstheater, z.B. S. 295. 98 Vgl. Langewiesche, Dieter: „Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: zwischen Partizipation und Aggression“, in: Ders. (Hg.): Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München 2000, S. 35-54.
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dung. Während in den Krippenspielen Otto Falckenbergs oder Rudolf Steiners um die Jahrhundertwende christlich regionales Erbe völkisch vereinnahmt und die künstlerische Praxis der Krippenspiele als Traditionspflege gesamtdeutschen Erbes interpretiert wird, geht es diesen Autoren um eine Indienstnahme der privaten, säkularisierten Feier für die Schaffung eines starken Nationalbewusstseins. Die Feier, die in den Jahrzehnten zuvor primär als private Angelegenheit verstanden wurde und zunehmend der Stärkung der eigenen Familie diente, wird in diesen Schauspielen gezielt zur Stärkung einer Identifikation mit der eigenen Nation genutzt. Dies macht ein Ausschnitt aus B. Larengs Weihnachten in Feindesland: Kriegs-Schauspiel in 4 Akten von 1916 exemplarisch deutlich:99 „Lebrecht: Ohne Sehnsucht nach Heimat und Weihnachtsstimmung wird heute wohl kein deutsches Herz sein. Leister: Wirklich ne chike Chose, um so ne Weihnachtsbescherung. [...] Glitzernder Tannenbaum mit allerlei Zuckerwerk, sinnige Gaben von schönen Händen. [...] Felden: Ja, es ist was Eigenes um die Heimat! Man kann’s nicht erklären, aber man fühlt’s. Eine Zaubereiche mit Laub und Blüten. Wenn der Sturm in der Krone rauscht, tönen in ihren Zweigen die Stimmen von Jahrhunderten. Leister: Das haben Sie hübsch gesagt. Liselotte: Und mir haben Sie aus dem Herzen gesprochen! Könnte ein edles Volk je dulden, daß an seine Zaubereiche frevlerisch die Axt gelegt wird?“ (Weihnachten in Feindesland, I. Akt, 2. Szene)
Interessanterweise stellen es die Figuren in derselben Szene sogar zur Diskussion, ob Weihnachten tatsächlich als eine nationale Feier zu begreifen sei: „Gräfin (gereizt): Bitte, Sie sind ja die Herren hier – aber wenn Sie mich fragen, muß ich Ihnen offen gestehen: ich wünsche kein deutsches Fest in meinem Hause. Langen: Aber, gnädigste Gräfin, es handelt sich doch nicht um eine nationale Feier, sondern um eine ganz harmlose Unterhaltung.“ (Ebd.)
99 Lareng, B.: Weihnachten im Feindesland. Kriegs-Schauspiel in vier Akten. Mühlhausen i. Th. 1916 (Danner’s Mehrakter. Nummer 77). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.
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Abbildung 29: Kriegesleid
Titelblatt, Verlag Mühlhausen (1916)
Die idealisierte Überbewertung der eigenen Nation findet bei der Mehrheit der Spiele auf sprachlicher Ebene in patriotischen oder nationalistisch chauvinistischen Parolen ihren Ausdruck. Sie dient zudem einer Stärkung des Kampfeswillens bei den männlichen Zuschauern und Darstellern. Dramaturgisch wird die Umdeutung des Familienfests in ein Fest der Nation in vielen dramatischen Texten dadurch erzielt, dass die Figuren, die sich zur Feier zusammenfinden, kriegsbedingt aus unterschiedlichen Familien und sozialen Schichten stammen. Soldaten und verwandte oder befreundete Frauen richten gemeinsam Feiern aus. Das Konzept von Familie wird dementsprechend von Blutsverwandten auf Kameraden, Angehörige derselben Nation, Schicksalsgenossen übertragen. So heißt es in Fritz Ewalds Deutscher Frauen Kriegs-Weihnacht: „Denn das gesamte Deutschland ist jetzt eine große Familie.“ (Deutscher Frauen Kriegs-Weihnacht, 4. Szene) Außerdem wird an den verschiedensten Orten die Feier auf dieselbe Art und Weise begangen: In der Heimat wie an der Front, im Feindesland, in der zivilen und in der militärischen Sphäre, im Wohnzimmer und in den Schützengraben beschenkt man sich. Man stellt Tannen auf, gedenkt des deutschen Vater-
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landes, singt gemeinsam, definiert die weihnachtlich besinnliche Stimmung als typisch deutsch und erklärt, dass die Kriegsgegner das Fest niemals mit einer solchen Inbrunst wie die Deutschen begingen. In dem bereits angeführten Spiel Bergers Kriegers Weihnacht begehen zwei Kameraden, ein Freiwilliger und ein Landwehrmann, gemeinsam eine Bescherfeier fern der Heimat. Das Aufrechterhalten zentraler Feierelemente wie des Baumes und des Schenkrituals wird vom dramatischen Text als Möglichkeit inszeniert, Verbundenheit und Nähe zum Herkunftsland und zur eigenen Familie aufzubauen: „Freiwilliger: Komm, laß uns einen Weihnachtsbaum schmücken, und darunter kommt, was die daheim uns schicken. Landwehrmann: Ja, das wollen wir machen! Freiwilliger: Wie wär’s mit dieser Fichte? Landwehrmann: Ich stecke gleich daran all die bunten Lichter. Freiwilliger: Was so Mutterliebe doch nicht alles macht! Sogar an Tüllen hat die Gute gedacht. (Sie schmücken den Baum.) Nun noch ein paar Schokoladenstangen und silberne Fäden drangehangen. Landwehrmann: Und die Kiste, die mir meine Lieben geschickt, wird hier an den Ehrenplatz gerückt. Freiwilliger: O seid bedankt, ihr Lieben zu Hause, die ihr daheim in behüteter Klause, mit Gaben beschenket reich und gern eure Krieger draußen am Tage des Herrn.“ (Kriegers Weihnacht, S. 13)
Dadurch, dass viele dramatische Texte zwar das Bescherritual im altbekannten Format präsentieren, dies jedoch von einem neu zusammengesetzten Personenkreis ausrichten lassen, wird die gemeinschaftsbildende Kraft der Feier vorgeführt und thematisiert. Sie geht über den engen Familienkreis und die eigene Schicht hinaus. Vaterlandsliebe manifestiert sich am Festhalten an einer als genuin deutsch interpretierten Feier. Doch obwohl Weihnachten eher als ein gesamtdeutsch nationales denn als ein Familienfest interpretiert wird, wird gleichzeitig die Stärkung des familiären Zusammenhalts als Kern der deutschen Nation nicht vollkommen außer Acht gelassen. In sämtlichen dramatischen Texten erinnern sich die Figuren immer wieder ihrer Angehörigen und drücken ihr Bedau-
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ern darüber aus, dass nicht alle beieinander sein können. Gleichzeitig bleiben persönliche Beweggründe aber stets im Hintergrund. Zunächst sprechen die Figuren immer im Sinne der Nation. Figuren stellen oftmals eigene Belange hinter die Interessen des Staates. Kriegsheimkehrer wiederum sind keine gebrochenen Figuren, sie strotzen vor Stolz über ihre Taten. Im Sinne eines stereotypen Frauenbilds setzen sich die weiblichen Figuren überwiegend für das Wohl der Familie sowie der Gemeinschaft ein und erziehen die Söhne zu zukünftigen Soldaten. In Hermann Harless’ Jugendspiel Kriegs-Weihnacht ermutigt die Mutter geradezu ihre Kinder zu Kriegsspielen: „Mutter: Nun vertragt euch wieder und spielt schön miteinander! Hans: Ja, Soldaten! Max: (ängstlich): Nein, nicht Soldaten! Da tu’ ich nicht mit! Mutter: Warum denn nicht? Max: (schweigt verlegen) Frieda (lachend): Ja, weißt du, Mutter – wenn Hans Deutscher ist, dann besiegt er den Max natürlich und haut ihn; und wenn er dann manchmal Engländer oder Franzos’ oder Russe ist, dann besiegt er den Max auch. Max: Ja, und das darf doch gar nicht sein! Die Deutschen müssen doch immer siegen. Hans (lebhaft): O nein, das ist nicht wahr. Der Herr Lehrer hat erst neulich gesagt: ‚Ohne Schlappen und Niederlagen kann kein großer Krieg geführt werden.‘“ (Kriegs-Weihnacht, S. 7f)
Alle Spiele reflektieren die Rolle Weihnachtens im Krieg, indem sie zeigen, dass auch zu Kriegszeiten Weihnachten gefeiert werden kann, und dass Krieg dieses Fest nicht ausschließt. So wird im Vorwort zu Pfarrer Müllers Die Heimkehr des Vermißten am heiligen Abend. Patriotisches Weihnachtsbild konstatiert, es gebe „ein Stück wirklichen Lebens aus der großen Zeit des Völkerringes getreulich“100 wieder. Die Schauspiele stehen ein für das Aufrechterhalten von Traditionen. Weihnachten, in der zivilen sowie in der militärischen Sphäre gleicherma-
100 Müller, Die Heimkehr des Vermißten am heiligen Abend, o.S.
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ßen begangen, erscheint als ein aus dem Kriegsalltag beinahe heraus gelöstes Ereignis, das Zeit für Besinnlichkeit und Ruhe gibt und nicht durch Kampfhandlungen unterbrochen wird. Sogar im Krieg büßt dieses Fest seinen Zauber nicht ein. Es gibt Dingen positive Wendungen, spendet Trost und Hoffnung, macht Deutschsein zu etwas Besonderem und stärkt so das Gefühl kultureller Überlegenheit. Dadurch, dass während der Weihnachtsfeiern nie Schreckensnachrichten verbreitet werden, wird Kampf mithilfe von Weihnachten als Moment märchenhaft anmutender, überraschender Wunder positiv umgedeutet. Die dramatischen Texte besitzen hier eine beinahe therapeutische Funktion. Zum Teil dienen sie auch der Vergangenheitsbewältigung. In Max Ressels erst 1918 herausgegebenem Durch Kriegesleid zur Weihnachtsfreud’ kommen nach jahrelanger Zivilgefangenschaft in Russland unverhofft am Weihnachtsfest die Kinder Heinrich und Lieschen nach Hause zurück. In Paul Strauss’ Des Kindes Glaube von 1917, dessen erstes Bild im August 1914 und zweites Bild am Weihnachts-Heiligabend drei Jahre später spielt, kehrt ein tot geglaubter, aber auf wundersame Weise geretteter Vater nach drei Jahren Abwesenheit überraschend heim. Und auch in dem zuvor genannten Stück Pfarrer Müllers Die Heimkehr des Vermißten am heiligen Abend kommt der Sohn eines Bauernehepaares aus französischer Gefangenschaft als Austauschverwundeter zurück in die Heimat. Die Dramen flüchten sich demzufolge nicht in vergangene oder entlegene Welten. Es lässt sich eine Aktualisierung und Politisierung der Schauspiele beobachten, die Bezug auf Geschehnisse des Krieges, auf die Lebensrealitäten der Zuschauer und Darsteller nehmen. Sie schildern allgegenwärtige Ereignisse wie den Verlust von Kindern, das Warten auf Kriegsheimkehrer oder das Ausharren der Soldaten an der Front. Kriegsereignisse werden insofern nur indirekt thematisiert, als die Schauplätze zumeist private Räume in der Heimat oder im Feindesland und Kriegshandlungen nicht Teil der Handlung sind. Die Stücke bringen somit das Fest und nicht den Krieg auf die Bühne. Orte wie Schützengräben werden mithilfe von Schmuck und Bäumen gewissermaßen in private Räume verwandelt. In Paul Bliß’ Weihnachten im Schützengraben etwa wird die Feier aus der zivilen Welt heraus in die Welt des Militärs getragen. Fern der Heimat feiern Soldaten mit kleinen geschmückten Tannenbäumchen Weihnachten und erfreuen sich der Geschenke ihrer Familien. Sie bilden eine Art familienähnliches Bündnis und gedenken ihrer Angehörigen in der Heimat: „Hier [im Schützengraben] findet sich reich und arm, Freund und Feind, jung und alt zusammen, um treu die Macht für das Vaterland zu halten. […] im Dienst der großen Sachen
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finden sich hier die Herzen dieser Menschen bei den Kerzen des Christbaums wieder zusammen und feiern Versöhnung am Weihnachtsheiligabend.“101
In besagtem Spiel Kriegs-Weihnacht von Harless, in dem eine Mutter ihre Kinder zu Kriegsspielen anhält, findet sich eine interessante Zusammenführung eines zentralen weihnachtlichen Elements mit pädagogisch patriotischer Kriegsrhetorik. Laut Verfasser ist das Stück für Kinder von 8 bis 15 Jahren geeignet. Es endet mit der überraschenden Rückkehr eines kriegsverwundeten Vaters an Heiligenabend, der von seiner Schwägerin als Weihnachtsmann verkleidet in das Haus geschmuggelt wird (vgl. Kriegs-Weihnacht, S.11ff). Als er seine Kinder endlich wiedersieht, ermahnt sie der Vater, Freude über deutsche Fortschritte an der Front zu empfinden, stets das Vaterland zu lieben und sich zu engagieren. Der Vater präsentiert sich hier zwar als Familienoberhaupt, wird gleichzeitig aber über das Kostüm mit der weihnachtlichen Bescherfigur in Verbindung gebracht. Jedoch verwöhnt und erfreut er die Kinder nicht mit Geschenken, wird stattdessen gleichsam zum Sprachrohr patriotischer Appelle: „Denket daran, ihr lieben Kinder, / daß ihr in dieser Zeit nicht minder / als die Erwachsenen große Pflichten / habt in Treuen zu verrichten. Ernstes schaffen und Ernstes denken, / ernst sich in ernste Zeiten versenken, / den Menschen helfen und wacker sich halten, / ziemet den Jungen wie den Alten. / Doch ihr sollt euch auch freuen, freuen / Über all das frohe Gedeihen, / draußen im Felde gegen die Feinde, / drinnen im Herzen der Vaterlandsfreunde, / über all’ die zündende Macht, / die in ganz Deutschland ist neu erwacht, / über das Herrliche, das sich regt, / in jedem Herzen Wurzel schlägt. / Und dann sollt ihr auch treulich geloben, / euch, dem Land und dem Vater droben, / daß ihr echte Deutsche wollt sein, / tapfer und gut und treu und rein, / daß man bewundernd auf euch deute: / ‚Sehet, das sind deutsche Leute! / Solche erzeugt das deutsche Land.‘ / Darauf gebt mir jetzt die Hand!“ (Ebd., S. 16)
Selbstverständlich erfasst eine vorrangig auf Textanalyse basierende, verallgemeinernde Darstellung von Stücken unterschiedlicher Autoren und Genres niemals alle Besonderheiten, Funktionen und Wirkungsmechanismen, die sich in vielfältigen Umgebungen entfalten können, zumal die vorgestellten dramatischen Texte für recht unterschiedliche Aufführungskontexte konzipiert sind. Weihnachtliche Kriegsspiele für Kinder rücken pädagogische Ziele in den Vordergrund und lassen Kinder im Spiel gleichsam ihre Rollen innerhalb eines Familienverbunds und des Weihnachtsrituals einüben. Dahingegen akzentuiert die
101 Bliß, Weihnachten im Schützengraben, o.S. (Vorwort).
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vom Evangelischen Verband zur Pflege der weiblichen Jugend herausgegebene Deklamation Des verwundeten Kriegers Weihnachtsabend, für „Aufführungen in Jungfrauenvereinen“102 vorgesehen, die Wichtigkeit einer aufrechten Glaubenspraxis sowie einer intensiv, kollektiv vom ganzen deutschen Volk gelebten Religiosität und betont den tröstlichen, erbaulichen Charakter des Fests. Den Verfasser interessieren ganz offensichtlich vornehmlich glaubenspraktische Wirkungsmechanismen. Das Spiel lässt einen verwundeten Krieger, der nie gebetet hatte, die Kraft des Gebetes und des Glaubens an Gott begreifen und konstatiert in den Schlussversen: „So lang dein Volk sich vor dem Heiland neigt, / So lange es an deiner Krippe steht, / So lange es die Knie beugt im Gebet, / So lang wird Gott auf deiner Seite sein! / Du deutsches Volk, halt aus, sei treu, sei rein, / Nur so kann dir zur Siegesbotschaft werden / Der Himmelsgruß der Weihnacht: ‚Fried auf Erden!‘“ (Des verwundeten Kriegers Weihnachtsabend, S. 8)
6.2.5 Deutscher Frauen Kriegs-Weihnacht Um die Funktionsmechanismen eines konkreten Textes genauer zu untersuchen, wird im Folgenden das 1916 publizierte Deutscher Frauen Kriegs-Weihnacht. Zeitbild in 1 Akt betrachtet, das an der dritten Kriegsweihnacht spielt. Obzwar unter dem Pseudonym Fritz Ewald veröffentlicht, stammt es von der Schriftstellerin Eva von Rappard.103 Dies ist gerade in Hinsicht auf die im Stück skizzierten Frauenbilder interessant. Die Autorin verfolgt keinen feministischen Ansatz. Sie distanziert sich ganz offensichtlich kaum von Geschlechterbildern, die männliche Verfasser in anderen literarischen Texten entwerfen, übernimmt diese vielmehr. In der kurzen, dem Stück vorangestellten Inhaltsangabe ist notiert, dass es „in schlichten Familienbildern das tapfere, stille Heldentum im freudigen Opfern und gegenseitigen Helfen unserer deutschen Frauen“104 zeige. Alle Figuren wür-
102 Evangelischer Verband, Des verwundeten Kriegers, o.S. (Titelblatt). 103 Bei späteren Theaterstücken und Spielen Fritz Ewalds ist zum Teil vermerkt, dass sie eigentlich von Eva von Rappard sind. Vgl. z.B.: Ewald, Fritz (Eva von Rappard): Die Rückkehr ins Heimatdorf. Lustspiel in 1 Aufzug. Mühlhausen i. Th. 1919 (Danner’s Thalia. Nummer 178). 104 Ewald, Deutscher Frauen Kriegs-Weihnacht, o.S. (Inhaltsangabe).
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den „helfen an dem großen Vaterlandswerk“.105 Es sei „weihnachtlich stimmungsvoll und patriotisch geschrieben“ und eigne sich für „Vereine, zu Mütterabenden und Hausaufführungen“.106 Es ist folglich für einen privaten oder halböffentlichen Raum entworfen. Das Zeitbild greift auf altbekannte Muster und Topoi zahlreicher weltlicher Weihnachtsstücke zurück, lädt sie ideologisch jedoch neu auf und funktioniert dramaturgisch über eine klare Zweiteilung. Während in der ersten Hälfte des Stückes sämtliche Figuren mit den Vorbereitungen des Fests beschäftigt sind, findet in der zweiten Hälfte die Bescherfeier tatsächlich statt. Eine Besonderheit des Stückes besteht in der Besetzung. Es ist ausschließlich für Frauen und ein Kind verfasst. Damit reagiert es augenscheinlich auf die kriegsbedingt geringe Zahl an Männern in den angestrebten Aufführungskontexten. Infolgedessen erhöht es den Gebrauchswert und schafft außerdem die Voraussetzungen dafür, eine Handlung zu vermitteln, die mit dem Erfahrungshorizont vieler Frauen in der Heimat zahlreiche Übereinstimmungen aufweist. Dem Stück ist neben einer Inhaltsangabe noch ein „Plan für die Spielleitung“ vorangestellt, in dem neben einer Skizze zur Gestaltung des Bühnenbildes detaillierte Informationen zum Bühnenbild, den Ausstattungsgegenständen, benötigten Requisiten und zur Besetzung vergeben werden. Diese Angaben zeugen vom Wunsch des Verfassers nach einer hochgradig naturalistischen Ausstattung. Auf der Bühne soll ein „schlichtes, trauliches Wohnzimmer“107 abgebildet werden. „Bilder mit Tannenzweigen“ und ein „geschmücktes Tannenbäumchen im Ständer“108 dienen als weihnachtliche Requisiten. Die Angaben, die zentrale inszenatorische Größen wie Bühne, Kostüme sowie Besetzung bereits definieren, können als Hilfestellungen für szenische Umsetzungen des Textes durch Amateure gelesen werden, für die möglicherweise eher die Gemeinschaftserfahrung als ein kreativ künstlerischer Schaffensprozess im Vordergrund steht. Die Handlung des Spiels ist überaus knapp. Bereits die Bezeichnung als Zeitbild weist auf die Statik der Handlung hin. Der Fokus liegt auf Atmosphären sowie bereits zu Beginn etablierten Figurenkonstellationen und nicht auf der Veränderung von Figurenkonstellationen und somit auf Handlung. Aktion ist nur marginal vorhanden, vielmehr stehen moralisierende Sentenzen und agitatorische Parolen im Vordergrund. Ziel des Stückes ist eher eine Mobilisierung, Aktivierung und Unterstützung der weiblichen Darsteller und Zuschauer, die sich in einer Situation des Krieges befinden, als das Vorführen einer Geschichte, die ab-
105 Ebd. 106 Ebd. 107 Ebd., o.S. (Plan für die Spielleitung). 108 Ebd.
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lenkt, die Phantasie anregt und in fremde Welten entführt. Es nimmt Bezug auf allseits bekannte Nöte und Sorgen des Krieges und auf Weihnachten als konkretem Aufführungsanlass. Gezielt werden Ratschläge für den Umgang mit Zwangslagen formuliert und eine mögliche, als ideal inszenierte Gestaltung des Heiligabends vorgeführt. In den ersten Szenen finden sich mehrere Frauen nacheinander im Haushalt der Pastorin Heim ein und berichten von ihren Kümmernissen und Problemen. Frau Felddorf ist voller Sorgen und einsam, da sie schon lange nichts mehr von ihrem Mann an der Front gehört hat. Frau Schöneck hat gerade ihren Mann im Krieg verloren. Frau Mentschikow, eine Deutsch-Russin, hat mit großer Not zu kämpfen, da sie nicht ihr Vaterland verlassen möchte, um zu ihrem Mann in Russland zu stoßen, obwohl sie große Benachteiligungen erfährt. Frau Schwabes Mann ist in englischer Kriegsgefangenschaft, ihre Tochter findet keine Anstellung und die beiden leiden beinahe Hunger. Obwohl die Pastorin ihren Sohn im Krieg verloren hat und ihr Mann verwundet in Russland liegt, spendet sie gemeinsam mit ihrer Tochter Trudi, deren Verlobter ebenfalls im Gefecht ist, allen Frauen Trost und leistet selbstlos enorme Hilfestellungen. Während der Bescherfeier am Heiligen Abend, bei der alle Frauen anwesend sind und trotz des Krieges zusammen feiern, fungiert Trudi als Glücksbotin, als „Vertreter des Weihnachtsmannes“ (Deutscher Frauen Kriegs-Weihnacht, 10. Szene) und Bescherfigur für die Erwachsenen: Alle anwesenden Frauen überrascht sie mit freudigen Neuigkeiten. Dann wird sie selber mit einer überraschenden Nachricht für ihr vorbildliches Verhalten belohnt.
6.2.5.1 Frauenbilder Das Spiel reflektiert immer wieder die Rolle der deutschen Frauen während des Krieges und ist sehr eindeutig in seiner Darstellung von Geschlechterbildern. Bereits in der ersten Szene, die als ein typisches weihnachtliches Genrebild konzipiert ist, wird Frau Heim als häusliche, starke, aber mitfühlende Frau ins Zentrum gestellt. Sorgsam schmückt sie den Weihnachtsbaum. Sie weint, bringt ihre Gefühle aber sofort wieder unter Kontrolle und formuliert dann sehr explizit ihr Verständnis von angemessenem Verhalten zu Kriegszeiten: „Wie sagt unser herrlicher Kaiser: ‚Stark sein im Schmerz‘. [...] Eine große Zeit kann nur große, starke Menschen gebrauchen.“ (Ebd., 1. Szene) Trotz enttäuschter Zukunftshoffnungen und stetig präsentem Schmerz durch Verluste und zerstörte Zukunftspläne, den die Frauen (in denen sich das Leiden des Heimatlandes zu Kriegszeiten gleichsam manifestiert) durchaus artikulieren, betonen sie ihr Wissen um die Relevanz ihrer Opfer für ein zukünftiges Wohl des Landes. Tugenden wie Nächs-
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tenliebe, Familiensinn und Selbstlosigkeit werden bekräftigt. So überrascht es auch nicht, dass Trudi, die über das ganze Stück hinweg unermüdlich das Prinzip der christlichen Nächstenliebe und das im Schauspiel formulierte Ideal der deutschen Frau als selbstlosen, starken Helferin in der Not repräsentiert, am Ende für ihre Taten belohnt und als zukünftige Pastorengattin etabliert wird. Indem sich als gut charakterisiertes Verhalten sofort auszahlt, verfährt das Zeitbild überaus moraldidaktisch. Unverschuldet erlittenes Leiden oder andere tragische Verwicklungen bleiben als dramaturgische Mittel aus dem Stück ausgeklammert. Die Frauen heißen die von Männern initiierte Politik gut, unterstützen sie ohne Zögern, ordnen sich ihr unter und stellen sich in ihren Dienst: „O Deutschland, Deutschland, Deine Frauen gaben dir viel! Aber sie gaben es, zwar mit zuckendem, aber segnendem Herzen!“ (Ebd., 5. Szene) Weibliches Heldentum erfüllt sich nicht durch politische Teilhabe, sondern im Bereich des Privaten und Sozialen. Die Frauen werden über ihre Kommentare und über ihr soziales Engagement als emotionale, fürsorgliche, empfindsame, domestizierte Figuren charakterisiert, die Heimat repräsentieren, sich aufopferungsvoll um ihre Kinder, Freunde, Verwandten, Nachbarn und Verwundete kümmern, sich in „Selbstzucht“ (ebd., 6. Szene) üben und so das Land im Innern zusammenhalten: „Und nur ein fester Halt im Innern gibt die Stütze für den festen Halt nach außen.“ (Ebd., 3. Szene) Im Zeichen nationaler Verbundenheit üben sie Selbsthilfe und Wohltätigkeit aus. Die mütterliche Fürsorge dehnt sich auch auf fremde junge Männer aus, die als Angehörige derselben Nation gleichsam zu eigenen Söhnen werden: „Aber sie kommen den anderen braven Jungen, die für unser Vaterland gekämpft haben, zugute – ich weiß, unser Max würde glücklich sein, wenn er wüßte, daß mit seinen Sachen seinen verwundeten Kameraden eine Weihnachtsfreude bereitet wird.“ (Ebd.)
Persönlicher, privater Schmerz wird immer wieder relativiert, Verlust in Beziehung zu nationalen Zielen gesetzt: „Wir dürfen wohl trauern im Innern, aber klaglos wollen wir jedes Opfer bringen, es ist ja für unser geliebtes Vaterland. Jedes Opfer ist ein Stein zu seinem hehren Ruhmesbau.“ (Ebd., 5. Szene) Gegenseitig überbieten sich die Frauen in patriotischen Parolen und bekräftigen immer wieder ihren ungebrochenen Glauben an Gott, den Kaiser und die Nation; „unser Herrgott verlässt keinen Deutschen.“ (Ebd., 6. Szene) Und so positioniert sich auch die Deutschrussin Frau Mentschikow klar, wenn sie erklärt, lieber im Deutschen Kaiserreich in Armut als in Russland in Wohlstand leben zu wollen und ausruft: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“ (Ebd., 7. Szene) Vorbehaltlos werden die Kinder zu zukünftigem Helden- und
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Soldatentum sowie einer Identifikation mit der eigenen Nation erzogen. In diesem Sinne verspricht Trudi Hans, an Heiligabend das „herrliche“ Spiel zu spielen, bei dem eine Festung gebaut wird, aus der „alle Engländer, Franzosen und Russen so doll [beschossen werden], bis sie um Gnade flehen.“ (Ebd., 10. Szene)
6.2.5.2 Die Weihnachtsfeier Die letzte Szene verknüpft die häusliche Bescherfeier, Krieg und weibliche Vaterlandsliebe nochmals miteinander und bekräftigt alles. Das Zeitbild demonstriert, wie auch zu Krisenzeiten Weihnachten eine Insel der Freude, der Ruhe, Stärkung und Vergemeinschaftung im Sinne des Dienstes an der Nation sein kann: „O deutsche Weihnacht, welch’ ein Segen ruht auf dir und deinen Frauen!“ (Ebd.) Die Frauen sind durch die in der Figurencharakterisierung herausgearbeitete Unschuld, Tatkraft und Liebenswürdigkeit „als Allegorie der wehrhaften starken Nation“109 symbolisch überhöht. Sie werden auf diese Weise zum „dem Krieg entgegenstehenden Sinn von Heilung, Wiedergutmachung und Frieden“110 und verkörpern desgleichen „das Motiv des Kampfes: die bedrohte Heimat und Nation, die es zu schützen“111 gilt. In diesem Sinne definiert Frau Heim während der Feier abermals das erstrebenswerte Verhalten deutscher Frauen zu einer Zeit, in der die Männer beinahe aus dem Alltagsleben verschwunden sind. Dies fungiert im inneren Kommunikationssystem als Orientierungshilfe für die Figuren und im äußeren Kommunikationssystem für mögliche Rezipienten. „Wir Frauen haben uns ja auch zum Glück auf dem Posten der Männer bewährt, und seinen Platz voll auszufüllen, das ist ja jetzt unser aller größtes, notwendiges Streben. Die Ordnung im Innern tadellos erhalten – helfen, wo es nur geht – nicht klagen im Großen – nicht murren im Kleinen, das ist die augenblickliche Aufgabe der deutschen Frauen.“ (Ebd.)
Ohne Vorbehalte, über gemeinsame Vaterlandsliebe und kollektiv zelebriertes Leiden vereint, verbünden sich die weiblichen Figuren im Stück und begehen gemeinsam in einem privaten Raum, im Wohnzimmer Frau Heims, das Fest. Die Nichtanwesenheit der Männer scheint keine Schwierigkeit für die Ausführung der Feier darzustellen. Dank der Geschenke stellen sich schnell großer Übermut und gute Laune ein. Nun feiern die Freundinnen im geschützten Wohnraum das
109 Baumeister, Kriegstheater, S. 85. 110 Ebd. 111 Ebd.
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Bescherfest. Ein fremdes Außen bleibt ausgeblendet, nachdem in den vorherigen Szenen die Öffentlichkeit nur indirekt miteinbezogen worden ist: In der 6. Szene berichtet Frau Schwabe von schreienden Frauen auf der Straße, die nach Butter, Zucker und Fleisch verlangen, da ihre Lebensmittelmarken nicht ausreichen. Im Rahmen von Solidaritätsbekundungen haben die Frauen Fremde mit Gaben versorgt. Bei dieser Feier fokussiert sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf die anderen Festteilnehmer. Die Freundinnen werden als Schicksalsgemeinschaft gleichsam in eine Familie transformiert. Auch wenn Frau Schöneck anfänglich betont, dass die Feier für das Kind Hans stattfinde und tatsächlich dann auch mit seiner Beschenkung beginnt, verschiebt sich im Folgenden der Fokus auf die Erwachsenen als Hauptakteure des Bescherfests. Sie werden alle reich bedacht, erhalten aber freilich Geschenke, die nicht aufgrund ihres hohen materiellen, sondern aufgrund ihres hohen emotionalen und ideellen Wertes beglücken. Frohe Nachrichten sind als Geschenke deklariert. Materielles hat in der Ausnahmesituation des Krieges sozusagen ausgedient. Frau Felddorf erhält einen Brief von ihrem Mann, Trudi die Information, dass ihr Verlobter heimkehren wird. Frau Mentschikow wird mit der Aussicht auf eine Anstellung belohnt. Frau Schöneck ist selig über die Möglichkeit, die drei Kinder Frau Mentschikows betreuen zu können. Die Frauen werden solchermaßen am Ende der Handlung alle für ihr tapferes und vorbildliches Verhalten prämiert.
6.2.5.3 Ein Zeitbild Eva von Rappards weihnachtliches Kriegsschauspiel thematisiert folglich den Zusammenhang Weihnachtens und der Schrecken des Ersten Weltkrieges. Vorbereitungen des Fests und eine Bescherfeier sind in das Stück integriert und sollen auf die Bühne gebracht werden. Trotz des allgegenwärtigen Entsetzens über die Realitäten des Krieges realisieren die Frauen auf Stückebene ein Fest voller Glücksmomente. Dies gelingt ihnen aufgrund eines unerschütterlichen Glaubens an Gott und an die Kraft der eigenen Nation. Solchermaßen patriotisch vereinnahmt, wird zwar Heiligabend in seiner Privatheit gezeigt, Weihnachten aber dennoch in seiner Funktion gleichsam veröffentlicht und in den Dienst aller und somit des Landes gestellt. Das Zeitbild hält an der christlichen Sinndeutung des Fests sowie an profanen weihnachtlichen Traditionen fest und bindet beides in die Kriegspropaganda ein. Es endet, nachdem alle für den Kaiser das Lied „Vater, kröne du mit Segen“ (ebd., 10. Szene) angestimmt haben, laut Regieanweisung mit dem Auftritt eines Engels, der mit „Friede auf Erden“ (ebd.) die zentrale christliche Weihnachtsbotschaft formuliert. Diese kann indes durch den zuvor erfolgten Treueschwur für Kaiser und Vaterland gleichsam als Legitimation für
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eine Fortführung der Kampfhandlungen gedeutet werden: „Während des Singens teilt sich der hintere Vorhang, und im Lorbeergrün steht ein Weihnachtsengel, in einer Hand ein Tannenbäumchen, in der anderen ein Transparent ‚Friede auf Erden‘.“ (Ebd.) In dieser letzten Szene des Spiels, das auf Lebensrealitäten zu Zeiten des Krieges reagiert, zur Identifikation anregt, Handlungsanweisungen vergibt und eine Art praktischen Mehrwert im Sinne des Systems hat, wird das Weihnachtsfest ausdrücklich dafür verwendet, eigene kulturelle Überlegenheit zu behaupten. Bei Zuschauern kann dadurch der Stolz auf dieses zentrale deutsche Fest, das im ganzen Land ähnliche Emotionen hervorrufen und somit einigende Wirkung haben soll, gestärkt werden. Sie können sich dazu aufgerufen fühlen, es zu bewahren. Die Darstellerinnen und ein weibliches Publikum können von der Schriftstellerin Eva von Rappard entworfene Rollen- und Geschlechterbilder spielend erfahren, neu erproben und dementsprechend bekräftigen. Diese entsprechen beinahe durchweg den seit dem 18. Jahrhundert medial und gesellschaftlich dominierenden bürgerlichen Entwürfen einer häuslichen Frau, die sich auf Haushalt und Familie konzentriert, keine nennenswerte Teilhabe am öffentlichen Leben hat und stattdessen ihre Kräfte auf den Zusammenhalt im Inneren fokussiert. Männliche Zuschauer sehen die herrschenden Rollenaufteilungen und Beziehungen der Geschlechter zueinander mit diesem Spiel bestätigt. Außer im Fall einer ideologiekritischen Rezeption des Stückes befürwortet dieses also innergesellschaftliche und innerfamiliäre Funktionsmechanismen und macht sie auf die Situation des Krieges anwendbar. Versteht man Feste als aus dem Alltag herausragende Ereignisse, die in besonderer Weise die Merkmale und das Selbstverständnis von Kulturen prägen und gewissermaßen den Bestand einer Kultur sichern, Katalysatoren und Indikatoren spezifischer Kulturen sind und versteht man Theaterstücke wiederum als Medium, das in besonderer Weise geeignet zu sein scheint, diese Funktionen von Festen praktizierbar zu machen, konstruiert und vergegenwärtigt Fritz Ewalds Stück die Bedeutung Weihnachtens und die dazugehörigen geschlechtsspezifischen Rollenbilder während des ersten Weltkrieges im Modus der künstlerischen Vorführung und macht sie mithin praktizierbar: „Frau Schwabe: Es ist trotz allem Kriegsbraus doch ein friedlich gesegneter Weihnachtsabend gewesen. Trudi: Eine unvergeßliche Kriegs-Weihnacht!
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Frau Heim: Und was uns die Weihnachtsglocken, die Weihnachtslichte und Weihnachtssterne verkünden, das gilt für uns alle im weiten, großen Vaterland. Die gesegneten Stunden der Erbauung und Erinnerung – die Freuden, die wir geben, – die Hoffnungen, die unser Herz erfüllen, sie hegen wir alle gleich – und wir alle sind dazu berufen, Liebe zu spenden, soweit wir es irgend vermögen – zu wirken, solange es Tag ist, soviel in unsern Kräften steht – und voll Zuversicht der großen, erwartungsvollen Hoffnung zu leben für Deutschlands Größe, Deutschlands unerreichbares Heldentum. Und wenn wir Frauen auch draußen nicht haben helfen könne, so wollen wir im Lande so kämpfen als stille Mithelden, daß wir einst sagen können, wir haben uns unser Väter und Söhne würdig gezeigt. Maria: Und wie leicht wird es uns gemacht, bei solchem Vaterlande, solchem Kaiser! […] Frau Heim: Wo auf dem Erdenrund nur Deutsche wohnen – wo der deutsche Lichterbaum steht – grüßen ihn mit heißen Wünschen die Herzen seines Volkes. Frau Felddorf: Alle haben wir heut wohl schon unzählige Male seiner gedacht, an diesem dritten Kriegsweihnachten.“ (Ebd.)
7. Weihnachtstheater in der Weimarer Republik
Die zunehmende Ausdifferenzierung der weihnachtlichen Festkultur in der Weimarer Republik und die Instrumentalisierung des Fests durch verschiedene Interessensgruppen finden auch in der Entwicklung des weihnachtlichen Theaters in dieser Zeit ihren Ausdruck, die sich als Radikalisierung, Ideologisierung, Ausdifferenzierung und Spezialisierung fassen lässt. Während sich die private weihnachtliche Festgestaltung trotz allem als verhältnismäßig konstant erweist, die meisten Familien Weihnachten weiterhin als Bescher- und Kinderfest begehen, werden zahlreiche Versuche unternommen, die öffentliche und halböffentliche Festkultur um neue Feierelemente zu erweitern, ein kritisches Bewusstsein in der Öffentlichkeit für das Fest zu generieren oder es politisch sowie ideologisch zu vereinnahmen. Die Instrumentalisierung des Fests ist „eng mit der Entwicklung der politischen Parteien, Jugendbünde und politischen Sekten des linken und rechten Spektrums verknüpft.“1 Die linken Gruppierungen üben sich in ihren Publikationen und bei Feiern eher in „radikaler Sozial- und Kapitalismuskritik, verbunden mit einer nüchternen Absage an bürgerliche Weihnachtsromantik“.2 Sie versuchen die Bevölkerung für soziale Not zu sensibilisieren, wohingegen am rechten Spektrum „eine mystische Beschwörung der ‚deutschen Weihnacht‘ und ihrer vermeintlich germanischen Wurzeln, verbunden mit völkischen Parolen“3 dominiert. Das Weihnachtsfest wird als genuin deutsches, der deutschen Volksseele besonders nahes Fest inszeniert. 4 Paradoxerweise ähneln sich die Ansätze einer Umgestaltung des Weihnachtsfests jedoch in manchen 1
Foitzik, Rote Sterne, S. 46.
2
Ebd.
3
Ebd.
4
Vgl. etwa Diehl, Guida (Hg.): Deutsche Weihnacht in Not und Kampf. Eine weihnachtliche Stärkung für alle, die um ihr Vaterland leiden und kämpfen. Eisenach 1931.
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Punkten. „Um sich von christlichen Vorstellungen“5 distanzieren zu können, berufen sich etwa sowohl die SPD und KPD als auch die NSDAP auf die germanische Mythologie, beide Richtungen begehen (Winter-)Sonnenwendfeiern.6 Insbesondere die KPD und NSDAP rekurrieren auf die vermeintlich germanischvorchristliche Entstehungsgeschichte Weihnachtens, suchen nach neuen weihnachtlichen Symbolen, instrumentalisieren weihnachtliche Lieder und Gedichte für ihre Sache, deuten kämpferisch die christliche Weihnachtsbotschaft und widmen sich der Konstruktion eines „eigenen weihnachtlichen Erlösermythos.“7 Auch völkisch-national gesinnte Jugendbünde beteiligen sich an der „Verbreitung des pseudogermanischen Weihnachtskultes“.8 Sie setzen sich beispielsweise für eine stärkere Etablierung des nordeuropäischen Julfests ein, das als angeblich urgermanisches, erst später durch das christliche Weihnachtsfest ersetztes Fest inszeniert wird, obgleich dies nicht der historischen Entwicklung entspricht.9 Sowohl den Publikationen und Zeitschriften, die in der Weimarer Republik herausgegeben werden, als auch den Quellen zu Weihnachtsfeiern und Aktionen der verschiedenen Verbände,10 Parteien und Vereine kann eine eigentümliche Verbrämung verschiedener Einflüsse diagnostiziert werden. Germanenschwärmerei, kapitalismus- und weihnachtskritische Töne mischen sich mit christlichen Elementen. Die vielgestaltigen Versuche einer Umgestaltung der Feierkultur betreffen vorrangig nicht die familiäre Sphäre. Soweit die notwendigen finanziellen Ressourcen vorhanden sind, hält ein Großteil der Familien an der bewährten Festkultur fest. Dahingegen organisiert beispielsweise die KPD Hungermärsche und Protestdemonstrationen in Großstädten. Wohlfahrtsämter initiieren Bescher-
5
Foitzik, Rote Sterne, S. 46.
6
Zu Sonnenwendfeiern der Arbeiterbewegung vgl. Warstat, Theatrale Gemeinschaften, S. 50.
7
„Zur Parallelität des nationalsozialistischen und kommunistischen Weihnachtskultes“
8
Ebd., S. 49.
9
Daxelmüller, Christoph: „Julfest. Ein trauriges Kapitel deutschen Wesens“, in: Ders.
vgl. Foitzik, Rote Sterne, S. 83ff.
(Hg.): Weihnachten in Deutschland – Spiegel eines Festes. Führer zur Ausstellung im Diözesanmuseum Obermünster, Regensburg, 28. November bis 10. Januar 1993. München / Zürich, S. 23-28 (S. 24). 10 Vgl. zur Arbeiterbewegung zum Beispiel Stachow, Helga: „Festtag! Kampftag! Feste der sozialistischen Arbeiterbewegung“, in: Projektgruppe Arbeiterkultur Hamburg (Hg.): Vorwärts – und nicht vergessen. Arbeiterkultur in Hamburg um 1930. Berlin 1982. / Winkler, Heinrich August: Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930. Berlin / Bonn 1985.
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feiern für „Bedürftige, in Gefängnissen, Kinderheimen und Obdachlosenasylen.“11 Die SPD engagiert sich für „Bescherungen für Kinder arbeitsloser Genossen.“12 Die NSDAP wiederum konzentriert sich auf die Organisation von Sonnenwendfeiern.13 Parteifeiern sowie die weihnachtliche Feiergestaltung in den Familien rücken erst nach 1933 in den Fokus der Parteiführung. Abbildung 30: Kurz nach der Machtergreifung
Arbeiter-Illustrierte Zeitung (AIZ), Nr. 50 (21.12.1933)
11 Foitzik, Rote Sterne, S. 60. 12 Ebd. 13 Vgl. z.B. Woweries, Franz Hermann: Nationalsozialistische Feierstunden. Mühlhausen 1932.
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Im Bereich weihnachtlichen Theaters kommt es in der Weimarer Republik zu einer Vervielfachung des Angebots. Die weihnachtliche Spielplangestaltung der stehenden Bühnen ist weiterhin konstant, es lassen sich keine neuen, relevanten Entwicklungen ausmachen. Neben einer vielfältigen Mischung an Repertoirestücken (Opern, Operetten sowie Schauspielen) werden im Dezember nach wie vor überwiegend spektakuläre, unterhaltsame, aufwendig ausgestattete Weihnachtsmärchen gegeben. Normalerweise bleiben die Theater nur am 24. geschlossen. Entsprechend dem Verlust einer Illusion von Bürgerlichkeit, der diese Epoche kennzeichnet, stehen Werke, die sich gezielt mit dem häuslichen Fest und dem privaten theatralen Festvollzug auseinandersetzen, nun gar nicht mehr auf dem Programm. Eskapistische Tendenzen herrschen vor, und so spielt man sowohl Stücke Görners als auch neue Weihnachtsmärchen, die sich der bewährten Zutaten bedienen. In der Vorweihnachtszeit 1920 beispielsweise werden unter anderem Die sieben Raben. Weihnachtsmärchenspiel in 7 Bildern von Georg Kieran, Maxels Weihnachtsreise. Weihnachtsmärchen in 6 Bildern von Gretl Günther und Der kleine Muck. Weihnachtsmärchen mit Vorspiel und 6 Bildern von Erika Gruppe-Lörcher uraufgeführt.14 Außerdem sind zahlreiche Werke Görners und Titel wie Martha Lehmanns Der Traum vom Schlaraffenland. Weihnachtsmärchen in 6 Bildern, G. Marions Der Brief an das Christkind. Weihnachtsmärchen mit Musik von Hösel oder Berta Simonis’ Rumpelstilzchen im Programm.15 Auch Peterchens Mondfahrt bleibt ein Publikumserfolg. In den folgenden Jahren erhöht sich die Anzahl an WeihnachtsmärchenUraufführungen in der Vorweihnachtszeit sogar. 1925 bringt man unter anderem Die Weihnachtsglocke. Märchen von Kurt Haxl, Rumpelstilzchen. Märchen von Hans Peter Schmiedel. Musik von Georg Kirssig, Das dumme Englein. Märchen in 5 Bildern. Von Vicki Baum. Musik von E. Riede sowie Frau Holle. Märchen in 5 Bildern von Hanna Scholtz. Musik von Erich Schneider erstmalig auf die Bühne.16 Und auch 1932 werden neben Märchen Görners zahlreiche Uraufführungen und Wiederaufnahmen von Weihnachtsmärchen auf den Spielplan gesetzt. 17 Zudem kommen Neubearbeitungen von Görners Märchen heraus. 1932 hat etwa
14 Deutscher Bühnenspielplan. 25. Jahrgang (1920/21), S. 277. 15 Ebd., S. 277ff. 16 Deutscher Bühnenspielplan. 30. Jahrgang (1925/26), S. 53. 17 Deutscher Bühnenspielplan. 37. Jahrgang (1932/33), S. 45ff.
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Schneewittchen. Märchen nach Görner für die Bühne frei bearbeitet von Adolph Meurer. Musik von Georg Lippert Premiere.18 Literarisierte, ursprünglich volkstümliche Weihnachtsspiele oder Stücke, die sich explizit mit dem christlichen Gehalt des Fests beschäftigen, gibt es derweil nur selten an den großen städtischen Bühnen zu sehen. Das etwa am 14.12.1925 am Stuttgarter Landestheater aufgeführte Mysterium von der Geburt des Herrn in 4 Begebenheiten nach Spielen des Mittelalters, „von Hans Thörner eingerichtet“19 und mit Musik von Wilhelm Kempff, oder das 1932 in Chemnitz aufgeführte Christgeburt. Kammerspiel nach einem Text aus Oberufer mit Musik nach alten Liedern zum Darstellen, Singen und Tanzen Ludwig Webers20 bilden hier eher Ausnahmen. Abbildung 31: Literatur und Kunst
Kladderadatsch (Dezember 1925) 18 Vgl. ebd., S. 49. 19 Deutscher Bühnenspielplan, 1925/26, S. 53. 20 Deutscher Bühnenspielplan, 1932/33, S. 49
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Heutigen Spielplänen entsprechend, erfreut sich Hänsel und Gretel schon in der Weimarer Republik im Dezember einer großen Beliebtheit. Die Oper gilt zunehmend als Weihnachtsoper schlechthin, wenngleich sich ihre Handlung nicht explizit auf Weihnachten bezieht. Die Zauberflöte ist im Gegensatz zu heute nur gelegentlich im Dezember auf den Spielplänen zu finden.21 Opern oder Musiktheaterwerke, die dezidiert für einen weihnachtlichen Aufführungskontext komponiert sind, kommen nur selten auf die Bühne. Zu nennen wäre hier etwa Walter Braunfels’ (1882-1954) Der gläserne Berg22 oder die zweite Fassung von Hans Pfitzners (1869-1949) Das Christelflein23 von 1917. Mit dieser Fassung distanziert sich der Komponist von seiner ersten, 1906 zu einem Libretto Ilse von Stachs komponierten dreiaktigen Fassung, in der Tanz, Gesang und Prosadialoge zusammenwirken und Melodramen überwiegen. In der nunmehr zweiaktigen großen Spieloper mit gesprochenen Dialogen, uraufgeführt im Dezember 1917 an der Dresdner Hofoper und in den folgenden Jahren regelmäßig auf die Bühne gebracht,24 ist der Schluss signifikant verändert. Das todkranke Trautchen wird gerettet, indem die Hauptfigur, das Elflein, anstelle von Trautchens Seele mit dem Christkind in den Himmel kommt. Zur Tröstung des
21 Vgl. Deutscher Bühnenspielplan, Jg. 23-38. 22 Braunfels, Walter: Der gläserne Berg. Ein deutsches Weihnachtsmärchen. Dichtung von Josefa Elstner-Oertel. Klavierauszug und Textbuch. Köln 1928. 23 Pfitzner, Hans: Das Christelflein. Spieloper in 2 Akten op. 20. Nach der OriginalDichtung von Ilse von Stach umgedichtet von Hans Pfitzner. Vollständiger Klavierauszug mit Text. Berlin 1918. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 24 Vgl. Vogel, Johannes Peter: Pfitzner. Leben, Werke, Dokumente. Zürich / Mainz 1999. Der Lehrer Otto Kalk, Anhänger der Kunsterziehungsbewegung, notiert nach einer Vorstellung von Pfitzners Christelflein in der Berliner Staatsoper: „Die Wirkung auf die Kinder war außerordentlich. Es war überwältigend zu beobachten, wie die Tausende von Kindern dem Gesang und Spiel auf der Bühne mit glänzenden Augen und offenem Mund folgten. Dabei herrschte atemlose Stille, bis am Schluss jedes Bildes die kleinen Hände sich impulsiv im herzlichen Jubel regten. In den Pausen, beim Hinausgehen, stets und überall zeigten die Kinder ein gesittetes Betragen. Auch bemerkten wir beim Verlassen des Hauses kein umherliegendes Papier, keine achtlos weggeworfenen Obstreste. Auf unsere Anfrage beim Hausinspektor teilte dieser uns mit, daß die Kinder in jeder Weise zufriedenstellendes Betragen gezeigt hätten. Kein Zweifel, das alles sind Wirkungen, die nur die hohe Kunst mit ihrer vollendeten Darstellung zuwege gebracht hat.“ In: Kalk, Otto: Theorie und Praxis der Jugendbühne. Osterwieck am Harz 1926 (Die Jugendbühne. Heft 2/3), S. 34f.
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Tannengreises wird es aber jedes Jahr zu Weihnachten als Christelflein auf die Erde zurückkehren. Diese Oper ruft Topoi bürgerlicher Weihnachtsdramatik auf und versucht, mithilfe des Weihnachtsfests deutsche Identität zu stiften. Neben der irdischen Ebene der Menschen gibt es eine übernatürliche Ebene, die zum einen Tannenjungfrauen, ein Elflein, einen Tannengreis, Knecht Ruprecht und einen Tannenjunker umfasst. Zum anderen treten christliche Figuren wie ein Wunschengel, ein großer Engel, Sankt Petrus und das Christkind auf. Die häusliche familiäre Bescherfeier wiederum, zu der die Familie Gumpach auch die Kinder des Dorfes einlädt, findet auf traditionelle Weise in einem Wohnzimmer mit „einfacher, vornehmer Einrichtung“ und einem geschmückten (deutschen) Tannenbaum statt (Das Christelflein, II. Akt, 7. Szene). Das Finale definiert eine solche häusliche Weihnachtsfeier als Weihnachten schlechthin, die Feiergemeinschaft wird vom Tannengreis als Stellvertreter für das gesamte (deutsche) Volk interpretiert: „Ein seliges Volk und ein begnadetes Volk.“ (Ebd., II. Akt, 14. Szene) Auch die in der Erstfassung noch nicht enthaltene Solonummer Knecht Ruprechts im zweiten Akt „Als Christ der Herr verkläret war“, ist zum Teil deutschnational aufgeladen.25 Sakrales wird mit Deutsch-Heroischem und Zeitgeschichtlichem zusammengeführt. Berichtet wird in dieser musikalischen Nummer von einem deutschen Soldaten, der in strahlendem C-Dur im Himmel eintrifft: „Der erste wars in deutschem Land, der zum Herrn Jesus sich bekannt.“ (Ebd., II. Akt, 10. Szene) Da ihm dort sein Baum fehlt, bittet er: „Laß im Reiche dein, auch meine deutsche Tanne sein, zu meines Volkes Ehre.“ (Ebd.) Ihm wird diese Bitte gewährt, „drum fürder jeder deutsche Held, im Himmel seine Tanne erhält.“ (Ebd.) Zukünftig „als Christbaum ihn zu schmücken, grünt [er] ewig nun im Himmelsraum als Heilands liebster deutscher Baum um Alles zu beglücken.“ (Ebd.)
7.2 W EIHNACHTSTHEATER
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Neue Entwicklungen gibt es hingegen im Bereich des weihnachtlichen Theaters, das für theaterferne Aufführungskontexte konzipiert, oder zumindest dort realisiert wird: Hervorzuheben ist, dass es hier zum Teil zu einer zunehmenden ideologischen Vereinnahmung weihnachtlicher Spiele kommt, neue Diskursstrate-
25 Vgl. zur deutschnationalen Gesinnung Pfitzners: Fischer, Jens-Malte: „Hans Pfitzner – Komponist der deutschen Seele“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 62. Jahrgang. Heft 4 (2008), S. 328-332.
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gien Anwendung finden und neue Aufführungskontexte dienlich gemacht werden. Auch die Zahl veröffentlichter Spiele steigt. Im Umfeld proletarischer Freidenker und sozialdemokratischer Jugendbünde entstehen Weihnachtsspiele und Sprechchöre für Partei-, Vereins- und Schulfeiern sowie Wintersonnenwendfeiern, somit anlassbezogene Laienspiele. Vor allem beim Arbeiter-Theaterverlag Alfred Jahn in Leipzig erscheinen verschiedene Reihen, in denen weihnachtliches Theater vornehmlich der Anprangerung gesellschaftlicher Missstände und politischer Indoktrination dient. Die NSDAP zeigt kein größeres Interesse an speziell für Weihnachten verfasster Dramatik, integriert aber durchaus Spiele in ihre Weihnachtsfeiern. 1925 berichtet der Völkische Beobachter von einer Weihnachtsfeier der NSDAPSektion München, bei der neben dem Lebenden Bild Ein Weihnachtsgedenken der Gefallenen vom 9. November 1923 Ingeborg Schmitts Einakter Erlösung zur Aufführung gebracht wird, der mit einem Auftritt Hitlers endet: „Den würdigen Abschluß bildete die dramatische Dichtung unseres Sektionsmitgliedes Frau Ing. Schmitt mit dem Einakter: ‚Erlösung‘. Eine hervorragende Leistung, welcher gebührte, sie möglichst vielen Nationalsozialisten zugänglich zu machen. Von Sektionsmitgliedern vorzüglich personifizierte: Germania, Bavaria, Deutscher Michel, Deutsche Sage, Märchen und Deutsches Lied behandelten im Zwiegespräch die Not und Knechtschaft und deren Ursachen der heutigen Tage und erinnerten an die großen Taten, Ruhm und deutschen Glanz, seit Germanen die Erde begehen. Der aufgehende Stern in der Weihnachtsnacht deutete auf den Erlöser, so auch diese Darstellung: Der sich nun teilende Vorhang zeigt den neuen Erlöser, den Erretter des deutschen Volkes aus Schande und Not – unseren Führer Adolf Hitler!“26
Daneben erscheinen aber weiterhin zahlreiche Editionen volkssprachlicher, auf dem Land gesammelter Krippenspiele in nunmehr literarisierter Form.27 Inwie-
26 W.: „München. Sektion Neuhausen“, in: Völkischer Beobachter. Kampfblatt der national-sozialistischen Bewegung Großdeutschlands, 24. Dezember 1925, S. 3. 27 Geramb, Viktor und Viktor Zack: Das Steyrer Kripperl. Wien 1919 (Wiener Zeitschrift für Volkskunde. Band 25). / Zoder, Raimund: Das Traismaurer Krippenspiel. Ein deutsches Weihnachtsspiel aus dem Beginne des 19. Jahrhunderts. Wien 1920. / Mudrak, Anton: Weihnachten der Heimat. Das Zwittauer Hirten- und Dreikönigsspiel. Landskron 1923 (Die Schönhengster Heimatbücherei. Nummer 8). / Rotter, Friedrich: „Zwei Adventsspiele“, in: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde. Band 24 (1923), S. 127-140 und Band 25 (1924), S. 106-120. / Götz, Albert: „Christkindspiel aus Poschkau, welches noch bis auf den heutigen Tag erhalten blieb“,
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fern diese tatsächlich szenisch umgesetzt werden, ist heute nur mit Einschränkungen zu klären. Fest steht auf jeden Fall, dass die Laienspielbewegung fernab des professionellen Theaterbetriebs viele eigens verfasste, bearbeitete oder bereits existente Weihnachtsspiele zur Aufführung bringt, denen die biblische Weihnachtsgeschichte zu Grunde liegt.28 Der Verlag Alfred Jahn veröffentlicht in der Weimarer Republik mehrere Reihen mit Weihnachtsspielen für Laientheateraufführungen. Augenscheinlich strebt das sozialdemokratische Arbeitertheater eine stärkere Zusammenführung von darstellendem Spiel, weihnachtlichem Fest und politischer Erziehung an. Diese Bemühung entspricht dem Versuch vonseiten der Arbeiterbewegung, Arbeitern eine umfassende kulturelle Bildung zu ermöglichen, wie Gina Weinkauff darstellt: „Um langfristig politisch handlungsfähig zu bleiben, hielt man es angesichts der Niederlage der Revolution und der Spaltung der Arbeiterbewegung für nötig, den Klassenkampf um eine neue ‚kulturelle‘, in der Diktion mancher Autoren auch ‚kultische‘ Dimension zu erweitern.“29 Theater wird nicht mehr als
in: Altvaterbote. Monatsschrift für die deutsche Schutzarbeit in Mähren und Schlesien. Band 2 (1925), S. 259-265. / Blümml, Emil Karl und Gustav Gugitz: Alt-Wiener Krippenspiele. Wien 1925. / Bolte, Johannes: Drei märkische Weihnachtsspiele des 16. Jahrhunderts. Berlin 1926 (Berlinische Forschungen. Band 1). / Borufka, Josef: „Ein Weihnachtsspiel aus dem Bezirk Königinhof“, in: Ostböhmische Heimat. Band 1 (1926), S. 12-25. / Wähler, Martin: „Volkstümliche Weihnachtsspiele und Umzüge in Thüringen“, in: Thüringen. Eine Monatsschrift für alte und neue Kultur. Band 3 (1927), S. 130-145. / König, Adolf: Volksschauspiele aus Nordböhmen. TeplitzSchönau 1927 (Wächterbücherei. Band 1). / Moser, Hans: „Das altbayerische Volksschauspiel des 17. und 18. Jahrhunderts“, in: Bayerischer Heimatschutz. Zeitschrift für Volkskunst und Volkskunde, Heimatschutz und Denkmalpflege. Band 24 (1928), S. 72-75. / Dörrer, Anton: „Die Volksschauspiele in Tirol“, in: Tiroler Heimat. Jahrbuch für Geschichte und Volkskunde Nord-, Ost- und Südtirols. Band 2 (1929), S. 69. / Hartmann, Rudolf: Das deutsche Volksschauspiel in der Schwäbischen Türkei. Nachdruck von 1929. Marburg 1974. / Graber, Georg: Das Gmünder Hirtenspiel aus dem 17. Jahrhundert. Spittal 1930. / Müller, Alfred: Die sächsischen Weihnachtsspiele, nach ihrer Entwicklung und Eigenart. Leipzig 1930 (Sächsisches Volkskunst. Band 7). / Ernyey, Josef und Géza Kurzweil: Deutsche Volksschauspiele aus den Oberungarischen Bergstädten. Budapest 1932. 28 Vgl. Kapitel 5.7.5. 29 Weinkauff, Gina: Ernst Heinrich Bethges Ästhetik der Akklamation. Wandlungen eines Laienspielautors in Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Deutschland. Frankfurt am Main 1992, S. 104.
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Privileg der besitzenden Schichten verstanden. Theatralität soll bei Aufführungen, bei denen Zuschauer und Spieler in Bezug auf ihre soziale Herkunft große Übereinstimmungen aufweisen, Gemeinschaft generieren. Bei Jahn erscheinen Sonnenwend-Spiele,30 die Weihnachts-Bühne31 und die Neue soziale WeihnachtsBühne.32 Auch in den Reihen Soziale lebende Bilder,33 Arbeiterbühne34 und Neue-Märchen-Bühne35 sind Stücke für einen weihnachtlichen Aufführungskontext enthalten.
30 Auerbach, Alfred: Wintersonnenwende. Sprech-Chor. Leipzig 1926 (SonnenwendSpiele. Nummer 1). / Frei, Karl: Das Dreigestirn der Weltenwende. SonnenwendSpiel in 1 Aufzug. Leipzig 1929 (Sonnenwend-Spiele. Nummer 2). / Frank, Lobo: Lichtfest im Grünen oder Zielke als Sonnenwendgast. Sonnenwend-Spiel mit SprechChor in 1 Aufzug. Leipzig 1930 (Sonnenwend-Spiele. Nummer 3). / Bahmann, Waldo: Proletarischer Glaube. Sprech-Chor zur Sonnenwendfeier. Leipzig 1931 (Sonnenwend-Spiele. Nummer 4). Alle Zitate folgen diesen Ausgaben. 31 Vgl. z.B. Jubisch, Fritz: Die angebrannte Weihnachtsgans. Weihnachtsschwank in 2 Aufzügen. Leipzig 1929 (Weihnachts-Bühne. Nummer 2). / Witzel, Hans: Kasimirs Weihnachtsfreude. Weihnachtsposse in 1 Akt. Leipzig 1931 (Weihnachts-Bühne. Nummer 4). / Ders.: Und Robert ist nicht da! Weihnachtsschwank in 1 Akt. Leipzig 1931 (Weihnachts-Bühne. Nummer 14). / Teich, Otto: Bumkes fahren zum Wintersport. Weihnachtsschwank in 2 Akten. Leipzig 1931 (Weihnachts-Bühne. Nummer 40). 32 Vgl. z.B. Werner, Heinrich: Der Armen Weihnachten. Soziales Schauspiel in 1 Akt. Leipzig 1921 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 1). / Trott, Magda: Wiedergefunden. Weihnachtsspiel in 1 Akt. Leipzig 1921 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 14). / Frank, Lobo: Prinzessin und Prolet. Lichtfestspiel mit Gesang in 2 Teilen. Leipzig 1929 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 18). / Burg, Gustav: Hoheitsdünkel
und
Menschlichkeit
oder
Zwei
Welten.
Soziales
Jugend-
Weihnachtsspiel mit Gesang in 2 Bildern. Leipzig 1931 (Neue soziale WeihnachtsBühne. Nummer 20). Alle Zitate folgen diesen Ausgaben. 33 Vgl. Renker, Felix: Weihnachtsglück und Leid. 5 lebende Bilder mit begleitendem Wort. Leipzig 1921 (Soziale lebende Bilder. Nummer 4). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 34 Z.B: Renker, Felix: Vergeltung. Weihnachtsstück in zwei Aufzügen. In neuer Bearbeitung von Arthur Hofmann. Leipzig 1920, 5. Auflage (Arbeiterbühne. Nummer 19). 35 Vgl. z.B. Renker, Erich: Das verlorene Lachen. Ein Weihnachtsmärchenspiel mit Gesang, Reigen und Tanz in vier Bildern. Musik von Paul Liebscher. Leipzig 1925 (Neue-Märchen-Bühne. Nummer 6). / Wähnert, Gerhard: Sonnwendnacht im Winterwald. Märchenspiel mit Gesang und Tanz in 2 Aufzügen. Musik von Alfred Schirmer.
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Viele dieser Spiele stammen vom Laienspielautor und Lehrer Ernst Heinrich Bethge (1878-1944), der jedoch unter dem Pseudonym Lobo Frank seine Texte veröffentlicht. Während des Ersten Weltkrieges werden sie in Reihen wie Jungwehrbühne beim Verlag Danner in Mühlhausen in Thüringen und Jugendvereinsbühne beim Verlag Strauch in Leipzig herausgegeben. Folgt man einer Studie Evelyn Zechners, polemisiert Bethge „in zahlreichen Laienspielen […] entweder schwankhaft gegen die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung oder präsentiert beispielhaft Frontgeist und Heldentum.“36 In den 20er Jahren wird Bethge Mitglied der SPD und avanciert auch nach seinem Austritt 1923 aus der Partei zu einem der erfolgreichsten Autoren der sozialdemokratisch geprägten Arbeiterbewegung.37 Seine bei Jahn publizierten Spiele erfahren einen besonderen Zuspruch.38 Gleichwohl gibt es innerhalb der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik auch zahlreiche Vertreter einer theaterabstinenten Linie, die „theatrale Darbietungen auf Arbeiterfesten rundheraus“ ablehnen.39 Die Darbietung von Spielen auf Weihnachtsfeiern ist durchaus nicht allgemeine Praxis. Der sozialdemokratische Bildungsausschuss gibt regelmäßig Musterprogramme für Feste von Arbeitern heraus, auf denen Theateraufführungen nicht vorkommen.40 Die Zeitschrift Kulturwille kritisiert etwa in einem Artikel 1928, dass die Stücke der Arbeiterbühnen grundsätzlich dilettantisch und sprachlich schwach ausgearbeitet seien.41
Leipzig 1927 (Neue Märchen-Bühne. Nummer 10). / Dombrowski, Hermann: Vor Weihnachts Toren. Ein Weihnachtsspiel in 2 Aufzügen. Leipzig 1928 (Neue Märchen-Bühne. Nummer 13). / Auerbach, Alfred: Aschenbrödel. Ein Märchen in neuzeitlicher Form in 4 Bildern. Leipzig 1927 (Neue Märchen-Bühne. Nummer 16). Alle Zitate folgen diesen Ausgaben. 36 Zechner, Evelyn: „Kaspar saust von Sieg zu Sieg“. Sozialhistorische und soziologische Studien zu ausgewählten Puppenspielen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Graz 2011 (Lithes. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie. Sonderband 2), S. 128f. 37 Vgl. Weinkauff, Bethges Ästhetik. 38 Vgl. Schütte, Wolfgang U.: „Arbeiter-Theater-Verlag Alfred Jahn (ATV)“, in: Barck, Simone und Tanja Bürgel (Hg.): Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945. Stuttgart / Weimar 2002, S. 22. 39 Warstat, Theatrale Gemeinschaften, S. 269. 40 Vgl. ebd. 41 Zweter: „Rund um die Arbeiterbühne. Schauspiele, Weihnachts- und Sonnenwendspiele, Revue und Kabarett, Sprechchöre“, in: Der Kulturwille. Monatsblatt für Kultur der Arbeiterschaft (Oktober 1928), S.188-190.
314 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR „Da man nicht gut die Possen [bei Arbeiterfesten] spielen konnte, von denen sich bürgerliche Lustspielvereine nährten, entstand eine Literatur mit sozialistischer Tendenz für Dilettantenbühnen. […] Wir wollen offen sein: Viel Gutes ist dabei nicht herausgekommen.“42
In der Bewertung der verschiedenen Weihnachtsstücke differenziert Zweter, der Autor des Artikels, jedoch und appelliert an Schriftsteller, alte Krippenspiele als Referenzpunkt zu nutzen und sich intensiv mit ihnen zu beschäftigen: „Eine besondere Gruppe bilden die Weihnachtsstücke, die sich unter proletarischen und Wandervogel-Einflüssen mehr und mehr zu Sonnwendspielen verändert haben, sowie überhaupt mit der wachsenden, Volkstümlichkeit suchenden Jugendbewegung das Theaterspielen eine neue stilisierte Form und einen neuen Gemeinschaftssinn bekam, äußerlich bezeugt durch die Ablösung des unschönen Ausdruck ‚Dilettantenbühne‘ durch das kräftige Wort ‚Laienspiel‘. […] Ganz zeitgemäße Formen von Winter- und Sommersonnwendspielen in guter Sprache bringt das Heft Neue Zeit, von A. Auerbach (Verlag Freie Religion, Mainz); sehr interessant in der Einbeziehung von Sängern, Turnern, Sportlern und Jugend das durchaus klassenbewusste Sonnwendspiel von Artur Oehmichen: ‚Der Menschheit Sonnenwende‘ (Freidenker-Verlag, Leipzig). Von Kindern zu spielen, mit genauen Anweisungen: ‚Weihnachten, das Fest der Sehnsucht‘, von Wilhelm Franke, Verlag Lipinski; und das noch schönere, nähere, realistische, packende: ‚Wir sind uns nahe‘ von Adolf Hauert, Verlag der Freien weltlichen Schule Magdeburg. Mit dem WeihnachtsLaienspiel: ‚Der Einsame‘, von Walter Scheibe, vom Reichsausschuss ausgezeichnet, vermag ich mich nicht zu befreunden. […] Alle Autoren solcher Volksspiele sollten fleißig in den alten Krippen- und Passionsspielen lesen. Dort können sie für Gestaltung und Wirkung, für Klarheit und Bildhaftigkeit viel lernen.“43
7.2.1 Sonnenwend-Spiele Die Spiele der Reihe Weihnachts-Bühne greifen überwiegend auf populäre Genres wie die Posse oder den Schwank zurück und üben sich nicht gerade in Subtilität. Sie verhandeln zumeist Liebes- oder Familienangelegenheiten und persönliche Konflikte in einem kleinbürgerlichen Kontext vor dem Hintergrund des Weihnachtsfests, das schlussendlich aber doch immer ein Garant für Freude, Liebe und familiären Frieden ist. Die Sonnenwend-Spiele gehen hingegen inhalt-
42 Ebd., S. 188. 43 Ebd., S. 189.
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lich und formal vollkommen andere Wege. Sie sind vorrangig als Sprechchöre bzw. als Weihnachtsspiele mit integriertem Sprechchor konzipiert. Sprechchöre sind in der Laienspielbewegung beliebt und dann „auch bei den Sozialisten und Kommunisten in Gebrauch.“44 Auf diese Weise erfahren sich die Darsteller im Spiel intensiv als Gruppe. Manchmal singen die Figuren im Rahmen der Handlung auf der Szene gemeinsam Lieder. Dann fordert der Nebentext wiederum dazu auf, dass von hinter der Szene unsichtbare Chöre erklingen sollen. In anderen Spielen sind Szenen in die Handlung integriert, in denen Sprecher, die nicht an der eigentlichen dramatischen Handlung beteiligt sind, auftreten und Texte zu skandieren haben, wie etwa in Bethges Lichtfest im Grünen oder Zielke als Sonnenwendgast von 1930: „Erste Gruppe: Was ist das mit der Sonnenwende? Zweite Gruppe: Was ist das mit der schneebedeckten Flur? Erste Gruppe: Was ist das mit der schweigsamen Natur? Alle: Wir ahnen, daß etwas zu Ende, daß etwas kommt, was eine helle Spur, was ins uns schwingt wie rote Fackelbrände. Erster Sprecher: Der Winter hat das sommerliche Leben abgelöst.“ (Lichtfest im Grünen, 4. Szene)
Zum Teil verständigen sich auch die an der Handlung beteiligten Figuren in agitatorischen, stark ideologisch aufgeladenen Chören über ihre Grundhaltungen und den Willen, gemeinsam für eine Veränderung der Verhältnisse einzustehen, wie beispielsweise im 1929 veröffentlichten Das Dreigestirn der Weltenwende von Karl Frei: „Das schwören wir im Sonnenwendlicht! / ‚Wir halten zusammen – wir wanken nicht!!‘ / Alle gleich sein! / Keiner reich sein! / Keiner raffen / alle schaffen / miteinander / füreinander / alle leben miteinander / treu wie Brüder!“ (Das Dreigestirn der Weltenwende, 2. Szene)
44 Vondung, Klaus: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus. Göttingen 1971, S. 20.
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Der Wunsch nach einer Welt, die für alle lebenswert ist, macht die Frage nach dem Umgang mit einer Weihnachtskultur zentral, die durchaus als Ausdruck einer grundsätzlich abzulehnenden und zu überwindenden Bürgerkultur gewertet wird. Hier kann ein Ausschnitt aus Alfred Auerbachs Wintersonnenwende von 1926 als Beispiel angeführt werden: „Seit vielen hundert Jahren singt in dieser Nacht die Menschheit: ‚Liebe! Liebe!‘ Und seit vielen hundert Jahren war der Sang der Weihenacht rasch verhallt. Grinsend hörte Mord die süßen Sänge, sah der Krieg die milden Bilder, blieb die Not, blieb das Elend lauernd hocken auf der Erde, spottete des Fests der Liebe!“ (Wintersonnenwende, 1. Szene)
In diesem Sinne setzen sich sämtliche Sonnenwend-Spiele, die allesamt recht kurz und zur Aufführung im Rahmen von Sonnenwend-Festlichkeiten vorgesehen sind, skeptisch mit weihnachtlichen Festformen auseinander. Gleichzeitig ist ihr Verhältnis zu Elementen einer bürgerlichen Kultur ambivalent. Auf der einen Seite werden das Bourgeoise kritisiert und eine Distanzierung von tradierten Feierformen angestrebt, auf der anderen Seite werden gewisse Elemente einer bürgerlichen Festkultur bewahrt und einige Topoi weihnachtlicher bürgerlicher Dramatik aufgerufen. Sowohl in Auerbachs Wintersonnenwende, in dem ein Vater mit seinem Sohn gemeinsam einen Weihnachtsbaum mit Lichtern schmückt und ihn für das Elend auf der Welt und die Notwendigkeit eines kritischen Umgangs mit tradierten Festformen zu sensibilisieren versucht, als auch in Freis Das Dreigestirn der Weltenwende, in dem eine Mutter mit ihren beiden Kindern zu Hause eine Bescherfeier mit einem mit Lichtern geschmückten Baum ausrichtet, wird Heiligabend als ein Moment des Innehaltens und der Reflexion präsentiert. Die Figuren pflegen einen friedlichen Umgang miteinander, schwerwiegende Konflikte gibt es nicht. In einer entmythologisierten Welt ohne Religion treten aber bei Frei allegorische Figuren wie Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit sowie ein Chor der Unfreien geisterhaft auf. Auch wird trotz der intendierten Abkehr von jeglicher Weihnachtsschwärmerei der Weihnachtsbaum als Metapher für das gesellschaftsverändernde Potential des Fests beibehalten und gewissermaßen im Rahmen einer gleichsam sozialistischen Religiosität als Symbol für das sozialistische Lichtfest etabliert: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, / Symbol der Sonnenwende. / So wie dein Kleid bleibt grün bestehn, / soll uns die Hoffnung nie vergehn, / daß einst die Freiheit kommen muß / die große Weltenwende.“ (Das Dreigestirn der Weltenwende, 1. Szene)
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In Auerbachs Wintersonnenwende definiert der Vater den Baum auf eine ähnliche Weise: „Dieser Baum ist Baum der Menschheit, / keinen Schmuck und keinen Flitter, / süßes Schmeichelblendwerk / einer kurzen Rührungsstunde / siehst Du an dem strengen Baum! / Baum der Menschheit / harten Kampfes um die Freiheit / er, gewohnt der wilden Stürme, / trotzig steht er, Eisenhagel überdauernd / und den harten Frost des Winters; / wartet auf die neuen Menschen, / die da freien Auges / hellen Geistes, / heben ab das schwere Dunkel, / die ihn tragen an das Licht.“ (Wintersonnenwende, 1. Szene)
Im Rahmen eines umfassenden Versuches, einen neuen Umgang mit dem weihnachtlichen Fest zu erreichen und sich von der Weihnachtssentimentalität bürgerlicher Prägung zu distanzieren, propagieren die Spiele die Wintersonnenwendfeier als angemessenes proletarisches Festritual. Zuschauende und spielende Kinder, Vertreter der Arbeiterjugend und erwachsene proletarische Laiendarsteller sollen sich über darstellendes Spiel und die chorisch auszuführenden Deklamationen als Klasse erfahren, auf gemeinsame ideologische Positionen und kollektives Handeln eingeschworen werden. Konstruktion von Gemeinschaft und die Freisetzung sozialer Energien werden hier angestrebt. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft ist zentral für zahlreiche Diskurse und kulturelle Praktiken der Moderne.45 Sie spielt auch in sozialistischen Kreisen eine immer stärkere Rolle, wie Gina Weinkauff zeigt: „Gemeinschaft als positiver Gegenpol zur (bürgerlichen) Gesellschaft war ein Begriff, den seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die konservative und zunehmend auch die sozialistische deutsche Kulturkritik für sich reklamierte. […] Dieser (Kampf-)Begriff konnotierte so gegensätzliche Zielvorstellungen wie die Wiederherstellung archaischer, gleichsam vorgesellschaftlicher Urzustände und die Antizipation bzw. subjektive Bedingung einer neuen Gesellschaftsordnung nach Überwindung der Klassenantagonismen.“46
Die Sonnenwend-Spiele appellieren an die Konsensfähigkeit und ein kollektives Zusammengehörigkeitsgefühl von Spielern und Zuschauern: „Wir glauben an das Proletariat!“47 Dieser Satz wird in Waldo Bahmanns Sprechchor Proletarischer Glaube von 1931 mehrmals wiederholt. Mithin sollen diejenigen, die bei
45 Vgl. Baxmann, Inge: Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne. München 2000. 46 Weinkauff, Bethges Ästhetik, S. 108. 47 Vgl. Bahmann, Proletarischer Glaube.
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einer Aufführung zugegen sind, nicht nur für ein reformiertes Weihnachtsfest, sondern schlussendlich für eine Neuordnung der Gesellschaft einstehen, ein Gedanke, den auch Walter Eschbach in der Zeitschrift Arbeiter-Bildung 1927 formuliert: „Der sozialistisch fühlende Mensch […] sollte sich mehr und mehr in seinen Gemeinschaften auch in den Weihnachtstagen zusammenfinden, um durch Feiern seinen Ideen und Kämpfen sinnfälligen Ausdruck zu geben. Es sei nichts eingewandt gegen die schöne, aus grauen vorchristlichen Zeiten stammende Sitte, den Lichterbaum als Ausdruck der erwachenden Natur und die Gabenübermittlung als Zeichen innerer Zuneigung und gegenseitiger Hilfeleistung zu pflegen. Doch höher als dieses muß uns das Gemeinschaftserlebnis stehen, jenes Erlebnis, das die Kraft des proletarischen Befreiungskampfes so sinnfällig macht.“48
7.2.1.1 Lichtfest im Grünen In Bethges verhältnismäßig langem Sonnenwendspiel Lichtfest im Grünen für jugendliche Spieler wird die Vereinbarkeit von Sozialismus und Weihnachten zur Disposition gestellt und diskutiert, letztendlich aber als vereinbar präsentiert, einen kritisch reflektierten Umgang mit tradierten Feierformen vorausgesetzt. „Weiß der Deubel, wenn dieses ‚Fest der Liebe‘ herankommt, gibt es nichts als Ärger. Dann scheint die ganze Welt verrückt! Dann muß sich der Sozialismus hinter dem Ofen verkrauchen auf zweimal vierundzwanzig Stunden. Dann kehren sie scheinbar alle reumütig zurück in den Schafstall von Bethlehem, die Esel, die Ochsen und die Gänse!“ (Lichtfest im Grünen, 1. Szene)
Entsprechend den „Vorgaben sozialistischer Festkulturtheoretiker“,49 die auch Vortragsdispositionen umfassen, in denen „die kirchen- und theologiegeschichtlichen Probleme des Weihnachtsfests erläutert“50 werden, erörtern die Figuren in diesem Sonnenwendspiel Möglichkeiten der Umgestaltung Weihnachtens: „Wir
48 Eschbach, Walter: „Weihnachten“, in: Arbeiter-Bildung. Monatsschrift des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit. 2. Jahrgang (1927), S. 170. 49 Hornauer, Uwe: Laienspiel und Massenchor. Das Arbeitertheater der Kultursozialisten in der Weimarer Republik. Köln 1985 (Schriften des Fritz-Hüser-Instituts für deutsche und ausländische Arbeiterliteratur der Stadt Dortmund. Reihe 2: Erforschungen zur Arbeiterliteratur. Band 2), S. 122. 50 Ebd., S. 118.
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wollen neue Wege suchen. Wir wollen neue Festformen schaffen.“ (Ebd., 2. Szene) Während in der Gruppe Einigkeit darüber besteht, dass ein grundsätzlich veränderter Umgang mit weihnachtlichen Symbolen notwendig ist, ist man sich indes über die Detailgestaltung nicht einig. Die einen definieren Religion als Privatsache, die anderen „als Opium für das Volk“ (ebd., 1. Szene). Manche der jugendlichen Figuren sprechen sich dafür aus, auch Sozialisten eine private Festkultur zuzugestehen, anderen widerstrebt dies: „Aus dem christlichen Weihnachtsfest wollen wir ein sozialistisches Lichtfest machen. Aber dazu gehört doch das Licht als Symbol.“ (Ebd., 2. Szene) Die Jugendlichen diskutieren untereinander, ob die rote Fahne Symbol genug wäre oder ob nicht auch im Zusammenhang mit Weihnachten der Tannenbaum als Symbol der Natur, die Kerzen als „herrliches Symbol der großen Urkraft Sonne“, Weihnachtslieder wie „Stille Nacht“ sowie Geschenke akzeptabel wären, zumal es sich hierbei nicht um dezidiert religiöse Symbole handele (vgl. ebd.). Doch ertönen in der Gruppe sogleich Gegenstimmen, die „Weg mit den Symbolen!“ (Ebd.) fordern und auch Weihnachtslieder zutiefst ablehnen: „Das brauchen wir nicht! Wir haben unsre eigenen Lieder, die ebenso schön sind wie die anderen, und die unsere eigenen Gedanken zum Klingen bringen.“ (Ebd.)
Erst in einem in das Spiel integrierten Sprechchor, den alle jugendlichen Figuren gemeinsam singen, stellt sich endlich ein Gefühl der Einigkeit ein. Man verständigt sich auf einen Glauben daran, dass grundsätzlich eine bessere Zukunft möglich ist, und dass es gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu kämpfen gilt. Eine Lichtmetaphorik, typisch für die zeitgenössische Sprechchor-Dramatik, kommt hier zum Einsatz: „Bald kommt die Zeit, / da wir lugen und lachen. / Da wir uns strecken und dehnen. / Da wir uns recken und ans Licht uns sehnen. […] / Und sie haben dieses wunderbare Geschehen verdunkelt, die Welteroberer, und haben es verwässert. / Sie haben der Menschheit dieses Bewußtsein, daß wir Geschöpfe der Sonne sind, getötet. / Sie haben uns blind gemacht. / Und taub und gefühllos. / Und was haben sie uns dafür gegebn? Die Legende vom Jesuskind zu Bethlehem, von einer armen Mutter im Stalle geboren. […] / Sie kennen das Elend in der Welt und ändern es nicht. / Sie sehen die Ungerechtigkeit der Welt und leben von ihr. / Sie machen Kriege, wenn sie dabei verdienen können. / Sie stoßen die Arbeiter in Elend und Nacht, wenn ihnen das ihren Reichtum vergrößert. / Wir haben uns abgewandt von diesem Menschheitsbetrug und / haben uns besonnen.“ (Ebd., 4. Szene)
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Den jugendlichen Figuren, keinen individuellen Protagonisten, sondern Repräsentanten der „proletarischen Jugend“,51 werden also gleichsam Worte in den Mund gelegt, mit denen die Lichtfestfeier als Alternativentwurf zur privaten Bescherfeier bestätigt wird. Einer nach Innen gerichteten familiären Festkultur wird ein jugendlicher Wunsch nach einer Festkultur entgegengestellt, die ihre Aufmerksamkeit nach Außen richtet, sich sowohl für die eigene Generation und Klasse, als auch für die gesamte Menschheit interessiert und engagiert, und für einen Sieg des Sozialismus kämpft. Symptomatisch für diese Distanzierung von zentralen Topoi bürgerlicher Weihnachtsdramatik ist die Tatsache, dass sich die Jugendlichen trotz Bescherung und Weihnachtsbaum nicht in einem Wohnzimmer einfinden und nicht mit der eigenen Familie feiern. Sie entscheiden sich bewusst gegen eine Feier mit ihren Verwandten und für eine Abgrenzung von Vertretern anderer Generationen. Dieser Bruch mit den eigenen Angehörigen wird anhand Brummerchens, der als letzter zu den anderen stößt, verhandelt. „Ich wollte nicht zu euch an diesem Abend. Ich wollte Weihnachten feiern, wie ich’s seit Jahren gewöhnt bin daheim, und wie ich mir’s schön und feierlich ausgemalt hatte. […] Bis mir was fehlte! Bis mir das alles nicht mehr genügte! Bis ich mich langweilte! Ich musste immerfort an euch denken, und was ihr wohl beginnen würdet heute abend. Ob ihr wohl alle beisammen wärt. Ich hatte plötzlich keine Freude mehr an dem Baum, an dem Kaffeetisch, an der alten Spieldose. Ich schlich mich davon.“ (Ebd., 6. Szene)
Die jungen Menschen kommen als Interessensgemeinschaft zusammen und werden über den Text als funktionsfähiges Kollektiv inszeniert. Die Feier ist in eine Hütte im Wald verlagert, wo man zu Beginn sogar darüber reflektiert, dass man „Feiern im Freien“ (ebd., 1. Szene) ja gar nicht mehr gewohnt sei, sich der Natur somit gleichsam entfremdet habe. Franks Entwurf eines weihnachtlichen proletarischen Theaters kommt einem politischen Bekenntnis gleich. Er führt eine mögliche Art jugendlicher Feiergestaltung vor, die eine Distanzierung von etablierten Festriten sowie politischen und kirchlichen Entscheidungsträgern und Familie impliziert. Die Figuren reflektieren gesellschaftliche Entwicklungen und verständigen sich über gemeinsame Ideale. Mögliche Wirkungsmechanismen, die selbstverständlich stark von Inszenierungstechniken, Aufführungskontexten, dominierendem Festdiskurs, Publikum und Darstellern abhängen, könnten etwa unter Jugendlichen ein viel-
51 Bethge, Lichtfest im Grünen, o.S. (Figurenverzeichnis).
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gestaltiges Nachdenken über Weihnachten und unter Erwachsenen ein größeres Verständnis für die Arbeiterjugendkultur sein.52
7.2.2 Soziale lebende Bilder In der Reihe Soziale lebende Bilder erscheint 1921 Felix Renkers Weihnachtsglück und Leid, das formal auf „eine charakteristische Theaterform der frühen Arbeiterbewegung“53 zurückgreift, das Lebende Bild. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung hatte sich hier im späten 19. Jahrhundert an einer mehrere Jahrhunderte alten Darstellungsform des höfischen und bürgerlichen Theaters orientiert, den Tableaux Vivants:54 „Man präsentierte allegorische Darstellungen sozialdemokratischer Werte und Tugenden […]. Im Mittelpunkt standen Freiheits- und Gerechtigkeitsgöttinnen, edle Kämpferinnen nach Art der Jeanne d’Arc, stolze Proletarier und siegesgewisse Jungarbeiter.“ 55 Wie in den Sonnenwend-Spielen findet sich auch in Renkers Text eine ambivalente Haltung zum Fest. Es wird zum Anlass für eine intensive Auseinandersetzung mit der christlichen Friedensbotschaft und eine vehemente Sozial- und Kapitalismuskritik genommen. Gleichzeitig wird es in seiner Eigenschaft als in der Familie begangenes Bescherfest für Kinder bestätigt. Der Text versucht eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Wirklichkeit, wenngleich dies auf textlicher Ebene recht klischiert und eindimensional gestaltet ist. Er suggeriert, dass gerade an Weihnachten die Diskrepanz zwischen kirchlich propagierter Nächstenliebe, prunkvollem Schein und der Lebensrealität von Armut und Not evident werde. Im Rahmen Lebender Bilder wird thematisiert, dass sich insbesondere zu diesem Anlass extremste Klassengegensätze manifestierten. Längere monologische Passagen eines Sprechers wechseln sich hier mit insgesamt fünf Bildern ab. Diese sind als „Weihnachten bei Kriegsgewinnlers“, „Weihnachten im vierten Stock“, „Weihnachten des vaterlosen Kindes“, „Weihnachten auf der Landstraße“ und „Der Freiheit Weihenacht“ betitelt. Der Sprecher, der laut Vorbemer-
52 Zum komplexen Zusammenspiel von Theater, Laienspiel, Festdiskurs und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik vgl. die Studie von Warstat, Theatrale Gemeinschaften, S. 261-368. 53 Ebd., S. 308. 54 Vgl. Jooss, Birgit: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit. Berlin 1999. Und Helas, Philine: Lebende Bilder in der italienischen Festkultur des 15. Jahrhunderts. Berlin 1999. 55 Warstat, Theatrale Gemeinschaften, S.309.
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kung „in Balltoilette zu erscheinen hat“,56 erläutert das in den Bildern Dargestellte. In zum Teil agitatorischen Passagen fordert er das Publikum zum sozialistischen Kampf für die Idee der Freiheit auf. Das Spiel kritisiert vehement den Tatbestand, dass die Möglichkeit zur Teilhabe am weihnachtlichen Bescherfest an Kapital und eine gewisse soziale Stellung gekoppelt sei. Hieraus leitet der Text aber keine radikale Festkritik, sondern eine radikale Gesellschaftskritik ab. Intendiert ist nicht die Etablierung einer neuen Festkultur. Vielmehr werden gesellschaftliche Veränderungen eingefordert, um jedem Menschen Freude am weihnachtlichen Bescherfest garantieren zu können. Reichtum wird mit Skepsis begegnet. Plakativ und moralisierend sind Darstellungen verschiedener Milieus aneinandergereiht, die dramaturgisch eine enorme Kontrastwirkung und Zuspitzung bedingen. Im ersten Bild feiern „dumme und blöde“ (Weihnachtsglück und Leid, 1. Bild) Reiche, die vom Krieg profitiert haben, Weihnachten: „So ist man bei Kriegsgewinnlers versammelt, / Alles vor Entzücken stammelt / Daß man geladen in diesem Hause / Zum Weihnachtsfeste und Karpfenschmause. / Man dankt dem Hausherrn für diese Ehrung / Um neun Uhr ist feierliche Bescherung, / Da zaubert ein meterhoher Baum / Im elektrischen Schimmer den Weihnachtstraum / Auf die illustre Gesellschaft hernieder, / Und man kröhlt dazu einige Weihnachtslieder, / Die ein bezahlter Pianist / Begleitet, der dafür umsonst mit ißt / was an der Tafel von den Gästen / Uebrig blieb an kümmerlichen Resten. / Und außerdem kriegt er sechzig Mark, / Weil das der Tarif ist. (Man findet das stark, / Sechzig Mark für so ein bischen Klavierspiel!) / Ja, heißt’s, die Leute verlangen wirklich zu viel. / Aber das ist eben die rote Flut, / Die solche hetzerische Wirkung tut. / Sie schürt und peitscht auf die Begehrlichkeit / Ja, wir leben in einer schrecklichen Zeit! / Die Leute müssten alle an die Wand gestellt werden / Und dabei singt man: ‚Friede auf Erden!‘“ (Ebd.)
Auf das Bild, in dem die Sozialistenhasser und „Emporkömmlinge“, „protzig an der Mitteltür“ in einem „eleganten Salon“ stehen (ebd.), folgt eine Bescherfeier zu Hause bei einer armen Familie. Wenngleich im Gegensatz zu den Kriegsgewinnlern hier der Baum nicht „im elektrischen Schein“ strahlt und es nur „billige Lichter“ sein dürfen, man hier nicht in „Saus und Braus“ (ebd., 2. Bild) lebt, kann die beinahe mittellose Familie wenigstens gemeinsam feiern. Das Bild zeigt einen Jungen mit „Pferdchen“ und ein Mädchen, das „seine Puppe strahlend im Arm“ hält, beide „sehen verklärt auf den Baum.“ (Ebd.) „Vater und Mutter stehen etwas nach hinten nebeneinander und schauen gerührt auf die
56 Renker, Weihnachtsglück und Leid, o.S. (Vorbemerkung).
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Kinder.“ (Ebd.) In diesem Bild manifestieren sich Ideale von familiärem Zusammenhalt und Bescheidenheit. Drastisch erscheint daraufhin das nächste Bild: Ein armes Mädchen versucht auf der Straße Hampelmänner zu verkaufen, doch „sie denken alle an ihr Weihnachtsglück, die Kleine aber trifft kein einziger Blick.“ (Ebd., 3. Bild) Sie „wankt“ nach Hause, wo „die graue Not harrt“, ein „Schlückchen Gerstenbrühe, ein Stück trocken Brot.“ (Ebd.) Ihre verwitwete Mutter wird keine Bescherung ausrichten können. Doch verkündet der Sprecher, dass sich bald der Kinderschutz kümmern würde, denn der „Sozialismus trägt in jedes Haus / Das wahre Christentum und übt es aus.“ (Ebd.) Im nächsten Bild begegnet uns ein sterbender, vereinsamter Mann auf einer Landstraße, der einst für den Sozialismus gekämpft hatte, im Gefängnis landete, keine Arbeit mehr fand und nun am Heiligabend auf der Straße stirbt. „Ein Lächeln auf den Lippen, bleich und tot, / Fand man den Alten dort beim Morgenrot / Es schrieb die Zeitung ein paar Wörtchen blos / Im Walde erfror ein Bettler – Namenlos!“ (Ebd., 4. Bild) Abschließend richtet sich der Sprecher offensiv an das Publikum. Er appelliert daran, nicht „müßig zu ruhen“. Es gelte zusammenzuhalten und weiterhin für „den Frieden auf Erden“ (ebd., 5. Bild) zu kämpfen. Der Sieg des „Glücks“ und „die Macht“ der Sozialisten seien der eigentliche Inhalt der „sozialistischen Weihenacht“ (ebd.). „Um was wir gekämpft, gerungen, gelitten, / Sieghaft haben wir’s nun erstritten, / Aber noch heißt es nicht müßig ruhn / Schreitet zu Taten! Noch gibt’s viel zu tun. / Noch ist der Zwingherrschaft Bann nicht gebrochen. […] Darum zertrümmert die Sklavenketten, / Es ist kein Spiel der Marionetten, / Es ist ein ernster Kampf um den Sieg, / Es ist ein geistiger, edler Krieg. / Darum des Geistes Schwert geschärft, / Ueber Bord die Zersplitterung werft, / Eine Phalanx in der Partei. / Machtvoll geschlossen Reihe an Reih’ / Dann erst kann der Sieg uns werden / Schafft Ihr in euch selber den Frieden auf Erden, / Dann kommt das Glück und unser die Macht, / Das ist die sozialistische Weihenacht.“ (Ebd.)
Somit versucht der Text die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass im Rahmen einer szenischen Realisation ein Publikum für soziale Not sensibilisiert, agitiert und dazu aktiviert werden kann, Engagement zu zeigen. Trotz der Episierung und der Zurückdrängung des performativen Elements in Ermangelung szenischer Aktion, kann auf „einfache Weise […] sehr wohl ein Gefühl der Zusammengehörigkeit“ gefördert werden, indem die Betrachter „an kollektiv ver-
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bindliche Werte“57 erinnert werden, wie Matthias Warstat Lebenden Bildern attestiert. In diesem Sinne erfüllt dieses soziale Weihnachtsbild durchweg die von Robert Breuer 1926 in der Monatsschrift des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit Arbeiter-Bildung aufgestellte Forderung nach Weihnachten als Erkenntnis um den noch auszufechtenden Kampf: „Heute noch ein Kinderglaube, heute schon das Kampfziel von Millionen, morgen, so sicher, wie die Sonne den Winter besiegt, strahlende Gewissheit. Für die Millionen, die heute noch im Dunkeln vegetieren, soll das Weihnachtsfest nicht ein sentimentales Träumen, nicht ein vorübergehender Rausch der Versöhnung, nicht eine gedankenlose, durch karge Wohltätigkeit verlockte Zufriedenheit sein, vielmehr die Erkenntnis, daß, noch viel, beinah noch alles, zu tun ist, um dem Volk die Erlösung von den Ketten der kapitalistischen und kulturellen Versklavung zu bringen.“58
Der Versuch einer Konsolidierung und Intensivierung von Gemeinschaftsgefühl ist bei Renker gleichwohl verknüpft mit der Erzeugung von Weihnachtssentimentalität. Weihnachten wird hier gleichsam zum Symbol für Versöhnung und Solidarität, zum Lichtfest. Am Ende tritt sogar die personifizierte Freiheit auf: „Die Freiheit im Hintergrunde, erhöht stehend, rechts und links gruppiert Arbeiter und Männer der Kunst und Wissenschaft, sich die Hände reichend. Engel in weißen Gewändern mit rotem Schleierüberwurf schließen sich an, kleine brennende Christbäume in den Händen tragend. Rotfeuerbeleuchtung. Musik: Stille Nacht, heilige Nacht.“ (Weihnachtsglück und Leid, 5. Bild)
7.2.3 Spiele für Kinder In diesem Sinne versuchen Spiele, die Kinder Kindern vorspielen sollen, ebenfalls gesellschaftsbildend zu wirken. Beispiele sind hier Vor Weihnachts Toren oder Das verlorene Lachen, die in der Reihe Neue-Märchen-Bühne erscheinen. Anzuführen sind auch die in der Neuen Sozialen Weihnachts-Bühne publizierten Stücke, die Kinder und Erwachsene gemeinsam für Kinder spielen sollen, wie
57 Warstat, Theatrale Gemeinschaften, S. 311. 58 Breuer, Robert: „Das Weihnachtsfest“, in: Arbeiter-Bildung. Monatsschrift des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit. 1. Jahrgang. Nummer 12 (1926), S. 204.
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Prinzessin und Prolet oder Hoheitsdünkel und Menschlichkeit. Im Gegensatz zu den Weihnachtsmärchen Carl August Görners oder den aufklärerischen Weihnachtsspielen Christian Felix Weißes zielen diese Stücke weder darauf ab, als Vorlage für ein eskapistisches Spektakel zu fungieren, noch der Vermittlung strenger Tugendkataloge oder der Disziplinierung zu dienen. Vielmehr sind sie darauf angelegt, Kinder für bestehende Klassengegensätze zu sensibilisieren und mithin aufzuzeigen, dass sie die Welt maßgeblich verändern können. In Erich Renkers Das verlorene Lachen von 1925 etwa verhilft Richard, Sohn aus reichem Hause, dem arbeitslosen Vater seines Freundes Fried zu Arbeit. Außerdem bringt er seinen Vater dazu, Frieds arme Familie mit einem Weihnachtsbaum und einer Weihnachtsgabe zu beschenken. Das Spiel propagiert Zusammenhalt unter Kindern, Kameradschaftlichkeit, Initiative, Loyalität und Eigenständigkeit. Es suggeriert, dass junge Menschen die Gesellschaft mitgestalten können und appelliert an Kinder, Engagement zu übernehmen: „Haltet fest zusammen! Versteht einander immer! Euer Freundschaftsbund kann noch viel Gutes wirken. Tragt den Gedanken der Liebe in die Welt hinaus!“ (Das verlorene Lachen, IV. Bild, 4. Szene) Auf ein autoritäres Erziehungsideal wird weitestgehend verzichtet. In Gustav Burgs 1931 publiziertem Hoheitsdünkel und Menschlichkeit sind „der kalte, herzlose Hoheitsdünkel der sogenannten ‚oberen Zehntausend‘ und die mitfühlende warmherzige ‚Menschlichkeit‘ der armen Proleten, oberflächlicher Weihnachtsrummel und beseelte Lichtfeststimmung“59 einander kontrastierend gegenübergestellt. Das Stück endet pathetisch plakativ mit einer neu gedichteten, emotionalisierenden Version von „Stille Nacht“, die alle gemeinsam singen: „Stille Nacht, leuchtende Nacht! / Arbeitsvolk, aufgewacht! / Kämpfe mutig, verzage nur nicht, / bis die Freiheit der Menschheit anbricht! / Bis die Freiheit ist da!“ (Ebd., 9. Auftritt) Die idealisierte Zukunftsvision einer besseren Welt, die Freiheit für jeden garantiert, scheint hier auf. Alle Spiele haben einen partizipativen und integrativen Ansatz. Die Kinder sollen spielen, tanzen, singen. Und auch die Zuschauer werden dazu animiert, die Lieder ebenfalls anzustimmen. Alfred Auerbach bezeichnet seine 1927 erstellte Adaption von Aschenbrödel im Untertitel als „Märchen in neuzeitlicher Form“. Zwar ist es nicht dezidiert für Weihnachten verfasst, greift aber mithilfe des Märchenstoffes durchaus auf ein erprobtes Genre weihnachtlichen Kindertheaters zurück. Im Sinne des intendierten partizipativen Ansatzes strebt der Verfasser an, dass „die Kinder im Saale“60 mitspielen. Nachdem der Vorhang gefal-
59 Burg, Hoheitsdünkel und Menschlichkeit, o.S. (Vorwort). 60 Auerbach, Aschenbrödel, o.S. (Inhaltsangabe).
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len ist verkündet ein „Knabe vor dem Vorhang: Nun schaffen Jungmädel und Jungknaben die neue Zeit! Dabei müsst ihr alle mithelfen. Wollt ihr das?“ und daraufhin sollen die Kinder im Saale alle „Ja!“ antworten. Das Spiel endet danach mit einer gezielten Aktivierung des Publikums in Form auffordernder Worte des Jungen: „Gut! Dann geht nach Hause, denkt darüber nach und macht euch stark und frisch! Freundschaft!“ (Aschenbrödel, IV. Bild) Renkers Das verlorene Lachen wiederum ist ein kurzer Text vorangestellt, der die Programmatik des dramatischen Textes kurz zusammenfasst: „Das Spiel verquickt mit frohem Märchenzauber ernste Wahrheiten. Es ist so recht bestimmt, von der Schule und Jugendbühne das Seichte mit vertreiben zu helfen. Es will mithelfen am edlen Werke moderner Jugenderziehung. Die Melodien sind leichtfüßig und werden im Ohr der Kinder bleiben. Die Reigen und Tänze lassen sich nach dem Rhythmus der Melodien ungezwungen aufbauen, unter Verwendung der schöpferischen Kräfte, die im Kinde ruhen.“61
Wenn in den Stücken eine phantastische Märchenwelt aufscheint, dann findet dies immer unter Bezugnahme auf die Wirklichkeit statt. Mit vertrauten Figuren wird ein zukünftiges Bild von Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe und Klassengleichheit entworfen. Während sich in Auerbachs Aschenbrödel die Titelfigur nicht für den Prinzen, sondern für einen Jungen aus dem Volk entscheidet, konstatieren die Zwerge in Das verlorene Lachen: „Die Menschen sind selbst schuld daran, / daß es nicht besser werden kann. / Schön ist die Erde und groß und reich. / Sie könnten leben, wenn alle gleich; / wenn nicht zertreten heilige Rechte. / Wenn nicht Herren die einen, die andern nur Knechte.“ (Das verlorene Lachen, II. Akt, 3. Szene). Und auch in Bethges Prinzessin und Prolet. Lichtfestspiel mit Gesang von 1929 findet gleichsam eine Umdeutung und Ironisierung konventionalisierter Strukturmerkmale der Gattung Märchen statt. Die Form des Märchens wird geradezu persifliert. In dem „überaus lustigen, an Zeitideen reichen Spiel“ sind die „einzelnen Auftritte durch proletarische Lichtfestlieder eingeleitet.“62 Man strebt eine Emotionalisierung der Zuschauer an, denn das Ganze ist „von bewegten stimmungsvollen Melodien durchzogen.“63 Die Prinzessin Tsch-sch-sch-sch-schtsch-tsch verzichtet am Ende der Handlung auf ihren Thron, weil sie sich in einen Proleten verliebt hat. Ebendieser Prolet, Genosse Meckert, hatte sich zuvor
61 Renker, Das verlorene Lachen, o.S. (Inhaltsangabe). 62 Frank, Prinzessin und Prolet, o.S. (Inhaltsangabe). 63 Ebd.
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selbstlos für die Armen engagiert und damit seine Verhaftung riskiert. Obwohl das Stück angeblich in „irgend einem winkligen Märchenland unserer Phantasie“64 spielt, ist die Handlung nicht unbestimmt in Zeit und Raum situiert, weist Bezüge zur Lebenswirklichkeit möglicher Zuschauer auf. Darauf gibt auch die Angabe, dass Prinzessin und Prolet in der „Gegenwart“65 spiele, einen eindeutigen Hinweis. Die Minister beispielsweise sind durchaus als aktuelle, politische Karikaturen interpretierbar.66 Außerdem wird mit der Figur des Proleten nicht auf das archetypische Figurenrepertoire des Märchens zurückgegriffen. Das Ende stellt gewissermaßen eine Umkehrung traditioneller Erzählstrukturen dar: Die Prinzessin findet nicht ihren Prinzen, mit dem sie gemeinsam ein Königreich regieren wird, sondern entscheidet sich für einen Proleten und infolgedessen gegen ihren Thron und das Herrschen. Der Sozialismus trägt einen Sieg davon.
7.2.4 Neue soziale Weihnachts-Bühne In den weihnachtlichen Spielen, die in der Reihe Neue soziale WeihnachtsBühne erscheinen, kommen ähnliche Diskursstrategien wie bei den zuvor beschriebenen Sonnenwend- und Märchenspielen zur Anwendung, außerdem scheinen ähnliche Topoi wie bei älteren sozialdemokratischen weihnachtlichen dramatischen Texten auf.67 Diese weihnachtlichen Spiele sind zum Teil in
64 Ebd. 65 Ebd. 66 Vgl. Weinkauff, Bethges Ästhetik, S. 71. 67 Hespe, Ludwig: Ein Sklave des Kapitals. Schauspiel mit Gesang und lebenden Bildern in vier Akten. Leipzig 1921 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 2). / Renker, Felix: Schutzhaft oder Eine unterbrochene Weihnachtsbescherung. Komödie in einem Akt. Leipzig 1921 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 4). / Ders.: Der Erwerbslosen Weihnachten. Lebensbild mit Gesang in einem Akt. Leipzig 1921 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 6). / Baumgardt, Wilhelm: Die Heimkehr des Rebellen am Weihnachtsabend. Lebensbild in einem Akt. Leipzig 1921 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 7). / Opel, Hans: Arbeitslos am Weihnachtsabend. Lebensbild mit Gesang in 2 Akten. Leipzig 1921 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 8). / Werner, Heinrich: Des Siegers Heimkehr. Leipzig 1925 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 9). / Erdmannsdorffer, Friedrich: Das Fest der Liebe. Lebensbild in drei Akten. Leipzig 1925 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 11). / Werner, Heinrich: Arbeiter-Weihnachten. Lebensbild mit Gesang in einem Akt. Leipzig 1925 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 12). / Troppenz, Walter:
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Mundart geschrieben, die Figuren erscheinen nahbar, Ideologien werden vereinfacht vermittelt, nichts ist intellektuell verklausuliert, komplexe Zusammenhänge fehlen. Gleichwohl sind sie in ihrer sprachlichen Gestaltung deutlich sentimentaler als die Sonnenwend- und Märchenspiele gehalten, geben sich teilweise weniger aggressiv agitatorisch. Entgegen der Ausrichtung bürgerlichen Weihnachtstheaters oder weihnachtlichen Kriegstheaters ist aber auch hier nicht mehr die Nation, Konfession oder die eigene Familie Leitdifferenz, sondern die Klasse. Beinahe alle Stücke kontrastieren tugendhafte engagierte Arbeiter mit negativ gezeichneten Vertretern anderer, primär reicher Schichten. Lediglich Ärzte werden des Öfteren als emphatisch und solidarisch dargestellt. Aufgrund dieses dramaturgischen Verfahrens erscheinen die Arbeiter latent isoliert und als von der Gesellschaft geradezu dazu genötigt, eine Solidargemeinschaft zu bilden. Die vorrangig für Vereinsweihnachtsfeiern68 konzipierten Spiele wollen Identität stiften, eine solidarisierende und sozial gesellschaftliche Wirkung entfalten. Gemeinsames Spiel kann auf diese Weise als Vehikel fungieren. Bekräftigungen des gegenseitigen Zusammenhalts der fiktiven Figuren untereinander, können wie etwa in Friedrich Erdmannsdorffers Das Fest der Liebe ein Publikum zur Identifikation anregen, wo der Maschinenschlosser Friedrich Baumgart verlauten lässt: „Und wir wollen unser Leben der Befreiung des Volkes widmen. Das ge-
Und wieder ist ein Mensch gekreuzigt. Dramatisches Weihnachtsbild der Gegenwart in einem Aufzug. Leipzig 1925 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 16). Alle Zitate folgen diesen Ausgaben. 68 In Schutzhaft oder Eine unterbrochene Weihnachtsbescherung wird interessanterweise der von der Neuen Sozialen Weihnachtsbühne favorisierte Aufführungskontext thematisiert: Ein Amtmann verbietet eine öffentliche Weihnachtsfeier der sozialdemokratischen Partei und lässt den Arbeiter Konried, der dort eine Rede halten wollte, verhaften. Falls dieses Spiel tatsächlich auf einer Weihnachtsfeier von Arbeitern gegeben wird, kann mithilfe dieses festtheoretischen Elements die Möglichkeit staatlicher Willkür fassbarer und die Ausgestaltung der eigenen Feier mit dem im Stück präsentierten Entwurf abgeglichen werden: „Da in dieser unruhigen Zeit alles vermieden werden muss, was zur Aufpeitschung der ohnehin genug erregten Gemüter führen kann, verbiete ich hierdurch die Abhaltung der von der sozialdemokratischen Partei geplanten Weihnachtsfeier. Programm-Nummern wie: Eine Rede des Redakteurs Konried über Weihnachtsevangelium und Revolution, ferner die Aufführung eines Theaterstücks mit dem aufreizenden Titel: Die rote Stunde, der Gesang von Freiheitsliedern, ausgesprochen revolutionärer Tendenz, die Darstellung eines Lebenden Bildes: Des Volkes Not, sind geeignet, die öffentliche Ordnung zu stören.“ Schutzhaft, 2. Auftritt.
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loben wir bei dem Schein der Kerzen, am Feste des Lichtes und der Liebe!“ (Das Fest der Liebe, III. Akt, 7. Szene) Persönliche Konflikte der auftretenden Figuren werden stets als repräsentativ für Konflikte der Arbeiterklasse und eines kollektiven Proletarierschicksals dargestellt. Dementsprechend in den Dienst der Interessen der Arbeiter und Arbeiterbewegung gestellt, erfährt das Weihnachtstheater eine politische Indienstnahme. Die Autoren streben zumeist eine Agitation oder zumindest Sensibilisierung und Emotionalisierung der Zuschauer im Rahmen einer szenischen Realisation des Textes an. In Felix Renkers Der Erwerbslosen Weihnachten verkündet der Arbeitslose Winkler entschlossen: „Und heute wollen wir Weihnachten feiern! Weihnachten! Zum letzten Male im Heime der Erwerbslosen und das schwöre ich heute angesichts des Weihnachtsbaumes, meinen Teil will ich dazu beitragen. Arbeit, immer neue Arbeit zu schaffen, um den Feind, Erwerbslosigkeit genannt, vertilgen zu helfen, der an der besten Kraft unseres Volkes nagt!“ (Der Erwerbslosen Weihnachten, 5. Auftritt)
Der Blick der dramatischen Texte ist in die Zukunft gerichtet. Der Status quo wird nicht als positiv beschrieben. So fragt der Kriegsheimkehrer Karl Hecht in Heinrich Werners Des Siegers Heimkehr etwa: „Und den Menschen ein Wohlgefallen. Wann wird dieses Wort für die Menschen in Erfüllung gehen?“ (Siegers Heimkehr, 5. Szene) Weihnachten wird als Möglichkeit inszeniert, sich zumindest temporär über den täglichen Kampf ums Dasein zu erheben. Gleichzeit findet mit der Vergangenheit ebenfalls immer wieder eine gezielte Auseinandersetzung statt. In Werners Spiel kehrt der für tot erklärte Soldat Fritz als Krüppel am Weihnachtsabend endlich nach Hause zu seiner Mutter und Verlobten zurück. Er ist ein gebrochener Mann, wird im Text aber als kriegskritischer, sozialistischer Soldat zum Helden verklärt. Nachdem er über die Schrecken des Krieges und des Soldatentums reflektiert hat und seine Mutter einen Herztod stirbt, vergiftet er sich. Seine Verlobte jedoch, erlöst von einer Zukunft mit einem Kriegsinvaliden, wird von Dr. Müller zur Frau genommen: „Wir alle wollten als Sieger heimkehren. Belgien, Rußland, Serbien, Montenegro und Rumänien habe ich mit erobert. In Italien und in Frankreich bin ich von Sieg zu Sieg gestürmt. Für mich war keine Kugel gegossen. Wieviel blühende Menschenleben habe ich auf dem Gewissen. Wie oftmals bin ich zum Mörder geworden, gezwungen durch die eiserne Disziplin.“ (Ebd., 5)
Die enttäuschten Hoffnungen der aus dem Krieg heimgekehrten und nun arbeitslosen Männer offenbaren sich in Der Erwerbslosen Weihnachten beispielsweise
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im Reden über das Weihnachtsessen: „Ich habe mal Zeit gekannt, da gab es Karpfen am Weihnachtsabend.“ (Der Erwerbslosen Weihnachten, 1. Szene) Alle Stücke spielen am Weihnachtsabend zu Hause bei einer Familie, meist im Wohnzimmer. Nur das im Erwerbslosenheim situierte Der Erwerbslosen Weihnachten und Walter Troppenz’ Und wieder ist ein Mensch gekreuzigt, das in einem Dorf spielt und „das soziale Elend und die Blindheit der Unterdrückten mit großer Schärfe zeigt“,69 bilden Ausnahmen. Weihnachten ist fast durchweg als Fest der Liebe und der Familie in Szene gesetzt.70 In Felix Renkers Schutzhaft oder Eine unterbrochene Weihnachtsbescherung kompromittiert der sozialdemokratische Redakteur Walther Konried, der eigentlich auf einer vom Amtmann Unruh verbotenen sozialdemokratischen Weihnachtsfeier eine Rede hat halten wollen, den Amtmann selbstbewusst aus seiner Wohnung: „Dann Herr Amtmann, wünsche ich Ihnen vergnügte Weihnachten! Und nun Schatz, wollen wir bescheren!“ (Schutzhaft, 10. Auftritt) Geruhsame, liebevolle Bescherfeiern im Familienkreis werden als Ideal zementiert. Der Tannenbaum wird als weihnachtliches Symbol durchweg bestätigt, wie z.B. in Wilhelm Baumgardts Die Heimkehr des Rebellen am Weihnachtsabend: „Für das andere habe ich schon gesorgt, denn zu einer Weihnachtsfreude gehört doch auch ein Bäumchen.“ (Die Heimkehr des Rebellen am Weihnachtsabend, 2. Szene) Trotz antiklerikaler Tendenzen und expliziter Festkritik präsentieren die dramatischen Texte demzufolge keine radikalen Gegenentwürfe für eine spezifisch weihnachtliche Festkultur der Arbeiter oder eröffnen gar vollständig neue Perspektiven auf das Fest. Gleichzeitig spielen eigentliche Feiern mitsamt Bescherritual keine größere Rolle. Stattdessen erlebt man Familien, die ihre Weihnachtsfeier vorbereiten und zunächst Konflikte überwinden müssen, um das Fest im Folgenden in Ruhe begehen zu können. Positive Wendungen ermöglichen einen Neuanfang. Im Krieg Vermisste kehren nach Hause zurück. Paare finden sich erneut, Verlobungen werden geschlossen, Väter und Söhne versöhnen sich. Obschon Weihnachten wie in dramatischen Texten des 19. Jahrhunderts als Szenerie dient, symbolisch eine geglückte familiäre Einheit darzustellen, repräsentiert Familie hier keinen von der Öffentlichkeit gleichsam unabhängigen, hermetischen Rückzugsort. Die Figuren bleiben hingegen stets einer gewissen Willkür der besitzenden und herrschenden Klasse unterworfen, sehen sich daher weniger mit Konflikten in Liebesangelegenheiten, als vielmehr mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Familie ist nie ein in sich geschlossener Verbund, bleibt stattdessen stets im Kontakt mit einem Draußen. Außerdem erfahren auch
69 Troppenz, Und wieder ist ein Mensch gekreuzigt, o.S. (Inhaltsangabe). 70 Vgl. Siegers Heimkehr, 1. Szene.
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andere Gruppen sich insbesondere an Weihnachten als familienähnliche Gemeinschaften, oder wie es der Diener Johann in Hans Opels Lebensbild Arbeitslos am Weihnachtsabend formuliert: „Darum sollten alle Arbeitenden ohne Unterschied kollektiv denken und fühlen lernen und sich in fester Solidarität zusammenschließen.“ (Arbeitslos am Weihnachtsabend, I. Akt, 4. Szene) Die Texte appellieren in diesem Sinn daran, sich fortwährend ein Mitdenken für die Anderen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu bewahren. Zahlreiche Figuren demonstrieren Mitgefühl Menschen gegenüber, mit denen sie nicht verwandt sind, denn: „Proletarier sollen sich immer gegenseitig in der Not helfen.“ (Ebd., I. Akt, 10. Szene) Folglich lehnen diese Weihnachtsspiele trotz radikaler Anprangerung sozialer Verelendung, Arbeitslosigkeit, Inflation und mithin explizierter Kapitalismuskritik Konsum und damit das Bescherfest nicht grundsätzlich ab, nehmen die Schwierigkeit der Teilhabe an einer intensiven Schenkkultur aber zum Anlass für Gesellschaftskritik. So äußert sich der als durchweg negativ charakterisierte Fabrikant Otto Behrens in Arbeitslos am Weihnachtsabend beispielsweise: „Das Fest der Liebe soll man festlich begehen. Das heißt, wer die Moneten dazu hat. Die anderen können meinetwegen sich n Lichtstumpf auf ne leere Bierflasche stecken und auf’m Kamm die Hungerpolonäse dazu blasen.“ (Ebd., I. Akt, 3. Szene) In diesem Sinn erzeugt in mittellosen Familien der Wunsch nach Erfüllung von Festerwartungen, die ein großes Essen, Geschenke und einen Weihnachtsbaum umfassen, oftmals einen nicht unerheblichen innerfamiliären Druck, der in dem als Sprechchor konzipierten Arbeiter-Weihnachten Heinrich Werners einen Familienvater sogar den Verstand verlieren lässt. Maßloser Konsum wird durch Vertreter der Arbeiterschaft vehement kritisiert, oder um wieder Diener Johann zu Wort kommen zu lassen: „Und dann die vielen Geschenke für die Kinder. N elektrischer Luxuszug mit allen erdenklichen Schikanen und n Filmaufnahmeapparat und n Hauskino und sonst noch was. Und das alles für zwei kleine Göhren, die noch nicht einmal zur Schule gehen, in einer Notzeit, wo tausende Erwachsene nach einem Stück trocknem Brot schreien.“ (Ebd.)
Religion wird entweder kritisch gesehen, abgelehnt, oder kann zumindest nicht mehr über alle Lebensbereiche hinweg Zusammengehörigkeit stiften. Auch Weihnachtsbräuchen, die das irrationale Moment des Fests verstärken, begegnet man skeptisch. Der Weihnachtsmann wird von vielen Arbeitern als Schwindel deklariert.71 Der Grundton aller Stücke ist bestimmt durch die Hochschätzung
71 Vgl. etwa Arbeiter-Weihnachten, 8. Szene.
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und das Lob des Glaubens an die Ideale des Sozialismus. Trotz der kritischen Haltung dem offiziösen Christentum gegenüber, wird hiermit durchaus eine kultisch semireligiöse Dimension eingeführt. Die Ermöglichung einer Emotionalisierung von Zuschauern bei einer Aufführung sowie die gezielte Erzeugung eines Gefühls von Gemeinschaft über Identifikation und Partizipation ähneln der Gestaltung religiöser Riten. Die Integration von Musik verstärkt dieses Moment. Chöre und Lieder werden zu klanggewordenem Ausdruck eines Glaubens an die sozialdemokratischen Ziele und Ideale. Musik übernimmt aktivierende, erzieherische, gesellschaftskritische und gemeinschaftsstiftende Funktionen. 72 Sie stimuliert eine Vielzahl an Bedeutungs- und Assoziationsebenen, die mit der privaten und politischen Sphäre verknüpft sind, ist programmatisch und emotional aufgeladen. Weihnachtslieder mit religiösen Inhalten bleiben ausgeklammert, oder sind wie „Stille Nacht“ mit neuem Text versehen. Zusätzlich wird oftmals auf Ernst Heinrich Bethges Liedersammlung Lichtfestlieder rekurriert. Es kommt also in den Spielen sowohl durch den Rückgriff auf die Metapher von Weihnachten als Moment des Neubeginns, der Geburt, der Freiheit, Liebe und der Utopie von Frieden auf Erden, als auch durch die Integration von Weihnachtsliedern zu zahlreichen Anleihen aus dem christlichen Bereich. Auf diese Weise wird die christliche Weihnachtsbotschaft gleichsam umgeformt, umformuliert in eine sozialistische Botschaft, wie an einem Textausschnitt aus Ludwig Hespes Ein Sklave des Kapitals deutlich wird: „Übrigens ist heute heiliger Abend. Wir Proletarier feiern ja nicht die Geburt des Nazareners, sondern lassen nur die Sitte gelten. Wir wissen, wer unser Heiland ist und was uns glücklich, wenn auch nicht selig machen kann. Es ist die Freiheit, die goldene Freiheit, nach der Tausende und Abertausende seufzen aus Nacht und Elend. Auf unserer Fahne steht es geschrieben: ‚Wir wollen den Frieden, Freiheit und Recht, daß niemand sei des anderen Knecht, daß Arbeit aller Menschen Pflicht und niemand es an Brot gebricht.‘ So lange eine kleine Anzahl Despoten uns dieses Recht verweigert, so lange eine indifferente Masse von Bürger- und Krämerseelen gleichgültig mit sich schalten und walten läßt, so lange das Pfaffentum noch versucht, die geduldigen Lämmer zu verdummen, so lange müssen wir kämpfen, kämpfen für die Befreiung aller.“ (Ein Sklave des Kapitals, IV. Akt, 6. Szene)
In Arbeitslos am Weihnachtsabend legt der arbeitslose Heinrich Leuthner ein zutiefst subversives Verhalten an den Tag. Obwohl er den Weihnachtsmannbrauch entschieden ablehnt, tritt er für Geld vor den Kindern des verhassten Fabrikanten
72 Vgl. Bullerjahn, Filmmusik, S. 55.
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Behrens im Kostüm auf, nur um dann zur tiefsten Empörung und Überraschung der Eltern das Lichtfestlied Bethges „Was ist das mit dem Weihnachtsmann“ anzustimmen (vgl. Arbeitslos am Weihnachtsabend, I. Akt, 9. Szene). ArbeiterWeihnachten wiederum ist durchsetzt mit pessimistischen Sprechchören, die an die Armut der Massen erinnern und konstatieren, dass in einem Zustand höchster Not ein Fest wie Weihnachten keine Freude generieren könne: „Fröhliche, selige Weihnachtszeit? / Nichts für uns! / Nichts für Proleten! / Nichts für die Masse / ohne Moneten! / Uns bringt die Weihnachtszeit / keine Gnaden! / Nur Kummer und Sorge und Herzeleid! / Sind zu tief / ins Unglück geraten! / Viel zu tief, / daß uns keiner mehr rettet! / Bleiben ewig / auf Dornen gebettet. / Kennen auch zur Weihnachtszeit / nur Kummer und Sorge und Herzeleid!“ (Arbeiter-Weihnachten, 10. Szene)
8. Weihnachtstheater im Dritten Reich
Im Bereich weihnachtlichen Theaters finden im Dritten Reich keine signifikant neuen Entwicklungen statt. Vielmehr werden im Sinne einer Kontinuität bereits bestehende theatrale Formate wie Weihnachtsmärchen oder Krippenspiele beibehalten und, wenn überhaupt, modifiziert und ideologisch vereinnahmt,1 obgleich die Nationalsozialisten eine gezielte Umdeutung des Weihnachtsfests beabsichtigen. „Die Politisierung und Ideologisierung des Weihnachtsfests hatte im Dritten Reich – nach der (humanistischen) Säkularisierung um 1800, der schleichenden Nationalisierung spätestens seit den 1860er Jahren, schließlich der Militarisierung seit 1870 und Paganisierung seit der Jahrhundertwende – ihren Höhepunkt erreicht.“2 Der Versuch, das christliche Feierjahr durch ein nationalsozialistisches vollständig zu ersetzen,3 mündet bereits kurz nach der Machtübernahme in der Gründung parteiamtlicher Dienststellen, die mit zahlreichen Veröffentlichungen und Schulungen für die Verbreitung eines neuen privaten und öffentlichen Feierstils sorgen sollen.4 Insbesondere „Joseph Goebbels’ Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda, die Dienststelle des Beauftragten des Führers (das sogenannte Amt Rosenberg) und das dem Reichsführer der SS, Hein-
1
Zu Kontinuitäten innerhalb der nationalsozialistischen Kunst vgl.: Brock, Bazon: „Kunst auf Befehl? Eine kontrafaktische Behauptung“, in: Ders. und Achim Preiß (Hg.): Kunst auf Befehl? Dreiunddreißig bis Fünfundvierzig. München 1990, S. 7-9.
2
Gajek, Esther: „Nationalsozialistische Weihnacht“, in: Dies. und Richard Faber (Hg.): Politische Weihnacht in Antike und Moderne. Zur ideologischen Durchdringung des Fests der Feste. Würzburg 1997, S. 183-216 (S. 204). Vgl. außerdem: Foitzik, Doris: „Kriegsgeschrei und Hungermärsche. Weihnachten zwischen 1870 und 1933“, in: ebd., S. 217-252.
3
Vgl. Vondung, Magie.
4
Vgl. Gajek, Nationalsozialistische Weihnacht.
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rich Himmler, unterstellte SS-Ahnenerbe“5 engagieren sich für die Etablierung eines nationalsozialistischen Weihnachtskults. Nachdem zunächst vorrangig der Feierstil von Parteifesten kanonisiert werden soll, stehen zunehmend auch öffentliche „Weihnachts- und Wintersonnenwendfeiern und die Sammlungen des Winterhilfswerkes im Mittelpunkt der weihnachtlichen Propaganda.“6 Während in den ersten Jahren vonseiten des Propagandaministeriums eher versucht wird, kirchliche Festtraditionen zu übernehmen und zu transformieren, „Parteisymbole, typische Weihnachtssymbole und Stilelemente der christlichen Liturgie (Lesung, Ansprache, Lieder)“7 miteinander zu verquicken und von der jüdischen Heilsgeschichte zu lösen, sind spätere Unternehmungen durch eine radikalere Ablehnung christlicher Feierelemente und ein wachsendes Interesse an pseudogermanischen Weihnachtsbräuchen gekennzeichnet. Abbildung 32: Deutsche Volksweihnacht
Weihnachtsfeier im Saalbau Friedrichshain (1937) Goebbels mit Töchtern während der nationalen Lieder
5
Ebd., S. 185.
6
Foitzik, Rote Sterne, S. 87.
7
Ebd., S. 89.
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In den späten 1930er Jahren gerät die Familienweihnacht verstärkt in den Fokus. Das Propagandaministerium sowie untergeordnete Dienststellen versuchen, mithilfe vieler Ratgeber und Weihnachtsbücher einen direkten Einfluss auf die private Feiergestaltung zu nehmen. Neugeschaffene nationalsozialistische Bräuche sollen christliche Weihnachtsbräuche ersetzen, oder man probiert, diese auf vermeintlich ältere germanische Traditionen und Bräuche zurückzuführen.8 Auch bekannte Weihnachtslieder versucht man beispielsweise durch entchristlichte bzw. heidnische Weihnachtslieder auszutauschen, eine Initiative, an der sich die Kirchen ebenfalls zum Teil im Rahmen einer ‚Entjudung‘ ihrer Gesangsbücher beteiligen.9 Allerdings erzielt der Versuch einer nationalsozialistischen Einflussnahme auf die private Feierkultur einen nur mäßigen Erfolg. Die meisten Familien behalten ihre über Jahrzehnte tradierte weihnachtliche Festgestaltung bei. „Sowohl die mythologischen Interpretationen des Weihnachtsfestes wie auch die – pseudogermanischen – Handlungsschablonen der Nationalsozialisten erwiesen sich als hohle, dennoch geistig gefährliche Spinnerei. Die Julfeiern erreichten nämlich zwischen 1933 und 1945 nur einen kleinen Teil der Bevölkerung; Weihnachten wurde in diesem Sinn nie ein ‚deutsches‘, ein ‚germanisches‘ Fest. Die Menschen hielten vielmehr an den christlichen Formen fest, nicht als Ausdruck einer politischen oder geistigen Gegnerschaft, sondern aus Überlieferung und Gewöhnung, auch dann noch, als mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zur geistigen die materielle Not kam.“10
Darstellendes Spiel bleibt in den meisten Veröffentlichungen ausgeklammert, stellt somit in den Entwürfen für eine nationalsozialistische Weihnachtsfestkultur kein zentrales Element dar. Das 1937 vom Hauptamt für Erzieher der NSDAP herausgegebene Heft Fest- und Freizeitgestaltung etwa widmet sich ausführlich den „Grundsätzen nationalsozialistischer Feiergestaltung“. 11 Feiern werden als „Glaubensbekenntnis, Gemeinschaftsbezeugung, Höhepunkt im Le-
8
Vgl. ebd., S. 92
9
Vgl. Lambrecht, Jutta: „Nicht jede Musik passt für jeden. Anmerkungen zur Musik im Dritten Reich“, in: Kunst auf Befehl, S. 137-159.
10 Daxelmüller, Julfest, S. 24ff. 11 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Hauptamt für Erzieher Hauptstelle Schulung Fest- und Freizeitgestaltung im NSLB (Hg.): Amtliche Mitteilungsblätter der Hauptstelle Schulung im Hauptamt für Erzieher der NSDAP. Nummer 4 (1937), S.10ff.
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bensrhythmus eines Volks“12 definiert. Weihnachten sei das Fest der Familie und solle es auch bleiben: „Nehmt darum der Familie, der Sippe, nicht das einzige Fest des Jahres, wo im Schein der flammenden Kerzen, bei Bescherung, Festmahl und Minnetrunk und den aufwachenden Berichten von Ahnen, Toten und lebenden Verwandten sich die Bande des Blutes so fest schmieden wie zu keiner anderen Zeit des Jahres, wo die Urzelle der Volksgemeinschaft in Liebe und Treue neu ersteht.“13
Auch die Soldatenblätter für Feier und Freizeit von 1941, die Gedichte, Erzählungen, Lieder und Bilder umfassen,14 oder Deutsche Kriegsweihnacht 1941 lassen Theaterspiel außen vor.15 Abbildung 33: Nationalsozialistische weihnachtliche Feierstunde
Deutsche Kriegsweihnacht (1941)
12 Ebd. 13 Ebd., S. 27. 14 Oberkommando der Wehrmacht. NS-Führungsstab (Hg.): Soldatenblätter für Feier und Freizeit. 2. Jahrgang (1941). 15 Hauptkulturamt in der Reichspropagandaleitung der NSDAP: „Vorschläge zur Gestaltung einer Feierstunde. Deutsche Kriegsweihnacht 1941“, in: Dies. (Hg.): Deutsche Kriegsweihnacht. Sonderdruck zur Ergänzung des Parteiarchivs für nationalsozialistische Feier- und Freizeitgestaltung. Berlin 1941, S. 58-63.
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Abbildung 34: Festdramaturgie
Deutsche Kriegsweihnacht (1941)
Die Neue Gemeinschaft von 1942, die Vorschläge zur Feiergestaltung der Deutschen Kriegsweihnacht liefert, enthält ebenfalls keine Spiele. Neben Chören, Liedern, Ansprachen und Vorträgen werden zwei Beispiele für eine mögliche Gestaltung vorweihnachtlicher Morgenfeiern der NSDAP angeführt. Deren Ablauf variiert abhängig davon, ob neben dem Chor der Hitlerjugend und zwei Sprechern „instrumentale Gestaltungsmittel zur Verfügung stehen“16 oder nicht. In den verschiedenen Abhandlungen zur Feiergestaltung wird das Weihnachtsfest vor allem zur Konstruktion eines deutschen Nationalstolzes herangezogen, der Etablierung neuer Feierstile scheint keine große Relevanz beigemessen zu werden: „Kein anderes Volk der Erde hat diesen Festkreis mit solch tiefem Glanz erfüllt, wie das deutsche; und immer wieder erleben wir es, daß da, wo deutsche Landsmänner tief im Feindesland, oder Deutsche irgendwo im Ausland Weihnachten auf ihre Art, in der ihnen
16 Hauptkulturamt in der Reichspropagandaleitung der NSDAP (Hg.): Die neue Gemeinschaft. Heft 11 (1942), S. 626f.
340 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR lieb gewordenen, herkömmlichen Weise begehen, Andersvölkische dies kaum verstehen und begreifen können.“17
Die deutsche Schulfeier von 1939 wiederum befürwortet zwar entschieden die Integration von Laienspiel in den Schulalltag Jugendlicher, enthält aber in der Dezemberbeilage im Gegensatz zu den anderen Monaten keinerlei Spiele: „Aus dem Eifer, mit dem die führenden Spielverlage neue Spiele vorlegen, darf auf immer neuen Spieleifer geschlossen werden. Dieser Schluss ist durchaus erfreulich. […] Diese neuen Spiele deuten in ihrer Form wie in ihren Stoffen darauf hin, daß das Jugend- und Laienspiel immer entschiedener sich der bloßen Augenblicksaktualität zu entwinden sucht, damit auch über die bloß rednerische Forderung hinauswächst zur Gestaltung völkischer Lebensinhalte.“18
In manchen Publikationen sprechen sich die Autoren, die oft anonym bleiben, sogar dezidiert gegen darstellendes Spiel aus, begründen ihre Ablehnung vor allem aus den christlichen Elementen der Spiele heraus. Die von der „Deutschen Glaubensbewegung“ 1933 herausgegebene Broschüre Lieder zur deutschen Weihnacht beispielsweise lehnt Krippenspiele als „undeutsch“ ab. 19 Die neue Gemeinschaft schreibt 1937: „Es besteht für uns keinerlei Veranlassung, in der ‚Volksweihnacht‘ Engel, Hirten oder Gestalten der kirchen-christlichen Legende auf die Bühne zu bemühen.“20 Doch wenngleich darstellendes Spiel als möglicher Bestandteil einer weihnachtlichen Festkultur in den verschiedenen Publikationen nicht diskutiert oder reflektiert und nicht nennenswert viele neue Stücke produziert werden, findet auch im Dritten Reich eine intensive Beschäftigung zahlreicher Volkskundler, Germanisten und Historiker mit alten Weihnachtsspielen statt. Dies ist zumeist wie bereits im 19. Jahrhundert volkstumsideologisch begründet und geschieht nicht primär aus einem Interesse am religiösen Kern der dramatischen Texte. Ei-
17 Ebd., S. 621. 18 Die deutsche Schulfeier. Berater für die Spiel-, Feier- und Freizeitgestaltung der deutschen Schulen und Schulgemeinden. Band 4 (1939), S. 328. 19 Deutsche Glaubensbewegung (Hg.): Lieder zur deutschen Weihnacht. Deutsche Glaubensbewegung, Landesring Hamburg-Niederelbe. Hamburg o.J. [um 1933], S. 3f. 20 O.A., in: Hauptkulturamt in der Reichspropagandaleitung der NSDAP (Hg.): Die neue Gemeinschaft. Heft 11 (1937), S. 3004b.
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ne Vielzahl an Spielen21 und Studien zu Spielen und Umzugsbräuchen22 wird herausgegeben, in selteneren Fällen finden sich ältere Spiele auch in Publikatio-
21 Zum Beispiel: Wilz, Leo: „Fränkische Weihnachtsspiele“, in: Die Frankenwarte. Blätter für Heimatkunde. Beilage zum Würzburger General-Anzeiger, 20. und 28. Dezember 1934, o.S. / Benyovszky, Karl: Die alten Preßburger Volksschauspiele. Bratislava 1934. / Hartmann, Rudolf: „Das Spiel vom König Herodes“, in: Ungarische Jahrbücher. Band 14 (1934), S. 76-90. / Fliege, Werner: „Die Freude ist nah, der Heiland ist da. Das Oberkatzer Weihnachtsspiel von Ludwig Wucke“, in: Das Thüringer Fähnlein. Band 3. Heft 12 (1934), S. 816-819. / Mössinger, Friedrich: „Ein Odenwälder Weihnachtsumzug“, in: Hessische Blätter für Volkskunde. Band 35 (1936), S. 88-95. / Hoefer, Conrad: „Zwei alte Weihnachtsspiele aus der Rhön“, in: Heimatblätter für den Kreis Eisenach. Band 4 (1936), S. 60-80. / Mössinger, Friedrich: „Ein Odenwälder Dreikönigsspiel“, in: Volk und Scholle. Band 18 (1937), S. 7-20. / Schmidt, Leopold: Alte Weihnachtsspiele, gesammelt in Niederösterreich. Wien 1937. / Mahr, Otto: „Das Weihnachtsspiel von Oberkatz“, in: Volk und Volkstum. Jahrbuch für Volkskunde in Verbindung mit der Görres-Gesellschaft. Band 3 (1938), S. 357-370. / Rotter, Friedrich: „Das große Christkindspiel von Spornhau“, in: Schlesische Blätter für Volkskunde. Band 3 (1941), S. 56-70. / Au, Hans von der: „Odenwälder Dreikönigsspiele“, in: Beiträge zur hessischen Kirchengeschichte. Band 12 (1941), S. 382-390. 22 Zum Beispiel: Moser, Hans: „Zur Geschichte des Winter- und Sommerkampfspiels“, in: Bayerischer Heimatschutz. Band 29 (1933), S. 33-40. / Ders.: „Volksschauspiel“, in: Die deutsche Volkskunde. Band 1 (1934), S. 349-351. / Ders.: „Zur Geschichte des Sternsingens“, in: Bayerischer Heimatschutz. Band 31 (1935), S. 19-30. / Landmann, Eva: „Die Strohmänner zu Wenigenjena. Ein thüringischer Volksbrauch“, in: Mitteldeutsche Blätter für Volkskunde. Band 11 (1936), S. 17-20. / Adrian, Karl und Leopold Schmidt: Geistliches Volksschauspiel im Lande Salzburg. Salzburg 1936 (Texte und Arbeiten zur religiösen Volkskunde. Band 2). / Geiger, Paul: Deutsches Volkstum in Sitte und Brauch. Berlin 1936. / Kuhn, Adalbert: Märkische Sagen und Märchen, nebst einem Anhang Gebräuche und Aberglauben. Berlin 1937. / Winter, Herbert: „Mittwinterliche Gestalten unserer Landschaft“, in: Volk und Scholle. Band 15 (1937), S. 319. / Glaser, Hanna: Die Bedeutung der christlichen Heiligen und ihrer Legenden für Volksbrauch und Volksmeinung in Deutschland. Heidelberg 1937. / Moser, Hans und Raimund Zoder: Deutsches Volkstum in Volksschauspiel und Volkstanz. Berlin 1938, S. 81ff (Deutsches Volkstum. Band 3). / Kube, Siegfried: „Gestalten der Weihnachtszeit im mitteldeutschen Raum“, in: Mitteldeutsche Blätter für Volkskunde. Band 13 (1938), S. 237-250. / Moser, Hans: „Neue archivalische Belege zum Perchtenlaufen“, in: Bayerische Hefte für Volkskunde. Band 12 (1939/40), S. 62-80. / Winter, Herbert: „Mittwintergestalten in Odenwald, Spessart und Rhön“,
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nen zur Feiergestaltung. In Deutsche Feierstunden. Band 6 ist zum Beispiel ein niederschlesisches Adventsspiel von 1800 enthalten, im 7. Band ein als „nordisch“ bezeichnetes altes Weihnachtsspiel, das zum Großteil auf Plattdeutsch ist.23 Daneben entsteht in den 1930er und 40er Jahren „eine ungewöhnlich große Zahl von Veröffentlichungen über Weihnachten“,24 die sich vorrangig mit „der Frage nach germanischen Elementen im christlichen Weihnachtsfest“25 beschäftigen und den Versuch unternehmen, die verschiedenen Elemente des Weihnachtsfests aus ihrem vermeintlich germanischen Erbe herzuleiten.26 So notiert Karl-Heinz Bolan 1941 in Deutsche Weihnachten. Ein Wegweiser für Gemeinschaft und Familie: „Weit zurück in die Geburtsstunden des nordischen Menschen reichen die Wurzeln dieses Festes, da bei den polarkreisnahen germanischen Bauern zum ersten Mal wieder tief im Süden am Horizonte der blitzende Strahl der lebensspendenden Sonne schimmerte und neues Werden und Wachsen siegreich verhieß. Nordisches Gotterleben spricht aus dem Brauchtum.“27
In Hinblick auf die weihnachtliche Spielplangestaltung professioneller Theater im Dritten Reich lassen sich keine signifikant neuen Entwicklungen feststellen. 28
in: Deutsche Volkskunde. Band 2 (1940), S. 184-190. / Wähler, Martin: Thüringer Volkskunde. Jena 1940. / Christmann, Ernst: „Vom ‚Peltznickel‘ und ‚Christkindel‘ zu Wodan und Perchta“, in: Westmärkische Abhandlungen zur Volkskunde. Band 5 (1941/42), S. 313-330. 23 Deutsche Feierstunden. Band 6 (1936) und 7 (1936). 24 Gajek, Nationalsozialistische Weihnacht, S. 190. 25 Ebd. 26 Zum Beispiel: Becker, Albert: „Urkundliches zur Geschichte des Weihnachtsfestes“, in: Hessische Blätter für Volkskunde. Band 32 (1933), S. 158-161. / Spamer, Adolf: Weihnachten in alter und neuer Zeit. Jena 1937. / Lefftz, Joseph: Elsässische Weihnacht. Kolmar 1941. 27 Bolan, Karl-Heinz (Hg.): Deutsche Weihnachten. Ein Wegweiser für Gemeinschaft und Familie. Berlin 1941, S. 11. 28 Zum Theater im Dritten Reich vgl. etwa Wardetzky, Jutta: Theaterpolitik im faschistischen Deutschland. Studien und Dokumente. Berlin 1983. / Wulf, Joseph: Das Theater im NS-Staat. Szenarium deutscher Zeitgeschichte 1933-1945. Düsseldorf 1983. / Henning Rischbieter (Hg.): Theater im „Dritten Reich“. Theaterpolitik, Spielplanstruktur, NS-Dramatik. Seelze 2000.
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An Weihnachten dominieren weiterhin eskapistische Tendenzen die Spielpläne. Im Dezember 1933 beispielsweise sind die Spielpläne in Deutschland bunt gemischt, neben Märchenspielen wie Peterchens Mondfahrt finden sich Opern wie Don Giovanni oder Hänsel und Gretel. Görners Werke werden hingegen kaum noch gespielt. Viele neue Weihnachtsmärchen wie Karla Königs Die goldene Gans. Weihnachtsmärchen in 7 Bildern, Heinz Sauermanns Annchen mit dem goldenen Schuh. Weihnachtsmärchen, Hans W. Fischers Die Wanderung zur Krippe. Deutsches Weihnachtsmärchen in 5 Bildern mit Musik von Karl Schmidtgen, Hans Joachim Malbers Knurks hat doch ein Herz. Weihnachtsspiel in 6 Bildern mit Musik von Carl Ferrand oder Liesels Reise mit dem Wolkenmann. Weihnachtsmärchen in 6 Bildern kommen zur Uraufführung.29 Bisweilen werden in den kommenden Jahren auch Werke wie Das Christelflein, Falckenbergs Ein deutsches Weihnachtsspiel oder Görners Aschenbrödel gegeben, gleichzeitig setzen die Theaterleiter populäre Titel wie Aida, Tannhäuser, Madama Butterfly oder Die Zauberflöte auf das Programm. Insbesondere Wagners Opern werden oft und an vielen Orten auf die Bühne gebracht. Noch 1939 gibt es mit Weihnachtsmärchen wie Prinzessin Blütenschnee und der Zauberer, Die Weihnacht im Märchenwald oder Anneliese Diefenachs Engelchen Bengelchen zahlreiche Uraufführungen, außerdem spielt man Stücke wie Maske in Blau, Peer Gynt oder Hänsel und Gretel.30 Insgesamt ist davon auszugehen, dass im Sinne der nationalsozialistischen Spielplanpolitik der Anteil von Stücken ausländischer, jüdischer und anderer politisch nicht genehmer Autoren auch im Dezember reduziert wird. Da aber bereits vorher das weihnachtliche Theater ein vornehmlich deutsches, eskapistisches, rückwärts gewandtes, der Avantgarde fernes und oftmals volkstumsideologisch beeinflusstes war, sind die Veränderungen während des Dritten Reiches in den Dezemberspielplänen nicht signifikant. Inwiefern die Weihnachtsmärchen zum Teil propagandistisch eingesetzt und auf Inszenierungsebene in den Dienst der NS-Ideologie genommen wurden, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden. Weihnachtliche Propagandastücke gibt es auf jeden Fall in nicht nennenswerter Zahl im Kontext professioneller Bühnen.
29 Deutscher Bühnenspielplan. 38. Jahrgang (1933/1934), S. 54-64. 30 Deutscher Bühnenspielplan. 44. Jahrgang (1939/40), S. 47-63.
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8.1 D AS S ÜDENDER W EIHNACHTSSPIEL 1935 erscheint Eberhard Wolfgang Möllers (1906-1972) Das Südender Weihnachtsspiel,31 eine gleichsam perfide Übermalung eines Krippenspiels und außerdem Zeugnis einer scheinbar in Südende stattgefundenen Aufführung. Südende war einst ein Vorort Berlins und gehört heute zum Bezirk Steglitz. Möller, SA-Mann und prominenter Schriftsteller chorischer Feierdichtungen und Thingspiele, schreibt schon 1932 als erster nationalsozialistischer Autor eine chorische Dichtung für eine Totenfeier.32 Nämliches drei Jahre später entstandenes Weihnachtsspiel kommentiert er in einem Nachwort recht ausführlich. Er konstatiert, dass es „unmittelbar aus dem Erlebnis der neuen Volksgemeinschaft und dem Bedürfnis, den Festen dieser Volksgemeinschaft eine eigne und würdige Gestalt zu geben, die den alten Anlaß mit einem neuen Geiste verband,“33 entstanden sei. In einem Moment, in dem man noch „mitten im Kampf“ stand, habe der SA-Sturm gemeinsam mit der Ortsgruppe Weihnachten feiern und neue Festformen etablieren wollen: „Wir wollten unser Fest neu für uns und von uns aus gestalten. Da fiel uns ein, wie unser Volk sich ganz früher einmal die Weihnachtsgeschichte zusammengereimt und dargestellt hatte, jeweils aus der Gemeinde heraus und für die Gemeinde, und wir machten unser Spiel daraus, das kein Theater sein soll, sondern in dem jeder ist, was er ist.“34
Wie Klaus Vondung in seiner Grundlagenstudie zum ideologischen Kult und zur politischen Religion des Nationalsozialismus ausführt, verstand sich die SA offenbar schon seit 1934 „nicht mehr nur als Kampfbund, sondern auch als Kulturverband. Beides, Tradition und Hinwendung zu kultureller Tätigkeit, führte auch zur Intensivierung der Feiergestaltung“.35 In diesem Sinn treten in Möllers Spiel neben Joseph, Maria, einem Evangelisten, Vorsprecher, Wirt, Engel und Chor vor allem Jonni und Seppl auf, Mitglieder des Sturms. Sie nehmen eine zentrale dramaturgische Funktion ein. Außerdem strebt der Verfasser an, dass bei einer Aufführung „die Ortsgruppenleiter
31 Möller, Eberhard Wolfgang: Das Südender Weihnachtsspiel. Berlin 1935 (Volksspieldienst. Nummer 109). Alle Zitate in diesem Kapitel folgen dieser Ausgabe. Im Text ist keine Einteilung in Szenen vorhanden, deswegen erfolgen Seitenangaben. 32 Vgl. Vondung, Magie, S. 57. 33 Möller, Das Südender Weihnachtsspiel, S. 27. 34 Ebd. 35 Vondung, Magie, S. 57.
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die heiligen drei Könige vertreten müssen und selber die Weihnachtspakete dem Christkindchen zur Verteilung übergeben, genau wie es bei uns in Südende war.“36 Als Gebrauchsdramatik reiht sich das Stück in die Tradition des Krippenspiels ein, indem Figuren, Handlungselemente sowie formale und sprachliche Charakteristika des Herbergs-, Dreikönigs-, Hirten- und Kindelwiegenspiels versatzstückartig übernommen werden. Ähnlich der Hirten in vielen Spielen sprechen Jonni und Seppl derber als die anderen Figuren, obschon nicht in Mundart. Die Spielszenen sind grundsätzlich durch chorische Gesangsnummern untergliedert, die auf gängiges weihnachtliches Liedgut wie „Lieb Nachtigall, wach auf“, „Ufm Berge, da geht der Wind“ oder „Maria durch den Dornwald ging“ zurückgreifen. Hierbei kommen ausschließlich alte Lieder, liturgische Weihnachtslieder sowie weihnachtliche Volkslieder zum Einsatz. Der Vorsprecher kommentiert und erklärt das Geschehen, wendet sich an das Publikum und leitet Szenen ein. Abbildung 35: Möllers Weihnachtsspiel
Titelblatt, Berlin (1935) 36 Möller, Das Südender Weihnachtsspiel, S. 27.
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Gleichzeitig findet eine Anpassung des christlichen Mythos rund um Christi Geburt an die Lebenswirklichkeit der Beteiligten und eine Verbrämung mit völkischem und rassischem Gedankengut statt. Eine gewisse Rückwärtsgewandtheit geht mit einer Verklärung germanischen Erbes einher. Eine dezidiert nationalsozialistische Ideologie und im Zuge dessen eine konsequente Ablehnung des Christlichen lässt sich hingegen nicht nachweisen. Im Rahmen einer deutlichen Bezugnahme auf benachbarte Regionen, „ich zieh nun schon seit vielen Tagen und Nächten / […] durch Sachsen und die Lausitz hieher“ (Das Südender Weihnachtsspiel, S. 9), kommt es aber zu einer lokalen Anbindung des Spiels, die um zeitliche Bezüge ergänzt wird: „So will ich euch für den Gottessohn / einen Stall geben aus der Inflation.“ (Ebd., S. 13) Volksnähe wird durch einfachen Witz und simple sprachliche Gestaltung gewährleistet. An vielen Stellen sind in den dramatischen Text Passagen integriert, in denen an das Bewusstsein um das eigene Deutschein des Publikums appelliert wird: „In Gottesnamen, o Weihnachtszeit, / da kann man wieder sehen, / wie mancher gute deutsche Christ / das Mitleid tut verstehen.“ (Ebd., S. 14) Gleichwohl leistet die von Möller vorgenommene Umdeutung eines Krippenspiels aber durchaus künstlerisch Dienst an der nationalsozialistischen Idee und trägt dazu bei, die SA als vermeintlich sozial engagierten Verband zu charakterisieren und zu etablieren. Wenngleich auf explizit politische Parolen verzichtet wird und die „sozialdominante politische Religion des Dritten Reichs“37 nur mit Einschränkungen in das Krippenspiel Eingang findet, kommt es auf diese Weise zu einer politischen Funktionalisierung dieses theatralen Formats. Mit seinen ersten Worten wendet sich das Spiel sowohl an die „Parteigenossen“, als auch an die „lieben Freunde und ganze sonstige liebe Gemeinde“ (ebd., S. 7). Es integriert über den Text die Mitglieder der SA-Ortsgruppe in den Kreis der anderen Zuschauer, genau so, wie bei einer Aufführung möglicherweise Kinder, Einwohner eines Ortes und SA-Mitglieder als Darsteller zusammenkommen. Alle werden zu einer Feiergemeinschaft zusammengefasst, zum Kristallisationskern der Volksgemeinschaft umgedeutet, und im Rahmen einer Auflösung von Individualität diszipliniert. Was zählt, ist die Gruppe: „Aber wenn ihr genau wollt hören / […], so müßt ihr auch ruhig sitzen bleiben, / […] damit nicht die kleinen Mädchen und Knaben, / die es gelernt und einstudiert haben, / und besonders die SA-Leute beklommen / werden und aus dem Konzepte kommen.“ (Ebd., S. 8)
37 Vondung, Klaus: „Von der völkischen Religiosität zur politischen Religion des Nationalsozialismus: Kontinuität oder neue Qualität?“, in: Puschner und Vollnhals, Völkisch-religiöse Bewegung, S. 29-41 (S. 33).
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Daneben wird auf Ebene der Handlung anhand der zwei Figuren Jonni und Seppl die soziale Wirkungsmacht der SA-Sturm-Mitglieder vorgeführt. Es kommen Diskursstrategien zur Anwendung, die Vertrauen in die SA aufbauen sollen. Einleitend verspricht der Vorsprecher dem Publikum: „Doch werdet ihr alsbald sehen, / wie die Geschicht trotzdem verläuft, / wenn die SA ins Spiel eingreift.“ (Ebd., S. 14) Die recht kindlichen Figuren Jonni und Seppl, die zunächst nicht genau wissen, wie sie sich verhalten sollen, helfen unter der Anleitung des Engels, Vorsprechers und Evangelisten Maria und Joseph. Sie versorgen sie mit einer Unterkunft, mit Essen, Trinken und kleinen Geschenken: „Jonni heiß ich, / und das da ist Seppl und allemann / Leute, auf die man sich verlassen kann.“ (Ebd., S. 25) Das anschließende in das Spiel integrierte Dreikönigsspiel nutzt der Verfasser, um Ressentiments gegen das Fremde zu schüren und es abzuwerten. So verkündet der Vorsprecher: „Doch obwohl solche Präsente in schweren / Zeiten nicht zu verachten wären, / so erhoben sich doch gewisse Bedenken / gegenüber verbindlichen Geschenken / aus zweifelhafter fremder Hand, insbesondere aus dem Morgenland.“ (Ebd., S. 24)
In diesem Sinne empfiehlt der Autor nicht nur, die drei Könige mit Mitgliedern der SA-Ortsgruppe zu besetzen, sondern parodiert auf Ebene des dramatischen Textes gewissermaßen die traditionellen Königsfiguren. Seine drei Könige stellen sich als „König Balthasar aus Hinter-Indisch-Pommern“, „König Melchior aus dem polnischen Korridor“ und „König Kaspar der Zweite, der erste ging an der Börse pleite“ vor (ebd., S. 25). Balthasar hebt ihre Zugehörigkeit zur Ortsgruppe hervor und verteilt im Namen derer Führung die Geschenke. Maria beendet daraufhin das Spiel mit einer stark moralisierenden Sequenz, auf die lediglich noch ein abschließender Satz des Evangelisten und ein letzter Choreinsatz folgen. Maria fordert die Könige auf, „Kinder und Arbeitslose“ mit den Weihnachtspaketen zu versorgen, denn so würden sie „auch in Gottes Namen das Christkind selber reich“ beschenken (ebd., S. 26). Die Könige als SAMitglieder können sich dementsprechend bei einer szenischen Realisierung des Spiels als mildtätige und großherzige Personen, als ‚wahre Christen‘, präsentieren. Möller thematisiert immer wieder aufs Neue die Tatsache, dass seine Kreation eines Krippenspiels die biblischen Geschehnisse nachvollziehbar machen und der Lebensrealität der Beteiligten annähern möchte. So betonen Jonni und Seppl etwa: „Wir sind doch keine Hirten“ (ebd., S. 17), oder „In der Bibel steht etwas von Weihrauch und Myrrhen, / aber ich kann mich da auch irren.“ (Ebd., S. 20)
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Sowohl der Prozess des Theatermachens, als auch die aktive Auseinandersetzung mit dem eigenen, deutschen, volkskulturellen Erbe werden hervorgehoben. Der Vorsprecher erklärt dem Publikum gleich zu Beginn: „Dann […] soll in unserer Mitte / und mitten im Volk, wie es zugegangen / damals wie heute, das Spiel anfangen, / das Spiel von Gott und seinem Kind.“ (Ebd., S. 8) Und der Evangelist betont an anderer Stelle: „Wir können zuguterletzt nur hoffen / daß die heilgen drei Könige sind eingetroffen, / die wie ich im Text ersehen muß, / programmmäßig erst ganz am Schluß ihr Kommen angekündigt hatten.“ (Ebd., S. 24) Neben der Bestätigung der christlichen Weihnachtsbotschaft im Sinne eines Aufrufs zur Mildtätigkeit und Nächstenliebe, die durch das Singen religiöser Weihnachtslieder um eine sinnliche Ebene und somit Möglichkeit zur direkten Affizierung ergänzt wird, ist an Möllers Krippenspiel vor allem die geschickte Integration von Repräsentanten der SA in das Spiel und die daraus folgende Vermengung mit der christlichen Dimension des Fests frappierend. Neben dem Stillen eines gemeinschaftlichen Bedürfnisses nach sinnstiftenden Impulsen kann so bei einer Aufführung ein folgenschweres, implizites Einwirken auf den gesellschaftlich politischen Raum erwirkt werden. Die SA wird als Organisation integriert und ihre gesellschaftliche Relevanz konsolidiert. Schlüsselfiguren der Handlung und des christlichen Mythos wie Hirten und drei Könige sind laut Möller mit SA-Leuten zu besetzen, die somit unverzichtbar für den Fortgang der Geschichte und die Heilsbotschaft werden. Der abschließende Satz des Chores „Freue dich, freue dich, o Christenheit!“ bekräftigt den Versuch, Gemeinde und Volk gleichzuschalten, Einigkeit im Glauben, im nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl und in der Akzeptanz neuer Organe wie der SA zu erzeugen. Die Zusammenführung von christlicher Weihnachtsbotschaft und ideologischem Kult wird verschleiert.
8.2 W EIHNACHTSFEIER IM S PORTPALAST 1933 Eine andere beachtenswerte Quelle aus dem Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung stellt ein Film dar, der die Weihnachtsfeier der Reichsbahndirektion Berlin im Sportpalast dokumentiert, welche eine neue Art der Feiergestaltung einführt. Der Film stammt aus dem Nachlass der früheren ReichsbahnFilmstelle Berlins und zeigt in reportageähnlicher Berichtsform in Ausschnitten eine für Reichsbahnangehörige und deren Familien organisierte nationalsozialis-
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tische Weihnachtsfeier.38 Wie für den nationalsozialistischen Feierstil typisch, findet die Veranstaltung demnach an einem monumentalen Ort statt, der Massen fasst und diese in eine Volksgemeinschaft transformieren kann.39 Die ideologisch ausgerichtete Weihnachtsfeier setzt sich aus vier Vorträgen und einem Weihnachtsspiel zusammen. Im Gegensatz zu Möllers Nutzbarmachung eines Krippenspiels für die Weihnachtsfeier einer Ortsgruppe in einem Wirtshaus, handelt es sich in diesem Fall um eine Nutzbarmachung des von Hans Batteux (1885-1961) neu verfassten und inszenierten Spiels Im Zeichen des Kreuzes für eine Großveranstaltung. Batteux, bis 1945 Oberspielleiter am Deutschen Opernhaus in Berlin, macht hier das Genre des Krippenspiels für einen vollkommen neuen Aufführungskontext dienlich. Christliche Festelemente werden übernommen, transformiert und mit der nationalsozialistischen Ideologie verquickt. Der Versuch politischer Indoktrination aller Beteiligten und eine Bestätigung christlicher und volkskultureller Bestandteile der deutschen weihnachtlichen Festkultur werden miteinander verknüpft. Die Redner bestätigen in ihren Ansprachen Weihnachten allesamt als zentrales christliches Fest, wenngleich betont wird, dass das Christentum „dieses echt germanische Fest“40 lediglich übernommen habe. Darüber hinaus wird es zur Erzeugung eines deutschen Nationalstolzes als Grundlage einer völkischnationalen Gemeinschaft verwendet, die sämtliche Unterschiede zwischen den Menschen nivelliere: „Deutsche Weihnachten – ein Zauberwort für alle Deutschen, ob jung, ob alt, ob arm, ob reich; Weihnacht – das Fest der Freude in Dorf und Stadt, im Palast und in der Hütte.“41 Gleichzeitig findet im Zuge einer aktiven Konstruktion eines der nationalsozialistischen Weltanschauung unterworfenen Geschichtsbildes eine Stilisierung Hitlers zum Möglichmacher des Fests statt. Nur da er das deutsche Volk gerettet habe, könne man nun Weihnachten begehen. Im Zuge einer „Mythisierung der Geschichte“42 wird Hitler gleichsam in den eigentlichen Friedensfürsten und Erlöser transformiert. Dieses Verfahren ähnelt den von Klaus Vondung analysierten und beschriebenen Modi nationalso-
38 Das Krippenspiel und der Film sind heute nicht mehr zu beschaffen, es liegt aber eine transkribierte Version des Films vor: Barkhausen, Hans und Karl Friedrich Reimers (Hg.): Nationalsozialistische Weihnachtsfeier der Reichsbahndirektion Berlin im Sportpalast 1933. Göttingen 1967 (Filmdokumente zur Zeitgeschichte. Band 107). 39 Vgl. Neumann, Boaz: Die Weltanschauung des Nazismus. Raum, Körper, Sprache. Aus dem Hebräischen übersetzt von Markus Lemke. Göttingen 2010. 40 Barkhausen, Nationalsozialistische Weihnachtsfeier, S. 13. 41 Ebd., S. 15. 42 Vondung, Magie, S. 173.
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zialistischer Gemeinschaftsstiftung: „Die nationalsozialistische Parole ‚Ein Volk, ein Reich, ein Führer’ artikuliert präzis die progressive Reihe einheitsstiftender Symbole der ‚neuen Gemeinschaft‘; sie ordnen sich um ein Zentrum, das als ‚heilig‘ empfunden wird.“43 Abbildung 36: Adolf Hitler mit Mädchen
Postkarte (1930er Jahre)
In seiner Rede legt Reichsbahndirektor Dr. Clemens Marx ausführlich dar, dass man lediglich dank Hitlers Einsatz auch dieses Jahr wieder Weihnachten feiern könne, das ein Gefühl der Verbundenheit unter allen Deutschen generiere: „Überall im deutschen Vaterland und überall, wo in den fernen Landen deutschblütige Menschen leben und deutsche Zungen reden, erstrahlt am Heiligen Abend der bunt geschmückte Tannenbaum im Lichterglanz der flackernden Kerzen und läßt Jugend aufjubeln und läßt die Herzen der Alten höher schlagen und erweckt im Auslandsdeutschen tiefes Heimweh nach dem Vaterhaus und heiße Sehnsucht nach der Heimat. Gott, der Lenker der Völkerschicksale, stand unserem Führer Adolf Hitler in diesem schweren, blutigen Ringen bei und bewahrte so das deutsche Volk vor dem vollständigen Zusammenbruch, ja vor dem ewigen Untergang. So kann das deutsche Volk unter der Führung seines Volkskanzlers, unseres Führers Adolf Hitler, in diesem Jahre wieder ein glückseliges, ein fröhliches Weihnachtsfest des Christenkreuzes feiern. Die Treue, die Adolf Hitler seinem deut-
43 Ebd., S. 183.
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schen Volke in seinen schweren Kampfjahren trotz Unterdrückung, trotz Festungshaft, trotz Redeverbot, trotz Verbot seiner Kampftruppen in der SA gehalten hat, diese Treue und Liebe wollen wir durch unsere Treue, durch unsere Liebe, durch unsere Hingabe und durch unsere Arbeit entgelten.“44
Im Rahmen einer politischen Kontextualisierung des Weihnachtsfests wird vom Werkdirektor Philipp Ludwig hernach die Feier in einen Appell an die „Pflicht, mitzuhelfen an dem großen Opferwerk“ 45 uminterpretiert. Um „Frieden zu wahren“,46 der Topos Weihnachtens als Friedenfest wird entschieden evoziert, gelte es als nationalsozialistische Gemeinschaft weiterhin engagiert zusammenzuhalten: „Sind wir gewillt den Frieden zu wahren, so kommt es immer noch darauf an, daß der böse Nachbar uns in Ruhe läßt. Und wir als Eisenbahner haben diesen bösen Nachbarn in uns selbst nicht mehr, der böse Nachbar ist ausgerottet, die Unterschiede im Denken sind verwischt; wir sind eins geworden als die Nationalsozialisten, als Deutsche, und wir achten uns als Brüder und Schwestern und wollen nicht mehr zurückfallen in den Hader der Vergangenheit.“47
Außerdem wird Weihnachten in einen Gedenktag transformiert, an dem es sich die eigene Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen gelte. Denn, so Staatsrat Arthur Görlitzer: „Die Zeit des Weihnachtsfestes ist auch die Zeit des zu Ende gehenden Jahres, und es ist die Art des deutschen Menschen, sich bei diesem Zeitablauf auch dessen zu erinnern, was hinter ihm liegt.“ 48 Nachdem man 1918 „das allerschrecklichste Weihnachtsfest“ miterlebt und in den letzten Jahren den „Roten Horden“ Widerstand geleitest habe, die dem Menschen den Glauben, „seine Religion und seine Freude am Weihnachtsfest als Opium aus der Seele“ habe reißen wollen, weise nun „der leuchtende Baum“ im „neuen Deutschland“ darauf hin, dass man „das Beste im Gefühl des deutschen Menschen nicht zertreten“ sondern schützen werde.49 Geschickt wird das bekannte weihnachtliche Symbol des Baumes in ein nationalsozialistisches Symbol umkodiert. Ein Vorgang, der eine Art von Kontinui-
44 Barkhausen, Nationalsozialistische Weihnachtsfeier, S. 15f. 45 Ebd., S. 16. 46 Ebd., S. 17. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 17f.
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tät im Umgang mit etablierten Festpraktiken gewährleistet, die sich auch in der Struktur und sonstigen Detailgestaltung der Weihnachtsfeier im Sportpalast widerspiegelt. Neben der dekorativen Verwendung von Parteisymbolen wie Hakenkreuzfahnen oder einem Hakenkreuz aus Lichtern garantieren der christlichen Liturgie entlehnte tradierte Elemente wie Ansprachen, Lieder und ein Krippenspiel eine Emotionalisierung der Festteilnehmer. Diese kann durch den dreimaligen „Heil“-Ruf am Ende noch potenziert werden.50 Im Zuge dessen wird bei dieser pseudoreligiösen Veranstaltung im Sportpalast konsequent ein weihevoll pathetischer Ton gewahrt. Wie beinahe immer bei nationalsozialistischen politischen Gemeinschaftsfeiern spielt auch bei dieser Weihnachtsfeier einstimmiger chorischer Gesang eine zentrale Rolle, dessen Funktion Anno Mungen in einem Aufsatz zur nationalsozialistischen Musik beschreibt: „Der Chormusik wurde innerhalb der nationalsozialistischen Kulturpolitik deshalb eine herausgehobene Stellung zugewiesen, weil sich die Gruppe der Ausführenden mit derjenigen der Adressaten verband. Beide verschmolzen regelrecht zu einer Gesamtheit.“ 51 Im Sportpalast werden neben dem „Horst-Wessel-Lied“52 nun zu Beginn der Feier „O du fröhliche“ und zum Abschluss mit allen „Stille Nacht, heilige Nacht“ angestimmt, begleitet von der Kapelle. Das Erzeugen weihnachtlicher Stimmung, die Beförderung des Bewusstseins um das eigene kulturelle Erbe und das gleichzeitige Einschwören auf die politische Religion des Nationalsozialismus gehen hier somit Hand in Hand: „Operationale Basis des Manipulationsinstruments Kult ist die Affektivität der Feierteilnehmer, auf deren Emotionalisierung daher gezielt hingearbeitet“ 53 wird, so Klaus Vondung. In diesem Sinn führt auch das Krippenspiel, ähnlich Möllers dramatischem Text, christliche mit nationalsozialistischen Elementen zusammen. Der Feierge-
50 Wie von Klaus Vondung dargelegt, entspricht der für den nationalsozialistischen Feierstil typische, dreimalige „Heil“-Ruf am Ende der meisten Feiern dem Schlussresponsorium „Dominus vobiscum – Deo gratias“ der katholischen Liturgie. Zu seinem Vergleich der Gestaltungsnorm des nationalsozialistischen Feierstils mit der christlichen Liturgie vgl. Vondung, Magie, S. 113ff. 51 Mungen, Anno: „Nationalsozialistische Musik als Agitation. Anmerkungen zum Kölner Konzertwesen 1933-1945“, in: Geschichte in Köln. Band 49 (2002), S. 171-191 (S. 183). 52 Zur Entstehung des Mythos um Horst Wessel vgl.: Behrenbeck, Sabine: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole. Vierow bei Greifswald 1996, S. 134ff. 53 Vondung, Magie, S. 193.
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meinde wird ein Spiel präsentiert, in dem sich die Heilige Familie, die Weisen aus dem Morgenland, ein Zug Kreuzritter, eine Gruppe Landsknechte sowie eine Gruppe SA mit Hakenkreuzfahne als friedliche Gemeinschaft zusammenfinden,54 gewissermaßen die Vereinbarkeit von Christlichem mit Nationalsozialistischem bildnerisch demonstrieren. Denn, wie Hans Batteux im Film erläutert, das Tableau von „Maria und Joseph mit dem Jesuskind, umgeben von Engeln und Menschen aller Zeitalter, die das Weihnachtsfest begehen“, fungiere als „Willensäußerung zum Weltfrieden.“55 Zwar habe „die Ehrfurcht vor dem Kreuz“ unter den Landesknechten zu einem „Scheinfrieden“ geführt, aber erst der „Ritter“ und „Führer“ Adolf Hitler und die „herrliche SA“ hätten die Menschen tatsächlich aus der Not befreien können.56 Den Reden entsprechend dient in diesem Kontext auch das Weihnachtsspiel dem Zweck, Hitler als eigentlichen Friedensfürsten zu feiern. Nicht die Erneuerung der Welt durch ein neugeborenes Kind als Inkarnation Gottes, 57 sondern die Erneuerung Deutschlands durch einen gottähnlichen Führer soll hier gefeiert werden. Entgegen dem Kerngehalt des christlichen Weihnachtsfestes, das „eine Wiedervergegenwärtigung der historischen Gegenwart Gottes in der Welt“ 58 feiert, wird die Inkarnationssymbolik gleichsam auf Hitler angewendet.
54 Vgl. Barkhausen, Nationalsozialistische Weihnachtsfeier, S. 13. 55 Alle Zitate nach ebd., S. 19. 56 Ebd. 57 Vgl. Vondung, Magie, S. 186. 58 Ebd.
9. Resümee
Ziel dieser Arbeit war es, zu erforschen und aufzuzeigen, welche weihnachtlichen dramatischen Texte zwischen dem ausgehenden 18. Jahrhundert und dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland entstehen, und wie sich diese zu einer verändernden, neuzeitlichen weihnachtlichen Festkultur verhalten. Es galt eine Beziehungsgeschichte von Weihnachtsfest und Weihnachtstheater zu schreiben. Für die institutionalisierten Theater konnte dabei insofern keine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene nachgewiesen werden, als sie mit dem Fest keinesfalls eine symbiotische Beziehung, sondern vielmehr ein dialektisches Verhältnis eingehen, Fest und Theater sich voneinander abkoppeln. Dahingegen waren im Bereich nichtprofessionellen Theaters diametral entgegengesetzte Tendenzen zu konstatieren. Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert entstehen einige dramatische Texte für professionelle Aufführungskontexte, die sich mit der privaten, familiären Festpraxis auseinandersetzen, diese überwiegend bestätigen. Die Theater vermeiden es mehrheitlich, einen festkritischen Diskurs zu führen. Entsprechend den Rückzugstendenzen innerhalb der Bevölkerung bleiben sie vielmehr am 24. Dezember geschlossen und entwickeln weder eine ernstzunehmende Ergänzung noch Alternativentwürfe zur Familienweihnacht. Stattdessen setzt sich schon bald eine eskapistische Spielplanpraxis durch. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts werden die Dezemberspielpläne verstärkt von Weihnachtsmärchen nach dem Vorbild Carl August Görners dominiert, die in zauberhafte Märchenwelten entführen. Diese Form prunkvollen Ausstattungstheaters, das sich vorrangig an ein junges Publikum wendet, setzt auf Konstanz und Berechenbarkeit und entspricht damit dem in der Moderne zunehmend durchkommerzialisierten und vereinheitlichten Kinderbescherfest. Fernab der institutionalisierten Theater finden hingegen interessante Entwicklungen statt, die wiederum zum Teil sogar Auswirkungen auf den professionellen Theaterbetrieb haben. Es kommt zu überraschend vielfältigen und zahl-
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reichen Initiativen, die Beziehungen zwischen Fest und darstellendem Spiel zu intensivieren. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts zeigen Forscher verschiedener Disziplinen ein zumeist volkstumsideologisch begründetes Interesse an volkssprachlichen Weihnachtsspielen, denen die biblischen Geschehnisse rund um Jesu Geburt zugrunde liegen. Auf Initiativen des Sammelns und Veröffentlichens dieser Spiele, die bis in die 1930er Jahre reichen, folgen zahlreiche, ideologisch sehr unterschiedlich motivierte Unternehmungen der Reaktivierung. Sowohl Anthroposophen als auch Münchener Künstler und Laienspielgruppen wenden sich alten Weihnachtsspielen zu. Sie werden während der Weihnachtszeit zur Aufführung gebracht, jedoch nicht zwingend in Weihnachtsfeiern integriert. Außerdem entstehen neue Weihnachtsspiele, die sich inhaltlich und formal eng an den alten Vorlagen orientieren, aber zum Teil, wie im Fall des 1933 veröffentlichten Südender Weihnachtsspiels, ideologisch stark vereinnahmt werden. Bräuche im öffentlichen Raum wie etwa Umzüge bleiben ebenfalls vielerorten weiterhin bestehen. Abbildung 37: Einzug vom Nikolaus durchs Brandenburger Tor (1936)
In: Adolf Spamer, Weihnachten in alter und neuer Zeit
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Daneben wird eine nennenswerte Zahl an Weihnachtsspielen verfasst, in denen weltliche Stoffe verarbeitet werden. Sowohl Kinderschauspiele aus dem späten 18. Jahrhundert als auch während des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik veröffentlichte Stücke thematisieren weihnachtliche Feierpraktiken und weisen einen erheblichen Bezug zur Lebenswirklichkeit der Darsteller auf. Sie sind allesamt für theaterferne Aufführungskontexte wie Partei-, Vereins-, Schuloder Privatfeiern konzipiert, sollen zum Teil im Rahmen von Weihnachtsfeiern aufgeführt werden. Doch während die Kinderschauspiele Christian Felix Weißes von 1777 und 1779 die Funktion des bürgerlichen Weihnachtsfests bestätigen, Kohärenz und Identität stiftend im Sinne eines bürgerlichen Erziehungsprogramms sind, propagieren so manche sozialistischen Weihnachtstexte Alternativen zur häuslichen Bescherfeier. Die Beziehung von weihnachtlichem Fest und weihnachtlichem Theater in der Moderne ist dementsprechend komplex. Weihnachtstheater kann mannigfache Wirkungen entfalten, wenngleich das Inszenieren von Weihnachten als Zeit der Wunder im Zentrum vieler Stücktexte steht. Disziplinierung, Unterhaltung, das Einschwören auf eine kritische Haltung oder Gemeinschaftsstiftung sind genauso möglich wie das Einstimmen auf eine weihnachtliche Atmosphäre. Allein Aufführungen von Krippenspielen, die szenische Vergegenwärtigung eines zutiefst theatralen und performativen, dem christlichen Glauben nach wirklichkeitskonstituierenden Akts, können ein Publikum zum Zeugen, Mitwisser oder Exegeten der Weihnachtsgeschichte machen. Das Verkörpern von Figuren wie Maria oder Josef vermögen ein Sicheinfühlen und das Erfahrbarmachen der Geschichte zu erleichtern. Verbleiben die Darbietungen in einem nichtprofessionellen Aufführungskontext, wird normalerweise nicht auf Illusion, besinnungslose Selbstvergessenheit oder rationale Distanz als Modus der Wahrnehmung abgezielt. Eher wird die Weihnachtsgeschichte auf eine brüchige, vielschichtige Weise vermittelt und ein spielerischer Umgang mit Personifikationen und Verkörperungen realisiert. Darsteller und Zuschauer können so Gegenwärtigkeit und konkrete Anwesenheit erleben. In diesem Sinne vermögen Aufführungen des christlichen Ursprungsmythos, in denen das weihnachtliche Wunder als Demonstrationshandlung vorgeführt wird, die Funktion gesellschaftlicher und im Speziellen religiöser Rituale zu übernehmen. Erfolgen die Darbietungen darüber hinaus in fremden Dialekten, kann die sich einstellende Pluralität an Sprachstilen neue Horizonte eröffnen. Diese Arbeit strebt eine Theatergeschichtsschreibung an, die sich nicht vorrangig dem Originären und künstlerisch vermeintlich Wertvollen widmet, sondern den Theaterbegriff weiter fasst und auch Randerscheinungen sowie Gebrauchsdramatik in den Blick nimmt. Als Überblicksdarstellung wendet sie sich
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einem Untersuchungszeitraum von fast 150 Jahren zu und wirft Schlaglichter auf einzelne Phänomene, so dass es selbstverständlich die Möglichkeit gibt, weitere Detailanalysen von Institutionen, Werken, Weihnachtsfeiern oder dem Engagement einzelner Laienspielgruppen vorzunehmen. Außerdem scheinen in dieser Arbeit einige Forschungsfelder auf, die für die Theaterwissenschaft lohnenswert sind. Nicht nur im Bereich der Kinderschauspiele, auch im Bereich des Laienspiels, volkssprachlicher Spiele, Weihnachtsballette, ländlicher Spieltraditionen, der Weihnachtsmärchen und anderer theatraler Formate, wie etwa weihnachtliche Umzüge im städtischen Raum, existiert weiterer theaterwissenschaftlicher Forschungsbedarf. Ein europäischer Vergleich, beispielsweise mit englischen weihnachtlichen dramatischen Genres wie den Christmas Pantomimes oder skandinavischen Julspielen, steht ebenso aus wie musiktheaterwissenschaftliche Ansätze, die Ergebnisse aus der musikwissenschaftlichen Forschung zu musikalischen weihnachtlichen Topoi und Traditionslinien mit theaterwissenschaftlichen Ergebnissen verknüpfen. Auch einige Filme, die wie etwa Home alone, The Polar Express, Die hard, Black Christmas oder It’s a Wonderful Life an Weihnachten spielen, können interessante Aspekte einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Fest offen legen: „Die Geschichte vom betlehemitischen Kindermord war ein einflussreiches Sujet in der europäischen Malerei, ebenso innerhalb der Weihnachtsspiele, die manchmal sogar Herodesspiele hießen. Bei den Zipsern in Rumänien hat sich diese Tradition bis heute erhalten. Nach der Aufklärung werden die Erzählungen über Kindsmord und Kindstod keineswegs abgebrochen. Sie werden wieder aufgegriffen etwa in Weihnachtserzählungen wie A Christmas Carol von Charles Dickens […]. Oder nehmen Sie das Gespräch über die Weihnachtsfeier, das der Theologe Friedrich Schleiermacher […] geschrieben hat. Prompt geht es wieder um einen Kindstod, der im letzten Augenblick verhindert wird; es stellt sich heraus, dass das Kind doch nicht sterben wird. Eines der prominentesten Beispiele gehört schon zur Filmkultur der Gegenwart, das sind die Kevin-Filme. Ein Kind wird ausgerechnet zu Weihnachten allein gelassen und mit Gangstern und Gaunern konfrontiert, die manchmal direkt dämonische Gestalt annehmen. Der Junge setzt sich zwar durch, aber zunächst repräsentiert er ein Kind, das vom Tod bedroht wird – im Schein von Weihnachten.“1
Eine Untersuchung weihnachtlichen Theaters in der DDR sowie der Bundesrepublik und eine Zusammenführung mit der Entwicklung des Weihnachtsfests liegen ebenfalls noch nicht vor. Gleichwohl muss an dieser Stelle festgehalten
1
Macho, Weihnachten, o.S.
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werden, dass sich auch in den letzten Jahrzehnten die weihnachtliche Feier- und Theaterpraxis insgesamt als überraschend konstant erwiesen haben. Und dies trotz aller Lenkungsmaßnahmen in der DDR2 und des von Thomas Macho beschriebenen Umstands, dass die „Angebote, dieses Fest zu begehen, […] tatsächlich vielfältiger, bunter geworden“3 seien und es nicht mehr „diese eine verpflichtende Tradition, an der man pflichtbewusst scheitern muss“, 4 gebe. Interessant sind beispielsweise Unternehmungen wie die des Jesuitenpaters Friedhelm Mennekes, an dessen Kölner Inszenierungen von Kinderkrippenspielen in den 1990er und 2000er Jahren oftmals um die 100 Kinder beteiligt sind. Engel hängen hier in fünf Meter Höhe an einer Seilrutsche, 5 fliegen „angegurtet über ein Drahtseil von der Balustrade zum Altar herunter.“ 6 Eine Möglichkeit – laut Karin Beier –, „Wildheit und Fantasie der Kinder [aufzunehmen], die den Zuschauer sicher mehr anregen als das brave Abarbeiten von Geschichten.“7 Die weihnachtliche Spielplanpraxis der institutionalisierten Theater wiederum ist heutzutage, in unserer postmodernen, pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft, im Grunde genommen nach wie vor im 19. Jahrhundert verhaftet. Einziges Spezifikum der Dezemberspielpläne sind neben häufigen Vorstellungen von Die Zauberflöte, Hänsel und Gretel und Der Nussknacker lediglich die Weihnachtsmärchen, die vor allem von Schulklassen besucht und innerbetrieblich oftmals als verlässliche „Cash Cows“ funktionalisiert werden. Inszenierungen älterer Stücke, aber auch neu verfasste Stücktexte setzen sich nur selten mit den Ambiguitäten unserer Wirklichkeiten und der Vielfalt unserer Gesellschaft auseinander. Sie lassen sich weder als sozial noch politisch engagierte Kunst werten. Der Thematisierung kritikwürdiger Zustände oder gar ihrer Beseitigung verschreiben sie sich nicht. Die in der Bundesrepublik mannigfaltiger gewordenen Angebote das Fest zu begehen, die Einflüsse anderer Kulturen oder die Option eines grundsätzlichen Infragestellens von Weihnachten, sind nicht in-
2 3
Vgl. Foitzik, Rote Sterne, S. 155ff. Macho, Thomas: „Über das Festmahl Weihnachten“. URL: ,
letzter
Zugriff am 2. Februar 2016. 4 5
Ebd. O.A.: „Höllenlärm bei Weihnachts-Krippenspiel“, in: Kölnische Rundschau, 23.12.2002, S. 10.
6
Fallet, Mareike und Ursula Ott (Hg.): „Würstchen und Kartoffelsalat. Die Regisseurin Karin Beier und der Komponist Dieter Falk über Bräuche an Weihnachten und Klassiker auf der Bühne“, in: Chrismon plus. Nummer 12 (2011), S. 28-31 (S. 30).
7
Ebd.
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tegriert. Alternativen zu einer immer noch dominanten und identitätsstiftenden Festkultur, die sich vorrangig dem Konsum verschreibt und damit geradezu eine Metapher für unsere zutiefst kapitalistische, einem neoliberalen Denken verpflichtete Gesellschaft ist, werden nicht aufgezeigt. Vielmehr unterstützen die auf den Dezemberspielplänen präsenten Weihnachtsproduktionen die Selbstzufriedenheit einer Gesellschaft, für die ein Fest wie Weihnachten eine primär stabilisierende, bestätigende Funktion hat, und das primär als innerfamiliäres Glücksversprechen kodiert ist. Ein heute noch immer erfolgreiches Weihnachtsmärchen beispielsweise, Thomas Pigors 2004 am Theater Konstanz uraufgeführtes Anton – das Mäusemusical,8 rekurriert bezeichnenderweise auf Charakteristika der frühen bürgerlichen Weihnachtsdramatik. Auch ruft es ähnliche Topoi auf wie die im 19. Jahrhundert entstandenen Texte: Anton ist in einem heiteren und friedvollen Ton verfasst. Humor spielt eine wichtige Rolle, ebenso Musik als Stimmung erzeugendes Element. Die Kompositionen sind sehr einfach gehalten, die Songs demzufolge eingängig. Die Sphäre des Tragischen wird vermieden, sämtliche Konflikte und Schwierigkeiten erfahren eine Auflösung. Sogar die Bedrohung durch eine Katze wird gebannt. Die Besetzung ist klein, die Handlung überschaubar. Sie ist in einer bürgerlichen Umgebung par excellence, im Wohnzimmer der Familie Hoffmann, verortet. Innerfamiliäre Konflikte, vor allem Generationenkonflikte, werden in Pigors Stück innerhalb einer Mäusefamilie ausgetragen. Doch lösen sich alle Schwierigkeiten mit der älteren Berliner Tante Lizzy auf, Antons Konflikte mit seinen älteren Brüdern Franz und Willi sind nicht nennenswert. Das Organisationsmodell (Mäuse-)Familie wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Weihnachten wird als Familiensinn und Frieden stiftende Veranstaltung bestätigt, bei der Religion keine Rolle spielt, vielmehr die Jüngsten, in diesem Fall Anton, im Zentrum stehen. Zudem ist der Stücktext als Grundlage für ein prunkvolles Bilder- und Ausstattungstheater angelegt. Es bestätigt eben den Eskapismus, der schon den Weihnachtsmärchen Görners zu eigen war. Wenngleich Pigors Text sogar die Erwartungshaltungen eines Publikums einem Weihnachtsmärchen gegenüber zum Thema macht, werden diese im Folgenden keinesfalls gebrochen, sondern durchweg erfüllt. Am Weihnachtsabend lösen sich sämtliche Gefahren auf, die vier Mäuse und die Spinne ergehen sich in Weihnachtsseligkeit:
8
Pigor, Thomas und Gertrud und Jan-Willem Fritsch: Anton – das Mäusemusical. München 2005. Das Zitat folgt dieser Ausgabe.
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„Das ist hier schließlich ein Weihnachtsmärchen, / da will man Poesie, / da macht man auf Versöhnung und Family! / Drum halt ich die Handlung an, / für Horror und Gewalt / sind die Lehrer und die Oma hier im Publikum / einfach zu alt. / […] Das ist hier schließlich ein Weihnachtsmärchen, / und da dreht man die Geschichte so, / dass sie schließlich gut ausgeht. / […] Weihnachten ist immer ein großes Tam Tam, / da kommt die ganze Familie zusamm’! […] / Da wünscht man sich ein Happy End in froher Harmonie.“ (Anton – das Mäusemusical, 20. und 23. Szene)
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Bei Verwendung von Initialen sind die vollständigen Namen nicht ermittelbar.
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G.: „Vater Bergmann’s Weihnachten. Weihnachtsmärchen von Ferdinand Oesau“, in: Hamburgischer Correspondent, 14. Dezember 1903, S. 2-3. Geiger, Paul: Deutsches Volkstum in Sitte und Brauch. Berlin 1936. Geramb, Viktor und Viktor Zack: Das Steyrer Kripperl. Wien 1919 (Wiener Zeitschrift für Volkskunde. Band 25). Gerbrandt, Marie: Weihnachten daheim. Kriegsschauspiel in 1 Akt. Berlin 1914. Gerland, Mathilde: Kriegsadvent bei Frau Holle. Ein Festspiel. Berlin 1917 (Frohe Feste. Band 22). Gerst, Wilhelm Carl (Hg.): Gemeinschafts-Bühne und Jugend-Bewegung. Frankfurt am Main 1924. Glaser, Hanna: Die Bedeutung der christlichen Heiligen und ihrer Legenden für Volksbrauch und Volksmeinung in Deutschland. Heidelberg 1937. Glossy, Carl: „Zur Geschichte der Wiener Theatercensur“, in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft. 7. Jahrgang (1897), S. 238-340. Görner, Carl August: Auf dem Hühnerhofe und im Walde. Eine KinderKomödie in zwei Bildern. Neue Ausgabe. Berlin 1864 (Kindertheater. Band 3). Ders.: Kindertheater. Berlin 1864. Ders.: Apfelbaum, Erdmännchen und Flöte. Eine Komödie für Kinder in 5 Bildern. Nach einem Märchen bearbeitet. Hamburg 1865, 2. Auflage (KinderTheater. Band 2). Ders.: Prinzessin Immergrün und Prinz Eiszapfen. Original-Weihnachtskomödie (Feerie) in 4 Aufzügen mit Gesang und Tanz. Altona 1873. Ders.: Aschenbrödel, oder: Der gläserne Pantoffel. Weihnachts-Komödie mit Gesang und Tanz in 6 Bildern (Aufzügen). Nach dem gleichnamigen Märchen bearbeitet. Musik von Stiegman. Altona 1874. Ders.: Klein Däumling, Rapunzel mit dem langen Haar und Riquet mit dem Schopf. Weihnachtskomödie in fünf Aufzügen. Nach den drei gleichnamigen Märchen bearbeitet. Altona 1874 (Deutsches Theater. Band 28). Ders.: Prinz Papagei. Weihnachts-Komödie mit Gesang und Tanz in fünf Aufzügen. Nach einem Märchen bearbeitet. Altona 1877. Ders.: Aschenbrödel, oder: Der gläserne Pantoffel. Weihnachts-MärchenKomödie in sechs Aufzügen. Nach dem gleichnamigen Märchen bearbeitet. Hamburg 1879 (Weihnachts-Märchen-Komödien. Band 2). Ders.: Der Mann mit der langen Nase. Weihnachts-Zauberposse in 5 Bildern. Nach einem Märchen frei bearbeitet. Berlin 1879. Ders.: Der Rattenfänger von Hameln. Nach Sprenger’s Geschichte und Chroniken der Stadt Hameln. Frei bearbeitet. Hamburg 1879 (WeihnachtsMärchen-Komödien. Band 1).
370 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR
Ders.: Prinzessin Dornröschen. Weihnachts-Märchen-Komödie in fünf Aufzügen. Nach dem gleichnamigen Märchen frei bearbeitet. Hamburg 1879 (Weihnachts-Märchen-Komödien. Band 4). Ders.: Prinzessin Immergrün und Prinz Eiszapfen. Original Weihnachtskomödie (Feerie) in 4 Aufzügen. Hamburg 1879 (Weihnachts-Märchen-Komödien. Band 7). Ders.: Sneewittchen und die sieben Zwerge. Weihnachts-Märchen-Komödie in fünf Aufzügen. Nach dem gleichnamigen Märchen frei bearbeitet. Hamburg 1879 (Weihnachts-Märchen-Komödien. Band 3). Ders.: Die Hexe vom Süllenberg, oder: Die Unterirdischen bei Blankenese, und: Die Schwestern in Eppendorf. Nach alten Chroniken und Dr. O. Beneke’s „Hamburgische Geschichte und Sagen“. Hamburg 1883 (WeihnachtsMärchen-Komödien. Band 17). Götz, Albert: „Christkindspiel aus Poschkau, welches noch bis auf den heutigen Tag erhalten blieb“, in: Altvaterbote. Monatsschrift für die deutsche Schutzarbeit in Mähren und Schlesien. Band 2 (1925), S. 259-265. Graber, Georg: Das Gmünder Hirtenspiel aus dem 17. Jahrhundert. Spittal 1930. Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. Göttingen 1854, 3. Auflage. Guillaume, Arnold: „Zeichnungen zu C. A. Görners Sneewittchen“, in: Hamburger Sonntagsblatt. Sonderbeilage, 6. Januar 1869, S. 1-2. Gümbel-Seiling, Max: „Wegweiser, Erfahrungen eines Pfadsuchers“, in: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur. 14. Jahrgang. Ausgabe Oktober. Heft 7 (1922), S. 553-555. Günther, Alice: Wie Hänsel und Gretel ihren Vater im Kriege suchen wollen. Märchenspiel in 1 Akt mit Gesang und Tanz. Mühlhausen i. Th. 1916 (Danner’s Jugendbühne. Nummer 73). Haag, Paul: Weihnachten in Kriegszeiten. Ein Spiel für die Jugend zur Aufführung in Schule, Verein und Haus. Mühlhausen i. Th. 1914 (Kriegstheater. Nummer 6). Haaß-Berkow, Gottfried: Spiel vom Sündenfall. Paradeisspiel aus Oberufer bei Preßburg 14. Jahrhundert. Mitgeteilt von K. J. Schröer, eingerichtet von Gottfried Haaß-Berkow. Leipzig 1917 (Deutsche Volksspiele des Mittelalters. Band 1). Ders.: Oberuferer Christigeburtspiel. Mitgeteilt von K. J. Schröer, eingerichtet von Gottfried Haaß-Berkow. Leipzig 1917 (Deutsche Volksspiele des Mittelalters. Band 3). Ders.: Neue Richtungslinien für die Schauspielkunst. Jena 1919.
L ITERATURVERZEICHNIS | 371
Hadamowsky, Franz: Das Theater der Wiener Leopoldstadt, 1781-1860. Wien 1934 (Kataloge der Theatersammlung der Nationalbibliothek in Wien. Band 3). Hagemann, Gustav: Weihnachtsabend oder Edelmann und Bürger. Schauspiel in fünf Aufzügen. Grätz 1799. Harless, Hermann: Kriegs-Weihnacht. Ein Jugendspiel. Leipzig 1914 (Jugendund Volksbühne. 247. Heft). Hartmann, August: Weihnachtslied und Weihnachtsspiel in Oberbayern. München 1875. Hartmann, Rudolf: Das deutsche Volksschauspiel in der Schwäbischen Türkei. Nachdruck von 1929. Marburg 1974. Ders.: „Das Spiel vom König Herodes“, in: Ungarische Jahrbücher. Band 14 (1934), S. 76-90. Hauptkulturamt in der Reichspropagandaleitung der NSDAP (Hg.): Die neue Gemeinschaft. Heft 1 (1937). Dass.: „Vorschläge zur Gestaltung einer Feierstunde. Deutsche Kriegsweihnacht 1941“, in: Dass. (Hg.): Deutsche Kriegsweihnacht. Sonderdruck zur Ergänzung des Parteiarchivs für nationalsozialistische Feier- und Freizeitgestaltung. Berlin 1941, S. 58-63. Dass. (Hg.): Die neue Gemeinschaft. Heft 11 (1942). Henzen, Wilhelm: „Carl Reinecke“, in: Lindau, Paul (Hg.): Nord und Süd. Band 88. Heft 262 (1899), S. 66-81. Hermann Uhde: Das Stadttheater in Hamburg 1827-1877. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Stuttgart 1879. Herwig, Franz: Das kleine Weihnachtsspiel. Berlin 1927, 5. Auflage. Hespe, Ludwig: Ein Sklave des Kapitals. Schauspiel mit Gesang und lebenden Bildern in vier Akten. Leipzig 1921 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 2). Hesse, August Wilhelm: Fröhliche Weihnachten. Weihnachtsspiel in einem Akt nach Charles Dickens. Berlin o.J. Ders.: Weihnachten! Phantastisches Märchen mit Musik in 1 Akt. Nach einer Idee von Boz. Berlin 1849. Ders.: Weihnachten. Dramatisches Gemälde in 1 Akt. Berlin 1868. Ders.: Fröhliche Weihnachten. Weihnachtsspiel in 1 Akt nach Charles Dickens. Berlin 1922. Hessen-Kassel, Wilhelm VIII. Landgraf von: „Wiederholte Abschaffung des dritten Feyertags an Weihnachten, Ostern und Pfingsten, im Hessencasselischen“, in: Journal von und für Deutschland. 6. Jahrgang (1789), S. 515-518.
372 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR
Hiller, Ferdinand: Ein Traum in der Christnacht. Oper in 3 Aufzügen nach Raupachs Drama: Der Müller und sein Kind. Bearbeitet von Carl Gollmick. Partitur. Dresden 1845. Ders.: Ein Traum in der Christnacht. Oper in vier Aufzügen. Nach Raupachs Drama: Der Müller und sein Kind, bearbeitet von Carl Gollmick. Libretto. O.O. 1850. Hillgenberg, Egon: Hans der Träumer. Weihnachtsmärchen in sieben Bildern. Hamburg 1911. Hoefer, Conrad: „Zwei alte Weihnachtsspiele aus der Rhön“, in: Heimatblätter für den Kreis Eisenach. Band 4 (1936), S. 60-80. Hofer, August: Weihnachtsspiele aus Niederösterreich. 19. Jahresbericht des niederösterreichischen Landes-Lehrerseminars in Wiener-Neustadt. Wien 1892. Hofmann, Arthur: Proletarier-Weihnachten. Lebensbild in einem Akt. Leipzig 1914, 2. Auflage (Arbeiterbühne. Nummer 31). Horch, Franz: Die Spielpläne Max Reinhardts 1905-1930. München 1930. Houwald, Ernst von: „Der Weihnachts-Abend. Ein Schauspiel in zwei Aufzügen“, in: Ders.: Buch für Kinder gebildeter Stände. Erstes Bändchen. Schauspiele, Mährchen, Romanzen und Erzählungen. Leipzig 1819. Hümmer, Friedrich Karl: Des Kriegers Weihnacht. Kleines vaterländisches Spiel für Kinderheime, Volksschulen usw. Bamberg 1914. Humperdinck, Engelbert: Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern. Dichtung von Adelheid Wette. Vollständiger Klavierauszug. Mainz 1894. Ders.: Bübchens Weihnachtstraum. Ein melodramatisches Krippenspiel für Schule und Haus. Dichtung von Gustav Falke. Klavierauszug. Berlin 1906. Ders.: Das Wunder. Grosse Pantomime in zwei Akten und einem Zwischenspiel. Klavierauszug mit Text von Friedrich Schirmer. Berlin 1912. Isemann, Bernd: Die Mitternacht. Ein Weihnachtsspiel. München 1909. Jacobsohn, Eduard: Knecht Ruprecht. Weihnachtsmärchen mit Gesang und Tanz in 2 Akten und 1 Vorspiel von Eduard Jacobsohn und Robert Linderer. Musik von August Conradi. Auf der Kroll’schen Bühne in Berlin 50 Mal mit glänzendem Erfolge aufgeführt. Berlin o.J. Jacobsohn, Siegfried: „Der Stern von Bethlehem“, in: Ders. (Hg.): Das Jahr der Bühne. Band 5 (1915/1916), S. 78-80. Jordan, Rudolf: Das Sterzinger Weihnachtsspiel vom Jahre 1511. Krumau 1902 (29. und 30. Jahresbericht des Staats-Obergymnasiums). Jubisch, Fritz: Die angebrannte Weihnachtsgans. Weihnachtsschwank in 2 Aufzügen. Leipzig 1929 (Weihnachts-Bühne. Nummer 2).
L ITERATURVERZEICHNIS | 373
Jungbauer, Adalbert: Das Peilsteiner Weihnachtsspiel. Jahresbericht des K. K. Staatsgymnasiums. Prachatitz 1912. Kalk, Otto: Theorie und Praxis der Jugendbühne. Osterwieck am Harz 1926 (Die Jugendbühne. Heft 2/3). Kegel, Max: Die Tochter des Staatsanwalts. Schwank in 1 Akt. Berlin 1894 (Sozialistische Theaterstücke. Nummer 1). Klapper, Joseph: Das St. Galler Spiel von der Kindheit Jesu. Untersuchungen und Text. Breslau 1904. Klopfleisch, Friedrich: „Das Weihnachtsspiel zu Groß-Löbichau“, in: Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte und Alterthumskunde. Band 6 (1865), S. 249-265. König, Adolf: Volksschauspiele aus Nordböhmen. Teplitz-Schönau 1927 (Wächterbücherei. Band 1). Köppen, Wilhelm: Beiträge zur Geschichte der deutschen Weihnachtsspiele. Marburg 1892. Kralik, Richard von: Kulturarbeiten. Der Kulturstudien dritte Sammlung. Münster 1904. Ders.: „Vergangenheit und Zukunft der Bühne“, in: Ders.: Kulturstudien. Münster 1904, 2. Auflage, S. 311-327. Ders.: „Die religiöse und nationale Festbühne“, in: Ders.: Kulturfragen. Der Kulturstudien vierte Sammlung. Münster 1907, S. 386-411. Ders.: Tage und Werke. Lebenserinnerungen. Wien 1922. Kraus, Alfred: „Ein Weihnachtsspiel aus dem Erzgebirge“, in: Erzgebirgszeitung. Band 18 (1897), S. 92-102. Kube, Siegfried: „Gestalten der Weihnachtszeit im mitteldeutschen Raum“, in: Mitteldeutsche Blätter für Volkskunde. Band 13 (1938), S. 237-250. Kuhn, Adalbert: Märkische Sagen und Märchen, nebst einem Anhang Gebräuche und Aberglauben. Berlin 1937. Landmann, Eva: „Die Strohmänner zu Wenigenjena. Ein thüringischer Volksbrauch“, in: Mitteldeutsche Blätter für Volkskunde. Band 11 (1936), S. 1720. Lareng, B.: Weihnachten im Feindesland. Kriegs-Schauspiel in vier Akten. Mühlhausen i. Th. 1916 (Danner’s Mehrakter. Nummer 77). Lefftz, Joseph: Elsässische Weihnacht. Kolmar 1941. Lehmann-Haupt, Therese: Wie Klein-Else das Christkind suchen ging. Dramatisches Weihnachtsmärchen in 3 Aufzügen. Leipzig 1910. Lindenberg, Liselotte: Deutsche Weihnacht. Für den Gottesdienst zusammengestellt von Liselotte Lindenberg. München 1926 (Münchener Laienspiele. Nummer 14).
374 | ENTSTEHUNG UND G ESCHICHTE EINER BÜRGERLICHEN F EST - UND T HEATERKULTUR
Lipinski, Richard: Friede auf Erden, oder: Die Ausweisung am Weihnachtsabend. Soziales Bild in 2 Aufzügen. Berlin 1895, 2. Ausgabe. Littmann, Max: Das Münchener Künstlertheater. München 1908. Lortzing, Albert: Der Weihnachtsabend. Autograph der Partitur, handgeschriebene Texte und ein Rollenheft von 1832: Lippische Landesbibliothek Detmold, D-DT/ Mus-L 35. Ders.: Der Weihnachtsabend. Singspiel in einem Aufzug. Launige Szene aus dem Familienleben und Vaudeville. Herausgegeben und eingerichtet von Georg Richard Kruse. Leipzig 1913. Mahr, Otto: „Das Weihnachtsspiel von Oberkatz“, in: Volk und Volkstum. Jahrbuch für Volkskunde in Verbindung mit der Görres-Gesellschaft. Band 3 (1938), S. 357-370. Mann, Thomas: „Versuch über das Theater“, in: Thomas Mann. Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band 10: Reden und Aufsätze 2. Frankfurt am Main 1990 (1907), S. 23-61. May, Adolf: Volksschauspiele in Bayern. Erfurt / Leipzig 1892 (Kleine Studien: Wissenswertes aus allen Lebensgebieten. Heft 5). Meissner, Leopold Florian: Weihnachtsspiele. Bilder aus der deutschen Geschichte zu festlichen Aufführungen für Jung und Alt. Wien 1896. Mell, Max: Das Wiener Kripperl von 1919. Wien 1921. Ders.: Ein altes deutsches Weihnachtsspiel. Umgeschrieben und in kleinen Teilen ergänzt. Wien 1924. Möller, Eberhard Wolfgang: Das Südender Weihnachtsspiel. Berlin 1935 (Volksspieldienst. Nummer 109). Möller, Max: Jung Habenichts und das Silberprinzeßchen. Weihnachtsmärchen in sechs Bildern. Leipzig 1906. Ders.: Meister Pinkepank oder Christnacht bei den Schnee-Elfchen. Weihnachtsmärchen in fünf Bildern. Leipzig 1908. Moissy, Alexandre Guillaume Mouslier de: „Vorbericht“, in: Ders. (Hg.): Spiele der kleinen Thalia, oder: Neue kleine dramatische Stücke über Sprüchwörter, zu Bildung der Sitten der Kinder und jungen Leute von fünf bis zwanzig Jahren. Aus dem Französischen des Herrn von Moissy übersetzt. Berlin 1770. Mone, Franz Joseph: Schauspiele des Mittelalters aus Handschriften herausgegeben und erklärt. Karlsruhe 1852. Mosen, Gustav: Die Weihnachtsspiele im sächsischen Erzgebirge. Zwickau 1861. Moser, Hans: „Das altbayerische Volksschauspiel des 17. und 18. Jahrhunderts“, in: Bayerischer Heimatschutz. Zeitschrift für Volkskunst und Volkskunde, Heimatschutz und Denkmalpflege. Band 24 (1928), S. 72-75.
L ITERATURVERZEICHNIS | 375
Ders.: „Zur Geschichte des Winter- und Sommerkampfspiels“, in: Bayerischer Heimatschutz. Band 29 (1933), S. 33-40. Ders.: „Volksschauspiel“, in: Die deutsche Volkskunde. Band 1 (1934), S. 349351. Ders.: „Zur Geschichte des Sternsingens“, in: Bayerischer Heimatschutz. Band 31 (1935), S. 19-30. Ders. und Raimund Zoder: Deutsches Volkstum in Volksschauspiel und Volkstanz. Berlin 1938 (Deutsches Volkstum. Band 3). Ders.: „Neue archivalische Belege zum Perchtenlaufen“, in: Bayerische Hefte für Volkskunde. Band 12 (1939/40), S. 62-80. Mössinger, Friedrich: „Ein Odenwälder Weihnachtsumzug“, in: Hessische Blätter für Volkskunde. Band 35 (1936), S. 88-95. Ders.: „Ein Odenwälder Dreikönigsspiel“, in: Volk und Scholle. Band 18 (1937), S. 7-20. Mudrak, Anton: Weihnachten der Heimat. Das Zwittauer Hirten- und Dreikönigsspiel. Landskron 1923 (Die Schönhengster Heimatbücherei. Nummer 8). Müller, Alfred: Die sächsischen Weihnachtsspiele, nach ihrer Entwicklung und Eigenart. Leipzig 1930 (Sächsisches Volkskunst. Band 7). Müller, Pfarrer: Die Heimkehr des Vermißten am heiligen Abend. Patriotisches Weihnachtsbild in 1 Akt. Mühlhausen i. Th. 1916 (Aufführungen für Weihnachten und Neujahr. Nummer 52). Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Hauptamt für Erzieher Hauptstelle Schulung Fest- und Freizeitgestaltung im NSLB (Hg.): Amtliche Mitteilungsblätter der Hauptstelle Schulung im Hauptamt für Erzieher der NSDAP. Nummer 4 (1937). Neue Zeitschrift für Musik. Band 22. Nummer 31 (1845). Neue Zeitschrift für Musik. Band 27. Nummer 35 (1847). Niessen, Carl: „Die Haaß-Berkow-Spiele“, in: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur. 14. Jahrgang. Heft 7 (1922), S. 549-552. Nietzsche, Friedrich: Autobiographisches aus den Jahren 1856-1869. München 1954. Nikisch, Amélie: Prinz Adolar und das Tausendschönchen. Weihnachtsmärchen mit Musik. Manuskript (circa 1906): Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, GbTh/N. O.A.: „Von den Volksspektakeln in Bayern, und besonders von der Schaubühne zu München“, in: Litteratur- und Theater-Zeitung, 23. Oktober 1784, S. 4956. O.A.: Die Welt im Argen. Mit der Geißel verfolget von Heraklitos, Demokritos. Erste Geißelung. Gedruckt auf Kosten eines Ungenannten. Berlin 1805.
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O.A.: „Görners Weihnachtskomödien“, in: Braunschweiger Tageblatt, 11. April 1884. O.A.: „Ein Weihnachtsspiel in Wien“, in: Welt-Neuigkeits-Blatt, 30. Dezember 1893, S. 4. O.A.: „Kraliks Mysterium“, in: Reichspost, 1. Januar 1894, S. 5. O.A.: „Aus dem Theaterbureaux“, in: Hamburgischer Correspondent, 1. Dezember 1903, S. 11. O.A.: „Aus dem Kunstleben“, in: Tägliche Rundschau, 3. Dezember 1914, S. 4. O.A.: „Die Weihnachtsfeier im großen Hauptquartier“, in: Hamburger Kriegsbuch 1914. Band 1, S. 324. Oberkommando der Wehrmacht. NS-Führungsstab (Hg.): Soldatenblätter für Feier und Freizeit. 2. Jahrgang (1941). Oesau, Ferdinand: Der Waisenkinder Märchenfahrt. Weihnachtsmärchen mit Gesang und Tanz in 6 Bildern. Musik von Carl Krüger. Manuskript (circa 1904): Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Gbk/O. Ders.: Ein Märchen vom lieben Gott. Weihnachtsmärchen in 6 Bildern. Musik von Carl Krüger. Manuskript (circa 1909): Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Gbk/O. Opel, Hans: Arbeitslos am Weihnachtsabend. Lebensbild mit Gesang in 2 Akten. Leipzig 1921 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 8). Pailler, Wilhelm: Krippenspiele aus Oberösterreich und Tirol. Mit 31 Singweisen. Innsbruck 1883. Pals, Leopold van der: Lieder und Chöre mit Pianofortebegleitung zu den von Karl Julius Schröer gesammelten deutschen Weihnachtsspielen (1. Oberuferer Paradeisspiel, 2. Oberpfaelzisches Hirtenspiel, 3. Oberuferer Weihnachtsspiel). Neuauflage. Dornach 1974 (1919). Panske, Johann Leopold: Weihnachtsspiele. Mit vier Bildern. Schrobenhausen 1890, 3. Auflage. Petzet, Wolfgang: Otto Falckenberg. Mein Leben – mein Theater. Nach Gesprächen und Dokumenten aufgezeichnet. München 1944. Pfeffel, Gottlieb Konrad: Dramatische Kinderspiele. Straßburg 1769. Pfitzner, Hans: Das Christelflein. Spieloper in 2 Akten op. 20. Nach der Original-Dichtung von Ilse von Stach umgedichtet von Hans Pfitzner. Vollständiger Klavierauszug mit Text. Berlin 1918. Polek, Johann: Deutsche Weihnachtsspiele aus der Bukowina. Czernowitz 1912 (Jahrbuch des Bukowiner Landesmuseums. Band 17/18). Pröhle, Heinrich: Geistliche und weltliche Volksschauspiele und Volkslieder. Stuttgart 1863.
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Rappard, Eva von: Die Daheimgebliebenen. Weihnachtliches Stimmungsbild aus der großen Zeit des Völkerkrieges 1914. Mühlhausen i. Th. 1914 (Kriegstheater. Nummer 8). Raupach, Ernst: Der Müller und sein Kind. Volksdrama in fünf Aufzügen. Hamburg 1835. Reinicke, Ludwig: Kriegsweihnachten bei den Zwergen. Märchenspiel mit Gesang und Reigen in 3 Bildern. Mühlhausen i. Th. 1915 (Danner’s Jugendbühne. Nummer 71). Renker, Felix: Der Kriegswaisen Weihnacht. Patriotisches Weihnachtsspiel in 1 Akt. Mühlhausen i. Th. 1918. Ders.: Vergeltung. Weihnachtsstück in zwei Aufzügen. In neuer Bearbeitung von Arthur Hofmann. Leipzig 1920, 5. Auflage (Arbeiterbühne. Nummer 19). Ders.: Der Erwerbslosen Weihnachten. Lebensbild mit Gesang in einem Akt. Leipzig 1921 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 6). Ders.: Schutzhaft oder Eine unterbrochene Weihnachtsbescherung. Komödie in einem Akt. Leipzig 1921 (Neue soziale Weihnachts-Bühne. Nummer 4). Ders.: Weihnachtsglück und Leid. 5 lebende Bilder mit begleitendem Wort. Leipzig 1921 (Soziale lebende Bilder. Nummer 4). Renker, Erich: Das verlorene Lachen. Ein Weihnachtsmärchenspiel mit Gesang, Reigen und Tanz in vier Bildern. Musik von Paul Liebscher. Leipzig 1925 (Neue-Märchen-Bühne. Nummer 6). Ressel, Max: Durch Kriegesleid zur Weihnachtsfreud. Schauspiel in 1 Aufzug. Mühlhausen i. Th. 1918 (Aufführungen für Weihnachten und Neujahr. Nummer 54). Reutter, Hans: „Südmährische Weihnachtsspiele“, in: Zeitschrift des Deutschen Vereines für die Geschichte Mährens und Schlesiens. Band 18 (1914), o.S. Rode, August von: Kinderschauspiele. Leipzig 1776. Rosenfeld-Roemer, Ernst: Johann Baptist Schenk als Opernkomponist. Dissertation Universität Wien 1921. Rotter, Friedrich: „Adventsspiele“, in: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde. Band 24 (1923), S. 127-140 und Band 25 (1924), S. 106-120. Ders.: „Das große Christkindspiel von Spornhau“, in: Schlesische Blätter für Volkskunde. Band 3 (1941), S. 56-70. Saathoff, Albrecht (Hg.): Kriegsweihnacht 1914. Ein Weihnachtsbuch für unser Heer und Volk. Göttingen 1914. Ders. (Hg.): Kriegsweihnacht 1916. Eine Weihnachtsgabe für unser Heer. Von Pastor Saathoff, Militärgeistlicher in Göttingen. Göttingen 1916.
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L ITERATURVERZEICHNIS | 381
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Zechner, Evelyn: „Kaspar saust von Sieg zu Sieg“. Sozialhistorische und soziologische Studien zu ausgewählten Puppenspielen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Graz 2011 (Lithes. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie. Sonderband 2).
Theater- und Tanzwissenschaft Marc Wagenbach, Pina Bausch Foundation (Hg.) Tanz erben Pina lädt ein 2014, 192 S., kart., zahlr. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2771-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2771-2
Marc Wagenbach, Pina Bausch Foundation (eds.) Inheriting Dance An Invitation from Pina 2014, 192 p., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2785-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2785-9
Gabriele Klein (Hg.) Choreografischer Baukasten. Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3186-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3
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Theater- und Tanzwissenschaft Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.) Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit (unter Mitarbeit von Sarah Wessels) Oktober 2016, 664 S., kart., zahlr. Abb., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3603-1 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3603-5
Katharina Kelter, Timo Skrandies (Hg.) Bewegungsmaterial Produktion und Materialität in Tanz und Performance Juni 2016, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3420-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3420-8
Tania Meyer Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit April 2016, 414 S., kart., zahlr. Abb., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3520-1 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3520-5
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