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German Pages 345 Year 2009
BEIHEFTE
ZU
editio Herausgegebenvon
Band 28
WINFRIED
WoESLER
Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaft
Herausgegeben von GertraudMitterauer, UlrichMüller, MargareteSpringethund VerenaVitzthum in Zusammenarbeitmit WernerM Bauer und SabineHofer
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2009
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie: detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Ober http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-484-29S28-S
ISSN 0939-S946
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG
C,
http://tt-ww.niemeyer.de
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fOr Vervielfllltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH. Kempten
Inhalt
Vorwort.......................................................................................................................
l
SPEZIELLE PROBLEME DER BRIEFEDITION Roland S. Kamzelak Zur Nachhaltigkeit von elektronischen Texten: XML und TEi ..................................
3
Klaus Ger/ach Zur Textkritik von Handschriften. Ihre Notwendigkeit und hermeneutische Dimension, dargestellt am Beispiel des Briefwechsels zwischen Böttigers und Duvau ................................................................... ...... ........................ 19 Jan Gielkens Kritik am Text und Textkritik. Die Geschichte des Briefwechsels zwischen Hennan Gorter und Vladimir Il'ic!!Lenin..................................................................
29
Hartmut Laufhütte Warum und wie sollen Literatenbriefwechsel des 17. Jahrhunderts kritisch ediert werden? Ein Fallbeispiel und grundsätzliche Überlegungen..........................
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Elke Richter ,,schreibe nur wie du reden würdest ... ". Probleme der Textkonstitution und Textdarbietung bei Briefausgaben, erläutert an Beispielen aus der historischkritischen Ausgabe von Goethes Briefen..................................................................
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Ursula A. Schneider/ Annette Steinsiek Warum und unter welchen Umständen ist eine textkritische Bearbeitung von Briefen sinnvoll? Fragen und Antworten entlang der Arbeiten am Kommentierten Gesamtbriefwechsel Christine Lavants ............. ...... ...... ...... ...... .... .. 69
VI
Inhalt
HISTORISCHE PERSPEKTIVEN
Günter Arnold Philologische Textkritik als Technik geistiger Überlieferung bei Johann Gottfried Herder .....................................................................................
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Reinmar Emans Möglichkeiten und Grenzen der Textkritik bei Incerta ............................................. 103 Jan Bloemendal/Henk Nel/en Early Enlightenment of High Philology? Biblical textual criticism by two famous alumni ofLeiden University, Daniel Heinsius and Hugo Grotius ........ 113 Michael Kube Franz Schuberts Deutsche Trauermesse (D 621) als Problem der Text- und Stilkritik ........ .................... ............ ............. .... ............... .. ..... .......... .. .. 129 Richard Sper/ Textkritik und Marx-Engels-Edition ........................................................................
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FALLSTUDIEN I
Michael Fisch „Die Landschaft ist die Sprache." Über Bedingungen und Möglichkeiten einer Ausgabe der Gesammelten Werke von Gerhard Rühm ................................... 153 Jürgen Hein Textkritische Probleme der Edition von Ferdinand Raimunds Zauberspielen .......... 161 Walter Hettche „Von dem Verfasser selbst herausgegeben". Überlieferung und Textkritik der Fabeln Magnus Gottfried Lichtwers ...................................................................
171
Ferdinand van Ingen Textkritische Probleme bei der Edition von Grimmelshausens Simp/icissimus ....... 183 Johannes John/Herwig Gottwald Textschichte. Ein Werkstattbericht zur Edition der späten Erzählungen Die Mappe meines Urgroßvaters (3. und 4. Fassung) und Der fromme Spruch l .und 2. Fassung) innerhalb der Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Ada/bert Stifters .....................................................................................
195
VII THEORIE DER TEXTKRITIK Karl Konrad Po/heim t Textkritik und Interpretation bedingen einander ...................................................... 209 Ursula &hulze Synopse als Hilfsmittel und als Selbstzweck. Probleme der Textkritik beim Geistlichen Spiel ..............................................................................................
221
Marita Mathijsen Genetic textual editing: the end of an era ................................................................. 233 Beatrix Cardenas-Tarrillo Textkritische Arbeit an einer Mischhandschrift des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Zur Edition der Jaufener Handschrift (cod. ser. n. 3430) ............. 241 JensStüben Textkonstitution und Interpretation. Über den editorischen Umgang mit nachgelassenen Gedichten Nikolaus Lenaus ............................................................ 247
STUDIEN-AUSGABEN: JA ODER NEIN? Gabriele Radecke Popularität und Wissenschaftlichkeit. Möglichkeiten, Probleme und Grenzen textkritischer Verfahrensweisen am Beispiel der Studienausgaben von Theodor Fontanes erzählerischem Werk ................................................................................. 265 Wernfried Hofmeister Zur Genese der neuen Studienausgabe der Werke Hugos von Montfort. Ein Praxisbericht über ,experimentelle' Textkritik für, mit und von Studierenden ........ 277
EDV-GESTÜTZTE TEXTKRITIK Wolfgang Wiesmüller Textkritik und Dekonstruktion. Überlegungen zu neuen textgenetischen Modellen anhand der Internet-Edition der Witiko-Handschriften von Adalbert Stifter ............ 283 Peter Boot Emblem Book Digitisation: State of Affairs, Options and Challenges ..................... 291
VIII
Inhalt
FALLSTUDIEN II Erwin Gartner / Klaus Kastberger Ödön von Horvath: Wiener Ausgabe. Grundlagen und Maximen ............................ 303 Eberhard Sauermann Textkritik bei der Edition von Trakts Werk .............................................................. 317 Martin J. Schubert Reise zu den Grenzen der Textkritik. Beobachtungen anhand des Passionals ......... 329
Die Reihenfolge der Beiträge entspricht derjenigen während der Tagung.
Vorwort
Die Arbeitsgemeinschaft für germanistische Editionen hat, in Zusammenarbeit mit fachbezogenen Nachbardisziplinen, in der Zeit vom 25.-28. Februar 2004 zusammen mit dem Institut für deutsche Sprache, Literatur und Literaturkritik der LeopoldFranzens-Universität Innsbruck eine Tagung zu folgendem Thema veranstaltet: ,,Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswisenschaft". In der Ausschreibung war dazu formuliert worden: ,,Die Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition hält es für geboten, erneut einen Zentralbegriff der editorischen Tätigkeit in den Mittelpunkt einer Tagung zu stellen. Im Verlauf der vergangenen Jahr(zehnt)e hat sich in diesem Bereich eine vielfältige Entwicklung vollzogen, verbunden mit neuen Überlegungen und auch nachhaltigen Irritationen". Vorbereitet, organisiert und geleitet wurde die Veranstaltung durch Werner M. Bauer (Universität Innsbruck), nachhaltig unterstützt durch Sabine Hofer (Universität Innsbruck). Mehrere Institutionen haben die Tagung durch Unterstützungen gefürdert: Die Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, das Forschungsinstitut BrennerArchiv, das Kulturreferat des Landes Tirol, das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Wien), die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Bank Austria Creditanstalt sowie die Hypo Tirol Bank. Allen Genannten gilt der Dank der Arbeitsgemeinschaft und derjenigen, die an der erfolgreichen und harmonisch verlaufenen Tagung teilnahmen. Wie bei allen diesen Tagungen war es geplant, die Beiträge in verschiedenen Nummern der Zeitschrift „editio" (Vorträge mit übergreifender Thematik) sowie in einem Beiheft derselben Zeitschrift (Vorträge mit spezieller Themenstellung und zu einzelnen Editionsprojekten) zu publizieren. Die Veranstalter in Innsbruck haben damit begonnen, die Publikation des Sonderheftes vorzubereiten, wurden dann aber durch gleich mehrfache schwere private Schicksalschläge daran gehindert, diese Arbeit fortzuführen. In Absprache mit dem Herausgeber der „editio"-Beihefte hat dann ein Team der Universität Salzburg (IZMS/lnterdisziplinäres Zentrum für MittelalterStudien der Universität Salzburg; Ältere Abteilung des Fachbereichs Germanistik; MHDBDB/ Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank), zusammen mit Winfried Woesler, die Aufgabe übernommen, das sozusagen steckengebliebene Schiff wieder in Fahrt zu bringen und den Band, wenn auch mit Verzögerung, für die Publikation zu betreuen. Dankend erwähnen möchten wir hier, und dies gleichfalls im Namen von Winfried Woesler, die auch in dieser Phase gut funktionierende Absprache mit Werner M. Bauer und Sabine Hofer (Innsbruck), ferner die vom Forschungsinstitut Bren-
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Vorwort
nerarchiv (Johann Holmer) vermittelte Unterstützung durch das Kulturreferat des Landes Tirol sowie die Mithilfe der oben genannten Institutionen der Universität Salzburg. Schließlich gilt unser gemeinsamer Dank dem Max Niemeyer Verlag fllr eine höchst effektive Zusammenarbeit. Salzburg, im November 2008 Gertraud Mitterauer Ulrich Müller Margarete Springeth Verena Vitzthum
Roland S. Kamzelak
Zur Nachhaltigkeit von elektronischen Texten: XML und TEi
Vor Katastrophen wie dem schrecklichen Brand in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB) in Weimar am 2. September 2004, der nicht nur kulturgeschichtlich bedeutsame Bücher unwiederbringlich vernichtete, sondern auch einen Teil des Denkmals, das die Bücher schützen sollte, ist man nie sicher, kann letztendlich nur das Möglichste tun: Brandschutzmaßnahmen und Katastrophenschutzpläne aufstellen und Übungen abhalten, um die Auswirkungen einer Katastrophe so gering wie möglich zu halten. 1 Auch der Säurefraß in industriell gefertigten Papieren in der Zeit von circa 1850 bis heute ist eine schwere Katastrophe, denn die Massenneutralisation bindet über viele Jahre hinweg große personelle und finanzielle Ressourcen: Prioritätenlisten müssen erstellt und laufend aktualisiert werden, die Chargen müssen vorbereitet, für die Benutzung gesperrt, entsäuert und wieder eingestellt werden. Schließlich muß die erfolgreiche Neutralisation verzeichnet werden oder - was leider auch vorkommt Schäden durch die Behandlung müssen repariert oder es muß für Ersatz gesorgt werden.2 Doch es ist sehr wichtig in diesem Zusammenhang herauszustellen, daß „der saure Tod im Bücherregal" eine andere Art von Katastrophe als der Brand in der HAAB ist. Denn das Problem ,Säurefraß' entstand durch direktes menschliches Einwirken - Säurestiftung sozusagen. Zu Gunsten größerer Mengen an Papier wurde und wird die Haltbarkeit vernachlässigt. Freilich wurde das Problem während der Entwicklung von der Verwendung von Seide, Seidenresten, Hadern und schließlich Holzschliff noch nicht erkannt. Moritz Illig hatte 1804 keine Kenntnis von den chemischen Prozessen innerhalb der Zellen beim Zusammentreffen der Holzfaseranteile im Papierbrei mit der Harz-Alaun-Leimung. 3 Doch wir haben schon lange Kenntnis davon, blieben aber lange untätig und sind es bis heute: Die Nachhaltigkeit wurde und wird bereits bei der Produktion aus dem Blick genommen. Bei elektronischen Texten gibt es keine Säuren, die die Texte von innen her angreifen, nein, es ist noch viel schlimmer! Seit der industriellen Fertigung von Papier sind 150 Jahre vergangen. Auch wenn viele fragil geworden und getlhrdet sind, zu Staub zerfallen sind bis heute wenige. Bei elektronischen Texten gibt es diesen schleichenden Verfall nicht. Entweder der elektronische Text ist intakt oder aber völlig unzugänglich. 1
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Vgl. http://www.anna-amalia-bibliothek.de (gesehen 12.12.2004). Roland S. Kamzelak: Schrift- und Kulturgut in Gefahr. Chancen und Risiken der Massenentsäuerung. In: Imprimatur. Jahrbuch für Bücherfreunde, Neue Folge XVII (2002), S. 261-279 Moritz Illig: Anleitung auf eine sichere einfach wohlfeile Art Papier in der Masse zu leimen. Als Beitrag zur Papiennacherkunst. Mit einem biographischen Vorwort von Annin Renker und einem Nachwort von Berthold Comely. Nachdruck der Originalausgabe von 1807. Mainz 1959 [ 1807].
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Roland S. Kamze/ak
Was kann mit elektronischen Texten passieren: 1. Das Speichermedium bat einen Defekt. Die Information ist nicht mehr auffindbar; ist verloren. 2. Das Zusammenspiel von Daten - dem elektronischen Text - und dem Anwenderprogramm stimmt nach einem Programmupdate nicht mehr. Die Daten sind „veraltet". 3. Das Zusammenspiel von Anwenderprogramm und Betriebssystem stimmt nicht mehr. Das Programm ist „veraltet". 4. Das Zusammenspiel von Anwenderprogramm und Betriebssystem funktioniert. aber nicht auf der vorhandenen Hardware, dem Prozessor. Die Langzeitverfügbarkeit elektronischer Dokumente hängt einerseits von dem Speichermedium ab wie beim Säurefraß, doch mehr noch hängt sie von der technischen Weiterentwicklung der Lese- und Verarbeitungsgeräte ab sowie der verwendeten Software: Hightech-Systeme veralten paradoxerweise besonders schnell. Um die Informationen dennoch verfügbar zu halten und zu archivieren, gibt es derzeit drei Ansätze: die Migration, die Emulation und die Konversion.
l. Migration Sie halten die Information ,jung', indem Sie bei jedem Technik-Sprung das Format des Datenträgers anpassen, sprich von einer 5 ¼ Zoll-Diskette auf eine 3 ½ ZollDiskette umkopieren bzw. von einer CD-ROM auf eine DVD usw. Die Anwendersoftware zum Abspielen muß ebenfalls migrieren. Bei der Migration sichert man nur die reine Information in der Hoffnung auf kommende, technisch fortschrittlichere Generationen, die die „gesicherte" Information wieder hervorholen können.
2. Emulation Bei der Emulation wird versucht, die System-Vergangenheit zu emulieren, d.h. die ursprüngliche Hardware- und Betriebssystem-Umgebung nachzuahmen, um die digitale Information in ihrer ursprünglichen Software-Umgebung zugänglich zu machen und zugänglich zu halten. Dabei werden die Datenträger mit der Information, dem Betriebssystem und der Anwendersoftware wie beschrieben migriert. Diese werden mit einer ausführlichen Dokumentation der Hardware, Software und Funktionalität sowie einer Beschreibung, wie alle diese Komponenten ineinandergreifen archiviert. Dies alles ist bereits viel Arbeit, doch es geht weiter: Diese Dokumentation wiederum muß durch eine Art Migration ,jung' gehalten werden, angepaßt auf neuen Sprachgebrauch und neue Technologie, welche die Emulation vollführen soll.
Zur Nachholtigkeit von elektronischen Texten: XML und TEi
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Hält man diese Emulation ftlr unmöglich, muß man Hard- und Software in ihrem ursprünglichen Zustand im Lager vorhalten. Die Dokumentation, wie diese zu bedienen sind, muß dann trotzdem erstellt werden und migrieren. Dieses Technikmuseum - welches meines Wissens nur das Bundeskriminalamt so vorhält - bedingt einen großen logistischen und technischen Aufwand (Lagerraum, Ersatzteillager und qualifizierte Techniker, die gegebenenfalls Ersatzteile selbst fertigen können).
3. Konversion Die dritte Möglichkeit der Langzeitverfügbarkeit digitaler Informationen versucht, die Information auf analogen Trägem zu archivieren, d.h. auf Microfiches, Microfilm oder Papier. Die Funktionalität - falls vorhanden - geht vollständig verloren. Der hohe technische, finanzielle und zeitliche Aufwand der Emulation ist zu scheuen, besonders bei einer so unsicheren Erfolgschance, die sich auf kommende Technik verlassen muß. Die Migration ist vielfach bereits Praxis, um wenigstens die Daten irgendwie zu bewahren. Ein Szenario: Nika Bertram, Jahrgang 1970, Erstling 2001: der lcahuna modus. Gleichzeitig mit dem Roman erschien ein MUD 4 auf www.kohunamodus.de. Der Plot des MUD ist identisch mit dem des Romans. Aber eben doch nicht ganz. Die Story folgt den Gesetzen der Interaktivität, der Iteration, der Bildschirmpräsentation in der Länge von Einträgen und so weiter. Bertram schrieb den Plot des MUD nicht sukzessive, sondern ,flächig', mit einer Flowchart. Wenn nun Nika Bertram sagen wir im Jahr 2040 ihren Vorlass an ein Archiv verkauft und ihre Kahuna Flowcharts des Programms Inspiration oder ähnliches abliefert, haben wir ein großes Problem. Liefert Sie dann auch das Programm Inspiration mit? Und die Beschreibung? Bewahrt Sie Ihren alten Computer ebenfalls auf, auf dem all diese Programme laufen? Autoren geben heute bereits Ataridisketten an Archive ab, die nur mühsam entziffert werden können. Vorausgesetzt das Archiv beschäftigt einen Mitarbeiter, der früher einmal einen Atari verwendet hat und noch Wissen darüber reaktivieren kann. Vielleicht gibt es viele Autoren wie Nika Bertram, die konventionelle Romane schreiben und gleichzeitig Text Adventures. Da wir nicht damit rechnen können, daß Autoren ihre Daten migrieren, emulieren, konvertieren, werden Archive zunehmend Material bekommen, das sie nicht handeln können. Bestandserbalter müssen die Migration und die Konversion völlig ausschließen, da sie die Werke nicht in ihrer ursprünglichen Form erhalten. Da die Emulation einen Teil migrieren muß, flUltauch diese Strategie aus, obwohl sie noch die beste wäre. Eine systemunabhängige Variante gibt es aber bereits mit der Standard Generalized Markup Language, SGML. SGML basiert vom verwendeten Zeichenmaterial her nur auf den 127 Zeichen des Basis-ASCII-Satzes. Dem kleinsten Nenner also, auf den sich alle Computersysteme bislang geeinigt haben. Alle Zeichen, die nicht darin enthalten sind - und das sind im wahrsten Sinne des Wortes eigentlich alle Zeichen 4
MUD = Multiple User Dungeon, vgl. http://www.mud.de (gesehen 12.12.2004).
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Roland S. Kamze/ak
werden über eine eindeutige Zeichenliste codiert (UNICODE). Durch diese einfache Voraussetzung ist der Quelltext mit jedem x-beliebigen Programm auf einem xbeliebigem System - wenn es nur irgend Zeichen darstellen kann - lesbar. Die Konversion in Papierform ist ebenfalls möglich. Insofern ist das Gebot der Systemunabhängigkeit auf der Ebene der Zeichen gelöst WYSIWYG, What you see is what you get, ist freilich damit verabschiedet. Alle Formatierungen müssen als Code in den Text eingebracht werden, als Markup, welche dann von anderen Programmen (Browsern, Formattern) in Druckformate übersetzt werden können. Um einen SGML-Text handhabbar zu machen, muß ihm eine Art Grammatik beigegeben werden. Diese Grammatik, genannt Document Type Definition oder kurz DTD, wird dem eigentlichen Text vorangestellt. Die Document Type Definition beschreibt neben Art und Weise, Sinn Qnd Zweck, Verfasser, Datumsangaben usw., also einer Datei-Information, welche Auszeichnungen im Text verwendet wurden und was diese bedeuten. Auch diese DTD ist systemunabhängig lesbar und so ist es und bleibt möglich, den ,intendierten' Text über diese Grammatik zu erschließen. Das Markup liefert dabei nicht nur Formatinformation, sondern bringt hochwertige, auch interpretierende Informationen ein: Jetzt folgt ein Gedicht, eine Strophe, ein Vers, Kommentar usw. Bei WYSIWYG, also auch bei einer gedruckten Seite, müssen Sie interpretieren, was die Formatierung meint - sie folgt vielleicht Konventionen, die wir - jetzt noch - kennen. Überschriften sind vielleicht fett und abgerückt, Zitate sind kursiv und eingerückt usw. Kann diese Formatierung nicht mehr dargestellt werden - und ich habe dies bei elektronischen Texten schon oft erlebt-, ist die spezifische, interpretierende Information verloren. SGML hat sich nicht weit verbreitet, durch eine entscheidende erlaubte Regel, die omission rufe. Sie besagt, daß tags nicht unbedingt geschlossen werden müssen. Diese Regel ist filr Verarbeitungsprogramme schwer zu handhaben. Erst mit XML, die eben diese Regel nicht mehr enthält, findet die Auszeichnungssprache die Verbreitung, die sie verdient. XML wird häufig auch als Archivierungsformat bezeichnet. Es soll ein Abfallprodukt sein nach Beendigung der Arbeit an einer Edition. Für die Arbeit selbst und filr den Druck nimmt man stattdessen lieber TUSTEP oder gar Word. Wer garantiert aber, daß die Layoutkonventionen verstehbar bleiben? Wie oft ist die Finanzierung bei Editionsprojekten weggebrochen, so daß die Edition liegenblieb. Die Daten veralten stillschweigend, denn ohne Projektabschluss kein Archivierungsformat und keine Ressourcen, um die Daten in einem vernünftigen Stadium zu sichern. Dies spricht filr eine Bearbeitung in XML, mit einer international anerkannten und dokumentierten DTO, wie der der TEi. Nur so kann der Datenverfall verhindert werden. Die Text Encoding Initiative (TEi) ist ein Zusammenschluß von Wissenschaftlern, die mit elektronischen Texten arbeiten. Meist Editoren. Sie erarbeiten DTDs, also Grammatiken von Auszeichnungen für Texte und stellen diese wieder der Wissenschaft zu Verfügung. Die Weiterentwicklung wird aktiv von den Mitgliedern betrieben und gelenkt. XML ist eine Auszeichnungssprache, die wie die gesamte SGML-Familie (dazu gehört auch HTML) unabhängig ist vom verwendeten Computersystem und unabhän-
Zur Nachhaltig/ceitvon elektronischen Texten: XML und TEi
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gig von der verwendeten Software. Sie wird zur Archivierung, zur Verarbeitung und zum Austausch von elektronischen Texten verwendet. Es ist eine Untermenge von SGML, dem ISO 8879 Standard, und mit dieser Auszeichnungssprache kompatibel. XML entspricht den Regeln von SGML - der Umkehrschluß ist jedoch nicht zutreffend. Ebenso ist XML entwickelt worden, um mit HTML Austauschmöglichkeiten zu schaffen. Im Abstract der XML-Definition von Tim Bray, Jean Paoli, C. Michael Sperberg-McQueen und Eve Maler des W3C heißt es: The Extensible Markup Language (XML) is a subset of SGML that is completely described in this document. Its goal is to enable generic SGML to be served, received, and processed on the Web in the way that is now possible with HTML. XML has been designed for ease of implementation and for interoperability with both SGML and HTML. 5
Marlcup, encoding oder Textauszeichnung - drei synonyme Begriffe - heißt in erster Linie, die Interpretation eines Textes in elektronischer Form explizit zu machen. Eine Textauszeichnungssprache ist eine Sammlung von Textauszeichnungskonventionen, um elektronische Texte gemeinsam benutzen zu können. Dafür muß die Textauszeichnungssprache angeben, welche Auszeichnungen erlaubt sind, welche unabdingbar sind, wie sich die Auszeichnungen vom Text selbst unterscheiden und schließlich, was die Auszeichnungen bedeuten. XML selbst beschreibt die ersten drei Punkte, während der vierte Punkt vom Benutzer geleistet werden muß.6 Gegenüber HTML besitzt XML einige wichtige Vorteile:
a) XML ist erweiterbar (extensible); es besitzt keine begrenzte oder festgelegte Anzahl von tags. b) XML-Dokumente müssen wohlgeformt sein; sie müssen einer formalen Syntax gehorchen, die auch durch ein Programm validiert werden kann. c) XML legt den Schwerpunkt auf inhaltliche, strukturelle Auszeichnung, nicht auf grafische. In XML werden die Strukturmerkmale als elements bezeichnet. Der Benutzer kann Elemente zur Auszeichnung bestimmen, ohne semantische Rücksichten nehmen zu müssen. Elemente beginnen jedoch immer mit einer geöffneten spitzen Klammer < und enden mit einer geschlossenen spitzen Klammer > wie schon bei HTML. So könnte ein Element mit Namen 3PO definiert werden als . Dieses Gebilde nennt man einen tag. In XML - und hier ist ein wesentlicher Unterschied zu SGML -
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Vgl. http://www.w3.org(TR/REC-xml (gesehen 12.12.2004). XML-Einfllhnmgen neben der bereits genannten Spezifikation des WJC: A Gentle lntroduction to XML. In: C. Michael Sperberg-McQueen and Lou Bumard (eds.): Guidelines for Electronic Text Encoding and lnterchange, Providence 1995; Neil Bradley: The XML Companion. Harlow 1998; Manfred Knobloch und Matthias Koch: Web-Design mit XML. Webseiten erstellen mit XML, XSL und Cascading Style Sheets. Heidelberg 2001; Henning Behme und Stefan Mintert: XML in der Praxis. Professionelles Web-Publishing mit der Extensible Markup Language.Bonn 1998.
Roland S. Kamzelok
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muß es immer einen start-tag und einen end-lag geben. 7 Der end-tag ist die Wiederholung des start-tag, mit Ausnahme eines slash I vor dem Elementnamen, also . Zu beachten ist auch, daß Elementnamen case sensitive sind, also 3PO und 3po oder 3p0 nicht identisch sind. ferner ist zu beachten, daß es dem Benutzer freisteht, verständliche Elementnamen zu vergeben. Es ist nur ratsam, inhaltslogische Namen zu vergeben. So erkennen wir in dem Satz »Die Aussage von Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut ist nicht eindeutig.«, daß es sich bei dem eingebetteten Satz um ein Zitat handelt - er ist als Zitat getagged. freilich ist der tag für jemanden, der nicht Deutsch spricht, genauso unverständlich wie 3PO, und freilich könnte man diesen tag auch zur Auszeichnung von verwenden. Dennoch ist die Verwendung verständlicher tags anzuraten und mehr noch, die Anwendung von international anerkannten tags, wie sie die TEI 8 bereitstellt, ist zu bevorzugen. Das Gedicht „Weitende" von Jacob von Hoddis kann beispielsweise so getagged werden:
Jakob von Hoddis WEL TENDE
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei, Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Ein so ausgezeichneter Text wird als we/1-formed, wohlgeformt bezeichnet. Die Leerzeilen, Zeilenumbrüche und Leerzeichen (außer zwischen den Wörtern) sind nur der Übersichtlichkeit halber hinzugefügt. Whitespace in XML bedürfte einer gesonderten Betrachtung; hier soll der generelle Hinweis genügen, daß das Beispiel ebenso gut so aussehen könnte: Jakob von HoddisWEL TENDE Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,[ ...]
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In SGML kann man sogenannte omission rules festlegen, die angeben,wann man auf das Schließen eines tags verzichten kann. Diese omission rules sind fUr Programme sehr schwer umzusetzen. Hier liegt ein entscheidender Vorteil von XML, wo das Schließen von tags grundsätzlich vorgeschrieben ist. Vgl. http://www.tei-c.org(gesehen 12.12.2004).
Zur Nachhaltigkeit von elektronischen Texten: XML und TEi
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Um wohlgeformt zu sein, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein: 1. Es muß ein das gesamte Dokument umschließendes Element mit start- und endtag vorhanden sein. Im Beispiel ist das . Es wird als root element bezeichnet (Wurzelelement). 2. Jedes weitere Element oder einfacher Text muß vom Wurzelelement umschlossen sein oder von einem Element, das im Wurzelelement enthalten ist (z.B. ). Elemente dürfen sich nicht teilweise überlappen, können aber hierarchisch gegliedert sein. 3. Es muß immer ein start- und ein end-tag vorhanden sein. Elemente dürfen aber leer sein. 4. Das Dokument muß von einem XML-Prolog eingeleitet werden. Die vierte Bedingung wird vom obigen Beispiel nicht erfüllt. Durch Hinzufügen der Zeile , dem XML-Prolog, wird das Beispiel wohlgeformt. Ein Programm, das XML-Dokumente auf Gültigkeit prüfen kann, ein Parser, erkennt das Dokument als XML-Dokument an (valid), wenn zuvor beschrieben wird, was für diesen Dokumenttyp als gültig angesehen werden soll. Diese Beschreibung wird in einem zusätzlichen Dokument (DTO) angegeben. Sie ist bereits eine Interpretation des Textes, da es seine Regeln und Elemente definiert und explizit macht. Die DTO wird in einer speziellen, aber sehr einfachen Syntax geschrieben:
Dies ist die Beschreibung von fünf Elementen. Wie bei tags werden die Deklarationen durch eine spitze Klammer geöffnet, dann folgt ein Ausrufungszeichen und ein DTDSchlüsselwort, hier dem Wort ELEMENT. Nach einem Leerzeichen kommt der Name des Elements, der generic identifier (GI) und das sogenannte content model, das beschreibt, was zwischen den start- und end-tags dieses Elementes enthalten sein darf oder muß. Der Elementname (GI) muß mit einem Buchstaben beginnen, darf jedoch Buchstaben, Ziffern, Bindestriche oder Unterstriche und Punkte enthalten. Groß- und Kleinbuchstaben werden voneinander unterschieden (case sensitive). Das content model enthält entweder Text, #PCDA TA (parsed character data), oder weitere Elemente. Mit sogenannten occu"ence indicators bestimmt man, wie oft ein Element vorkommen darf oder muß. Das Pluszeichen (+) bedeutet, daß ein Element ein oder mehrmals vorkommen darf. Das Fragezeichen (?) heißt, daß ein Element vorkommen kann, aber nicht muß. Ein Asteriskus (*) bedeutet, daß ein Element einmal oder mehrmals enthalten sein darf, aber auch fehlen kann. Die vollständige Liste sieht so aus:
Roland S. KamzelaJc
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········--
ANY (#PCDATA) EMPTY NDATA 1
,
n
···-···
·····-·-····-
-·
•••••••••••H-••O
-------------·····•····-···-·-
? +
-------•--•'••·.. -·---·----·-----·-
•····
•
Beliebiger Inhalt: Zeichenketten oder definiertes_Markup. _____ ·--•- - . Beliebige Zeichen. Kein Inhalt. BinAre Daten. Keine XML-Daten. Trennzeichen fllr Auswahlliste = oder. -----------·----·-···--------·--··•-•·•----·----··- .. Trennzeichen fllr eine Liste mit fester Reihenfolge. _ ___ _ Gruooiertl!_l_S8-.~!chen. ·•-- ..•-------·---·--·-··· -- ···------· Leerzeichen: Genau ein Vorkommen. . -------· ···--······-·· -----·---·-···--·---. Kein oder ein Vorkommen. --· --····Mindestens ein Vorkommen oder mehrere. ____________ Kein, eines oder mehrere Vorkommen . -···--··--·· ·----Mixed content: Zeichenketten oder soezifiziertes Markup.
..--------··-----· ....
(#PCDATA 1 )
.,
.,
Im Beispiel »« kann in einem Gedicht ein Autor vorkommen, muß aber nicht. Ebenso kann ein Titel vorhanden sein, doch auch ohne Titel handelt es sich um ein Gedicht, solange es mindestens eine Strophe besitzt. Die Strophe besteht aus einem oder mehreren Versen, die jeweils aus Text bestehen. Ebenfalls definiert ist die Reihenfolge der Elemente innerhalb des Elementes »gedieht«. Durch das Komma wird angezeigt, daß die Elemente in dieser Reihenfolge vorkommen. Das Komma gibt eine Sequenz an, während eine vertikale Linie Alternativen angibt. »autor I titel I strophe+« würde ein Gedicht ergeben, das entweder aus Autor, Titel oder Strophen besteht. Diese Angaben - Komma und vertikale Linie nennt man connector. Ein Dokument, das mit dieser DTO ausgestattet ist, würde als gültig validiert werden, wenn es so ausgezeichnet wllre9 :
]>
Jakob von Hoddis WEL TENDE
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, ln allen Lüften hallt es wie Geschrei, Dachdecker stünen ab und gehn entzwei Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.
•
Die Behandlung der Sonderzeichen (hier U und 1) folgt an anderer Stelle. Ebenso ist an der Stelle noch nicht angegeben, wie die Elemente in einer bestimmten Ansicht (Bildschirm oder Druck) dargestellt werden sollen.
Zur Nachhaltiglceit von elektronischen Texten: XML und TEi
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Der Stunn ist da. die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dllmmezu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brilcken.
In der XML-declaration wurde die Angabe hinzugefügt, daß die DTO enthalten ist (standalone = ,,yes"), dann folgt die DTO ft1rden Typ »gedieht«. Der Name der DTO entspricht in der Regel dem Wurzelelement. Die DTO kann auch in einer separaten Datei abgelegt werden, so daß sie ft1rverschiedene Texte gleichen Typs verwendet werden kann. 10 Dann ist das Dokument nicht mehr standalone, sondern benötigt die Angabe der DTO-Datei mit genauer Pfadangabe:
),dann kann ein Parser überprüfen, ob wirklich nur die angegebenen Werte verwendet wurden. Im Beispiel A, B, C oder D. Die Verwendung von E würde als exception bemerkt werden. Attribute sind also auch ein wichtiges Instrument, um ein Dokument auf Gültigkeit zu prüfen. Elemente und Attribute dienen zur Beschreibung der Struktur von Texten. Daneben gibt es eine Methode, um einen Teil des Dokumentes namentlich anzusprechen, die Entität oder entity. Entities besitzen einen Namen und einen Inhalt, also eine Zeichenkette oder sogar eine Datei. Entities werden in der DTD deklariert, so daß im Text darauf - sogar mehrmals - verwiesen werden kann (entity reference). Der Parser expandiert dann den Namen der Entität auf ihren Inhalt. Deklariert man beispielsweise:
Wird im Text &hvhll; eingefügt, holt sich der Parser den Inhalt der Datei »hvh_ll.xml« und fügt sie an dieser Stelle ein. Diese Methode eignet sich sehr gut, um Teile eines größeren Dokumentes zusammenzuführen, z.B. Kapitel eines Buches. Entities werden auch benutzt, um Zeichen außerhalb des 7-bit-ASCII Zeichensatzes darzustellen. In HTML wird der sprechende Code ä (a Umlaut) als ä dargestellt. Als Unicode Zeichen muß der Hexadezimalcode OOE4verwendet werden. Um zwischen dem sprechenden Namen und dem eher sperrigen Hexcode eine Verbindung herzustellen, werden character entities deklariert wie
Roland S. Kamzelak
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> > > > > > > > > > >
fllr die Zeichen a,A,ä, A,a, A,ä, A,ä, Ä, ä, Ä. Mit externen entities kann man auch Daten einbetten, die keine XML-Daten sind, wie zum Beispiel Bilder. Dies muß jedoch durch das Schlüsselwort NDATA mitdeklariert werden:
In der Attributliste genügt dann die verkürzte Angabe:
Im folgenden werden der Vollständigkeit halber kurz weitere Merkmale und Funktionen von XML angesprochen, ohne jedoch zu sehr ins Detail zu gehen: Möchte man in einer XML-Datei markup eingeben, das bei der Verarbeitung unberücksichtigt bleibt bzw. das als Text behandelt wird, muß diese Sequenz durch abgeschlossen werden. Man nennt eine so ausgezeichnete Stelle CDATA marked section. Analog zu CDATA marked sections, die im XML-Dokument selbst Anwendung finden, gibt es zwei conditional marked sections in einer DTO. Die Schlüsselwörter INCLUDE und IGNORE veranlassen oder schließen die Verarbeitung aus. So kann man Teile einer DTO, die fllr einen größeren Zusammenhang geschrieben wurde, für kleinere Texte verwenden:
..
Zur Nachhaltigkeit von eleklronischen Texten: XML und TEi
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)]>
Processing instructions können dem markup hinzugefügt werden. Sie veranlassen einen Prozessor, an dieser Stelle etwas zu tun, etwa die Seite zu brechen. Mit wird dem Prozessor (hier TEX) dies mitgeteilt. Über das Konzept von namespaces ist es möglich, Elemente einer anderen DTO als der deklarierten in einem XML-Dokument zu verwenden.
Shall l compare thee to a summer
,s day ?
In diesem Beispiel, das ich aus den TEi-Richtlinien übernommen habe, werden tags der Adresse http://www.gram.org 12 verwendet. Das Schlüsselwort xm/ns (als Attribut des Elementes /ine) wird gefolgt von einem Doppelpunkt, einem Namen und, nach dem Gleichheitszeichen, dem Fundort in Anführungszeichen. XML besitzt alle Eigenschaften, die die Wissenschaft zum Arbeiten benötigt. Die Freiheit gegenüber HTML, Auszeichnungselemente selbst zusammenzustellen nach den eigenen Bedürfuissen am bearbeiteten Text, macht die wissenschaftliche Interpretation der Struktur eines Textes erst möglich. Diese fast grenzenlose Freiheit hat jedoch auch Nachteile: Es gibt keine Anhaltspunkte, keine Muster, wie die Beschreibung aussehen könnte. Es gibt keinerlei Vorgaben, die einen auch auf Ideen bringen könnten, was man denn noch berücksichtigen könnte oder müsste. Und die vielen Auszeichnungsgrammatiken sind untereinander nicht unbedingt kompatibel. Sie sind für Außenstehende manchmal auch schwer zu entschlüsseln, da die Formulierung der Elemente nicht reglementiert ist, also auch in allen Sprachen abgefaßt sein können. Wünschenswert wäre deshalb doch eine gewisse normierte Verwendung der Auszeichnungssprache durch gemeinsame Absprachen und durch das Zusammentragen von Erfahrungen.
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Die angegebene URL ist für dieses Beispiel von den TEi-Autoren erfunden worden.
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Roland S. Kamzelak
Die Text Encoding Initiative (TEi) macht genau dieses für Editionsprojekte. Es ist eine Initiative von Wissenschaftlern fllr Wissenschaftler, die Erfahrungen in Empfehlungen umgewandelt hat. 13 1990 wurden die ersten Guidelinesfor Electronic Text Encoding and /nterchange veröffentlicht. Sie sind ein Vorschlag, wie wissenschaftliche Texte, meist Editionen, als DTO zu beschreiben sind. 1990 basierten die guidelines auf SGML als Auszeichnungssprache, heute gibt es sie parallel auch für XML. Durch Einigungen wie diese lassen sich Texte schneller verstehen und vor allem auch schneller austauschen. 14 Die Initiative beschreibt ihr Ziel selbst so: The Text Encoding Initiative grew out of a planning conference sponsored by the Association for Computers and the Hwnanities (ACH) and funded by the U.S. National Endowment for the Humanities (NEH), which was held at Vassar College in November 1987. At this conference some thirty representatives of text archives, scholarly societies, and research projects met to discuss the feasibility of a standard encoding scheme and to make recommendations for its scope, structure, content, and drafting. During the conference, the Association for Computational Linguistics and the Association for Literary and Linguistic Computing agreed to join ACH as sponsors of a project to develop the Guidelines. The outcome of the conference was this set of principles, which determined the further course of the project. 1. The guidelines are intended to provide a standard format for data interchange in hwnanities research. 2. The guidelines are also intended to suggest principles for the encoding of texts in the same format. 3. The guidelines should 1. define a recommended syntax for the format, 2. define a metalanguage for the description oftext-encoding schemes, 3. describe the new format and representative existing schemes both in that metalanguage and in prose. 4. The guidelines should propose sets of coding conventions suited for various applications. 5. The guidelines should include a minimal set of conventions for encoding new texts in the format. 6. The guidelines are to be drafted by committees on 1. text documentation 2. text representation 3. text interpretation and analysis 4. metalanguage definition and description of existing and proposed schemes, coordinated by a steering committee of representatives of the principal sponsoring organizations. 7. Compatibility with existing standards will be maintained as far as possible. 8. A nwnber of )arge text archives have agreed in principle to support the guidelines in their function as an interchange format, and have (since the publication of the prior edi-
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Winfried Bader: Was ist die Text Encoding Initiative (TEi)? In: Computergestützte Text-Edition, S. 920. Vgl. Fotis Jannidis: Wider das Altern elektronischer Texte: philologische Textauszeichnung mit TEi. In: editio 11 ( 1997). S. 152-177.
Zur Nachhaltiglceil von elelclronischen Texten: XML und TEi
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tion), actually done so. We continue to encourage funding agencies to support development oftools to facilitate this interchange. 9. Conversion of existing machine-readable texts to the new format involves the translation oftheir conventions into the syntax ofthe new format. No requirements will be made for the addition of information not already coded in the texts. 15
Die TEi Richtlinien sind als Baukasten aufgebaut. Sperberg-McQueen beschreibt den Baukasten in seinen Kursen immer als Pizza und die Richtlinien als Chicago-pizzamodel, da die Idee anscheinend in einer Chicagoer Pizzeria entwickelt wurde. Dabei gibt es ein Grundelement (den Pizzateig mit Tomatensoße), das alle benötigen. Darin sind die Grundstruktur einer DTD enthalten wie head und body, aber auch Absätze, Überschriften und ähnlich grundlegende Elemente. Dann gibt es zusätzliche Module (toppings wie Käse, Oliven, Salami usw.) fllr die Auszeichnung von Lyrik, Drama, Prosa, gesprochener Sprache und so weiter, die man wahlweise hinzunehmen kann. Will man eine Edition des Butt von Günter Grass machen, benötigt man sowohl Prosa als auch Lyrik. Jedes TEi-konforme Dokument muß mit einem TEi-Header ausgestattet sein. das vier Elemente aufnimmt:
... ... ...
...
enthält die bibliographische Beschreibung der Datei dokumentiert das Verhllltnis der Datei zur Quelle detaillierte Beschreibung nicht bibliographischer Aspekte des Textes, spezielle zur Sprache, den Herstellungsbedingungen, den Beteiligten usw. führt die Revisionsgeschichte der Dateiauf.
Dieser Kopf kann sehr umfangreich werden, doch ist er wichtig, um den genauen Status der Datei zu beschreiben. Da elektronische Texte leicht verbreitet werden können, können zwei scheinbar gleiche Dateien anhand des TEi-Headers geprüft werden. Nach dem header folgen dann die Textkodierungen mit XML nach der gewählten TEI-DTD wie bereits beschrieben. Die Vorteile dieser nur scheinbaren Einschränkung auf die TEi-Richtiinien fasse ich noch einmal zusammen: 1. In die TEi-Richtiinien sind langjährige Erfahrungen von Philologen eingeflossen. Es ist kein Projekt von Programmierern.
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C. Michael Spcrberg-McQueen and Lou Bumard: Guidelines for Electronic Text Encoding and lnterchange. In: http:\www.tei-c.org\P4X\index.htm1 (gesehen 12.12.2004).
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Roland S. KamzeJak
2. Das Projekt ist als Mitgliederkonsortium konstituiert. Neue Erfahrungen können also jeder Zeit eingebracht werden. 3. Die Richtlinien geben jedem neuen Nutzer von XML eine fundierte Ausgangsbasis. Man muß nicht bei Null anfangen, sondern kann von den Erfahrungen anderer profitieren. 4. Durch die normierte DTO werden Texte schneller verstehbar und dadurch austauschbar. Es ist rascher oder überhaupt erst möglich, Kooperationsprojekte anzugehen.
5. Austauschbarkeit heißt auch, daß Transformationsregeln mit XSL T transportierbar werden. 6. Durch die normierte Notation bleiben die Texte letztlich auch archivierbar. Für Editionsphilologen, die elektronische Texte herstellen, gibt es auf die drei unzureichenden Archivierungsmethoden nur eine Antwort: diese Probleme müssen schon bei der Anlage eines Projektes vermieden werden. Editionsphilologen müssen systemunabhängig arbeiten. Als Produzent von elektronischen Texten darf keine Abhängigkeit von Hardware entstehen, nicht von Diskettenformaten oder Prozessorleistung. Hypertextautoren dürfen erst gar nicht in Abhängigkeit von Software gelangen, dürfen nicht in Abhängigkeit von Betriebssystemversionen oder neueren Entwicklungen der Lesesoftware (Browser) gelangen. Vorausgesetzt die eigene Leistung wird für erhaltenswürdig gehalten. Als Printautor wird ein Typoskript oder besser noch Disketten in einem festgelegten Format abgegeben in der Hoffnung, daß Verleger die Arbeit auf haltbarem, zu einem Buch gebundenem Papier drucken und verbreiten. Protestieren würde man, wenn sie mit abwaschbarer Tinte gedruckt, auf Wunderblöcken oder Papyrusrollen erschiene. So sollte man auch protestieren, wenn elektronische Texte nicht in Formaten verfaßt werden, die haltbar sind. Diese Nachhaltigkeit kann mit SGML oder XML in Verbindung mit den Richtlinien der TEi gewährleistet werden.
Klaus Ger/ach
Zur Textkritik von Handschriften Ihre Notwendigkeit und hermeneutische Dimension, dargestellt am Beispiel des Briefwechsels zwischen Böttiger und Duvau 1
Die philologische Kritik hat es zu thun mit der allmlhlichen Umgestaltung, die durchdas Spiel zwischenAufnehmen und Wiedergeben, ReceptivitAtund SpontaneitAtentsteht. (Friedrich Schleiermacher)
Angesichts der Frage nach der Auswahl der zu edierenden Texte steht jeder Editor vor einem hermeneutischen Problem, noch bevor jede editorische Arbeit beginnt. Bereits die Entscheidung fllr einen Autor oder einen Text hinsichtlich einer Veröffentlichung ist eine Auslegung von Geschichte im weitesten Sinn. Die Entscheidung, welcher Autor bzw. welcher Text der Kulturgemeinschaft zur Rezeption überantwortet werden soll, beruht auf dem Verständnis der Herausgeber. Die Herausgabe der Ausgewählten Briefwechsel aus dem Nachlaß von Karl August Böttigel mit Auguste Duvau, Karl Ludwig von Knebel, Christian Gottlob Heyne, Desire Raoul-Rochette und Georg Joachim Göschen zielt darauf ab, Böttigers Persönlichkeit in ihren verschiedenen Facetten vorzustellen. Dabei kann es aber nicht vordergründig um die Umbewertung der Persönlichkeit Böttigers gehen. Vielmehr will die teilweise editorische Aufarbeitung dieses großen Gelehrtennachlasses dazu beitragen, unser Wissen über die Epoche der Goethezeit, in der spätautklärerische, klassische und romantische Konzepte konkurrierten, zu erweitern. Böttigers Wirkungskreis befand sich genau dort, wo sich diese Macht- und Interessenkämpfe ereigneten. Böttiger hatte es geschaffi, ,,einen literarischen Briefwechsel anzuknüpfen, der im eigentlichsten Sinne alle Länder Europas umfaßte und über den Postenlaufhinausreichte". 3 Die Edition soll die Auffassung der Herausgeber umsetzen, daß Böttiger, der bei der Herausbildung der Archäologie und des modernen Journalismus eine Schlüsselposition innehatte, mit seiner Korrespondenz mit den bedeutendsten europäischen Gelehrten und Künstlern ein wichtiges Werk hinterlassen hat. Böttigers Briefwechsel soll als Dokument und Monument wahrgenommen werden. 1
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Karl August Böttiger: Briefwechsel mit Auguste Duvau. Mit einem AnhangderBriefe Auguste Duvaus an Karl Ludwig von Knebel. Hrsg. und kommentiert von Klaus Gerlach und ReneSternke. Berlin 2004. Ausgewählte Briefwechsel aus dem Nachlaß von Karl August Böttiger. Hrsg. von Klaus Gerlach und ReneStemke. Berlin 2004ff. Garlieb Merkel über Deutschland zur Schiller-Goethe Zeit (1797 bis 1806). Nach des Verfassers gedruckten und handschriftlichen Aufzeichnungen zusammengestellt und mit einer biographischen Einleitung von Julius Eckard. Berlin 1887, S. 116.
Klaus Ger/ach
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Mit dem mehrere tausend Briefe umfassenden Nachlaß Böttigers in der Sächsischen Staats-, Landes- und Universitätsbibliothek Dresden und im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg besitzen wir einen der umfangreichsten Gelehrtennachlässe der Goethezeit. Die Überlieferungslage ist bei den einzelnen Briefwechseln ganz unterschiedlich. Während das Briefkorpus der Duvau-Korrespondenz verhältnismäßig klein und unvollständig überliefert ist, sind diejenigen von Heyne, Knebel, Raoul-Rochette und Göschen umfangreicher und vollständiger. Die Herausgabe all dieser Briefwechsel kann sich auf Originalhandschriften stützen. Beinahe allen Briefwechseln ist gemein, daß Böttigers Briefe in geringerer Zahl überliefert sind als diejenigen seiner Korrespondenten. Böttiger bewahrte die empfangenen Briefe sehr sorgftltig auf, und in vielen Fällen befinden sich auch die überlieferten Briefe Böttigers fast vollständig im Nachlaß. Das triffi für die Korrespondenz mit Duvau und Heyne zu. Der Briefwechsel Karl August Böttigers mit Auguste Duvau umspannt die Zeit von 1795 bis 1829. Auguste Duvau wurde 1771 in Tours geboren und sollte eigentlich Geistlicher werden. 1792 schloß sich Duvau der Emigrantenarmee des Prinzen von Conde an, die er aber bald verließ. Er hielt sich dann längere Zeit in Bocholt auf, um die deutsche Sprache zu erlernen. Im Frühjahr 1795 kam Duvau nach Weimar, wo er Böttiger, Wieland, Goethe, Knebel und andere kennenlernte. Nach seiner Niederlassung im Herbst begann er, deutsche Literatur ins Französische zu übersetzen, und unterrichtete später an Jean Joseph Mouniers Privatschule in Belvedere bei Weimar Latein und Französisch. Daneben lektorierte er die Romane des deutschen Schriftstellers August Heinrich Lafontaine. 1801 unternahm er eine Reise nach Italien und Frankreich. Aus diesem Zeitabschnitt sind besonders lange Reisebriefe überliefert. Anfang 1803 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er sich in Leipzig niederließ. Dort verkehrte er vor allem in den Kreisen von Johann Gottfried Seume, Christian Weiße und Georg Joachim Göschen. Ende 1805 kehrte Duvau endgültig in sein Heimatland zurück. In Frankreich betrieb er anfangs vor allem botanische und insektenkundliche Studien und schrieb für das 1824 bis 1831 in Paris vom Baron de Ferussac herausgegebene Bulletin des sciences naturelles eine Vielzahl von Beiträgen. Ab 1825 arbeitete er für die angesehene Biographie universelle, die Joseph Franirois Michaud in Paris herausgab. Unter anderem schrieb er die Artikel über Jacobi, Lessing, Salis-Sewis, Schiller, Seume und Wieland. Duvau starb l 831 in Paris. Der Briefwechsel stellt Böttiger und Duvau als zwei wichtige Vermittler im deutsch-französischen Kulturtransfer vor und zeigt, wie sich dieser Kulturtransfer in Folge der französischen Revolution veränderte. Aus dem über mehr als 30 Jahre geführten Briefwechsel sind 87 Briefe überliefert, weitere 17 Briefe konnten erschlossen werden. Vor Duvaus Briefen in der Dresdener Bibliothek liegt ein Zettel mit folgender Aufschrift von Böttigers Hand: ,,Chevalier de Vau, ein Emigrirter / lernte in Bucholt ohnweit Münster/ musterhaft Deutsch. / d. 231enApril. 1795."4 Offenbar hatte Böttiger nach seiner ersten Begegnung mit Duvau diese Notiz niedergeschrieben und eine '
SLUB Dresden, Signatur: Msc. Dresd„ h 37,4°, Bd. 40.
Zur Textkritik von Handschriften
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Mappe angelegt, in die er fortan alle Briefe dieses Absenders ablegte. Es ist unklar, wie und aus welchem Grund Böttigers Briefe wieder an ihn zurückgelangt sind. In seinem Nachlaß befinden sich alle bekannten Briefe Böttigers an Duvau bis auf fünf, die aus dem Mounierschen Nachlaß nach Autun gelangt sind. 5 Anhand der von Böttiger sorgfältig aufbewahrten und zusammengeführten Korrespondenz, der er offenbar - auch wenn sie nicht umfangreich war - eine große Bedeutung beimaß, soll gezeigt werden, daß Textkritik auch bei einer Edition, die sich auf Handschriften stützt, unerläßlich ist. Dabei ist Textkritik immer auch ein hermeneutisches Problem, weil sie ohne ein Verstehen des zu edierenden Textes nicht auszuüben ist. Das Verstehen des Textes durch den Textkritiker bedeutet aber, nicht nur Zeichen zu erkennen und akribisch wiederzugeben, sondern einen Text so herzustellen, daß die Intentionen des Schreibers für die Rezipienten nachvollziehbar werden. Ausgangspunkt ist der Begriff der ,philologischen Kritik', wie ihn Friedrich Schleiermacher in seiner Schrift Hermeneutik und Kritik entwickelt hat. Schleiermacher sieht die philologische Kritik als einen Sonderfall der ,historischen Kritik' an. Die ,historische Kritik' hat aus den Relationen die ursprüngliche Tatsache zu ermitteln. 6 Im Falle der ,philologischen Kritik' identifiziert Schleiermacher diese ursprüngliche Tatsache mit der Urschrift, so daß man annehmen kann, Textkritik erübrige sich, wenn die Urschrift überliefert ist. Schon Schleiermacher, der das hermeneutische Problem am Beispiel des Sich-Versprechens entwickelt, bemerkt, daß die Differenz zwischen ursprünglicher Tatsache und Relation auch im Falle der Überlieferung der Urschrift vorhanden sein kann, wenn sich nämlich der Urheber der Schrift verschrieben hat. Wer sich verspricht, sagt anderes als er denkt. So haben wir eine Differenz. Die Differenz kann oft im Augenblicke nicht gleich bemerkt werden, sondern erst hintennach. Man mag sie gleich bemerken, will aber nicht unterbrechen, um eine Erklärung zu fordern, und so sucht man selbst auszumitteln, was er hat sagen wollen. - Immer aber soll in solchen Fällen ausgemittelt werden, was der Redende wirklich hat sagen wollen, da, was er gesagt hat, ein anderes ist. Eben so tritt die Aufgabe ein bei den Schreibfehlern in Urschriften und Abschriften. 7
Das bedeutet, daß die ursprüngliche Tatsache der Urschrift vorausgeht, in der Autorintention zu verorten, im Modus der Abwesenheit und erst textkritisch zu rekonstruieren ist. Hinzu kommt eine Reihe von Modifikationen, die die Briefmanuskripte während des Prozesses ihrer ÜberJieferung erfahren haben und die es ihrerseits notwendig machen, die Urschrift erst einmal zu rekonstruieren. Da der ursprüngliche Zusammenhang einer Korrespondenz in der Überlieferung immer gestört ist, ist es die wichtigste Aufgabe der Textkritik, diesen wieder herzustellen. Es ist also keineswegs so, daß bei der Edition neuerer Texte die Aufgabe der Rekonstruktion der Textgenese s 6
7
Societe Eduenne, Musee Rollin Autun. Vgl. Friedrich Scbleiermacber: Hermeneutik und Kritik, mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. Aus Schleiennachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen. In: Sllmmtliche Werke. Erste Abtheilung, Siebenter Band. Hrsg. von Friedrich Lücke. Berlin 1838, S. 272 und 275f. Schleiermacher 1838 (Anm. 6), S. 275.
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Klaus Ger/ach
an die Stelle der Textkritik tritt. Die Bedeutung der Textkritik richtet sich meines Erachtens nicht danach, ob Handschriften oder Drucke von einem Autor überliefert sind, sondern nach der Geschlossenheit der Überlieferung eines Briefwechsels oder Werkes. 8 Der Stellenwert der Textkritik ist nicht von der unterschiedlichen Überlieferungslage bei klassischen Autoren und neueren Autoren abhängig. Je fragmentarischer Briefwechsel oder Werke überliefert sind, um so größer ist die Bedeutung der Textkritik. Weil es sich bei einer Korrespondenz um ein Geflecht von einzelnen Texten handelt, die ineinandergreifen und aneinander anknüpfen, darf sich die Textkritik nicht nur auf den einzelnen Brief beschranken, sondern muß die gesamte Korrespondenz berücksichtigen. Der Gegenstand der Textkritik hängt somit nicht nur von der Überlieferungslage der zu edierenden Texte ab, sondern auch von der Textsorte. Insofern es sich bei der ,philologischen Kritik' um einen Sonderfall der ,historischen Kritik' handelt, besteht die Aufgabe des Editors einer Briefausgabe nicht darin, eine überlieferte Urschrift zu reproduzieren, sondern darin, die gesamte materialisierte Kommunikation zwischen den Briefpartnern zu rekonstruieren und historisch zu verorten. Dabei kommt neben der Zuschreibung an einen Verfasser und der Datierung (als den traditionellen Aufgaben der höheren Kritik) der Bestimmung des Adressaten besondere Bedeutsamkeit zu. Briefe, von denen wir nicht wissen, von wem sie stammen und an wen sie gerichtet sind, können bestenfalls in einem Briefsteller ihren Platz finden. Nur in bezug auf seinen Schreiber und seinen Empflnger konstituiert ein Brieftext einen Sinn. Urteile, Meinungen, Ansichten des Briefschreibers über einen Gegenstand - sei es eine dritte Person, ein Werk oder ein Ereignis - besitzen ihre Gültigkeit nur als private Äußerungen gegenüber einer ganz bestimmten Person. Ohne Rücksicht auf die Intention des Schreibers und ohne Kenntnis des Lebenszusammenhanges der beiden Korrespondenten lassen sich Briefe nicht sinnvoll rezipieren. 9 Duvaus drastische Schilderungen über seine Begegnungen mit Madame de Stael sind fllr sich genommen interessant und das ausführlichste Dokument über den Aufenthalt der berühmten Schriftstellerin in Leipzig, verstanden werden können sie aber nur, wenn man berücksichtigt, daß sie fllr Böttiger geschrieben wurden, dessen positives Bild von dieser umstrittenen Persönlichkeit Duvau zu korrigieren beabsichtigte. Lösen wir einen Brief aus dem Zusammenhang zu seinem Absender und seinem Empflnger, verßllschen wir die Geschichte. Daß sich Textkritik bei einer Briefedition nicht auf einen Text beschränkt, sondern auf ein Korpus von Texten bezieht, hat Folgen fllr ihre Ausübung. Die ,philologische Kritik', die wir an einer einzelnen Briefhandschrift Oben, wirkt sich in den meisten Fällen auf das ganze Korpus der zu edierenden Briefe aus. Wie dynamisch das Briefkorpus bis zur Drucklegung eines Briefbandes sein kann, weiß jeder Editor. Diese 8
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Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Kleine Schriften zur Editionswissenschaft. Berliner Beitrllgezur Editionswissenschaft. Hrsg. von Hans-Gert Roloff, Berlin 1997, S. 13. Winfried Woesler: ,.Auch der Briefinhalt ist manchmal weniger von dem BedOrfilis, Tatsachen mitzuteilen, bestimmt, als von der beabsichtigten Wirkung auf den Empfllnger." In: Winfried Woesler: Der Brief als Dokument. In: Probleme der Brief-Edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Schloss Tutzingen am Starnberger See, 8.-11. September 1975. Hrsg. von Wolfgang Frühwald u.a. Bonn 1977 (Kommission ftlr Germanistische Forschung. 2). S. 49.
Zur Textlcritikvon Handschriften
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Dynamik widerspiegelt das lneinanderwirken der verschiedenen textkritischen Problemfelder. Um die Aufgaben der Textkritik zu bestimmen, ist es sinnvoll, folgende Frage zu stellen: Wie kann im Falle überlieferter Briefhandschriften eine Differenz zwischen ursprünglicher Tatsache und Relation entstanden sein? Um auf diese Frage eine Antwort zu geben, wollen wir uns den Verlauf einer Korrespondenz vergegenwärtigen: Innerhalb eines bestimmten Zeitabschnittes wechseln zwei Korrespondenten miteinander Briefe. 10 Jeder der beiden weiß, wem er schreibt und in der Regel auch von wem ein Brief, den er empfllngt, stammt. Der Empfänger weiß, selbst wenn der Brief, den er empfangen hat, kein Datum trägt, mehr oder weniger genau, wann dieser geschrieben wurde. In den Köpfen des Absenders und des Empfllngers vereinen sich die eigenen und die Texte des anderen. Mit dem Tod der Briefpartner wird dieser Zusammenhang zerstört, und seine materielle Basis beginnt sich aufzulösen. Eine Differenz zwischen ursprünglicher Tatsache und Relation kann demzufolge in bezug auf das zu edierende Briefkorpus ( l.) und ebenso in bezug auf den einzelnen Brief (2.) entstanden sein. Deshalb ist es sinnvoll, beide zunächst isoliert zu betrachten. In Hinsicht auf das gesamte Korpus beschäftigt sich Textkritik mit Fragen der Zuschreibung (l.l), Fragen der Datierung (1.2) und Fragen der Textkonstitution (1.3). Auf den einzelnen Brief bezogen, widmet sie sich Problemen der Konstitution des Textes als Ganzes (2.l) und Schreibfehlern (2.2).
1. Textkritik in bezug auf das gesamte Briefkorpus 1.1 Fragen der Zuschreibung Da sich der Sinnzusammenhang einer Korrespondenz erst in bezug auf Schreiber und Empfllnger erschließt, ist die Zuschreibung eines Briefes zu seinem Empfänger eine der wichtigsten Aufgaben der Textkritik. Bei der Edition eines Einzelbriefwechsels ist sie für die Konstitution des Korpus folgenreich, denn alle Briefe dieser Schreiber bzw. Empfllnger, und nur diese, werden in eine Edition aufgenommen. Daß Textkritik und Hermeneutik sich gegenseitig beeinflussen, macht die Zuschreibung eines Briefes zu seinem Empfllnger besonders deutlich, da ohne die Kenntnis des Lebenszusammenhanges von Schreiber und Empfiinger dieses Problem gar nicht gelöst werden kann. So wurde bei der Kommentierungsarbeit ein BriefBöttigers vom 15. September 1803, der im Archiv bisher Georg Joachim Göschen zugeordnet war, neu zugeschrieben. Die Bezugnahme aufDuvaus Frankreichbuch und die Vorstellung, daß der
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An dieser Stelle soll es nicht um eine Definition der Textsorte Brief gehen. Filr unsere Darlegung reicht es aus, wenn wir unter einem Brief eine schriftliche Mitteilung verstehen, die von einer Person an eine abwesende Person gerichtet ist. Zur Briefdefinition vgl. ausführlich lnntraud Schmidt: Was ist ein Brief. Zur Begriffsbestimmung des Tenninus „Brief' als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung. In: (editio. 2) Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. Hrsg. von Winfried Woesler. Tübingen 1988, S. 1-7; Uta Motschmann: Überlegungen zu einer textologischen Begriffsbestimmung des Briefes in Zusammenhang mit dessen editorischer Bearbeitung. In: Zu Werk und Text. Beitrlge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe, Berlin 1991, S. 183-194.
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Klaus Ger/ach
Empfänger des Briefes einmal ,,an den Ufern der schönen Loire" leben könnte, ließ keinen Zweifel daran, daß Duvau der Adressat des Schreibens war. 1.2 Fragen der Datierung Briefe sind im Idealfall datiert. Auf den meisten Briefen steht entweder am Anfang oder am Schluß ein Datum vom Absender, oder wir finden sogar eine Empfängerbemerkung. Jedoch gibt es nicht wenige Briefe, die kein Datum tragen oder deren Datierung angezweifelt werden muß, weil z.B. der Inhalt eindeutig gegen das vorhandene Datum spricht. Da Briefe in wissenschaftlichen Editionen immer chronologisch angeordnet werden, ist die Datierung wichtig, und sie ist in einem engen Zusammenhang mit der Zuschreibung zu sehen. Aus einer unrichtigen Datierung können falsche Rückschlüsse auf Leben und Werk eines Autors gezogen werden. Bei der Datierung wird ebenfalls sichtbar, wie eng Textkritik und Hermeneutik verbunden sind; denn ohne dasinhaltliche Verstehen des zu datierenden Briefes und der Abfolge von Brieftexten, in die er eingeordnet werden soll, ist eine richtige Datierung unmöglich. Die Kenntnis des Lebenszusammenhangs der Briefpartner und des gesamten Briefkorpus ist Voraussetzung für die Datierung eines Briefes. Neben der Kenntnis des Lebenszusammenhangs spielt aber auch die Untersuchung der Materialität der Textzeugen (Papier, Faltung, Tinte, Siegel, Poststempel) eine wichtige Rolle. Die Handschrift eines Schreibers verändert sich im Laufe seines Lebens oft stark, so daß sie in ihrer Materialität, die ohne den Vollzug hermeneutischer Operationen nicht beurteilbar ist, ebenfalls Aufschlüsse für die Datierung geben kann. In den Ausgewählten Briefwechseln aus dem Nachlaß von Karl August Böttiger findet diese Differenz zwischen ursprünglicher Tatsache und Relation ihre Darstellung unter der Rubrik Zur Datierung, wo auch der Vorschlag der Editoren zur Überwindung dieser Differenz begründet wird. Im Briefkorpus von Böttiger und Duvau stellten vor allem undatierte Stadtbillets, die aus der Zeit, da beide in Weimar wohnten bzw. Duvau im nahegelegenen Belvedere lebte, die Herausgeber vor Probleme. Die nur mit dem Wochentag datierten Briefe konnten mit Hilfe von Anspielungen auf Werke, die Duvau lektorierte oder übersetzte und die ihrerseits erst ermittelt werden mußten, sowie durch ihren Bezug aufeinander mehr oder weniger genau datiert werden. Die Überlieferungslage der völlig aus dem Zusammenhang gerissenen Billets verdeutlicht, wie sehr Tatsache und Relation nach Jahrhunderten voneinander abweichen. Die Überwindung dieser Differenz ist die Aufgabe der Textkritik. Bei der Herstellung der ursprünglichen Tatsache können sowohl inhaltliche als auch materielle Gesichtspunkte eine Rolle spielen. 1.3 Fragen zur Textkonstitution (in bezug auf daszu edierende Briefkorpus) Das Problem der Textkonstitution des zu edierenden Briefkorpus ist nicht von dem Problem der Textkonstitution des einzelnen Briefes loszulösen; denn erst wenn wir wissen, welche Briefbogen oder -blätter zu einem bestimmten Brief gehören, läßt sich das gesamte Briefkorpus konstituieren. Das ist oftmals einfach, wenn nämlich der Brief nur aus einem Bogen oder Blatt besteht oder grammatikalische und logische Zu-
Zur Textkritik von Handschriften
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sammenhAnge die Folge Ober das Blatt oder den Bogen hinaus eindeutig festlegen. Im günstigsten Fall ist ein Brief auf einem einzigen Blatt oder Bogen so überliefert, daß darauf der Anfang mit Anrede und das Ende mit Grußformel von der Hand des Schreibers niedergeschrieben wurden. Doch gibt es nicht wenige Briefe, deren Teile aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen wurden oder sogar unvollstAndig überliefert sind. In diesem Fall beschränkt sich die Textkritik, wenn die Zuordnung zum Autor und Empfllnger erst einmal geklärt ist, darauf, den Befund des Fragmentarischen zu bestätigen und innerhalb der Edition kenntlich zu machen. Sind die Briefteile allerdings nur voneinander getrennt und an verschiedene Aufbewahrungsorte gebracht worden, müssen die einzelnen Fragmente durch eine kritische Analyse in der richtigen Ordnung zusammengefügt werden. In solchen Fällen entscheidet die Textkritik nicht nur über die äußere Gestalt eines Briefes, sondern über die Gestaltung des ganzen Korpus. Wurde z.B. nicht erkannt, daß zwei Fragmente zusammengehören, so erscheinen sie flilschlicherweise als zwei Briefe mit unterschiedlichem Datum. Im Briefkorpus der Korrespondenz zwischen Böttiger und Duvau waren mehrere Briefe fragmentarisch überliefert. Der fragmentarische Charakter bezog sich letztendlich aber nur auf den Überlieferungsbefund, nach dessen Deutung sich ein ganz anderes Bild ergab: Tatsächlich sind nur zwei Briefe, bei denen Anfang oder Schluß fehlen, unvollstAndig. Bei den anderen Fragmenten stellte sich heraus, daß sie nur getrennt aufbewahrt worden sind. Der fragmentarische Charakter von Texten muß zunächst erkannt werden, wobei im günstigeren Fall eine defekte Briefstruktur (fehlende Anrede, fehlender Schluß) einen Verdacht, wie es Schleiermacher nennt, 11 liefert. In dem Faszikel der Briefe Duvaus in der Dresdener Bibliothek waren diese zusammengehörenden Teile oft an weit voneinander entfernten Stellen eingebunden. Erschwert wurde die Rekonstruktion ihres Zusammenhangs dadurch, daß sie nicht als Fragmente angesehen worden waren. Die Archivare hatten diese Teile als verschiedene Briefe verzeichnet. Nun könnte man meinen, daß es mit Hilfe des Papier- und Tintenvergleichs sowie der Bogenfaltung relativ einfach gewesen wäre, die Briefe zusammenzufügen. Diese sonst hilfreichen Anhaltspunkte boten aber nur selten Hinweise. Es handelt sich bei diesen Briefen nämlich vor allem um lange Reisebriefe, an denen Duvau häufig Ober mehrere Wochen schrieb und die er erst abschickte, wenn sich ihm eine Gelegenheit der sicheren Übermittlung an den Empflinger bot. So benutzte er unterschiedliches Papier und verschiedene Tintensorten. Zusätzliche Verwirrung stiftete er, indem er bereits verschlossene Briefe wieder öflhete und auf einem extra Blatt eine Nachschrift hinzufügte. Eine besonders schwierige Überlieferungslage ergab sich bei einem Brief, den er in Wien im Zeitraum vom 22. Dezember 1801 bis 12. Januar 1802 niederschrieb und von dem einige Teile in der Dresdener Bibliothek, andere jedoch im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg aufbewahrt werden. Es gehört zu den textkritischen Aufgaben eines jeden Herausgebers, der Briefteile, die in der Überlieferung getrennt aufbewahrt werden, zusammen abdruckt, über die Art und Weise
11
„Wir können noch weiter zurilckgehen und sagen, dasjenige wodurch alle Operation der Kritik bedingt ist, ist die Entstehung des Verdachts, daß etwas ist, was nicht sein soll.". Siehe Schleiermacher 1838 (Anm. 6), S. 281.
Klaus Ger/ach
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der Rekonstruktion in der Edition Rechenschaft abzulegen. Die Textkonstitution muß für den Benutzer einer wissenschaftlichen Ausgabenachvollziehbar sein. 12
2. Textkritik in bezug auf den einzelnen Brief 2.1 Fragen zur Textkonstitution (in bezug auf das zu edierende Briefkorpus) Dabei geht es um die Anordnung der Textteile (a), um die Entzifferung der Handschrift (b) und um die Verfahrensweise bei den unterschiedlichen Fällen von Textverlust (c), mit denen ein Herausgeber konfrontiert wird und der durch Siegelausriß, Tintenfraß, Papierausbruch, Wasserschäden, Verbleichung, Schwärzungen durch Dritte entstanden sein kann. a) Die Anordnung des Textes für den Druck gehört zu den Aufgaben des Textkritikers, weil die Abfolge der Texteinheiten nicht immer eindeutig ist, wenn z.B. Ergänzungen an den Rändern oder auf einem gesonderten Blatt in den Text eingefügt werden müssen, wenn die Strukturierung des Textes durch Absätze und Spatien nicht eindeutig ist oder dem gewöhnlichen Gebrauch nicht entsprechen. Ohne die Kenntnis der Gewohntheiten eines Schreibers wird der abgedruckte Text fehlerhaft und demjenigen der Handschrift nicht adäquat sein. b) Die Entzifferung einer Handschrift gehört zur Textkritik, weil sich das System der Schreibschrift nicht ohne Veränderungen in das System der Druckschrift überführen läßt. Die Differenzen zwischen Handschrift und Transkription können erheblich sein, wenn die Handschrift unkritisch abgebildet wird. Die Unvermeidlichkeit von Entscheidungen über die Wiedergabe von Groß- und Klein-, Zusammen- und Getrenntschreibung, der Dopplung von Konsonanten, der Abkürzungen und Zeichen, die alle von Schreiber zu Schreiber stark differieren und folglich mißverstanden werden können, macht deutlich, daß ohne Kenntnis der Gewohnheiten des Schreibers keine Handschrift ediert werden kann. c) Der Umgang mit Textverlusten hängt von deren Umfang ab. Ist es möglich, den intendierten Sinn wieder herzustellen, was bei geringem Textverlust oft den Anschein hat, so sollte das geschehen, aber durch die Wahl einer anderen Schriftart im Druckbild kenntlich gemacht werden. Größere Textverluste in der Handschrift sollten hingegen durch Auslassungszeichen gekennzeichnet werden. 2.2 Fragen der Schreibfehler Bei Schleiermacher heißt es im Kapitel über die mechanischen Fehler: ,,Niemand will etwas schreiben, was nicht einen geschlossenen Sinn giebt." 13 Die Aufgabe eines Herausgebers besteht also darin, einen sinnvollen Text abzudrucken. Für den Heraus12
13
Bei Schleiennacher heißt es:,.( ... ] um das kritische Urtheil des Herausgebers prüfen und seine Operation nachconstruiren zu können, muß ich alles das, was er vor sich hatte, auch vor mir haben".Siehe Schleiermacber 1838 (Anm. 6), S. 298. Siehe Schleiermacher 1838 (Anm. 6), S. 284.
Zur TextlcriliJc von Handschriften
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geber von Briefen ist diese Aufgabe jedoch schwierig, weil sich Briefe von anderen Texten, die wir in Büchern abdrucken, insofern unterscheiden, als daß sie ursprünglich nicht dafllr vorgesehen waren, auch wenn die Schreiber damit vielleicht rechnen konnten. Sie waren in der Mehnahl private Mitteilungen einer Person an eine ganz bestimmte andere Person. In modernen Handschrifteneditionen bezieht sich die Emendation fehlerhafter Textstellen vor allem auf Korrekturen mutmaßlicher Versehen des Schreibers. In einem Briefmanuskript Duvaus, in dem er den Leipzigaufenthalt der Madame de Stafl schildert, findet sich folgender syntaktisch fehlerhafter Satz: ,.Aber Platner! Was mochte sie wohl vom l'homme qui parle le mieux en public erwartete!" 14 An dieser Stelle wurde emendiert. Der eigentliche Text, der an die Autorintention gebunden ist, wird nicht durch die Handschrift repräsentiert, sondern ist im Modus der Abwesenheit und auf Grundlage textkritischen Vorgehens in Form einer unter der Rubrik Textgrundlage nachzuweisenden Konjektur herzustellen. Dabei ist noch lange nicht jede grammatikalische oder morphologische Unkorrektheit zu korrigieren. So wurde in Duvaus erstem Brief an Böttiger die Form „die überaus schmeichelhaften Titeln" 15 belassen, da sie Zeugnis der unvollkommenen Beherrschung der deutschen Sprache durch den Franzosen und außerdem ein (noch heute) häufiger Fehler ist. Die Möglichkeit, daß die schwache Deklination des Substantives „Titel" eine sprachliche Variante bildet, ist nicht auszuschließen. In diesem Fall hat der Editor zu bedenken, daß seine Aufgabe nicht in der Umsetzung der Autorintention besteht - denn Duvau wollte nicht nur sinnvoll, sondern auch korrekt schreiben -, sondern daß der edierte Text in vielfacher Hinsicht ein historisches Dokument und Monument sein soll. Ein anderes Beispiel fllr einen unterlassenen Texteingriff bildet der Satz: ,,Und haben sie nicht nur durch seine Schuld gescheitert?" 16 Hier liegt das französische ont echoue zugrunde. Solche Interferenzen von Fremd- und Muttersprache treten bei Briefpartnern, die in einer Fremdsprache schreiben, häufig auf. Die genaue Kenntnis des Lebenszusammenhangs ist hier für den Textkritiker unerläßlich, um unnötige Emendationen zu vermeiden. Ein anschauliches Beispiel bildet Duvaus Brief vom 30. April 1795 an Karl Ludwig von Knebel, in dem es in der Handschrift heißt: Weil Sie sich aber einen so vortheilhaften Begriff von meinem Charakter gemacht haben, so will ich hoffen, daß Sie den Eindruck, den so viel Höflichkeit, und Titel Freund, womit Sie mich beehrt haben, und den ich mich bemühen werde zu verdienen, machen sollten, besser fühlen werden, als ich es mit Worten ausdrücken könnte. 17
Der fehlende Artikel vor „Titel" wurde im Druck ergänzt, weil dieser Artikel im überlieferten handschriftlichen Entwurf (h) steht. Würde das aber geschehen sein, wenn dieser Entwurf nicht überliefert wäre? Vermutlich nicht, denn man hätte plausible Erklärungen fllr das fehlen des Artikels finden können. Die Beispiele verdeutlichen, wie 14
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Duvau lage"). Duvau Duvau Duvau
an Böttiger, Leipzig, 18.-20.3.1804. Siehe Anm. 1, dort Nr. 71, Z. 135fund S. 328 (,.Textgrundan Böttiger, Weimar, 24.4.1795. Siehe Anm. 1, dort Nr. 2, Z. 7. an Böttiger, Leipzig, 18.-20.3.1804. Siehe Anm. 1, dort Nr. 71, Z. 135fund S. 333 zu 316--317. an Knebel, Erfurt, 30.4.1795. Siehe Anm. 1, dort Anhang Nr. 2, Z. 3-8 und S. 240.
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Klaus Ger/ach
schwierig es im einzelnen ist, die Differenz zwischen Relation und ursprünglicher Tatsache zu bestimmen, die eine Emendation rechtfertigt. Festzuhalten ist jedoch, daß in der Regel bereits die handschriftliche Quelle mit solchen Differenzen behaftet ist. Das zuletzt aufgeführte Beispiel zeigt, daß die Differenz zwischen ursprünglicher Tatsache und Relation nicht immer mit einem Fehler gleichzusetzen ist, obgleich jeder Fehler beim Editor einen textkritischen Verdacht auslösen sollte. Das Beispiel belegt, daß der Editor, der sich zwar in jedem Fall bemühen muß, die Autorintention zu erkennen, jedoch nicht vor der Aufgabe steht, sie umzusetzen. Die ursprüngliche Tatsache ist nicht mit der Autorintention, mit der sie in engem Zusammenhang steht, gleichzusetzen. Eine solche Differenz ist nur vorhanden, wenn die Abweichung der Relation von der Autorintention auf einen mechanischen Fehler zurückzufilhren ist. Die Beurteilung eines solchen Sachverhalts ist in jedem einzelnen Fall eine hermeneutische Operation. So ist Textkritik im Falle der Überlieferung der Originalhandschrift, zumal wenn daneben weiteres Material reichlich überliefert ist und ein umfangreiches historisches Wissen über die mit den zu edierenden Texten im Zusammenhang stehenden Personen, Werken und Ereignissen existiert, ein ebenso kompliziertes Problem, wie bei deren vollständigem Verlust. Ist die Originalhandschrift nicht überliefert, kann der verlorengegangene Text als ein makelloses Ideal imaginiert werden. Die auf handschriftlichen Quellen basierende Briefedition ist stets mit unvollkommenen materiellen Gebilden konfrontiert, deren Eigenart sie respektieren sollte. Wenn hervorgehoben wurde, daß die Rekonstruktion der Kommunikation durch die Briefpartner bei der Edition eines Briefwechsels im Mittelpunkt der textkritischen Arbeit stehen sollte, und dabei dem Problem des Verstehens eine zentrale Stellung zugewiesen wurde, so bedeutet das nicht, daß das Verstehen durch die Korrespondenten einen nicht zu überschreitenden Horizont darstellt. folgende Bemerkung Böttigers mag belegen, daß das Textverständnis nicht immer gegeben war: ,,Ich habe mit lateinischen Lettern geschrieben, weil meine deutsche Handschrift so unleserlich ist. Thun Sie dasselbe. Denn noch kann ich an Ihren Briefen manches nicht entziffern." 18 Noch interessanter ist Duvaus Antwort: ,,Ich habe noch mit deutschen Lettern geschrieben: ich bedaure, wenn es Ihnen so viel Mühe macht; mir würde es eine gar schwere Arbeit seyn mit lateinischen zu schreiben." 19 Aus diesen Worten geht hervor, daß der Briefschreiber auf die Mitarbeit seines Lesers rechnete und dabei das Nichtverstehen in Kauf nahm. Das Verstehen, auf das der Herausgeber einer Briefedition den Text ausrichtet, ist jedoch nicht mit dem Verstehen im Sinn der Autorintention identisch. Es ist das Verstehen durch einen Dritten.
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Böttiger an Duvau, Dresden, 21. Juli 1805. Siehe Anm. 1, dort Nr. 88, z. 9Cr98. Duvau an Böttiger, La Fariniere, 30. April bis 15. Mai 1806. Siehe Anm. 1, dort Nr. 89, Z. 262-264.
Jan Gie/kens
Kritik am Text und Textkritik Die Geschichte des Briefwechsels zwischen Hennan Gorter und Vladimir Il'ic Lenin
Da dieser Beitrag von ideologischen Differenzen und deren Folgen für die Überlieferung und die Edition von Quellen handelt, empfiehlt es sich, von einer undogmatischen Definition von , Textkritik' auszugehen. Ein mögliche - und zugegebenermaßen ungenaue - pragmatische Umschreibung wäre: ,Textkritik' ist die allgemeine Sensibilität für die Art und Weise, wie Quellen uns erreichen und wie wir in unseren Editionen damit umgehen. In meinem Beitrag geht es um politische Ideologie, nämlich um den Kontakt und den Briefwechsel zwischen zwei Sozialisten, Herman Gorter und Vladimir Il'ic Lenin. Dieser Briefwechsel, wie interessant er auch war und ist, ist aus ideologischen Gründen bis heute nicht vollständig und zuverlässig veröffentlicht worden. 1 Wer Vladimir Il'ic Lenin (1870-1924) war, bedarf keiner näheren Erläuterung;2 zu Gorter könnten einige Daten jedoch hilfreich sein. Den Niederländer Herman Gorter ( 1864-1927) kennt das niederländische Publikum als Schriftsteller, als wichtigen Erneuerer der epischen und der lyrischen Poesie. 3 Sein Debüt erschien 1889, es war das lange epische Gedicht Mei, das in der niederländischen Literatur als Anfang der modernen Poesie gilt. Mei wurde von Max Koblinsky vollständig ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. 4 1897 schloß Gorter sich der Sociaal-Democratische ArbeidersPartij (SDAP) an, er wurde ein aktives Parteimitglied, schrieb für Parteizeitungen,
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Mein Beitragist das Nebenprodukt meiner Arbeit an einer geplanten Edition der Korrespondenz Herman Gorters. Eine neuere Lenin-Biographie stammt von Robert Service: Lenin. A biography. London 2000. Die erste umfassende Biographie erschien erst splt: Hennan de Liagre Böhl: Met al mijn bloed heb ik voor u geleefd. Herman Gorter 1864-1927. Amsterdam 1996. Von De Liagre Böhl erschien davor schon: Herman Gorter. Zijn politieke aktiviteiten van 1909 tot 1920 in de opkomende kommunistische beweging in Nederland. Nimwegen 1973. Und: Herman Gorter en Lenin. In: Acht over Gorter. Een reeks beschouwingen over pc>ezieen politiek onder redactie van Garmt Stuiveling. Amsterdam 1978, S. 333-369. Herman Gorter: Mai. Ein Gedicht. Leipzig 1909. Beim selben Verlag (Maas & Van Suchtelen) erschien ebenfalls 1909 die Übersetzung von Gorters zweitem Ulngeren epischen Gedicht: Ein kleines Heldengedicht (niederlllndisch: Een klein heldendicht, Amsterdam 1906, 2. Aufl. 1908), die auch von Koblinsky stammte. Fragmente aus Mei, sowohl in Koblinskys Übersetzung als in einer von Stefan George, waren schon 1894 in Georges Blättern for die Kunst ( 1896, S. 92-96) erschienen. Gorter korrespondierte 1896 kurz mit George; siehe dazu: Herman Gorter Documentatie 1864-1897. Hrsg. von Enno Endt. Amsterdam 2. Aufl. 1986, (siehe: Dokumente 96:31, 96:32, 96:33, 96:71). Ein Stefan George gewidmetes Exemplar der 2. Auflage von Mei (1893) befindet sich im George-Archiv in Stuttgart. - Nlhere Daten zu Max Koblinsky fehlen.
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war Redaktionsmitglied des wissenschaftlichen Parteiorgans De Nieuwe Tijd 5, er Obersetzte6 und trat als Parteiredner auf. Nach 1897 veröffentlichte er - nach eigener Bezeichnung - nur noch „sozialistische Dichtung".' Er schrieb zwar nach 1897 auch andere lyrische Natur- und Liebesgedichte, die er jedoch zu Lebzeiten nicht veröffentlichte. Gorter veröffentlichte keine Parteibelletristik, wie beispielsweise Kampflieder, er trat auch nur ganz selten mit literarischen Werken bei politischen Veranstaltungen auf. An zwei Fragmenten aus dem Band Verzen, einfach Verse aus dem Jahr 1903, erkennt man, daß es sich bei Gorters Gedichten nicht um Parteilyrik handelt, sondern um moderne lyrische Poesie mit engagiertem Inhalt: Die Arbeiterklassetanzt einen großen Reigen am Ozean der Welt. wie Kinder, die man abends auf der Straodmauerbeim Meer im gelben Licht der Laternen und im Licht der Sonne bei Musik hüpfen sieht. Ihre leichten, dünnen Figürchen tragen im Tanz Hoffnung und Gedanken Oberden Ozean, gen Himmel, in die Erde so tanzt die Arbeiterklasseam Meer. [ ...] Der Sozialismus kommt, die Wolkenjauchzen es. Die Lüfte, die morgens durch die Straßen gehen, erzählen's den Leuten, und die Jungen blicken empor und krönen mit ihrem Blick die Kunde. (... )s
Noch als Sozialdemokrat publizierte Gorter auch viel im deutschen Sprachraum. Es erschien die Übersetzung seines Buchs Het historisch materialisme mit einem Vor-
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Zwischen 1896--1918 erschienen, gegründet nach dem Vorbild von Karl Kautskys Die Neue Zeit. Zur Geschichte dieser Zeitschrift: Henny Buiting: De Nieuwe Tijd. Sociaaldemokratisch Maandschrift. 1896-1921. Spiegel van socialisme en vroeg communisme in Nederland. Amsterdam 2003. Aus dem Lateinischen Spinozas Ethica (Den Haag 1895), aus dem Englischen William Morris' John Ball en Andere Vertalingen (Amsterdam 1898), aus dem Deutschen Karl Marx• Loonarbeid en Kapilaal (Amsterdam 1898), Karl Marx' und Friedrich Engels Hel Communistisch Manifest (Amsterdam 1904), Karl Kautskys Ethiek en materialistische geschiedenisbeproeving. Eene proeve (Rotterdam 1907), De weg naar de macht (Rotterdam 1909) und De oorsprong van het christendom (Amsterdam 1912), Joseph Dietzgens Hel wezen van den menschelijken hoofdarbeid. Siehe auch die anonyme, vom Nederlands Letterkundig Museum in Den Haag und vom Archief en Museum voor het Vlaamse Cultuurleven in Antwerpen herausgegebene, auf DIN-AS-Karten gedruckte titellose Gorterbibliographie. Socia/istische verzen nannte Gorter die dritte Abteilung der 1905 erschienenen stark verlnderten 2. Auflage seines Lyrikbandes De school der poi!zie ( 1897). Es handelt sich um Zitate aus dem ersten Zyklus von titellosen Gedichten in diesem Band, der nicht paginiert ist. Die Übersetzungen stammen von mir. Es gibt außer den beiden in Anm. 2 genannten Blinden kaum ins Deutsche übersetzte Lyrik von Gorter. ,Sozialistische Lyrik' wurde nicht ins Deutsche übersetzt. Einen programmatischen Text Über Poesie findet man in: Die Neue Zeit, Jahrgang 2, Bd. 1 ( 1903-1904), S. 395-398 (ursprünglich veröffentlicht in: De Nieuwe Tijd, Jahrgang 8 (1903), S. 33-37.
Kritik am Text und Textkritik
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wort von Karl K.autsky.9 Diese Übersetzung einer populärwissenschaftlichen Einfilhrung in den Marxismus wurde in deutscher Sprache mindestens zwölfmal neu aufgelegt. und es erschienen Ausgaben in mindestens fünfzehn anderen Sprachen. darunter Lettisch, Lettgallisch, Griechisch, Chinesisch und Japanisch. 10 1909 spaltete Gorter sich mit anderen Parteigenossen links von den Sozialdemokraten ab. In diesem Zusammenhang - bei Besprechungen über die Mitgliedschaft der neuen Partei. der Sociaal-Democratische Partij (S.D.P.) - , lernte er im Internationalen Sozialistischen Büro (I.S.B.; inoffiziell: die Sozialistische Internationale) im November 1909 Lenin in Brüssel kennen. 11 Es gibt keine Dokumente über einen engeren Kontakt bis 1915. Als Antwort auf einen Brief von Gorter vom 8. Mai 1915 schrieb Lenin eine Woche später von Bern aus, wo er zwischen 1914 und 1917 im Exil lebte, seinen einzigen erhaltenen Brief an Gorter. 12 Der nur in einer Abschrift von David Wijnkoop 13 überlieferte Brief handelt von Plänen für eine gemeinsame internationale Zeitschrift. Lenin lobt Gorter wegen seiner 1914 erschienen Broschüre Het imperialisme, de wereldoorlog en de sociaal-democratie. Lenin hatte versucht diese Broschüre auf Holländisch zu lesen: ,,Radek sagt, Ihre Broschüre ist englisch erschienen. Freut mich sehr: jetzt werde ich alles lesen und verstehen. Holländisch verstand ich etwa 3~ 40%: Ich gratuliere Ihnen wegen guter Angriffe gegen Opportunismus und K.autsky."14 Ob die englische Übersetzung erschienen ist, ist unklar; Ende 1915 erschien jedoch eine deutsche Übersetzung, 1920 auch eine russische. 15 In Briefen an Mitstreiter und in Artikeln ließ Lenin sich in dieser Zeit positiv über Gorter und seine Partei, die S. D. P., aus. 16 Auch Gorter verbreitete seinen Enthusiasmus über Lenin in Artikeln. Nicht belegt, aber nicht unwahrscheinlich, sind Begegnungen zwischen Gorter und Lenin in der Schweiz. Gorter besuchte die Schweiz regelmäßig, er war jedenfalls im Oktober 1916 dort und hatte Kontakt zu russischen
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Hennann Gorter: Der historische Materialismus. Für Arbeiter erkllrt. Stuttgart 1909 (aus dem Holländischen übersetzt von Anna Pannekoek, das Vorwort von Kautsky S. 5-12). Siehe die in Anm. 6 genannte (unvollständige) Bibliographie. Nach Henny Buiting: Richtingen - en partijstrijd in de SDAP. Hel ontstaan van de SociaalDemocratische Partij in Nederland (SDP). Amsterdam 1989, S. 611 (Anm. 260). Es gibt keinen Nachlaß Gorters. Lenins Brief an Gorter war die Beilage eines Briefs mit demselben Datum an David Wijnkoop (siehe W. 1. Lenin: Briefe. Band IV. August 1914--0ktober 1917. Berlin 1967, S. 70). Wijnkoop schrieb den Brief also wahrscheinlich ab, bevor er ihn Gorter übergab. Gorter und Wijnkoop (1876--1941) gingen bis etwa 1920 die gleichen politischen Wege, danach war Wijnkoop eher Lenin- und Moskaulreu (siehe http://www.iisg.nl/bwsa/bios/wijnkoop.html; 6. Oktober 2008, 8.48 Uhr). Zitiert nach W. 1. Lenin: Briefe. Band IV (Anm. 13), S. 71. Dort die Notiz: ,.Nach einer von D. Wijnkoopgeschriebenen Kopie der deutschsprachigen Handschrift". Die deutsche Ausgabe wurde von Gorters Partei, der S. D. P., verlegt: Der Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozial-Demokratie. Amsterdam 1915. Eine zweite Auflage erschien noch 1915, eine dritte beim Futurus-Verlag in München 1919. Die russische Übersetzung von 1. Stepanov erschien 1920 in Moskau: lmperializm, mirovaja vojna i social-demokratija. - Von einer englischen und einer russischen Übersetzung ist schon die Rede in einem Brief Gorters an seine Freundin Ada Prins vom 19. April 1915, von einer - bis jetzt nicht dokumentierten - japanischen in einem Brief an Prins vom 16. Deumber 1917 (beide Briefe im Nederlands Letterkundig Museum en Documentatiecentrum, Den Haag). Beispielsweise in: De Liagre Böhl: Met al mijn bloed (Anm. 3), S. 361-262.
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Emigrantengruppen. 17 Auf welche Begegnung sich Gorters Mitteilung an Lenin vom 26. Mai 1918 bezieht, ist unklar: ,,Ich freue mich schon auf den Tag daß wir uns dann [d. h. nach der gelungenen Revolution; JG] wiedersehen werden". Nachdem Gorter Anfang November 1917 Lenin mit einem wohl nicht erhaltenen Telegramm zur Machtergreifung gratuliert hatte, wiederholte er diesen Glückwunsch in einem Brief vom 23. Dezember 1917. Es ist dies der Beginn zu einem l O Briefe umfassenden Briefwechsel im Jahr 1918, von dem nur die sieben Briefe von Gorter an Lenin erhalten sind. Daß Lenin 1918 wenigstens drei Briefe an Gorter schrieb, ist aus dem Inhalt der erhaltenen Briefe zu erschließen. Die Briefe Gorters zeigen ihn als begeisterten Anhänger der russischen Revolution. Er bietet Lenin in einigen Briefen seine Hilfe an, die er vor allem in seinen Publikationen sieht. Vier seiner Broschüren schickte er am 12. Juni 1918 an Lenin: ,,Sie sind in klarer einfacher Sprache geschrieben und fl1rjeden Arbeiter verständlich. Die letzten drei sind ziemlich kurz so dass ihr Preis gering und die Verbreitung massenhaft sein kann." Eine der gesandten Broschüren, De wereldrevolutie (1918), trug die gedruckte Widmung ,,Aan Lenin".' 8 Bereits im ersten Brief aus dem Jahre 1918 begann aber schon die Diskussion mit Lenin Ober dessen Revolutionstaktik und -praxis: ,,Wenn ich Ost-Europäer wäre, würde ich ganz so gehandelt haben und handeln wie Sie. - In West-Europa muss ich aber anders handeln." Die Diskussionen Ober Revolution und Taktik hatten inzwischen auch in den Niederlanden zu erbitterten Auseinandersetzungen innerhalb der S.D.P geführt, die seit Mitte November 1918 Cornmunistische Partij in Nederland (CPN) hieß.' 9 Im August 1919 trat Gorter aus der CPN aus. Er wurde später aktives Mitglied der kleinen, im April 1920 gegründeten rätekornrnunistischen Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands (KAPD) und deren niederländischer Schwesterpartei KAPN (Kommunistische Arbeiders-Partij in Nederland), die im September 1921 gegründet wurde. In einer Nachschrift zu seinem Brief vorn 22. September 1918 an Lenin (Brief 9) teilte Gorter mit: ,.Ich hoffe nach einiger Zeit [ ... ] nach Moskau zu kommen. Ich möchte gerne etwas beitragen zur grossen Sache, und dazu einige Vorträge geben. Es wäre, glaube ich, gut, wenn ich eine fünnliche Einladung (von der Regierung, oder von der Akademie) empfing. Das Bekommen eines Passes fl1r die Hin- und Zurückreise würde dann leichter sein." Gorter arbeitete in dieser Zeit an der Übersetzung (aus dem Deutschen) von Lenins Text Gosudarstvo e revoljucija (Staat und Revolution), die 1919 erschien. 20 Ende Oktober und Anfang November 1918 berichtete er
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Vgl. verschiedene Briefe Gorters aus dieser Periode. Gorters Brief an Lenin vom 24. Oktober 1918 wurde auf vorgedrucktem Briefpapier des Representant plcnipotentiaire de la Republique Socialiste Federative des Soviets de Russie en Suisse in Bern geschrieben. 11 Die deutsche Übersetzung Die Weltrevolution erschien ebenfalls 1918 (verlegt von J.J. Bos in Amster• dam). 19 Ausführliche Beschreibungen dieser Auseinandersetzungen und Diskussionen sind enthalten in: De Liagre Böhl: Herman Gorter. Zijn politieke aktiviteiten van 1909 tot 1920 (Anm. 3), und Buiting: De Nieuwe Tijd (Anm. 5). w N. Lenin: Staat en revolutie. De leer van het marxisme over den staat en over de taak van het proletariaat in de revolutie. Amsterdam 1919 (2. Aufl. 1920).
Kritik am Text und Textkritik
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auch in Briefen an seine Freundin Ada Prins von seinen Plänen fllr eine Russlandreise.21 die aber zu dem Zeitpunkt scheiterten und erst Ende 1920 realisiert wurden. Am l. Mai 1920, in seinem letzten Brief an Lenin vor seiner Rußlandreise, ging Gorter noch einmal ausführlich auf ihre taktischen Differenzen ein und faßte seine Meinung wie folgt zusammen: ,,Sie stellen sich wahrscheinlich die Lage zu sehr nach den russischen Verhältnissen vor." Gorter weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, daß Lenin im Begriff ist, seine Broschüre Der ,Radikalismus · die Kinderkrankheit des Kommunismus zu veröffentlichen, die im Sommer 1920 in deutscher Sprache erscheint Lenin nennt darin Gorter nicht mit Namen, spricht aber mehrmals von „die Holländer und die ,Radikalen ... und nennt deren ,,Analyse [ ... ] äußerst mangelhaft'' (S. 37). In der offiziellen sowjetrussischen Historiographie werden diese ideologischen Auseinandersetzungen beispielsweise wie folgt zusammengefaßt (hier ohne Gorter zu erwähnen): Im April-Mai 1920 schrieb Lenin das geniale Buch Der , linke Radikalismus', die Kinder/cranlcheitim Kommunismus. Darin übte er allseitige Kritik an den Fehlern der ,Linken' und stellte fest, daß der mit scheinrevolutionAren Phrasen getarnte ,linke Doktrinarismus' ein Abweichen von der Theorie und Praxis des Marxismus zum Anarchosyndikalismus sei und die kommunistischen Parteien auf den fllr sie verhlngnisvollen Weg der Loslösung von den Arbeitermassen drlnge. 22
Gorter reagierte sofort auf Lenins Kinderkrankheit-Broschüre mit einem Offenen Brief an den Genossen Lenin, der Ende August 1920 in der Berliner Kommunistischen Arbeiter-Zeitung vorpubliziert wurde und noch im selben Jahr in zwei Auflagen als Broschüre erschien. Eine niederländische Fassung erschien Anfang 1921.23 In einem in der ersten deutschen Broschürenfassung mehr als 80 Seiten langen Text, der nicht nur dem Titel nach ein Brief ist, legt Gorter wiederum seine Anschauungen zur revolutionären Taktik dar. Die Broschüre fiingt mit „Lieber Genosse Lenin!" an und endet mit ,,Mit bruderlichem Gruß". Zwischendurch erinnert Gorter immer wieder daran, daß er sich in der Form eines Briefes an seinen Kontrahenten wendet: ,,Haben Sie nicht bemerkt, Genosse Lenin[ ... )". Auch eine Ergänzung des Offenen Briefs, die im April/Mai 1921 erschien, argumentierte Gorter in Briefform. 24 Zwischen dem Offenen Brie/und der Ergänzung lag Gorters Rußlandreise, die von Anfang November bis Mitte Dezember 1920 dauerte und die er als Mitglied einer KAPO-Delegation unternahm. Gorter und seine drei deutschen Parteigenossen reisten in abenteuerlicher Weise über Stettin, Estland und Petrograd nach Moskau, wo sie 21
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Im Nederlands Letterkundig Museum en Documentatiecentrum, Den Haag. Petr Nikolaevif Pospelov, V. E. Evgrafov, V. Ja. Zevin u.a.: Vladimir Il'if Lenin. Biografija. Moskau 1963, hier zitiert nach der 2. Aufl. der deutschen Übersetzung: W.I. Lenin: Biographie. Berlin 1964, S. 618. Deutsch: Herman Gorter: Offener Brief an den Genossen Lenin. Eine Antwort auf Lenins Broschüre: ..DerRadikalismus eine Kinderkrankheit des Kommunismus". Berlin [1920). Niederllndisch: Herman Gorter: Open brief aan partijgenoot Lenin. Amsterdam 1921. Gorters Text erschien ab 1920 in vielen Sprachen und ist im Internet in vielen Sprachen abrutbar: http://www.left-dis.nl (6. Oktober 2008, 8.50 Uhr). Herman Gorter: Lehren der Mlrz-Alction. Nachschrift zu dem Offenen Brief an Lenin von Hermann Gorter. In: Der Proletarier, Jahrgang 1 (1921 ), Nr. 5.
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mehrere Gespräche mit Lenin, Trotzki und anderen Politikern führten. Es stellte sich nach dem Reisebericht der KAPO-Delegation jedoch heraus, daß Lenin Gorters Offenen Brief nicht gelesen hatte. Die Gespräche führten, wie sich herausstellen sollte, nicht zu den aus der Sicht der Delegation und der KAPO gewünschten Erfolgen. 25 In einem Brief an seine Freundin Jenne Clinge Doorenbos schrieb Gorter Mitte Dezember 1920 aus Berlin: ,,Endlich angekommen. Erschöpft, müde, mager und ausgezehrt. Aber das Ziel ist erreicht, meine Liebe. Ich kehre zurück als besserer, stärkerer und glücklicherer Mensch. "26 Neutraler und vielleicht von weniger ,,naivem Optimismus'.2 7 zeugend, ist die Bemerkung Gorters in einem Brief an seinen KAPNParteigenossen Barend Luteraan: ,,Ich habe viel gesehen, gehört und gelernt. "28 Gorter versuchte noch einmal Lenin persönlich von seinen Ansichten zu überzeugen, und zwar in einem Brief vom 26. September 1921. Anlaß war der 3. Kongreß der Kommunistischen Internationale, der im Juli/ August 1921 in Moskau stattfand. Dort hatte Karl Radek den ,Philosophen' und ,Dichter' Gorter einen ,Sektaristen' genannt. Am Schluß des Briefs faßt Gorter ihn noch einmal zusammen: Sie sehen also, Genosse:
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In Russland bin ich mit Ihnen einig.
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Ihre neue Taktik halte ich fllr die Revolution in Europa schädlich, aber in Russland fllr notwendig.
III.
Ihre west-europlische Taktik halte ich fllr schlecht.
Auch die Abschlußformel ist noch immer freundschaftlich: ,,Mit den herzlichsten Grüssen und den besten Wünschen für die Revolution". Nach dem Tod Lenins äußerte Gorter sich noch einmal auf persönliche Weise und nicht öffentlich Ober den russischen Revolutionsführer in einem Gedicht mit dem Titel Lenin, das erst nach Gorters Tod veröffentlicht wurde (in einem Gedichtband mit dem Untertitel Aus Anlaß der Niederlage der Revolution). In Sonettform stellt Gorter fest, daß Lenins Revolution gescheitert sei, ,,Da Du verlassen / wurdest von den Arbeitern Europas, die Deine Liebe haßten". 29 Wenn man Anfang des 21. Jahrhunderts den Plan faßt, die Korrespondenz zwischen Gorter und Lenin in einer Gorter-Briefedition aufzunehmen, ist man sich der damit verbundenen Schwierigkeiten nicht bewußt. Das von Lenin Verfaßte ist gänzlich pub25 26 27 28
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Eine ausführliche Beschreibung der Reise gibt: De Liagre Böhl: Met al mijn bloed (Anm. 2), S. 427433. Von mir übersetzt und zitiert nach De Liagre Böhl (Anm. 25), S. 433. De Liagre Böhl (Anm. 25), S. 433. Herman Gorter: Brief vom 29. Dezember 1920. Nachlaß Luteraan. Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam. Herman Gorter: Liedjes. Aan de geest der muziek der nieuwe menschheid. Deel III. Bussum 1930, S. 14 (hier von mir übersetzt). Das vollständige Gedicht läßt den Schluß auf ein ausgezeichnetes Verhliltnis zwischen Gorter und Lenin zu: Henny Buiting: Good-by Lenin. In: Onvoltooid verleden (2004), Heft 19, s. 45--66.
Krink am Text und Textkritik
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liziert bzw. gut archiviert und registriert. Außerdem sind die Archive in der ehemaligen Sowjetunion zugänglich. Die Praxis ist aber wesentlich komplizierter. Zunächst wenden wir uns der Publikationsgeschichte der einzelnen Briefe zu. Aus mehreren Quellen kennen wir die Existenz oder den Text folgender zwölf Briefe: l. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. l 0. 11. 12.
Gorter an Lenin, 8. April 1915 LeninanGorter, 15.Mai 1915 Gorter an Lenin, 23. Dezember 1917 Gorter an Lenin, 7. Februar 1918 Gorter an Lenin, 26. Mai 1918 Gorter an Lenin, 12. Juni 1918 Gorter an Lenin, 4. Juli 1918 Gorter an Lenin, 4. Juli 1918 Gorter an Lenin, 22. September 1918 Gorter an Lenin, 24. Oktober 1918 Gorter an Lenin, l. Mai 1920 Gorter an Lenin, 26. September 1921
Die Briefe I und 12 sind, soweit bekannt, bislang ungedruckt: Brief 12 befindet sich in einer Gorter betreffenden Personalakte im RGASPI3° in Moskau. Brief I wird in einer Fußnote zu einem Kapitel in einem in der Bundesrepublik 1980 erschienenen Buch des Niederländers Matthijs Wiessing ( 1906-1987) erwähnt, der ab 1930 in der Sowjetunion lebte.31 Ein anderes Kapitel in diesem Buch 32 gibt die vollständigen Texte von sechs Briefen (5, 6, 7, 8, 9, und 11) wieder. Von diesen Briefen wurden nach Wiessing die Briefe 5 bis 8 in einer russischen Publikation veröffentlicht, die er jedoch bibliographisch nicht belegt hat und die bisher nicht festgestellt werden konnten. Die Briefe 3, 4, 9 und l 0 waren 1967 vom niederländischen Literaturhistoriker und Gorter-Spezialisten Garmt Stuiveling ( 1907-1985) 33 in einem Artikel in deutscher Originalsprache veröffentlicht worden. 34 Stuiveling hatte Kopien dieser Briefe 1966 bei einem Besuch in Moskau erhalten, aber anscheinend die Originale nicht gesehen. Stuiveling hat, nach dem Titel seiner Publikation zu urteilen, wohl auch angenommen, es handele sich um alle erhaltenen Briefe.35 Brief 2, der einzige erhaltene Brief
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Rossiiskii gosudarstvennyi arkhiv sotsial 'no-politicheskoi istorii, d. h. Russisches Staatsarchiv für Soziale und Politische Geschichte. Ich danke Irina Novi~o (Moskau) für den Hinweis. Mathijs C. Wiessing: Lenin und die holländischen Tribunistcn. In: Mathijs C. Wiessing: Die Holllodische Schule des Marxismus - Die Tribunisten. Erinnerungen und Dokumente. Hamburg 1980, S. 2449, Anmerkung 17, S. 148. Mathijs C. Wiessing: Hcrman Gorter im Jahre 1918. In: Wiessing 1980 (Anm. 31), S. 69-87. Stuiveling gab Gorters literarisches Werk heraus: Gannt Stuiveling: Hcrman Goner. Vcrzamclde werken. 8 Bde. Bussum/ Amsterdam 1948-1952. Garmt Stuiveling: Gorters brieven an Lenin. In: Nieuw Vlaams Tijdschrift, Jahrgang 20 {1967), S. 822843, im selben Jahr in Garmt Stuiveling: Willens en wetcns. Twaalfessays. Amsterdam 1967, S. 114138. Die Erinnerungen von Stuivelings Witwe deuten dies auch an: ,.Im September 1966 stiegen wir von der Flug7.eugtrcppc in Moskau runter. Aus einer Gruppe von Mlnnem löste sich Vcra [Morozova]; sie lief aufGarmt zu, über ihrem Kopf winkte sie wie mit einem Fllcher Spielkarten: die Briefe Hcrman Gortcrs an Lenin!" Mathilde Stuiveling-van Viersscn Trip: In de ban van Hennan Gorter. Herinncringen aan
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Jan Giellcens
Lenins an Gorter, wurde 1960 auf Russisch erstveröffentlicht' 6 und dann ab 1967 in die deutschsprachige Lenin-Briefedition aufgenommen. 37 Es existiert außerdem eine niederländischsprachige, in Moskau 1988 verlegte Publikation, in der die Briefe 2 bis 4 und 10 übersetzt abgedruckt wurden. 38 Was sagen die Quellenangaben in diesen Publikationen über den Aufenthaltsort der Originale? Die genannten Abdrucke von Brief 2 (Lenin an Gorter) enthalten keinerlei Angaben darüber. Die Wiessing-Artikel von 1980 nennen zwei sowjetrussische Archivanstalten: das ZPA IML und das Staatsarchiv, beide in Moskau. Mit dem ZPA IML ist das Tsentral'nyi partiinyi arkhiv Instituta marksizma-leninizma pri TsK KPSS (Zentrales Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion), das von 1956 bis 1991 diesen Namen trug. 39 Seit 1999 heißt dieses Institut RGASPI. 40 Das von Wiessing genannte Staatsarchiv ist das jetzige Gosudarstvennyi arkhiv Rossiiskoi Federatsii (GARF), das Staatsarchiv der Russischen Föderation. Die Briefe 3, 4, 9, 10 und 11 liegen nach Wiessing im jetzigen RGASPI. Bei einem Besuch dort im November 2002 stellte sich heraus, daß diese Angaben, bis auf eine, nicht stimmen. Und diese eine Angabe ist nur bedingt korrekt: Von Brief 9 befindet sich unter der von Wiessing genannten Signatur eine maschinenschriftliche Abschrift des Originals. Da es sich bei vier dieser Briefe (3, 4, 9 und l 0) um die Briefe handelt, die Stuiveling 1966 als Kopie erhielt und 1967 veröffentlichte, wird Stuivelings Angabe, die Kopien stammten aus dem Lenin-Archiev in Moskau, interessant. Nach der offiziellen Website des RGASPI 41 befindet sich das Lenin-Archiv in dieser Institution. Bei meinem Aufenthalt dort legte man mir jedoch nur das Inventar eines kleinen Teilbestands vor, das keine Hinweise auf Briefe von oder an Gorter enthielt. Daß die vier anderen von Wiessing genannten Briefe (5 bis 8) sich in der Tat, wie dieser angibt, im jetztigen GARF befinden, bestätigt die am 6. Juli 2004 erhaltene, auf den 14. Mai 2004 datierte Antwort auf eine Anfrage vom Februar 2004. Für die Briefe 10 „u. a." verweist die Antwort auf das RGASPI. War die Situation vor dem anfangs schon erwähnten Ende des Sozialismus so, daß man eine offene wissenschaftliche Diskussion der ideologischen Differenzen zwischen Lenin und Gorter nicht erwarten konnte, 42 so ist im Moment an die Stelle eines aktiven Desinteresses ein passives Desinteresse getreten, 43 das die ideale Quellen-
Jenne Clinge Doorenbos en Ada Prins. In: De Parelduiker, Jahrgang 8 (2003), Heft 1, S. 2-27, siehe S. 18 (Obers. von mir). 36 Voprosy lstorii KPSS, Jahrgang 1960, Heft 4. 37 Siehe Anm. 13. 38 Briefwisseling van V.1. Lenin met Hollandse communisten. Moskau 1988. 39 Siehe http://www.iisg.nV--abb (6. Oktober 2008, 8.55 Uhr). 40 Siehe Anm. 30. •• http://www.rusarchives.ru/federaVrgaspi/character.shtml; Stand 2004, am 6. Oktober 2008, 9.02 Uhr nicht mehr gültig; siehe aber zu dem Zeitpunkt: http://www.iisg.nV-abb/rep/B-12.tabl.php, wo „the archive of V. 1. Lenin" erwähnt wird. 2 • Siehe das oben Zitierte aus der Lenin-Biographie, siehe die unvollstlindige Information an Gannt Stuiveling. 43 Siehe die wiederholt unvollstllndigen Informationen in und von Russischen Archivinstitutionen.
Kritik am Text und Textkritik
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situation für eine vernünftige Edition des Gorter-Lenin-Briefwechsels im Laufe von fast zwei Jahren kaum verbessert hat.44
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Inzwischen erschien: Jan Gielkens: Herman Gorter: Ein unbekannter Brief an Lenin. In: Die Vitrine. Fachblatt für Linke Bibliomanie, 2005, Heft 7, S. 7-15.
Hartmut Laufhütte
Warum und wie sollen Literatenbriefwechsel des 17. Jahrhunderts kritisch ediert werden? Ein Fallbeispiel und grundsätzliche Überlegungen
Natürlich ist die Fonnulierung der Frage im Titel, zumindest ihr erster Teil, rein rhetorisch; die Antwort, die ich geben will, erfolgt zu einem besonderen Fall, aber mit Verallgemeinerungsabsicht. Als dieser Text vorgetragen wurde, steckte ich in den Abschlußarbeiten - letzte Überprüfungen, darstellerische Vereinheitlichung, Erstellung von Registern, Einleitung - der Edition eines in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geführten Briefwechsels; der im Zusammenhang noch nie und von dem, was den einen Teilnehmer betrifft, nicht einmal zehn Briefe bisher veröffentlicht worden waren, und das ziemlich unzulänglich. 2 Es handelt sich um die Korrespondenz des Nürnberger Autors Sigmund von Birken ( 1626-1681) und der niederösterreichischen Dichterin Catharina Regina von Greiffenberg (1633-1694), 3 die beide zu Unrecht und zum Schaden einer adäquaten Darstellung der Geschichte der Literatur des 17. Jahrhunderts wenig beachtet worden bzw. weithin unbekannt sind. Wie konnte es dazu kommen? Sigmund von Birken war nach Martin Opitz gewiß der wirkungsmächtigste Literatur- und Kulturmanager im deutschsprachigen Raum, dazu ein überaus produktiver gelehrter Poet, Literaturtheoretiker und Historiograph. 4 Ihn - wie alle anderen Autoren des 17. Jahrhunderts - hat die Denk- und Geschmacksrevolution der Aufklärung aus dem Bewußtsein der literarischen und an Literatur interessierten Öffentlichkeit gestrichen. Da die Wiederentdeckung der Barockliteratur, richtiger wohl einiger Autoren jener versunkenen Epoche, durch die 1
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Sigmund von Birken: Werke und Korrespondenz. Hrsg. von Klaus Garber u.a. Bd. 12. Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg. In Zusammenarbeit mit Dietrich Jöns und Ralf Schuster. Hrsg. von Hartmut Laufhütte. Tübingen 2005. Teil I: Texte, Teil II: Apparate und Kommentare. Inzwischen ist auch der Doppelband 9 der Birken-Ausgabe erschienen: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Georg Philipp Harsdörffer, Johann Rist, Justus Georg Schottelius, Johann Wilhelm von Stubenberg und Gottlieb von Windischgrätz. Hrsg. von Hartmut Laufhütte und Ralf Schuster. Tübingen 2007. Teil 1: Texte, Teil II: Apparate und Kommentare. Heimo Cemy: Catharina Regina von Greiffenberg, geb. Freiherrin von Seisenegg (1633-1694). Herkunft, Leben und Werk der größten deutschen Barockdichterin. Amstetten 1983, S. 72-91. Die von Frau von Greiffenberg an Sigmund von Birken gerichteten Briefe und die von von Birken selbst angefertigten Vor- und Abschriften bzw. Teilabschriften seiner Briefe an sie werden zusammen mit den anderen Manuskripten seines Nachlasses unter der Leitsigle PBIO im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg aufbewahrt. S. Klaus Garber: Sigmund von Birken: Städtischer Ordenspräsident und höfischer Dichter. Historischsoziologischer Umriß seiner Gestalt. Analyse seines Nachlasses und Prolegomenon zur Edition seines Werkes.In: Sprachgesellschaften - Sozietlten - Dichtergruppen. Hrsg. von Martin Bircher und Ferdinandvan Jngen. Hamburg 1978 (Wolfenblltteler Arbeiten zur Barockforschung. Bd. 7), S. 223-254.
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Hartmut Laufhütte
Romantiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts, nach Kriterien erfolgte, die einen filr seine Zeit so überaus typischen und repräsentativen Autor wie Birken nicht interessant erscheinen ließen, geriet er unter die poetae minores, und da sitzt er heute noch; denn die vor 200 Jahren erfolgte Kanonbildung wirkt, aller Neuorientierungen der Literaturwissenschaft unbeschadet, immer noch nach. 5 Catharina Regina von Greiffenberg wird von einem ihrer Verehrer als ,,größte deutsche Barockdichterin" 6 bezeichnet. Das Pathos einer solchen Reklamation stört; in der Sache aber hat er recht. Trotzdem und obwohl es seit über zwanzig Jahren eine Reprint-Ausgabe aller zu Lebzeiten der Dichterin gedruckten größeren Werke und der meisten gedruckten Gelegenheitsgedichte gibt,7 ist die Autorin so gut wie unbekannt. 8 Das hat verschiedene Gründe. Sicher hat es mit der Nichtbeachtung dichtender Frauen in der männlich dominierten Literaturwissenschaft früherer Jahre zu tun, aber auch damit, daß ihr Werk, das lyrische und das prosaische, geistlich geprägt ist und sich die Erbauungsliteratur lange Zeit in der Literaturwissenschaft keines besonderen Interesses erfreute. Wie wenig genau man hingeschaut hat, zeigt die unausrottbare, nichtsdestoweniger falsche Bezeichnung der Frau von Greiffenberg als Mystikerin. 9 Als die Literaturwissenschaft begann, sich als sozialhistorische, neuerdings gar '/culturwissenschaftliche', Disziplin zu entdecken, fehlte das theologiegeschichtliche Wissen, dessen es bedurft hätte, ein Werk wie das der Frau von Greiffenberg sinnvoll in eine so motivierte Betrachtung einzubeziehen. Auch die feministische Welle in der Literaturwissenschaft hat sie nicht wahrgenommen; kaum eine Geschichte der Literatur von Frauen oder Autorinnen-Anthologie, die Catharina Regina von Greiffenberg auch nur erwähnte. Hinzu kommt, daß für die überwiegend nationale Literaturgeschichtsschreibung Frau von Greiffenberg in Deutschland eine österreichische Autorin war, in Österreich aber eine Protestantin. Damit sind so ziemlich alle Zugangsbarrieren benannt, hinter denen Autorin und Werk allzu lange verschwunden blieben. Seit kurzem findet das Werk dieser bemerkenswerten Frau als Dokument des frühen Pietismus, als Konzentrat mehrerer europäischer Traditionslinien frömmigkeitsgeschichtlicher und literarhistorischer Qualität und als Ergebnis einer gewaltigen Sprach- und Bildkraft die Aufinerksamkeit vor allem junger Kolleginnen und Kolle-
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Siehe Sigmund von Birken: Werke Werke und Korrespondenz. Hrsg. von Klaus Garber u.a. Bd. XIV: Sigmund von Birken Prosapia / Biographia. Hrsg. von Dietrich Jöns und Hanmut Lautbütte. Tübingen 1988. S. VI-XII. Siehe Anm. 2 Catharina Regina von GreitTenberg: Slmtliche Werke in zehn Banden. Hrsg. von Manin Bircher und Friedhelm Kemp. Millwood N. Y. 1983. Zur Biographie siehe Horst-Joachim Frank: Catharina Regina von GreitTenberg. Untersuchungen zu ihrer Persönlichkeit und Sonettdichtung. Diss. (masch.) Hamburg 1957. Teildruck: Catharina Reginavon GreitTenberg. Leben und Werk der barocken Dichterin. Göttingen 1967; Cerny 1983 (wie Anm. 2), S.
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Siehe z. B. Ruth Liwerski: Das Wörterwerk der Catharina Reginavon GreitTenberg. Teil II. Deutung [Teil 1. nicht erschienen]. Bern/ Frankfurt a. M. / Las Vegas 1978 (Europlische Hochschulschriften. Reihe 1. Bd. 224 ).
Warum um/ wie sollen Literatenbriejwechsel des 17. Jahrhum/erts kritisch ediert werden?
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gen. 1 Catharina Regina von Greiffenberg wird nicht mehr zu den ,Unsichtbaren' Frauen gehören. 11 Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg haben von 1662 an bis 1681, dem Todesjahr Birkens, einen sehr intensiven Briefwechsel geführt, sowohl aus der Distanz - sie lebte bis 1678 in ÖSterreich - als auch aus größerer Nähe, bei den vielen längeren oder kürzeren Aufenthalten der Baronin in Nürnberg von 1663 an, wo sie sich 1679 endgültig niederließ. Natürlich gab es in diesen Zeiten außer dem brieflichen auch persönlichen Kontakt. Als Bearbeiter der Abteilung Autobiographica / Korrespondenz beschäftige ich mich im Rahmen einer derzeit entstehenden Edition mit dem Briefwechsel Birkens. Dabei werden alle zu Lebzeiten gedruckten und handschriftlich überlieferten Werke Birkens sowie die bei ihm eingelaufenen und von ihm versandten Briefe erfaßt. Der Plan zu dieser Ausgabe resultiert aus einem einzigartigen Überlieferungsfall. Birken hat große Teile seiner Bibliothek und alle seine Manuskripte und die Briefe testamentarisch dem Pegnesischen Blumenorden vermacht, 12 einer der Dichterakademien des 17. Jahrhunderts, deren zweiter - nach Georg Philipp Harsdörffer und bedeutendster Präses er war. 13 Den Orden gibt es heute noch. Er hat sein kostbares Vermächtnis gehütet und im wesentlichen ungemindert über die Zeit gerettet. Seit vielen Jahren wird der Bestand vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg verwaltet. Hier kann nicht dargelegt werden, was alles Birkens Nachlaß enthält. Ich deute, bevor ich auf den Birken-Greiffenberg-Briefwechsel eingehe, nur an, was fllr die von mir zu betreuende Abteilung der Edition vorhanden ist, nämlich Tagebücher fllr die Jahre 1660--1679 (mit einigen Lücken), die meist auch Register empfangener und versandter Briefe enthalten, 14 eine Autobiographie, die bis fast vor das Einsetzen der Tagebuchdokumentation heranreicht, 15 die Briefe von einigen hundert Partnern, mit denen Birken oft über Jahrzehnte in Verbindung gestanden hat, Briefkonzeptbücher, 10
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Siehe z. B. Cristina M. Pumplun: ,.Begriff des Unbegreiffiichen." Funktion und Bedeutung der Metaphorik in den Geburtsbetrachtungen der Catharina Regina von Greiffenberg (1633-1694). Diss. Amsterdam 1995. Seither sind zahlreiche Publikationen erschienen. Mit Unsichtbare Frauen isl ein Band mit drei Erzählungen betitelt, den die österreichische Autorin Evelyn Schlag 1995 in Salzburg und Wien herausgebracht hat. Eine der Erzählungen, Die /ustwählende Schäferin, handelt von Catharina Regina von Greiffenberg. Das Testament Sigmund von Birkens kennen wir nicht. Tagebuchnotizen Birkens zeigen, daß er bis in seine letzten Lebensjahre an seinem letzten Willen gearbeitet und diesen immer wieder verändert hat. Eine Kopie von fremder Hand, die - bzw. deren verschollenes Original - den Tod von Birkens zweiter Frau (16.5.1679) voraussetzt, also der endgültigen Version, wenn es sich nicht um eben diese handelt, zumindest nahestehen muß, enthält Birkens Nachlaß: PBIO.C.24.39.25. Darin hat Birken die für seine Bibliothek gebundenen Exemplare eigener Werke und derjenigen seiner Mitschäfer sowie „alle meine manuscripta und Briefe, (was erudition betriffi) sambt des durchleuchtigen Sieg Brangenden", dem Pegnesischen Blumenorden vermacht. Siehe [Johannes Herdegen:] Historische Nachricht von deß löblichen Hirten= und Blumen=Ordens an der Pegnitz Anfang und Fortgang/ biß auf das durch Götti. Güte erreichte Hunderste Jahr/ mit Kupfern gezieret. und verfassset von dem Mitglied dieser Gesellschaffi Amarantes. Nürnberg 1744. S. 79-158. PBIO.B.2.1.3 (1660 / 61 ), B.2.1.4 ( 1664- 1668), B.2.1.5 ( 1669), B.2. 1.6 (1671 ), B.2.1. 7 (1672), 8.2.1.8 (1673), B.2.1.9 (1675), B.2.1.10 (1676), B.2.1.2 (1677-1679). Birkens Tagebücher sind - unzulänglich - publiziert: Die Tagebücher des Sigmund von Birken. Bearbeitet von Joachim Kröll. 2 Bde. WUnburg 1971 und 1974. von Birken 1988 (wie Anm. 5).
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Hartmut Lauflrütte
in denen er mit unterschiedlicher Ausführlichkeit bis hin zur Anfertigung kompletter Abschriften seine eigenen Briefe dokumentiert hat. 16 Dieser Quellenfundus ist gar nicht hoch genug zu bewerten. Birken stand mit einem großen Teil der gelehrten und literarischen Welt seiner Zeit in Verbindung; entsprechend reiche Spuren bat das im Briefarchiv hinterlassen. Es gibt Briefe von Kollegen, Mäzenen, Auftraggebern, Verlegern, Kupferstechern und vielen anderen. Die Briefe und Briefkonzepte bieten nicht nur eine Fülle an biographischer und werkgeschichtlicber Information, nicht nur fl1r Birken übrigens, 17 sondern gewahren erstaunliche Einblicke in Denk- und Mentalitätsgeschichte; sie bilden einen einzigartigen Quellenfundus fl1r die Erforschung der sozialen Geflechte, in denen im 17. Jahrhundert Literatur entstand, verbreitet wurde und wirkte. Birkens Briefwechsel mit Catharina Regina von Greiffenberg ist ein besonders interessanter Bestandteil des Corpus,18 weil er Auskünfte nicht nur in den soeben bezeichneten Feldern ermöglicht, sondern auch eine unermeßliche Quelle darstellt fl1r die Subjektivierung lutherischer Religiosität in jener Zeit, fl1rdie Bedeutung und produktionsffirdernde Wirksamkeit des protestantischen Kirchenlieds, fl1rdie Art der Rezeption damaliger ,Gegenwartsliteratur•, ftlr die Bedeutung des Umgangs mit Literatur im täglichen Leben, fl1r die Wirksamkeit von, das Arbeiten mit Traditionen, nicht zuletzt fl1r die Situation adliger Protestanten in Österreich in den Jahrzehnten nach dem Westßliscben Frieden. Das ,Ob' kann also nicht Gegenstand ernstgemeinter Fragen sein; beim , Wie' scheint es anders. Dabei sind die im engeren Sinne philologischen Probleme eher harmlos. Für keinen der zu publizierenden Texte gibt es Mehrfachilberlieferung. Die wenigen Drucke einzelner Greiffenberg-Briefe sind unzulänglich und können fl1r die Textkonstitution vernachlässigt werden. Die Birkensehen Konzepte sind slmtlich unpubliziert. Die Handschrift beider gilt als schwer lesbar, dem ist aber nicht so. Die Probleme, die die Manuskripte dem Editor gleichwohl bereiten, bestehen in anderem als in der mehr oder minder leichten Lesbarkeit: Frau von Greiffenberg verwendet z.B. bestimmte Buchstaben nur (oder meist) in derjenigen Variante, die eigentlich den Großbuchstaben bezeichnet, auch im Anlaut von Nichtsubstantiven, auch mitten im Wort. Zur emphatischen Hervorhebung von Wörtern ist deren erster Buchstabe oft als überproportional groß ausgeführter Kleinbuchstabe gestaltet. Wie gibt man das wieder, ohne ein völlig absurdes Druckbild zu erzeugen? Ich gebe an entsprechen16
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Neben mehreren Konvoluten loser Bllltter aus (wohl von Birken selbst) aufgelösten Konzeptb0chern gibt es drei umfangreiche gebundene: PBIO.8.2.1.24 (1648-1653), 8.5.0.3 (1653-1657), B.5.0.41 ( 1658-1672). Die drei B0cher sind je verschiedenartig geführt, beim zweiten und dritten handelt es sieb auch nicht um reine Briefdokumentationen. Die eingebürgerte Bezeichnung ,Briefltonzcptb0cber' ist überdies irreführend: Die Bücher enthalten nicht Briefentwürfe, sondern (Teil• )Abschriften. Sie sind werkgeschichtliche Quellen - z. T. die einzigen - fllr eine Anzahl von Autoren, deren Werke Birken redigiert und / oder zum Druck gebracht hat. Außer fllr Catharina Regina von Greiffenberg gilt das z. 8. fllr Johann Wilhelm Stubenberg, Henrich Kielmann von Kielmannseck, Gottlieb von Windischgrlltz, Margaretha Maria von Buwingbausen und Wallmerode, Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg u. a. Die Briefe der Frau von Greiffenberg sind bis auf wenige Ausnahmen unter der Signatur PBIO.C.114 zusammengeführt; die Abschriften bzw. Teilabschriften der Gegenbriefe Birkens stehen fast alle im Konzeptbuch PBIO.B.5.0.41.
Wanun und wie sollen Literatenbriefwechse/ des 17. Jahrhunderts kritisch ediert werden?
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den Stellen klein ausgeftlbrte Großbuchstaben als Minuskeln wieder, besonders groß ausgeftlbrte .Kleinbuchstabenals Majuskeln. Daß da sehr blutig Entscheidungen zu treffen sind, versteht sich. Die Fllle sind viel zu blutig, als daß jeder dieser Eingriffe deklariert werden könnte. Ein pauschaler Hinweis darauf, wie verfahren wurde, muß genügen. Anstelle der eh-Ligatur verwendet Frau von Greiffenberg so gut wie immer das einfache hZeichen. Auch hier kann unmöglich jede Abweichung der Transkription vom graphischen Erscheinungsbild der Manuskripte deklariert werden; gewisse Unsicherheiten bleiben. Die Buchstaben h und s (der deutschen Schrift natürlich) sind bei ihr blutig so ausgeführt, daß man nicht sicher entscheiden kann, welcher von beiden gemeint ist. Das wird zum Problem bei einer der Varianten, in der die Schreibung des Namens Jesus bei ihr erscheint: schreibt sie ,,Jessus" oder ,,Jehsus"? Ich habe mich für letztere Wiedergabe entschieden; auch das kann aufgrund der Hlufiglceit der Fälle nur pauschal deklariert werden. Eine Quelle stlndiger Irritationen ist die Tatsache, daß Frau von Greiffenberg die Buchstaben m und n wenig sorgfältig ausführt, was immer wieder Entscheidungen erforderlich macht, vor allem nach den Vokalen i und a, die einmal in der deutschen und einmal in der lateinischen Variante verwendet sind. Sehr oft ist nicht mit Sicherheit auszumachen, ob m, n oder gar Gemination des einen oder anderen Buchstabens vorliegt. Jeder einzelne dieser Flllle, die eine editorische Entscheidung verlangten, ist im philologischen Apparat, den es zu jedem aufgenommenen Text gibt, deklariert. Probleme bereitet ebenfalls die Auflösung des das/daß-Kürzels angesichts einer nicht normierten Orthographie, nach der ausgeschriebenes „daß" als Artikel oder Pronomen, ausgeschriebenes „das" jedoch als Konjunktion stehen kann. Jede Auflösung dieses Kürzels ist in den philologischen Apparaten deklariert. Birk.ensOrthographie bereitet vor allem dadurch gewisse Probleme, daß er in ungleich stlrkerem Maße als seine Briefpartnerin Abkürzungen und Kürzel verwendet, deren korrekte Auflösung der Lesbarkeit der Texte wegen nötig, angesichts nicht normierter Orthographie, die häufig nicht dem Sinn, aber den Wortendungen nach unterschiedliche Schreibungen zuließe, problematisch ist. So kann die Dativ-Endung maskuliner und neutraler Nomina (Substantive, Pronomina, Adjektive) sowohl auf m als auf n ausgehen: Wie verfährt man, wenn der Wortausgang als Kürzel ausgeführt ist? Einzelfalldeklaration ist hier unmöglich; es kann nur eine Pauschalangabe zu dem Verfahren in solchen Fällen gemacht werden.
Die Zahl der Problempositionen ließe sich vermehren. Grundsätzlich aber gilt: Für jede Abkürzungs- und KOrzelauflösung, fllr jede aus der Handschrift übernommene Korrektur oder Ergänzung, für jede in der Handschrift durchgeführte Streichung, die der transkribierte Text natürlich nicht mehr enthält, gibt es ein Lemma im philologischen Apparat. Der Text, der dem Benutzer geboten wird, bleibt frei von allen kritischen Zeichen. Auch die sehr seltenen Eingriffe in die Interpunktion der Originale werden in jedem Fall in den Apparaten nachgewiesen. Solche Eingriffe sind gelegentlich notwendig, weil Frau von Greiffenberg von einem bestimmten Zeitpunkt an keine Beistriche (Kommata) mehr verwendet, sondern Punkte, und das Fragezeichen sehr oft zur Emphasemarkierung benutzt hat. Würde man das in der Transkription beibe-
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Hartmut Laufhütte
halten, würde die adäquate Auffassung des Texts geradezu absurd erschwert. Doch sind die Apparate so angelegt, daß die originale Zeichenverwendung eines jeden Textes rekonstruiert werden kann ebenso wie ursprünglicher, später verworfener Wortlaut. Fazit: Die Umwandlung der Manuskripte in einen lesbaren Text kann nur durch textkritische Arbeit geleistet werden. Über das ,Ob' kritischer Textgestaltung und entsprechender Rechenschaftslegung ist nicht zu diskutieren. Die Komponente ,historisch' deutet die eigentliche und schwierige Arbeit des Editors an - im konkreten Fall wie auch generell. Diese Arbeit stellt sich als Rekonstruktion und Kommentierung dar. Zu beidem einige Andeutungen: Rekonstruktion heißt zunächst Rekonstruktion des Briefwechsels. Die Briefe der Frau von Greiffenberg liegen als von Birken aufbewahrte Originale vor. Es ist - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - die einzige Manuskriptüberlieferung, die wir von dieser Autorin besitzen. 19 Für Birkens Anteile an dieser Korrespondenz liegen die Dinge anders und recht kompliziert: Von einem Teil seiner Briefe besitzen wir Vorschriften (zu solchen wurden Briefe, in die allzu viel hineinkorrigiert und ergänzt worden war, als daß sie sich noch hätten verschicken lassen) und dem Originalwortlaut nahe Ganz- oder Teilabschriften von Birkens Hand in einem seiner Konzeptbücher. Diese ca. 40 zum Teil sehr umfangreichen (Teil-)Abschriften gehören in die Zeitspanne von 1665 bis Anfang 1672. Daß sie nicht immer exakt datiert sind, wird dadurch ausgeglichen, daß Birken in den meisten Tagebüchern Briefeingangsund Briefausgangsregister geführt und auf den bei ihm eingelaufenen Briefen meist notiert hat, wann sie eingetroffen waren und wann er sie beantwortet hat. Hinzu kommen inhaltliche Entsprechungen. Von einem anderen Teil der Briefe Birkens, den nach Anfang 1672 versandten, gibt es keine Ganz- oder Teilabschriften mehr. Wir können dennoch durch reaktive Passagen in den Greiffenbergschen Briefen und / oder Birkens Tagebüchern seine Anteile den Daten und auch den Inhalten nach sicher rekonstruieren. Von einem dritten Teil der Birkensehen Briefe, den von 1678 an geschriebenen, gibt es weder Konzeptbucheintragungen, noch sind sie durch Beantwortungsnotizen auf den Originalen der Partnerbriefe und / oder Tagebucheintragungen repräsentiert. In den beiden letzten Jahrgängen seines Tagebuchs, 1678 und 1679, hat Birken nämlich keine Briefregister mehr geführt, in seinen beiden letzten Lebensjahren auch kein Tagebuch mehr. Dennoch können wir auch in dieser Gruppe Birkens Anteile von den Bezugnahmen in den Briefen der Frau von Greiffenberg, manchmal auch von Briefen anderer Partner her einigermaßen genau erfassen.
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Heimo Cemy hat vor einigen Jahren im ehemaligen Archiv des Schlosses Seisenegg bei Amstetten (NÖ), wo Frau von Greiffenberg bis Mitte 1678 gewohnt hat, eine stattliche Anzahl von Greiffenberg-
Manuskripten gefunden, darunter auch einige Briefe von ihrer Hand; einiges davon ist veröffentlicht: Heimo Cemy: Neues zur Biographie der Catharina Regina von Greiffenberg. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 100/101 (1996/97; ersch. 1998), S. 111-198; zuvor in: Literatur in Bayern 38 (1994), S. 44--49.
Warum und wie sollen Literatenbriefwechsel des J 7. Jahrhunderts kritisch ediert werden?
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Trotz der verschiedenartigen Dokumentationslage läßt sich Birkens Anteil an dieser Korrespondenz der Zahl der Stücke und Daten nach fast lückenlos, dem Wortlaut nach partiell, den behandelten Gegenständen und der Art ihrer Behandlung nach weitgehend rekonstruieren. Die Rekonstruktionsarbeit brachte es mit sich, daß eine große Anzahl von Briefbeilagen, vielfach Gedichte, ermittelt wurden und, soweit sie im Laufe der verschiedenen Neuordnungsprozesse, denen der Birkennachlaß im Laufe der Zeit unterworfen worden ist, von ihrer ursprünglichen Umgebung getrennt worden waren, wieder mit ihren ursprünglichen Trägem zusammengefügt werden konnten. Für Catharina Regina von Greiffenberg hat das zu einer Erweiterung unserer Werkkenntnis um 25 Gedichte geführt, die ihr zuvor auch deswegen nicht zugeschrieben werden konnten, weil sie zum Teil von einer fremden Hand niedergeschrieben worden sind. Erst die Rekonstruktionsarbeit, die auf das Briefcorpus angewandt wurde, machte die Zuordnung möglich. Die von einer historisch-kritischen Edition zu leistende Rekonstruktionsarbeit hat aber noch eine zweite Komponente, die der Kommentierung, die zusätzlich zur transkriptiven Textkonstituierung und der Herstellung der korrekten chronologischen Folge ebenfalls immer zu leisten ist. Denn der lesbar gemachte historische Text ist nicht ohne weiteres verständlich. Auch hierzu ein paar Andeutungen: Lesbarkeit von ca. 350 Jahre alten Texten muß auch insofern ermöglicht werden als ihr ,Sitz im damaligen Leben' für den Benutzer der Edition faßbar wird. Das kann nur durch einen Kommentar geleistet werden, der nach meinem Verständnis des Terminus historisch-kritisch ein unabdingbarer Bestandteil einer mit ihm bezeichneten Ausgabe ist. Der Kommentar muß gegebenenfalls heute nicht mehr geläufige syntaktische Strukturen verständlich machen. Er muß uns nicht mehr geläufige Wortbedeutungen angeben, er muß uns nicht mehr vertraute sinnbildliche Fügungen erklären, an deren Verständnis oft genug das Verständnis des Ganzen hängt. Er muß Anspielungen auf Zitate aus älterer und damals zeitgenössischer Literatur erkennbar machen und die Quellen nachweisen; er muß ferner zu den in den Texten erwähnten Namen und Vorgängen Sacherklärungen liefern. Wer weiß schon, wer mit wem und warum in Südwestdeutschland und den Niederlanden in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des 17. Jahrhunderts Krieg führte? Nicht selten wird der Kommentator auch erklären müssen, daß er etwas nicht erklären kann. Um es knapp zusammenzufassen: Der Kommentar muß dem Benutzer der Edition jene Materialien bereitstellen, die der Leser zum Verständnis der präsentierten Texte braucht. Das ist nicht immer ganz leicht. Als wichtige Quellen erweisen sich die noch ungeschriebene, aus ihren Werken und den Briefen selbst zu rekonstruierende Biographie und Werkgeschichte der beiden Autoren, die Bibel in Luthers Übersetzung, die Werke Vergils, Ovids, Horazens, Ciceros, die protestantischen Kirchenlieder des 16. und 17. Jahrhunderts, 20 das Theatrum Europaeum, 11 der Zedler22 und die alten biographischen 20
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Albert Fischer: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. Vollendet und herausgegeben von W[ilhelm] Tümpel. 6. Bde. Gütersloh 1904-1916. Nachdruck Hildesheim 1964. Theatri Europaei Sechster und letzter Theil [ ... ]beschrieben/ Durch Johannem Georgium Schlederum, Ratisponä-Bavarum. Frankfurt a. M. 1663; lreno-Polemographiae Continuatio III. [ ... ] Oder deß Theatri
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Hartmut Laujhiitte
Lexika wie diejenigen von Jöcher, 23 v. Wurzbach, 24 Will, 25 die Al/gemeine und Neue deutsche Biographie, 26 Henkel/Schönes Emblemlexikon, 21 das Wörterbuch des Deutschen Aberglaubens von Bllchtold/Stäubli, 28 die Romane Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig-Lüneburg, 29 die gesamte deutsche, italienische und französische Literatur der Zeit, die anderen Briefwechsel Birkens und vieles mehr. Nicht war es möglich, die Grenze zwischen Interpretation ermöglichendem Kommentar und Interpretation sauber einzuhalten. Dazu abschließend ein Beispiel: Im März 1677 reagiert Frau von Greiffenberg auf ein Schreiben Birkens, das eine poetische Beilage enthalten hatte: Das Schöne winter Schäfer Gedichte der Edlen Blumen-Schäffere An der Pegniz, zeiget von Jhren Schönen Geist, deren hize, die Blumen auch im winter über Natürlich hervorspriessen machet. Mann könnte zu Jhnen wie jener zu dem Seeligen herrn Risten sagen: und könnt Jhr hirthen auch bey diesen wetter dichten? geschiehet dieses in den dürren winnter, was will Erst in den grQhnen Frühling werden? Jch werde durch dieses Schöne Blumen-Gebände, des Norischen Staats-Führers [ ... ] in Neue Schulden gefllhret, da Jch die vorigen noch nie Abführen können. 30
Es war nicht allzu schwierig zu ermitteln, wovon die Rede ist bzw. was Birken in seinem uns unbekannten Brief mitgeschickt hatte; nämlich ein Gemeinschafts-Opus der Nürnberger Pegnitzschäfer, wie sich die Mitglieder des Blumenordens nannten, zum 65. Geburtstag - Anfang Januar - des damaligen Nürnbergischen Kirchenpflegers (des reichsstädtischen Kultusministers) Georg Sigmund Fürer von Haimendorf: Winter-SchäferSpie/1 dem Ehren-Ruhme des Norischen FOEBUSI bey Eintritt des Neuen Christ-Jahrs/ Im JESUS-Monat/ gewidmet/ durch die Blumgenossen an der Pegnitz.
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Europaei Zehender Theil [ ... ] beschrieben von WoltTgang Jacob Geigern / der Rechten Beflissenem. Frankfurt a. M. 1677; Theatri Europaei EilffierTheil [ ... ]. Frankfurt a. M. 1682. Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Kllnste. 64 Bde. und 4 Suppl. Bde. Halle/Leipzig 1732-1754; Nachdruck Graz 1%1. Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon [ ... ]. 4 Bde. Leipzig 1750/51. Constantin von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich [ ... ]. 60. Bde. Wien 1856-1891; Nachdruck New York u. a. 1%6-1973. Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrten-Lexikon [ ... ]. 4 Bde. Nürnberg 1755-1758; Fortsetzung und Ergänzung durch Christian Conrad Nopitsch. 4 Bde. Nürnberg und Altdorf 1802-1808. Allgemeine Deutsche Biographie. Auf Veranlassung und mit Unterstützung Seiner Majestllt des Königs von Bayern Maximilian II. hrsg. durch die Historische Commission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften. 56 Bde. Leipzig 1875-1912; Neue Deutsche Biographie. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; bisher 21 Bde. Berlin 1953-2003. Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Taschenausgabe. Hrsg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Stuttgart 19% [zuerst 1967]. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 10 Bde. Hrsg. von Hanns Bächtold-Stllubli. Berlin/New York 1987 (Nachdruck der Ausgabe 1927-1942). Anton Ulrich, Herzog von Braunschweig-Lüneburg: Die durchleuchtige Syrerinn Aramena. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1669-1673. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Blake Lee Spabr. Bern/Frankfurt a. M. 1975-1983 (= Nachdrucke deutscher Literaturwerke des 17. Jahrhunderts. Bd. 4/1-V); Anton Ulrich, Herzog zu Braunschweig-Lüneburg: Die Römische Octavia. In: Anton Ulrich, Herzog zu Braunschweig-Lüneburg: Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Im Auftrag der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und in Verbindung mit Hans-Henrik Krummacher. Hrsg. von RolfTarot. Stuttgart 1982tT.,hier Bd. III-VIII. Text Nr. 138 des Birken-Grciffenberg-Briefwechsels, PBIO.C.114.96.
Wa,um und wie sollen Literalenbriefwechsel des J 7. Jahrhunderts kritisch ediert werden?
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Nürnberg [ ...] Anno MDLXXV/I. Das war tatsächlich eine Winter-Schäferei, in welcher die Beiträger ihre Blumen - jedem Ordensmitglied war ja eine zugeordnet kontrastiv gegen die reale und die fiktionale Jahreszeit ihrer Dichtung ausspielten. Frau von Greiffenberg aber spielt reagierend ebenfalls mit der Jahreszeitenthematik und mit der Semantik des Adressatennamens. Das alles ist leicht nachzuweisen, auch, daß sie mit dem „Seeligen herrn Risten" den vor zehn Jahren verstorbenen norddeutschen Literaturpapst meinte, den Wedeler Pastor JohannRist (1607-1667). Wer aber ist ,jener\ dem der von ihr zitierte Staunen bekundende Alexandriner zugewiesen wird? Hier half wie so oft der Zufall. 31 Zu einer der weniger bekannten, auch nicht in die irritierender Weise Sämtliche Werke genannte Rist-Ausgabe von Eberhard Mannack aufgenommenen Gedichte-Sammlung Rists von 1646 mit dem Titel Poetischer Schauplatz hat der Rostocker Professor Andreas Tscherning ( 1611-1654) ein Ehrengedicht beigetragen. Es enthält den Vers, dessen sich Frau von Greiffenberg, Kenntnis beim Briefpartner voraussetzend, variierend bedient: ,,Und kannst du auch, mein Rist, bei diesem Wetter lichten". Die Variation betrifft aber nicht nur den Wortlaut, sondern auch den Kontext. Die originale Umgebung des Verses zeigt es deutlich. Während man im Brieftext ein scherzhaftes Spiel mit dem damals oft verwendeten Concetto sehen muß, im kalten Winter müßten den Pegnitzschäfern eigentlich Hirn und Tinte eingefroren sein, wodurch ihre Leistung kontrastiv gehoben und zur Prognose auf noch Besseres im inspirationsfördernden Frühling gemacht wird, hatte Tscherning das Wetter metaphorisch verwendet. Sein nächster Vers nämlich lautet: ,,Jetzt, da der Marspiter noch in dem Lande sitzt?" Das ästhetische Spiel, dasFrau von Greiffenberg durchführt, kann ganz nur würdigen, wer diese Zusammenhänge sieht. Birken sah sie spontan, für den Benutzer der Ausgabe von heute müssen wir sie auffmden und verfügbar machen. Das zu demonstrieren, dient dieses Beispiel. Ich fasse zusammen: Zu den Aufgaben einer Edition alter Texte gehört es, historisch-kritisch zu sein. Kritisch muß sie sein, weil sie einen sowohl verläßlichen wie lesbaren Text erstellen und über die Art der Erstellung Rechenschaft geben muß. Historisch muß sie sein, weil sie das lesbar Gemachte durch kommentierende Erschließung des damals Gegenwärtigen, dem modernen Benutzer verstehbar zu machen hat. Das kann aber nur eine Art der Kommentierung leisten, die, weil sie Interpretation ermöglichen soll, von Interpretation nicht immer scharf abzugrenzen ist. So erklärt sich, daß der Textband der Birken-Greiffenberg-Edition XXXVIII+ 410, der Apparat- und Kommentarband XII + 581 Seiten Umfang haben wird.
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Auf die richtige Spur lenkte eine alte Dokumentation zu Leben und Werk Johann Rists: Theodor Hansen: Johann Rist und seine Zeit. Aus den Quellen dargestellt. Halle 1872. Nachdruck Leipzig 1973. Auf S. 46 weist HansenTschemings Gedicht nach und zitiert die einschllgige Passage.
Elke Richter
„schreibe nur wie du reden würdest ... " 1 Probleme der Textkonstitution und Textdarbietung bei Briefausgaben, erläutert an Beispielen aus der historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Briefen 2
Im achten Buch von Dichtung und Wahrheit beschreibt Goethe die Eindrücke beim Wiederlesen seiner frühen Leipziger Briefe: Der Vater hatte meine Briefe sowohl an ihn als an meine Schwester sorgfliltig gesammlet
und geheftet; ja er hatte sie sogar mit Aufmerksamkeit corrigirt und sowohl Schreib- als Sprachfehler verbessert./ Was mir zuerst an diesen Briefen auffiel, war das Aeußere; ich erschrak vor einer unglaublichen Vemachlllssigung der Handschrift, die sich vom October 1765 bis in die Hälfte des folgenden Januars erstreckte. Dann erschien aber auf einmal in der Hälfte des Mllrzes eine ganz gefaßte, geordnete Hand, wie ich sie sonst bey Preisbewerbungen anzuwenden pflegte. 3
In dieser Schilderung werden bereits einige der Probleme erkennbar, mit denen sich der Editor von Briefausgaben konfrontiert sieht, dessen Aufgabe darin besteht, aus dem individualisierten Medium ,Brier einen ,entindividualisierten' Druck-Text herzustellen. - Wie sich die Aufgabe in der Praxis einer Edition darstellt und wie sie gelöst werden könnte, sollen Beispiele aus dem ersten Band der in Vorbereitung befindlichen neuen historisch-kritischen Gesamtausgabe der Goethe-Briefe veranschaulichen.4 Ausgangspunkt soll jedoch - das Thema dieser Tagung abwandelnd - die Frage sein: Was bedeutet Textkritik für die Edition von Briefen? Obwohl die z.ahl der in den letzten Jahrzehnten neu begonnenen wissenschaftlichen Briefeditionen beträchtlich ist und damit Briefe verstltrkt zum Gegenstand editionswissenschaftlicher Betrachtung wurden, spielten textkritische Themen dabei eher eine untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt standen neben Versuchen der Definition und Abgrenzung des Genres und dem Bemühen, sich auf bestimmte Standardisierungen in der Anlage und formalen Gestaltung von Briefausgaben zu verständigen, vor
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Goethe an seine Schwester Comelia; 6. - Dezember 1765; Goethes Werke. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. IV: Goethes Briefe. Bd. 1. (1887), S. 22,14. - Fortan zitiert: WA IV Band, Seite. Dieser Beitrag wurde in leicht verlndcrter Fassung zuerst veröffentlicht in: Jahrbuch des freien Deutschen Hochstifts 2008, S. 93-108. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe bearbeitet von Siegfried Scheibe. Bd. 1: Text. Berlin 1970, S. 287, 29-37 (Akademie-Ausgabe). Vgl. Elke Richter: Zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Goethes Briefen. In: Goethe-Philologie im Jubiläumsjahr - Bilanz und Perspektiven. Kolloquium der Stiftung Weimarer Klassik und der Arbeitsgemeinschaft fllr germanistische Edition, 26. bis 27. August 1999. Hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 2002. (Beihefte zu editio. 16), S. 123-145.
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Elke Richter
allem Fragen der Kommentierung. 5 Die Textkonstitution bei Briefen erschien dagegen weniger problematisch. Zum Ausdruck kommt dies etwa in der folgenden These von Jürgen Behrens: Ein wesentlicher Unterschied zwischen Werk- und Briefausgaben ist der, daßes bei Briefausgaben Probleme der Textkonstitution praktisch nicht gibt. Textgrundlage ist in der Regel die nur in einer Fassung existierende Handschrift des Briefes. Auf die ftlr das Gesamtproblem irrelevante Tatsache, daßin wenigen FAiien mehrere Fassungen vorhanden sind, wurde hingewiesen: ihre Darbietung bietet im übrigen kein Problem. 6
Daß diese Meinung noch bis in die 1990er Jahre vorherrschend war, belegt z. B. eine ganz ähnlich lautende Einschätzung des Briefforschers Reinhard M. G. Nickisch, mit der er im Kapitel Editorische Probleme seiner Brief-Monologie den editionswissenschaftlichen Forschungsstand resümiert. 7 Sicher besteht bei Editoren wissenschaftlicher Briefausgaben allgemeiner Konsens darüber, daß die Handschrift der Ausfertigung eines Briefes, falls sie überliefert ist, filr die Konstituierung des Texts Priorität besitzt, ebenso daß an ihre Stelle ein handschriftlich überliefertes Konzept treten kann, sollte die Ausfertigung nicht mehr vorhanden oder deren Verbleib unbekannt sein. 8 Auch der lakonischen Feststellung von
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Vgl. u. a. probleme der brief-edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Schloß Tutzing am Starnberger See, 8.-11. 197S. Referate und Diskussionsbeitr!lge. Hrsg. von Wolfgang Fr1lhwald, Hans-Joachim Mähl und Walter Müller-Seidel. Bonn-Bad Godesberg 1977, darin bes.: Norbert Oellers: Probleme der Briefkommentierung am Beispiel der Korrespondenz Schillers. Mit besonderer Berücksichtigung des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe, S. IOS-123; editio 2 (1988), darin bes.: lrmtraut Schmid: Was ist ein Brief'? Zur Begriffsbestimmung des Terminus ,,Brief" als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung, S. 1-7 und Winfried Woesler: Vorschläge fllr eine Normierung von Briefeditionen, S. 8-18; Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christei Laufer. Berlin 1991; Brigitte Leuschner: Kommentierende und kommentierte Briefe. Zur Kommentargestaltung bei Briefausgaben. In: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft fllr Germanistische Edition 4. bis 7. März 1992. Autor- und problembezogene Referate. Hrsg. von Gunter Martens. Tübingen 1993 (=Beihefte zu editio. S), S. 182187; Wissenschaftliche Briefeditionen und ihre Probleme. Editionswissenschaftliches Symposium. In: Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. Bd. 2. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 1998, darin bes.: Winfried Woesler: Richtlinien der Briefkommentierung, S. 87-96; ,.Ich an Dich"/. Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Hrsg. von Werner M. Bauer, Johannes John und Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck 2001 ( lnnsbrucker Beitr!lge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe. Bd. 62. ). Jürgen Behrens: Zur kommentierten Briefedition. In: Probleme der Kommentierung. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Frankfurt am Main, 12.-14. Oktober 1970 und 16.-18. März 1972. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. von Wolfgang Fr1lhwald, Herbert Kraft und Walter MüllerSeidel. Weinheim 1987, S. 188 (Nachdruck der 1. Auflage von 197S). ,,Mit einem anderen Problem der Text-Edition bei Briefen scheint man leichter zu Rande kommen zu kOMen: Da bei Briefen, im Gegensatz zu poetischen Werken, fast immer nur eine Fassung existiert, entfallen in der Regel die Schwierigkeiten der Textkonstitution. Zurückzugreifen ist nonnalerweise, falls vorhanden und erreichbar, auf die Handschrift eines Briefes (notfalls auch auf ein Konzept dazu), sonst auf die frühesten Drucke. Sind diese unzuverlässig und gibt es Anhaltspunkte dafür, daß die handschriftliche Urfassung einigermaßen anders ausgesehen haben mag, ist es gleichwohl fast immer aussichtslos, den spontanen Charakter rekonstruieren zu wollen." Vgl. Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991 (Sammlung Metzler. Realien zur Literatur. Bd. 260), S. 230. In der Überlieferung der Goethe-Briefe begegnet dieser Fall vergleichsweise häufig, vor allen bei den nach 1807 entstandenen Briefen, fllr den im GSA S4 Hefte mit fast ausschließlich diktierten Konzepten überliefert sind.
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Jürgen Behrens, daßder Editor in allen übrigen Fällen, nämlich wenn die Handschriften der Ausfertigungen oder der Konzepte nicht überliefert sind, nehmen müsse, was er bekommt, ist zuzustimmen. 9 Textgrundlage können gegebenenfalls also auch frühe, mitunter ungenaue, stark bearbeitete oder gar kompilierte Drucke sein. Allerdings sind mit diesem grundsätzlichen Konsens die ,Probleme der Textkonstitution' keineswegs geklärt, noch enttlllt die textkritische Aufgabe des Editors. Ohne hier noch einmal die Grundsatzfrage „Was ist - in editorischer Hinsicht - ein Brief?" aufwerfen zu wollen, erscheint es doch fllr das anstehende Thema unumgänglich, einige Aspekte der Bestimmung des Genres hervorzuheben. Seit Mitte der l 970er Jahre hat sich unter Editoren zunehmend durchgesetzt, Briefe als ,persönliche Dokumente' zu behandeln, was nicht unwesentlich zur Aufwertung des Genres fllr die Editionsphilologie beigetragen hat. 10 Gemeint sind hier die sogenannten ,Privatbriefe', in der Terminologie der Briefforschung auch als ,eigentliche' Briefe bezeichnet, d. h. Briefe in ihrer eigentlichen Verwendung als Medium der schriftlich fixierten Kommunikation, im Unterschied etwa zu literarisch-fiktiven, also ,uneigentlichen' Briefen. 11 Im Unterschied zu poetischen oder wissenschaftlichen Werken, die in der Regel durch den Druck vermittelt an die Öffentlichkeit gelangen, sind Briefe nicht von vornherein fllr die Veröffentlichung vorgesehen, sondern an einen oder an mehrere bestimmte Adressaten gerichtet: Die Eigenart dieser sogenannten Lebenszeugnisse besteht also darin, daß ihre Texte jeweils in der äußeren graphischen und materialen Gestalt rezipiert werden, in der sie vom Schreiber geschrieben wurden. Die Wahrnehmungsweise des Autors ist zugleich die des von ihm bestimmten Lesers. Auf diese kann der Autor als Schreiber durch Wahl und Zurichtung des Textträgers, durch die Art des Schreibens, die Ausführung des Schriftbildes u. a.unmittelbar einwirken. 12
Dennoch ist auch die Edition von Briefen eine Edition von Texten, was zunächst bedeutet, zwischen dem Text des Briefes und dessen materiellem Träger, also z.B. dem Papier, auf dem sich die Handschrift einer Ausfertigung befindet, zu unterscheiden. 13 Diesen Unterschied besonders hervorzuheben, ist deshalb angebracht, weil mit der Bezeichnung ,Brief ja eigentlich immer beides gemeint ist, der materielle Textträger und der Text selbst. Die Aufgabe des Editors besteht darin, zu entscheiden, was fllr den , Text' des Briefes Signifikanz besitzt und daher bei dessen Konstituierung in der Edition berücksichtigt werden muß. Wenn Hans Zeller auch zuzustimmen ist, daß „die nichtsprachlichen Elemente in einem Brief ungleich wichtiger" sind, ,,als in einem Werkentwurf, weil sie in der brief9
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Vgl. Behrens 1975/1987 (Anm. 5), S. 188. Vgl. u. a. Heinz Becker:Die Briefausgabe als Dokumentenbiographie. In: probleme der brief-edition 1977 (Anm. 4), S.11-25; Winfried Woesler: Der Briefals Dokument In: Ebd., S. 41-59. Vgl. Nickisch 1991 (Anm. 6), S. 19-22. Klaus Hurlebusch: Divergenzen des Schreibens vom Lesen. Besonderheiten der Tagebuch- und Briefedition. In: editio 9 ( 1995), S. 22. Vgl. Jürgen Gregolin: Briefe als Texte. Die Briefedition. In: Deutsche Vierteljahrsschrift ftlr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 64. Jg. ( 1990), S. 756-771.
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liehen Kommunikation unvermeidbar zu Zeichen werden, d. h. weil sich damit Bedeutung verbindet", 14 so sind sie doch für die Konstituierung des Textes unterschiedlich zu bewerten, nicht nur weil ihrer typographischen Transkription im Druck von vorneherein Grenzen gesetzt sind. Selbst in einer Faksimileedition ist es unmöglich, sämtliche bedeutungstragenden nonverbalen Elemente zu reproduzieren, von der Frage einmal ganz abgesehen, wie sinnvoll dieser Versuch überhaupt wäre. Dies betriffi die Beschaffenheit des Textträgers ebenso wie die Art und Weise seiner Beschriftung, die Schrift selbst und auch das Schreibmaterial. Der Text eines Briefs kann auf einem Foliobogen von grobem Konzeptpapier stehen, der nur zur Hälfte beschrieben wurde, auf feinem randlos beschriebenen Briefpapier im Oktavformat oder auf einem schmalen Papierstreifen, der von einem größeren Blatt abgerissen wurde. Es kann ein umrändertes Zierblättchen benutzt worden sein oder ein Briefbogen mit Trauerrand; ein Brief kann gleichmäßig oder flüchtig, mit Tinte oder Bleistift geschrieben sein. So sind z. B. die ersten beiden überlieferten Briefe des knapp fllnfzehnjährigen Goethe auffallend gleichmäßig geschrieben, sie weisen keinerlei Korrekturen auf und entsprechen auch in der äußeren Form den Vorgaben zeitgenössischer Briefsteller. Gerichtet waren sie an den nur zwei Jahre älteren Ludwig Ysenburg von Buri. Goethe bat darin um Aufnahme in die Arcadische Gesellschaft zu Phylandria, einen nach dem Vorbild geheimer Gesellschaften organisierten literarisch-geselligen Kreis von jungen Leuten aus dem hessischen Adel und gehobenen Bürgertum. Die Briefe an Buri unterscheiden sich allein von ihrem Äußeren ganz erheblich von anderen frühen Briefen Goethes wie z. 8. denen an die Schwester Cornelia, bei deren Anblick Goethe später, wie eingangs zitiert, schon vor der „unglaublichen Vernachlässigung der Handschrift" erschrak. (Abb. 1 und 2, Seite 60 und 61) All dies signalisiert noch vor dem Entziffern des Textes eine bestimmte Botschaft und ist somit bedeutungstragend, muß also in der Edition mitgeteilt werden. In die Konstituierung des Textes jedoch können diese hier beschriebenen äußeren Merkmale des Briefs keinen Eingang finden. Sie sind statt dessen Gegenstand der Kommentierung, das heißt, über sie muß im Abschnitt Überlieferung des Kommentarteils präzise Auskunft gegeben werden. Anders zu verfahren ist mit der Wiedergabe der räumlichen Verteilung des Geschriebenen auf dem Textträger. Im Text eines Briefs können zur gedanklichen Gliederung sowohl Einrückungen am Zeilenanfang, Leerzeilen und Spatien vorkommen. Es ist unmöglich, sicher zu entscheiden, ob ein Spatium zwischen zwei Sätzen adäquat dieselbe Funktion der gedanklichen Gliederung des Textes besitzt, die im Druck mit einem Absatz wiederzugeben wäre. Ein Leerraum innerhalb einer Zeile könnte z. B. auch eine Lesepause evozieren, die die Aufmerksamkeit des Rezipienten stärker auf das nachfolgend Geschriebene lenkt, selbst wenn dies der Inhalt nicht unbedingt zu erfordern scheint. An anderen Stellen setzt der Autor hier möglicherweise einen Gedankenstrich. Spatien einmal als Absätze wiederzugeben oder sie an anderer Stelle, 14
Hans Zeller: Authentizität in der Briefedition. Integrale Darstellung nichtsprachlicher lnfonnationen des Originals. In: editio 16 (2002 ). S. 37; vgl. auch Hurlebusch 1995 (Anm. 11). S. 22.
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wo vom Inhalt her scheinbar kein Absatz angebracht ist, einfach wegzulassen, käme einem Eingriff des Editors in die Struktur des Textes gleich, die keineswegs nur der „bedeutungslose Niederschlag der Entstehungsbedingungen" 15 sein muß. Sicher ist auch hier eine ,urkundliche' oder ,diplomatische' Nachbildung durch den Druck weder möglich noch anzustreben, wohl aber eine ,strukturelle' Entsprechung. Analog sind Einrückungen und Leerzeilen am Briefanfang und -schluß zu behandeln, deren vielfliltige Variationen vom Schreiber eingesetzt wurden, um eine zwar nonverbale, immerhin aber graphisch ausgedrückte Botschaft zu vermitteln. Sie sind demnach konstituierende Elemente der Bedeutung, was ihre ,strukturelle', nicht ,diplomatische' Wiedergabe in der Edition erfordert. So signalisiert z. B. im Schluß des Briefs an Buri der vergleichsweise große Abstand zwischen Briefende und Grußformel den - ironisch übertriebenen - Respekt des ,Bittstellers' Goethe gegenüber dem ,Argon' der ,Arcadischen Gesellschaft'. Daß sich der Brief an Buri in der Staffelung und dem räumlichen Abstand seiner Devotionsformel an das Schema zeitgenössischer Briefsteller hält, spricht nicht gegen deren ,strukturelle' Nachbildung in der Edition. Die Wiedergabe des Textes dagegen sollte diplomatisch, also buchstaben- und satzzeichengetreu, erfolgen. Das bedeutet, auf Eingriffe in Lautstand, Orthographie und Interpunktion zu verzichten, fehlende Wörter, Buchstaben oder Satzzeichen nicht zu ergänzen und Konjekturen nur in den Erläuterungen vorzunehmen. Was auf den ersten Blick ein ,belangloses' oder ,offenkundiges' Schreibversehen zu sein scheint, erweist sich vielleicht bei näherer Prüfung und bei besserer Kenntnis als mundartliche Variante oder als individuelle Eigenart. Zum Beispiel erwähnt Goethe in seinen Briefen an Johann Christian Kestner zweimal Lottes ,,Blaugestrieften Nachtjack" (Briefe vom 27. Oktober 1772 und vom 12. Juni 1773). In beiden Fällen ,verbessert' die Weimarer Ausgabe zu „blaugestreiften", 16 obgleich die Textgrundlage die Handschriften der Ausfertigungen waren. Zur Textkonstitution heißt es in den Lesarten zu Band 1 der Briefabteilung der Weimarer Ausgabe: ,,Der Abdruck ist ein buchstäblich treuer[ ... ]", der sich allerdings „von einem blossen Rohdruck durch die Verbesserung belangloser Schreibfehler und störender Nachlässigkeiten" unterscheide.17 Tatsächlich handelt es sich hier aber nicht etwa um einen Flüchtigkeitsfehler, sondern um die mundartlich eingeflirbte Wortform „gestrieft" für „gestreift", von ,,Striefe", d. h. ,,Streifen". 18Analoges gilt für die Formen: ,,eimal", ,,eigedrückte", ,,eifach" oder „eistweilen" in Goethes frühen Briefen an Buri, an die Schwester Comelia oder an Johann Jacob Riese. Alle diese für das Frankfurter Deutsch des ,jungen Goethe' charakteristischen Formen sind z. B. in der Weimarer Ausgabe, die nach den Handschriften druckt, , verbessert' . 19 Aber auch Schreibversehen oder Fehler berechtigen nicht zu einer , Verbesserung' im edierten Text. Anzuführen wäre hier z. B. die 15 16
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Gregolin 1990 (Anm. 12), S. 760. Vgl. WA IV 2 (1887), S. 92,10 f., Nr 157 und S. 32,23, Nr 103. WA IV 1 (1887), S. 265. Vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit bestlndiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe. 4. Bd. Leipzig 1801, S. 450. Vgl. WA IV 1 (1887), S. 2,10 und S. 2,23, Nr I; S. 21,77, Nr 8; S. 80,17, Nr 21; S. 108,20, Nr 28.
Elke Richler
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uneinheitliche und nicht nur aus heutiger Sicht absolut unübliche Groß- und Kleinschreibung von Substantiven und Eigennamen in Goethes frühen Briefen oder die orthographische und grammatische Fehlerhaftigkeit fremdsprachiger Texte. Nach der Handschrift ediert lautet z. B. eine Stelle in Goethes Brief an Kestner vom 25. April 1773: .,In 14 tagen sind wir all auseinander, [ ... ] / Ich hab hansens brief kriegt und euer Nachschreiben.", 20 die Weimarer Ausgabe ,korrigiert' zu ,.In 14 Tagen" und ,,Hansens Brief'. 21 Goethes Französisch oder Englisch in den Briefen an Cornelia oder an Behrisch zu korrigieren, würde heute vermutlich keinem Editor in den Sinn kommen, weshalb also sollten ,Verbesserungen' in den deutschsprachigen Texten vorgenommen werden? Die Schreibweise des ,jungen Goethe' zeichnet sich durch eine - wie es Albrecht Schöne mit Bezug auf die frühe Fassung des Faust charakterisierte - ,.geradezu ,genialische' Regellosigkeit" aus, die ,,kaum nur als belanglose Äußerlichkeit zu verstehen ist". 22 Eine wie auch immer begründete Vereinheitlichung oder , Verbesserung' des Textes würde dessen Authentizität beeinträchtigen. Als eher untergeordnetes Problem, auf das hier aber doch kurz eingegangen werden soll, erscheint die typographische Nachbildung des Wechsels zwischen lateinischer und deutscher Schrift. Für deren Wiedergabe spricht zunächst, daß nicht sicher zu entscheiden ist, ob es sich z. B. bei Eigennamen nur um eine sogenannte ,Schreibkonvention' oder um eine Hervorhebung handelt. In den weitaus meisten Fällen aber wird durch den Wechsel zur lateinischen Schrift signalisiert, daß der Schreiber lateinisch geschriebene Wörter noch als ,fremdsprachlich' empfand. Auch dies kann als Information fllr den Rezipienten einer Briefedition durchaus von Bedeutung sein und sollte daher nicht unterschlagen werden. Streichungen und Korrekturen gehören bei Briefen unmittelbar zum Text. Der ,interne Status' der Brieftexte, die in der Regel nicht fllr eine Veröffentlichung vorgesehen waren, spricht dafür, die Varianten im ,edierten Text' und nicht etwa in einem gesonderten Variantenapparat im Kommentar mitzuteilen, was suggerieren würde, daß es wie bei einem Werk - eine ,letzte Fassung' des Briefes gäbe, die vom Autor fllr die Veröffentlichung ,bestimmt' war. Die geschichtlich existierende Form von (unveröffentlichten) Brieftexten erlaubt innerhalb der Edition keine Trennung in Texte und Varianten: die Varianten des Brieftextes sind Negationen seiner Intention; als deren Kontraste im Text sind sie Elemente der Struktur als der Simultanität von Fassungen. Und vertritt das Konzept den fertigen Brief, ist die strukturelle Äquivalenz der Entwicklungsstufen ohnedies die überlieferte Form. 23 Damit ist zugleich auf den funktionalen Unterschied der Variantendarstellung in einer Briefedition im Vergleich zur genetischen Textdarbietung in einer Werkedition verwiesen. Eine Hierarchisierung der Varianten in ,bedeutungstragend' und ,belanglos' ist dabei aus genau denselben Gründen abzulehnen, die Eingriffe in Orthographie oder In211 21 22 2J
H: GSA 29/264 1, 2, 31 f. WA IV 2 (1887), 83,14 und 83,22. Albrecht Schöne, Faust. Fr11heFassung (FA I 7/2, 83). Gregolin 1990 (Anm. 12), S. 768.
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terpunktion sowie jede Art von ,Verbesserungen' oder gar Konjekturen im edierten Text verbieten. Die Bewertung der Varianten sollte letztlich die Angelegenheit des Rezipienten sein, nicht die des Editors. Wie verschiedene Beispiele aus dem ersten Band der Goethe-Briefe zeigen, ist die Differenzierung zwischen eigenhändigen Korrekturen oder Streichungen und Eingriffen von fremder Hand mitunter schwierig. So weist die Handschrift des Briefes an Johann Christian Kestnervom 14. April 177324 auf der Rückseite eine sich über 6 Zeilen erstreckende Streichung mit breit gedrückter Feder auf. 25 (Abb.3, Seite 62) Im Erstdruck von 1854 fehlt der gestrichene Text wie auch ein Hinweis auf die Streicbung.26 Die Weimarer Ausgabe druckt in diesem Fall nach dem Erstdruck, da die Handschrift in der damals bei den Nachkommen Kestners aufbewahrten Sammlung fehlte. 27 Bisher konnte nur vermutet werden, daß die Streichung mit breitgedrückter Feder von fremder Hand vorgenommen wurde, so zum Beispiel in der dritten Auflage des Jungen Goethe. 28 Dem widersprach 1970 Hans Böhm: Zunlchst aberzeigt ein Vergleich der Handschriften der Briefe Goethes an Kestner mit den Erstdrucken bei anderen, sogenannten ,anstößigen' Stellen - wie z. 8. ,Der Seheiskerl in Giessen' im Brief vom 25. Dezember 1772 oder ,Die Zugaben tähtet ihr wohl den Arsch dran zu wischen' im Brief vom 11. April 1773 -, die August Kestner milderte in ,Der ... kerl in Giessen' bzw. ,Die Zugabe braucht wie es euch beliebt', daß er keine Eingriffe in die Handschriften vorgenommen hat [ ... ].29
Außerdem führt Böhm noch weitere Streichungen in zwei anderen Briefen Goethes 30 an, die äußerlich der im Brief an Kestner vom 14. April 1773 gleichen. 31 Die hier auf2 •
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Bisher 15. April 1773. - Die Datierung folgt Kestners Empfangsvermerk (vgl. Anm. 24) in Verbindung mit dem Inhalt: Der Brief wurde am Abend geschrieben, konnte also erst am Morgen des folgenden Tagesbefördertwerden. Kestner hatte ihn laut Empfangsvermerk am 16. April 1773 erhalten, d. h. er war am 15. abgeschickt und am Abend des 14. April geschrieben worden. H: GSA 29/264,1.2, BI. 28. 1 BI. 19 x 23,3 (-23,5) cm, zweiseitig beschrieben, eigenhlndig, Tinte; Papier am linken Seitenrand restauriert; Vorderseite oben links Empfangsvermerk von Kestners Hand, Tinte: ,,acc. W. 16. Apr. 73. von Frckfurt". Vgl. Goethe und Werther. Briefe Goethc's, meistens aus seiner Jugendzeit, mit erläuternden Documentcn. Hrsg. von A[ugust] Kestncr. Stuttgart und T0bingcn 1854, S. 159-161, Nr. 68. - Der Brief wurde unverändert auch in der zweiten Auflage von 1855 gedruckt (S. 157-159, Nr. 66). Vgl. WA IV 2 (1887), 80-82, Nr. 144, Textkom:kturen in den ,.Berichtigungen", vgl. WA IV 50 (1912), 207; unvollständig nach dem Erstdruck von 1854. - Die gestrichene Ste11ewurde zuerst von Otto GOnther in Bd. 14 des Goethe-Jahrbuchs von 1893 (S. 161) gedruckt. Im Zusammenhang mit dem Brieftext erschien sie vollständig zuerst in dem von Eduard Bercnd herausgegebenen Briefwechsel Goethes mit Charlotte und Johann Christian Kestner; vgl. Goethe, Kestner und Lotte. Briefwechsel und Äußerungen. MOnchcn 1914, S. 43-45, Nr. 45, hier a11erdings ohne Hinweis auf die Streichung. Vgl. Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabein fllnf Binden. Hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg. Berlin 1966-1974,Bd.3,S.418,zuNr.153. Vgl. Hans Böhm: Aus der Arbeit der Neuen Weimarer Ausgabe der Briefe und TagcbOcher Goethes. In: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesc11scbaft. Bd. 32 (1970), S. 315; vgl. insgesamt s. 314-316. Goethe an Elisabeth Jacobi, ; bisherige Datierung: ; vgl. WA IV 2 (1887), S. 144-146, Nr. 206; Goethe an Johann Christian Kcstner; 2. Mai 1783; vgl. WA IV 6 (1890), S. 156 f., Nr 1727.
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geführten Argumente erschienen bislang durchaus überzeugend. Aufgrund einer Untersuchung der Tinten des Brieftextes und der Streichung mit Hilfe der Röntgenfluoreszenzanalyse, die Oliver Hahn 2003 im Goethe- und Schiller-Archiv vorgenommen hat, kann nunmehr als gesichert gelten, daß die Streichung im Brief an Kestner aus einer späteren Zeit stammt. 32 Sie kann frühestens etwa vierzig Jahre nach der Niederschrift des Briefes erfolgt sein. Wie die Analyse ergab, enthält die Tinte, mit der die Streichung ausgeführt wurde, große Mengen an Chrom. Chrom wurde als Element erst 1797 entdeckt und aufgrund seiner farbgebenden Eigenschaften erst ab etwa 1809 für die Herstellung von Farbpigmenten verwandt. Es ist daher anzunehmen, daß die Streichung 1854 von August Kestner, dem ersten Herausgeber des vorliegenden Briefes, vorgenommen wurde. Für die Textkonstitution in der neuen Ausgabe bedeutet dies, den Brieftext mit der gestrichenen, allerdings noch lesbaren Stelle abzudrucken. Auf die Streichung wird im Kommentar verwiesen. Allerdings sind für Goethes Briefe - wie für die anderer Autoren auch - oftmals authentische Texte nicht überliefert. Vielfach muß auf Drucke zurückgegriffen werden, deren Texte ,nicht autorisiert' sind, die also vom Autor weder ausdrücklich noch stillschweigend gebilligt wurden. Sind mehrere Drucke vorhanden, müssen deren Texte selbstverständlich kritisch geprüft werden, um den Text mit dem höchsten Grad an Authentizität zu ermitteln. Auf die Unzulänglichkeiten der gedruckten Überlieferung von Goethes Briefen wies Ende des 19. Jahrhunderts bereits Friedrich Strehlke hin.33 Am Beispiel der 1837 erschienenen ersten Gesamtausgabe von „Goethe' s Briefen" des „vielgenannten Kompilators" Heinrich Döring 34 beschreibt Strehlke die textkritischen Mängel der frühen Drucke: Der Text wird bisweilen willkürlich geändert, mehrere Briefe sind in einen zusammengezogen, gelegentlich gegebene Notizen sind unzuverlässig [ ... ). Als besondere Eigenthilmlichkeit verdient aber hervorgehoben zu werden, daß Döring sich bisweilen nicht scheut, eigene Zusätze zu machen. 35
Dennoch sahen sich die Mitarbeiter der Briefabteilung der Weimarer Ausgabe gezwungen, darunter auch Friedrich Strehlke selbst, bei ca. einem Drittel aller mitgeteilten Texte auf einen dieser frühen Drucke zurückzugehen. Gerade in diesem Bereich ist die durch die historisch-kritische Neuausgabe zu erwartende Textrevision erheb31
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„Die drei einander sehr gleichenden Tilgungen, die mit breitgedrückter Feder und - soweit feststellbar - auch mit der gleichen Tinte erfolgten, die für den Text benutzt wurde, sind von niemand anderem als von Goethe selbst noch vor dem Absenden der Briefe vorgenommen worden."; siehe Böhm 1970 (Anm. 26), s. 315. Zur Untersuchungsmethode vgl. Oliver Hahn, Wolfgang Malzer, Birgit Kanngießer und Burkhard BeckhotT: Characterization of lron Gall lnks in Historical Manuscripts using X-Ray Fluorescence Spcctrometry. In: X-Ray Spcctrometry (2004) Vol. 33. Vgl. Goethe's Briefe. Verzeichniß unter Angabe von Quelle, Ort, Datum und Anfangsworten. - Darstellung der Beziehungen zu den Empflingem. - Inhaltsangaben. - Mittheilung von vielen bisher ungedruckten Briefen. Hrsg. von Friedrich Strehlke. 3 Bde. Berlin 1882-1884. Vgl. Goethe's Briefe in den Jahren 1768 bis 1832. Hrsg. von Dr. Heinrich Döring. Ein Supplementband zu des Dichters sAmmtlichen Werken. Leipzig 1837. Strehlke1882(Anm. 32), Bd. 1, S. S f.
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lieh, da seit dem Erscheinen der Briefabteilung weit mehr als tausend Ausfertigungen zu Briefen ausfindig gemacht werden konnten, die in der Weimarer Ausgabe nach früheren Drucken wiedergegeben werden mußten. 36 - Doch auch in der neuen Ausgabe der Goethe-Briefe müssen Texte nach nicht autorisierten Drucken ediert werden, im ersten Band wird dies allerdings die Ausnahme sein. Der Text der Vorlage ist auch in diesen Fällen im Prinzip diplomatisch wiederzugeben, allerdings mit der Ausnahme, dass offensichtliche Druckfehler vom Typ ,nnd' für ,und' emendiert werden. Die Textgrundlage wird im Briefkopf des Editors mitgeteilt. Kompilationen verschiedener Druckfassungen wie auch Restitutionen durch den Editor sind abzulehnen, sind doch alle ( ... ) Versuche, die wahrscheinlich ursprüngliche Textform zu rekonstruieren, [ ... ] vergleichsweise ebenso hoffnungslos wie solche, mit Hilfe des Goethe-Wörterbuchs und unter Beobachtung Goethescher lnterpunktionsgewohnheiten noch einige ,Divan'-Gedichte zu produzieren. Spontaneität ist nicht rekonstruierbar, nicht zuletzt wegen der im 18. und 19. Jahrhundert noch wohltuend unreglemtierten Rechtschreibung und Zeichensetzung[ ... ).37
Wie die dargestellten Probleme der Textkonstitution in der editorischen Praxis gelöst werden könnten, soll abschließend an einem konkreten Beispiel aus der in Vorbereitung befindlichen historisch-kritischen Goethe-Briefausgabe gezeigt werden. Der erste Band wird die Briefe Goethes aus den Jahren 1764 bis Ende Oktober 1775 enthalten, darunter die Briefe an die Schwester Comelia. Insgesamt sind nur dreizehn Briefe Goethes an Comelia überliefert. Bis auf den ersten stammen alle aus der Leipziger Studentenzeit. Daß sie nicht verloren gingen, ist nach Goethes eingangs zitierter Auskunft in Dichtung und Wahrheit wohl vor allem Johann Caspar Goethe zu danken, der sie nicht nur ,,sorgfiiltig gesanunlet und geheftet", sondern der darin auch stilistische und orthographische Korrekturen und sogar Ergänzungen vorgenommen hatte. 38 Offenbar noch in der vom Vater vorgenommenen Ordnung muß das Konvolut der Briefe an Comelia aus dem Nachlaß Catharina Elisabeth Goethes in den Besitz des Dichters nach Weimar gelangt sein. 39 (Abb. 4 - 6, Seite 63 - 66)
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Vgl. dazu die Angaben zur Handschriften- und Druckilberlieferung in: Goethe-Briefe: Johann Wolfgang Goethe: Repertorium sämtlicher Briefe 1764-1832. Hrsg. von der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen/Goethe- und Schiller-Archiv. Bearbeitet von Elke Richter unter Mitarbeit von Andrea Ehlert, Susanne Fenske, Eike Küstner und Katharina Mittendorf. Begründet von Paul Raabe an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Gefbrdert von der Alfried Krupp von Bohlen und HaibachStiftung, mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (http://www.klassik-stiftung.de/forschung/online-datenbanken.html). Behrens 1975/1987 (Anm. 5), S. 188 f. Vgl. Anm. 2. Die Genauigkeit, mit der Goethe den Inhalt und das Äußere der Briefe beschreibt, laßt darauf schließen, daß sie ihm 1812 bei Abfassung des zweiten Teils seiner Autobiographie vorlagen. Die Antworten Cornelias wie auch ihre späteren Briefe an den Bruder sind nicht überliefert. Möglicherweise fielen die aus der Zeit von 1765 bis zur Rückkehr Goethes nach Frankfurt Ende August 1768 stammenden Briefe schon dem "großen Haupt-Autodafe" vom Frühjahr 1770 zum Opfer, über das Goethe im Achten Buch von Dichtung und Wahrheit berichtet: .,Mehrere angefangene Stücke[ ... ], nebst vielen andern Gedichten, Briefen und Papierenwurden dem Feuer Obergeben, und kaum blieb etwas verschont außer dem Manuskriptvon Behrisch, die Laune des Verliebten und die Mitschuldigen[ ... ]." Siehe Anm. 2, Bd. 1, s. 291,9-14.
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Elke Richter
Die Handschrift des Goethe-Briefes an Comelia und Johann Caspar Goethe vom 12. und 13. Oktober 1765 weist nicht nur die oben schon beschriebene „geradezu ,genialische' Regellosigkeit" in Orthographie und Interpunktion auf, sie ist auch zunehmend flüchtig geschrieben und gegen Ende vielfach korrigiert. Zudem trägt sie Zusätze von fremder Hand, bei denen es sich wahrscheinlich um Ergänzungen Johann Caspar Goethes handelt, z. B. wurde auf der ersten und der dritten Seite der Absendeort hinzugefügt, ebenso auf S. 3 das Jahr. Auch in diesen Fällen konnte mit Hilfe der Röntgenfluoreszenzanalyse nachgewiesen werden, daß die Zusammensetzung der Tinten, mit denen der Brief und die genannten Zusätze geschrieben wurden, unterschiedlich sind. Im Abdruck des Briefes in der Weimarer Ausgabe 40 wurde aus der stark korrigierten, ungleichmäßigen Handschrift ein glatter Drucktext: Scheinbar „belanglose Schreibfehler und störende Nachlässigkeiten" wurden , verbessert' oder vereinheitlicht. Lateinische Schrift der Vorlage wird im Druck durch Antiqua wiedergegeben. Handschriftliche Ergänzungen, die wahrscheinlich von Johann Caspar Goethe stammen, wurden ebenso ausgeschieden wie die Ergänzungen des Ortes. Ausgewählte Varianten werden in den sogenannten Lesarten mitgeteilt, gleichfalls einige der ,Verbesserungen' nachgewiesen. 41 Der Abdruck in der dritten Auflage des Jungen Goethe von Hanna Fischer-Lamberg42 gilt gegenüber der Weimarer Ausgabe als ,authentischer'. Er wurde daher unverändert von neueren Studienausgaben übemommen. 43 Entsprechend den Editionsprinzipien der Ausgabe, die nicht den Anspruch erhebt, historisch-kritisch zu edieren, werden bei Fischer-Lamberg Varianten generell nicht mitgeteilt, d. h. auch in den Anmerkungen erfolgt kein Hinweis auf Korrekturen oder Streichungen. Ohne Varianten erscheinen z. B. auch die lateinischen Textstellen in Goethes Brief an Comelia und den Vater, die in der Handschrift viele Verbesserungen aufweisen, was auf die sprachliche Unsicherheit des sechzehnjährigen Studenten schließen läßt. Die Zusätze Johann Caspar Goethes sind erkannt und ausgeschieden. Lateinische Schrift der Vorlage wird im Druck nicht kenntlich gemacht. Gegenüber den bisherigen Ausgaben wird sich die Textkonstitution in der neuen Ausgabe in mehrfacher Hinsicht unterscheiden. Die Beschreibung der Handschrift, d. h. Angaben zum Textträger, zur Art der Beschriftung und zum Schreibmaterial, erfolgt im Abschnitt Überlieferung des Kommentars:
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Vgl. WA IV 1 (1887), S. 8-11, Nr 4. Vgl. WA IV 1 (1887), S. 268. Vgl. Fischer-Lamberg 1 1963 (Anm. 27), S. 81-83, Nr 5. Vgl. u. a. Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Karl Eibl u. a. Bd. 1: Von Frankfurt nach Weimar. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 23. Mai 1764 bis 30. Oktober 1775. Hrsg. von Wilhelm Große. Frankfurt/Main 1997, S. 15-17, Nr. 5 (Franlcfarter Ausgabe. Bd. 28).
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5. An Corne/ia und Johann Caspar Goethe , 12. und 13. Oktober 1765 ➔ ÜBERLIEFERUNG H: GSA Weimar, Sign.: 37/VJil,17, BI. 1 und 3-5. - 2 Doppe/blätter 17,6 (-18,1) x 20,8 (21,/) cm, ineinandergelegt, restauriert, S. 1 egh. Adresse: Madmoiselle / Madmmoiselle Goethe, Tinte, rote Siegelreste, S. 3-6 ganzseitig beschr., egh., Tinte, teilweise sehr flüchtig geschrieben; S. 7 u. 8jeweils 2/3 beschr.; Ergänzungen von Johann Caspar Goethe, Tinte: 1,1 vor dem Datum „Leipzig", 1,30 vor dem Datum „Leipzig". - ln einem Konvolut mit Beschriftung von Kräuters Hd (auf der ersten S. des Briefes Nr 5 über der Adresse): „ Goethe 's Briefe von der Akademie Leipzig an seine Schwester v. d. J. 1765-67. ", rechts oben von Kräuters Hd: ., 25.0 " (7,ählung in Kräuters Repertorium, Rubrik „ Correspondenz ''); bis zur Restaurierung 1995 waren die Briefe geheftet und mit einem Einband versehen; die Foliierung vermutlich nach der Anordnung der Briefe durch Johann Caspar Goethe. E: Ludwig Geiger: Fünftehn Briefe Goethes an seine Schwester. 21. Juni 1765 bis 14. Oktober 1767. In: GJb VII (1886), 5-8., Nr 2. WA IV I (/887), 8-JJ, Nr 4.
Auf, Verbesserungen' im Text wird generell verzichtet, lateinische Schrift der Vorlage wird in Grotesk.schrift wiedergegeben, Ergänzungen von fremder Hand werden ausgeschieden. Die auffallendste Veränderung im Vergleich zu bisherigen Ausgaben besteht sicher darin, daß Varianten im Textteil erscheinen, und zwar in einer Form, wie sie ähnlich z. B. auch Hans Zeller für Briefausgaben vorschlägt: 44 Streichungen werden als Streichungen wiedergegeben, Einfügungen durch Zeichen kenntlich gemacht, ebenso die Position, an der eingefügt wurde, Überschreibungen werden durch Petit- und Fettdruck gekennzeichnet. Die Varianten werden nicht in den Text integriert, sondern unterhalb des Textes mitgeteilt. Die hier vorgestellte Art der Textkonstitution ist der Versuch eines Kompromisses, der sowohl editionswissenschaftlichen Ansprüchen genügt als auch der Tatsache Rechnung trägt, daß es sich bei der Edition von Goethes Briefen um eine Ausgabe handeln wird, die nach Möglichkeit ähnlich große Verbreitung finden soll wie die Weimarer Ausgabe, sich also nicht auf einen wissenschaftlichen Benutzerkreis beschränkt. (Abb. 7 und 8, Seite 66 und 67)
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Vgl. Zeller 2002 (Anm. 13), S. 40-42.
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Elke Richter
Abb. I: Goethe an Ludwig Y senburg von Buri; Frankfurt am Main, 2. Juni 1764, S. I H: Universitätsbibliothek Leipzig, Slg Hirzel, Sign.: B 2, Bl. 32-33.
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Abb. 2: Goethe an Ludwig Ysenburg von Buri; Frankfurt am Main, 2. Juni l 764, S. 3 H: Universitätsbibliothek Leipzig, Slg Hirzel, Sign.: B 2, BI. 32-33.
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A~b. 3: Goethe an Johann Christian Kestner, Frankfurt a. M., 14. April 1773, Rückseite - H: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Sign.: 29/264,1,2, BI. 28.
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Abb. 4: Goethe an Comelia und Johann Caspar Goethe, Leipzig, 12. und 13. Oktober 1765, S. 1-H: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Sign.: 37MII,17, BI. 1-4.
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Elke Richter
Abb. 5: Goethe an Comelia und Johann CasparGoethe, Leipzig, 12. und 13. Oktober 1765, S. 3-H: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Sign.: 37NIII,l7, BI. l-4.
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Abb. 6: Goethe an Comelia und Johann Caspar Goethe, Leipzig, 12. und 13. Oktober 1765, S. 4-H: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Sign.: 37Nlll,17, BI. 1-4.
Elke Richter
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BRIEf 6
Nach Schrift an den Vater. Ht. Raht Lange habe ich nur ein einzigmahl gesehen. Er scheint ein störriger wunderlicher Mann zu seyn aber nicht grob. Sie ist die höflichste artigste Frau der Welt. Dr Francken hab ich gesprochen seine Mienen Sein Gesicht seine Handlungen seine Seele stimmen alle darin überein daß sie insgesammt aufrichtig sind. Der beste Mann von der Welt. Multarum rerum hie notitiam aquisivi. Multas naravit, quas ex ore tarn sincero audire noluissem. Multas de quarum veritate libentissime si possem, dubitare vellem. Die Univcrsitat! - Der Hot1 - Nescire expedit. Den Brief a Kustner empfing und bestellte. Ich ward höflich empfangen. Wenn sie Schöff Olenschl. sehen dancken sie ihm ja, daß er mich zu Pr Böhmen wieß. Par ipsi rependere nequeo. Mich dünckt daß ich in meinem Brief den Orckan bernerckt habe er war uner-
hort. Hier deckteer die Buden ab. Fr Profeßor Böhme sorgt mit für meine Haußhaltung. Schleifer daß ist erschrockl. / Ich muß mit dem guten Papier spaarsam sey. ich habe wenig drum nehm ich schlechtes. Ich werde an den alten Recktor schreiben. Es wird mir nicht schwcer fallen. Ich thue jetzt nichts als mich des Lateins befleisen. Noch eins! sie können nicht glauben was es eine schöne sache um einen Professor ist. Ich binn ganz enzückt geweßen da ich einige von diesen leuten in ihrer Herrlichkeit sah. nil istis splendidius, gravius, ac hononoratius. Oculorum animique aciem ita mihi perstrinxit, autoritus, gloriaque eorum, ut nullos praeter honores Professurae alios, sitiam. Vale. Vale. / Schwestergen. Sage JfrTanten daß ich ehestens an sie schreiben werde. An die liebe Jfr Meixnern, mache das schönste Compliment das du in deinem 6 ltilmnt llimmen 7 l liifl' h lim. aufrichäg sind. 8 Muita-f, naravitl 9 libentissfimle 9 thtMsi 10 ducilitare 12 8le Schöft" 13 idt 1e1tMich 16 Bu!den 17 mcbrocld. Mit lll Ameber ,encl ieh clasiil,rige Hier i9eCelcl
sgl Kein Mi Bogen beeliOAfla.hl.ouitdhee 24 ltae 24 !!!autoritus Ma..,..ftYS ha1ee ■II le 11e1feretVale. jferel. vmmmtlillt
e..tSerelemCttl~en lllct: iia P 1 1 ,en1e11,i
gecluoelft. / Ich 18 Paipier 22 enllil enziida
25 nullaos 26 Vale. QeM flidilgatr.)
Abb. 7: Goethe an Comelia und Johann Caspar Goethe, Leipzig, 12. und 13. Oktober 1765 (Ausschnitt) - Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Band I 1. Berlin 2008, S. 16 (mit freundlicher Genehmigung des Akademie Verlages Berlin).
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Kopfgen gcdencken kanst. ,,Mein Bruder läßt sie grüßen" das ist nichts. Ube deine Erfindunsw-aft du hast ja sonst gute Einfalle. Schreibe mir bald Engelgen. Aber nichts mehr von Füchschen und stallmeistern sonst vcrplatz ich. Und was ware das Schade wenn der am lachen stürbe der sich noch jezo ganz ernsthaft nennen kann Deinen Lieben Bruder Goethe
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CORNELIA
GOETHE
(LEIPZIG), 18. ÜKTOBER(1765. FREITAG)
Ma soeur, rna chere soeur. Me voici pour repondre a ta lettre du 15.meSois persvade mon Ange, que je suis ici, si bien, pour ne souhaiter rien de mieux. Jamais je n'ai 10 mange tant de bonnes choses que dans le temps, que je suis dans ces lieux Des faisans, perdrix, becasses, alouettes poissons en allemand l:Forellen:Ien quantite voila le manger de la table du Prof. Ludewig. Quelquefois on trouve des raisins. Le 60 des Alouettes coute 2 rh. Je ne goute pas La biere de Mersebourg.Amere comme la mort au pots. 1s lci je n'ai pas encor senti du vin. Je plains les pauvres pieces de theatre. Moors! Bon soir compere avec ton habit de Velours,et tes merites! Oh le galant homme. Adieu ma chere. Mes compliments Mon ange, a toutes mes amies. Adieu. ce 18 Ocbr. Gl. / :iuette5 14 Mt 2rh. 15 2rh. en meneie de FtaAaerl fJene goute paslLa bien, 15 Lafbiere 15 aAmere 18 Mom ange 19 iou.ta 23 pilulle
Abb. 8: Goethe an Comelia und Johann Caspar Goethe, Leipzig, 12. und 13. Oktober 1765 (Ausschnitt) - Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Band 1 1. Berlin 2008, S. 17 (mit freundlicher Genehmigung des Akademie Verlages Berlin).
Ursula A. Schneider/ Annette Steinsiek
Warum und unter welchen Umständen ist eine textkritische Bearbeitung von Briefen sinnvoll? Fragen und Antworten entlang der Arbeiten am Kommentierten Gesamtbriefwechsel Christine Lavants
Vorbemerkungen Briefe haben mehr als zwei Seiten auf einem Blatt. Sie sind biographische und kulturelle Dokumente, und manchmal gehen sie - selbst wenn sie nicht als Kunstgattung auftreten - in der poetischen Absicht und der sprachlichen Formung so weit, daß sie als literarisches Schaffen gelten können (selbst wenn dies nur für Abschnitte gilt). In der, Werkähnlichkeit' findet die editorische Frage nach der textkritischen Bearbeitung von Briefen ein erstes starkes Argument, denn ein kreativer Prozeß kann nur mit einer textkritischen Ebene anschaulich gemacht werden. Briefe sind im Hinblick auf die Textkritik zumeist wenig spektakulär, da sie für die Empflingerlnnen ohne Mühe lesbar und ästhetisch ansprechend sein sollten - es gibt also keine komplexen Streichungs- und Überschreibungsvorgänge. Eine Frage ist aber: Brachte die Autorin, der Autor, wenn auch mit einigen Verschreibungen, den Brief direkt auf das Papier - oder hat es Streichungs- und Überschreibungsvorgänge, bat es Entwürfe zu den Briefen gegeben, und sollten diese in eine Edition aufgenommen werden? Doch auch die abgesandten Briefe offenbaren mehr, als man auf Anhieb meinen würde. So lassen sich nicht nur vom Schriftbild, sondern vom ,Verschreibungsfaktor' und ,Korrekturfaktor' her Rückschlüsse auf den inneren Zustand und die äußere Situation der schreibenden Person ziehen, ebenso auf ihre Einschätzung der Empfängerinnen. Die Intensität des Korrekturvorgangs - penibel oder gar nicht ausgeführt gibt Hinweise auf die Art des Kontaktes. Man sieht in der textkritischen Darstellung ja nicht nur, was korrigiert, sondern ebenso, was belassen wurde. Vor allem im Vergleich von Briefen an verschiedene Korrespondenzpartnerinnen erschließt sich diese Ebene. Damit werden biographische Informationen bereitgestellt. Werden Werk, Briefe und ,Lebensdaten' (Biographie) in einem hermeneutischen Zusammenhang verstanden, so wirkt dies in der Forschung synergetisch. Textkritik bei Briefen lohnt sich immer dann, wenn es um die langfristige wissenschaftliche Beschäftigung mit Werk und Leben der schreibenden Person geht. Diese Langfristigkeit bezieht sich gleichermaßen auf die investierte Forschungszeit wie auf die Brauchbarkeit der Arbeiten für die Zukunft. Ob die ,Berühmtheit' einer Autorin, eines Autors
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Ursula A. Schneider/Annetle Steinsiek
den Aufwand lohnt, ist nur vordergründig interessant, entscheidend ist eher - natürlich nach fachlicher Einschätzung des Potentials - die innere Bereitschaft zur Beschäftigung. Für uns war es durchaus ein Wagnis, uns auf den Kommentierten Gesamtbriefwechsel Christine Lavants (KGCL) einzulassen, hieß das doch, sich bei nicht fester Anstellung der Dynamik eines Projektes mit zu Beginn unabsehbarer und im Verlauf veränderlicher Materialbasis zu stellen (vgl. 3.) und auf unabsehbare Zeit mit der Autorin verbunden zu sein. Daß der Brief eine für Christine Lavant bedeutsame Gattung darstellt, war unsere Ausgangsthese; wir sahen, mit welcher Intensität und sprachlichen Ambition sie ihre Briefe formulierte. Die Kenntnis ihrer Lebensumstande (vgl. 7.) sowie die Wahrnehmung, daß die Autorin in Briefen häufig ihre Schreibhemmung thematisiert, unterstützten die Vermutung, daß der Brief bei ihr in besonderer Weise literarisch angelegt sein könnte (vgl. 8., 9., 11.)- die Suche wurde aufgenommen. 1 Zu Beginn der Arbeiten 1997 lagen nur wenige Briefkonvolute veröffentlicht vor (Gerhard Deesen, Hilde Domin, Ludwig Ficker [Auswahl], Ingeborg Teuffenbach). Nicht immer konnten wir bei der Suche auf ein zuverlässiges Verzeichnis zurückgreifen wie auf das von Ingrid Kussmaul für das Deutsche Literaturarchiv in Marbach erstellte. Die in Nachlässen enthaltenen Lavant-Briefe sind nicht in allen Archiven verzeichnet, geschweige denn die Verzeichnisse ins Netz gestellt gewesen, so daß die Nachlässe der bekannten oder im Laufe der Forschung wahrscheinlich oder auch nur möglich gewordenen Korrespondenzpartnerinnen genauer zu untersuchen waren. In anderen Fällen waren Briefe zwar verzeichnet, sie lagen aber in ungeordneten Nachlässen und mußten erst ausgehoben werden. Außerdem gab es die Briefe in privaten Institutionen, die nur bedingt der Forschung offen stehen (z.B. Stiftung BrücknerKilhner, Wiener Diözesanarchiv, Verlagsarchive). Den weitaus größten Teil machen Briefe in Privatbesitz aus. Immer wieder gingen potentielle Besitzerinnen oder deren Nachkommen, mit Schriftproben ausgerüstet, auf die Pirsch in ihrem Revier. Manche umfangreichen und ungeordneten Nachlässe sahen wir Blatt für Blatt durch. Kurz: Zählen wir die oben erwähnten schlummernden Bestande in Archiven mit, waren 85% der Briefe von Christine Lavant vor Beginn unserer Arbeit nicht bekannt. 2 Die Ausforschung und Zusammenführung der Briefe in einer Datenbank (v.a. Transkription, archivalische Beschreibung, Datierung) verschlang Zeit und Energie, an eine sinnvolle Kommentierung war erst nach einer überblicksartigen Ordnung des Materials zu denken. Umso beeindruckender war es dann auch für uns selbst, als nach fünf Jahren der ökonomische Wendepunkt zu spüren war: Die Briefe erhellten sich gegenseitig, fehlende Datierungen waren leichter zu ermitteln, der Aufwand des Kommentierens sank. Ein Portrait Christine Lavants trat immer deutlicher hervor, und Kontaktkreise, literar- und kulturhistorische Hintergründe wurden klarer. Die Mitteilung dieser Erfahrung von Ökonomie darf als wissenschaftspolitisches Statement aufgefaßt werden. 1
Dem österreichischen Wissenschaftsfonds FWF danken wir filr die umfassende Förderung: Im Oktober 2004 genehmigte er die Finanzierung einer dritten Projektphase. Wir danken an dieser Stelle allen Personen, die den Gesamtbriefwechsel durch ihre Mithilfe erst möglich machen.
Wan,m und unter welchen Umstlinden ist eine textkritische Bearbeitung von Briefen sinnvoll?
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Derselbe ,panoramische Prozeß• galt auch für die Brief-Texte, die wir, unabhängig von ihrer Mitteilung, zunehmend auch in ihrer Erscheinung mit ihren vielfältigen Elementen lesen lernten. Manche Verschreibungen ließen erkennen, daß der Brief vorgeschrieben worden war; bestimmte Korrekturen verrieten literarische Ambition. Schon oben erwähnten wir den Zusammenhang der Korrekturen mit einem inneren Zustand oder dem Adressatlnnenbezug. Weitere Hinweise dazu finden sich in den folgenden Ausführungen. Der Erkenntnisgewinn scheint uns den Aufwand für die textkritische Ebene (Ausarbeitung der Editionsrichtlinien, entsprechend aufwendige Darstellung aller Briefe von Christine Lavant sowie ein höherer Aufwand beim Kollationieren) zu rechtfertigen. Natürlich würde nicht jedes Schreiben eine textkritische Behandlung verdienen. Der KGCL, der sich aus dokumentarischem und biographischem Interesse um jeden Brief bemüht, mag deshalb manchmal überzogen wirken. Doch sind gerade bei Christine Lavant die ,offiziellen' Briefe auch von einer Entschiedenheit der Formulierung und Sprache getragen, daß sie diese Aufmerksamkeit verdienen. Die Frage nach der ,Werkähnlichkeit' bat Relevanz auch in bezug auf die rechtliche Situation: Wird Textkritik mit der, Werkähnlichkeit' begründet, so wird sie zur wissenschaftlichen Expertise dafür, Briefe rechtlich wie Werke zu behandeln. Unsere Beobachtungen und Erfahrungen bei der Arbeit am KGCL möchten wir hier systematisiert anhand von Fragen wiedergeben. 3 Wir hoffen, damit anderen Herausgeberinnen von Briefen Anregungen und Entscheidungshilfen anbieten zu können. Die Überlegungen beziehen sich dabei auf das elektronische Medium. 4 Im Druck werden zwei Auswahlbände mit verknapptem Apparat erscheinen. Die Briefe von Christine Lavant werden textkritisch wie folgt dargestellt: In den hergestellten Text (blau' und Book Antiqua für handschriftliche und kurrent geschriebene Briefe, blau und Arial für handschriftliche Briefe in lateinischer Schrift,5 schwarz und Arial für maschinengeschriebene Briefe) kann auf Wunsch die textkritische Ebene (grau) eingeblendet werden. Der hergestellte Text wird die Druckvorlage für die Auswahlbände bilden. Die Suche nach der bestmöglichen Wiedergabe des Originals im hergestellten Text ging einher mit der Suche nach der möglichst genauen Repräsentation des Originals auf der textkritischen Ebene, die textgenetiscbe Prozesse sowie Emendationen der Herausgeberinnen transparent macht. Die textkritische Ebene unterscheidet zwischen Spät- und Sofortkorrekturen, sie stellt Einfügungen, Um3
•
s
In .,Poststempel: St. Stefan, Lavanttal. Die Briefe Christine Lavants" (in: ,.Ich an Dich". Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Hg. v. Werner M. Bauer, Johannes John und Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck 2001 [= lnnsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe Bd. 62], S. 247-263) wurde der KGCL vorgestellt und wurden seine inhaltlichen Aspekte ausgeführt, wobei bereits ,.Der Vorteil des ,Gesamten'" bzw. einer „gewissen Menge von Material" argumentativ zugrunde lag. Der vorliegende Aufsatz versteht sich als Vertiefung des dort lapidaren Satzes: ,,Die Betrachtung der Briefe auch als Werk begründet den textkritischen Ansatz der Ausgabe." (S. 258) - Alle nicht nachgewiesenen Zitate sind unveröffentlicht und stammen aus dem KGCL. Alle Briefe von Christine Lavant werden abgebildet; Ziel ist ein ,virtuelles Archiv'. - Weitere Informationen siehe Der KGCL in Stichworten. In: Homepage: http://www.uibk.ac.at/brenner-archiv (unter .,Projekte", ,.Arbeitsstelle Christine Lavant", ,.Gesamtbriefwechsel"). Auf die Wiedergabe der Farbe und der Schrifttypen muß hier verzichtet werden.
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stellungen und Alternativvarianten dar. Die editorischen Richtlinien können hier nicht wiedergegeben werden, aber die im vorliegenden Aufsatz verwendeten diakritischen Zeichen seien kurz vorgestellt: 6 # ...# Tilgung (# ...~hr. handschr. Tilgung) \ .../ Einfügung (\ ...~hr. handschr. Einfügung) { {... }} Herausgeberlnnenklammer //Abbruchwegen Blattrand {{x} } unleserliches Zeichen Seitenumbruch Eine Sofortkorrektur wird als Tilgung ohne Einfügung dargestellt.
II
Die ersten beiden Fragen (1. und 2.) betreffen den Werkcharakter der Briefe und ihren Zusammenhang mit dem „Werk".7
1. Haben die Briefe Werkcharakter? Schon während der Fahrt zu Euch, ist mir die Verzauberung geschehen u. in der ersten Nacht dann hat man mir ja das Herz vertauscht. (#Sie:t. Ihr müßt meine Gedichte viel weniger als Gedichte denn als Wirklichkeiten betrachten!) - Ich die ich hier bin, bin ein ein#e# durch Eure Ausstrahlungen beeinflußtes bt:cintlußte\s/ hervorgerufenes Neues das immer um Euch sein wird. Ich kann es ja auch gar nicht mitnehmen irgendwo hin. Aus Eurem /i: :-... : ;:..: E ure;;n;i nv Strahlungskreis herausgetan würde es vergehen u. auslöschen. : 1.:i Wenn Ihr unter Euch Seid;;,.: S.·e1d wundert Ihr Euch vielleicht Obermein Benehmen das so wenig von Scheu u. Fremdheit weiß. Wo aber sollte ich Beides hernehmen? Bin ich doch wie ich bin aus Euch heraus entstanden wie man aus einer Heimat heraus entsteht heraus::# cn1stcht oder aus dem Mütterlichen. Das was von Euch gehen wird ist eine fremde. Diese Fremde ist i11 :: x: : s'' st mehr oder weniger zu bedauern. Sie wird in große Einsamkeiten eingehen. Aber da ist ihr nicht zu helfen. Sie wird so tun u. sich so gebärden als wüßte sie von Euch u. als bestünde von ihr zu Euch ein Weg der nur begangen werden brauchte. Ja so wird sie vielleicht handeln. Oder: ? - ? - Wird sie Einsicht haben diese fremde? - Und den starken Willen zur Wahrhaftigkeit. Und - - - Einen Stolz nichts anderes sein zu wollen als sie ist-: Eine fremde! - Wenn sie das hätte u. es bis zu Ende durchführte so sehr durchführte, daß sie als letzte Folge sich schweigsam zu Euch verhielte wie es sich fllr eine fremde geziemt. Wenn sie das vollbrächte die etwas eigentümliche ungewisse Frau Chr. H. - - -. Dann, dann müßte ich ihr meine Achtung u. meine Freundschaft zur Gänze zuwenden.
II
[ ...]
am 26.1.46. in. Klgf.
• 7
Die editorischen Richtlinien wurden gemeinsam mit Wolfgang Wiesmilller erarbeitet, der den KGCL als FWF-Projektleiter in den Jahren2000 bis 2003 mit fachlichem und freundlichem Einsatz betreute; ihm danken wir auch fllr die kritische Lektüre des vorliegenden Aufsatzes! Briefentwürfe und das Vorschreiben von Briefen können sowohl dem asthetischen wie dem außerlsthetischen Fragenkomplex zugeordnet werden. Bei Christine Lavant haben wir keine Hinweise auf einen diesbezüglichen asthetischen Zusammenhang gefunden und behandeln das Thema deshalb an anderer Stelle (12. ).
Warum und unter welchen Umständen ist eine textkritische Bearbeitung von Briefen sinnvoll?
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Betrachten wir diesen Ausschnitt aus dem Brief an Adolf Purtscher, Paula Purtscher und Gertrud Purtscher-Kallab vom 26.1.1946, so ergeben sich folgende Beobachtungen: Die Sprache ist durchaus manieriert und zeigt einen geradezu hypertrophen Gebrauch der Satzzeichen, die Christine Lavant ansonsten eher spärlich verwendet. Es wird außerdem eine fiktionale Kontaktebene aufgebaut: Der Brief duzt (Euch, Ihr), obwohl Christine Lavant die einzelnen Personen siezte (wie die anderen vorliegenden Briefe an diese Personen zeigen). Das „Euch" und „Ihr" ist als Plural auch bei Siez-Verhältnissen in der Umgangssprache möglich, doch im Schriftlichen nicht opportun: Christine Lavant kreiert damit eine Mischung aus familiärem Ton und pluralis majestatis, die an sich literarisch zu nennen ist. In diesem Sinne wird das ,,Sie" mit ,.Ihr'' überschrieben, aber auch das „seid" mit „Seid". Christine Lavant literarisiert sich selbst, indem sie von sich in der dritten Person redet (,.Frau Chr. H." ist Frau Christine Habemig, ihr Ehename - zu dem Zeitpunkt hatte sie ihren Künstlerinnennamen noch nicht angenommen.) Datum und Ort stehen am Briefende - eine Angabe des Ortes ist bei ihren Briefen absolut außergewöhnlich, ebenso diese Plazierung des Datums. Der Brief steht inhaltlich in direkter Verbindung mit dem Gedicht Man hat mir heute Nacht mein Herz vertauscht. ... 8 (unveröffentlicht), auf das sie im Brief selbst verweist. Dieses ist von ihr datiert mit ,,23.1.46" und wurde also drei Tage vor dem Brief geschrieben. Der Brief, geschrieben noch im Hause der Purtschers, kreist um diesen Aufenthalt, während dessen auch das genannte Gedicht entstanden ist. In gewisser Hinsicht liegt damit eine Selbsteinschätzung des Briefes als Werk vor: Sie schaffi um sich und die Purtschers eine ,literarische Zone', die das Werk und den Brief gleichermaßen generierte - und auch die ,Dichterin' selbst, die sich in diesem Brief den Mythos ihrer Schöpfung schreibt!q Im Nachlaß Christine Lavants gibt es zwei unveröffentlichte und undatierte Erzählungen mit dem Motiv der ,Herzvertauschung'. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sie im selben Zeitraum entstanden (doch noch genauer zu prüfen)-vgl. dazu auch 2. Für die Charakterisierung des Sprachstils, nicht untypisch auch in anderen Korrespondenzen dieser Jahre, bietet ein Drittbrief einen treffenden, wenngleich etwas mißgünstigen Kommentar: Gertrud Kubczak, die Frau von Christine Lavants erstem Verleger, schreibt am 12.3.1947 an die Schriftstellerin Paula Grogger (in ihrem Haus haben sich Viktor Kubczak und Christine Lavant kennengelernt): ,,Ich kann zwar nicht solche Gedichte von Briefen schreiben wie meine Nebenbuhlerin Christine, aber ich will nur ein wenig mit Dir plaudern." Leider sind die sicher auch im Hinblick auf die Karriere Christine Lavants aufschlußreichen Briefe an den Verleger nicht erhalten.
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Die Gedichte werden zitiert mit lncipit (erkennbar an drei Fortsetzungspunkten und der Kursivierung) samt Satzzeichen. Christine Lavant verwendete kaum Titel, und wenn, dann nicht konsequent filr alle Abschriften oder Fassungen eines Gedichtes. Die meisten vorhandenen Titel sind auf Redaktionen, Verlage und die Rezeption zurückzuführen. Wir entschieden uns gegen die Praxis, aus ästhetischen Gründen oder aus Gewohnheit Titel zu vergeben. Nicht ohne Rückbezug auf Vorbilder, wie an anderer Stelle zu zeigen ist.
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2. Gibt es einen inhaltlichen und sprachlichen Bezug zwischen Brief und Werk (etwa als Vorstufe, als Kommentar, als Konkretisierung, als lntertextualität )? Das folgende Beispiel - ein Brief an Tuvia Rübner vom 8.9.1956 (es ist der erste von rund 30 Briefen an den israelischen Schriftsteller) - ist von der Sprachebene her ebenfalls unzweifelhaft als werkllhnlich einzustufen. St. Stefan am 8.9.56. Tobias Rübner! Seien Sie nicht entsetzt über diese Ausruf-Anrede, mir geht manchmal das sinnlos-Ubliche gar nicht vom Herzen. Sie haben mir einen so guten Brief geschrieben der mir sicher noch oft ein wenig helfen wird, wenn ich sehr traurig bin. Nicht das, dassSie meine Gedichte loben tut mir am meisten wohl sondern vielmehr noch Ihr Mit-Leid. Ja ich kann schon seit Jahren nur mehr mit Schlafpulvern schlafen und das Schlimmste dabei ist, dassich dasEinnehmen solcher Mittel fllr eine Sünde wider den Geist halte weil dadurch die Qualitlt des Bewusstseins mehr und mehr herabgemindert wird. Aber vielleicht zlhlt "Gott" eben schon die Seelen jener die meiner mitleidend gedenken und bringt die nötige Zahl zusammen und errettet mich um ihretwillen. ihretwillen/;: {.}: Auch Gnade ist wahrscheinlich eine Rechnung die ganz genau aufgehen aufllgehen11=!lgehenmuss. Aber nun zu Ihnen: Wo sind Sie denn daheim gewesen? Ihr Gedicht enthält schöne sanfte Bilder und sein Rythmus : (Rhythmus; l erinnert - glaube ich - an slowenische oder kroatische #K#1k1rnatische Volkslieder, was ich sehr gern mag. Ist das"Heilge l : Heiligel: Land" fllr Sie mit Starkung begabt? Leben Sie darin oder lebt es in Ihnen ist es fllr Sie das Zelt der Vergegenwartigung oder blos [ :bloß l : der Zuflucht? Auch ich möchte Ihrer gedenken können in der genauen und hilfreichen Richtung. Die ganze "Bettlerschale" kann ich Ihnen vorllufig nicht schicken (ich hatte nur fllnf Freiexemplare bekommen) aber einen Auszug derselben. Bitte Seien Sie deswegen nicht traurig oder gekrlnkt, vielleicht schicke ich es Ihnen splter einmal. Ich lebe in einer winzigen Dachstube mitten im Industriegebiet aber mein Fenster ist so klein und so hoch angebracht dassman nur n u/ : \ r} ] ein Stück Himmel und die Krone eines alten Birnbaumes sehen kann. Es ist wie eine MOnchszelle Möclms,ellc. Vom Nachbar-dach her schreit jetzt immer eine Türken-Taube Türkc11-i1:{x; ;11Taube: Bin duurstig duu::u 11rstig! Bin duurstig! Wenn man das hört sinkt man zurück in die Wiege der Welt. Manchmal erreicht man das auch durch eine besondere Art zu gehen, nachts, unter den hilf1/Frde ist es reichen Sternbildern, denn sie sind hilfreich alle und die Erde #hdc:Jh,nJ,,h, nd auch und der Mond und die Sonne, alles gibt ab und nlhrt linäh111,"" '""' >niihrt den der 1 11 " ' dessen wir am meisten bedürfen, ,_;1i.,nJ,ch, durstig oder hungrig ist aber das Brot, 1_r""" können wir freilich nur von einander erhalten. Und Ihr Brief war fl1r mich Brot. Ich danke Ihnen dafür! Seien Sie vom Herzen gegrüsst, Tobias Rübner von Christine Lavant.
Die Intertextualität zu einem Gedicht der Autorin muß erst ausgemacht werden, doch läßt sich dann eindringlich die enge Verbindung zwischen Brief und Werk, die poetische Zusammengehörigkeit, zeigen. Das folgende Gedicht steht, was Formulierungen,
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Bilder, Vorstellungen anbelangt. in eindeutiger Beziehung zu dem Brief, es scheint den Brief lyrisch zu transfonnieren (oder transfonniert der Brief das Gedicht?): Ich suche die Wiege der Welt. Ein Knochen im Rückenmark weiß den Weg und das Lied und den Preis und das Sternbild, das alles verstellt. Noch ist da ein Makel im Schritt. Es richtet sich alles erst ein, auch der Atem muß grOndlicher sein, dann bringt er die Muttermilch mit. Wie vertraut jeder Vogel jetzt schreit, denn mein Herz horcht im Eigelb der Brut und gleichzeitig dringt sich mein Blut durch das Kernhaus im Apfel der Zeit. Nur die Stirne bleibt einsam und hier, sie zerbröselt ihr Denken im Wind und hoffi so, die Wiege samt Kind auf dem Rückweg zu finden bei dir. 10
Der Ausdruck „Wiege der Welt" flUlt als intertextueller Bezug direkt ins Auge, aber diese Fonnulierung wird semantisch oder konnotativ in beiden Texten ausgeweitet: So läßt etwa die im Gedicht verwendete Kombination der Begriffe „Wiege"/ ,,Weg"/ „Sternbild"/ ,,Wiege samt Kind[ ...] finden" an das Ereignis und das Land der Geburt Jesu denken, an das ,,Heilige Land", in dem Tuvia Rübner lebt. Der Ausdruck „Wiege der Welt" verbände sich dann mit Israel als religiös-kultureller Ursprungsstätte. Auf das Wort „Wiege" verweisen auch die im Brief erwähnten ,,sanfte[n] Bilder" und der ,.Rythmus" der slowenischen und kroatischen Volkslieder 11• Im Brief fragt Christine Lavant Tuvia Rübner, ob er im ,,Heiligen Land" wirklich lebt, es als Heimat erlebt. Beide Texte sind von der Idee geprägt, daß sich etwas wie Heimat als Erfahrung manifestiert und nicht durch rationale Begründungen entsteht vgl. im Brief „Stärkung"/ ,.Leben"/ ,,zeit der Vergegenwärtigung" oder „bloss [...] Zuflucht", im Gedicht vor allem die erste und die letzte Strophe, in denen der wissende ,,Knochen im Rückenmark" und die einsame „Stirne" einander gegenübergesetzt sind; die „Stirne" ,,zerbröselt" jedoch letztlich ,,ihr Denken im Wind", um die „Wiege samt Kind" und das Du finden zu können. Das vertraute Schreien des Vogels (Strophe 3) erinnert an das im Brief zitierte, der Briefschreiberin vertraute Schreien der „Türken-Taube". Die eingeblendete textkriti10
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Der Brief an T. Rllbner wurde 2004 veröffentlicht als ,.Faksimile aus dem Brenner Archiv (3)". Das Gedicht in: Christine Lavant: Spindel im Mond. Salzburg: Otto Müller Verlag, 5. Aufl. 1995, S. 115. Wir danken dem Rechtsinhaber, Herm Arno Kleibe!, Otto Müller Verlag Salzburg, filr die Erlaubnis zum Abdruck und zur Veröffentlichung der Lavant-Texte. Christine Lavant wußte es nicht: Tuvia Rllbner stammt aus der Stadt Bratislava / Preßburg (heute Hauptstadt der Slowakei).
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sehe Ebene gibt hier einen wichtigen Hinweis auf bewußte Formung: Ein vom Rhythmus her überzähliges „u" in „duuurstig" wird gestrichen - die Laute der Taube sollen den Rhythmus für das Wiegen herstellen. In unmittelbarer Umgebung des Vogels / der Taube finden sich im Gedicht ein „Kernhaus im Apfel" und im Brief „die Krone eines alten Birnbaumes". Ein Bezug auf „Sternbild/er"' findet sich da wie dort. auch wenn die Konnotation verschieden, ja entgegengesetzt ist: im Brief sind sie „hilfreich", im Gedicht gibt es ein „Sternbild, das alles verstellt". Markant ist auch folgender Zusammenhang: Im Brief wird „eine besondere Art zu gehen" imaginiert. und auch das Gedicht ist ein ,Gangbild' (,,Noch ist da ein Makel im Schritt"). Das Gedicht ist undatiert - doch hilft die Intertextualitllt, die Entstehungszeit in etwa einzugrenzen. Dafür spräche auch folgender Umstand: Eine handschriftliche Fassung des Gedichtes befand sich in einem (undatierten) Heft (die Seite wurde bis auf den inneren linken Rand aus dem Heft geschnitten), in dem sich auch mehrere Neuansätze eines anderen Gedichtes, Hole von allen Gedächtnisstätten ... , finden. Die Entstehung dieses Gedichtes ist im KGCL erwähnt: In einem Brief an Christine Brückner vom 28.10.1957 datiert Christine Lavant selbst es vorsichtig (,,glaube ich") auf ,,Frühjahr 1957". Für das im selben Heft niedergeschriebene Gedicht Ich suche die Wiege der Welt. ... kann eine ähnliche Entstehungszeit angenommen werden. Die für Ich suche die Wiege der Welt. ... erschlossene Datierung deckt sich mit dem Zeitraum, in dem auch der Brief an Tuvia Rübner geschrieben wurde. Abgesehen von den erwähnten Übereinstimmungen ist eine Datierung des Gedichtes um Weihnachten 1956 / Dreikönig 1957 möglich. Weihnachten bzw. Dreikönig liegen im Gedicht als Thema indirekt vor (,,Sternbild", ,,Wiege samt Kind"). Zu Weihnachten 1956 hatte Christine Lavant von Tuvia Rübner eine kleine Karawane aus Olivenholz und einen Granatapfel geschenkt bekommen, mit denen sie eine kleine Krippe gestaltete. Im Brief an Tuvia Rübner vom 23.12.1956 schreibt sie vom „Wunder-Granatapfel" und daß sie ihn niemals essen könne, selbst wenn sie „davon das ewige Leben bekäme": ein Zusammenhang im Sinne einer Opposition zwischen dem Granatapfel, der im alten Ägypten den Toten mit ins Grab gegeben wurde, bzw. dem Granatapfelbaum, der den Kopten als Symbol der Auferstehung galt, und dem ,,Apfel der Zeit" im Gedicht liegt nahe. Doch der Zeitraum muß weiter gefaßt werden: Die „Wiege der Welt" ist bereits in einem Brief an Ludwig Ficker erwähnt, der bald nach dem 10.07.1956 geschrieben wurde, weil er auf eine Briefkarte Fickers mit diesem Datum bezug nimmt. In diesem Brief gibt Christine Lavant selbst folgenden Schlüssel zu dem Bild: ,,Mir wäre freilich lieber die Wiege der Welt und darin das Kind, das lebendige Wort." Anspielungen auf den christlichen Kontext sind offensichtlich: ,,Denn lebendig ist das Wort Gottes" (Brief an die Hebräer, 4, 12) und „Und das Wort ist Fleisch geworden" (Job. 1, 14). Doch widerspricht diese ganz andere Verbindung nicht oben Ausgeführtem - sie ist möglicherweise nur ein Hinweis auf einen Adressatlnnenbezug! Jedenfalls: Das Motiv, mit seinem semantischen und poetischen Potential, mit seiner hier dargestellten ,Dehnbarkeit', ging ihr nicht aus dem Kopf. Es lassen sich eindeutig zeitliche Zusammenhänge zwischen Briefen und Werken herstellen, die bei der Datierung undatierter Werke hilfreich sein können. Dabei geht
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es nicht um die Datierung als Ergebnis - auch wenn das, je länger man sich um sie bemüht hat, so scheinen will-, sondern als neues Werkzeug: Letztlich dient sie dazu, auch den kreativen Lebenslauf besser zu verstehen. Untersuchungen zur Intertextualität brauchen deshalb genaue Texte! Jede Wortschreibung sollte in Evidenz gehalten werden. Gerade mit markanten Fehlschreibungen oder orthographischen Eigentümlichkeiten kann man sich zu zeitlichen Einordnungen vorarbeiten (etwa durch vom Dialekt her kommende Formen wie „Eckei", „Schemmel"). Da Briefe datiert sind (oder, jedenfalls in den meisten Fällen, leichter datiert werden können), bieten ihre Wortlisten eine gute Vergleichsbasis. Im KGCL werden orthographische Fehler nicht korrigiert; für entsprechende Suchvorgänge wird aber die korrekte Schreibung auf der versteckten Ebene angeboten. Die bereits zitierte Fehlschreibung „Rythmus" (vgl. Brief an Tuvia Rübner, 8.9.1956) gibt diesbezüglich übrigens nichts her: Christine Lavant schreibt Rhythmus ihr Leben lang ohne das erste ,,h". Ergiebiger in bezug auf eine zeitliche Einordnung ist etwa die Schreibung „erschrack". Sie orientiert sich an den Verbformen „erschrecken, erschrocken"; das Imperfekt wird in der österreichischen Umgangssprache praktisch nicht verwendet. ,,Erschrack" bzw. den Konjunktiv „erschräcke" findet man in Christine Lavants Briefen nur bis 1950 (3 Treffer: 1946, 1947, 1950), danach wird das Imperfekt nicht mehr verwendet, sondern nur noch das Perfekt „bin / war erschrocken" (4 Treffer: 1949, 1953, 1956, [1963]). In den vorliegenden Prosa-Manuskripten und -Typoskripten 12 findet sich 23 mal „erschrack" bzw. ,,erschracken" und nur 4 mal „erschrak" / ,,erschraken". Die Schreibung „darin" ist die Regel ( 147 Treffer in Christine Lavants Briefen, zwischen 1935 und 1972). Die Abweichung „darinn" kommt vor allem in den l 940er Jahren vor (1 x 1945, 4 x 1946, 2 x 1947, 1 x 1957, 1 x (1959]). In den ProsaManuskripten und -Typoskripten finden sich diese Varianten in auffillliger Weise: Es gibt Texte, in denen die Schreibung wechselt, beide Schreibungen vermischt werden bzw. eine Schreibung bevorzugt wird. Eine genauere Analyse im Hinblick auf Datierungsversuche steht an. Doch etwas scheint man schon sagen zu können: ,,darinn" mutete Christine Lavant literarischer an. Wenn Christine Lavant ,,Bibliotheck" schreibt, könnte man das wiederum für eine Eigentümlichkeit halten; nur über die textkritische Darstellung (und die Möglichkeit, damit eine Wortliste zu generieren) läßt sich feststellen, daß es sich nicht um eine typische Fehlschreibung handelt, sondern das Wort ansonsten richtig geschrieben wird: Dies kann für das Erstellen des Lesetextes der Werke relevant sein. Durch stillschweigende Eingriffe oder Normalisierungen würden diese vielfllltigen Möglichkeiten der Textkritik verlorengehen. Die folgenden Fragen 3. - 12. beziehen sich auf außerästhetische Kriterien für eine textkritische Darstellung; dabei betrifft die erste Fragengruppe das Material, seine edi-
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Die Prosa-Manuskripte Christine Lavants sind nur in seltenen Fällen datiert.
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torische Bearbeitung und die Pragmatik der Veröffentlichung (3. - 6.), die zweite Fragengruppe die Autorin, den Autor und die Gattung (7. - 12.).
3. Welches Textkorpus liegt zur Edition vor? Geht es um ein Briefkonvolut (ohne Gegenbriefe), einen Briefwechsel mit einer Person, eine umfassendere Auswahl (z.B. Briefe „von - bis"), einen Gesamtbriefwechsel? In welchem zahlenmäßigen, biographischen, literarischen, inhaltlichen Verhältnis steht das Textkorpus zu einer, wenn auch hochgerechneten oder nur erwogenen, Gesamtheit der Briefe? Kann die Adressatlnnenbezogenheit eingeschätzt werden und was bedeutet sie fllr den Text? Zu Lebzeiten Christine Lavants ist kein Brief veröffentlicht worden. Es gab bisher keine „Edition der Briefe", keinen Sockel, auf dem aufzubauen gewesen wäre. Es gab Publikationen von Einzelkonvoluten (ohne Gegenbriefe) in qualitativ unterschiedlicher Ausführung. Die Lektüre der ersten veröffentlichten Briefe (1974, an G. Deesen)13kann nicht mehr wirklich empfohlen werden, da bis hin zu ungekennzeichneten Streichungen und Wortänderungen markant in den Text eingegriffen wurde. Doch diese Veröffentlichung verdient Nachsicht: Sie stand am Anfang der Beschäftigung mit den Briefen und der Person, die diese schrieb. Mit Herz auf dem Sprung 14 wurden Briefe von Christine Lavant erstmals in das wissenschaftliche Interesse gerückt, was Kommentierung und Textdarstellung betraf (in diesem Falle gab es keine Gegenbriefe). Die Kommentierung hatte schon zur Erhebung und Einbeziehung weiterer Briefe geführt, und die Edition nahm einen Gesamtbriefwechsel bereits in Aussicht (,,Eine umfassende, kommentierte Briefausgabe, ohne die sich auch eine sinnvolle Biographie schwerer wird schreiben lassen, steht aus" 15). Doch ist noch ein Einzelkonvolut herausgegeben worden, 16als schon bekannt war, daß am KGCL gearbeitet wird. Wissenschaftlich gesehen handelt es sich dabei um einen Rockschritt (der auch ökonomisch nicht zu vertreten ist). Es wird betont, daß ,,kein geringerer als Thomas Bernhard" die Bekanntschaft zwischen Maja und Gerhard Lampersberg und Christine Lavant gestiftet habe - aber Zeitpunkt und Umstände bleiben unbekannt. Es gibt jedoch einen Brief von Christine Lavant an Erentraud MOller, die Verlegerin und Freundin, der- am nächsten Tag, am 26.7.1957, geschrieben - den Besuch der drei Genannten bei ihr zu Hause schildert (vgl. KGCL ... ). Bei einem einzeln veröffentlichten Briefkonvolut kann die Adressatlnnenbezogenheit von den Leserinnen bzw. Benutzerinnen nicht eingeschätzt werden. Wenn sich die Personen im Alltag nahestehen, stehen die Briefe im Kontext eines pragmatischen Zusammenhanges, der im Kommentar als Hintergrund jedenfalls mit zu reprlsentieChristine Lavant: Briefe. In: enscmble, Heft S, 1974, S. 133-157. ,. Christine Lavant: Herz auf dem Sprung. Die Briefe an Ingeborg Teuffenbach. Im Auftrag des BrennerArchivs (Innsbruck) hg. u. m. Erlluterungcn u. e. Nachwort versehen von Annette Steinsiek. Salzburg 1997. IS Ebd., s. 196. 16 Christine Lavant: Briefe an Maja und Gerhard Lampersberg. Im Auftrag des Robert-Musil-lnstituts für Literaturforschung der Universitllt Klagenfurt/ Klmtner Literaturarchiv hg. v. Fabjan Hafner u. Arno Rußegger. Salzburg 2003. ii
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ren wäre. Doch der Kommentar ist mager, kaum mehr als ein Glossar. Die aufflllige Verwendung umgangssprachlicher und mundartlicher Ausdrücke in den Briefen wäre als Hinweis auf betonte Originalität zu erwägen - wenn man nur die Briefe mit denen an andere Korrespondenzpartnerinnen vergleichen könnte. Die isolierte Korrespondenz fllhrt einmal mehr zur Festschreibung bestimmter Vorstellungen von einer Autorin, statt sie in ihrer Vielstimmigkeit vernehmbar werden zu lassen. Man hat unter Hinweis auf die Faksimiles einmal mehr „stillschweigend korrigiert'', unterschiedliche Schreibungen „vereinheitlicht", die Interpunktion ,,normalisiert".'7 Von Textkritik fehlt jede Spur - deshalb gehen auch Hinweise darauf verloren, daß einige Briefe vorgeschrieben worden sein könnten. Einzelkonvolute oder Briefwechsel zu veröffentlichen kann sinnvoll sein, wenn sie auf einen größeren Zusammenhang zurückgreifen können oder auf diesen abzielen. Ohne diesen Zusammenhang herausgegeben, womöglich von unterschiedlichen Personen, bleibt es bei einer Präsentation der Eingangstüre statt einer Führung durch das Haus, bei Addition statt Edition. Nun wird ein „Gesamtbriefwechsel" immer ein schöner Traum sein. Sicher werden nach Abschluß der Arbeiten weitere Konvolute auftauchen. Dem wird die Internet-Edition Rechnung tragen. Für den KGCL zählten wir im April 2004 insgesamt 1900 Briefe von und an Christine Lavant, davon etwa 1200 Briefe von Christine Lavant und etwa 700 an sie.' 8 Dazu kommen etwa 100 Drittbriefe. Zum gleichen Zeitpunkt zählten wir 210 Korrespondenzpartnerinnen (darunter aber auch einige, von denen es nur eine Postkarte an Christine Lavant gibt).
4. Welches Medium wird gewählt? Ob ein größerer Briefbestand oder gar ein Gesamtbriefwechsel textkritisch in Buchform veröffentlicht werden soll, hängt vor allem von der Entscheidung und Kalkulation des Verlages ab. Der Aufwand der Darstellung im Druck ist ungleich höher als im elektronischen Medium. Auch sollte in jedem Fall fllr die wissenschaftliche Arbeit (und dazu zählt bereits die Arbeit an der Edition!) die Suchbarkeit und Handhabbarkeit gewährleistet sein. Neben der kostengünstigen und praktischen Möglichkeit, eine große Menge an Material zu verwalten und zu veröffentlichen, sprechen die gestalterischen (nicht nur ästhetische, sondern auch Einteilungen oder Darstellungen unterstützende) Möglichkeiten fllr eine elektronische Veröffentlichung. 19 17
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Alle Zitate ebd., S. 162. Die Korrespondenz mit Werner Berg (aus dem Zeitraum ihrer engeren Beziehung von 1950-1955) wird nicht veröffentlicht werden und ist also hier nicht mitgezlhlt: Die Briefe von Werner Berg an Christine Lavant (ca. 280) wurden vom Nachlaßverwalter beim Verkauf(bis 2014) gesperrt, die Briefe von Christine Lavant an Werner Berg (ca. 500), die wir 2002 als erste Forschende in den Händen hielten, sind uns derzeit nicht zugänglich, da der von der Stadt Klagenfurt als Berater herangezogene Leiter des regionalen Kärntner Literaturarchivs deren Sperrung für die Benutzung von außerhalb betrieb. Derzeit bleibt nur die Hoffnung auf die korrekte Verwaltung öffentlichen Eigentums durch die Stadt Klagenfurt und damit auf die sekundäre Auswertung für KGCL und Biographie (betr. Datierungen, Kommentierungen, Hinweise auf weitere Korrespondenzpartnerinnen, biographische Hintergrilnde). Vgl. dazu den Aufsatz von Ulrike Landfester: ..Aus einem unendlichen Vorrath von Briefen ... ". Zum Nutzen einer elektronischen Edition von Rahel Levin Vamhagens Werk. In: "Ich an Dich", S. 95-114
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80 5. Geht es auch um die Sicherung von Quellen?
In unserem Falle war ein wichtiges Ziel auch die Sammlung und Erhaltung der Quellen. Die meisten der Briefe von Christine Lavant wären ohne diese Arbeit unbekannt geblieben - und einige davon wären inzwischen schon verloren gegangen. Christine Lavants Generation lebt gerade noch oder lebt schon nicht mehr. Das intensive Recherchieren ist also ein Gebot der Stunde. Zwei Drittel der Briefe eruierten wir in Privatbesitz. Dorthin gingen sie nach Kopieren, Scannen und archivalischer Beschreibung auch wieder zurück. 20 Das heißt: Manche Originale werden vielleicht nicht wieder in öffentliche und / oder wissenschaftliche Hände gelangen. Sie sollten deshalb sorgfältig ausgewertet und repräsentiert werden - auch mit Hilfe der textkritischen Ebene, denn manche Korrekturvorgänge lassen sich an Faksimiles bzw. Scans nicht oder nicht eindeutig erkennen.
6. liegen bereits editorische Richtlinien fllr das Werk der Autorin/des Autors vor, bzw. können die fllr die Briefe erarbeiteten Richtlinien umgekehrt fflr eine Werkedition verwendet werden? Parallel zum Beginn der Briefedition ( 1997) wurden uns die diakritischen Zeichen bekannt gemacht, die für die damals geplante Kritische Ausgabe der Werke verwendet werden sollten. Der Nachlaß war bereits mit diesen Zeichen transkribiert worden. Man hatte dafür die diakritischen Zeichen der CD-Rom des Nachlasses von Robert Musil 21 übernommen, was nicht überzeugte. Aus pragmatischen (ökonomischen wie rezeptionsorientierten) Gründen jedoch wurden für die Briefedition einige dieser Zeichen verwendet, wobei wir Differenzierungen und Ergänzungen vornahmen. In bezug auf die Neukonzeption der Kritischen Edition der Werke ist es nun sinnvoll zu prüfen, inwieweit die editorischen Richtlinien des KGCL verwendet werden können.
7. Kann man von den Lebensumständen der Autorin/des Autors auf den Stellenwert des Briefes als Medium der Mitteilung schließen? Zunächst muß, auch fllr die folgenden Fragen, geprüft werden, ob ein Materialbestand vorliegt, der eine Antwort auf diese Frage erlaubt. Wenn Dokumente oder Aussagen
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(s. Fn. 3), zu den Möglichkeiten der elektronischen Darstellung v.a. S. 108-112. U. Landfester plldiert in ihrem Aufsatz ebenfalls fllr ein „objektivierbares philologisches Wahrnehmungsraster, das die Lekttlre und damit ultimativ auch die Edition von Briefwechseln aus der Grauzone supplementär zum ,eigentlichen' Werk verlaufender Lektüren herausholen und den Briefwechsel selbst als Kunstform handhabbar machen könnte" (S. 96), wobei sie auf ein zitierbares ,,auktoriales Selbstverständnis" Vamhagens verweisen kann (S. 99). Auch sie beschreibt die Nachteile, die die „Herauslösung einzelner Korrespondenzen" mit sich bringt (S. 107). Gerade etwas als „Netz" Gedachtes fordere die elektronische Edition, die neben ,,sequentiellen" auch .,nichtsequentielle Lekttlren zullßt" (S. 108). Einige Konvolute durfte das Forschungsinstitut Brenner-Archiv als Schenkungen in seine Bestände aufnehmen. Vgl. Robert Musil: Der literarische Nachlaß. Hg. v. Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frise. Reinbek: Rowohlt 1992.
Warumund unter welchen Umstiindenist eine textkritischeBearbeitung von Briefen sinnvoll?
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darauf hinweisen, daß die Autorin/der Autor gerne ausführlich telefonierte, so muß ein Teil der Kommunikation verloren gegeben werden. Christine Lavant wohnte im Hause ihrer Freundin Gertrud Lintschnig, die einen Gemischtwarenladen betrieb und über ein Telefon verfügte. Sie wählte diese Verständigungsart jedoch selten, ,,weil ich so schwerhörig bin, daß ich meist kein einziges Wort verstehe u. das ist so peinlich u. mühselig" (an Klara Berg, [1962)). Schwerhörigkeit und Schwersichtigkeit, ein labiler Gesundheitszustand, aber auch ihre Lebensumstände (sie fühlte sich ihrem Mann gegenüber verpflichtet) schränkten ihre Mobilität ein - der Brief bot die Möglichkeit, Entfernungen zu überbrücken. Darüber hinaus setzte sie, die immer wieder in depressive Stimmungen und Zustände fiel, der kontrollierbare Briefkontakt nicht so unter Druck wie eine persönliche Begegnung oder Verabredung.
8. Welchen Stellenwert hat der Brief in der Schreibkultur der Autorin/des Autors? Es kann in diesem Beitrag nicht in der gebührlichen Ausführlichkeit von Christine Lavants Briefpoetik gesprochen werden, die aus einzelnen verstreuten Äußerungen in den Briefen zusammengeführt werden muß und die natürlich im Laufe der Jahre diversen Änderungen unterworfen war. In manchen Briefen tritt das ästhetische Element, in anderen das soziale stärker hervor. Es gibt Äußerungen, die darauf hinweisen, daß Briefe und Werke aus einer ähnlichen Energie heraus und mit einem ähnlichen Bedürfnis nach Ausdruck entstanden sind: Den Zustand in welchem Sie (man) solche ~ocllK· schöne und für sich selbst oft nicht ganz klare Briefe Bri C:ti: schreiben, den kenne ich wohl. So schreibt unsereins auch die Geschichten und Gedichte, nicbtwahr. Aber ich glaube der Zustand ist ein Kapital das sehr leicht aufgezehrt werden kann. Und wir greifen es immer wieder an auch wo es oft gar nicht not wir. Ich möchte nicht, dass Sie für mich Ihr Kapital angreifen, verstehen Sie mich? Wenn Sie mir weiterhin schreiben wollen - ich habe viel davon! - dann genügen die schlichWorte solche die man auch hat wenn man testen und ungeschicktesten 1111gl·,ch1l'kt
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Abb. l: Seiten 52 und 53 aus der 2. Fassung (H2) der Erzählung Der fromme Spruch (StA 230; vgl. hierzu Anm. 2)
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Johannes John /Herwig Gottwald
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Abb. 2: Seite 58 aus der 2. Fassung (H2) der Erzählung Der.fromme Spruch (StA 230)
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