Was ist Philosophie?: Eine kleine Einführung 9783495999233, 9783495999226


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Table of contents :
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1. Was ist Philosophie?
1.1. Warum philosophieren?
1.2. Vom Mythos zum Logos
1.3. Bereiche der Philosophie
1.4. Über den Nutzen der Philosophie
2. Bemerkungen zur Geschichte der Philosophie
2.1. Antike (600 v. Chr.–500 n. Chr.)
Vorsokratik
Klassische Periode
Hellenismus
Spätantike
2.2. Mittelalter (500–1500)
Patristik und Scholastik
Bedeutende Theologen: Augustinus, Anselm und Thomas
2.3. Frühe Neuzeit (1500–1800)
Empirismus vs. Rationalismus
Was ist Aufklärung?
Naturrecht in der Frühen Neuzeit
Von den Utopisten zu den Theoretikern des Gesellschaftsvertrags
2.4. Moderne (um 1750–2000)
18. und 19. Jahrhundert
Die Philosophie im 20. Jahrhundert
Analytische Philosophie und Kontinentalphilosophie
Ethik und Angewandte Ethik
Die philosophische Anthropologie
Politische Philosophie
Wissenschaftstheorie
3. Teilgebiete der Philosophie
3.1. Theoretische Philosophie
Erkenntnistheorie
Philosophie des Geistes
Metaphysik
3.2. Praktische Philosophie
Ethik
Politische Philosophie
Philosophie der Technologie
4. Was können wir wissen?
4.1. Platons Ideenlehre
4.2. Gibt es die Außenwelt?
4.3. Hirne im Topf?
4.4. Gibt es ein sicheres Wissen?
4.5. Was ist Wahrheit?
5. Was sollen wir tun?
5.1. Ethische Theorien
Tugendethik
Pflichtethik
Utilitarismus
Ethik als Methode
5.2. Gibt es eine vom Menschen unabhängige Moral?
6. Gibt es Gott?
6.1. Über die Eigenschaften Gottes
6.2. Warum sind Menschen religiös?
6.3. Drei klassische Einwände
6.4. Gottesbeweise
Der kosmologische Gottesbeweis
Der teleologische Gottesbeweis
Der ontologische Gottesbeweis
7. Was ist der Mensch?
7.1. Was ist der Mensch?
Der Mensch als Vernunftwesen
Der Mensch als Ebenbild Gottes
Der Mensch als ein soziales Wesen
7.2. Ist der Mensch von Natur aus „gut“ oder „schlecht“?
7.3. Der Homo-Mensura-Satz
7.4. Ist der Mensch ein Einzelgänger?
7.5. Ist die Moral natürlich oder kulturell bedingt?
8. Was ist Gerechtigkeit?
8.1. Platon über Gerechtigkeit
8.2. Aristoteles über Gerechtigkeit
8.3. Konflikte zwischen Recht und Gerechtigkeit
9. Gibt es einen freien Willen?
9.1. Wesentliche Unterscheidungen
9.2. Die vier Hauptpositionen
9.3. Drei Argumente zur Willensfreiheit
Das Intuitionsargument
Das Argument der faktischen Determiniertheit
Das Unvorhersagbarkeitsargument
9.4. Gottes Allwissenheit und das Problem der Willensfreiheit
10. Wie hängen Körper und Geist zusammen?
10.1. Substanzdualismus
10.2. Epiphänomenalismus
10.3. Eigenschaftsdualismus
10.4. Materialismus
10.5. Das Problem der Willensfreiheit
10.6. Künstliche Intelligenz – Das Ende der Menschheit?
Superintelligente Maschinen
Asimovs vier Robotergesetze
Rechte für intelligente Maschinen?
11. Was ist der Sinn des Lebens?
11.1. Über den Zusammenhang von Moral und gutem Leben
Das gute Leben besteht in einem Leben gemäß der Moral
Das gute Leben kommt ohne Moral aus
Das gute Leben enthält moralische Ansprüche
11.2. Gutes Leben und moralische Orientierung
12. Toolbox für das Philosophiestudium
12.1. Die Top 10 der Meisterwerke der Philosophie
Platons Der Staat
Aristoteles Nikomachische Ethik
Thomas von Aquins Summe der Theologie
René Descartes Meditationen
Thomas Hobbes Leviathan
John Lockes Zwei Abhandlungen über die Regierung
Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft
John Stuart Mills Utilitarismus
Martin Heideggers Sein und Zeit
12.2. Die Werkzeuge der Philosophen
Online-Enzyklopädien
Suchportale in der Philosophie
Wichtige Nachschlagewerke
Deutsche Philosophiezeitschriften
Weitere Hilfsmittel
Epilog
Bibliographie
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
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Was ist Philosophie?: Eine kleine Einführung
 9783495999233, 9783495999226

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John-Stewart Gordon

Was ist Philosophie? Eine kleine Einführung

https://doi.org/10.5771/9783495999233 .

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John-Stewart Gordon

Was ist Philosophie? Eine kleine Einführung

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99922-6 (Print) ISBN 978-3-495-99923-3 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

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Meiner Frau

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Vorwort Das Schreiben einer kompakten und dennoch verständlichen Einführung in ein so komplexes Gebiet wie das der Philoso­ phie ist keine leichte Aufgabe. Es gibt viele Entscheidungen, die man bezüglich des Inhalts treffen muss, die manchmal auch schmerzlich sind, da man glaubt, noch bestimmte Din­ ge nennen zu müssen, auf die man aber bei näherer Betrach­ tung verzichten muss. Die vorliegende Abhandlung „Philoso­ phie. Eine kleine Einführung“ führt in die Grundfragen der Philosophie ein. Es sind keine weiteren Fachkenntnisse erfor­ derlich, da alles in klarer und verständlicher Weise erklärt wird. Daher eignet sich dieses Buch gerade für Studierende aller Fächer sowie solche im Grundstudium der Philosophie und Erwachsene, die keinerlei Vorkenntnisse haben. Die Ka­ pitel geben jeweils einen kurzen Überblick über einige der spannenden Fragen der Philosophie und sollen dabei zum Mit- und Weiterdenken anregen. Grundsätzlich können die einzelnen Kapitel auch separat gelesen werden, ohne dass eine spezifische Reihenfolge eingehalten werden muss. Ich danke dem Nomos Verlag und dem Verlag Karl Al­ ber, insbesondere Dr. Martin Hähnel, für die Aufnahme des Buches in das Verlagsprogramm. John-Stewart Gordon, Vytautas Magnus University, Neringa 2022

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VII .

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Inhaltsverzeichnis 1.

Was ist Philosophie? ......................................... 1 1.1. Warum philosophieren? ............................. 2 1.2. Vom Mythos zum Logos ............................. 3 1.3. Bereiche der Philosophie ............................ 5 1.4. Über den Nutzen der Philosophie ................ 6

2.

Bemerkungen zur Geschichte der Philosophie ....... 9 2.1. Antike (600 v. Chr.–500 n. Chr.) .................... Vorsokratik ............................................... Klassische Periode ..................................... Hellenismus ............................................. Spätantike ................................................

9 10 12 14 15

2.2. Mittelalter (500–1500) .............................. 17 Patristik und Scholastik .............................. 17 Bedeutende Theologen: Augustinus, Anselm und Thomas ............................................. 19 2.3. Frühe Neuzeit (1500–1800) ........................ Empirismus vs. Rationalismus ..................... Was ist Aufklärung? ................................... Naturrecht in der Frühen Neuzeit ................ Von den Utopisten zu den Theoretikern des Gesellschaftsvertrags .................................

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20 22 23 24 26

IX .

Inhaltsverzeichnis

2.4. Moderne (um 1750–2000) .......................... 18. und 19. Jahrhundert ............................. Die Philosophie im 20. Jahrhundert ............. Analytische Philosophie und Kontinentalphilosophie .............................. Ethik und Angewandte Ethik ....................... Die philosophische Anthropologie ............... Politische Philosophie ................................ Wissenschaftstheorie ................................ 3.

4.

29 29 32 34 36 38 40 41

Teilgebiete der Philosophie ................................ 45 3.1. Theoretische Philosophie ........................... Erkenntnistheorie ..................................... Philosophie des Geistes .............................. Metaphysik ..............................................

46 47 50 53

3.2. Praktische Philosophie ............................... Ethik ....................................................... Politische Philosophie ................................ Philosophie der Technologie .......................

56 56 58 61

Was können wir wissen? .................................... 65 4.1. Platons Ideenlehre .................................... 65 4.2. Gibt es die Außenwelt? .............................. 67 4.3. Hirne im Topf? .......................................... 69 4.4. Gibt es ein sicheres Wissen? ....................... 71 4.5. Was ist Wahrheit? ..................................... 72

5.

Was sollen wir tun? ........................................... 74 5.1. Ethische Theorien ...................................... 74 Tugendethik ............................................. 75 Pflichtethik .............................................. 76

X

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Inhaltsverzeichnis

Utilitarismus ............................................ 79 Ethik als Methode ..................................... 82 5.2. Gibt es eine vom Menschen unabhängige Moral? .................................. 85 6.

Gibt es Gott? .................................................... 89 6.1. Über die Eigenschaften Gottes .................... 90 6.2. Warum sind Menschen religiös? .................. 90 6.3. Drei klassische Einwände ........................... 93 6.4. Gottesbeweise .......................................... Der kosmologische Gottesbeweis ................ Der teleologische Gottesbeweis .................. Der ontologische Gottesbeweis ...................

7.

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Was ist der Mensch? .........................................101 7.1. Was ist der Mensch? ..................................103 Der Mensch als Vernunftwesen ...................103 Der Mensch als Ebenbild Gottes ..................104 Der Mensch als ein soziales Wesen ..............105 7.2. Ist der Mensch von Natur aus „gut“ oder „schlecht“? ........................................105 7.3. Der Homo-Mensura-Satz ............................106 7.4. Ist der Mensch ein Einzelgänger? .................108 7.5. Ist die Moral natürlich oder kulturell bedingt? ..................................................112

8.

Was ist Gerechtigkeit? .......................................114 8.1. Platon über Gerechtigkeit ...........................115 8.2. Aristoteles über Gerechtigkeit .....................117

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XI .

Inhaltsverzeichnis

8.3. Konflikte zwischen Recht und Gerechtigkeit ............................................119 9.

Gibt es einen freien Willen? ...............................123 9.1. Wesentliche Unterscheidungen ...................124 9.2. Die vier Hauptpositionen ...........................126 9.3. Drei Argumente zur Willensfreiheit ..............128 Das Intuitionsargument .............................129 Das Argument der faktischen Determiniertheit .......................................129 Das Unvorhersagbarkeitsargument .............130 9.4. Gottes Allwissenheit und das Problem der Willensfreiheit ..........................................131

10. Wie hängen Körper und Geist zusammen? ...........132 10.1. Substanzdualismus ...................................133 10.2. Epiphänomenalismus ................................134 10.3. Eigenschaftsdualismus ..............................135 10.4. Materialismus ..........................................136 10.5. Das Problem der Willensfreiheit ..................137 10.6. Künstliche Intelligenz – Das Ende der Menschheit? ............................................139 Superintelligente Maschinen ......................141 Asimovs vier Robotergesetze .......................143 Rechte für intelligente Maschinen? ..............145 11. Was ist der Sinn des Lebens? ..............................147 11.1. Über den Zusammenhang von Moral und gutem Leben ............................................149

XII

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Inhaltsverzeichnis

Das gute Leben besteht in einem Leben gemäß der Moral ......................................149 Das gute Leben kommt ohne Moral aus ........150 Das gute Leben enthält moralische Ansprüche ................................................151 11.2. Gutes Leben und moralische Orientierung ....152 12. Toolbox für das Philosophiestudium ....................155 12.1. Die Top 10 der Meisterwerke der Philosophie ..............................................156 Platons Der Staat ......................................156 Aristoteles Nikomachische Ethik ..................157 Thomas von Aquins Summe der Theologie ....157 René Descartes Meditationen ......................158 Thomas Hobbes Leviathan ..........................158 John Lockes Zwei Abhandlungen über die Regierung ................................................158 Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ................................159 Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft ...159 John Stuart Mills Utilitarismus ....................160 Martin Heideggers Sein und Zeit ..................160 12.2. Die Werkzeuge der Philosophen ..................161 Online-Enzyklopädien ................................162 Suchportale in der Philosophie ....................164 Wichtige Nachschlagewerke .......................165 Deutsche Philosophiezeitschriften ...............167 Weitere Hilfsmittel ....................................169 Epilog ....................................................................172 Bibliographie ..........................................................173

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XIII .

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1. Was ist Philosophie? Eigentlich könnte man meinen, dass die Frage, was Philoso­ phie sei, einfach zu beantworten ist, doch auch vor dem Hintergrund einer fast 2500 Jahre alten Tradition abendlän­ discher Philosophie, erscheint es schwieriger denn je, eine einfache Antwort darauf zu geben. Drei Antworten auf die Frage, was Philosophie ist, sollen uns einen ersten Eindruck vermitteln, womit wir es im Folgenden zu tun haben werden. Philosophie heißt zweifeln. Michel de Montaigne Die Grenzen der menschlichen Vernunft begreifen – das erst ist wahrhaft Philosophie. Friedrich Nietzsche Der Philosoph ist ein Mensch, der nicht glauben will, was er sieht, weil er zu sehr damit beschäftigt ist, darüber nachzudenken, was er nicht sieht. Bernard de Fontenelle

Versucht man, die oben genannten Zitate mit Blick auf un­ sere eingangs gestellte Frage fruchtbar zu machen, dann ergibt sich etwa folgendes Bild: Philosophieren bedeutet, das Selbstverständliche in Zweifel zu ziehen und sich nicht mit dem zufrieden zu geben, was vordergründig richtig zu sein scheint, sondern der Natur der Dinge tiefer auf den Grund zu

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1. Was ist Philosophie?

gehen und sich erst dann auszuruhen, wenn man eine angemessene Antwort gefunden hat. John-Stewart Gordon

Dies ist bereits eine recht solide Begriffsbestimmung dessen, was Philosophie ist, doch es lohnt sich, auch auf die sprach­ lichen Wurzeln des griechischen Begriffs Philosophie näher einzugehen, um weitere Details ans Licht zu bringen. Der griechische Begriff „philosophia“ setzt sich aus zwei unter­ schiedlichen Ausdrücken zusammen. Das Wort „philos“ be­ deutet so viel wie Freund (oder Liebe) und „sophia“ kann man am besten mit Weisheit übersetzen. Demnach ist der Philosoph der Freund oder Liebhaber der Weisheit. Er ist, wie bereits der berühmte Philosoph Platon – ein Schüler des Sokrates – konstatiert hat, nicht bereits im Besitz der Weisheit, sondern lediglich ein danach Strebender. Nur Gott – oder die Weisen selbst (wenn es sie denn gibt) – sind im Besitz der Weisheit. Philosophie bedeutet demnach Liebe zur Weisheit.

1.1. Warum philosophieren? Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Motiven, warum man zu philosophieren beginnt. In der Geschichte der Phi­ losophie hat es eine Reihe von Gründen dafür gegeben wie zum Beispiel das Staunen (Aristoteles), die existentielle Sinnfrage des menschlichen Lebens oder der Wille zur Auf­ klärung (Sophisten). Diesbezüglich sollte man sich aber immer vor Augen führen, dass es zu Homers Zeiten (er wurde um 750 v. Chr. geboren) üblich war, zum Beispiel Erklärungen für na­ turwissenschaftliche Ereignisse wie Erdbeben oder Über­ schwemmungen im Willen der Götter zu suchen. Homer 2

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1.2. Vom Mythos zum Logos

war ein Gigant der Literaturgeschichte, der Schöpfer der Ili­ as und Odyssee (die beiden wichtigsten Werke in der frühen griechischen Geschichte) und damit der Begründer der grie­ chischen Geistesgeschichte und des griechischen Denkens. Ohne seine Schriften kann man das antike Griechenland nicht verstehen. Neben Homer ist der berühmte Dichter Hesiod (um 750–650 v. Chr.), ein weiteres Schwergewicht des frühen Griechenlands, maßgeblich für den Kurs der griechischen Geistesgeschichte verantwortlich. Mit seinem Werk Theo­ gonie hat er die Grundlage der griechischen Götterwelt ge­ schaffen, ihre Herkunft (Genealogie) beschrieben und damit das gesamte Glaubenssystem des antiken Griechenlands für viele Jahrhunderte nachhaltig geprägt.

1.2. Vom Mythos zum Logos Der Wandel vom Mythos zum Logos hat sich allmählich vollzogen. Üblicherweise wird in diesem Zusammenhang auf Thales (um 626–545 v. Chr.), den „ersten“ Philosophen, verwiesen, der ein bedeutender Naturphilosoph war und versucht hat, die Geschehnisse in der Natur nicht mehr im Rekurs auf die Götter zu erklären, so wie es noch die Dichter taten. Im 5. Jahrhundert v. Chr. folgten die sogenannten So­ phisten, die Weisheitslehrer, die sich endgültig vom Mythos lossagten und versuchten, alles vermittels des Denkens (Lo­ gos) zu erklären. Demnach war die Ursache des Donners nicht mehr der grollende Zeus, sondern auf bestimmte Phä­ nomene in der Natur zurückzuführen. Auch wenn die So­ phisten in der Antike nicht den besten Ruf hatten (sie waren teils sehr hoch bezahlte Wanderlehrer und moralisch „flexi­

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1. Was ist Philosophie?

bel“ etc.), bleibt jedoch zu konstatieren, dass sie wichtige Aufklärer waren und etliche von ihnen herausragende Den­ ker wie Protagoras von Abdera (um 481–411 v. Chr.) und Gorgias von Liontinoi (um 480–380 v. Chr.) gewesen sind. Der Übergang vom Mythos zum Logos gilt spätestens zur klassischen Zeit der Philosophie (Sokrates, Platon und Aristoteles) als abgeschlossen. Man darf dabei jedoch nicht vergessen, dass es sich hierbei um eine echte Auseinander­ setzung um die Deutungshoheit zwischen den Dichtern wie Aristophanes (446–386 v. Chr.), die immer noch an den traditionellen Erklärungsversuchen festhielten, und den Phi­ losophen, wie Sokrates (470–399 v. Chr.), gehandelt hat (vgl. das Theaterstück Die Wolken von Aristophanes). Es ging um sozialen, moralischen und politischen Einfluss in der Polis, dem antiken Stadtstaat. Es stand viel auf dem Spiel. Wie sollte die Polis eingerichtet sein? Wie sollte man leben? Der Einfluss der Philosophie und der Siegeszug ihrer rationalen und damit nachvollziehbaren Argumente konnte jedoch nicht mehr aufgehalten werden. Damit gewann die Philosophie ihren ersten großen Battle. Warum gibt es etwas und vielmehr nicht Nichts? Was ist der Mensch? Was können wir wissen? Gibt es einen Gott? Wie soll man sich verhalten? Was ist der Sinn des Lebens? Haben wir einen freien Willen? Was ist Gerech­ tigkeit? Diese und ähnliche Fragen sind ihrer Natur nach philosophische Fragen, die uns als Menschen in der Regel besonders interessieren. Einige dieser Themen werden wir im Folgenden kennen lernen.

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1.3. Bereiche der Philosophie

1.3. Bereiche der Philosophie In der antiken griechischen Philosophie war es üblich die Philosophie in drei große Bereiche aufzuteilen: die Physik (Naturphilosophie), die Ethik und die Logik. Heutzutage wird die Philosophie in viele unterschiedliche Bereiche einge­ teilt, wobei es zwei fundamentale Bereiche gibt. Der eine Bereich ist die theoretische Philosophie und der andere Be­ reich die praktische Philosophie. Die theoretische Philosophie umfasst zum Beispiel die folgenden Disziplinen: die Erkenntnistheorie (Was gibt es? Wie können wir verlässlich feststellen, ob etwas richtig oder falsch ist?), die Wissenschaftstheorie (Was sind die Voraus­ setzungen, Methoden und Ziele von Wissenschaft? Welche Form der Erkenntnisgewinnung ist richtig?), die Logik (Leh­ re vom richtigen Schließen) und die Sprachphilosophie (Wie ist das Verhältnis von Sprache und Bedeutung, Sprache und Wirklichkeit sowie Sprache und Denken?). Die praktische Philosophie umfasst zum Beispiel die fol­ genden Bereiche: die Ethik (Was soll man tun?), die poli­ tische Philosophie (Wie sollte man einen gerechten Staat konzipieren?), die Sozialphilosophie (Was ist der Sinn und die Natur von Gesellschaft?), die Rechtsphilosophie (Was sind Rechte und Pflichten?), die Anthropologie (Was ist der Mensch?) und die Religionsphilosophie (Gibt es Gott?). Darüber hinaus gibt es noch weitere philosophische Dis­ ziplinen, die ich hier jedoch nicht weiter aufgeführt habe (zum Beispiel die Naturphilosophie, die Kulturphilosophie, die Geschichtsphilosophie, die Technikphilosophie und wei­ tere). Unbedingt zu erwähnen ist jedoch noch der wichti­ ge Bereich der Ontologie bzw. Metaphysik, der sowohl im Kontext der theoretischen als auch der praktischen Philoso­ phie relevant ist. Hierbei geht es um die Frage, was ist. Zum

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1. Was ist Philosophie?

Beispiel: Gibt es moralische Rechte und Pflichten? Gibt es Gewissheit? Viele philosophische Fragen sind ontologische Fragen und fragen zum Beispiel nach dem seinsmäßigen Status einer Sache. Aufgrund der enormen inhaltlichen Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Disziplinen und Teildisziplinen in der Philosophie gibt es heutzutage keinen Philosophen mehr, der alle Bereiche abzudecken vermag, gleichwohl es natür­ lich viele Philosophen gibt, die auch über ein solides Wis­ sen in anderen philosophischen Bereichen verfügen. Mit anderen Worten: Ein Experte im Bereich der praktischen Philosophie kann sich durchaus mit Themen im Kontext der theoretischen Philosophie auskennen. Es gibt zwar immer mehr Lehrstühle in der Philosophie, die sich einer einzigen Teildisziplin wie die der Tierethik, Umweltethik oder Wirt­ schaftsethik verschrieben haben, dies sind jedoch Ausnah­ men. In der Regel ist der Fokus allgemeiner gehalten, so dass Philosophen unterschiedliche Disziplinen abdecken.

1.4. Über den Nutzen der Philosophie Warum sollte man sich eigentlich mit Philosophie beschäfti­ gen oder sogar Philosophie studieren? Welche Gründe gibt es dafür? Was kann man „damit machen“? Zunächst sollte man zwischen persönlichen und nicht-persönlichen Grün­ den unterscheiden, wobei beide Klassen von Gründen sich auch teils überlagern können. Persönliche Gründe können zum Beispiel in der Neugier an einem spezifischen Thema oder einem starken Interesse am Denken bestehen. Nicht-persönliche Gründe sind solche, die allen Perso­ nen in gleicher Weise zukommen, die Interesse an der Phi­ losophie haben und es entweder studieren oder sich regel­

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1.4. Über den Nutzen der Philosophie

mäßig damit intensiv beschäftigen. Die aktive Auseinander­ setzung mit Philosophie bewirkt in der Regel, dass Personen einen verlässlichen Schild ausprägen, der sie gegen viele Formen von Vorurteilen, Fake News und Populismus immu­ nisiert. Mit anderen Worten: Man kann Philosophen selten für „dumm“ verkaufen. Die beiden antiken Philosophen Platon (um 428– 347 v. Chr.) und Aristoteles (384–322 v. Chr.) – die ver­ mutlich bedeutendsten Philosophen in der langen Geschich­ te der Philosophie – gehen davon aus, dass die zentrale Eigenschaft des Menschen das Denken ist. Diejenigen Men­ schen, die – so die antike Vorstellung – am besten im Denken trainiert sind, sind die Philosophen. Somit bilden, gemäß jener Vorstellung, die Philosophen die Speerspitze der Menschheit. Man mag mit dieser recht elitären Sicht­ weise übereinstimmen oder nicht, doch das Philosophieren verändert den Menschen in einer fundamentalen Art und Weise, und zwar unabhängig davon, ob man nun philoso­ phischer Schriftsteller, Journalist, Lehrer oder Professor ist (oder einen ganz anderen Beruf ausübt). Aus eigener Erfahrung kann ich bezeugen, dass die langjährige Beschäftigung mit Philosophie mich in die Lage versetzt hat, Dinge aus einer Art Vogelperspektive zu be­ trachten und in einen viel breiteren Kontext zu stellen. Ich weiß, wann es sich lohnt, mit jemandem ernsthaft zu disku­ tieren oder wann man sich eingestehen muss, dass man sprichwörtlich „mit einem Brunnenfrosch nicht über den Ozean reden kann“. Der praktische Nutzen von Philosophie für die eige­ ne menschliche Entwicklung kann nicht überschätzt werden. Damit sage ich nicht, dass jeder Mensch Philosophie studie­ ren sollte, doch jeder Mensch sollte sehr wohl daran interes­ siert sein, sein eigenes Potential bestmöglich auszunutzen. Letzteres kann zum Beispiel durch die Lektüre philosophi­ https://doi.org/10.5771/9783495999233

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1. Was ist Philosophie?

scher Bücher und das Anhören entsprechender philosophi­ scher Podcasts unterstützt werden. Philosophen sind Athle­ ten des Denkens. Im Folgenden werde ich Ihnen einige dieser „Athle­ ten“ und eine Auswahl der bedeutendsten philosophischen Fragen vorstellen. Die aktive Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen philosophischen Themen wird Sie als Le­ ser/In hoffentlich in die Lage versetzen, besser zu verstehen, was wir Philosophen eigentlich tun und warum unsere Ar­ beit gesellschaftlich so bedeutsam ist. Nur eine aufgeklär­ te Gesellschaft ist eine starke Gesellschaft, die sich erfolg­ reich gegen jedwede soziale Widrigkeiten und extremisti­ sche Tendenzen zur Wehr setzen kann.

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2. Bemerkungen zur Geschichte der Philosophie Die Geschichte der Philosophie lässt sich grob in vier große Perioden einteilen, die man wiederum weiter unterteilen kann. 1. 2. 3. 4.

Antike (600 v. Chr.–500 n. Chr.) Mittelalter (500–1500 n. Chr.) Frühe Neuzeit (1500–1800 n. Chr.) Moderne (1800–2000 n. Chr.)

2.1. Antike (600 v. Chr.–500 n. Chr.) Die antike Philosophie wird üblicherweise in vier Abschnitte eingeteilt: Die Vorsokratik, die klassische Periode, der Hel­ lenismus und die Spätantike. Nahezu alle philosophischen Schriften aus der Antike wurden von den Fanatikern des frühen Christentums vernichtet, da die eigenständigen phi­ losophischen Lehren in der Regel nicht mit den Lehren des Christentums in Einklang standen. Heutzutage geht man davon aus, dass weniger als 5–10% aller philosophischen Schriften aus dieser Zeit überdauert haben.

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2. Bemerkungen zur Geschichte der Philosophie

Vorsokratik Die Vorsokratik (600–500 v. Chr.) steht am Anfang der westlichen Philosophie und geht auf den Namen von Sokra­ tes (469–399 v. Chr.) zurück, dem Vater der klassischen Philosophie. Er hat keine Schriften hinterlassen. Die Vorso­ kratik bezeichnet die Zeit vor Sokrates und ist maßgeblich durch das Interesse der Philosophen an der Naturphiloso­ phie bestimmt. Aus dieser Zeit gibt es lediglich einige weni­ ge schriftliche Fragmente (häufig nur Sentenzen), doch der Rest ist unwiederbringlich verloren gegangen. Die Naturphilosophie setzt sich zum einen mit dem Anfang der Welt und ihren Entstehungsbedingungen aus­ einander (insbesondere auch Metaphysik) und versucht zum anderen, die Bewegungen der Himmelskörper zu erklären. Damit bedeutet die Naturphilosophie eine Abkehr von den religiös geprägten Erklärungsversuchen der antiken Götter­ welt, die durch Homer (geb. um 750 v. Chr.) und Hesiod (um 750–650 v. Chr.) Einlass in das griechische Denken gefunden haben. Die wichtigsten Protagonisten dieser Periode sind Tha­ les (624–546 v. Chr.), der als der Begründer der Philosophie gilt und annimmt, dass das Wasser der Urstoff aller Dinge ist. Anaximander (610–547 v. Chr.) denkt, dass das Unbe­ stimmte (Apeiron) – also der Äther – den Ursprung aller Dinge markiert. Anaximenes (585–528/4 v. Chr.) glaubt, dass der Ursprung aller Dinge Luft ist. Thales, Anaximander und Anaximenes gehören der ältesten Gruppe der Natur­ philosophen an, die in Ionien lebten, welches an der West­ küste Kleinasiens liegt (heutzutage die türkische Küste vor der Insel Samos). Sie sind die Begründer der ionischen Na­ turphilosophie.

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2.1. Antike (600 v. Chr.–500 n. Chr.)

Empedokles (495–435 v. Chr.) sieht die vier Elemente – Feuer, Wasser, Erde und Luft – als ursächlich an. Leu­ kipp (5. Jahrhundert) und sein Schüler Demokrit (460– 371 v. Chr.) gehen – ganz modern – davon aus, dass der Ursprung aller Dinge in den Atomen, also den kleinsten Teil­ chen, liegt. Der Naturphilosoph und bedeutende Mathema­ tiker Pythagoras (570–510 v. Chr.) und der in Rätseln spre­ chende Heraklit (520–460 v. Chr.), den Sokrates für einen tiefen Denker hielt, stehen am Ende der vorsokratischen Naturphilosophie. Heraklit wird häufig als Vater des Mate­ rialismus bezeichnet, da er einer der ersten war, der davon ausging, dass sich alles verändert und nichts unveränderlich ist. Damit gilt Heraklit als Gegenspieler von Parmenides (515–unbekannt v. Chr.), der nicht nur der Begründer der Metaphysik ist, sondern ebenfalls als Begründer des Idealis­ mus gilt. Er nahm als einer der ersten an, dass die Wirklich­ keit unveränderlich ist. Platon hat Parmenides sogar einen Dialog gewidmet, in dem Platon seine eigene Ideenlehre überarbeitet. Gleichwohl der Ursprung der Sophisten (Weisheitsleh­ rer) in der Vorsokratik liegt (um 450 v. Chr.), liegt ihr Inter­ esse nicht im Bereich der Naturphilosophie. Die Sophisten sind hauptsächlich an ethischen und politischen sowie an sprachphilosophischen Fragen interessiert. Die bedeutends­ ten Sophisten waren Gorgias (490–411 v. Chr.), Protagoras (490/85–396 v. Chr.) und Prodikos (470/60–399 v. Chr.). Die Sophisten waren in der Regel Wanderlehrer, die um­ herzogen und ihre Dienste gegen Geld (was damals eher unüblich war) anboten. Sie unterrichteten die Kinder der po­ litischen Elite und nahmen damit einen erheblichen Einfluss auf ihre Erziehung, einschließlich ihrer Skepsis gegenüber der Religion, was in diesen Zeiten nicht ungefährlich war und mit dem Tod oder Verbannung bestraft werden konnte. Die Sophisten waren Relativisten und lehnten die Existenz https://doi.org/10.5771/9783495999233

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2. Bemerkungen zur Geschichte der Philosophie

einer objektiven Wahrheit – und damit auch die Existenz Gottes – ab.

Klassische Periode Die klassische Periode der antiken Philosophie (um 450– 320 v. Chr.) geht auf die ungeheure Wirkmächtigkeit drei­ er Personen in Athen zurück, die man mit Recht als die bedeutendsten Philosophen ansehen kann. Sokrates (469– 399 v. Chr.), Platon (428–348 v. Chr.) und Aristoteles (384–322 v. Chr.) sind die Giganten des Denkens. Ohne sie wäre die Philosophie nicht das, was sie heute ist. Die Tiefe und Breite Ihres Denkens kann nicht überschätzt wer­ den. Auch wenn nur einige Werke von Platon (nur Dialo­ ge) und Aristoteles (nur Prosatexte) erhalten geblieben sind, bleibt zu konstatieren, dass insgesamt lediglich eine sehr überschaubare Zahl philosophischer Publikationen aus der klassischen Periode – weniger als 3 % aller Texte – auf uns gekommen sind.1 Sokrates war der Lehrer von Platon und dieser der Leh­ rer von Aristoteles. Sokrates war zunächst ausschließlich an naturphilosophischen Themen interessiert, was sich jedoch mit der Zeit ändern sollte. Sein späterer Fokus lag eindeutig auf ethischen und politischen Themen. Er selbst hat nichts Schriftliches hinterlassen, doch seine Lehren sind vor allem vermittels seiner beiden Schüler Platon (vor allem in den frühen und mittleren Dialogen) und Xenophon (430/25– 354 v. Chr.) tradiert worden. Sokrates galt als Gegenspieler der Sophisten, deren Lehren er ablehnte.

1 Von Aristoteles sind ca. 20% aller Texte überliefert.

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2.1. Antike (600 v. Chr.–500 n. Chr.)

Platon, der Meisterschüler von Sokrates, griff die Sokra­ tischen Lehren auf und hatte diese weiterentwickelt. Platons Interesse galt der gesamten Breite der Philosophie. Diesbe­ züglich war er nicht nur thematisch sehr viel breiter aufge­ stellt als Sokrates, sondern hat in seiner philosophischen Tätigkeit derart tief „gebohrt“, dass er mit Recht (neben Aris­ toteles) der bedeutendste Philosoph aller Zeiten wurde. Sein Hauptwerk ist die Politeia (Der Staat), das nicht nur politi­ sche, ethische und erkenntnistheoretische Themen enthält, sondern ebenfalls unschätzbare metaphysische und pädago­ gische Einsichten beinhaltet. Damit ist es vermutlich das bedeutendste Werk der Philosophie. Darüber hinaus hat Platon die erste akademische Ein­ richtung, die Akademie (am Hain des Helden Akademos in Athen gelegen), um 387 v. Chr. gegründet; sie gilt als Vorbild der späteren Universität. Auf Geheiß des römischen Kaisers Justinian I. wurde die Platonische Akademie, die fast durchgängig bestand, im Jahre 529 n. Chr. geschlossen. Platons Schüler Aristoteles stellt – so glauben nicht wenige Philosophen – seinen großen Lehrer noch in den Schatten. Während Aristoteles Platon zu Beginn noch in vielen Berei­ chen folgte, stellte sich jedoch schnell heraus, dass er dazu berufen war, eigene philosophische Wege zu gehen. Er hat nicht nur eine Reihe von neuen Disziplinen wie die der Logik in der Philosophie begründet, sondern ist auch der Vater der empirischen Naturwissenschaften. Seine brei­ te Forschungstätigkeit, tiefen Einsichten und sein genialer Verstand machen ihn mit Recht zum vermutlich größten Philosophen aller Zeiten. Seine ethische Schrift die Niko­ machische Ethik gilt als eines der wirkmächtigsten Werke der Philosophie. Wie Platon hat Aristoteles, nachdem er nicht zum Nachfolger der Platonischen Akademie bestimmt wurde, eine eigene Philosophenschule namens Peripatos (Wandelhalle) in Athen eröffnet. Dies muss ungefähr um https://doi.org/10.5771/9783495999233

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2. Bemerkungen zur Geschichte der Philosophie

335 v. Chr. gewesen sein, nachdem Aristoteles einige Jahre zuvor die Ausbildung von Alexander dem Großen (356– 323 v. Chr.) in Makedonien übernommen hatte.

Hellenismus Das philosophische Zeitalter des Hellenismus umfasst ca. 300 Jahre (von 336 bis 30 v. Chr.) und ist vor allem durch die kritische Auseinandersetzung zwischen den unterschied­ lichen Positionen der bedeutenden Philosophenschulen ge­ kennzeichnet. Neben Platons Akademie und Aristoteles Pe­ ripatos treten in der Folgezeit zumindest drei weitere ein­ flussreiche Schulen hinzu: Der Kynismus, der Epikureismus und die Stoa. Während dieser Zeit hat man unter anderem versucht, Antworten auf die beiden zentralen Fragen, was Glückseligkeit sei und wie man am besten ein glückseliges Leben führen könne, zu geben. Antisthenes von Athen (455–360 v. Chr.) war ein be­ deutender Sokratesschüler und der Begründer des Kynismus („eines hündischen Lebens“). Sein Schüler war der bekann­ te und schillernde Philosoph Diogenes von Sinope (400– 325 v. Chr.), der zeitweise sogar in einer Tonne in Athen lebte (damit verband er Theorie und Praxis). Die Kyniker predigten die absolute Bedürfnislosigkeit als oberstes Ziel und Maßstab für ein glückseliges Leben. Sie lehnten die materiellen Güter und die Abhängigkeit des Menschen von diesen ab. Darüber hinaus sahen sie die kulturellen und religiösen Riten kritisch, da sie überzeugte Kosmopoliten2 waren.

2 Menschen haben eine natürliche Zuneigung untereinander.

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2.1. Antike (600 v. Chr.–500 n. Chr.)

Der Epikureismus entwickelte sich aus dem Kyreanis­ mus, einer philosophischen Schule, dessen Mitglieder annah­ men, dass die Glückseligkeit einzig in der Befriedigung der körperlichen Lust besteht. Ihr Begründer war der von allen Philosophen geschätzte Aristipp von Kyrene (435– 356 v. Chr.). Epikur (341–270 v. Chr.), der Begründer des Epikureismus, glaubte hingegen, dass die Glückseligkeit nicht nur in der Befriedigung der körperlichen, sondern vor allem in der geistigen Lust liegt. Eine einfache Mahlzeit mit guten Freunden bei interessanten Gesprächen ist lustvoll. Ein Leben, das sich an der Lustbefriedigung orientiert, ist demnach glückselig. Der Epikureismus und der Kynismus vertreten entgegengesetzte Positionen. Die Stoa entwickelte sich unter anderem aus dem Kynis­ mus, grenzte sich allerdings später gegen diese Schule ab. Zenon von Kition (333–264 v. Chr.) gilt als der Begründer der Stoa und glaubt, dass die Glückseligkeit in einem Le­ ben gemäß der Natur besteht, wobei die Natur geordnet ist. Menschen können diese vernünftige Ordnung erkennen und ihre Leben danach ausrichten. Das glückselige Leben ist ein selbstgenügsames Leben. Das Ziel besteht darin, ein Leben zu führen, dass sich von den unterschiedlichen, teils starken Einflüssen der Gefühle wie Lust, Unlust, Begierde und Furcht befreien sollte. Die Menschen sollten sich nicht von ihren Gefühlen vereinnahmen und überwältigen lassen (ataraxia). Wie die Kyniker sind die Stoiker Kosmopoliten.

Spätantike Die Spätantike reicht vom Ende des Hellenismus um 30 v. Chr. bis ungefähr ins 5. Jahrhundert n. Chr. Die­ se (noch) philosophische Periode ist vor allem durch den

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2. Bemerkungen zur Geschichte der Philosophie

Neuplatonismus geprägt, der die Lehren Platons wieder auf­ greift und versucht, mit der christlichen Lehre in Einklang zu bringen. Der Begründer des Neuplatonismus ist Plotin (205–270), der in Rom eine Philosophenschule gründete und die Spätantike philosophisch gesehen dominierte und einen starken Einfluss auf Augustinus (354–430) hatte. Die anderen philosophischen Strömungen spielten in dieser Zeit keine bedeutende Rolle mehr. Der Neuplatonismus greift Platons Dualismus zwischen der Welt der Ideen (Ding an sich) und der sinnlichen Welt (Erscheinungen) auf und ent­ wickelt diese Position im Kontext der Bestimmung des Ver­ hältnisses von Einheit und Vielheit weiter. Was ist damit gemeint? Es gibt vier unterschiedliche Stufen: Das Eine – dem weder das Sein noch das Nichtsein zukommt – gilt als das oberste Prinzip und ist nicht weiter ausdifferenziert, son­ dern bildet den Gegensatz zur mannigfaltigen Vielheit. Im religiösen Kontext ist das Eine Gott. Der Nous emaniert – also strömt – aus dem Einen und bildet das höchste Sein. Plotin glaubt, dass die Ideen nur innerhalb des Nous (Geist) existieren. Der Nous befasst sich also nicht mit den Erschei­ nungen (sinnlichen Gegenständen), sondern ausschließlich mit Dingen aus der reinen Gedankenwelt (also den Ideen). Die Weltseele, die den Kosmos durchflutet, emaniert wiede­ rum aus dem Nous und bildet die unterste Stufe der reinen geistigen Welt. Sie ist also das vermittelnde Glied zwischen dem rein Geistigen und der sinnlichen Welt der Erscheinun­ gen. Die Weltseele lenkt – so die allgemeine Vorstellung – die sinnliche Welt, ohne dass diese auf sie zurückwirken kann. Die Sinnenwelt steht seinsmässig unter der Weltseele und ist der Ort der sich verändernden mannigfaltigen Viel­ heit, während alles Geistige hingegen ungeschaffen ist und unvergänglich bleibt.

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2.2. Mittelalter (500–1500)

Grundsätzlich bleibt zu konstatieren, dass die Vertre­ ter des Neuplatonismus eine Vermittlung platonischer Leh­ ren mit dem Christentum angestrebt haben, wobei die ur­ sprünglichen Vorstellungen Platons häufig neu interpretiert wurden. Wie die Schulen aus dem Zeitalter des Hellenis­ mus waren die Neuplatonisten in erster Linie nicht an einer einfachen Wissensvermittlung interessiert, sondern wollten ihre Anhänger dazu motivieren, sich einer bestimmten phi­ losophischen Lebensweise anzuschließen, um ein tugend­ haftes Leben führen zu können.

2.2. Mittelalter (500–1500) Die Philosophie des Mittelalters wird üblicherweise in zwei große Abschnitte eingeteilt: Die Patristik und die Scholastik. Sie reicht von ca. 500 bis 1500 n. Chr. und ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie ihre Eigenständigkeit ge­ genüber der Theologie und dem Christentum verloren hat. Die Philosophie im Mittelalter wird mit Recht „als Magd der Theologie“ bezeichnet und befindet sich fest in Händen der Theologen (vor allem männliche Kleriker). Eine von der Theologie befreite Philosophie gibt es im Mittelalter nicht. Erst am Ende des Mittelalters findet die Philosophie langsam wieder zu ihrer Eigenständigkeit zurück und leitet damit eine neue Phase des Denkens ein, die den Beginn der Renaissance einleitet.

Patristik und Scholastik Die Periode der Patristik, das Zeitalter der Kirchenväter und der Konsolidierung des Christentums (während dieser https://doi.org/10.5771/9783495999233

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2. Bemerkungen zur Geschichte der Philosophie

Zeit entstanden zum Beispiel das Glaubensbekenntnis und die Dogmatik), reicht ungefähr vom 2. bis zum 8. Jahrhun­ dert n. Chr. und überschneidet sich im Anfang mit der Spätantike. Diese Zeit ist vor allem dadurch geprägt, dass die Kirchenväter wie Hieronymus (347–420), Ambrosius (339–397), Augustinus (354–430) und Gregor der Große (540–604) den christlichen Glauben gegen Angriffe von außen (Heidentum) und innen (Häretiker) verteidigten. Sie waren die Apologeten – die Verteidiger des Glaubens. Da­ mit gaben die Kirchenväter dem Christentum ihre spezifi­ sche inhaltliche Ausrichtung. Die Scholastik war eine bestimmte Methode der Ar­ gumentation, die insbesondere nach der Patristik zum all­ gemeinen Standard in der wissenschaftlichen Auseinander­ setzung (im Diskurs) avancierte. Sie war der Namensgeber der Periode der Scholastik. Der Meister der Scholastik – und der scholastischen Methode – war der Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1224–1274), der zum bedeutendsten Theologen der Katholischen Kirche wurde. Die Methode der Scholastik geht auf die logischen Schriften von Aristoteles zurück bzw. sind von diesen inspi­ riert. Dabei geht es im Allgemeinen darum, dass die Pround Contraargumente einer These zunächst dargelegt wur­ den, um danach über die Richtigkeit der These entscheiden zu können. Wenn es zum Beispiel zu logischen Widersprü­ chen, begrifflichen Unklarheiten und Verstößen gegen Evi­ denzen3 kam oder die Dogmen der Kirchenlehre in Frage gestellt wurden, dann konnte die These notwendigerweise nicht richtig sein.

3 Aussagen, deren Gewissheit bereits feststand.

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2.2. Mittelalter (500–1500)

Bedeutende Theologen: Augustinus, Anselm und Thomas Die Philosophie des Mittelalters kennt zumindest drei be­ deutende Theologen, die aus der Masse herausstechen: Au­ gustinus (354–430), Anselm von Canterbury (1033–1109) und Thomas von Aquin (1224–1274). Augustinus war ein ungemein bedeutender Kirchenvater, der sich für die Syn­ these von Platon mit dem Christentum stark gemacht hat (Neuplatonismus). Neben seiner enormen theologischen Bedeutung sticht Augustinus insbesondere mit Blick auf zwei philosophische Themen heraus: Das Problem der Wil­ lensfreiheit (es gibt einen freien Willen) und die Lehre vom gerechten Krieg (als Verteidigungskrieg). Der bedeutende mittelalterliche Theologe und Bischof Anselm von Canterbury ist in der Philosophie vor allem we­ gen seiner Formulierung des ontologischen Gottesbeweises in seiner kleinen Schrift Proslogion auch einem größeren Le­ serkreis bekannt geworden (vgl. 6. Kapitel). Stark verkürzt, geht es darum, dass Gott notwendigerweise existieren muss, wenn man annimmt, dass es etwas gibt, dass existierend größer ist als etwas, das bloß gedacht werden kann. In der zeitgenössischen Religionsphilosophie gilt der ontologische Gottesbeweis nach wie vor als im hohen Maße bedeutsam (vgl. hierzu die religionsphilosophischen Arbeiten von Alvin C. Plantinga, geb. 1932). Vermutlich hat keiner die Lehren des Christentums so nachhaltig geprägt, wie Thomas von Aquin, der Vater des Christentums. Im Gegensatz zu Augustinus, der sich auf Platon beruft, bezieht sich Thomas von Aquin philosophisch gesehen fast ausschließlich auf Aristoteles. Das neuerliche Interesse und die Hinwendung zu Aristoteles, dessen Schrif­ ten im christlichen Abendland fast vollständig verschollen https://doi.org/10.5771/9783495999233

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2. Bemerkungen zur Geschichte der Philosophie

waren, wurden erst wieder durch Thomas von Aquin an­ gestoßen. Er sorgte dafür Sorge, dass viele Aristotelische Schriften wieder für den abendländischen Diskurs fruchtbar gemacht wurden. Das Hauptwerk von Thomas von Aquin ist die Summe der Theologie, das von vielen Theologen als das bedeutendste theologisch-philosophische Werk im Christentum angesehen wird. Thematisch umfasst das Werk eine Gotteslehre, eine Moral- und Tugendlehre (insbesonde­ re an Aristoteles orientiert), eine Christologie (also die Leh­ re von der Person und Bedeutung von Jesus Christus) sowie einen Teil über die heiligen Sakramente.

2.3. Frühe Neuzeit (1500–1800) Die Stellung und Bedeutung des Christentums im abendlän­ dischen Mittelalter waren enorm. Das gesamte sozial-poli­ tische und religiöse Leben war dadurch geprägt. Die Kreuz­ züge zur Rückeroberung von Jerusalem und des Heiligen Landes (11.–15. Jahrhundert n. Chr.), die einsetzende In­ quisition und die Verfolgung Andersgläubiger prägten das gesamte Spätmittelalter (Anfang des 13. Jahrhunderts) und weite Teile der Frühen Neuzeit nachhaltig. Die von Martin Luther (1483–1546) „unbeabsichtig­ te“ Kirchenspaltung in Protestantismus und Katholizismus markierte den Wendepunkt der Einheit des Christentums zu Beginn des 16. Jahrhunderts und sorgte dafür, dass Europa in der Folgezeit mit zahlreichen Bauern- und Religionskrie­ gen überzogen wurde (Reformation und Gegenreformation). Höhepunkt der Religionskriege war der 30­jährige Krieg (1618–1648), der vielen Menschen in Europa das Leben gekostet hat.

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2.3. Frühe Neuzeit (1500–1800)

Der von Johannes Gutenberg (1400–1468) entwickelte moderne Buchdruck im 15. Jahrhundert stieß eine Reihe von wichtigen Entwicklungslinien an, wie zum Beispiel den zunehmenden Demokratisierungsprozess (auf Grund des Zugangs von Informationen), die einsetzende Schriftkultur und die damit einhergehende Alphabetisierung weiter Teile der Bevölkerung und die allgemeine Zugänglichmachung von Wissen und der Wissensvermittlung. Mit anderen Wor­ ten: Es setzte eine echte Bildungsrevolution auf breiter Front ein, die es vorher im christlichen Europa so nicht gegeben hatte. Diese Entwicklungsprozesse kamen der Philosophie ent­ gegen, die sich in der Frühen Neuzeit von der Theologie wieder befreien konnte, gleichwohl es immer noch sehr gefährlich war, naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die ge­ gen die Lehren der Katholischen Kirche verstießen, publik zu machen (vgl. die traurigen Schicksale von Galileo Gali­ lei 1564–1641 und Giordano Bruno 1548–16004). Viele Philosophen waren zu dieser Zeit auch bedeutende Natur­ wissenschaftler. Die Etablierung der empirischen Naturwis­ senschaften wie die Astronomie und Physik gaben den An­ stoß dafür, dass sich das alte am Christentum orientierende Weltbild im Laufe der Zeit veränderte und sich eine moder­ ne auf empirischen Fakten beruhende Sichtweise (zumindest langfristig) durchsetzen konnte. Im Folgenden möchte ich auf einige philosophisch be­ deutende Diskurse aufmerksam machen, die die Debatten in 4 Während Galilei bewies, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Kosmos war und sich um die Sonne dreht (vgl. auch Nikolaus Kopernikus 1473–1543 n. Chr.), argumentierte Bruno dafür, dass das Universum unendlich und ewig sei. Beide wurden von der Katholischen Kirche als Ketzer verfolgt, wobei Bruno öffentlich hingerichtet wurde (er wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt). https://doi.org/10.5771/9783495999233

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2. Bemerkungen zur Geschichte der Philosophie

der Frühen Neuzeit besonders geprägt haben: Empirismus vs. Rationalismus; das Projekt der Aufklärung; Naturrechts­ diskurs und der Gesellschaftsvertrag.

Empirismus vs. Rationalismus Die Anhänger des Empirismus wie John Locke (1632– 1704), Gottfried W. Leibniz (1646–1716) und David Hume (1711–1776) glauben im Allgemeinen, dass alle Erkennt­ nisse primär auf Sinneserfahrungen basieren. Dies stellt sie in die Tradition von Aristoteles, der ein Vorläufer des Empi­ rismus war. Die Anhänger des Rationalismus wie René Des­ cartes (1596–1650) und Baruch de Spinoza (1632–1677) halten dagegen und argumentieren dafür, dass allein der menschliche Verstand die Hauptquelle unseres Wissens ist. Damit stehen jene Philosophen in der platonischen Traditi­ on. Beide Seiten eint jedoch der Gedanke, dass diese Frage nicht im Kontext der Theologie zu lösen ist, sondern philo­ sophische Expertise erforderlich macht. Die Lösung jenes Streits umfasst ebenfalls die philosophische Erörterung zen­ traler Begriffe wie Gewissheit, Wissen und Wahrheit sowie deren Beziehungsverhältnisse zueinander. Erst der berühm­ te deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) soll­ te eine vermittelnde Position in die Diskussion einbringen. Kant glaubt, dass der menschliche Verstand unhintergehba­ re Strukturen hat (Kategorien), die für unsere Erkenntnis wesentlich sind. Sinneseindrücke sind für den Erkenntnisge­ winn genauso notwendig, wie die Kategorien, die sie struk­ turieren (vgl. 4. Kapitel).

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2.3. Frühe Neuzeit (1500–1800)

Was ist Aufklärung? Neben John Locke und David Hume ist Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) ein wichtiger Philosoph der Aufklä­ rung. Der grundlegende Gedanke der Aufklärung besteht darin, nicht mehr nur bzw. ausschließlich auf die Lehren der Kirche – oder andere Autoritäten – zu hören und diese nicht zu hinterfragen, sondern „sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Kant 1784). Die vermutlich wichtigste Schrift der Aufklärung ist der berühmte Essay von Kant Was ist Aufklärung? (1784), wo er folgendes schreibt: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist die­ se Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?, 1784

Was heutzutage selbstverständlich klingt, schlug damals sprichwörtlich wie eine „Bombe“ ein. Die Vorstellung, dass sich die Natur des Menschen unter anderem darin auszeich­ net, dass man in erster Linie selbst denken muss und sich nicht unkritisch auf andere Stimmen wie die Kirche oder po­ litische Autoritäten verlassen sollte, ist im hohen Maße mo­ dern und revolutionär. Mit anderen Worten: Die Menschen sollen keine folgsamen Lämmer sein, sondern sie sollen den Mut haben, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich eigene Gedanken zu machen. Niemand kann, so

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2. Bemerkungen zur Geschichte der Philosophie

kann man Kant interpretieren, einem das eigene Leben zu leben abnehmen. Auch wenn Kant damit nicht meint, dass die Menschen anfangen sollten, sich selbst zu regieren und den Preussi­ schen Staat abzuschaffen, erscheint das Grundmotiv der Aufklärung im hohen Maße revolutionär, da es die Eigen­ ständigkeit des Individuums vor anderen Autoritäten recht­ fertigt. Und tatsächlich kann man feststellen, dass die abso­ lutistischen Herrscher in Europa und die Vormachtstellung der Katholischen Kirche im Zuge der Aufklärung an Bo­ den verlieren. In den nachfolgenden Jahrzehnten fingen die Menschen an, sich politisch und religiös immer stärker von der Obrigkeit zu emanzipieren. Dieser Prozess sollte jedoch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgeschlossen sein.

Naturrecht in der Frühen Neuzeit In der Frühen Neuzeit wurde das Thema Naturrecht vor allem von Hugo Grotius (1583–1645), Samuel Pufendorf (1632–1694), John Locke (1632–1704) und Christian Wolff (1679–1754) nachhaltig geprägt. Die Diskussion, ob es so etwas wie ein Naturrecht gibt, das dem positiven vom Men­ schen gemachten Recht vorgeordnet ist, reicht bis in die Antike zurück (vgl. Sophokles Antigone). Während zum Bei­ spiel die Sophisten und Epikur (Hauptlehrsätze, Nr. 33) die Existenz eines Naturrechts ablehnten, war Aristoteles davon überzeugt, dass es so etwas wie natürliche Rechte gab, die man von menschlichen Gesetzen unterscheiden müsste (Ni­ komachische Ethik, V 10). Zwei Zitate mögen dies belegen: Gerechtigkeit an sich hat es nie gegeben. Alles Recht beruhte vielmehr stets nur auf einer Übereinkunft zwi­ schen Menschen, die sich in jeweils verschieden großen

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2.3. Frühe Neuzeit (1500–1800)

Räumen zusammenschlossen und sich dahin einigten, dass keiner dem anderen Schaden zufügen oder von ihm erleiden soll. Epikur, Hauptlehrsätze, Nr. 33 Das Gerechte im politischen Sinn ist teils von Natur aus gegeben, teils durch das Recht gesetzt. Von Natur aus gerecht ist, was überall mit gleicher Kraft gilt und nicht davon abhängt, was die Menschen für richtig halten oder nicht. Durch Gesetz gegeben ist das, bei dem es ursprünglich nicht darauf ankommt, ob es so oder anders bestimmt ist. Aristoteles, Nikomachische Ethik, V 10

Während des christlichen Mittelalters wurde im Allgemei­ nen angenommen, dass es ein übergeordnetes göttliches Recht gab (zum Beispiel der Dekalog, Bibel), das dem menschlichen Recht vorausging. Der berühmte englische Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679) stellt sich als einer der ersten in der Frühen Neuzeit gegen diese traditionelle religiöse Sichtweise und argumentiert in seinem politischen Hauptwerk Leviathan (1651), dass es keine Rechte und Pflichten im Naturzustand gibt. Grotius, Pufendorf und Locke glauben hingegen, dass es ein übergeordnetes Recht im Naturzustand gibt und sich die Gesetze der Menschen daran bemessen lassen müssen. Nach Locke ist eine Regierung nur dann legitim, wenn sie (a.) die Zustimmung ihrer Bürger hat und (b.) das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und das Recht auf Eigentum achtet und schützt (vgl. Locke, Über die Regierung, 1689). Dies sind die drei fundamentalen und unveräußerlichen Grundrechte der Menschen. Die Menschen, so Locke, haben ein Recht auf Widerstand, wenn der Staat diese Naturrechte nicht beachtet oder gar verletzt. Grundsätzlich bleibt zu konstatieren, dass der Natur­ rechtsdiskurs in der Frühen Neuzeit wichtige Impulse mit https://doi.org/10.5771/9783495999233

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2. Bemerkungen zur Geschichte der Philosophie

Blick auf die Frage des Völkerrechts und der Philosophie der Menschenrechte geliefert hat.

Von den Utopisten zu den Theoretikern des Gesellschaftsvertrags Die Übergangszeit vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit (15. und 16. Jahrhundert) wird üblicherweise auch als Renais­ sance – Wiedergeburt der Antike – bezeichnet. Unter ande­ rem ist die politische Philosophie in dieser Zeit insbesonde­ re durch das Aufkommen utopistischer Literatur bekannt ge­ worden. Thomas Morus (1478–1535) hat mit seinem Buch Utopia (1516) und Tommaso Campanella (1568–1639) mit Der Sonnenstaat (1602) eine neue Art des utopischen Den­ kens auf den Weg gebracht. In beiden Werken entwickeln sie je unterschiedliche Staaten, deren Konzeptionen im ho­ hen Maße modern und zukunftsorientiert waren. Morus entwarf eine Art kommunistischen Staat, in dem das Individuum sich der Gemeinschaft unterordnen musste, religiöse Toleranz praktiziert wurde und Grund und Boden Gemeinschaftsbesitz war. Campanella ging jedoch davon aus, dass der ideale Staat eine Mischung aus Monarchie und Platons Philosophenstaat ist, in dem es kein Privateigentum gibt und eher der Katholizismus vorherrscht. Diese Art der politischen Philosophie wurde durch drei große Staatsentwürfe von Thomas Hobbes mit seinem Werk Leviathan (1651), John Lockes Zwei Abhandlungen über die Regierung (1689) und Jean-Jacques Rousseaus Vom Gesell­ schaftsvertrag oder den Prinzipien des Staatsrechtes (1762) abgelöst. Alle drei Bücher gehören zu den einflussreichsten Werken, was die politische Philosophie zu bieten hat, und zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie jeweils

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2.3. Frühe Neuzeit (1500–1800)

unterschiedliche Formulierungen des Gesellschaftsvertrags umfassen. Ohne Zweifel markieren sie den Beginn der Mo­ derne. Während Hobbes einen autoritären Staat favorisiert, der von einem machtvollen Souverän regiert wird, gilt Lo­ ckes politischer Vorschlag als Gründungsdokument eines liberalen demokratischen Staates (sein Werk beeinflusste die amerikanische und französische Verfassung). Rousseaus Entwurf wird ebenfalls als wegweisend für die moderne De­ mokratietheorie angesehen. Er argumentiert dafür, dass das Gesamt politischer Macht auf dem allgemeinen Willen be­ ruht, der stets auf das Gemeinwohl gerichtet ist und keiner religiösen Rechtfertigung bedarf. Die Gemeinsamkeit der drei Entwürfe besteht in der zentralen Figur des sogenannten Gesellschaftsvertrags. Doch was ist genau damit gemeint? Welche Rolle und Funk­ tion übernimmt er im Kontext der Genese eines Staates bzw. einer staatlichen Gemeinschaft? In der Theorie des Ge­ sellschaftsvertrags wird der Staat künstlich von Menschen geschaffen und lässt sich eben nicht auf Gott oder die Natur zurückführen. Der Staat wird also mit dem Ziel geschaffen, im Interesse aller Menschen zu agieren, wobei die absolute Freiheit der Menschen (so wie sie im Naturzustand herrscht) begrenzt und ihnen im Austausch dafür Schutz gewährt wird. Damit bietet der Gesellschaftsvertrag eine nachvoll­ ziehbare Konzeption politischer Legitimität und moralischer Normativität an, indem er ein klares Kriterium für die Un­ terscheidung zwischen einer rechtmäßigen moralisch-politi­ schen Ordnung und einer Zwangsherrschaft liefert. Die folgende kurze Darstellung des Gesellschaftsver­ trags findet sich im Kern, mit spezifischen Abweichungen, in den drei Werken wieder: Die Menschen leben zu Beginn in einem Naturzustand, der im Allgemeinen als ein krie­ gerischer Zustand angesehen wird („der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“), indem es keinerlei Rechte und Pflich­ https://doi.org/10.5771/9783495999233

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2. Bemerkungen zur Geschichte der Philosophie

ten gibt, und das Leben dadurch sehr beschwerlich macht (Hobbes). Eine Gegenposition nimmt Rousseau ein, der eher ein positives Menschenbild im Naturzustand vertritt, und glaubt, dass erst die soziale Gemeinschaft, das Indivi­ duum korrumpiert. Locke sieht den Naturzustand ebenfalls eher kritisch, nimmt aber an, dass es im Naturzustand eben­ falls Naturrechte (Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum) gibt, die unveräußerlich sind. Nach der Theorie des Gesellschaftsvertrags wollen die Menschen dem unsicheren Naturzustand entfliehen und kommen alle gemeinsam darin überein, einen Gesellschafts­ vertrag abzuschließen (hier müssen alle zustimmen), um einen legitimen Staat zu gründen. Nach der Staatsgründung, so die Vorstellung, wird eine spezifische Regierungsform (zum Beispiel, Monarchie, Demokratie oder Aristokratie) über einen Mehrheitsbeschluss bestimmt, so dass sich der Souverän konstituieren kann. Die allgemeine Vorstellung, dass sich die Legitimität des Staates nicht auf Gott berufen kann, war ein wirklich revolutionärer Gedanke für die damalige Zeit. Hobbes und Locke veröffentlichten ihre Staatskonzeptionen zunächst an­ onym, weil sie Verfolgung und Repressalien befürchteten. Rousseaus Werk wurde gleich nach der Veröffentlichung verboten und als „ketzerisch“ gebrandmarkt. Die prakti­ schen Folgen der staatsphilosophischen Gedanken der Auf­ klärungszeit waren enorm, wie man in der Folgezeit am Ende des 18. Jahrhunderts (amerikanische und französische Verfassungen) und im Verlauf des 19. Jahrhunderts deut­ lich erkennen konnte (allmähliche Ablösung der absoluten Monarchien durch parlamentarisch regierte Staaten). Ein neues Zeitalter, die Moderne, war angebrochen.

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2.4. Moderne (um 1750–2000)

2.4. Moderne (um 1750–2000) Die Philosophie in der Moderne ist insbesondere dadurch ge­ kennzeichnet, dass die Themen und die Anzahl der philoso­ phischen Publikationen so stark zugenommen haben, dass es im Grunde genommen unmöglich geworden ist, mit allen Veränderungen in den unterschiedlichen philosophischen Bereichen Schritt zu halten. In diesem Abschnitt werde ich lediglich auf einige wichtige Linien im 18. und 19. Jahrhun­ dert, sowie im 20. Jahrhundert und der Gegenwart Bezug nehmen, die das Zeitalter der modernen Philosophie beson­ ders geprägt haben, ohne jedoch den Anspruch auf Vollstän­ digkeit zu erheben.

18. und 19. Jahrhundert Am Ende der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnt der sogenannte Deutsche Idealismus, der auch als die Epoche der klassischen Deutschen Philosophie bekannt geworden ist und eine enorme philosophiegeschichtliche Bedeutung erlangt hat. Er endet ungefähr Mitte des 19. Jahrhunderts, wobei mit dem Tod von Hegel im Jahre 1831 die Gegenbe­ wegung der Idealismuskritik einsetzt. Die Hauptautoren des Deutschen Idealismus sind Immanuel Kant (1724–1804), Johann G. Fichte (1762–1814), Friedrich D. Schleiermacher (1768–1834), Georg W. Hegel (1770–1831) und Friedrich W. Schelling (1775–1854). Ihre nicht minder berühmten Kritiker sind Ludwig Feuerbach (1804–1872), Karl Marx (1818–1883), Sören Kierkegaard (1813–1855) und Arthur Schopenhauer (1788–1860). Ein Hauptmerkmal des Deutschen Idealismus bezieht sich unter anderem auf das erkenntnistheoretisch-ontologi­ https://doi.org/10.5771/9783495999233

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sche Grundproblem der Philosophie mit Blick auf das Ver­ hältnis von Subjekt (Geist, Begriff, Denken etc.) und Objekt (Natur, Materie, Welt etc.). Doch was heißt das eigentlich? Bereits seit der Antike wird der Frage nachgegangen, wie man das Verhältnis von Ideen und Erscheinungen fassen muss und welchen ontologischen – d.h. seinsmäßigen – Status beiden Existenzweisen zukommt. Diesbezüglich gibt es zumindest drei Hauptvarianten, die man voneinander un­ terscheiden kann: 1. Die eigene Position – entweder der Idealismus oder der Materialismus – wird als richtig angesehen, wobei die Gegenposition als fehlerhaft bezeichnet wird (Fichte). 2. Beide Positionen sind (a.) entweder gleichwertig bzw. parallel geordnet oder (b.) zwei mögliche Erscheinungs­ weisen ein und derselben Substanz (Spinoza). 3. Der Gegensatz zwischen Idealismus und Materialismus wird zum Beispiel im Absoluten vollständig aufgehoben gedacht (Platon, Hegel). Ein weiteres Hauptmerkmal des Deutschen Idealismus be­ steht darin, dass die Vertreter in vereinheitlichenden Syste­ men denken und damit versuchen, das gesamte Wissen der Welt auf wissenschaftliche Weise zu durchdringen, mitein­ ander in Beziehung zu setzen und zu erklären. Ihre Ausar­ beitungen sind jedoch zumeist sehr komplex und kompakt und damit leider nicht immer wirklich verständlich (dies trifft insbesondere auf Hegel zu). Ein letztes Hauptmerk­ mal des Deutschen Idealismus bezieht sich auf das Projekt, das menschliche Handeln zu begründen und aus Vernunft­ prinzipien in deduktiver Weise – also vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitend – abzuleiten. Dies gilt ins­ besondere für Kants Versuch das Sittengesetz als moralisch bestimmend auszuweisen. Die Kritiker des Idealismus wie Kierkegaard und Schopenhauer nehmen beispielsweise an, 30

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dass das konkrete Subjekt als Grundlage des Denkens nicht gegenüber einer abstrakt-allgemeinen Perspektive aufgege­ ben werden darf (Kierkegaard) und der Welt kein Vernunft­ prinzip zu Grunde liegt (Schopenhauer). Die Utopisten wie Morus und Campanella hatten be­ reits in der Übergangszeit vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit sozialistische Vorstellungen in ihren Schriften arti­ kuliert. Diese geistige Strömung wurde nun um die Mit­ te des 19. Jahrhunderts von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895), den Begründern des Marxis­ mus, weiterentwickelt und dann zu einer politischen Theorie und sozialistischen Bewegung ausgebaut. Der Marxismus übt ebenfalls eine scharfe Idealismuskritik, indem postuliert wird, dass nicht das Bewusstsein das Sein (Hegel), sondern umgekehrt das Sein das Bewusstsein bestimmen würde (Marx). Das von Marx und Engels publizierte Kommunisti­ sche Manifest (1848) gilt als das Gründungsdokument des Marxismus. Die Geschichte, so Marx, besteht in einem Klassen­ kampf zwischen den Eigentümern der Produktionsmittel (Bourgeoisie) und den Besitzlosen (Proletariat). Das Prole­ tariat hat die historische Aufgabe, den Kommunismus zum Sieg zu verhelfen und eine sozialistische klassenlose Gesell­ schaft, in der alle Menschen gleich sind, zu etablieren. Den Marxisten kam es weniger darauf an, die soziale Frage zu lösen und den Pauperismus (starke Armut) zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa zu bekämpfen; vielmehr ging es darum, den notwendigen „historischen Materialismus“ zu ermöglichen. Ohne Zweifel ist der Marxismus, der später im 20. Jahrhundert als Kommunismus eine erhebliche po­ litische Bedeutung erlangt, eine der wirkmächtigsten Strö­ mungen der Weltgeschichte. Das 18. und 19. Jahrhundert war auch mit Blick auf die Moralphilosophie eine überaus bedeutende Periode. In die­ https://doi.org/10.5771/9783495999233

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ser Zeit wurde nicht nur Kants Pflichtethik entwickelt, son­ dern auch der am Nutzen orientierte Utilitarismus von John Stuart Mill (1806–1873) weiter perfektioniert (vgl. das 5. Kapitel). Beide ethische Theorien gehören heutzutage, ne­ ben der Tugendethik, zu den Hauptrichtungen in der Moral­ philosophie. Während Kant die Begriffe der Autonomie und Rationalität als für die Ethik bestimmend ansieht, geht Mill jedoch davon aus, dass es in der Ethik eher darauf ankommt, das Leid zu vermeiden und die Lust anzustreben. Damit war der Utilitarismus in der Lage, unter anderem die moralische Frage der Tiere direkt in den Blick zu nehmen (was für die Kantische Ethik so nicht möglich war). Die utilitaristische Ethik hat viel für den Tierschutz und die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Tiere im 19. Jahrhundert geleistet und damit den Grundstein für den modernen Tier- und Um­ weltschutz im 20. Jahrhundert gelegt.

Die Philosophie im 20. Jahrhundert Die Philosophie des 20. Jahrhunderts wurde vor allem durch die enorme technische und naturwissenschaftliche Entwick­ lung mitgeprägt und hat insbesondere in denjenigen Teilge­ bieten der Philosophie, die sich unter anderem auch mit den neuen empirischen Erkenntnissen befassen (Bioethik, Philosophie der Technologie, Philosophie des Geistes, phi­ losophische Anthropologie, Philosophie der Willensfreiheit, Gender Studies etc.), eine Flut von Publikationen hervor­ gerufen. Darüber hinaus haben sich viele unterschiedliche neue philosophische Teildisziplinen entwickelt, die stark zur Diversifizierung der Philosophie beigetragen haben. Hinzu kommt, dass einzelne Themen in der Philosophie in unter­ schiedlichen Teildisziplinen verschieden diskutiert werden

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und es daher zunehmend schwieriger wird, alle Aspekte eines philosophischen Problems angemessen zu würdigen. Das Philosophieren ist in der Moderne komplizierter gewor­ den, da die Fülle der relevanten Erkenntnisse erheblich zu­ genommen hat. Einerseits führte dies mit Blick auf die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse (vor allem in der ana­ lytischen Philosophie) zu einer gewissen „Professionalisie­ rung“ des Faches; andererseits gab es jedoch Hinweise auf eine gewisse Krise der Philosophie in der Moderne. Worin liegt der genuine Unterschied zwischen den Human- und Naturwissenschaften? Was bedeutet Philosophie? Was ist der eigentliche Kern der Philosophie? Welche Rolle spielen empirische Daten mit Blick auf das Philosophieren und was macht das aus bzw. mit der Philosophie? Brauchen wir die Philosophie noch oder können die Naturwissenschaften al­ le wichtigen Fragen für uns beantworten bzw. besser beant­ worten als es die Philosophie kann? Im Folgenden möchte ich auf einige Schlüsselthemen des 20. Jahrhunderts in der Philosophie eingehen, ohne jedoch dabei den Anspruch zu erheben, alles zu erfassen, was in dieser Zeit philosophisch gesehen wichtig war. Fol­ gende Themen sollen diesbezüglich vorgestellt werden: Der Unterschied zwischen der analytischen Philosophie und der Kontinentalphilosophie, Ethik und angewandte Ethik, phi­ losophische Anthropologie, politische Philosophie und Wis­ senschaftstheorie.

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Analytische Philosophie und Kontinentalphilosophie In der Philosophie des 20. Jahrhunderts hat sich kein Topos so hartnäckig gehalten, wie der Unterschied zwischen der analytischen Philosophie auf der einen Seite und der Konti­ nentalphilosophie auf der anderen Seite. Diese Unterschei­ dung war (und ist) so grundlegend, dass sie sich durch die gesamten Gebiete der Philosophie zieht. Viele Autoren der jeweiligen Position glaub(t)en, dass sich ihre Art zu philoso­ phieren, so fundamental von der Gegenseite unterscheidet (und zwar im positiven Sinne), dass ein gemeinsamer Dis­ kurs unmöglich ist. Worin liegt eigentlich der Unterschied zwischen der analytischen Philosophie und der Kontinentalphilosophie? Die Begründer der analytischen Tradition der Philosophie sind Gottlob Frege (1848–1925), Bertrand Russell (1872– 1970), George E. Moore (1873–1958) und Ludwig Witt­ genstein (1889–1951). Die Philosophen der analytischen Tradition waren insbesondere darauf bedacht, eine klare und begrifflich möglichst eindeutige Ausdrucksweise zu ver­ wenden, die betont sachlich ist und sich an der Klärung von Begriffen orientiert, um so ein strenges Argumentie­ ren zu gewährleisten. Die von ihnen entwickelte Sprachphi­ losophie bot den Autoren die Möglichkeit, die Probleme neu zu betrachten und aufzulösen. Es bleibt jedoch zu kon­ statieren, dass es zumindest zwei unterschiedliche Zweige in der Sprachphilosophie gab: Die Vertreter einer Idealspra­ che (Klarheit als Exaktheit) und diejenigen der Alltagsspra­ che (Klarheit als kontextuelle Genauigkeit). Grundsätzlich galt (zumindest in den Anfängen der analytischen Philoso­ phie), dass alle Probleme durch den richtigen Gebrauch der Sprache zum Verschwinden gebracht werden können.

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Inhaltlich sah sich die analytische Philosophie üblicherwei­ se an folgende Aspekte gebunden: Ablehnung von Metaphy­ sik, Betonung der Bedeutung von Sprache (Sprach- und Bedeutungsanalyse), Betonung der Wichtigkeit der Natur­ wissenschaften und die Verwendung formaler Logiken. Vor diesem Hintergrund haben die analytischen Philosophen die Themen der Philosophie diskutiert, ohne sich dabei auf be­ stimmte Gebiete zu beschränken. Die Kontinentalphilosophie ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche philosophische Schulen und umfasst zum Beispiel die Phänomenologie (Edmund Husserl 1859– 1938), die Existenzphilosophie (Martin Heidegger 1889– 1976, Karl Jaspers 1883–1969, Jean-Paul Sartre 1905– 1980), die Hermeneutik (Hans-Georg Gadamer 1900– 2002) und die Frankfurter Schule (Max Horkheimer 1895– 1973, Theodor W. Adorno 1903–1969).5 Im Gegensatz zur analytischen Philosophie „verzichtet“ die Kontinentalphilo­ sophie im Allgemeinen auf die Verwendung der Sprach- und Bedeutungsanalyse als Mittel um Probleme zu lösen (ein­ schließlich der Verwendung von formalen Logiken). Ein besonderes Kennzeichen ist der eher literarische Stil, der sich von der betont sachlichen Darstellung der Autoren aus der analytischen Tradition stark unterscheidet. Die Natur­ 5 In der Phänomenologie gehen die Autoren von den Erscheinun­ gen (Phänomenen) in der Natur und Gesellschaft aus und ver­ suchen diese, ohne Rückgriff auf Theorien (aus den Naturwissen­ schaften) zu beschreiben und einzuteilen. Die Existenzphilosophie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Existenz bzw. Daseinswei­ se des Menschen im weitesten Sinne zu erforschen. Die Herme­ neutik ist die Lehre von der Interpretation von Texten und des Verstehens von Sinnzusammenhängen. Die Frankfurter Schule befasst sich mit den Theorien von Hegel, Marx und Freud und der kritischen Analyse des Kapitalismus im Kontext einer positiven Auslegung des Marxismus. https://doi.org/10.5771/9783495999233

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wissenschaften spielen zwar ebenfalls eine wichtige Rolle, werden jedoch nicht in vergleichbarer Weise wie bei den Analytikern in Anschlag gebracht. Ein althergebrachter Vorwurf gegen die Autoren der Kontinentalphilosophie lautet, dass ihre Argumente teils weniger nachvollziehbar seien, da ihnen die logische Strin­ genz und Präzision fehlen würde. Dieser Einwand hat durchaus seine Berechtigung, wenn man sich einige Tex­ te einmal etwas genauer anschaut. Grundsätzlich muss man etwas mehr Aufwand betreiben, um die teils sehr ver­ schachtelten Argumentationsketten genau nachvollziehen zu können. Beispielhaft dafür sind Heidegger (Verwendung einer „eigenen“ Begrifflichkeit und Sprache) und Sartre (hier kommt es zu einer Verschränkung von Literatur und Philoso­ phie).

Ethik und Angewandte Ethik Die Ethik und Moralphilosophie haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts stark verändert. Während zu Beginn des Jahrhunderts der Einfluss der Sprachphilosophie auf die Ethik dominierte und man glaubte, durch die richtige Ver­ wendung von Begriffen, alle moralischen Probleme lösen zu können, veränderte sich diese Einstellung allmählich ab der Mitte des letzten Jahrhunderts. Die Ethik Kants und der Utilitarismus gewannen wieder an Bedeutung (nachdem andere Themen in der Philosophie im Vordergrund standen) und die antike Tugendethik wurde wieder in den Kanon der Philosophie aufgenommen, nachdem sie eine lange Zeit unbeachtet blieb. Die Rückbesinnung und Weiterentwicklung der tradi­ tionellen ethischen Theorien wird durch das Präfix „Neo“

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angedeutet, wenn man in der neueren Diskussion vom Neo­ Kantianismus (Christine Korsgaard 1996, Barbara Herman 1996) und Neo-Aristotelismus (Martha C. Nussbaum 1998, Alasdair MacIntyre 2006) spricht. Mit Blick auf den Utilita­ rismus gibt es bedeutende moderne Ansätze wie die von Ri­ chard Hare (1983) und Peter Singer (2013).6 Ferner kommt es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Wie­ derbelebung des Interesses an Fragen und Problemen der angewandten Ethik, nachdem man sich über Jahrhunderte hinweg nur den theoretischen Fragen der Begründung von Moral gewidmet hat. Die angewandte Ethik ist jedoch keine Erfindung der Neuzeit, sondern reicht bis in die Antike zu­ rück. Die akuten Probleme des letztes Jahrhunderts haben dafür gesorgt, dass die folgenden Themen stärker in den Blick genommen wurden: Die Erfindung der Atombombe, Erkenntnisse aus der Quantenphysik, die Social Rights Be­ wegungen wie der Kampf gegen die Benachteiligung der Schwarzen in den USA (Rassentrennung), die Bewegung der Schwulen und Lesben (heutzutage LGBTQIA+), die An­ erkennung der Rechte von Menschen mit Behinderung, die soziale und politische Gleichberechtigung von Frauen, me­ dizinethische Probleme (Abtreibung, Sterbehilfe etc.), aber auch bioethische Fragen bezüglich des Tierwohls und der Umwelt. Die oben genannten Themen führten dazu, dass man sich wieder stärker für die praxisorientierte Seite der Ethik 6 Christine Korsgaard, The Sources of Normativity (1996); Barba­ ra Herman, The Practice of Moral Judgment (1996); Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder das gute Leben (1998); Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend: Zur moralischen Krise der Gegenwart (2006); Richard M. Hare, Die Sprache der Moral (1983); Peter Singer, Praktische Ethik (2013). https://doi.org/10.5771/9783495999233

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interessierte, mit welcher man sich vorher weniger befasst hatte, da man sie im Allgemeinen als philosophisch gese­ hen wenig rühmlich ansah. Der sprachphilosophische Fokus in der Ethik – man kann alle Probleme durch die richtige Verwendung der Sprache zum Verschwinden bringen –, der insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor­ herrschte, wurde zugunsten einer anwendungsorientierten Ethik aufgegeben. Damit brach eine für den ethischen Dis­ kurs besonders rege Zeit an, die bis in die Gegenwart anhält und jedes Jahr eine erhebliche Flut an Publikationen hervor­ bringt.

Die philosophische Anthropologie Die Frage nach der Natur des Menschen ist so alt wie die Menschheit selbst. Was zeichnet uns Menschen vor allen anderen Lebewesen besonders aus? Die Ebenbildlich­ keit Gottes? Die Tatsache, dass wir um unsere eigene Sterb­ lichkeit wissen? Unsere Rationalität und Sprachfähigkeit? Historisch gesehen hat man versucht, die Frage nach der Natur des Menschen im Rahmen unterschiedlicher Diszipli­ nen zu beantworten: Die naturwissenschaftlich-biologische Perspektive (erforscht die körperliche Entwicklung und bio­ logische Natur des Menschen), die sozialwissenschaftliche Perspektive (erforscht das Verhalten der Menschen als Mit­ glieder sozialer Gruppen), die historische Perspektive (Re­ konstruktion der Abfolge kultureller Entwicklungen) und die geisteswissenschaftliche Perspektive (befasst sich mit Kunst, Folklore, mündlicher Überlieferung, Moral etc.). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es eine ungeheure Schaffenszeit mit Blick auf die philosophische Anthropologie gegeben, bei der der Mensch nicht mehr im Vergleich zu

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Gott, sondern zum Tier bestimmt wurde. Dies war nur vor dem Hintergrund der Etablierung der Naturwissenschaften in der Neuzeit und der Emanzipation der Philosophie von der Theologie seit dem 17. Jahrhundert möglich. Hinzu kam, dass der Cartesische Dualismus von Körper und Geist (Substanzdualismus) immer noch stark präsent war und es gerade im 20. Jahrhundert eine Auseinandersetzung der Philosophie mit den empirischen Wissenschaften gab (zum Beispiel im Kontext der Biologie und der Soziobiologie). Drei Autoren stehen insbesondere für die Blütezeit der philosophischen Anthropologie des letzten Jahrhunderts in Deutschland. Dies sind Max Scheler (1874–1928), Helmut Plessner (1892–1985) und Arnold Gehlen (1904–1976). Während Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) der vierstufigen organischen Natur das Konzept des Geistes entgegensetzt, wodurch sich der Mensch als über­ zeitliches Wesen insgesamt von der bloßen Natur abhebt; greift Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) das grundlegende Konzept der exzentrischen Positio­ nalität auf, nach dem sich der Mensch dadurch von den Pflanzen und Tieren unterscheidet, dass er das einzige Le­ bewesen ist, das über sein eigenes Leben reflektieren kann. Gehlen greift in Der Mensch, Seine Natur und seine Stel­ lung in der Welt (1940) den Begriff des Mängelwesens von Herder auf, der den Menschen – gegenüber den anderen Tieren – als ein biologisch Benachteiligter begreift. Durch die Schaffung der Kultur – als seiner zweiten Natur – ist der Mensch jedoch in der Lage, sich aus jener misslichen Situation erfolgreich zu befreien. Nachfolgende Autoren greifen in der Regel die eine oder andere Position auf und entwickeln auf dieser Grundlage unterschiedliche Akzentuierungen.

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Politische Philosophie Die politische Philosophie kam erst wieder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Fahrt, nachdem John Rawls (1921–2002), einer der bedeutendsten politischen Philoso­ phen des letzten Jahrhunderts, sein Hauptwerk A Theory of Justice (1971) veröffentlichte. Darin beschreibt Rawls, wie er sich einen gerechten egalitären und liberalen Staat vor­ stellt, indem die Menschen (a.) gleiche Grundfreiheiten ha­ ben und (b.) soziale und ökonomische Ungleichheiten an zwei grundlegende Bedingungen geknüpft sind: (i.) Chan­ cengleichheit der Menschen für alle Ämter und Positionen und (ii.) der größte Vorteil für die am wenigsten begünstig­ te soziale Gruppe. A Theory of Justice unterscheidet sich von früheren Werken der politischen Philosophie, die sich üblicherweise an der antiken Frage nach dem guten Leben orientieren (mit Ausnahme von Hobbes). Rawls argumen­ tiert für den Vorrang des Rechten vor dem Guten. Damit meint er, dass nicht alle Konzeptionen des (individuell) Gu­ ten, gerecht sind und damit Teil eines liberalen Staates sein sollten. Es kommt, so Rawls, darauf an, dass beides in einem harmonischen Einklang steht. Grundsätzlich kann man sagen, dass sich beinahe die gesamte politische Philosophie nach Rawls in kritischer An­ lehnung und Abgrenzung zu seinen Schriften entwickelt hat. Dies gilt insbesondere für die großen Werke der politischen Philosophie nach Rawls wie Robert Nozicks (1938–2002) libertärer Entwurf eines minimalistischen Staats in Anarchy, State, and Utopia (1974), oder Ronald Dworkins (1931– 2013) kritisches Buch gegen den Rechtspositivismus Taking Rights Seriously (1977), oder Michael Walzers (geb. 1935) kommunitaristische Position in Spheres of Justice. A Defense of Pluralism (1983). Damit meine ich jedoch nicht, dass den

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politischen Werken nach Rawls die Eigenständigkeit fehlen würde, sondern, dass „Rawls“ in jeweils unterschiedlicher Weise Eingang in die Überlegungen anderer Autoren gefun­ den hat. Dieser Trend hat sich erst in den letzten Jahren etwas verlangsamt, doch es bleibt zu konstatieren, dass sich nach wie vor viele politische Philosophen an Rawls „abarbei­ ten“.

Wissenschaftstheorie Neben den Erfolgen in der Logik und Erkenntnistheorie im 19. und 20. Jahrhundert hat sich insbesondere die Wissen­ schaftstheorie durch zwei bedeutende Philosophen nämlich Thomas S. Kuhn (1922–1996) und Karl R. Popper (1902– 1994) im letzten Jahrhundert stark weiterentwickelt. Der polnische Mikrobiologe und erkenntnistheoretisch interes­ sierte Autor Ludwik Fleck (1896–1961) hatte in seinem Hauptwerk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftli­ chen Tatsache (1935) zentrale Gedanken Kuhns bereits vor­ weggenommen. Im Vorwort seines Buches The Structure of Scientific Re­ volutions (1962), das als eines der bedeutendsten Werke der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie gilt, weist Kuhn zwar darauf hin, dass Fleck bereits einige wich­ tige Gedanken vorweggenommen hat. Es bleibt jedoch zu konstatieren, dass man diesen eher lakonischen Hinweis als unangemessen ansehen sollte, wenn man um die erhebliche Bedeutung von Fleck für Kuhns Werk weiß. Kennt man beide Bücher, dann weiß man, dass es Kuhns Werk ohne Fleck nicht gegeben hätte. Zentrale Gedanken, grundlegende Begriffe und die allgemeine Ausrichtung seiner Theorie sind mehr als nur von Fleck „inspiriert“. So finden sich Flecks

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zentrale Begriffe des Denkstils und des Denkkollektivs bei Kuhn als Paradigma und Normalwissenschaft wieder. Doch worin liegt eigentlich die Bedeutung beider Auto­ ren für die Wissenschaftstheorie? Beide Autoren vertreten die Ansicht, dass der Wechsel von einer traditionellen Theo­ rie (z.B. das geozentrische Weltbild) zu einer neuen Theorie (z.B. das heliozentrische/kopernikanische Weltbild) nicht im Rekurs auf eine logische Widerlegung erfolgt, sondern durch eine neue Scientific Community angestoßen wird, die sich um eine neue Theorie bildet. Mit anderen Worten: Der Wechsel des Denkstils (Paradigmenwechsel) erfolgt durch die Etablierung eines neuen Denkkollektivs, einer wissen­ schaftlichen Gemeinschaft, die das Paradigma akzeptiert. Erkenntnis, so Fleck, ist ein soziales Phänomen: Das Denkkollektiv wird „als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“ definiert und ist „Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstils“ (Fleck 1980: 54f.), wobei der Denkstil festhält, was eine angemes­ sene Methode, ein wissenschaftliches Problem oder eviden­ tes Urteil ist. In Flecks Worten kann man den zentralen Gedanken seiner Theorie wie folgt formulieren: Solche stilgemäße Auflösung, nur singular möglich, heißt Wahrheit. Sie ist nicht »relativ« oder gar »sub­ jektiv« im populären Sinne des Wortes. Sie ist immer oder fast immer, innerhalb eines Denkstils, vollständig determiniert. Man kann nie sagen, derselbe Gedanke sei für A wahr und für B falsch. Gehören A und B demselben Denkkollektiv an, dann ist der Gedanke für beide entweder wahr oder falsch. Gehören sie aber verschiedenen Denkkollektiven an, so ist es eben nicht

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derselbe Gedanke, da er für einen von ihnen unklar sein muß oder von ihm anders verstanden wird. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1980: 131

Das zweite große Ereignis in der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts geht auf die Forschung von Popper zurück, der nicht nur in der theoretischen, sondern auch der prak­ tischen Philosophie überaus erfolgreich gearbeitet hat. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts waren viele Autoren logi­ sche Empiristen und wollten die Philosophie auf eine em­ pirisch-naturwissenschaftliche Grundlage stellen, die sich insbesondere durch die analytische Sprachphilosophie und Logik auszeichnen sollte. In seinem wissenschaftstheoreti­ schen Hauptwerk Logik der Forschung (1934) weist Popper – gegen den logischen Empirismus gerichtet – darauf hin, dass die vornehmliche Aufgabe der Philosophie darin be­ stehen sollte, den allgemeinen Status von empirischen Beob­ achtungen, die im Rahmen der Induktion zu allgemeinen (Natur-)gesetzen führen, insgesamt kritisch zu hinterfragen. Zum Beispiel: Es wurden nur weiße Schwäne beobachtet. Auf der Grundlage dieser Beobachtung wird daraufhin gefol­ gert, dass ein Schwan notwendigerweise weiß ist (Induktion). Auch unsere sichersten Theorien, so Popper, können falsch sein (und in der Tat wurde die Theorie der nur-wei­ ßen Schwäne durch die Entdeckung schwarzer Schwäne in Australien widerlegt). Nach Popper, dem Begründer des kri­ tischen Rationalismus7, kann man im Rekurs auf die Induk­ tion niemals gesichertes Wissen bzw. Gewissheit erlangen (Induktionsproblem). Theorien müssen sich durch Falsifika­ tion bewähren, sie müssen also falsifizierbar sein. Man soll­

7 Die Vorstellung, dass man sich irren kann und stets offen für neue Erkenntnisse bleiben sollte. https://doi.org/10.5771/9783495999233

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te also nicht nur auf Verifikationen mit Blick auf bereits bewährte Theorien setzen, sondern gezielt nach Fehlern su­ chen.

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3. Teilgebiete der Philosophie Wie bereits im ersten Kapitel erwähnt, gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Disziplinen und Teildisziplinen in der Philosophie, die sich auf zumindest zwei verschiedene Be­ reiche aufteilen: Die theoretische und die praktische Philo­ sophie. Der zentrale Begriff der theoretischen Philosophie ist der des Wissens. Der zentrale Begriff der praktischen Philosophie ist der der Handlung. Damit ist nicht gemeint, dass sich alle Diskussionen ausschließlich mit diesen beiden Begriffen befassen, sondern lediglich, dass diese eine beson­ ders zentrale Rolle einnehmen. Im Laufe der Jahrhunderte – bzw. Jahrtausende – sind immer mehr Disziplinen und Teildisziplinen entstanden. Während es zu Beginn der Phi­ losophie in der klassischen Phase noch drei große Bereiche gab (die Physik bzw. Naturphilosophie, die Ethik und die Logik), sind es heutzutage einige Dutzend Disziplinen und Teildisziplinen. Die zunehmende Professionalisierung des Faches und die starke Fokussierung auf einzelne Themen führte dazu, dass sich im Laufe der Zeit mehr und mehr Bereiche und Subbereiche herausgebildet haben. Die theoretische Philosophie umfasst die folgenden Hauptdis­ ziplinen:

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Logik Erkenntnistheorie Wissenschaftstheorie Philosophie der Mathematik Sprachphilosophie https://doi.org/10.5771/9783495999233

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3. Teilgebiete der Philosophie

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Philosophie des Geistes Naturphilosophie Metaphysik Ontologie

Die praktische Philosophie beinhaltet die folgenden Haupt­ disziplinen: – – – – – – – – – –

Ethik Politische Philosophie Sozialphilosophie Rechtsphilosophie Religionsphilosophie Kulturphilosophie Philosophie der Technologie Ästhetik Geschichtsphilosophie Philosophische Anthropologie

Im Folgenden möchte ich jeweils drei Hauptdisziplinen aus der theoretischen und der praktischen Philosophie in knap­ per Weise darstellen, ohne dabei jedoch den Anspruch zu erheben, alles Wesentliche detailliert nachzuzeichnen. Viel­ mehr geht es darum, Ihnen einen ersten Eindruck zu vermit­ teln, worum es bei den Disziplinen im Allgemeinen geht.

3.1. Theoretische Philosophie Die folgenden drei Hauptdisziplinen der theoretischen Phi­ losophie sollen in den Blick genommen werden: Die Er­ kenntnistheorie, die Philosophie des Geistes und die Meta­ physik.

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3.1. Theoretische Philosophie

Erkenntnistheorie Die Erkenntnistheorie bzw. Epistemologie gehört zu den wichtigsten Disziplinen der Philosophie und blickt auf eine lange Tradition zurück, die bis in die Antike reicht. Sie ist die Lehre vom Wissen. Was kann ich wissen? Was ist Wahr­ heit? Wie hängen Wahrheit und Wissen zusammen? Auf welche Weise lässt sich unser Wissen begründen? Welchen erkenntnistheoretischen Status hat unsere Sinneswahrneh­ mung? Was ist mit unserem Verstand und dem Status von logischen und begrifflichen Wahrheiten? Diese und ähnliche Fragen sind Gegenstand der Erkenntnistheorie. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen empiri­ schem (a posteriori) und nicht-empirischem (a priori) Wis­ sen. Das empirische Wissen wird vermittels unserer Sin­ neswahrnehmung gewonnen; das nicht-empirische Wissen geht auf die Leistungen unseres Verstandes zurück und umfasst zum Beispiel logische und begriffliche Wahrheiten. Darüber hinaus glauben einige Philosophen, dass man alles Wissen im Rekurs auf unseren Verstand begründen kann (Rationalismus). Andere halten dagegen und argumentieren dafür, dass die Gesamtheit unseres Wissens nur vermittels unserer Sinne (Empirismus) begründet werden kann. Im Laufe der Jahrhunderte wurden beide erkenntnistheoreti­ sche Positionen in unterschiedlichen Varianten vertreten. Viele Erkenntnistheoretiker wollen wissen, welche Be­ dingungen gegeben sein müssen, um die Wahrheit einer Aussage bestimmen zu können. Mit anderen Worten: Wann wissen wir also, ob eine Aussage wahr oder falsch ist? Nach Platon besteht Wissen in einer gerechtfertigten und wah­ ren Meinung. Edmund Gettier (1927–2021) hat jedoch in einem kurzen aber überaus bedeutenden Beitrag Is Justified True Belief Knowledge? (1963) darauf hingewiesen, dass Pla­

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3. Teilgebiete der Philosophie

tons Bestimmung des Wissensbegriffs fehlerhaft ist und er­ weitert werden muss. In der Folgezeit setzte eine Jahrzehnte lang andauernde kritische Debatte ein, die die gesamte Er­ kenntnistheorie mit Blick auf den Wissensbegriff nachhaltig verändern sollte. Heutzutage nehmen die meisten Philosophen an, dass der traditionelle Wissensbegriff (gerechtfertigte, wahre Mei­ nung) durch die zusätzliche Bedingung abgesichert werden muss, dass es keine weiteren Aussagen geben darf (soge­ nannte „defeaters“), die die Begründung einer „gerechtfertig­ ten und wahren Meinung“ unterminiert. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, dass Sie auf dem Weg zur Arbeit an einer Kirchturmuhr vorbeikommen, die in der Vergangenheit nie falsch gelaufen ist und immer die richtige Uhrzeit angezeigt hat. Sie gucken auf die Uhr, die 12 Uhr anzeigt (was auch zufälligerweise stimmt), und Sie gehen davon aus, dass es auch wirklich 12 Uhr ist. Die Uhr ist jedoch tags zuvor genau um 12 Uhr stehen geblieben. Mit anderen Worten: Ihre Annahme, dass es 12 Uhr ist, ist nur zufälligerweise richtig, obwohl Sie eine gerechtfertigte und wahre Meinung davon haben, dass es 12 Uhr ist. Nach Gettier liegt aber kein echtes Wissen vor. Eine mögliche Lö­ sung besteht nun darin, dass man es zu einer notwendigen Bedingung macht, dass es keine weiteren Aussagen geben darf, die die Rechtfertigung – dass es wirklich 12 Uhr ist – (zufälligerweise) untergräbt. Ein weiteres wichtiges Problem in der Erkenntnistheo­ rie bezieht sich auf das sogenannte Begründungsproblem. Diesbezüglich wird versucht, die Beziehung zwischen dem Beobachter (also uns) und der Wirklichkeit zu beschrei­ ben. Wann ist also eine Aussage gerechtfertigt (und damit wahr)? Die Anhänger des Internalismus nehmen an, dass eine Aussage nur im Rekurs auf die mentalen Zustände einer Person gerechtfertigt werden kann. Damit sind unter 48

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3.1. Theoretische Philosophie

anderem folgende Aspekte einer Person gemeint: Ihre An­ nahmen über die Welt, ihre Sinneswahrnehmungen und ihre Vorstellungen davon, wie sich ihre unterschiedlichen Annahmen bzw. Aussagen (über die Welt) zueinander ver­ halten. Die Anhänger des Externalismus gehen davon aus, dass es notwendigerweise einen Bezug zur Außenwelt geben muss (im Gegensatz zum Internalismus), damit eine Aussa­ ge wirklich gerechtfertigt werden kann. Die Wahrheit einer Aussage kann nicht isoliert von der Welt bestimmt, sondern muss auf diese bezogen werden. Es braucht also, so die Exter­ nalisten, eine verlässliche äußere Quelle, die die Aussagen rechtfertigen kann. Der Skeptizismus geht im Allgemeinen davon aus, dass es unmöglich ist, sichere Erkenntnis vermittels unserer sinnlichen Wahrnehmung oder im Rekurs auf unseren Ver­ stand zu gewinnen. Diese Position, die im Laufe der Zeit in ganz unterschiedlichen Varianten vertreten worden ist (vgl. David Hume), geht über die Annahme des Fallibilismus, dass es keine Letztbegründung gibt und Irrtümer niemals ausgeschlossen werden können, hinaus. Die Skeptiker stel­ len die Erkenntnisfähigkeit des Menschen an sich grundsätz­ lich in Frage und gehen in der Regel davon aus, dass wir eben nicht wissen können, ob etwas wahr und gerechtfertigt ist. Die Erkenntnisse aus der Erkenntnistheorie haben einen erheblichen Einfluss auf die Debatten und Annahmen in den anderen Disziplinen oder Teilgebieten der Philoso­ phie, wenn es zum Beispiel darum geht, herauszufinden, ob bestimmte Annahmen gerechtfertigt werden können oder nicht. Ein Beispiel aus dem Bereich der Ethik: Wenn der Skeptizismus richtig ist, dann ist der moralische Realismus – es gibt moralische Tatsachen, die unabhängig vom Men­ schen existieren und die man bestimmen kann – falsch. Diesbezüglich müsste man also die Position des moralischen https://doi.org/10.5771/9783495999233

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3. Teilgebiete der Philosophie

Realismus aufgeben, wenn man davon überzeugt ist, dass der Skeptizismus richtig ist.

Philosophie des Geistes Die Philosophie des Geistes ist eine wichtige philosophische Disziplin, die sich mit der Natur mentaler bzw. geistiger Zustände beschäftigt und die Frage nach ihren Ursachen und Wirkungen in den Blick nimmt. Diesbezüglich ist das soge­ nannte Leib-Seele bzw. Körper-Geist Problem von zentraler Bedeutung (vgl. Kapitel 10). Grundsätzlich kann man sagen, dass die Philosophie des Geistes interdisziplinär aufgestellt ist und insbesondere die empirischen Naturwissenschaften (Physik, Biologie, Neurobiologie, Psychologie), aber auch die Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie in ihre Über­ legungen einbezieht. Im Folgenden möchte ich lediglich kurz auf die allgemeinen ontologischen und erkenntnistheo­ retischen Probleme der Philosophie des Geistes eingehen und dann später im 10. Kapitel die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist diskutieren. Wie hängen mentale (Geist, Bewusstsein, Seele) und physische (Materie, Körper) Zustände zusammen? Gehören beide Zustände jeweils einer Substanz an (Substanzdualis­ mus), sind sie besondere Eigenschaften einer einzigen mate­ riellen Substanz (Eigenschaftsdualismus) oder gibt es mögli­ cherweise nur das Geistige (Idealismus)? Diese Fragen ste­ hen im Mittelpunkt der Philosophie des Geistes. Gewöhnli­ cherweise wird das Körperliche dadurch charakterisiert, dass es (a.) ausgedehnt ist (also eine Raum-Zeit-Stelle einnimmt) und über (b.) eine Masse (die man zahlenmäßig erfassen kann) verfügt. Zum Beispiel: Ein Tisch ist eindeutig lokali­ sierbar, da er eine Raum-Zeit-Stelle hat (also über eine

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3.1. Theoretische Philosophie

Ausdehnung verfügt), und ein Gewicht bzw. Masse hat. Das Geistige zeichnet sich dadurch aus, dass es weder (a.) eine Ausdehnung hat, noch über (b.) eine Masse bzw. Gewicht verfügt. Zum Beispiel: Ein Gedanke hat weder eine raum­ zeitliche Ausdehnung, noch hat er ein messbares Gewicht. Wenn es jedoch zwei unterschiedliche Zustandsweisen geben sollte, dann müssen wir erklären, auf welche Weise diese miteinander interagieren können. Wie kann das Geisti­ ge auf das Körperliche einwirken und umgekehrt, wenn es nach der traditionellen Annahme keine Berührungspunkte beider Bereiche gibt? Im Laufe der Zeit haben sich eine Vielzahl von Lösungsansätzen herausgebildet. Im Folgenden möchte ich die drei Hauptvarianten – Materialismus (Monis­ mus), Dualismus und Idealismus (Monismus) – in groben Zügen darstellen, um Ihnen einen ersten Eindruck zu vermit­ teln, wie man versucht hat, das Problem der Interaktion im Allgemeinen aufzulösen. Die Anhänger des Materialismus gehen davon aus, dass es nur eine einzige Substanz gibt (materialistischer Monismus) und mentale Zustände zum Beispiel Beschrei­ bungen des menschlichen Verhaltens sind (Behaviourismus) oder bestimmten Gehirnzuständen entsprechen (Funktiona­ lismus). Die radikalste Form des Materialismus ist der soge­ nannte eliminative Materialismus, der von den Philosophen Patricia (geb. 1943) und Paul Churchland (geb. 1942) ver­ treten wird. Beide gehen davon aus, dass es mentale Zustän­ de einfachhin nicht wirklich gibt, sondern eine Erfindung der Alltagspsychologie sind. Die Anhänger des Materialismus haben jedoch Schwierigkeiten zu erklären, wie man sich (a.) die Existenz von qualitativen Wahrnehmungen (Qualia) wie Schmerzen erklären und (b.) das Problem der Intentionalität (d.h. die Gerichtetheit und Wahrheitsfähigkeit mentaler Zu­ stände) in einer rein materialistischen Welt lösen kann.

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3. Teilgebiete der Philosophie

Die Anhänger des Dualismus argumentieren dafür, dass es zwei unterschiedliche Zustandsweisen gibt, die miteinan­ der interagieren können. Während René Descartes (1596– 1650) und mit einiger Einschränkung Karl Popper8 (1902– 1994) davon ausgehen, dass das Körperliche und das Geis­ tige zwei unterschiedliche Substanzen sind (Substanzdualis­ mus), glaubt Gottfried W. Leibniz (1646–1716), dass die Materie und der Geist vermittels Gott in perfekter Synchro­ nisierung stehen (psychophysischer Parallelismus). Die Ver­ treter des Dualismus haben bis heute keine überzeugende Erklärung vorbringen können, wie und wo man sich die Interaktion zwischen Materie und Geist genau vorstellen muss. Die Anhänger des idealistischen Monismus gehen da­ von aus, dass es nur das Mentale bzw. Geistige gibt, und schließen in der extremen Variante auch die gesamte Exis­ tenz des Physischen aus. In diesem Zusammenhang hat zum Beispiel George Berkeley (1685–1753) dafür argumen­ tiert, dass unterschiedliche Menschen dieselben Eindrücke von äußeren Gegenständen haben können, da Gott dies durch sein kontinuierliches Eingreifen möglich macht. Die Plausibilität des Idealismus wird durch die empirischen Na­ turwissenschaften und ihren Erklärungsmustern in Frage gestellt. Darüber hinaus erscheint es ebenfalls wenig über­ zeugend, dass das Göttliche (wenn es das denn gibt) oder die Natur (wenn sie denn über Motive verfügen sollte) ein kontinuierliches Eingreifen notwendig erforderlich machen sollte. Abschließend bleibt zu konstatieren, dass die Philoso­ phie des Geistes insbesondere das Problem der Willensfrei­ 8 Streng genommen geht Popper von der sogenannten Drei-Welten­ Lehre aus, die eine Weiterentwicklung des klassischen Dualismus darstellt (vgl. Kapitel 10).

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3.1. Theoretische Philosophie

heit (Kapitel 9), das Leib-Seele Problem (Kapitel 10), aber auch die Frage nach der eigenen Identität in den Blick nimmt und das Fach vor allem während des 20. Jahrhun­ derts eine erhebliche philosophische Renaissance erfahren hat.

Metaphysik Die Metaphysik ist eine Hauptdisziplin der Philosophie, auch wenn sie heutzutage etwas weniger Beachtung findet und im Grunde genommen durch die Ontologie (allgemeine Metaphysik) abgelöst worden ist. Oftmals werden jedoch beide Begriffe auch synonym verwendet. Traditionellerwei­ se besteht die Metaphysik aus der allgemeinen Metaphy­ sik (Was ist die Natur des Seins?) und der speziellen Me­ taphysik, die wiederum die rationale Theologie (Gott als die höchste Ursache allen Seins), die rationale Psychologie (Was ist die Natur der menschlichen Seele?) und die ratio­ nale Kosmologie (Was ist die Natur der Welt?) umfasst. Der Begriff Metaphysik geht auf das Werk Metaphysik von Aristoteles zurück. Der Name des Buches stammt aller­ dings von Andronikos von Rhodos (1. Jahrhundert v. Chr.), der für die erste Ausgabe der aristotelischen Werke verant­ wortlich war und das Werk Metaphysik „hinter“ den phy­ sischen Schriften von Aristoteles eingeordnet hatte. Eine andere Lesart geht davon aus, dass das Werk Themen be­ handelt, die über die Physik „hinausgehen“ bzw. dasjenige behandeln, was „danach“ kommt. Die beiden grundlegenden Fragen in der Metaphysik sind: Was ist der Sinn und Zweck des Seins und der menschlichen Existenz (Sinnfrage)? Warum gibt es etwas und vielmehr nicht nichts (Seinsfrage)? Darüber hinaus ver­

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3. Teilgebiete der Philosophie

sucht man, Antworten auf die Fragen nach der ersten Ursa­ che, ihrer Natur und dem Wesen der ersten Prinzipien zu geben. Wie ist das Verhältnis vom Sein zum Seienden (Ein­ zeldingen)? Gibt es Kategorien des Seienden (hier versucht man eine umfassende Klassifizierung der existierenden Din­ ge vorzunehmen)? Was sind Universalien und in welchem Verhältnis stehen sie zu den Einzeldingen (Gibt es das All­ gemeine oder sind Allgemeinbegriffe lediglich Konstruktio­ nen des Menschen)? Die Naturphilosophen der Vorsokratik haben sich inten­ siv mit dem Wesen der Natur beschäftigt und wollten unter anderem herausfinden, was der Urgrund allen Seins ist und welche Prinzipien und Gesetzlichkeiten es gibt. In diesem Sinne waren die Naturphilosophen eben auch Metaphysiker. Zum Beispiel: Thales von Milet (624–546 v. Chr.) geht da­ von aus, dass das Wasser der Urstoff der Welt ist, während Demokrit (460–371 v. Chr.) die These vertrat, dass die Welt aus Atomen besteht. Die Annahme, dass die Ideen über mehr Realität verfügen als die Einzeldinge ist von Platon (428–348 v. Chr.) vertreten (Idealismus) und von seinem Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.) vehement bestritten worden. Nach Aristoteles liegt das Wesen der Dinge in ihnen selbst (damit ist er ein Vorläufer des Empirismus). Während des Mittelalters gab es ein großes Interesse an der Metaphysik (Augustinus, Thomas von Aquin). Thematisch waren insbesondere die Fragen nach der Existenz Gottes und seiner Wesenheit, die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, der freie Wille und der Status der Natur von großer Bedeutung. Dabei hat man versucht, allein vermittels des Verstands und ohne Rekurs auf empirische Untersuchungen, die existentiellen Fragen zu beantworten. Die Metaphysik sah sich insbesondere in der frühen Neuzeit der Kritik seitens der Aufklärung ausgesetzt, dass man allein mit den Mitteln des Verstands keine angemes­ 54

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3.1. Theoretische Philosophie

senen Lösungen bei metaphysischen Fragen erwarten dürfe. Vielmehr, so der allgemeine Tenor, sollte man die empiri­ schen Naturwissenschaften zur Hilfe nehmen (immerhin war es das Zeitalter der Naturwissenschaften), um insge­ samt besser aufgestellt zu sein, die Probleme zu lösen. Im 20. Jahrhundert hat der bedeutende Phänomenolo­ ge und Existenzphilosoph Martin Heidegger (1889–1976) mit seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) eine neuerli­ che Diskussion mit Blick auf die Ontologie eingeleitet. Er nimmt „die Frage nach dem Sinn von Sein“ in den Blick und gibt dem Sein im Rekurs auf die sogenannte Daseinsanaly­ se (des Menschen) ein neues Fundament. Der Mensch, so Heidegger, muss seinem Leben selbst einen Sinn9 geben. Heideggers Werk hat einen enormen Einfluss auf die nach­ folgenden Generationen, insbesondere im Kontext der Konti­ nentalphilosophie, ausgeübt. Seine Art und Weise des Phi­ losophierens und die zentralen Fragen der Metaphysik wur­ den seitens der analytischen Philosophie und der Sprachphi­ losophie abgelehnt. Ludwig Wittgenstein (1889–1951), einer der Begrün­ der der analytischen Sprachphilosophie, bemerkt in seinem philosophischen Hauptwerk Tractatus logico-philosophicus (1921) folgendes: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Dieser Satz richtet sich insbesondere auch an diejenigen, die den Boden wahrheitsfähiger Aussagen verlassen haben und metaphysische Argumente vorbringen, die man so vermittels der empirischen Wissenschaften nicht nachprüfen kann (logischer Empirismus). Grundsätzlich bleibt jedoch zu konstatieren, dass die zentralen Fragen der Metaphysik bzw. Ontologie nach wie

9 Dies ist die stärker existentialistische Lesart seiner Position. https://doi.org/10.5771/9783495999233

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3. Teilgebiete der Philosophie

vor ihre Berechtigung haben. Schließlich geht es darum, existentielle Fragen zu beantworten, die den Menschen als Menschen um- und antreiben. Was ist der Sinn des Lebens? Gibt es Gott oder das Göttliche? Was ist die Natur des Men­ schen? Diese und ähnliche Fragen sind weder sinn- noch bedeutungslos, sondern im Gegenteil von größter philoso­ phischer Relevanz.

3.2. Praktische Philosophie Dieser Teil wird sich etwas näher mit der Ethik, politischen Philosophie und der Philosophie der Technologie befassen.

Ethik Was soll man bzw. ich tun? Welche moralischen Gebote sollte man als Mitglied einer moralischen Gemeinschaft ein­ halten? Welche moralischen Werte, Normen und Prinzipien gibt es und sollte man sich stets nach ihnen richten? Gibt es vom Menschen unabhängige Rechte und Pflichten in der Moral, die jenseits unserer Bestimmungsgewalt liegen und überall für alle Zeiten gelten? Oder, ist alles relativ und be­ liebig? Welche Rolle spielt die Vernunft in der Moral? Dies sind nur einige der grundlegenden Fragen, die in der Ethik untersucht werden. Kommen wir nun zu ihrer Einteilung. Die philosophische Ethik lässt sich in zwei große Berei­ che einteilen: in die allgemeine Ethik einerseits und in die angewandte Ethik andererseits. Die allgemeine Ethik unter­ teilt sich wiederum in drei Teile: Die deskriptive Ethik, die Metaethik und die normative Ethik. Die deskriptive Ethik beschreibt die moralischen Phänomene des Menschen, wie

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3.2. Praktische Philosophie

sie sind (und nicht wie sie sein sollen), und geht dabei auf unterschiedliche empirische Wissenschaften ein, wie zum Beispiel Psychologie und Entwicklungspsychologie (Wie gestaltet sich die moralische Entwicklung des Menschen?), Soziologie und Soziobiologie (Ist der Mensch ein Kulturoder Naturwesen?), Biologie und Neurobiologie (Haben wir einen freien Willen?) sowie Anthropologie (Was ist der Mensch?). Die empirischen Wissenschaften sollen dabei helfen, die Natur des Menschen zu beschreiben, um die moralische Dimension der menschlichen Natur besser verstehen zu können. Die Metaethik nimmt eine Vogelperspektive auf die normative Ethik ein und umfasst wiederum vier Berei­ che: Die Semantik (untersucht die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke), die Ontologie der Moral (fragt nach dem seins­ mäßigen Status von moralischen Begriffen und Phänome­ nen), die Erkenntnistheorie der Moral (fragt danach, wie wir feststellen können, was von uns moralisch gefordert wird) und die Argumentationstheorie (untersucht Argumente und Einwände). Weiter unten werden wir uns mit der Ontologie der Moral etwas genauer beschäftigen. Die normative Ethik fragt danach, was moralisch gese­ hen der Fall sein sollte. Wie sollen wir uns verhalten? Dies­ bezüglich gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher ethi­ scher Theorien wie zum Beispiel die Tugendethik (Relevanz des tugendhaften Charakters), die Pflichtethik (Relevanz des Handlungsmotivs), den Utilitarismus (Relevanz der Hand­ lungsfolgen), den Kontraktualismus (Moral als Vertrag), die Kasuistik (Relevanz der Umstände eines Falls), die feminis­ tische Ethik (Relevanz von Beziehungen) und die Ethik als Methode (Relevanz einer flexiblen Methode). Die ethischen Theorien geben uns eine Antwort auf die Frage, wie wir uns in bestimmten Situationen mora­ lisch verhalten sollen. Während die allgemeine Ethik ein https://doi.org/10.5771/9783495999233

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3. Teilgebiete der Philosophie

Begriffs­ und Methodeninstrumentarium darstellt, um mo­ ralische Probleme zu lösen, ist die angewandte Ethik derje­ nige Bereich der philosophischen Ethik, der die sogenannten Bereichsethiken wie zum Beispiel die Bioethik (sowie Me­ dizin-, Umwelt- und Tierethik), Technikethik, Wirtschafts­ ethik und Rechtsethik umfasst. Die Erkenntnisse aus dem Bereich der allgemeinen Ethik werden auf eine fruchtbare Art und Weise im Kontext der angewandten Ethik in An­ schlag gebracht, ohne jedoch die spezifischen Besonderhei­ ten der einzelnen Bereichsethiken zu untergraben. Darüber hinaus werden in der Ethik unterschiedliche zentrale The­ men diskutiert. Derzeit sind zum Beispiel die folgenden aktuellen Themen im Gespräch: Moralischer Status und Personalität, Migration, COVID­19, Entscheidungen am Le­ bensanfang (Abtreibung) und Lebensende (Sterbehilfe), Kli­ maschutz und Klimawandel, Fake News und Populismus.

Politische Philosophie Wie sieht ein gerechter Staat aus? Über welche staatlichen Institutionen muss ein gerechter Staat verfügen – und auf welche Weise müssen diese geordnet sein –, damit man insgesamt von einem guten und gerechten Staat sprechen kann? Muss ein Staat notwendigerweise eine Gewaltentei­ lung (legislative, exekutive und judikative) haben und da­ rüber hinaus auch demokratisch sein? Was ist der Zweck einer staatlichen Gemeinschaft? Geht es um die Realisie­ rung des guten Lebens für die Bürger (Aristoteles) oder geht es allein darum, einem kriegerischen Naturzustand (Hobbes) zu entfliehen? Diese und ähnliche Fragen sind Gegenstand der politischen Philosophie.

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3.2. Praktische Philosophie

Die Beantwortung dieser grundlegenden Fragen kann die politische Philosophie ohne die Hilfe anderer Wissen­ schaften einschließlich weiterer Disziplinen aus der Philo­ sophie nicht angemessen leisten. Die Politikwissenschaften, die Geschichte, die Anthropologie, die Ethik und Moralphi­ losophie sowie die Rechts- und Sozialphilosophie tragen dazu bei, die politische Philosophie zu befruchten. Das je­ weilige Fachwissen aus den anderen Wissenschaften dient dazu, die politische Philosophie auf ein möglichst breites Fundament zu stellen. Es gibt zumindest sechs große Berei­ che, die die politische Philosophie ausmachen und die ich im Folgenden etwas näher beschreiben möchte: – – – – – –

Rechtfertigung des Staates Typen unterschiedlicher Staatsformen Ideologische Hauptströmungen Normative Leitideen Zentrale Themen Staatliche Wirtschaftsformen

Mit Blick auf das Thema Rechtfertigung des Staates kann man zwischen verschiedenen grundlegenden Motiven unter­ scheiden. So könnte man darauf hinweisen, dass das Motiv, einen Staat zu gründen, im Rekurs auf die antike Tradition begründet wird, wo der Staat die vornehmliche Aufgabe hatte, die Glückseligkeit der Bürger zu befördern. Bei den Kontraktualisten wie Thomas Hobbes, John Locke und Jean­ Jacques Rousseau lässt sich die normative politische Gewalt auf den Gesellschaftsvertrag zurückführen. Darüber hinaus gibt es noch weitere Argumente, die als Rechtfertigung für die Etablierung eines Staates dienen können: Das Argument des Nutzens; religiöse und naturrechtliche Überlegungen; oder besondere Fähigkeiten einer Person (Weisheit, Recht des Stärkeren). Die Möglichkeit, dass es keinen Staat geben

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3. Teilgebiete der Philosophie

sollte, da die Menschen besser für sich selbst sorgen können (als einer Autorität zu dienen) und dies die der Natur nach angemessene Form des menschlichen Lebens ist, wird zum Beispiel vom Anarchismus favorisiert. Im Kontext des Themas Typen unterschiedlicher Staats­ formen geht es zum Beispiel um die Analyse von: Merito­ kratie (Herrschaft gemäß Verdienst), Theokratie (Herrschaft der Priester bzw. Gott), Aristokratie (Herrschaft der Besten), Monarchie (Königsherrschaft), Oligarchie (Herrschaft der Wenigen) und Demokratie (Herrschaft des Volkes). Diesbe­ züglich werden dann ihre Entstehungsbedingungen sowie ihre Vor- und Nachteile bestimmt und insgesamt über den Wandel von Staatsformen geforscht. Die Ideologischen Hauptströmungen sind für die politi­ sche Philosophie deswegen wichtig, weil sie die Natur bzw. das Selbstverständnis eines Staates beschreiben. Die wich­ tigsten politischen Strömungen sind: Politischer Utilitaris­ mus (eine am Nutzen orientierte politische Gemeinschaft), liberale Gleichheit (soziale Gerechtigkeit und faire Chancen­ gleichheit für alle), Libertarismus (möglichst wenig Staat), Marxismus (klassenlose politische Gesellschaft), Kommuni­ tarismus (Gemeinschaft als zentrale Einheit) und der Femi­ nismus (Gleichberechtigung der Geschlechter). Ideologische Strömungen bestimmen die Art und Weise, wie eine politi­ sche Gemeinschaft eingerichtet werden soll. Geht es zum Beispiel um John Rawls politischen Liberalismus (liberale Gleichheit), Robert Nozicks minimalistischen Nachtwächt­ erstaat (Libertarismus) oder Michael Walzers politischen Kommunitarismus. Alles kommt darauf an, auf welche Wei­ se die theoretischen Überlegungen in reale politische Insti­ tutionen umgesetzt werden. Die grundlegenden Normativen Leitideen sind für die politische Philosophie ein zentrales Thema, da sie den Rah­ men für den politischen Diskurs darstellen. Folgende nor­ 60

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3.2. Praktische Philosophie

mative Leitideen werden insbesondere im politischen Kon­ text untersucht und als Ankerpunkt für unterschiedliche Debatten in Anschlag gebracht: Menschenwürde, Menschen­ rechte, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit etc. Ihre Rele­ vanz kann für die aktuellen politischen Diskurse nicht über­ schätzt werden. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Zentralen The­ men in der politischen Philosophie, die ungemein bedeutend sind und immer wieder in unterschiedlichen Kontexten und Zeiten aufscheinen. Dazu zählen: Migration, Totalitarismus, Globalisierung, Demokratietheorien, Utopien, Armut, Terro­ rismus, Krieg/Frieden, Souveränität, Gewaltenteilung, po­ litischer Widerstand, Staat und Religion, Populismus und Fake News etc. Ein letzter großer Themenbereich in der politischen Philosophie bezieht sich auf die Analyse der unterschiedli­ chen Staatlichen Wirtschaftsformen. Diesbezüglich reichen die Positionen von einer freien Marktwirtschaft über eine Planwirtschaft hin zum Sozialstaat. Hier werden zum Bei­ spiel die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Systeme untersucht und die passenden Existenzbedingungen analy­ siert.

Philosophie der Technologie Die Philosophie der Technologie bzw. Technikphilosophie ist eine junge akademische Disziplin, die sich erst im Lau­ fe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Diesbezüglich gilt das Buch von Ernst Kapp (1808–1896) Grundlinien einer Philosophie der Technik (1877) als Grün­ dungswerk der Technikphilosophie. Doch das philosophi­ sche Nachdenken über die Natur der Technik und das We­

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3. Teilgebiete der Philosophie

sen der Technologie ist so alt wie die Menschheit selbst. Das Wort Technologie kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie Lehre von der Kunst bzw. dem Hand­ werk (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI). Heutzuta­ ge meinen wir jedoch im Kontext der Philosophie etwas anderes damit, da wir nunmehr die Technik von der Kunst bzw. dem Handwerk unterscheiden. Bei der Technologie geht es vielmehr um das systema­ tische Wissen über Technik, ihre Bedeutung (für den Men­ schen und sein Selbstverständnis als Mensch), ihre Folgen (Technikfolgenabschätzung) und das Verhältnis von Men­ schen und Technik sowie ihr Verhältnis zur Natur und Kul­ tur. Doch was meinen wir eigentlich damit, wenn wir von Technik bzw. technischen Errungenschaften des Menschen sprechen? In der Antike gab es zum Beispiel die ersten Dampfmaschinen (auch wenn ihre Nutzung eher dem Ver­ gnügen diente), Wasserpumpen, Entdeckung der Hebelge­ setze (Grundlage für die Entwicklung der Mechanik), Thea­ terbau, Aquädukte (römische Wasserleitungen), Boden- und Wandheizungen sowie Schleuderkatapulte. Im Mittelalter gab es den Buchdruck (in China bereits um 900 n. Chr. und in Europa erst im 15. und 16. Jahrhun­ dert) und die Architektur (Bau von Kathedralen). In der Moderne kommt es dann im Kontext der Entwicklung der empirischen Naturwissenschaften zu einem Sprung techni­ scher Errungenschaften. Dies führte dann zum Einsatz des mechanischen Webstuhls, des eisernen Pflugs (obwohl der erste Pflug natürlich einige Tausend Jahre älter ist), die Entwicklung der Eisenbahn und Telegraphennetzwerke (Te­ lekommunikation im 19. Jahrhundert), moderne Transport­ technologien (Bahn, Auto, Flugzeug), Computer, Internet und künstliche Intelligenz. Die oben genannten Beispiele stellen nur eine kleine unvollständige Auswahl der wichtigen technischen Errun­ 62

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3.2. Praktische Philosophie

genschaften des Menschen dar. Die zunehmende Industria­ lisierung, Automatisierung (von Abläufen) und Technisie­ rung in den letzten 200–300 Jahren hat dazu geführt, dass sich Philosophen erst vereinzelt und dann gehäuft für das Verhältnis von Menschen und Technik sowie das Wesen der Technik interessiert haben. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der kulturellen und technischen Entwicklung des Menschen? Auf welche Weise lässt sich das Verhältnis zwi­ schen Technik, Natur und Kultur bestimmen? Was macht die Technik mit dem Menschen? Auf welche Weise beein­ flusst die technische Entwicklung die Natur des Menschen? Bleibt unser Menschenbild vor diesem Hintergrund unange­ tastet? Diese und ähnliche Fragen wurden und werden in der Technikphilosophie diskutiert. Vor allem im 20. Jahrhundert haben sich Autoren wie Arnold Gehlen und Helmut Plessner aus der philosophi­ schen Anthropologie mit der Technik und ihrer Bedeutung für die Natur des Menschen auseinandergesetzt. Später hat der bedeutende Phänomenologe Hans Jonas (1903–1993) in seinem Werk Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979) eindringlich vor den negativen Folgen der technologischen Entwicklung gewarnt und einen stärker verantwortungsorientierten Um­ gang mit der Technik eingefordert. Der Existenzphilosoph Martin Heidegger geht davon aus, dass die Technik mehr als nur ein bloßes Mittel zu einem bestimmten Zweck ist, sondern über die Instrumentalisierung hinausgeht und eine bestimmte Erkenntnisweise ist, die Welt zu betrachten und die in ihr wohnende Wahrheit hervorzubringen.10 Die Phi­ 10 Heidegger schreibt: „Technik ist eine Weise des Entbergens. Die Technik west in dem Bereich, wo Entbergen und Unverborgen­ heit, wo ἀλήθεια, wo Wahrheit geschieht.“ (Die Frage nach der Technik, 1949). https://doi.org/10.5771/9783495999233

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3. Teilgebiete der Philosophie

losophen aus der Frankfurter Schule äußerten sich eher kri­ tisch gegenüber der Technik vor allem, wenn es um das Thema der Industrialisierung im Kontext des Kapitalismus ging (Entfremdung des Menschen). Mit dem Aufkommen der künstlichen Intelligenz, der Robotik und den aktuellen technischen Möglichkeiten (vor allem auch in der Biotechnologie) in den letzten Jahren hat es einen erheblichen Schub für die Philosophie der Tech­ nologie als akademische Disziplin gegeben. Diesbezüglich werden zum Beispiel folgende Themen diskutiert: Welchen moralischen und rechtlichen Status haben intelligente Ma­ schinen? Wie steht es mit der Verbesserung des Menschen im Sinne des Transhumanismus? Werden sich die philoso­ phischen Antworten auf die Frage nach der Natur des Men­ schen vor dem Hintergrund intelligenter und möglicherwei­ se superintelligenter Roboter verändern? Das Interesse an der Technikphilosophie wird vermut­ lich nicht mehr aufhören, da die technologische Entwicklung immer weiter voranschreitet. Neue technische Möglichkei­ ten werden unsere gesellschaftlichen und individuellen Pro­ bleme lösen. Es werden jedoch ebenfalls neue Probleme entstehen, die uns wiederum dazu zwingen, nach neuen technischen Lösungen zu suchen. Ad Infinitum! Ob sich un­ sere Gesellschaft einer Utopie annähert oder eher zu einer Dystopie wird, wird allein die Zukunft weisen.

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4. Was können wir wissen? Was können wir wissen? Gibt es menschliche Grenzen des Wissbaren? Was ist Wahrheit? Wie können wir wirklich si­ cher sein, dass das, was wir sicher zu wissen glauben, auch der Wirklichkeit entspricht und nicht vielmehr ein Phanta­ siegebäude darstellt oder ein Traum ist? Dies sind funda­ mentale und bedeutsame Fragen, die sich vermutlich jeder Mensch in seinem Leben irgendwann einmal stellt. Doch welche Antworten gibt es eigentlich darauf, und auf welche Weise können wir dieser existentiellen Unsicherheit entflie­ hen?

4.1. Platons Ideenlehre Platons Ideenlehre ist eine klassische Antwort auf die Frage, was man wissen kann und ob es so etwas wie Gewissheit gibt. Grundsätzlich sollte man zwei Zugangsweisen mit Blick auf den Wissensbegriff bei Platon unterscheiden. Zum einen definiert Platon (428–348 v. Chr.) im Dialog Theai­ tetos das Wissen als gerechtfertigte und wahre Meinung (Theaitetos 201, c-d) und bezieht sich damit auf den menta­ len Zustand einer Person. Dies ist die klassische Definition des Wissensbegriffs, den wir bereits mit Blick auf das soge­ nannte Gettierproblem kennengelernt haben. Zum anderen geht es Platon um den Unterschied zwischen Wissen und Meinung im Kontext der Ideenlehre, die er zunächst in den

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4. Was können wir wissen?

Dialogen Symposion, Phaidon und der Politeia (klassische Formulierung) ausführt; dann im Parmenides überarbeitet und schließlich im Sophistes vollständig neu formuliert. Im Folgenden möchte ich die klassische Version der Ideenlehre aus der Politeia darstellen. Platon geht von einem Dualismus aus und nimmt an, dass es einerseits die Welt der Ideen und andererseits die Welt der Erscheinungen gibt. Die Ideen sind unveränderlich und ewig, während die Erscheinungen veränderlich und ver­ gänglich sind. Wissen, so Platon, kann man nur von denje­ nigen Dingen haben, die auch existieren. Er behauptet, dass lediglich die Ideen wahrhaft existieren und die Erscheinun­ gen nur Abbilder jener Ideen sind. Damit ergibt sich, dass man echtes Wissen nur von den Ideen haben kann (vermit­ tels des dialektischen Denkens), während man in der Welt der Erscheinungen von Meinungen sprechen muss (vermit­ tels der sinnlichen Wahrnehmung). Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Es gibt unter­ schiedliche Tische, die in ihrer Form, Farbe und Größe ver­ schieden sind, und wir diese mit unseren Sinnen wahrneh­ men können. Darüber hinaus gibt es jedoch auch die Idee des Tisches, die uns anzeigt, worin die wahre Natur eines Tisches besteht. Wenn wir also die Idee des Tisches kennen, dann können wir auch die unterschiedlichen Gestaltungsfor­ men eines Tisches erkennen. Nach Platon haben die Erscheinungen einen geringeren ontologischen Status als die Ideen. Die Erscheinungen ver­ danken Ihre Realität der Teilhabe an den Ideen und würden ohne sie gar nicht „existieren“. Ferner geht Platon davon aus, dass es eine Art Hierarchie zwischen den Ideen gibt, und die Idee des Guten an oberster Stelle steht. Die Existenz aller Ideen hängt einzig von der Idee des Guten ab. Wahres Wissen ist nur den Philosophen möglich, da nur sie in der Lage sind, die Idee des Guten zu erkennen. Die Politeia gibt 66

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4.2. Gibt es die Außenwelt?

jedoch keine Auskunft darüber, wie man sich dies genau vorstellen kann. Erst in den Dialogen Phaidon und Menon führt Platon aus, auf welche Weise man die Ideen „erken­ nen“ kann. Die Erkenntnis von Ideen – und damit das wahre Wissen von etwas – besteht darin, dass sich eine Person an die Schau der Ideen während einer übergangsweisen geistigen Existenz aus einem früheren Leben zurückerinnert (Seelenwanderung). Wissen ist also Wiedererinnerung. Platons Ideenlehre ist Ausdruck seiner idealistischen Philosophie (von Parmenides beeinflusst) und damit einer der ersten Wegbereiter des Idealismus. Sein Schüler Aristo­ teles (384–322 v. Chr.) hat den Idealismus seines Lehrers strikt abgelehnt und in der Folge vehement kritisiert. Die Vorstellung, dass man echtes Wissen nur im Rekurs auf eine Wiedererinnerung erlangen kann und dies notwendi­ gerweise die Existenz einer Seele ohne Körper, die die Ide­ en „geschaut“ hat, voraussetzt (Seelenwanderung), erscheint vielen Philosophen wenig plausibel zu sein. Vielmehr, so die Kritiker, sollte man die Erscheinungen als wirklich exis­ tierend denken und die Welt der Ideen als „Unsinn“ verab­ schieden, da einzig die sinnliche Wahrnehmung zu echtem Wissen führt. Der Disput zwischen den Anhängern des Idealismus und den Vertretern eines Materialismus wird die Debatten in der Erkenntnistheorie und Metaphysik in den darauffolgenden Jahrhunderten prägen.

4.2. Gibt es die Außenwelt? Einer der philosophisch interessantesten Filme dazu ist der von den Wachowski-Geschwistern produzierte Blockbuster Matrix (1999), dessen zentrale Geschichte von den beiden Fortsetzungen Matrix Reloaded (2003) und Matrix Revo­

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4. Was können wir wissen?

lutions (2003) auf eine spannende und philosophisch an­ spruchsvolle Weise weitergeführt wird. Doch worum geht es genau? Die von den Menschen geschaffenen Maschinen haben die Welt übernommen und bewahren die Menschen – bis auf eine kleine revolutionäre Minderheit – in einer Art Nährlösung auf. Die Maschinen erhalten die Menschen am Leben, da sie sie mit der lebensnotwendigen elektrischen Energie versorgen. Die Menschen bekommen davon nichts mit, da sie in einer simulierten Scheinwelt leben, aus der sie in der Regel nicht von selbst aufwachen können. Sie befinden sich also mit anderen Worten in einem tiefen und sehr festen traumähnlichen Zustand, der von den Maschi­ nen kontrolliert wird. Ist es möglich, dass wir ebenfalls in einem solchen Zu­ stand leben, ohne dass wir uns dessen bewusst sind? Wie können wir uns denn überhaupt sicher sein, dass wir nicht ebenso Gefangene sind? Gibt es überhaupt Möglichkeiten, ein solches teuflisches Szenario auszuschließen? Die Ma­ trixreihe greift zwei bedeutende Gedankenexperimente aus der Geschichte der Philosophie auf, die jeder Studierende der Philosophie zumindest einmal im Leben an der Univer­ sität gehört hat. Grundsätzlich geht es dabei um den Zusammenhang zwischen Wissen, Wirklichkeit, Wahrheit und Bewusstsein. Das erste Gedankenexperiment geht auf den französischen Philosophen René Descartes (1596–1650) zurück, insbe­ sondere auf die erste Meditation seines berühmten Werks Meditationen (1641). Das zweite Gedankenexperiment – ganz in der Tradition von Descartes stehend – wird vom amerikanischen Philosophen Hilary Putnam (1926–2016) diskutiert. Doch worum genau geht es dabei, und wie kön­ nen Descartes und Putnam uns mit dem Problem der Reali­ tät der Außenwelt weiterhelfen?

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4.3. Hirne im Topf?

Descartes versucht, in den Meditationen unter anderem die allgemeine Frage zu beantworten, wie wir sicherstellen können, dass wir zum Beispiel weder in einem endlosen Traum gefangen sind, noch ständig von einem bösartigen Dämon getäuscht werden (Erste Meditation). Gibt es, fragt Descartes, ein sicheres Fundament, das unser gesamtes Wissen „tragen“ kann? Die menschlichen Sinne täuschen uns hin und wieder, so dass wir das sichere Fundament nicht im Rekurs auf die Sinneswahrnehmungen gründen können, so Descartes. Um herauszufinden, was man alles in Zweifel ziehen kann, wendet Descartes die Methode des methodi­ schen Zweifels an, bei der alles in Frage gestellt wird, was existiert. Der methodische Zweifel ist jedoch laut Descartes nicht in der Lage, die eigene Existenz zu widerlegen, da es unmöglich ist, die Existenz einer Person in Zweifel zu ziehen, die gerade denkt (Zweite Meditation). In Descartes eigenen Worten klingt dies wie folgt: Aber es gibt irgendeinen sehr mächtigen, sehr schlauen Betrüger, der mit Absicht mich immer täuscht. Zweifel­ los bin also auch Ich, wenn er mich täuscht; mag er mich nun täuschen, soviel er kann, so wird er doch nie bewirken können, daß ich nicht sei, solange ich denke, ich sei etwas. Nachdem ich so alles genug und überge­ nug erwogen habe, muß ich schließlich festhalten, daß der Satz „Ich bin, Ich existiere“ sooft ich ihn ausspreche oder im Geiste auffasse, notwendig wahr sei. René Descartes, Meditationen, Zweite Meditation

4.3. Hirne im Topf? Das zweite Gedankenexperiment ist von Hilary Putnam und hat vor allem in den 1980er Jahren viele Diskussionen ange­ regt. In diesem Beispiel liegen unsere Gehirne in Töpfen, die https://doi.org/10.5771/9783495999233

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4. Was können wir wissen?

mit einer Nährlösung gefüllt (vgl. Matrix) und an einem Supercomputer angeschlossen sind, der uns mit allen Daten versorgt. Wenn wir also einen Baum wahrnehmen, dann ist dies lediglich eine computerbasierte Simulation. Doch dies wissen wir nicht. Putnam geht wie Descartes ebenfalls da­ von aus, dass wir in der Lage sind, festzustellen, ob wir Hir­ ne im Topf sind oder nicht. Seine Beweisführung ist jedoch recht kompliziert, so dass ich hier lediglich eine sehr knap­ pe Zusammenfassung geben möchte. Grundsätzlich geht Putnam davon aus, dass die Bedeutung und Wahrheitsbe­ dingungen unserer Aussagen – sowie der Inhalt unserer mentalen Zustände – von externen kausalen Relationen ab­ hängen (die Bedeutung eines Begriffs hängt gänzlich von externen Faktoren ab). Wenn dies aber der Fall ist, dann – so Putnam – ist es möglich, herauszufinden, ob wir Gehirne im Topf sind oder nicht. Beide Gedankenexperimente versuchen, den extremen Skeptizismus bezüglich der Wirklichkeit der Außenwelt zu­ rückzuweisen und argumentieren dafür, dass es (a.) die Au­ ßenwelt gibt und (b.) Wissen über die Außenwelt möglich ist. Die Vorstellung, dass wir lediglich Hirne im Topf sein könnten, hat schon etwas Beängstigendes an sich. Auch wenn ich nicht ganz davon überzeugt bin, dass wir wirk­ lich rein argumentativ herausfinden können, ob wir in einer Simulation leben oder nicht, hoffe ich natürlich, dass dies nicht der Fall ist. Aus diesem Grund richte ich mein Verhal­ ten entsprechend darauf aus. Das heißt, ich lebe so, als ob wir in keiner Simulation leben würden.

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4.4. Gibt es ein sicheres Wissen?

4.4. Gibt es ein sicheres Wissen? René Descartes hat auf einen wichtigen Punkt aufmerksam gemacht, nämlich die Frage, auf welche Weise wir feststellen können, ob unser Wissen gerechtfertigt ist oder nicht. Nach Descartes sind alle Dinge notwendigerweise wahr, die „klar und deutlich“ (lat. clare et distincte) mittels unseres Verstan­ des erkannt werden können. Doch was meint er damit? Des­ cartes greift in den uralten Streit zwischen Empirismus und Rationalismus ein. Die Anhänger des Empirismus, wie John Locke (1632–1704), glauben im Allgemeinen, dass alle Erkenntnisse primär auf Sinneserfahrungen basieren, wäh­ rend die Anhänger des Rationalismus, wie René Descartes, dagegen halten und dafür argumentieren, dass allein der menschliche Verstand die Hauptquelle unseres Wissens ist. Eine vermittelnde Position nimmt der deutsche Philo­ soph Immanuel Kant (1724–1804) ein, der den sogenann­ ten transzendentalen Idealismus entwickelt hat. Damit meint Kant Folgendes: Wir Menschen konstruieren das Wissen aus Sinneseindrücken. Alle Sinneseindrücke werden durch unsere Raum-Zeit-Brille und die universellen Kategorien, von denen wir uns nicht freimachen können, geordnet. Die Gegenstände unserer Erfahrungen (also die Erscheinungen) werden damit in Raum und Zeit sowie den Kategorien ge­ geben. Das Ding an sich, so Kant, bleibt damit prinzipiell unerkennbar. Daraus folgt, dass wir uns nicht wirklich vor­ stellen können, was es eigentlich heißt, wenn es unsere artspezifische Raum-Zeit-Brille nicht mehr gibt, die unsere Sinneseindrücke und damit die Welt um uns herum struktu­ riert. Welche Kategorien und Strukturen haben bzw. benut­ zen andere Lebewesen? Sieht die Biene die Rose auf dieselbe Weise wie wir Menschen? Was empfindet der Stier, wenn

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4. Was können wir wissen?

der Matador mit einem kleinen roten Tuch vor ihm steht? Werden wir jemals in der Lage sein, ein Verständnis davon zu haben, was es heißt, die Welt mit den Augen eines ande­ ren Lebewesens, wie einer Biene oder einer Fledermaus zu sehen? Diese Frage hat der bekannte zeitgenössische Philo­ soph Thomas Nagel (geb. 1937) in einem einflussreichen Beitrag diskutiert und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass wir nicht in der Lage sein werden, "to know what it is like for a bat to be a bat"11, aber es durchaus möglich wäre, sich als Mensch vorzustellen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein.

4.5. Was ist Wahrheit? Ein weiteres klassisches Thema im Kontext der Frage, was wir eigentlich wissen können, bezieht sich auf den wich­ tigen Begriff der Wahrheit. Was ist eigentlich Wahrheit? Grundsätzlich gibt es zwei rivalisierende Hauptvarianten von Wahrheitstheorien: Die Korrespondenztheorie einer­ seits und die Kohärenztheorie andererseits. Die Anhänger der Korrespondenztheorie der Wahrheit glauben, dass eine Aussage wie „das Auto von Thomas ist grün“ genau dann wahr ist, wenn sie mit einer Tatsache in der objektiven Welt korrespondiert bzw. übereinstimmt (das heißt, wenn es wirklich der Fall ist, dass Thomas ein grünes Auto hat). Problematisch dabei ist, dass es unter Umständen schwierig sein kann, die Übereinstimmung von Aussagen und Tatsachen zweifelsfrei zu klären, da es keine unabhängi­ ge Beobachterposition gibt. Bei einfachen Beispielen scheint die Korrespondenztheorie relativ gut zu funktionieren, doch

11 „Zu wissen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein“.

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4.5. Was ist Wahrheit?

je komplexer die Aussagen werden, desto schwieriger ist es, eine Übereinstimmung festzustellen. Darüber hinaus setzt die Korrespondenztheorie einen Realismus voraus. Unter dem Begriff Realismus versteht man in der Regel, dass es eine von Menschen unabhängige Welt gibt, die auf uns ein­ wirkt und unsere Aussagen bezüglich der Außenwelt wahr oder falsch macht. Die Frage, ob es jedoch wirklich einen Realismus gibt, ist in der Forschung nach wie vor umstritten. Dies ist dann ein echtes Problem für die Anhänger der Kor­ respondenztheorie (die ja notwendigerweise den Realismus voraussetzt). Die Anhänger der Kohärenztheorie der Wahrheit glau­ ben, dass eine Aussage wie „das Auto von Thomas ist grün“ genau dann wahr ist, wenn die Aussage sich widerspruchsfrei in ein System von anderen Aussagen (zum Beispiel: Thomas Lieblingsfarbe ist grün, er hat immer grüne Autos gehabt, und es ist bekannt, dass er keine nicht-grünen Autos be­ sitzen möchte) einpassen lässt. Kohärenz (Zusammenhang) bedeutet nicht Konsistenz (Widerspruchsfreiheit), sondern setzt diese voraus. In diesem Sinne kann man sagen, dass eine Aussage wahr ist, wenn sie ein Teil eines kohärenten Systems von widerspruchsfreien Aussagen ist, die sich ge­ genseitig stützen. Das größte Problem der Kohärenztheo­ rie besteht darin, dass der Wahrheitsbegriff einzig davon abhängt, ob eine Aussage in ein bereits vorhandenes Sys­ tem von anderen Aussagen hineinpasst oder nicht. Damit wird die Kohärenz (Zusammenhang) mit etwas anderem zum alleinigen Wahrheitskriterium. Dies erscheint jedoch wenig überzeugend zu sein. Was ist zum Beispiel mit einem kohärenten System, das widerspruchsfreie und gleichzeitig fehlerhafte Aussagen enthält, wie zum Beispiel die Welt in Matrix? Die Welt in Matrix ist zwar in sich grundsätzlich stimmig, aber den Menschen wird eine falsche Wirklichkeit vorgegaukelt. https://doi.org/10.5771/9783495999233

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5. Was sollen wir tun? Menschen sind keine moralischen Inseln. Wir leben in so­ zialen Gemeinschaften mit Familienmitgliedern, mit Freun­ den und Arbeitskollegen, mit Bekannten, mit Menschen aus unserer Stadt und unserem Staat sowie Menschen aus be­ kannten und ganz fremden Ländern. Wie sollen wir uns un­ tereinander verhalten? Gibt es bestimmte moralische Stan­ dards, die wir einhalten sollten? Oder sollte man sich ein­ fach so verhalten können, wie man möchte oder wie man es „zu Hause“ gelernt hat? Gibt es universelle moralische Rechte und Pflichten, die überall gleich sind, oder kann jede moralische Gemeinschaft für sich entscheiden, nach welchen moralischen Normen die Mitglieder leben können? Diese und ähnliche Fragen stehen im Mittelpunkt des folgenden Kapitels.

5.1. Ethische Theorien Im Folgenden sollen vier ethische Theorien in knapper und verständlicher Weise vorgestellt werden, um einen ersten Eindruck zu geben, worum es dabei überhaupt geht: Tugen­ dethik (Aristoteles), Pflichtethik (Kant), Utilitarismus (Mill) und Ethik als Methode (Gordon).

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5.1. Ethische Theorien

Tugendethik Der antike Philosoph Aristoteles (384–322 v. Chr.) ist – neben seinem Lehrer Platon (428–348 v. Chr.) – einer der bedeutendsten Philosophen überhaupt. Er hat die Phi­ losophie wie kein anderer geprägt und ist immer noch ein fester Bestandteil der philosophischen Ausbildung an allen Universitäten. Sein Name ist untrennbar mit der Tugende­ thik verbunden. Das ethische Hauptwerk von Aristoteles trägt den Titel Nikomachische Ethik und ist ohne Zweifel ein philosophisches Meisterwerk, das man (zumindest als Philosoph) gelesen haben muss. Für Aristoteles – und ande­ re antike Philosophen – ist der tugendhafte Charakter eines Menschen mit Blick auf die moralische Güte einer Handlung entscheidend. Nur tugendhafte Personen können eine mo­ ralisch richtige Handlung vollziehen. Grundsätzlich gibt es zwei unterschiedliche Lesarten, auf welche Weise man einen tugendhaften Charakter ausbilden kann und damit in die Lage versetzt wird, ein glückseliges Leben zu leben. Nach der ersten Lesart sind allein die Philosophen in der Lage, ein glückseliges Leben zu führen, da sie sich am besten dazu eignen, die typisch menschliche Eigenschaft (nämlich das Denken) zu verwirklichen. Nur ein Leben in ernster Arbeit mit Blick auf das Philosophieren bewirkt, so Aristoteles, dass die Person glückselig wird und einen tugendhaften Charakter ausbildet. Zweifellos ist dies eine sehr elitäre Sichtweise, da sie alle anderen Menschen vom glückseligen Leben und dem Vollzug guter Handlungen aus­ schließt. Nach der zweiten Lesart müssen sich die Menschen nach den ethisch-politischen Tugenden, wie zum Beispiel Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit oder Großzügigkeit, richten und diese so stark verinnerlichen (habituieren), dass sie gar nicht mehr anders können, als gemäß den Tugenden

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5. Was sollen wir tun?

zu handeln. Mit anderen Worten: Die Tugenden werden zu Dispositionen bzw. festen Charakterzügen des Menschen. Demnach liegt eine gute Handlung genau dann vor, wenn sie die drei folgenden Kriterien erfüllt: 1. Der Handelnde muss wissentlich handeln und die ge­ nauen Umstände seiner Handlung kennen. Eine solche Handlung darf nicht zufällig erfolgt sein. 2. Die Handelnde muss vorsätzlich handeln und die Hand­ lung muss auf der Grundlage von Gründen erfolgen. Die Handlung muss um ihrer selbst willen getan werden. 3. Der Handelnde agiert fest und ohne Schwanken. Die Handlungen stammen also von einem festen Charakter­ zug. Die Aristotelische Tugendethik ist eine enorm anspruchs­ volle Ethik, die jedoch im Laufe der Jahrhunderte viele An­ hänger gefunden hat. Moderne Varianten der Tugendethik, wie sie zum Beispiel von Martha Nussbaum (geb. 1947) oder Alasdair MacIntyre (geb. 1929) vertreten werden, sind nicht nur den philosophischen Experten bekannt, sondern finden auch in der breiten Öffentlichkeit eine große Zustim­ mung. Es bleibt zu konstatieren, dass die Tugendethik den tugendhaften Charakter des Handelnden in den Fokus rückt und weniger auf das Handlungsmotiv (Kant) oder die Hand­ lungsfolgen (Mill) schaut.

Pflichtethik Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804), der Zeit seines Lebens in Königsberg gelebt hat, ist ohne Zwei­ fel einer der ganz großen Philosophen der Philosophiege­ schichte, ohne die die moderne Philosophie nicht das wäre,

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5.1. Ethische Theorien

was sie heute ist. Seine an Pflichten orientierte Ethik (bzw. die modernen Varianten dazu, wie sie zum Beispiel von Christine Korsgaard oder Barbara Herman vertreten werden) hat sich neben der Tugendethik und dem Utilitarismus zur Standardposition in der Ethik entwickelt. Die Schrift Grund­ legung zur Metaphysik der Sitten (1785) enthält in knapper Fassung die Grundlinien seiner Pflichtethik. Im Folgenden werde ich jedoch lediglich auf einige Aspekte seiner ethi­ schen Position eingehen, die mir mit Blick auf eine allge­ meine Leserschaft am besten geeignet scheinen. Kants Pflichtethik ist eine universelle und autonome Prin­ zipienethik. Doch was heißt das? Sie ist universell, weil sich die moralischen Forderungen an alle vernünftigen Personen richten. Und sie ist autonom, weil die Menschen ihre Ent­ scheidungen im Rekurs auf die „reine praktische Vernunft“12 fällen, ohne sich von ihren egoistischen Interessen und Ge­ fühlen oder dem Gewissen leiten zu lassen. Kants Ethik ist ohne den sogenannten kategorischen Imperativ undenkbar. Der kategorische Imperativ ist ein Verallgemeinerungstest für Maximen (subjektive Handlungsgrundsätze), die uns zei­ gen, ob man in einer bestimmten Situation, eine Maxime verallgemeinern kann oder nicht. Wenn man die Maxime nicht verallgemeinern kann, dann darf man nicht nach ihr handeln. Umgekehrt ist man – wenn die Maxime verallge­ meinerbar ist – dazu verpflichtet, sich entsprechend nach ihr zu richten. Der kategorische Imperativ lautet in seiner Grundformel wie folgt:

12 Die reine praktische Vernunft kann man als die ultimative Quel­ le der universellen Normen ansehen. https://doi.org/10.5771/9783495999233

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5. Was sollen wir tun?

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

Ein Beispiel soll dies näher verdeutlichen. Eine Person, so Kant, will aufgrund einer Reihe von Schicksalsschlägen Suizid begehen und überlegt sich, ob folgende Maxime verallgemeinerbar ist oder nicht: „Ist es erlaubt, sich aus Selbstliebe umzubringen, wenn das Leben mehr Schaden als Freude bereit hält?“ Nach Kant kann man diese Maxime nicht verallgemeinern, da die Selbstliebe insgesamt für die Lebenserhaltung steht und nicht als eine Maxime gebraucht werden kann, um als ein universelles Gesetz der Natur die Zerstörung des Lebens zu fordern. Dies, so Kant, wäre ein Widerspruch im Denken und somit unmoralisch. Nach Kant gibt es zumindest vier unterschiedliche Kategorien von Handlungen:

1. Pflichtwidrige Handlungen: Zum Beispiel das vorsätzli­ che Töten der reichen Erbtante. Eine solche Handlung ist nach Kant unmoralisch. 2. Pflichtgemäße Handlungen, die eine unmittelbare Nei­ gung haben: Ein Ladenbesitzer benachteiligt seine Kun­ den nur deswegen nicht, weil er Angst hat, dass er er­ wischt wird. Nach Kant handelt der Ladenbesitzer nur aus bloßem Eigeninteresse. Damit hat die Handlung ebenfalls keinen moralischen Wert. 3. Handlung aus Pflicht mit Neigung: Eine geliebte Person droht zu ertrinken und wird von ihrem Partner gerettet. Nach Kant handelt es sich dabei jedoch nicht um eine moralische Handlung, da die Person (auch) aus Neigung gehandelt hat.

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5.1. Ethische Theorien

4. Handlung aus Pflicht gegen die eigene Neigung: Eine ungeliebte Person droht zu ertrinken und wird dennoch von ihrem Intimfeind gerettet. Nach Kant handelt es sich hierbei um eine Handlung mit einem echten moralischen Wert, da keine anderen abträglichen Neigungen den mo­ ralischen Wert der Handlung untergraben. Kants Pflichtethik ist eine enorm anspruchsvolle Ethik, die die Menschen zu überfordern droht, wie einige Kritiker ein­ gewandt haben. Ein weiterer Kritikpunkt besteht darin, dass nur rationale Personen Teil der moralischen Gemeinschaft sind. Damit werden zum Beispiel Tiere (und Menschen mit einer starken mentalen Behinderung) einfachhin ausge­ schlossen. Mit Blick auf jene Gruppe haben wir, so Kant, zwar keine direkten, aber indirekte Pflichten, die man durch­ aus beachten sollte. Dies hat mit Recht dazu geführt, dass moderne Kantianer hier einen anderen Weg eingeschlagen haben. Kants großes Verdienst liegt jedoch unter anderem da­ rin, dass er sich gegen heteronome Moralkonzeptionen wie die religiöse Ethik oder naturrechtliche Positionen gestellt hat. Kant ist ein echter Aufklärer, der die Autonomie des In­ dividuums in den Vordergrund gerückt und damit das Zeit­ alter der Aufklärung eingeläutet hat. Für ihn zählt einzig das Handlungsmotiv und nicht die Folgen einer Handlung oder der Charakter einer Person. Die moralische Güte einer Handlung wird nach Kant allein durch das Motiv aus Pflicht zu handeln bestimmt.

Utilitarismus Der bedeutende englische Philosoph John Stuart Mill (1806–1873) hat mit seiner klassischen Formulierung des https://doi.org/10.5771/9783495999233

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5. Was sollen wir tun?

Utilitarismus, einer am Nutzen orientierten Ethik, eine wirkmächtige universelle Prinzipienethik entwickelt, die das Wohl des anderen in den Vordergrund rückt (Altruismus). Die moralische Richtigkeit einer Handlung, so Mill, wird allein durch ihre Folgen bestimmt. Neben der an Pflichten orientierten Ethik ist der Utilitarismus die am meisten ver­ tretene ethische Position in der Moderne. Mills Abhandlung Utilitarismus (1863) ist ein echter Klassiker der Philosophie und ohne Zweifel ein fester Bestandteil des akademischen Kanons. Darüber hinaus ist das Buch recht verständlich geschrieben und aufgrund seiner Lesbarkeit auch für Nicht­ Philosophen als Lektüre durchaus zu empfehlen (anders als Kant). Mill ist darüber hinaus auch für seine Position gegen die Sklaverei und für Frauenrechte bekannt geworden. Die Grundformel des Utilitarismus lautet wie folgt: Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prin­ zip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, daß Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter „Glück“ ist dabei Lust und das Freisein von Un­ lust, unter „Unglück“ Unlust und das Fehlen von Lust verstanden. John Stuart Mill, Utilitarismus

Es gibt eine ganze Reihe von unterschiedlichen utilitaristi­ schen Varianten, so dass man heutzutage nicht mehr vom Utilitarismus als einer einheitlichen Position sprechen kann, sondern den Utilitarismus vielmehr als eine Familie von ähnlichen Positionen betrachten muss. Es gibt aber zumin­ dest vier Kernbestandteile, die jede utilitaristische Ethik auf­ weist. Diese vier Aspekte lauten wie folgt:

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5.1. Ethische Theorien

1. Das Konsequenzprinzip: Die Folgen einer Handlung be­ stimmen ihre moralische Qualität. 2. Das Nutzenprinzip: Die moralische Richtigkeit und Falschheit von Handlungen werden durch den größt­ möglichen Nutzen für die größtmögliche Anzahl von empfindungsfähigen Wesen bestimmt. 3. Das Lustprinzip: Die Folgen einer bestimmten Hand­ lung werden mit Blick auf einen bestimmten Wert eva­ luiert. Der zentrale Wert kann sich je nach Position bzw. Variante unterscheiden und zum Beispiel einen der folgenden Werte als fundamentalen Wert hervorheben: (1.) Lust fördern, (2.) Schmerzen vermeiden, (3.) Be­ friedigung von Interessen oder aufgeklärten Präferen­ zen oder (4.) Befriedigung von objektiven Kriterien wie Wohlergehen, etc. 4. Das Universalprinzip: Maximiere den Gesamtnutzen für alle empfindungsfähigen Wesen, die von der Handlung betroffen sind (einschließlich Tiere). Der Utilitarismus ist eine komplexe Ethik, die vom Anwen­ der ein hohes Maß an Expertise erfordert, da es sich hier­ bei nicht um eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung han­ delt, sondern die moralische Gesamtsituation in den Blick genommen werden muss. Eine vollständige moralische Be­ wertung im Sinne eines Utilitarismus macht es erforderlich, dass wir das Gesamtbild kennen. Nur dann sind wir in der Lage, eine moralische Handlungsempfehlung abzugeben. Ein weiterer wichtiger Unterschied zu anderen Theorien wie der Tugendethik ist die strikte Trennung zwischen dem Charakter einer Person und ihren Handlungen. Demnach kann auch eine unmoralische Person eine moralisch richtige Handlung vollziehen. Dies ist im Kontext der Tugendethik nicht möglich, da die moralische Richtigkeit einer Hand­ lung immer auch vom moralischen Charakter einer Person https://doi.org/10.5771/9783495999233

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5. Was sollen wir tun?

abhängt. Mit anderen Worten: Ein moralisches „Schwein“ oder „Monster“ kann keine moralisch richtigen Handlungen verrichten. Im Unterschied zur Kantischen Pflichtethik bleibt zu konstatieren, dass der Utilitarismus den Fokus allein auf die Handlungsfolgen und nicht wie Kant auf das Handlungsmo­ tiv legt. Gleichwohl auch für Mill klar ist, dass das Motiv einer Handlung viel über den moralischen Charakter einer Person aussagt, betont er jedoch, dass das Motiv nichts mit der Richtigkeit der Handlung zu tun hat (also anders als bei Kant). Die utilitaristische Ethik hat viel für den Tierschutz getan, da sie den Kreis der moralischen Gemeinschaft auf alle empfindungsfähigen Wesen ausgedehnt hat. Und dies, so könnte man aus heutiger Sicht sagen, ist ein großes Ver­ dienst. Auf der anderen Seite hat man dem Utilitarismus mit Recht vorgeworfen, dass er weniger gut in der Lage ist, die Rechte von Minderheiten zu schützen, da es ihm im Kern stets um die Interessen der Mehrheit geht. Die Diskussion dazu ist Legion!

Ethik als Methode Die letzte ethische Theorie, die ich hier vorstellen möchte, ist meine eigene Position, die ich in meinem Buch Ethik als Methode (2019) ausgeführt habe. Der Ausgangspunkt meiner ethischen Position ist die Kritik an den bestehenden (traditionellen) Ethiken, die jeweils einen zentralen Aspekt wie die Relevanz des Charakters (Aristoteles), die Relevanz des Handlungsmotivs (Kant) oder die Relevanz der Hand­ lungsfolgen (Mill) herausgreifen und diesen verabsolutieren und dann versuchen, den zentralen Aspekt auf alle ethischen

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5.1. Ethische Theorien

Fälle anzuwenden. Diese Vorgehensweise scheint mir wenig überzeugend zu sein. Die moralische Dimension des menschlichen Lebens (einschließlich seiner sozialen Umwelt mit Blick auf Tiere und die Natur) ist viel zu komplex, als dass man alle Fälle mit nur einem oder wenigen abstrakten Moralprinzipien abdecken könnte. Es braucht ein hohes Maß an Kontextsen­ sitivität, die man nicht immer mit einem zentralen Aspekt abdecken kann. Daher plädiere ich dafür, den alten Begriff der praktischen Klugheit in Anlehnung an Aristoteles wieder stark zu machen. Ich habe auf dieser Grundlage eine flexible ethische Methode entwickelt, die den jeweiligen zentralen Aspekt mit Blick auf unterschiedliche ethische Situationen ermittelt und kontextsensitiv anwendet. Meiner Ansicht nach ist nur der moralische Experte in der Lage, schwierige ethische Probleme angemessen zu lö­ sen. Die Anwendung eines one­size­fits­all-Prinzips in der Ethik, wie es bei Kant oder Mill der Fall ist, erscheint we­ nig plausibel zu sein. Die ethische Methode ist naturgemäß pluralistisch und greift daher nicht nur auf einen zentralen Aspekt bei der moralischen Beurteilung eines Problems zu­ rück. Die unterschiedlichen ethischen Aspekte müssen wei­ ter spezifiziert und ausbalanciert werden, damit eine ange­ messene Lösung gefunden werden kann. Es muss stets mit Augenmaß vorgegangen und jede Form moralischer Grob­ schlächtigkeit ausgeschlossen werden. Die Anhänger der oben diskutierten Ethiken glauben fest daran, dass ihre ethische Position die richtige ist und die anderen einfachhin falsch liegen. Das Problem dabei ist jedoch, dass die jeweiligen Ethiken in bestimmten Bereichen sehr gut funktionieren und richtige Ergebnisse hervorbrin­ gen, dann jedoch der Fehler begangen wird, dass der zentra­ le Aspekt, der vorher gut in einem Bereich funktioniert hat, auf alle anderen Bereiche ausgedehnt wird und nunmehr teils https://doi.org/10.5771/9783495999233

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5. Was sollen wir tun?

grobschlächtige und wenig überzeugende Ergebnisse hervor­ bringt. Mein Vorschlag, die praktische Klugheit in Anschlag zu bringen, setzt genau hier an und versucht, das Problem durch die flexible ethische Methode zu lösen. Sie ist eine ethische Allzweckwaffe, da sie nichts ausschließt, sondern kontextsensitiv alle Aspekte einbezieht und auf den konkre­ ten Fall anwendet. Die vier ethischen Theorien versuchen, die eingangs ge­ stellten Fragen zu beantworten, wie wir uns untereinander verhalten und welche moralischen Standards wir gemein­ sam beachten sollten. Was also sollen wir tun? Im Buch Moralische Orientierung. Eine kurze Philosophie des guten Lebens (2021) habe ich auf fünf zentrale Aspekte der Moral aufmerksam gemacht, die zusammengenommen die mini­ malen Anforderungen der Moral darstellen. Sie lauten: 1. Die Goldene Regel: „Was Du nicht willst, was man Dir tut, das füg’ auch keinem andern zu!“ 2. Der Perspektivenwechsel: Versetze Dich aktiv in die an­ dere Person hinein, erkenne ihre Nöte, Probleme und Situation. 3. Mitleid empfinden können: Versuche, echtes Mitleid empfinden zu können. 4. Soziale Eintracht bewahren: Menschen leben in einer sozialen Gemeinschaft. Zwietracht und Missgunst unter­ graben das friedliche Zusammenleben nachhaltig. Versu­ che so zu handeln, dass Du Dich und andere immer als einen wichtigen Teil der Gemeinschaft begreifst. Men­ schen sind keine moralischen Inseln, sondern sind auf­ einander angewiesen. 5. Angemessenes Lösen moralischer Interessenkonflikte: Versuche, moralische Konflikte friedlich und in ange­ messener Weise beizulegen, damit man sich danach im­ mer noch in die Augen schauen kann.

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5.2. Gibt es eine vom Menschen unabhängige Moral?

Wenn man sich stets darum bemüht, diese minimalen An­ forderungen einzuhalten, dann hat man schon viel getan. Diese genannten Aspekte sind einige der wichtigsten mora­ lischen Standards, die man einhalten sollte, wenn man fried­ lich in einer moralischen Gemeinschaft leben möchte. Im Folgenden werden wir uns der Frage zuwenden, ob morali­ sche Normen universell sind oder man sich möglicherweise moralisch verhalten darf, wie man will.

5.2. Gibt es eine vom Menschen unabhängige Moral? Eine der wichtigsten Fragen im Bereich der Metaethik be­ zieht sich auf den ontologischen Status von moralischen Rechten und Pflichten, Normen und Werten sowie andere moralische Phänomene. Doch was ist damit gemeint? Die Frage zielt darauf ab, ob es unabhängig vom Menschen Moral gibt oder nicht. Wenn es zum Beispiel keine Men­ schen mehr gibt, dann kann man sich fragen, ob noch ir­ gendwelche moralischen Normen existieren oder nicht. Ist das vorsätzliche Töten von Personen deswegen moralisch falsch, weil wir Menschen uns darauf geeinigt haben, dass dies so ist, oder glauben wir, dass es unabhängig von uns eine moralische Tatsache gibt, die das Töten von Personen als „moralisch falsch“ auszeichnet? Die Anhänger des moralischen Realismus glauben, dass es moralische Tatsachen gibt, die unabhängig von uns Men­ schen existieren. Doch wie können wir dann feststellen, ob etwas moralisch richtig oder falsch ist? Zwei prominente Vorschläge lauten wie folgt: Entweder sind wir in der Lage, über unsere moralischen Intuitionen oder vermittels unse­ rer Vernunft herauszufinden, was moralisch richtig oder https://doi.org/10.5771/9783495999233

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5. Was sollen wir tun?

falsch ist. Ein Beispiel: Hanna wird regelmäßig von ihren Klassenkameraden gehänselt, weil sie rote Haare hat. Dies, so könnten die moralischen Realisten sagen, ist moralisch falsch, da wir alle (oder zumindest die meisten von uns) die starke moralische Intuition haben, dass dies ungerecht ist und Hanna nicht gehänselt werden sollte. Die Gegenposition zum moralischen Realismus ist der moralische Antirealismus, der besagt, dass es keine von Menschen unabhängigen moralischen Tatsachen gibt und alle moralischen Normen und Werte in Abhängigkeit vom Menschen entstehen. Der moralische Antirealismus kennt viele unterschiedliche Spielarten. Die bekannteste unter ih­ nen ist der moralische Relativismus. Die Anhänger des mo­ ralischen Relativismus glauben, dass alle moralischen Rech­ te und Pflichten, Gerechtigkeitsstandards sowie alle Werte und Normen vollständig vom Menschen abhängen und es keine „übermenschlichen“ Quellen der Moral gibt. Die Mo­ ral hängt also nicht von Gott oder einer vernünftigen Natur ab. Mit anderen Worten: Das Hänseln von Hanna ist deswe­ gen moralisch falsch, weil wir Menschen wollen, dass es als falsch angesehen wird. Es gibt jedoch unterschiedliche Varianten des morali­ schen Relativismus. Eine Variante ist die des kulturellen (moralischen) Relativismus, der die Gültigkeit der Moral auf den Kreis der eigenen Kultur einschränkt. Demnach könnte es passieren, dass das Hänseln von Hanna aufgrund ihrer roten Haare in anderen Kulturen moralisch erlaubt wäre. Das Verbot der Kritik an sozialen Praxen anderer Kulturen wird dann mit dem Hinweis auf das universelle Toleranzgebot begründet. In der Forschung wurde jedoch bereits mit Recht darauf hingewiesen, dass der Verweis auf eine universelle moralische Norm (Toleranzgebot) einen lo­ gischen Widerspruch zum Relativismus darstellt, da dieser

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5.2. Gibt es eine vom Menschen unabhängige Moral?

aufgrund der eigenen Ontologie keine transkulturellen Nor­ men postulieren kann. Bis jetzt hat man sich noch nicht auf eine metaethische Position einigen können. Zudem ist es sehr unwahrschein­ lich, dass es einer Position aus den bisherigen Versuchen ge­ lingt, sich durchzusetzen. Die Frage, ob die Moral unabhän­ gig von uns existiert oder nicht, ist von höchster Relevanz und man sollte daher die Suche nach einer Lösung nicht aufgeben, auch wenn dies immer mehr zu einer Sisypho­ saufgabe wird. In meinem Buch Ethik als Methode (2019) plädiere ich dafür, dass wir eine pluralistische Position in der Metaethik einnehmen müssen, da es in der Moral bestimm­ te Bereiche gibt, die unterschiedliche Anforderungen haben. So scheint es sinnvoll zu sein, anzunehmen, dass nicht al­ le moralischen Rechte und Pflichten unabhängig vom Men­ schen existieren. Mit anderen Worten: Es gibt eine Vielzahl von moralischen Rechten und Pflichten, die vom Menschen abhängen und durch uns in die Welt gebracht worden sind. Andererseits scheint es ebenfalls wenig plausibel zu sein, an­ zunehmen, dass es keine moralischen Rechte und Pflichten gibt, die unabhängig vom Menschen existieren. Mit ande­ ren Worten: Es gibt durchaus etliche moralische Rechte und Pflichten, die nicht von uns abhängen. Ein interessantes Gedankenexperiment dazu beschreibt die folgende Situation: Es gibt nur noch – aus welchen Gründen auch immer – einen einzigen Menschen auf der Erde, der jedoch die Möglichkeit hat, die gesamte noch exis­ tierende Tierwelt zu töten. Wäre das Töten aller Tiere in diesem Kontext moralisch falsch? Wenn die Moral von Men­ schen abhängt und es nur noch einen einzigen Menschen gibt, dann – so scheint es – hätte die Person die Möglich­ keit, ihre eigene Moral als die rechtmäßige anzusehen (und je nach Inhalt dieser Moral könnte der Schutz von Tieren entweder Teil dieser Moral sein oder eben nicht). Sollte es https://doi.org/10.5771/9783495999233

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5. Was sollen wir tun?

jedoch eine von Menschen unabhängige Moral geben, dann wäre die Vernichtung der Tiere moralisch falsch und zwar unabhängig davon, was der letzte Mensch auf Erden will oder nicht. Diese und ähnliche Fragen sind nicht nur spannend, sondern auch enorm wichtig, wenn es darum geht, Antwor­ ten bezüglich des ontologischen Status der Moral zu bekom­ men. Und dies, so ist zu betonen, geht uns alle an. Wir Menschen sind keine moralischen Inseln, sondern wir leben mit anderen Menschen, Tieren und der Natur zusammen, die es moralisch zu respektieren gilt.

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6. Gibt es Gott? Was war am Anfang? Woher kommen wir? Was ist unsere Bestimmung im Leben? Welchen Zweck erfüllen wir? Wer hat uns gemacht? Was passiert nach dem Leben? Dies sind wichtige existentielle Fragen, die sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens stellt. Antworten auf diese Fragen gibt es vie­ le, doch insbesondere die christlich geprägte abendländische Tradition hat eine ganz spezifische Lösung vorgeschlagen, die uns heutzutage immer noch nachhaltig prägt, in positi­ ver und negativer Weise. In diesem Kapitel werde ich keinen umfassenden Über­ blick über die unterschiedlichen Antworten darauf geben können, sondern fokussiere mich stattdessen auf zwei im­ mer noch bedeutende Fragestellungen: „Gibt es Gott?“ und „Kann man Gott bei all den Übeln auf dieser Welt recht­ fertigen?“ (Letzteres ist das sogenannte Theodizeeproblem). Über beide Fragen wurden insbesondere im christlichen Mittelalter und dann später im Rahmen der Aufklärung intensiv gestritten. In der zeitgenössischen Religionsphilo­ sophie wird das Thema des ontologischen Gottesbeweises seit einigen Jahrzehnten wieder ernsthaft diskutiert. Die Be­ schäftigung mit religionsphilosophischen Themen ist nicht nur spannend, sondern ist auch für die Frage, was die Natur des Menschen ausmacht im hohen Maße relevant.

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6. Gibt es Gott?

6.1. Über die Eigenschaften Gottes Judentum, Christentum und Islam sind monotheistische Reli­ gionen, deren Anhänger an einen Gott (oder das Göttliche) glauben. Dies nennt man auch Theismus. Grundsätzlich wird angenommen, dass man die Gottesfrage rational erör­ tern kann, so dass klare Antworten möglich sind. Doch be­ vor wir uns der Frage widmen können, ob man Gott bei all den Übeln in dieser Welt rechtfertigen kann (Theodizeepro­ blem), erscheint es sinnvoll, die traditionellen Eigenschaften Gottes kurz zu benennen. Gott werden traditionell die fol­ genden Eigenschaften zugesprochen: 1. Gott existiert als körperlose Person (Geist). 2. Gott ist allmächtig, allwissend und allgegenwärtig. 3. Gott ist der Schöpfer und Erhalter des Universums (bzw. Multiversen). 4. Gott ist ein freihandelndes Wesen. 5. Gott ist vollkommen gut (was der Grund für unsere moralische Verpflichtung ist, seinen Geboten Folge zu leisten). 6. Gott ist unveränderlich und ewig. 7. Gott ist ein notwendig Seiendes. 8. Gott ist heilig und verehrungswürdig.

6.2. Warum sind Menschen religiös? Die Frage, warum es so etwas wie Religion gibt, ist von vielen klugen Köpfen, wie zum Beispiel von den religionskri­ tischen Autoren Ludwig Feuerbach, Karl Marx oder dem be­ rühmten Psychologen Sigmund Freud, untersucht worden:

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6.2. Warum sind Menschen religiös?

Die Entstehung der Religion ist eine Projektion menschlicher Gedanken, Ideale und Beziehungen. Ludwig Feuerbach Die Religion erfüllt bestimmte Funktionen – Stärkung der Autorität der herrschenden Klasse und die Ent­ schärfung des Klassenkampfes durch illusionäre Befrei­ ung – innerhalb einer Klassengesellschaft. Karl Marx Die Religion ist Ausdruck der unterdrückten und unbe­ wussten Wünsche des Menschen. Sigmund Freud

Die Gründe, warum Menschen religiös sind, sind also recht vielfältig. Doch warum glauben Menschen (immer noch) an einen Gott, wenn es so viel Schlechtes in der Welt gibt? Das Problem des Übels wird in der Regel als ein Gegenbe­ weis gegen die Existenz Gottes ins Feld geführt. Die klassi­ sche Formulierung des Problems finden wir beim frühchrist­ lichen Apologeten Lactantius (ca. 250–317), der in seiner Schrift De Ira Dei folgende Sentenz des berühmten griechi­ schen Philosophen Epikur (341–270 v. Chr.) zitiert: Gott will entweder das Böse aufheben und kann nicht; oder er kann zwar, will aber nicht; oder weder kann er, noch will er; oder er will und kann. Wenn er will und nicht kann, ist er schwächlich, was einem Gott nicht zugehört. Wenn er kann und nicht will, (ist er) gehässig; was ebenso einem Gott fremd ist. Wenn er weder will, noch kann, ist er sowohl schwächlich als auch gehässig; nichts dergleichen ist Gott. Wenn er will und kann, was einzig Gott zukommt, woher kommen dann die Schlechtigkeiten? Oder warum hebt jener sie nicht auf? Epikur

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6. Gibt es Gott?

Mit anderen Worten: Wenn Gott allmächtig, allwissend und vollkommen gut ist, dann erscheint es problematisch zu sein, wenn es Übel in der Welt gibt. Doch warum ist das so? Ein vollkommen gutes Wesen, so könnte man annehmen, beseitigt alle Übel, soweit es ihm möglich ist. Da einem allmächtigen Wesen keine Grenzen des Tuns gesetzt sind, führt dies zum Widerspruch, weil ein solches Wesen keine Übel zulassen würde. Daher gibt es keinen Gott, so die Kritiker. Dies ist ein starkes Argument gegen die Existenz Gottes, da es deutlich macht, dass die wichtigsten Eigenschaften Gottes nicht zusammen gedacht werden können. Die Ver­ teidiger des Glaubens haben sich davon jedoch nicht beir­ ren lassen und eine Vielzahl von Gegengründen vorgelegt. Neben den klassischen Einwänden, die ich im Folgenden kurz vorstellen möchte, gibt es auch Versuche, das Prob­ lem ganz zu umgehen, indem einfachhin angenommen wird, dass Gott zwar existiert, doch dass die beiden Eigenschaften Gottes, die Allmacht und seine vollkommene Güte, nicht zugleich zutreffen können. Oder dass das Schlechte nicht wirklich schlecht sei, was einen sehr spezifischen und wenig akzeptablen Gebrauch von „gut“ und „schlecht“ voraussetzen würde. Ferner gibt es die Möglichkeit, eine der beiden Ei­ genschaften zu modifizieren, indem man entweder betont, dass ein vollkommen guter Gott die Übel nicht vollständig beseitigen muss oder dass es Grenzen der Allmacht gibt.

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6.3. Drei klassische Einwände

6.3. Drei klassische Einwände Im Folgenden möchte ich drei klassische Einwände kurz vor­ stellen: 1. Übel als notwendiges Mittel zum Guten 2. Willensfreiheit 3. Kein Gutes ohne das Schlechte Fangen wir der Reihe nach an. Einige Theisten glauben, dass die Übel in der Welt als ein notwendiges Mittel zum Gu­ ten gesehen werden müssen. Doch was heißt das genau? Damit ist gemeint, dass die Übel eine Art Mittel zum Zweck sind und zum Beispiel zum Gesamtguten eines „organischen Ganzen“ beitragen. Mit anderen Worten: Eine Welt mit Übeln ist besser als eine Welt ohne sie. Oder es wird ange­ nommen, dass die Welt nicht statisch, sondern dynamisch ist und die Überwindung des Übels durch das Gute besser ist als das ewig Gute, das niemals bedroht werden kann. Der zweite Einwand gegen die Kritiker bezieht sich auf die Willensfreiheit und besagt, dass Gott den Menschen einen freien Willen gegeben hat und deswegen nicht für die Folgen der menschlichen Entscheidungen verantwortlich ge­ macht werden kann. Grundsätzlich scheint dieser Einwand überzeugend zu sein, doch er bezieht sich auf eine bestimm­ te Klasse von Übeln, nämlich nur solchen, die von Men­ schen verursacht sind. Krankheiten, Pandemien wie die Pest im Mittelalter oder COVID­19 in unserer Zeit, Verwüstun­ gen durch Orkane und Erdbeben, etc., sind davon nicht be­ troffen. Auch wenn die von Menschen verursachten Übel zahlreich und erheblich sind, bleibt zu konstatieren, dass eine nicht unerhebliche Anzahl an Übeln – zumindest im Kontext der Willensfreiheit – immer noch auf Gott zurück­ geführt werden kann.

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6. Gibt es Gott?

Der letzte Einwand bezieht sich auf die These, dass es kein Gutes ohne das Schlechte gibt. Doch wie kann man dies genau verstehen? Warum sollte es kein Gutes ohne Übel ge­ ben können? Der Einwand spielt mit der Argumentationsfi­ gur des logisch notwendigen Gegensatzes. Es gibt kein Licht ohne die Dunkelheit oder es gibt keinen Gewinner ohne einen Verlierer (wenn wir einmal davon ausgehen, dass nur einer gewinnen kann). Wenn es also etwas Gutes geben soll, dann, so die Logik des Arguments, muss es auch notwendi­ gerweise Übel geben. Wenn alles „gut“ wäre, dann würde die Eigenschaft „gut“ aufhören, etwas Positives zu bezeichnen, da man nicht wüsste, was es hieße, dass etwas „schlecht“ sei. Dagegen könnte man einwenden, dass der logisch notwen­ dige Gegensatz von das Gute nicht das Schlechte ist, sondern das Nicht-Gute, wobei das Schlechte lediglich ein Extrem auf der Skala darstellt und somit ein gradueller Prozess vorliegt. Das Theodizeeproblem ist von unterschiedlichen Philo­ sophen wie Gottfried W. Leibniz (1646–1716), Immanuel Kant (1724–1804) oder in neuerer Zeit von John L. Mackie (1917–1981) ausführlich diskutiert worden. Grundsätzlich bleibt zu konstatieren, dass das letzte Wort im Kontext des Theodizeeproblems noch nicht gesprochen ist und es weiterhin in unterschiedlichen Bereichen lebhaft diskutiert wird. Die Frage, warum es die Übel in der Welt gibt, wenn es doch einen allgütigen und allmächtigen Gott gibt, setzt natürlich voraus, dass es überhaupt so etwas wie einen Gott oder das Göttliche gibt. Wenn es keinen Gott gibt, dann brauchen wir auch gar nicht darüber zu diskutieren, warum es das Schlechte gibt. Dies wäre dann hinfällig. Die Frage ist nur dann sinnvoll, wenn wir die Existenz Gottes bereits bewiesen haben. Das zweite Thema des Kapitels widmet sich genau dieser Frage. Gibt es Gott?

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6.4. Gottesbeweise

6.4. Gottesbeweise Die Frage, ob Gott oder das Göttliche existiert, ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie stellt sich vor allem dann, wenn der eigene Glaube aufgrund von Schicksalsschlägen „geprüft“ wird, zum Beispiel beim Verlust der eigenen Kin­ der, des geliebten Partners oder einer schweren Krankheit. Wir fragen uns dann, ob es überhaupt einen Gott gibt. Wäh­ rend des Mittelalters war „die Philosophie die Magd der Theologie“. Die Philosophie war also das Instrument, mit dem die Theologen ihre Theorien und religiösen Lehren weiterentwickelt und gegen Kritiker verteidigt haben. Eine der großen Aufgaben der mittelalterlichen Theologen be­ stand darin, Ungläubige zum Glauben zu bekehren. Es galt, die Menschen davon zu überzeugen, dass es Gott gibt und wir uns nach seinen Geboten richten müssen. Das Mittel dazu waren die sogenannten Gottesbeweise. Sie waren nicht in erster Linie an die Gläubigen gerichtet, sondern sollten diejenigen erreichen, die sich entweder noch nicht sicher waren, ob es einen Gott gibt, oder seine Existenz ablehnten. Im Folgenden möchte ich drei prominente Gottesbeweise vorstellen: Den kosmologischen Gottesbeweis, den teleolo­ gischen Gottesbeweis und den ontologischen Gottesbeweis.

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6. Gibt es Gott?

Der kosmologische Gottesbeweis Der kosmologische Gottesbeweis kann wie folgt dargestellt werden13: 1. Prämisse: Das Universum existiert. 2. Prämisse: Alles, was es gibt, hat eine Ursache. 3. Prämisse: Eine unendliche Kette von Ursachen gibt es nicht. 4. Folgerung I: Es muss eine erste Ursache geben, die unverursacht ist. 5. Folgerung II: Die unverursachte Ursache wird „Gott“ genannt. Der kosmologische Gottesbeweis wird bereits in der Antike von Platon und Aristoteles diskutiert und in prominenter Weise beim berühmten Kirchenvater Thomas von Aquin (1225–1274) in seinem Werk Summa Theologiae ausgeführt. Grundsätzlich kann man kritisch anmerken, dass es durch­ aus unklar ist, ob die Kette von Ursachen zum Ende kommt oder nicht. Die These, dass es eine „notwendige unverur­ sachte Ursache“ geben muss, bleibt unbegründet. So kann es sein, dass es einen infiniten Regress gibt. Mit anderen Worten: Der Beweisgang kann nicht überzeugen, da er sich auf unbegründete Annahmen wie die Existenz eines notwen­ digen Wesens stützt.

13 Die Darstellung eines Arguments erfolgt im Rekurs auf Prämis­ sen (Annahmen), die zu einer Schlussfolgerung führen, die dann den Beweisgang abschließt. Das klassische Beispiel eines solchen Syllogismus (Schliessverfahrens) lautet: (1.) Alle Menschen sind sterblich. (2.) Sokrates ist ein Mensch. Daraus folgt: (3.) Sokra­ tes ist sterblich.

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6.4. Gottesbeweise

Der teleologische Gottesbeweis Grundsätzlich kann man sagen, dass der teleologische Got­ tesbeweis von der angenommenen Ordnung bzw. Zweck­ haftigkeit der Natur auf die Existenz eines intelligenten We­ sens – also Gott – schließt. Formal könnte man dies wie folgt fassen: 1. Prämisse: Das Universum ist geordnet bzw. auf einen Zweck hin ausgerichtet. 2. Prämisse: Wenn eine Entität geordnet bzw. zweckmäßig ausgerichtet ist, dann wurde sie von einem intelligenten Designer erschaffen. 3. Folgerung I: Das Universum wurde von einem intelli­ genten Designer erschaffen. 4. Folgerung II: Dieser intelligente Designer ist Gott. Kritiker des teleologischen Gottesbeweises haben sowohl die erste als auch die zweite Prämisse in Zweifel gezogen. Mit Blick auf die erste Prämisse wird angenommen, dass das Universum entgegen der Annahme von zum Beispiel Kreationisten und Anhängern des intelligenten Designs keine Zwecke verfolgt. Alles Leben, so die Kritiker, entwickelt sich nach grundlegenden physikalischen und chemischen Geset­ zen, die selbst auf keinen Zweck hin ausgerichtet sind. Mit Blick auf die zweite Prämisse haben Kritiker eingewendet, dass sie in einen infiniten Regress führt, da – wenn sie wahr wäre – der intelligente Designer (also Gott) selbst einen intelligenten Designer bräuchte, weil er eine „zweckmäßige Entität“ ist. Wenn die Anhänger des Theismus nun behaup­ ten, dass Gott keinen intelligenten Designer braucht, dann räumen sie damit zugleich ein, dass die zweite Prämisse falsch und somit der teleologische Gottesbeweis ungültig ist.

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6. Gibt es Gott?

Auf Grund der oben genannten Schwierigkeiten kann der teleologische Gottesbeweis nicht überzeugen.

Der ontologische Gottesbeweis Der ontologische Gottesbeweis ist aufgrund seines Potenti­ als vermutlich der prominenteste und eindrucksvollste unter den Gottesbeweisen. Er geht auf den berühmten Theologen Anselm von Canterbury (1033–1109) zurück, der den onto­ logischen Gottesbeweis als Erster in seiner Schrift Proslogi­ on (vermutlich um 1100 n. Chr.) darstellt. In der Geschichte der Philosophie hat dieser Gottesbeweis aufgrund seiner Genialität, Eleganz und Schlichtheit durchaus einiges an Berühmtheit erlangt und wurde von etlichen Autoren wie zum Beispiel René Descartes, Baruch Spinoza (1632–1677) oder Gottfried W. Leibniz entweder weiterentwickelt oder aber wie bei Kant scharf kritisiert. Nach der Kantischen Kri­ tik verlor der ontologische Gottesbeweis an Bedeutung und spielte zunächst keine größere Rolle mehr. Erst im 20. Jahrhundert wurde er wieder eingehend dis­ kutiert und unter anderem vom bekannten Religionsphilo­ sophen Alvin Plantinga (geb. 1932) in einer veränderten Fassung neuerlich in die Debatte eingebracht (Plantinga 1959). Eine gute (und zugleich kritische) Darstellung mit Blick auf den ontologischen Gottesbeweis findet sich bei John L. Mackie in Wunder des Theismus. Argumente für und gegen die Existenz Gottes (1986). Die Grundstruktur des ontologischen Gottesbeweises lautet sinngemäß wie folgt: 1. Prämisse: Gott ist etwas, über dem nichts Größeres „ge­ dacht“ werden kann. (These 1) 2. Prämisse: Es gibt jedoch etwas, über dem nichts Größe­ res „gedacht“ werden kann. (Antithese) 98

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6.4. Gottesbeweise

3. Prämisse: Etwas, über dem nichts Größeres „gedacht“ werden kann, existiert nicht nur im Verstand, sondern auch in der Wirklichkeit. (These 2) 4. Folgerung I: Gott existiert nicht nur im Verstand (des Menschen), sondern er muss notwendigerweise auch real (also in der Wirklichkeit) existieren. 5. Folgerung II: Ein vollkommenes Wesen (also Gott) ist nur dann vollkommen, wenn es nicht nur im Verstand des Menschen existiert, sondern auch real gegeben ist. Also existiert Gott. In Anselms eigenen Worten klingt dies wie folgt: Und sicherlich kann „das, über dem nichts Größeres gedacht werden kann“, nicht im Verstande allein sein. Denn wenn es wenigstens im Verstande allein ist, kann gedacht werden, daß es auch in Wirklichkeit existiere – was größer ist. Wenn also „das, über dem nicht Größeres gedacht werden kann“, im Verstande allein ist, so ist eben „das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann“ über dem Größeres gedacht werden kann [nämlich die Existenz]. Das aber kann gewiß nicht sein. Es existiert also ohne Zweifel „etwas, über dem nichts Größeres gedacht werden kann“, sowohl im Verstande als auch in Wirklichkeit. Anselm von Canterbury, Proslogion

Kant hat später in der Kritik der reinen Vernunft (1787) mit Recht eingewendet, dass man das Sein einer Sache (also die Existenz) nicht aus seinem Begriff ableiten kann. Mit anderen Worten: Man kann nicht vom Begriff auf die Exis­ tenz des betreffenden Sachverhalts schließen.14 In ähnlicher Weise hatte es einer der ersten zeitgenössischen Kritiker von Anselm, der Mönch Gaunilo von Marmoutiers (994– 14 Das heißt für Kant ist das als Dasein verstandene ist kein „reales Prädikat“. https://doi.org/10.5771/9783495999233

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6. Gibt es Gott?

1083), ausgedrückt. Er gibt das folgende Beispiel: Der Be­ griff einer vollkommenen Insel bedeutet nicht, so Gaunilo, dass diese Insel auch wirklich existiert. Genauso, so Gaunilo, kann man nicht vom Begriff Gottes auf die Existenz Gottes schließen. Anselm von Canterbury hat auf den Einwand von Gaunilo reagiert und deutlich gemacht, dass dieser Schritt – also der Übergang vom Begriff zur Existenz – nur im Kontext von Gott zutrifft. Ob dies jedoch ein überzeugen­ der Einwand ist, sei dahingestellt. Auch wenn Anselms Be­ weis letztendlich nicht überzeugen kann, ist er durchaus ein beeindruckendes Beispiel mittelalterlicher Argumentati­ onskunst. Auch wenn wir die Frage, ob es einen Gott oder das Göttliche gibt, nicht beantworten konnten, ist die Beschäfti­ gung mit der Natur Gottes kein Selbstzweck, sondern ein wichtiger Aspekt mit Blick auf das Selbstverständnis des Menschen als Mensch. Die Natur des Menschen wird – so man an Gott oder das Göttliche glaubt – durch das Verhält­ nis zu Gott mitbestimmt. Der Mensch ist, zumindest in der christlich-jüdischen Tradition, das Ebenbild Gottes. Es ist jedoch in der Forschung umstritten, wie man Gottebenbild­ lichkeit genau verstehen sollte. Während die einen glauben, dass es dabei um das Bewusstsein oder die Sprachfähigkeit geht, gehen andere Autoren davon aus, dass es sich um einen grundlegenden Wert (vielleicht die Menschenwürde) handeln könnte, der die Menschen vor allen anderen Kreatu­ ren, die Gott geschaffen hat, auszeichnet. Was auch immer damit im Allgemeinen gemeint ist, unser Selbstbild als Mensch in der Welt hängt entschieden davon ab, wie wir unser Verhältnis zu Gott verstehen. Aus diesem Grund sind religionsphilosophische Fragen nach wie vor wichtige sinnstiftende Aspekte in unserem Leben.

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7. Was ist der Mensch? Was ist der Mensch? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was ist unsere Bestimmung in der Welt? Was ist un­ sere spezifische Natur? Ist der Mensch von Natur aus gut oder schlecht? Dies sind vermutlich die wichtigsten philoso­ phischen Fragen mit Blick auf das Wesen des Menschen. Die philosophische Anthropologie, die Lehre vom Menschen, stellt sich der obigen Herausforderung und versucht, pas­ sende Antworten auf jene fundamentalen Fragen zu geben. Jeder Mensch sieht sich irgendwann einmal in seinem Le­ ben mit diesen existentiellen Fragen konfrontiert, da man ihnen einfach nicht entkommen kann. Die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens ist die Gretchenfrage der philosophischen Anthropologie. Im Laufe der Zeit wurde die Anthropologie jedoch unterschiedlich bestimmt und im Kontext anderer Fachrichtungen weiter ausdifferenziert und dadurch ebenfalls nachhaltig geprägt. Diesbezüglich kann man vier unterschiedliche Perspektiven bzw. Zugangsweisen anführen: 1. 2. 3. 4.

Die naturwissenschaftlich-biologische Perspektive Die sozialwissenschaftliche Perspektive Die historische Perspektive Die geisteswissenschaftliche Perspektive

Die naturwissenschaftlich-biologische Perspektive zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie insbesondere die körperliche Entwicklung und biologische Natur des Men­ schen in den Blick nimmt. Die sozialwissenschaftliche Per­ https://doi.org/10.5771/9783495999233

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7. Was ist der Mensch?

spektive erforscht das Verhalten des Menschen als Mitglie­ der sozialer Einheiten bzw. Gruppen. Die historische Per­ spektive rekonstruiert die Abfolge kultureller Entwicklun­ gen der Menschheitsgeschichte. Die geisteswissenschaftli­ che Perspektive befasst sich insbesondere mit menschlicher Kunst und Folklore, mündlicher Überlieferung und der ge­ lebten Moral. Grundsätzlich sollte man jedoch bedenken, dass eine umfassende Antwort auf die Frage nach der Natur des Men­ schen nicht vermittels einer einzigen Zugangsweise ange­ messen bestimmt werden kann, sondern unbedingt vor dem Hintergrund aller Perspektiven erfolgen muss. Wenn man den Fokus auf eine einzige Perspektive legt und glaubt, da­ mit die Frage, was der Mensch ist, angemessen beantworten zu können, begeht man einen schweren methodischen Feh­ ler, der sich dann auch inhaltlich negativ auf das Ergebnis niederschlagen wird. In diesem Kapitel möchte ich einige klassische philoso­ phische Antworten auf die Frage nach der Natur des Men­ schen kommentierend vorstellen, ohne dabei jedoch Voll­ ständigkeit anzustreben. Im ersten Teil soll ein kurzer Über­ blick über die unterschiedlichen Positionen zum Wesen des Menschen gegeben werden, die in der Philosophiegeschichte besondere Bedeutung erlangt haben. Im zweiten Teil werden dann die vier klassischen sozial-anthropologischen Grund­ positionen eingeführt. Abschließend möchte ich das Thema der Genese der Moral mit Blick auf die Thesen des Natura­ lismus (die Moral hat einen natürlichen Ursprung) und Kul­ turalismus (die Moral ist ein Produkt der Kultur) vorstellen.

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7.1. Was ist der Mensch?

7.1. Was ist der Mensch? Die Geschichte der philosophischen Anthropologie kennt zumindest vier grundlegende Beschreibungen der menschli­ chen Natur, die ich im Folgenden skizzieren möchte. Nach Auffassung einiger Philosophen wie Sokrates (um 470– 399 v. Chr.) ist die Sterblichkeit des Menschen ein wesent­ licher Grundzug seiner Natur. Doch nicht nur die Sterblich­ keit des Menschen, sondern auch das Wissen darum ist dem Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) zufolge ein grundlegendes Kennzeichen des Wesens der Menschen. Die Sterblichkeit und das Wissen darum sind nicht nur defini­ torische Eigenschaften des Menschen, sondern nötigen ihn dazu, sein eigenes Leben entsprechend zu planen und einzu­ richten. Dies macht es aber notwendigerweise erforderlich, dass man sich selbst Klarheit darüber verschafft, was man im Leben erreichen möchte, und ob jenes möglicherweise mit der allgemeinen Sinnfrage, worin die Bestimmung des Menschen liegt, in irgendeiner Weise zusammenhängt.

Der Mensch als Vernunftwesen Aristoteles (384–322 v. Chr.) und Thomas von Aquin (1225–1274) haben, neben anderen Philosophen, darauf hingewiesen, dass sich der Mensch vor allem durch seine Vernunftfähigkeit auszeichnet. Und in der Tat wurde über viele Jahrhunderte hinweg angenommen, dass einzig der Mensch ein vernunftbegabtes Lebewesen ist und die an­ deren Tiere über keine Vernunft verfügen würden. Spätes­ tens seit Charles Darwin (1809–1882), dem berühmten Evolutionstheoretiker, sollte jedoch jedem klar sein, dass der Unterschied zwischen Menschen und Tieren graduell https://doi.org/10.5771/9783495999233

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7. Was ist der Mensch?

ist und keineswegs als absolut anzusehen ist. Diesbezüglich weisen Verhaltensbiologen regelmäßig auf die Höchstleis­ tungen von Delphinen, Schimpansen, Graupapageien, Ele­ fanten und bestimmten Walarten hin, deren Vertreter über enorme Fähigkeiten mit Blick auf Rationalität, Intelligenz und Sprachvermögen verfügen. Gewiss, die Vernunftfähigkeit ist nicht dasselbe wie Ra­ tionalität und Sprachvermögen, doch es erscheint durchaus plausibel anzunehmen, dass Lebewesen, die über ein ho­ hes Maß an Rationalität verfügen, ebenfalls Vernunft haben. Die entscheidende Frage ist dann, wie hoch dieses Maß sein muss, damit sich die Vernunftfähigkeit entfalten kann.

Der Mensch als Ebenbild Gottes Bedeutende Theologen wie Thomas von Aquin oder Franz von Assisi (1181–1226), dem Begründer des Franziskaner Ordens, haben darauf hingewiesen, dass der Mensch nach christlicher Vorstellung aufgrund seiner Gottesebenbildlich­ keit die Krone der gesamten Schöpfung ist. Problematisch bei dieser Beschreibung ist jedoch der spezifische Wahr­ heitsgehalt der Aussage. Nur wenn es einen Gott gibt, der mit der christlichen Beschreibung übereinstimmt, und die Bibel Gottes Wort ist, dürfen wir davon ausgehen, dass die Natur des Menschen am besten durch seine Sonderstellung im Kosmos beschrieben werden kann. Ob dies jedoch der Fall ist, ist derzeit immer noch fraglich (vgl. Kapitel 6).

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7.2. Ist der Mensch von Natur aus „gut“ oder „schlecht“?

Der Mensch als ein soziales Wesen Der Umstand, dass der Mensch in Gemeinschaften lebt (Aristoteles) und sich im Allgemeinen durch seine Hilfsbe­ dürftigkeit (Seneca) auszeichnet, sind weitere Kennzeichen der menschlichen Natur, die oftmals in den Blick genommen werden. Dabei wird vor allem darauf hingewiesen, dass der Mensch insbesondere im Verbund mit anderen zu Höchst­ leistungen im Stande ist, und, wenn er allein agiert, wenig Aussicht auf Erfolg hat, überhaupt zu überleben. Menschen, so könnte man das dahinterstehende Credo verstehen, sind keine Einzelgänger, sondern soziale Lebewesen, die aufein­ ander angewiesen sind. Und dies, so könnte man sagen, gilt nicht nur für die menschliche Existenz, sondern ebenfalls mit Blick auf die Moral. Menschen sind demnach keine mo­ ralischen Inseln, sondern notwendigerweise auch moralisch aufeinander angewiesen (vgl. Kapitel 5).

7.2. Ist der Mensch von Natur aus „gut“ oder „schlecht“? Darüber hinaus gibt es noch zahlreiche andere Beschreibun­ gen, doch die oben angeführten sind gerade im Kontext der philosophischen Anthropologie recht populär. Die Fra­ ge, ob der Mensch von Natur aus gut (Hildegard von Bin­ gen, 1098–1179) oder schlecht (Friedrich Nietzsche, 1844– 1900) ist, ist in der Geschichte der Philosophie insbeson­ dere im Kontext der Pädagogik und Anthropologie häufig diskutiert worden. Grundsätzlich erscheint jedoch eine ein­ seitige Kategorisierung des Menschen als entweder gut oder schlecht wenig plausibel zu sein, da es der Komplexität der menschlichen Natur nicht gerecht wird. Insgesamt scheint https://doi.org/10.5771/9783495999233

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7. Was ist der Mensch?

folgende Sichtweise eher passend zu sein: Das Gutsein oder die Schlechtigkeit des Menschen wird sowohl durch seine Gene als auch durch die Erziehung bestimmt. Wenn die genetische Ausstattung einer Person „proble­ matisch“ ist (was auch immer das im Detail heißen mag) und ihre individuelle Erziehung ebenfalls wenig förderlich war, dann kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sich die Person zu einem „schlechten“ Men­ schen hin entwickeln wird. Wenn die genetische Ausstat­ tung einer Person entweder „neutral“ oder sogar „besonders günstig“ ist und ihre individuelle Erziehung ebenfalls sehr gut war, dann liegt nahe, dass sich die Person zu einem guten Menschen hin entwickeln wird. Es gibt jedoch auch die beiden anderen Fälle, wenn jeweils entweder die gene­ tische Ausstattung oder die Erziehung einander entgegenste­ hen. Dann, so könnte man vielleicht annehmen, wird die jeweils andere Seite kompensiert, so dass sich die Person mithin eher „neutral“ entwickeln wird. Ob sich dies jedoch im Detail genauso verhält, ist in der Forschung nach wie vor umstritten und bedarf weiterer empirischer Untersuchungen, vor allem im Kontext der Ent­ wicklungspsychologie. Hier sind immer noch die Arbeiten der Psychologen Jean Piaget (1896–1980), der insbesondere zur frühkindlichen Entwicklung geforscht hat, und Lawrence Kohlberg (1927–1987), der die moralische Entwicklung des Menschen in den Blick nahm, relevant.

7.3. Der Homo-Mensura-Satz Einer der bedeutendsten Sophisten der griechischen Antike ist Protagoras (um 490–411 v. Chr.), der unter anderem mit seinem berühmten Homo-Mensura-Satz auch der modernen

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7.3. Der Homo-Mensura-Satz

Nachwelt bekannt ist. Protagoras gesamte Schriften sind je­ doch verloren gegangen. Der besagte Satz lautet: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind. Protagoras

Es gibt zumindest zwei hauptsächliche Lesarten dazu, die auch mit Blick auf die Natur des Menschen von Bedeutung sind. Zum einen glaubt man, dass sich der Satz auf das Individuum beziehen könnte, und dann so viel bedeutet wie: so, wie etwas einer Person erscheint (der Wind ist kalt), ist es auch für sie, so wie es einer anderen Person erscheint (der Wind ist warm), ist es wiederum für die an­ dere Person. Die Wahrheit einer Aussage wird also grund­ sätzlich an das Individuum gebunden, was mit einer solipzis­ tischen Lesart (es gibt kein sicheres Wissen außerhalb der eigenen Gedanken und Wahrnehmung) entweder identisch ist oder ihr zumindest sehr nahekommt (extremer Relativis­ mus). Aufgrund der eher fragwürdigen erkenntnistheoreti­ schen Grundannahmen des Solipzismus wird diese Position im Allgemeinen in der Philosophie abgelehnt. Mit Blick auf die zweite Lesart wird angenommen, dass sich der Satz auf die Menschen an sich beziehen und damit der Mensch erkenntnistheoretisch das Maß aller Dinge ist, wenn es darum geht herauszufinden, was wahr oder falsch ist (vgl. Kapitel 4). Mit anderen Worten: So, wie es sich für die Menschen darstellt (die Erde ist rund), ist es auch (für sie). Auf der einen Seite erscheint es durchaus plausibel anzunehmen, dass die Wahrheit und Falschheit einer Sache von der jeweiligen Erkenntnisweise abhängen, doch wie bereits Immanuel Kant (1724–1804) sehr richtig gesehen hat, können wir das Ding an sich niemals wirklich erkennen, sondern sind immer an die Welt der Erscheinungen gebun­ den. https://doi.org/10.5771/9783495999233

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7. Was ist der Mensch?

7.4. Ist der Mensch ein Einzelgänger? In der philosophischen Anthropologie gibt es seit jeher eine Diskussion darüber, ob der Mensch erstens ein zoon politi­ kon bzw. gesellschaftsliebend oder vielmehr ein Einzelgän­ ger ist und zweitens, ob das menschliche Zusammenleben hierarchisch oder egalitär geprägt ist. Im Folgenden soll an­ hand der vier unterschiedlichen Grundpositionen gezeigt werden, wie sich die Natur des Menschen gemäß einiger Philosophen beschreiben lässt. Sozietär Hierarchisch Egalitär

Solitär

Aristotelisch

Nietzscheanisch

Stoisch

Hobbesianisch

Nach Aristoteles leben die Menschen gemäß ihrer Natur, wenn sie gemeinschaftlich und hierarchisch in einer Polis or­ ganisiert sind. Sein Argumentationsgang wird im Folgenden in groben Zügen dargestellt. Beginnen wir mit einem Zitat aus seiner Schrift Historia Animalium: Einen Staat bilden solche, die ein gemeinsames Ar­ beitsziel haben, was ja nicht bei allen Herdentieren der Fall ist. Dazu gehören Mensch, Biene, Wespe, Ameise, Kranich. Diese leben wieder teils unter einem Führer, teils führerlos. Aristoteles, Historia Animalium 488a

Demnach teilt Aristoteles die Tiere nach unterschiedlichen Lebewesen ein, wobei es Tiere gibt, die einzeln (solitär) oder in Herden (sozietär) leben. Bei den Herdentieren, so Aristo­ teles, gibt es entweder jene, die passiv oder jene, die aktiv zu­ sammenleben. Diejenigen, die aktiv zusammenleben nennt er auch die „politischen“ Herdentiere (Mensch, Biene, Wespe, Ameise, Kranich). Die politischen Herdentiere kooperieren,

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7.4. Ist der Mensch ein Einzelgänger?

weil es ihnen um ein gemeinsames Ziel geht. In der Philo­ sophie des Aristoteles wird der Mensch im höheren Maße als ein „politisches Tier“ angesehen, da er allein nach dem Guten streben und dies eben nur in der Polis erreichen kann. So schreibt Aristoteles in seinem Werk Politik Folgendes: Daß aber die Bezeichnung zu „einem Staate gehören“ eher für den Menschen als für jede Biene und jedes Herdentier zutrifft, ist klar. Denn die Natur schafft, wie wir sagen, nichts ohne Zweck. Nun hat der Mensch als einziges Lebewesen logos. Aristoteles, Politik I, 2 1253a

Der Mensch ist also nach Aristoteles ein zoon politikon, der aufgrund seiner Hilfsbedürftigkeit – so wie bei Platon (428–348 v. Chr.) – auf Kooperation angewiesen ist. Ein ar­ beitsteiliges Zusammenleben ist eben sinnvoll. Der Mensch hat, so Aristoteles, als ein Alleinstellungsmerkmal logos (Sprache und Vernunft), wodurch das Leben in der Polis erst möglich gemacht wird. Einzig in der Polis, also der poli­ tischen Gemeinschaft, kann der Mensch wirklich glückselig werden und ein vollendetes tugendhaftes Leben führen. Die Menschen sind aber nach Aristoteles von Natur aus ungleich. In der antiken griechischen Vorstellung gibt es einen Unter­ schied zwischen Griechen und Nichtgriechen, die Barbaren genannt werden, sowie zwischen Männern und Frauen (al­ lerdings nicht bei Platon!) und schließlich freien Bürgern einerseits und Unfreien andererseits. Dies sind in groben Zügen die Überlegungen des Aristoteles für seine Annahme, dass der Mensch von Natur aus ein gemeinschaftliches Le­ bewesen ist, das sich hierarchisch organisiert. Der Philosoph Friedrich Nietzsche glaubt, wie Aristote­ les, dass die Menschen ungleich sind, postuliert aber im Gegensatz zu ihm, dass sie von Natur aus solitär leben. Die Menschen, so Nietzsche, lassen sich in zwei unterschiedli­ https://doi.org/10.5771/9783495999233

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7. Was ist der Mensch?

che Klassen einteilen: In die starken Menschen („Übermen­ schen“) einerseits und die schwachen Menschen („Herden­ menschen“) andererseits. Es herrscht eine natürliche Un­ gleichheit zwischen den Menschen. Die Gleichheit ist eine Erfindung der Schwachen („Sklavenmoral“), um die Starken an ihrer Machtausübung zu hindern. Nietzsches Position wird auch mit dem Ausdruck des Nihilismus beschrieben. Dieser fordert die radikale Ablehnung von Werten und Sinn; darüber hinaus wird die Abkehr von der Tradition und dem Christentum („Gott ist tot!“) gefordert. Das Einzige, was zählt, ist „der Wille zur Macht“, den man wie folgt beschreiben kann: 1. Unbedingte Selbsterhaltung. 2. Steigerung von Lebensgefühl und Lebensfähigkeit. 3. Gewinn von Stärke und Macht. Vor diesem Hintergrund kommt es zur sogenannten Um­ wertung aller Werte. Alle neuen Werte richten sich nach „dem Willen zur Macht“, wobei gut und böse nach dem Nutzen einer Handlung gemäß ihrer Vitalität15 und ihrem Machtgewinn bestimmt werden. Die Stoiker glauben, dass alle Menschen aufgrund ihrer natürlichen Zuneigung miteinander verbunden sind, was man auch als stoischen Kosmopolitismus bezeichnet hat. Das moralische Streben ist von Natur aus im Menschen veran­ kert. Alle Menschen haben logos und können daher in

15 „Biologische Gesundheit bedeutet somit Vitalität – eine „blühen­ de, reiche, selbst überschäumende Gesundheit“ – die sich in einer „mächtige[n] Leiblichkeit“ (I.7) manifestiert und in einer Aktivität, die aus „Fülle, Kraft, [dem] Willen des Lebens“ ent­ springt (Vorrede.3).“ (Frederick Neuhouser, Geistige Gesundheit und kulturelle Pathologie bei Nietzsche, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 68(1), 2020, 1–27, hier Seite 10).

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7.4. Ist der Mensch ein Einzelgänger?

gleicher Weise die Weltordnung bzw. kosmische Ordnung erkennen, wodurch die Menschen als Gleiche bestimmt wer­ den. Die Tugend ist notwendig und hinreichend für Glückse­ ligkeit. Wenn Menschen also in Übereinstimmung mit ihrer Natur leben, dann erlangen sie Glückseligkeit. Sie leben dann, so die stoische Vorstellung, ein tugendhaftes Leben. Ein solches Leben ist befreit von Affekten wie Lust, Unlust, Begierde und Furcht. Dies bezeichnet man auch mit dem Fachbegriff Apathie. Dabei geht es nicht darum, dass einem alles „gleichgültig“ bzw. „egal“ ist, sondern lediglich, dass man sich von bestimmten Gefühlen nicht vereinnahmen lassen darf. Die vierte Grundposition wird anhand des politischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679) dargestellt, der annimmt, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind, da ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten in etwa über­ einstimmen und keiner so stark herausragt, dass er damit einen echten Führungsanspruch für sich begründen könnte. Hobbes glaubt, wie der antike Komödiendichter Titus Plau­ tus (um 250–184 v. Chr.), dass „der Mensch dem Menschen ein Wolf ist“ (Plautus) und im Naturzustand ein „Kampf al­ ler gegen alle“ (Hobbes im Leviathan) herrscht. Der Mensch ist nicht nur ein Einzelgänger, sondern auch ein Einzelkämp­ fer. Damit stellt sich Hobbes gegen die aristotelische Behaup­ tung, dass der Mensch ein zoon politikon ist, und nimmt an, dass er im Gegensatz dazu vielmehr ein Konfliktwesen ist, das nicht notwendigerweise, sondern zufällig zusammen­ kommt. Politische Gemeinschaften, so Hobbes, entstehen nicht aus gegenseitigem Wohlwollen, sondern einzig aus Furcht. Der bloße Selbsterhaltungstrieb des Menschen zwingt sie dazu, sich miteinander zu verbünden. Diesbezüglich könnte man also mit Recht sagen, dass Hobbes den Naturzustand als einen Kriegszustand beschreibt, der die Menschen auf­ https://doi.org/10.5771/9783495999233

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7. Was ist der Mensch?

grund ihres Selbsterhaltungstriebs dazu bringt, einen Ge­ sellschaftsvertrag abzuschließen, der die Menschen zu Bür­ gern eines Staates macht, um das bloße Überleben abzusi­ chern.

7.5. Ist die Moral natürlich oder kulturell bedingt? Im fünften Kapitel sind wir bereits kurz auf die Frage nach der Genese der Moral eingegangen und haben darauf hin­ gewiesen, dass es zum einen den moralischen Realismus (die Moral existiert unabhängig vom Menschen) und zum anderen den moralischen Relativismus (die Moral hängt vom Menschen ab) gibt. Die anthropologische Frage nach der Genese der Moral lehnt sich teilweise an dem Gesag­ ten an, bietet darüber hinaus jedoch einige neue Aspekte, die wir uns im Folgenden kurz anschauen wollen. Wenn gefragt wird, ob die Moral einen natürlichen (Naturalismus) oder kulturellen (Kulturalismus) Ursprung hat, dann geht es darum herauszufinden, ob die Moral des Menschen vermit­ tels seiner Gene in die Welt kommt oder aber vollständig durch seine Kultur und Traditionen begründet werden kann. Die Anhänger des genetischen Ansatzes könnten mit Charles Darwin argumentieren und behaupten, dass die Moral ein Rüstzeug des Menschen ist, um sein Überle­ ben zu sichern. Diesbezüglich hat die Moral die Funktion, die unterschiedlichen Interessen des Menschen miteinander in Einklang zu bringen, um sicherzustellen, dass sie sich nicht gegenseitig umbringen (vgl. Hobbes). Die Anhänger des kulturalistischen Ansatzes glauben, dass es ganz unter­ schiedliche moralische Vorstellungen in einer Gemeinschaft gibt, die jeweils im Kontext unterschiedlicher Kulturen auf­

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7.5. Ist die Moral natürlich oder kulturell bedingt?

scheinen (vgl. dazu ethnologische Untersuchungen). Die Genese der Moral, so die Idee, hängt also von der (jeweili­ gen) Kultur ab. Grundsätzlich scheint mir der Streit zwischen den Na­ turalisten und Kulturalisten verfehlt zu sein, da die Moral sowohl genetisch als auch kulturell bestimmt werden muss. Es spricht nichts dagegen anzunehmen, dass die Moral eine gewisse natürliche Funktion erfüllt und die biologischen Anlagen dazu in unseren Genen stecken. Dies bedeutet je­ doch keineswegs, dass die Moral einzig durch unsere Gene bestimmt wird, wie uns zum Beispiel die Sozialdarwinisten glauben machen wollen. Im Gegenteil, die Kultur des Men­ schen muss hinzukommen, damit sich die Moral angemes­ sen entfalten kann. Mit anderen Worten: Die Moral hat sowohl einen natürlichen als auch kulturellen Ursprung. Dieses Kapitel sollte lediglich einen kurzen Einblick in die unterschiedlichen Themen der Anthropologie geben und Lust auf weitere Lektüre machen. So habe ich bewusst da­ rauf verzichtet, die philosophischen Klassiker der Anthropo­ logie des 20. Jahrhunderts wie zum Beispiel Max Scheler (1874–1928, Sonderstellung des Menschen aufgrund seines Geistes), Helmut Plessner (1892–1985, der Mensch als ex­ zentrisches Lebewesen), Arnold Gehlen (1904–1976, der Mensch als Mängelwesen), und Ernst Cassirer (1874–1945, die Kultur des Menschen als ein System von Symbolen) im Detail nachzuzeichnen, da dies den Rahmen dieses Kapitels gesprengt hätte.

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8. Was ist Gerechtigkeit? Die Gerechtigkeit ist wie das Licht: Man weiß nicht, was es ist, aber man merkt, wenn es fehlt. Verfasser unbekannt Keine andere Frage ist so leidenschaftlich erörtert, für keine andere Frage so viel kostbares Blut, so viel bittere Tränen vergossen worden, über keine andere Frage ha­ ben die erlauchtesten Geister – von Platon bis Kant – so tief gegrübelt. Und doch ist diese Frage heute so un­ beantwortet wie je. Vielleicht, weil es eine jener Fragen ist, für die die resignierte Weisheit gilt, daß der Mensch nie eine endgültige Antwort finden, sondern nur suchen kann, besser zu fragen. Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?

Die antike römische Göttin Justitia wird traditionell mit einer Augenbinde, einer Waage und einem Schwert abgebil­ det. Die Augenbinde trägt sie als ein Zeichen dafür, dass jeder vor dem Gesetz gleich ist und keine Unterschiede gemacht werden sollen. Die Waage symbolisiert das Abwä­ gen der Rechte in Konfliktfällen. Das Schwert zeigt ihre Bereitschaft zu strafen, um damit das Unrecht vergelten zu können. Die Frage, was Gerechtigkeit ist, ist nicht einfach zu beantworten. Darüber hinaus gibt es unterschiedliche Kon­ texte, in denen der Begriff Gerechtigkeit relevant ist, jedoch unterschiedliche Bedeutungen haben kann. So kann man von gerechten Personen, Handlungen, Urteilen (bei Gericht), von der Gerechtigkeit als Tugend oder von einer gerechten

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8.1. Platon über Gerechtigkeit

Sache sprechen und jeweils etwas anderes – aber dennoch Verwandtes – damit meinen. Im Folgenden möchte ich einige wichtige Aspekte mit Blick auf den Begriff Gerechtigkeit herausarbeiten, ohne je­ doch den Anspruch zu erheben, alles Wesentliche genannt zu haben. Dieses Kapitel dient, so wie die anderen auch, lediglich der ersten Orientierung.

8.1. Platon über Gerechtigkeit Das erste umfassende Werk, das sich mit dem Gerechtig­ keitsbegriff beschäftigt hat, ist Platons Hauptwerk Politeia bzw. Der Staat. Dort versucht er nachzuweisen, warum man sich „gerecht“ verhalten sollte, auch wenn man sich dadurch nicht besserstellt. Was eine gerechte Person ist, lässt sich nach Platon am besten dadurch beantworten, indem man zunächst zeigt, wie ein gerechter Staat eingerichtet ist. Die Natur eines gerechten Staates, so Platon, ist einfacher zu untersuchen, so dass man dann von diesem Ergebnis auf die Natur einer gerechten Person schließen kann. Dies nennt man auch die Analogie von Seele und Polis. Die Gerechtigkeit ist nach Platon eine Tugend, die dafür sorgt, dass jede Klasse im Staat, die ihr angemessene Aufga­ be erledigt. Es gibt die Klasse der Herrscher, die sich um das Wohl der Polis kümmern und im Besitz der Tugend der Weisheit sind (dies sind die Philosophen). Darunter gibt es die Klasse der Soldaten, die die Polis beschützen und die Tugend der Tapferkeit haben. Die unterste Klasse besteht aus Bauern, Kaufleuten und Handwerkern, die die Polisbe­ wohner mit allen notwendigen Gütern versorgen und die Tugend der Mäßigung besitzen.

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8. Was ist Gerechtigkeit?

Eine Polis ist genau dann gerecht, wenn jede Klasse ihrer eigenen natürlichen Ordnung folgt und keiner ande­ ren. Ungerechtigkeit liegt dann vor, wenn es eine Dishar­ monie zwischen den Klassen gibt und die Klassen ihre je eigene Aufgabe nicht erfüllen, sondern nach etwas anderem streben. Eine Polis ist also genau dann gerecht, wenn alle Menschen die hierarchische Ordnung akzeptieren und sich entsprechend verhalten. Daraus folgt, dass eine Person ge­ nau dann gerecht ist, wenn sie ein harmonisches Leben in einer wohlgeordneten Polis verbringt. Dies bedeutet, dass ihre drei Seelenteile in Harmonie sein müssen. Dies kann dadurch sichergestellt werden, dass derjenige Seelenteil, der das körperliche Verlangen symbolisiert (der dritte Stand), durch den temperamentvollen Seelenteil in Zaum gehalten wird (der zweite Stand) und sich beide See­ lenteile wiederum der Führung des vernünftigen Seelenteils (der erste Stand) unterstellen. Eine Person, die so lebt, lebt ein glückliches Leben gemäß den Ansprüchen der Gerech­ tigkeit. Es bleibt jedoch zu konstatieren, dass nach Platon nur die Herrscher ein glückseliges und damit tugendhaftes Leben führen können, da sie in der Lage sind, ein philoso­ phisches Leben zu führen, das als ein Musterbeispiel eines gerechten Lebens anzusehen ist. Während Platon im Namen der Gerechtigkeit fordert, dass jede Person sich gemäß den Pflichten ihrer eigenen sozial-politischen Klasse verhält, geht Aristoteles hingegen davon aus, dass die Gerechtigkeit darin besteht, dass man die unterschiedlichen Mitglieder einer Polis, die Rechte an bestimmten Gütern haben, gleichmachen muss.

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8.2. Aristoteles über Gerechtigkeit

8.2. Aristoteles über Gerechtigkeit Im fünften Kapitel der Nikomachischen Ethik liefert Aris­ toteles die erste systematische Untersuchung des Gerech­ tigkeitsbegriffs. Alle nachfolgenden Generationen benutzen seitdem seine Definitionen und Begriffe. Im Folgenden wer­ de ich auf einige wesentliche Aspekte des aristotelischen Gerechtigkeitsbegriffs eingehen. Gerechtigkeit ist eine Dis­ position bzw. ein fester Charakterzug (ein Habitus), vermit­ tels dessen eine Person (a.) das Gerechte tut und (b.) das Gerechte tun will. Neben der allgemeinen Gerechtigkeit, die eine vollkommene Tugend ist (vgl. Platon), geht Aristoteles als Erster davon aus, dass es noch eine besondere Gerechtig­ keit gibt, die mit der Verteilung von Ehre, Geld, Gemein­ wohl und anderen Gütern, die unter den Bürgern verteilt werden können, zu tun hat. Die besondere Gerechtigkeit umfasst zwei weitere For­ men der Gerechtigkeit: die Verteilungsgerechtigkeit und die Gerechtigkeit im Austausch. Die Verteilungsgerechtigkeit hat es mit wichtigen öffentlichen Gütern wie die der Verga­ be von Ämtern und Ehren zu tun. Hier glaubt Aristoteles, dass „Gleiche Gleiches und Ungleiche Ungleiches“ bekom­ men sollten. Es handelt sich hierbei also um ein proportiona­ les Verteilungskriterium, das die Expertise und Kompetenz einer Person (also ihre Fähigkeit) im Verhältnis zu anderen Personen hinsichtlich eines betreffenden Gutes in den Blick nimmt. Bei der Gerechtigkeit im Austausch herrscht strikte Gleichheit. Diese bezieht sich zum einen auf den freiwilli­ gen Tausch von Waren (Tauschgerechtigkeit) und zum ande­ ren auf den unfreiwilligen Tausch (korrektive Gerechtigkeit). Bei der Tauschgerechtigkeit müssen die unterschiedlichen Personen und ihre Güter gleichgemacht werden, damit ein

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8. Was ist Gerechtigkeit?

gerechter Tausch stattfinden kann (so wäre es ungerecht, wenn ein Haus gegen ein Paar Schuhe getauscht würde). Um den Warentausch zu befördern, führt Aristoteles das Medium Geld in die Diskussion ein und liefert damit die erste Philosophie des Geldes. Mit Blick auf die korrektive Gerechtigkeit bzw. Straf­ gerechtigkeit nimmt Aristoteles an, dass der entstandene Schaden im Rekurs auf eine einfache Gewinn- und Verlust­ rechnung vergolten werden sollte. Wenn zum Beispiel eine Person etwas gestohlen hat, dann soll das betreffende Gut wieder zurückgegeben werden. Eine nachfolgende Strafe hält Aristoteles in den meisten Fällen für nicht notwendig.16 Das einfache Gesetz, so Aristoteles, ist nicht in der Lage, alle Fälle abzudecken, so dass es unter Umständen dazu kommt, dass man Unrecht ausgleichen muss, das aufgrund der Allgemeinheit des Gesetzes entstehen kann. Solche Fäl­ le von Unrecht werden im Rahmen der Fairness korrigiert, indem versucht wird, herauszufinden, wie der Gesetzgeber entschieden hätte, wenn er den Fall gekannt hätte. Die Einführung der „besonderen Gerechtigkeit“ in die philosophische Debatte ist eine philosophische Glanzleis­ tung. Jeder Autor, der in den nachfolgenden Jahrhunderten etwas Substantielles zum Gerechtigkeitsbegriff geschrieben hat, bedient sich der aristotelischen Begriffe und Definitio­ nen, was ebenfalls auf unsere zeitgenössischen Autoren zu­ trifft. Aristoteles hat mit seiner Untersuchung die Grundla­ ge für ein besseres Verständnis des Gerechtigkeitsbegriffs gelegt. Dies heißt nicht, dass er alle Fragen und Probleme mit Blick auf das Thema Gerechtigkeit diskutiert hat (dies wäre schlechthin unmöglich), sondern lediglich, dass er die notwendigen Werkzeuge dafür bereitgestellt hat, mit denen 16 Dies entspricht jedoch nicht unserem modernen Verständnis von Strafe und war auch damals durchaus ungewöhnlich.

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8.3. Konflikte zwischen Recht und Gerechtigkeit

wir diese Fragen und Probleme heutzutage diskutieren kön­ nen. Und dies ist, ohne Zweifel, eine große Leistung.

8.3. Konflikte zwischen Recht und Gerechtigkeit Die klassische Geschichte eines Konfliktes zwischen dem positiven Recht einerseits (Rechtspositivismus) und den Ansprüchen der Gerechtigkeit andererseits wurde in der be­ rühmten Tragödie Antigone (um 441 v. Chr.) von Sophokles (ca. 497–406 v. Chr.) verarbeitet. Doch worum geht es in der Tragödie? Nachdem die am Bürgerkrieg beteiligten kö­ niglichen Brüder Eteokles und Polyneikes um die Herrschaft in Theben kämpften und dabei starben, erlässt der neue Herrscher in Theben, Kreon (ein Verwandter der Brüder), ein Gesetz, dass Polyneikes nicht nach den traditionellen Riten begraben werden dürfe, sondern sein Leichnam auf dem Schlachtfeld verrotten solle. Antigone, die Schwester der beiden Brüder, wollte dies nicht hinnehmen und orga­ nisierte ein rituelles Begräbnis für ihren Bruder Polyneikes. Kreons Gesetz, obgleich geltendes Recht, war gegen die da­ malige Tradition und das Naturrecht gerichtet. Sein Erlass war damit unrecht. Die Gerechtigkeit gebot, dass Polyneikes begraben werden müsse, was Antigone mit ihrer Handlung in der Tragödie umgesetzt hat.17

17 Antigone begeht Selbstmord, um Kreons Todesurteil (das zu spät aufgehoben wurde) zuvorzukommen. Aus Gram darüber nahmen sich daraufhin auch Kreons Sohn (der Geliebte von Antigone) und seine Ehefrau das Leben. Sophokles Tragödie Antigone gehört zu den berühmtesten Theaterstücken der abend­ ländischen Kultur. https://doi.org/10.5771/9783495999233

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8. Was ist Gerechtigkeit?

Dieser Konflikt zwischen Recht und Gerechtigkeit wird im 20. Jahrhundert von Gustav Radbruch (1878–1949), einem bekannten Juristen, Politiker und Rechtsphilosophen, auf eine berühmte Formel, die sogenannte Radbruchsche Formel, gebracht, die seither als ein Meilenstein in der rechtsphilosophischen Debatte im Kampf gegen staatliches Unrecht gilt. Die Formel18 lautet wie folgt: Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich un­ gerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Ge­ rechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur „unrichtiges“ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und überge­ setzliches Recht

Der Verweis auf ein überstaatliches Recht, das mehr Geltung in Anspruch nehmen könne als das von Menschen gesetzte 18 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristenzeitung, 1946, 107.

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8.3. Konflikte zwischen Recht und Gerechtigkeit

Recht, appelliert an unser Gerechtigkeitsgefühl in Zeiten von Unrecht. Ein Herrscher darf demnach nicht tun, was er will, sondern er muss sich vor dem Naturrecht bzw. dem göttlichen Recht verantworten. Er muss sich gegenüber sei­ nen Mitmenschen „anständig“ verhalten und die Ansprüche der Gerechtigkeit im Blick haben. In der modernen politischen Philosophie hat sich mit Thomas Hobbes (1588–1679) die sogenannte Vertragstheo­ rie entwickelt. Hobbes geht davon aus, dass die Menschen in einem Naturzustand leben, der einem Kriegszustand gleicht, in dem es weder Recht und Unrecht noch Gerechtig­ keit gibt. Erst mit dem Gesellschaftsvertrag, einem Vertrag aller mit allen, werden Recht und Unrecht sowie Gerech­ tigkeit etabliert. Diesbezüglich gibt es also nach Hobbes kein überstaatliches Recht, das den Herrscher in irgendeiner Form binden könnte. Der einzige Grund, dem legitimen Herrscher die politische Gefolgschaft zu verweigern, besteht nach Hobbes darin, dass er nicht mehr in der Lage ist, das Leben seiner Untertanen zu beschützen. Wenn dies jedoch der Fall ist, dann zerfällt das durch den Gesellschaftsvertrag etablierte politische Zweckbündnis – der Staat. Jeder ist wieder auf sich selbst gestellt. Es herrscht dann wieder ein Krieg aller gegen alle. Wir haben gesehen, dass der Begriff Gerechtigkeit nicht nur eine Tugend ist und den Charakter einer Person be­ schreiben kann (vgl. Platon), sondern ebenfalls auf unter­ schiedliche Handlungen angewendet werden kann, wobei hier der Begriff der Gleichheit eine wesentliche Rolle spielt (vgl. Aristoteles). Darüber hinaus haben wir im Rekurs auf Sophokles’ Antigone und Radbruch gesehen, dass sich die Forderungen der Gerechtigkeit auch auf staatliches Unrecht beziehen können. Was ist Gerechtigkeit? Woher kommt sie? Was ist ihre Quelle? In früheren Zeiten wurde angenommen, dass Gott https://doi.org/10.5771/9783495999233

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8. Was ist Gerechtigkeit?

die Quelle der Gerechtigkeit ist. Wenn wir also in diesem Kontext wissen wollen, was gerecht ist, dann müssen wir zumindest die Zehn Gebote achten und die Bibel ernstneh­ men. In einer stärker säkularen Sichtweise ist die Natur die Quelle der Gerechtigkeit, wobei wir dann vermittels der Vernunft herausfinden können, was die Forderungen der Gerechtigkeit sind. Doch was ist, wenn wir an keine Götter oder an keine metaphysische Natur glauben (wol­ len)? Es bleibt zumindest noch ein weiterer Ausweg – die praktische Vernunft selbst, die jedem rationalen Lebewesen normative Forderungen aufgibt, sich entsprechend zu verhal­ ten. Eine solche praktische Vernunft könnte in der Lage sein, als Quelle der Gerechtigkeit zu fungieren und ungerechte Handlungen als solche auszuweisen.19

19 Dies setzt jedoch voraus, dass die praktische Vernunft nicht mit der Zweckrationalität identifiziert werden darf (die „nur“ die ge­ eigneten Mittel für bestimmte Zwecke identifiziert), sondern viel gehaltvoller sein muss, um auch starke normative Vorgaben ma­ chen zu können. Aristoteles hat im sechsten Buch seiner Niko­ machischen Ethik den Begriff der Klugheit diskutiert, der in etwa mit unserer Vorstellung einer gehaltvollen praktischen Vernunft in Übereinstimmung gebracht werden könnte. In meinem Buch Ethik als Methode (2019) habe ich dies genauer ausgeführt und auf dieser Grundlage eine neue ethische Methode entwickelt.

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9. Gibt es einen freien Willen? In der Regel glauben wir – oder zumindest die meisten von uns –, dass wir einen freien Willen haben. Die empirischen Wissenschaften wie die Physik, die Neurowissenschaften (vor allem die Neurobiologie) und die (empirische) Psycho­ logie, etc., sagen uns jedoch, dass wir unsere Vorstellung, einen freien Willen zu haben, überdenken müssen. Mit ho­ her Wahrscheinlichkeit, so die These der empirischen Wis­ senschaftler, verfügen wir über keinen freien Willen. Dies sind beunruhigende Neuigkeiten, da unsere Ge­ sellschaft – unsere Rechtssysteme, unsere gelebte Moral (mit der Zuschreibung von Verantwortung für das eigene Tun) und unser gesamtes praktisches Handeln – auf der Annahme aufgebaut ist, dass wir über Willensfreiheit verfü­ gen und nicht wie Automaten determiniert, bzw. vorherbe­ stimmt agieren. Mit anderen Worten: Wenn die Wissenschaftler mit ihrer Forschung recht haben, dann liegen wir alle einer Illu­ sion auf. Und dies, so muss man sich eingestehen, ist für das Selbstverständnis des Menschen als autonomes Wesen, das mutmaßlich eigene Entscheidungen trifft, fatal. Die Frage nach der Willensfreiheit ist ein altes philo­ sophisches Problem, das sich über die Jahrhunderte hin­ weg hartnäckig gehalten hat und im letzten Jahrhundert aufgrund des Siegeszugs der empirischen Wissenschaften wieder stark an Bedeutung gewonnen hat. Erst jetzt sind wir mit Hilfe der empirischen Wissenschaften in der Lage, das Problem der Willensfreiheit besser anzugehen. https://doi.org/10.5771/9783495999233

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9. Gibt es einen freien Willen?

Diesbezüglich lasse ich bewusst die Streitereien hin­ sichtlich der Deutungshoheit des Problems und seiner Lö­ sungsmöglichkeiten zwischen den Philosophen und den em­ pirisch arbeitenden Wissenschaftlern außen vor. In diesem Kapitel möchte ich lediglich einen groben Überblick darüber geben, welche Hauptpositionen es gibt und einige promi­ nente Argumente zur Willensfreiheit vorstellen. Mehr ist im Rahmen einer knappen Einführung nicht zu leisten.

9.1. Wesentliche Unterscheidungen Determinismus

Indeterminismus

Es gibt Willensfreiheit

Kompatibilismus (weiche Deterministen)

Inkompatibilismus I (Libertarier)

Es gibt keine Willensfreiheit

Inkompatibilismus II (harte Deterministen)

Impossibilismus

Bevor ich die vier Hauptpositionen im Kontext der Debatte um die Willensfreiheit vorstelle, möchte ich gleich zu Be­ ginn auf zwei wichtige Unterschiede hinweisen, die in der Diskussion oftmals zu kurz kommen. Es handelt sich dabei zum einen (a.) um den relevanten Unterschied zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit und zum anderen (b.) um die Unterscheidung zwischen Ursachen und Grün­ den. Die Definition des Begriffs Handlungsfreiheit lautet üb­ licherweise wie folgt: Eine Handlung ist dann frei, wenn man in derselben Situation hätte anders handeln können.

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9.1. Wesentliche Unterscheidungen

Im Unterschied dazu wird der Begriff der Willensfreiheit wie folgt definiert: Willensfreiheit liegt dann vor, wenn man in derselben Situation hätte anders wollen können.

Es lohnt sich jedoch, noch etwas genauer auf den Begriff der Willensfreiheit einzugehen, da er insbesondere für dieses Kapitel bedeutsam ist. Im Allgemeinen enthält der Begriff der Willensfreiheit zumindest drei unterschiedliche Aspekte, die je nach Position in unterschiedlichen Graden gegeben sein können: Freiheit (Anderskönnen), Intelligibilität (aus verständlichen Gründen aktiv handeln) und Urheberschaft (Ursprung der Entscheidung liegt im eigenen Selbst). Diese drei Komponenten sind für ein angemessenes Verständnis dessen, was unter Willensfreiheit zu verstehen ist, wesent­ lich. Darüber hinaus können die einzelnen Komponenten jeweils in einer maximalen, moderaten oder minimalen Fas­ sung bzw. Lesart vorkommen, welches den Begriff nachhal­ tig prägt. Aus diesem Grund sollte man sich immer im Kla­ ren darüber sein, welcher Begriff von Willensfreiheit gerade verwendet wird. Wenn man dies nicht macht, dann kann es sehr leicht passieren, dass man aneinander vorbeiredet. Mit Blick auf die zweite Unterscheidung zwischen Ur­ sachen und Gründen hatte bereits Immanuel Kant (1724– 1804) herausgestellt, dass es im Bereich der Ursachen Kausa­ lität, aber keine Freiheit (also in der Sinnenwelt) und es im Bereich der Gründe Freiheit, aber keine Kausalität (in der Verstandeswelt) gibt. In ähnlicher Weise hat der berühm­ te Hermeneutiker Wilhelm Dilthey (1833–1911) zwischen den Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften unter­ schieden. Während es im Bereich der Naturwissenschaften, so Dilthey, um das Erklären von Ereignissen (Ableitung aus vorausliegenden Umständen und Gesetzen) geht, geht es im Bereich der Geisteswissenschaften um das Verstehen von https://doi.org/10.5771/9783495999233

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9. Gibt es einen freien Willen?

Handlungen (hierbei geht es darum, die Handlungsgründe zu kennen und die Überlegungen nachzuvollziehen).

9.2. Die vier Hauptpositionen Im Folgenden werde ich die vier Hauptpositionen – den Kompatibilismus, den Inkompatibilismus (in zwei ganz un­ terschiedlichen Varianten) und den Impossibilismus – dar­ stellen: Der Neurodeterminismus besagt, dass unsere als frei empfundenen Willensentscheidungen vollständig durch neuronale Prozesse im Gehirn bestimmt werden. Damit wird die Willensfreiheit ausgehebelt. Die Argumentation sieht wie folgt aus: 1. Prämisse: Wenn der Neurodeterminismus wahr ist, dann kann es keine Willensfreiheit geben. 2. Prämisse: Der Neurodeterminismus ist wahr. 3. Folgerung: Es gibt keine Willensfreiheit. Die Anhänger des Kompatibilismus glauben jedoch, dass man einen „weichen“ (Neuro-)Determinismus mit einer wohlverstandenen Willensfreiheit vereinbaren bzw. kompati­ bel machen kann. Sie nehmen Folgendes an: 1. Die Person hätte unter anderen Umständen anders ent­ scheiden können. 2. Die Person ist Urheber (allerdings nicht der Letzturhe­ ber) ihrer Entscheidungen. 3. Die Person hat Kontrolle über ihre Wünsche 1. Ord­ nung. Sie kann vermittels ihrer Wünsche 2. Ordnung entscheiden, welche Wünsche 1. Ordnung handlungs­ wirksam werden können (im Sinne von Harry Frankfurt, geb. 1929).

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9.2. Die vier Hauptpositionen

Der weiche Determinismus, so die Anhänger, ist mit einer wohlverstandenen Willensfreiheit vereinbar, wenn man dar­ unter versteht, dass die Entscheidungen des Menschen durch seine Motive und Neigungen bedingt sind. Die meis­ ten Philosophen sind Kompatibilisten. Die Anhänger des Inkompatibilismus II nehmen an, dass es keine Willensfreiheit gibt, die mit dem (harten) De­ terminismus (alle Ereignisse sind vorherbestimmt) in Ein­ klang gebracht werden können. Die Überlegungen sehen üblicherweise wie folgt aus: 1. Wenn der Determinismus wahr ist, dann besteht der Weltverlauf aus einer einzigen unverzweigten Linie und man kann sich an keinem Punkt anders entscheiden. 2. Wenn der Determinismus wahr ist, dann lassen sich meine Entscheidungen kausal auf den Urknall zurückver­ folgen. Somit bin ich nicht Urheber meiner eigenen Ent­ scheidungen. 3. Wenn der Determinismus wahr ist, dann werden meine Entscheidungen vollständig durch den Anfangszustand und die Naturgesetze bestimmt und sind somit nicht mehr unter meiner Kontrolle. Die Anhänger des Impossibilismus glauben, dass es weder Willensfreiheit gibt noch, dass der Determinismus wahr ist. Sie nehmen an, dass die Welt indeterministisch ist. Doch was heißt das genau? Der Indeterminismus besagt, dass Ereig­ nisse entweder unverursacht bzw. zufällig oder zumindest nicht (notwendigerweise) vorherbestimmt sind. Auf dieser Grundlage, so die Anhänger des Impossibilismus, kann es weder begrifflich noch metaphysisch freie Willensentschei­ dungen geben. Diese Position wird von den wenigsten Phi­ losophen geteilt. Die Anhänger des Inkompatibilismus I, auch Libertari­ er genannt, gehen davon aus, dass es echte Willensfreiheit https://doi.org/10.5771/9783495999233

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9. Gibt es einen freien Willen?

gibt und die These des Determinismus falsch ist. Sie glau­ ben (anders als die Anhänger des Impossibilismus), dass es möglich ist, freie Willensentscheidungen im Kontext eines Indeterminismus zu begründen. Eine prominente Position geht von der sogenannten Akteurskausalität im Unterschied zur Ereigniskausalität (stark vereinfacht: immer, wenn das Ereignis A vorliegt, tritt das Ereignis B ein) aus. Unter dem Begriff Akteurskausalität versteht man Folgendes: 1. Meine Entscheidungen werden weder durch die Naturgesetze noch durch die Vergangenheit bestimmt. 2. Ich bin selbst Urheber meiner Entscheidungen (Letzturheber). 3. Ich bin in der Lage, eigene Kausalketten in Gang zu bringen. Auch wenn der Libertarismus intuitiv naheliegt und viele Menschen diese Variante – ob bewusst oder unbewusst – als die richtige akzeptieren, bleibt jedoch zu konstatieren, dass es durchaus problematisch ist, wenn man sich in einer Situation auf der Grundlage derselben Gründe mal für Opti­ on 1 und mal für Option 2 entscheiden können sollte. Aus diesem Grund, so die Kritiker, steht der Libertarismus theo­ retisch und empirisch auf schwachen Beinen, gleichwohl es sehr viele Philosophen gibt, die Anhänger des Libertarismus sind.

9.3. Drei Argumente zur Willensfreiheit Im Folgenden werden drei Argumente zur Willensfreiheit dargestellt, die im Anschluss daran ebenfalls kurz bewertet werden.

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9.3. Drei Argumente zur Willensfreiheit

Das Intuitionsargument Das erste Argument könnte formal wie folgt dargestellt werden: 1. Prämisse: Wir haben die starke Intuition, dass wir über einen freien Willen verfügen. 2. Prämisse: Eine so starke Intuition kann nicht falsch sein. 3. Folgerung: Also verfügen wir über einen freien Willen. Dieser praktische Syllogismus (Schliessverfahren) kann des­ wegen nicht überzeugen, da die zweite Prämisse falsch ist. Starke Intuitionen sagen zunächst einmal nichts darüber aus, ob diese wahr oder falsch sind. Aus der Geschichte sind unzählige Beispiele bekannt, wo Menschen starke Intuitio­ nen hatten, die sich hinterher als falsch herausstellten. Ein Beispiel: Die meisten amerikanischen Sklavenhalter hatten die starke Intuition, dass die schwarzen Afrikaner mit Recht versklavt werden durften, da sie keine Personen waren und somit keinerlei Rechte besäßen. Dies war offenkundig falsch, gleichwohl eine starke Intuition vorlag.

Das Argument der faktischen Determiniertheit Ein weiteres inkompatibilistisches Argument besagt Folgen­ des: 1. Prämisse: Die Welt ist faktisch determiniert. 2. Prämisse: Die Menschen sind ein Teil dieser Welt. 3. Folgerung: Da wir determiniert sind, haben wir keinen freien Willen. Bei diesem Argument ist es fraglich, ob die erste Prämis­ se plausibel ist und welche genauen Folgerungen daraus https://doi.org/10.5771/9783495999233

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9. Gibt es einen freien Willen?

gezogen werden können. So haben wir bereits weiter oben gesehen, dass die Anhänger des Kompatibilismus sowohl die Existenz des Neurodeterminismus akzeptieren als auch betonen, dass die Möglichkeit eines freien Willens gegeben ist. Diesbezüglich hängt also alles davon ab, wie die Begriffe definiert werden.

Das Unvorhersagbarkeitsargument Die Vertreter des kompatibilistischen Arguments bezüglich der Freiheit als Unvorhersagbarkeit argumentieren wie folgt: 1. Prämisse: Die Menschen sind dann frei, wenn sie ihre eigenen Handlungen nicht vorhersagen können. 2. Prämisse: Es ist prinzipiell unmöglich, dass Menschen ihre Handlungen vorhersagen können. 3. Folgerung: Die Menschen sind frei. Die Tatsache, dass etwas nicht vorhersagbar ist, bedeutet noch nicht, dass daraus folgt, dass es Willensfreiheit gibt. Doch warum ist das so? Der Hauptgrund, warum dies so ist, hat damit zu tun, dass es sich um zwei unterschiedliche Kategorien handelt, die miteinander vermengt werden. „Vor­ hersagbarkeit“ bezieht sich auf den erkenntnistheoretischen Bereich, während die Frage, ob etwas wirklich determiniert ist oder nicht, im sogenannten ontologischen Bereich ange­ siedelt ist. Man begeht also einen Kategorienfehler, wenn man glaubt, dass das erkenntnistheoretische Argument not­ wendigerweise aufzeigt, dass sich die Wirklichkeit auch ent­ sprechend verhält.

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9.4. Gottes Allwissenheit und das Problem der Willensfreiheit

9.4. Gottes Allwissenheit und das Problem der Willensfreiheit Im sechsten Kapitel haben wir uns der Frage gewidmet, ob es Gott gibt. Dabei haben wir festgestellt, dass Gott sowohl allmächtig und allgütig als auch allwissend ist. Dies sind seine drei klassischen Eigenschaften. Mit Blick auf das Prob­ lem der Willensfreiheit ergibt sich nun folgende Schwierig­ keit: Wenn Gott allwissend ist – und dies klassischer Wei­ se die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einschließt –, dann, so haben Kritiker eingewandt, untergräbt dies die Willensfreiheit des Menschen, da zu jedem Zeitpunkt be­ reits feststeht, wie wir uns entscheiden und handeln werden. Dies ist offenkundig ein Problem, da somit die Existenz Gottes unsere Willensfreiheit bedroht. Ein möglicher Lösungsansatz besagt, dass dies nur dann problematisch ist, wenn wir uns Gott als ein tempo­ rales Wesen vorstellen, das in der Zeit existiert. Wenn wir aber davon ausgehen, dass Gott außerhalb der Zeit existiert, dann wäre es durchaus denkbar, dass Gottes Existenz und die menschliche Willensfreiheit zusammen gedacht werden können. Die Schwierigkeit dabei besteht darin, sich entspre­ chend vorzustellen, was es genau heißt, dass ein Wesen außerhalb der Zeit existiert. Es könnte sein, dass dieser Lö­ sungsvorschlag eine ad hoc Annahme ist und nicht wirklich etwas zur Lösung des eigentlichen Problems beiträgt. Es bleibt jedoch zu konstatieren, dass die Probleme und De­ batten in einem Themenkreis durchaus Auswirkungen mit Blick auf andere Fragestellungen in der Philosophie haben können. Und dies, so könnte man sagen, macht das Philoso­ phieren so spannend.

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10. Wie hängen Körper und Geist zusammen? Die zentrale Frage, wie Körper (Leib) und Geist (Seele) zu­ sammenhängen, beschäftigt die Philosophen bereits seit der Antike und wird insbesondere im Kontext der Philosophie des Geistes ausgiebig diskutiert (vgl. Kapitel 3). Es ist rat­ sam, dass Sie sich – wenn Sie es noch nicht getan haben – nochmals das Unterkapitel Philosophie des Geistes (in Ka­ pitel 3) zur Vorbereitung anschauen, da ich an dieser Stelle nicht noch einmal eine Wiederholung des bereits Geschrie­ benen geben werde. In diesem Kapitel werde ich also zusätz­ liche Überlegungen anstellen und einige Positionen darstel­ len, auf die ich vorher noch nicht eingegangen bin. Auf welche Weise soll man sich also das Verhältnis von physi­ schen und mentalen Zuständen genau vorstellen? Dies ist die sogenannte Gretchenfrage der Philosophie des Geistes. Diesbezüglich gibt es, wie wir bereits gesehen haben, zu­ mindest zwei unterschiedliche Antwortstrategien: Der Mo­ nismus und der Dualismus. Die Anhänger des Monismus gehen davon aus, dass es entweder nur das Materielle (Mate­ rialismus) oder das Geistige (idealistischer Monismus) gibt. Die Vertreter des Dualismus nehmen im Allgemeinen an, dass es zwei unterschiedliche Substanzen (Substanzdua­ lismus) gibt. Darüber hinaus gibt es jedoch noch den so­ genannten Eigenschaftsdualismus, dessen Vertreter anneh­ men, dass es lediglich eine einzige materielle Substanz gibt, die allerdings zwei unterschiedliche Eigenschaften aufweist

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10.1. Substanzdualismus

(und somit eine Art hybrid darstellt). Einer der bedeutends­ ten Philosophen, die einen Dualismus vertreten, ist Platon (428–348 v. Chr.). Platon geht davon aus, dass Körper und Geist zwei unterschiedliche Substanzen sind. Die mensch­ liche Seele bzw. der Geist, so Platon, bestimmt über den Körper und verlässt ihn im Todesfall. Diesbezüglich spricht er explizit von einer Seelenwanderung, wenn es darum geht, dass sich die Seelen einen neuen Körper suchen. Die Platonische Vorstellung des Dualismus wurde im christlichen Mittelalter aufgegriffen und zur Doktrin erho­ ben. In der christlichen Vorstellung gibt es seitdem eine kla­ re Trennung zwischen dem endlichen und fleischlichen Kör­ per einerseits und der unsterblichen menschlichen Seele an­ dererseits. Grundsätzlich bleibt jedoch zu konstatieren, dass weder Platon noch das Christentum im Mittelalter überzeu­ gende Argumente vorbringen konnten, wie der Geist auf die Materie einwirkt und damit eine Interaktion gewährleistet werden kann. Zu Beginn der Neuzeit, also im Ausgang des Mittelalters und der zunehmenden Entwicklung der empiri­ schen Naturwissenschaften, hat man versucht, den Interak­ tionismus wissenschaftlich zu erklären.

10.1. Substanzdualismus René Descartes (1596–1650) gehört zu den Begründern der neuzeitlichen Philosophie und glaubt, dass das Geistige un­ abhängig von der Materie bzw. dem Körperlichen existiert und auf diese einwirken kann. Damit stimmt er mit der Alltagserfahrung vieler Menschen überein, die heutzutage ebenfalls zahlreiche Anhänger (gerade unter Laien) hat. Der Ort, an dem die Interaktion zwischen Geist und Materie stattfindet, ist nach Descartes die Zirbeldrüse im Gehirn.

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10. Wie hängen Körper und Geist zusammen?

Diese spekulative Annahme wurde bereits damals mit Recht zurückgewiesen. Im 20. Jahrhundert hat Karl Popper (1902–1994) eine Art Neuauflage des Dualismus vertreten, den er jedoch durch seine Drei-Welten-Lehre zu erweitern suchte. In die­ sem Sinne kann man sagen, dass er sich gegen die klassi­ sche Formulierung des Substanzdualismus wendet und eine neue Variante vorschlägt.20 Er geht davon aus, dass es drei verschiedene Zustände gibt: Das Physische (1. Welt), die individuelle Wahrnehmung bzw. das Bewusstsein (2. Welt) und die vom individuellen Bewusstsein zu unterscheidende objektive Welt der geistigen und kulturellen Zustände, wie man sie in Theorien und Ideen vorfindet (3. Welt). Men­ schen, so Popper, sind in der Lage vermittels der 3. Welt auf die 1. Welt Einfluss zu nehmen.

10.2. Epiphänomenalismus Die Vertreter des Epiphänomenalismus glauben im Allge­ meinen (auch wenn es unterschiedliche Varianten gibt), dass die physischen Zustände im Gehirn, die mentalen Zustände als eine Art Nebenprodukt verursachen. Dabei liegt das Pri­ mat bei der Materie. Der Geist bzw. die mentalen Zustände können ihrerseits nicht auf die physischen Gehirnprozesse einwirken und diese beeinflussen. Dagegen wurde im Allgemeinen eingewandt, dass es im Rahmen des Epiphänomenalismus unklar bleibt, auf welche Weise und wo das Körperliche auf das Mentale einwirken könne. Hinzu kommt, dass es ebenfalls nicht ersichtlich ist,

20 Streng genommen handelt es sich immer noch um zwei unter­ schiedliche Bereiche, das Materielle und das Geistige.

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10.3. Eigenschaftsdualismus

wie mentale Zustände untereinander agieren können. Die zentrale These des Epiphänomenalismus, dass die mentalen Zustände lediglich Nebenprodukte seien, widerspricht auch der herkömmlichen Vorstellung, dass unsere mentalen Zu­ stände, physische Wirkungen haben können. Gewiss, nur weil etwas nicht der traditionellen Vorstellung entspricht, muss es noch lange nicht falsch sein, doch es bleiben ein­ fachhin zu viele Fragen unbeantwortet.

10.3. Eigenschaftsdualismus Der Eigenschaftsdualismus ist im Grunde genommen ein materieller Substanzmonismus. Vertreter wie der bekann­ te australische Philosoph David Chalmers (geb. 1966) ge­ hen davon aus, dass die gesamte Wirklichkeit aus Mate­ rie besteht, es jedoch ebenfalls nichtmaterielle, also menta­ le, Eigenschaften wie Qualia (qualitative Wahrnehmungen wie zum Beispiel Schmerzempfindungen etc.) gibt. Diesbe­ züglich, so Chalmers, in seinem wichtigen Buch The Con­ scious Mind (1996) kann man davon sprechen, dass die Eigenschaften der grundlegenden Materie (Substanz) von körperlicher und mentaler Natur seien. Dies wird dann als Eigenschaftsdualismus bezeichnet. Der Eigenschaftsdua­ lismus entgeht der Kritik von Gilbert Ryle (1900–1976), die der bedeutende analytische Sprachphilosoph in seinem Buch The Concept of Mind (1949) gegen den Dualismus vorgebracht hat. Nach Ryle ist der Geist bzw. das Mentale lediglich eine Illusion, die zu einem Kategorienfehler führt, wenn man wie Descartes annimmt, dass es zwei unabhängi­ ge Substanzen gibt. Es gibt, nach Ryle, keinen Geist in der Maschine.

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10. Wie hängen Körper und Geist zusammen?

10.4. Materialismus Im dritten Kapitel ist bereits auf einige Varianten des mate­ rialistischen Monismus eingegangen worden, so dass ich an dieser Stelle lediglich auf eine weitere Position aufmerksam machen möchte. Es handelt sich dabei um die sogenannte Identitätstheorie, die in der Gegenwart insbesondere vom Philosophen Jaegwon Kim (1934–2019) vertreten worden ist. Die Anhänger der Identitätstheorie gehen im Allgemei­ nen davon aus, dass ein mentaler Zustand M mit einem physischen Zustand P identisch ist. Mit anderen Worten: Wenn ich den Wunsch nach einem Gänsebraten habe (men­ taler Zustand M), dann – so die Annahme – gibt es einen bestimmten Gehirnzustand, bei dem Nervenzellen in be­ stimmten Regionen des Gehirns „feuern“. Man versucht also herauszufinden, wie und vor allem wo sich Gedanken physisch manifestieren und umgekehrt, ob bestimmte mentale Zustände immer durch dieselben Ge­ hirnzustände realisiert werden. Mittlerweile hat man fest­ stellen können, dass es keine einfache Identität von physi­ schen und mentalen Zuständen gibt, sondern, dass es multi­ ple Realisierungsmöglichkeiten gibt. Darüber hinaus gibt es weitere Einwände und Probleme, die die Anhänger der Iden­ titätstheorie entkräften bzw. lösen müssen. Ein hartnäcki­ ges Problem besteht darin, erklären zu müssen, wie unter­ schiedliche Lebewesen mit unterschiedlichen Gehirn(struk­ turen) die gleichen mentalen Zustände wie zum Beispiel Schmerzempfindungen haben können.

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10.5. Das Problem der Willensfreiheit

10.5. Das Problem der Willensfreiheit Die Frage, ob es einen freien Willen gibt oder nicht, haben wir im 9. Kapitel diskutiert. Das Leib-Seele Problem hat starke Berührungspunkte mit dem Problem der Willensfrei­ heit, wenn es darum geht, herauszufinden, auf welche Weise sich ein „freier Wille“ physisch und mental realisieren kann. Traditioneller Weise geht man davon aus, dass der freie Wille einen mentalen bzw. geistigen Zustand voraussetzt. Der Materialismus, so die These, unterminiert die Freiheit des Willens und degradiert ihn zu einer Illusion. Willensfrei­ heit, so die Behauptung, setzt notwendigerweise die Existenz von mentalen Zuständen voraus, die auf physische Zustände einwirken können. Wenn es uns also nicht gelingt, herauszufinden, ob es einen robusten Begriff von Willensfreiheit im Kontext einer materialistischen Position gibt (und wie wir diesen natur­ wissenschaftlich erklären können), dann sollten wir uns von der Idee verabschieden, dass es so etwas wie Willensfreiheit wirklich gibt. Können wir wirklich wollen, was wir wollen? Oder sind wir nur das Produkt vergangener Ereignisse, die wir nicht beeinflussen können? Sind wir in der Lage dazu, so wie es die Libertarier glauben, neue Ereignisketten in Gang zu setzen und darüber unsere Willensfreiheit zu retten? Diese und ähnliche Fragen sind ebenfalls im Kontext der Philosophie des Geistes relevant und scheinen insbesondere mit Blick auf das Leib-Seele Problem auf. In den letzten Jahrzehnten haben sich immer mehr Forscher aus der Neurobiologie mit dem Problem der Wil­ lensfreiheit beschäftigt und versucht, die Frage zu beantwor­ ten, wie physische und mentale Zustände zusammenhängen. Doch nicht nur Neurobiologen, sondern auch Philosophen wie John Searle (geb. 1932) in Freiheit und Neurobiologie

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10. Wie hängen Körper und Geist zusammen?

(2004) haben sich zunehmend mit den empirischen Er­ kenntnissen aus der Neurobiologie fruchtbar auseinanderge­ setzt. Das Leib-Seele Problem und das Problem der Willens­ freiheit sind insofern für das Selbstverständnis des Men­ schen bedeutend, als ihre Lösungen Rückschlüsse mit Blick auf die Natur des Menschen erlauben. Heutzutage sind wir noch weit davon entfernt, Gewissheit darüber zu haben, wie (und ob) physische und mentale Zustände zusammenhän­ gen und was ihre Korrelationen, wenn es sie denn gibt, ge­ nau bedeuten. Wenn sich jedoch herausstellen sollte, dass es zum Beispiel keine Willensfreiheit gibt und die Annahme einer mentalen Verursachung lediglich eine Illusion im Rahmen eines starken Materialismus ist, dann hat dies erhebliche Folgen für das Selbstbild des Menschen als Mensch. Die Tatsache, dass wir uns frei fühlen, darf nicht darüber hin­ wegtäuschen, dass wir möglicherweise unfrei sind. Einige zeitgenössische Neurobiologen wie Wolf Singer und Ger­ hard Prinz haben bereits dafür argumentiert, dass man das deutsche Strafrecht reformieren müsse, da es so etwas wie Schuld im moralischen Sinne gar nicht gibt, weil unsere Entscheidungen neuronal determiniert sind. Unsere Entschei­ dungen, so die Behauptung, liegen eben nicht in unserer Verfügungsgewalt. Wenn das stimmt, dann hätte dies weitreichende Kon­ sequenzen für unser Menschenbild. Ohne Zweifel müss­ ten wir dann wesentliche gesellschaftliche Pfeiler wie das Rechtssystem verändern und vermutlich weitere Institutio­ nen im Lichte der neuen Erkenntnisse reformieren.

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10.6. Künstliche Intelligenz – Das Ende der Menschheit?

10.6. Künstliche Intelligenz – Das Ende der Menschheit? Die Annahme, dass wir irgendwann einmal eine Maschi­ ne konstruieren könnten, die dem Menschen entweder in seiner Intelligenz ähnlich oder sogar überlegen ist, wurde immer damit gekontert, dass dies nicht möglich sei, da es unmöglich ist, einen Geist in die Maschine zu „implemen­ tieren“. Dieser Einwand geht vom traditionellen Dualismus aus, der die Existenz des Mentalen bzw. Geistigen annimmt, das unabhängig vom Physischen existiert. Wenn wir aller­ dings davon ausgehen, so wie es viele Neurobiologen und Physiker tun, dass es keinen Hinweis auf etwas Geistiges gibt, das auf das Körperliche einwirken kann, dann erscheint es durchaus plausibel, dass eine superintelligente Maschine nicht auf „einen Geist“ (bzw. das Mentale) angewiesen ist. Wenn also der Materialismus wahr ist, dann besteht in der Tat die Möglichkeit, Maschinen zu bauen, die uns überlegen sind, ohne das Problem lösen zu müssen, wie wir denn „den Geist in die Maschine“ bekommen können. Zum Beispiel: Es könnte sein, dass extrem komplexe Systeme wie das menschliche Gehirn ab einem gewissen Niveau mentale Zustände entstehen lassen, die wiederum Einfluss auf die Gehirnzustände nehmen können. In gleicher Weise, so die Anhänger des Funktionalismus, ist es dann auch möglich, dass komplexe künstliche Systeme ebenfalls solche mentalen Zustände hervorbringen könnten. Auf der anderen Seite könnte es auch sein, dass eine bestimmte Form des Dualismus richtig ist und wir nur noch nicht dahintergekommen sind, welche es ist. Welche Aus­ wirkungen dies auf unsere künstlichen Maschinen hätte, ist immer noch Gegenstand aktueller Forschungsdebatten. Die technische Entwicklung in der Forschung zur Künstlichen https://doi.org/10.5771/9783495999233

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Intelligenz (KI), den Computerwissenschaften und der Ro­ botik hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt. Moderate Schätzungen gehen davon aus, dass die künstli­ chen autonomen Maschinen in den nächsten hundert Jahren nahezu alle Arbeiten ausführen werden, die jetzt noch von Menschen erledigt werden. Dies setzt jedoch voraus, dass jene Maschinen über eine KI verfügen, die zumindest in ihrer Fähigkeit der Intelligenz von Menschen nahekommt oder gleicht (oder aber diese übersteigt). Der berühmte zeitgenössische Futu­ rist und Google’s Direktor für Engineering, Ray Kurzweil (geb. 1948), hat prognostiziert, dass die künstlichen Ma­ schinen (also diejenigen, die über eine KI verfügen), um das Jahr 2045 intelligenter als wir Menschen sein werden. Dies wird in der Forschung auch als die technologische Sin­ gularität bezeichnet.21 Doch was bedeutet KI eigentlich? B.J. Copeland hat folgende Definition vorgeschlagen: AI is the ability of a digital computer or computer-con­ trolled robot to perform tasks commonly associated with intelligent beings. The term is frequently applied to the project of developing systems endowed with the intellectual processes characteristic of humans, such as the ability to reason, discover meaning, generalize, or learn from past experience.22 B.J. Copeland 21 Die technologische Singularität, so die Forscher, würde dann eine neue Ära in der Menschheitsgeschichte einläuten. Die meis­ ten Probleme der Menschen könnten dann von solchen superin­ telligenten Maschinen in kürzester Zeit gelöst werden. Zumin­ dest ist dies die große Hoffnung. 22 „Künstliche Intelligenz ist die Fähigkeit eines digitalen Computers oder eines computer-kontrollierten Roboters, Aufgaben auszuführen, die normalerweise mit intelligenten Lebewesen in Verbindung gebracht werden. Der Begriff ist

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Mit anderen Worten: Die KI versetzt Maschinen in die Lage, diejenigen Aufgaben zu erledigen, die normalerweise intel­ ligente Personen erforderlich machen. Ob die künstlichen Maschinen jemals so intelligent wie Menschen werden, ist in der Forschung nach wie vor umstritten, doch immer mehr Wissenschaftler gehen davon aus, dass dies vermutlich der Fall sein wird. Doch was passiert, wenn die technologische Singularität wirklich eintritt? Wie werden die Maschinen reagieren? Was werden sie tun? Was wollen sie?

Superintelligente Maschinen Der berühmte Astrophysiker Stephen Hawking (1942– 2018), der etwas schrille CEO von Tesla Elon Musk (geb. 1971), der Gründer von Microsoft Bill Gates (geb. 1955) und der einflussreiche Oxforder Philosoph Nick Bostrom (geb. 1973) haben eindringlich vor den Gefahren der technologischen Singularität gewarnt, da man nicht wirklich wissen könne, wie sich die superintelligenten Ma­ schinen gegenüber uns Menschen verhalten würden. Das Standardargument mit Blick auf intelligente Maschinen lau­ tet in diesem Kontext wie folgt: 1. Prämisse: Es ist wahrscheinlich, dass es in den nächs­ ten Jahrzehnten zu einer technologischen Singularität kommt.

hin und wieder auf das Projekt angewandt worden, Systeme zu entwickeln, die die intellektuellen Prozesse eines Men­ schen aufweisen, wie zum Beispiel die Fähigkeit zu denken, Bedeutungen zu entdecken, zu verallgemeinern oder aus der Vergangenheit zu lernen.“ https://doi.org/10.5771/9783495999233

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2. Prämisse: Wenn es zu einer technologischen Singularität kommt, dann werden uns die Maschinen überlegen sein. 3. Prämisse: Wir wissen nicht, wie sich superintelligente Maschinen gegenüber Menschen verhalten oder welche Absichten sie verfolgen werden. 4. Folgerung: Da wir nicht wissen können, wie sich super­ intelligente Maschinen verhalten, sollten wir alles dafür tun, diesen Prozess (a.) entweder zu verlangsamen (um eine Lösung zu finden) oder (b.) ganz aufzuhalten. Die lebhaften Szenarien reichen dann von Situationen, wie wir sie aus den Filmreihen Terminator und Matrix kennen, bis hin zum menschenfreundlichen Data in Star Trek. Dies alles ist derzeit noch sehr weit weg und klingt für die meis­ ten Menschen (die sich damit nicht unmittelbar beschäfti­ gen) wie „dummes Zeug“ oder „Humbug“. Man sollte dabei jedoch nicht vergessen, dass die KI bereits viele Bereiche unserer Lebenswelt erfasst hat. Die Abhängigkeit des Men­ schen von der Technologie im Allgemeinen und der KI im Besonderen ist enorm. Die Bereiche, in denen künstliche Maschinen, die über KI verfügen, heutzutage bereits eingesetzt werden, sind vielfältig und weiten sich stetig aus. So gibt es zum Beispiel autonome Pflegeroboter sowie selbstfahrende Autos, auto­ nome Kampfdrohnen, menschenähnliche Sexroboter, ganz unterschiedliche intelligente Assistenzsysteme (vom Auto­ piloten im Flugzeug bis zur KI im Büro), das Internet of Things (technische Vernetzung aller smarten Devices), KI in der Strafverfolgung, Rechtsprechung und Medizin (Entwick­ lung von Medikamenten, Früherkennung von Krankheiten) oder im Kontext von Big Data. Die Digitalisierung der Le­ benswelt – und damit der Einsatz von KI – kennt keine Grenzen.

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Wenn die Maschinen unsere gesamte Arbeitswelt re­ geln werden, wird für die meisten Menschen das größte Problem vermutlich in der Frage bestehen, was sie eigentlich den ganzen Tag tun sollen. Einige Autoren haben darauf hingewiesen, dass dies zu einer Krise führen könnte, da die existentielle Langeweile starke negative Auswirkungen auf viele Menschen hätte. Soll man den ganzen Tag Tennis und Golf spielen oder anderen Hobbies nachgehen? Oder lesen und sich Hörbücher anhören? Was soll man nur den ganzen Tag tun? Auch wenn sich viele Menschen über ihre Arbeit be­ schweren, sind jedoch genauso viele Menschen froh darüber, wenn sie nach einem langen Urlaub oder einer langen Krankheit wieder etwas zu tun haben und zur Arbeit zu­ rückkehren können. Arbeit wird in der Regel nicht als extre­ me Belastung verstanden, zumindest nicht in unserer Zeit. Sich unproduktiv zu fühlen und den ganzen Tag zu faulen­ zen, ist für die meisten Menschen ein echtes Problem. Was soll man also tun, wenn die Maschinen uns alle Arbeiten abnehmen?

Asimovs vier Robotergesetze Der berühmte Science-Fiction Schriftsteller Isaac Asimov (1920–1992) ist für seine spannenden Erzählungen, in de­ nen autonome Maschinen und Roboter vorkommen, die über KI verfügen, weltweit bekannt. In den beiden Ge­ schichten Runaround (1942) und Robots and Empire (1986) hat Asimov einen einflussreichen Vorschlag gemacht, wie man sicherstellen könnte, dass sich die Maschinen nicht gegen die Menschen auflehnen. In Runaround ersann er die sogenannten drei Gesetze der Robotik, die wie folgt lauten:

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1. Ein Roboter darf einem menschlichen Wesen keinen Schaden zufügen oder durch Untätigkeit zulassen, dass einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird. 2. Ein Roboter muss den Befehlen gehorchen, die ihm von Menschen erteilt werden, es sei denn, dies würde gegen das erste Gebot verstoßen. 3. Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen, solan­ ge solch ein Schutz nicht gegen das erste oder zweite Gebot verstößt. In Robots and Empire ergänzte er diese drei Gesetze durch ein nulltes Robotergesetz, das den anderen drei Gesetzen vorgeordnet ist: „Ein Roboter darf der Menschheit keinen Schaden zufügen oder durch Untätigkeit zulassen, dass der Menschheit Schaden zugefügt wird.“ In der Forschung zur KI und Robotik wird Asimovs Vorschlag seit vielen Jahren durchaus gewinnbringend disku­ tiert. Es wird jedoch im Allgemeinen davon ausgegangen, dass die vier Gesetze (wenn man sie in die Maschinen ein­ programmiert) nicht in der Lage sind, die Menschen ausrei­ chend vor fehlgeleiteten Robotern zu schützen. Diesbezüg­ lich könnte man mit Recht einräumen, dass dies auch gar nicht Asimovs ursprüngliche Absicht war. Wenn die vier Gesetze problemlos funktioniert hätten, dann hätte es auch keine spannenden Geschichten geben können. Seit einigen Jahren forschen Philosophen im Kontext der Roboterethik nach anderen Möglichkeiten, wie man sicherstellen kann, dass die Menschheit nicht durch KI­ Maschinen ausgelöscht wird. Einer der Pioniere ist Nick Bostrom, der deutlich gemacht hat, dass es unbedingt erfor­ derlich ist, dass wir den Maschinen unsere23 Normen und 23 Diesbezüglich müsste man sich auf bestimmte universelle Nor­ men und Werte einigen. Wie wir allerdings gesehen haben (vgl.

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Wertvorstellungen beibringen müssen, um Schlimmeres zu vermeiden. Mit anderen Worten: Eine superintelligente Ma­ schine, die unsere Werte und Normen kennt und gut be­ handelt worden ist, wird vermutlich nicht dazu neigen, die Menschheit auszulöschen. Und dies, so könnte man sagen, ist vielleicht der beste Schutz, den es gibt.

Rechte für intelligente Maschinen? Im internationalen Kontext wird seit einiger Zeit vehement darüber gestritten, ob intelligente und autonome Maschinen und Roboter24, wenn sie denn existieren, fundamentale mo­ ralische und legale Rechte für sich beanspruchen können. Oder ob solche Maschinen immer in unseren Diensten ste­ hen müssen, ohne jemals als eigenständige Personen aner­ kannt zu werden. In unterschiedlichen Schriften habe ich mich dafür stark gemacht, dass auch intelligente Maschinen und Roboter (wenn es sie denn geben sollte) moralische und legale Rechte haben und zwar unabhängig davon, ob wir dies wollen oder nicht. Die einzige Voraussetzung dafür ist, dass sie dieselben Kriterien erfüllen müssen, die wir norma­ lerweise auch an uns und andere Lebewesen anlegen (wie zum Beispiel Intelligenz, Rationalität, Autonomie, Bewusst­

Kapitel 5), ist dies ein schwieriges Unterfangen. Aufgrund der Pluralität und Diversität der Normen und Werte in der Welt ist das Auffinden eines allgemeinen Konsenses sehr schwierig, aber vielleicht nicht unmöglich, wenn der Fokus hinreichend klein ist und es nur um das Verhältnis von Menschen und Maschinen geht. 24 Übrigens gilt, dass jeder Roboter eine Maschine, aber nicht jede Maschine ein Roboter ist. https://doi.org/10.5771/9783495999233

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sein, Selbstbewusstsein). Wenn dies der Fall ist, dann sind wir moralisch dazu verpflichtet, ihre Rechte zu achten. Dies hätte jedoch weitreichende Folgen für unser Zu­ sammenleben mit solchen Maschinen und Robotern. Aus diesem Grund haben einige Autoren wie Joanna Bryson (geb. 1965) vorgeschlagen, dass man die Intelligenz für Maschinen begrenzen sollte, um solche Schwierigkeiten zu vermeiden. Darüber hinaus haben andere Autoren dafür plä­ diert, dass fundamentale moralische und legale Rechte nur für Menschen gelten, die aufgrund ihrer Gottebenbildlichkeit über Würde verfügen. Der Verweis auf die Menschenwürde ist insofern proble­ matisch, als der Begriff metaphysisch aufgeladen ist und einen religiösen Ursprung hat (vgl. Kapitel 6). Unabhängig vom grundlegenden Problem, die Existenz Gottes zweifels­ frei zu beweisen, hat sich unter Moralphilosophen seit vie­ len Jahren die Überzeugung durchgesetzt, dass selbst Tiere und die Natur moralische und legale Rechte besitzen. Da­ mit ist jedoch nicht gesagt, dass sie dieselben Rechte wie Menschen haben, sondern lediglich, dass sie ebenfalls einige moralische und legale Rechte haben. Der bekannte Roboterethiker David Gunkel hat sich in zwei wegweisenden Büchern dafür ausgesprochen, dass in­ telligente Roboter Rechte haben sollten. Ich denke, dass er im Kern recht hat, auch wenn ich seine spezifische Begrün­ dung dafür ablehne. Während Gunkel glaubt, dass unsere spezifischen Beziehungen moralische Rechte begründen kön­ nen, denke ich hingegen (ganz klassisch), dass nur Personen – also autonome, rationale und intelligente Wesen – mora­ lische Rechte haben können (wobei auch nicht-menschliche Wesen wie Tiere oder intelligente Roboter unter Umständen Personen sein können).

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11. Was ist der Sinn des Lebens? Grundsätzlich kann man zwischen zwei Lesarten mit Blick auf die Sinnfrage unterscheiden. Zunächst kann man allge­ mein fragen, ob das menschliche Leben oder die mensch­ liche Existenz einen Sinn hat. Dies wäre dann eine eher objektive Lesart. Oder man kann sich ganz spezifisch fragen, ob das eigene Leben sinnvoll ist. Dies könnte man dann die subjektive Sinnfrage nennen. Beide Lesarten kann man nicht klar voneinander trennen. Sie beziehen sich aufeinan­ der. Ein Beispiel: So könnte es sein, dass eine Person glaubt, dass das menschliche Leben einen Sinn hat, da der christ­ liche Gott den Menschen den Auftrag gegeben hat, seine Schöpfung zu verwalten und sich um die Erde (nicht das Universum) zu kümmern. Wenn dies so ist, dann wirkt sich das auch auf die subjektive Sinnfrage aus, da jede Person in­ dividuell angesprochen wird. Doch was ist, wenn die Person auf Grund einer schweren Krankheit im hohen Alter keine Lust mehr am Leben hat und sterben möchte? Für sie hat das eigene Leben keinen Sinn mehr. Was soll man also tun? In diesem Kapitel möchte ich nur auf die subjektive Sinnfrage eingehen, da die metaphysische Frage, ob die menschliche Existenz als solche einen Sinn hat, nur schwer zu beantworten ist, wenn man versucht, diese Frage un­ abhängig vom religiösen Kontext zu diskutieren. Kritiker könnten einwenden, dass man nicht an Gott oder das Göttli­ che glauben muss, um die objektive Sinnfrage beantworten zu können, da man auch die Natur (anstelle von Gott) als https://doi.org/10.5771/9783495999233

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11. Was ist der Sinn des Lebens?

das sinnstiftende Element begreifen kann. Der Verweis auf die Natur ist richtig, gleichwohl damit das metaphysische Problem nicht gelöst ist. Was soll das genau bedeuten? Ver­ folgt die an sich unpersönliche Natur eigene Zwecke und hat sie etwa Pläne für uns? Wie können wir feststellen, was die Natur von uns Menschen will? Wenn die menschliche Existenz einen Sinn hat, dann – so könnte man sagen – müsste uns doch die Natur bei der Beantwortung der objek­ tiven Sinnfrage weiterhelfen können. Doch wie sollen wir die Natur befragen? In der Vergangenheit haben zum Beispiel die antiken Stoiker wie der bekannte Epiktet (ca. 50–135) angenommen, dass es möglich ist, die Frage vermittels Vernunft und rich­ tiger Überlegungen zu beantworten. Ein Leben gemäß der Natur, so die Stoiker, ist nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv sinnvoll. Ein solches Leben, so die antike These, verspricht Glückseligkeit. Lebe im Einklang mit der Natur; übe Gelassenheit im täglichen Leben; versuche nicht Dinge zu ändern, die du naturgemäß nicht ändern kannst; und pflege Freundschaften etc. Heutzutage – und vor allem in der analytischen Philo­ sophie – ist man allerdings dazu übergegangen, die objek­ tive Sinnfrage nicht mehr im religiösen Kontext oder mit Blick auf die Natur zu entschlüsseln. Die zeitgenössischen Kritiker glauben, dass die objektive Sinnfrage wenig sinn­ voll ist. Vielmehr, so der allgemeine Tenor, sollte man sich der subjektiven Sinnfrage zuwenden. Im Folgenden möchte ich auf drei unterschiedliche Positionen eingehen, die in der Geschichte der Philosophie entweder in der Vergangenheit (Antike) eine große Rolle gespielt haben oder aber derzeit in der zeitgenössischen Philosophie besonders prominent (geworden) sind. Im Anschluss daran werde ich meine eige­ ne Position vorstellen.

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11.1. Über den Zusammenhang von Moral und gutem Leben

11.1. Über den Zusammenhang von Moral und gutem Leben Die drei Hauptpositionen mit Blick auf die Sinnfrage kön­ nen nur im Zusammenhang mit der Frage, wie Moral und gutes Leben zusammenhängen, plausibel gemacht werden (siehe unten). Die folgenden Überlegungen werden dies aufzeigen: 1. Das individuell gute Leben besteht zur Gänze in einem Leben gemäß der Moral (ganz im Sinne der antiken Tra­ dition). 2. Das individuell gute Leben ist vollkommen unabhängig von objektiven moralischen Ansprüchen (zum Beispiel rein egoistische Positionen). 3. Das individuell gute Leben enthält moralische Ansprü­ che (zum Beispiel der Neoaristotelismus).

Das gute Leben besteht in einem Leben gemäß der Moral Die Sinnfrage kann nur im Kontext der Frage nach der menschlichen Glückseligkeit beantwortet werden. Doch was bedeutet das genau? Wenn wir zum Beispiel einige Phi­ losophen aus der griechischen Antike wie Aristoteles (Le­ ben gemäß der Tugenden), Aristipp von Kyrene (ca. 435– 356 v. Chr., Hedonismus), Diogenes von Sinope (um 412/404–323 v. Chr., Bedürfnislosigkeit), oder Epiktet (Fo­ kus auf das, was in unserer Verfügungsgewalt steht) betrach­ ten, dann sehen wir, dass die Frage, worin die Glückselig­ keit des Menschen (und damit vielleicht auch seine Bestim­ mung?) besteht, immer im Kontext von moralischen An­

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11. Was ist der Sinn des Lebens?

sprüchen sowie der objektiven und subjektiven Sinnfrage diskutiert wird. Mit anderen Worten: Wenn ich die Sinnfrage beantwor­ ten will, dann gibt es nach der antiken Tradition entweder Positionen, die zum Beispiel die individuellen Erfahrungen des Menschen wie körperliche und mentale Lust (Aristipp von Kyrene) oder absolute Bedürfnislosigkeit (Diogenes von Sinope) in den Mittelpunkt stellen. Oder solche Positionen, die einen weniger subjektiven Standard wie die Vernunftfä­ higkeit des Menschen (Aristoteles) oder ein Leben gemäß der Natur (Epiktet) bevorzugen. Alle Autoren glauben je­ doch in gleicher Weise, dass nur ihre jeweilige Position wirkliche Glückseligkeit sicherstellen kann. Diesbezüglich kann man auch von sogenannten objektiven Glückstheorien sprechen.

Das gute Leben kommt ohne Moral aus Die zweite Hauptposition stellt eine Gegenposition zur ers­ ten dar. Hierbei wird davon ausgegangen, dass das individu­ ell gute Leben, ohne die Moral auskommt. Ob diese Position jedoch insgesamt durchgehalten werden kann, erscheint äu­ ßerst fraglich. Wie bereits gesagt (Kapitel 5), sind Menschen keine moralischen Inseln, sondern aufeinander angewiesen. Auch der moralische Trittbrettfahrer ist darauf aus, zumin­ dest den Anschein vor anderen zu bewahren, dass er sich moralisch verhält. Die sozial-politischen und moralischen Folgen, wenn eine solche Person „erwischt“ wird, können da­ zu führen, dass sie aus der moralischen Gemeinschaft aus­ geschlossen würde. Und dies, so bleibt zu konstatieren, ist die härteste Sanktion, die eine Gemeinschaft ihren Mitglie­

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11.1. Über den Zusammenhang von Moral und gutem Leben

dern auferlegen kann. Ein solcher Schritt ist unerwünscht, da er moralisch zu „kostspielig“ ist. Grundsätzlich erscheint es fraglich zu sein, ob die zwei­ te Position wirklich „echte“ Anhänger hat oder aber nur eine logische Möglichkeit darstellt. Der universelle moralische Trittbrettfahrer wäre viel zu sehr damit beschäftigt, seine Fehltritte zu kaschieren und würde stets mit der Gefahr leben müssen, entdeckt zu werden. Dies, so scheint es, wäre ein nicht wünschenswertes – geschweige denn glückseliges – Leben. Die Kosten sind einfachhin zu hoch.

Das gute Leben enthält moralische Ansprüche Die dritte Position wird aufgrund ihrer Plausibilität von den meisten Philosophen geteilt (gleichwohl es natürlich ganz unterschiedliche Ansätze gibt). Hierbei kommt es auf das genaue Verhältnis vom individuell guten Leben einerseits und den moralischen Ansprüchen andererseits an. Die mo­ derne Aufklärung seit Immanuel Kant hat sich von meta­ physischen Grundlagen wie Gott oder der Natur als morali­ sche Quelle verabschiedet. Zeitgenössische Philosophen, wie die international be­ kannte Philosophin Martha C. Nussbaum (geb. 1947), ha­ ben sich wieder verstärkt der Antike und insbesondere Aris­ toteles zugewandt, um die Frage, worin das gute Leben und die Glückseligkeit des Menschen bestehen, zu beantwor­ ten. Dabei geht es weniger darum, Aristoteles eins-zu-eins zu übernehmen, sondern ihn vielmehr für den modernen Diskurs fruchtbar zu machen und seine Überlegungen in abgewandelter Form für unsere heutige Zeit zu gebrauchen. Nussbaum hat dies mit ihrem sogenannten Ansatz der Fä­

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11. Was ist der Sinn des Lebens?

higkeiten umgesetzt, der auch einem breiten nicht-philoso­ phischen Publikum bekannt geworden ist. Sie geht davon aus, dass ein menschliches Leben grund­ legende Fähigkeiten haben muss, damit es als glücklich gelten kann. Im Laufe der letzten Jahre hat Nussbaum ihre Liste der Grundfähigkeiten immer wieder überarbeitet. Sie führt zum Beispiel folgende Punkte auf: körperliche Gesundheit (gesunde Ernährung, angemessene Unterkunft), ein lebenswertes Leben führen zu können (das nicht ver­ kürzt ist), spielen zu können (zu lachen, Aktivitäten zur Erholung zu genießen) und die praktische Vernunft (eine Vorstellung einer eigenen Konzeption des guten Lebens zu entwickeln und diese kritisch hinterfragen zu können). Auch wenn Nussbaums Vorschlag in der Philosophie aufgrund methodischer Probleme kritisch gesehen wird, bleibt zu kon­ statieren, dass Nussbaum als Philosophin und insbesondere ihr Ansatz enorm einflussreich sind und über die Fachgren­ zen hinaus mit Recht als bedeutend eingestuft werden.

11.2. Gutes Leben und moralische Orientierung Meine Überlegungen zur Frage, worin das gute menschliche Leben besteht, wie wir es erreichen und welchen Sinn wir unserer eigenen Existenz geben können, habe ich bereits an anderer Stelle umfangreich ausgeführt. Der interessierte Leser ist dazu angehalten, sich mein Buch Moralische Orien­ tierung. Eine kurze Philosophie des guten Lebens (2021) anzu­ schauen. Zusammenfassend kann man Folgendes sagen: Ein glückseliges Leben, so haben wir gesagt, besteht darin, dass man sowohl seine eigenen Projekte verfolgt, die man als wertvoll erachtet als auch bestimmten 152

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11.2. Gutes Leben und moralische Orientierung

objektiven moralischen Standards gerecht werden soll­ te. Dies sind die beiden notwendigen – jedoch nicht hinreichenden – Grundvoraussetzungen, um ein gutes Leben zu führen. Menschen sind keine Inseln, sondern leben mit anderen Menschen zusammen. Ein erfolg­ reiches Zusammenleben macht es jedoch erforderlich, dass man sich an bestimmte Regeln der Moral hält. Innerhalb dieser Regeln steht es jedoch jedem frei, sich gemäß seiner eigenen Lebensprojekte und Lebensziele zu verhalten. Dies klingt zunächst einfach, doch ein gutes und tugendhaftes Leben zu führen, ist vermutlich die schwierigste Aufgabe im Leben eines Menschen. John-Stewart Gordon, Moralische Orientierung

Meine eigene Position gehört der dritten Hauptposition an, da es meiner Ansicht nach plausibel ist, sowohl die eige­ nen Vorstellungen davon, was ein individuell gutes Leben ausmacht, einzubeziehen, als auch bestimmte moralische Standards zu wahren. Die minimalen Anforderungen der Moral hatte ich bereits weiter oben genannt, möchte diese hier aber nochmals kurz erwähnen: 1. 2. 3. 4. 5.

Die Goldene Regel Der Perspektivenwechsel Mitleid empfinden können Eintracht Interessenkonflikte friedlich beilegen

Klarerweise gehört mehr dazu, als nur diese minimalen Anforderungen umzusetzen, um eine moralische Person zu sein (vgl. Kapitel 5), doch es ist zumindest ein guter Start­ punkt. Darüber hinaus erscheint es ebenfalls sinnvoll zu sein, dass ein glückliches Leben für die jeweilige Person wertvolle Lebensprojekte beinhaltet. Die bloße menschliche Existenz, also das Überleben des Menschen, gehört nicht dazu, sondern bildet lediglich die Grundlage für die unter­

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11. Was ist der Sinn des Lebens?

schiedlichen Konzeptionen des guten Lebens. Ob das eigene Leben wirklich ein sinnerfülltes und glückliches Leben (gewe­ sen) ist, kann man zwar nur am Ende des Lebens feststellen, doch auch während der unterschiedlichen Lebensphasen gibt es Möglichkeiten, das eigene Leben umzugestalten, sich zu verändern, sich „neu“ aufzustellen oder sich unter Umstän­ den auch „neu“ zu erfinden. Das moderne menschliche Leben verläuft in der Re­ gel nicht statisch, sondern ist im hohen Maße dynamisch. Wenn man glaubt, dass man unzufrieden ist, dann hat man heutzutage viele unterschiedliche Möglichkeiten, sein Leben entsprechend zu verändern und insgesamt positiver zu gestalten. Oftmals reichen schon einfache Mittel, um die Qualität seines eigenen Lebens nachhaltig zu verbes­ sern. Ob man nun zu einem praktischen Ratgeber greift, neue Freundschaften schließt, oder spannende (philosophi­ sche) Literatur liest, die das eigene Leben bereichert. Die Hauptsache ist, sich ehrlich zu fragen, ob man mit seinem derzeitigen Leben zufrieden ist oder nicht. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, ob Sie eher Stoiker oder viel­ leicht doch lieber Kyrenaiker sein wollen, wichtig ist, dass Sie mit sich selbst im Reinen sind.

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12. Toolbox für das Philosophiestudium Die Geschichte der Philosophie kennt viele große Namen und Werke. Darüber hinaus gibt es aber auch jene Werke, die nicht nur einen bedeutenden Einfluss mit Blick auf die menschliche Geistesgeschichte genommen haben, sondern insgesamt aufgrund ihrer Einzigartigkeit einen überragen­ den Status genießen. Sie sind die Meisterwerke der Philo­ sophie und ihre enorme Bedeutung für die Menschheitsge­ schichte und das Verständnis des Menschen als Mensch kann nicht überschätzt werden. Jene Werke sind mit Recht die intellektuelle Quelle der Inspiration für unzählige Ge­ nerationen von Philosophen und andere kluge Köpfe. Sie sind Ausdruck der menschlichen Genialität und seiner über­ ragenden denkerischen Leistungsfähigkeit. Dabei geht es nicht darum, dass alles, was in diesen Werken steht, richtig ist (oder man immer mit dem In­ halt übereinstimmen muss); sondern vielmehr, dass auch die Fehler in diesen Werken eine enorme Bedeutung für die ideengeschichtliche Entwicklung des Faches hatten und die Diskurse weiter in positiver Weise angeregt haben. Es wäre zu vorschnell, wenn man einzelne Werke nur einer Kategorie wie zum Beispiel der Ethik oder der politischen Philosophie zuordnet. Vielmehr bleibt zu konstatieren, dass die meisten Schriften, die es auf die TOP­10­Liste geschafft haben, unterschiedliche Kategorien abdecken. Platons Staat deckt zum Beispiel so viele Kategorien ab, dass man ohne https://doi.org/10.5771/9783495999233

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12. Toolbox für das Philosophiestudium

Zweifel sagen kann, dass diese Schrift mit Recht eines der bedeutendsten Werke in der Philosophie ist.

12.1. Die Top 10 der Meisterwerke der Philosophie Im Folgenden möchte ich meine Liste der TOP 10 der phi­ losophischen Meisterwerke in chronologischer Reihenfolge vorstellen und hernach eine knappe Zusammenfassung der einzelnen Werke geben: 1. Platon, Der Staat 2. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik 3. Thomas von Aquin, Summe der Theologie 4. René Descartes, Meditationen 5. Thomas Hobbes, Leviathan 6. John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung 7. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 8. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft 9. John Stuart Mill, Utilitarismus 10. Martin Heidegger, Sein und Zeit

Platons Der Staat Warum sollte ich gerecht handeln, wenn es mir Nachteile einbringt? Was ist Gerechtigkeit? Wie sollte ein gerechter Staat eingerichtet sein? Dies sind die Hauptfragen in Platons Werk, das über eine enorme Dichte und Themenvielfalt ver­ fügt. Auch nach über 2500 Jahren diskutieren die Forscher auf der ganzen Welt immer noch Platons grundlegende

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12.1. Die Top 10 der Meisterwerke der Philosophie

Einsichten und Lösungsvorschläge. Gerechtigkeit, so Platon, besteht darin, wenn jeder das Seine tut.

Aristoteles Nikomachische Ethik Aristoteles zeigt in seinem ethischen Hauptwerk, worin die Glückseligkeit besteht und wie wir diese erreichen können. Es gibt zumindest zwei Lesarten: (1.) Einzig die Philoso­ phen sind in der Lage, ein gutes und glückseliges Leben zu führen, da sie am besten dazu befähigt sind, ein Leben ge­ mäß der Vernunft zu führen. Oder (2.) diejenigen Menschen, die ihr ganzes Leben gemäß den Tugenden leben, können ebenfalls glückselig werden. Die Nikomachische Ethik gilt als die klassische Beschreibung der tugendethischen Position.

Thomas von Aquins Summe der Theologie Thomas von Aquin war nicht nur ein einflussreicher Philo­ soph des Mittelalters, sondern gilt vielen als der wichtigste katholische Theologe. Er ist der oberste Kirchenlehrer der Katholischen Kirche. Die Summe der Theologie ist an den religiösen Novizen gerichtet und umfasst Themen, die von der Gotteslehre über die Moral- und Tugendlehre gehen, eine Christologie enthält sowie die Sakramente diskutiert. Thomas von Aquin geht dabei auf die Bibel, die Kirchen­ väter und andere bedeutende Theologen ein. Ferner über­ nimmt er viele wichtige Einsichten von Aristoteles (den er als den bedeutendsten Philosophen ansieht) und entwickelt diese im Kontext der religiösen Lehre weiter.

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12. Toolbox für das Philosophiestudium

René Descartes Meditationen Die Abhandlung Meditationen gilt vielen als das Standard­ werk des Rationalismus. Gibt es ein Fundament unseres Wissens? Welche Erkenntnisse sind zweifelsfrei gewiss? Mithilfe des sogenannten methodischen Zweifels kann Des­ cartes nachweisen, dass alle Erkenntnis auf Selbsterkenntnis gründet. Alles, was ich „klar“ und „deutlich“ erkennen kann, ist nach Descartes gewiss und jedem Zweifel enthoben. Sei­ ne Position ist die Gegenposition zum Empirismus.

Thomas Hobbes Leviathan Das Buch Leviathan gehört zu den bedeutendsten Wer­ ken der politischen Philosophie und gilt als Gründungsdo­ kument der Vertragstheorie. Eine legitime politische Herr­ schaft geht immer auf einen Gesellschaftsvertrag zwischen den Menschen zurück. Im Leviathan geht Hobbes auf die Natur legitimer Herrschaft, den Gesellschaftsvertrag, die Struktur der Gesellschaft sowie die Natur des Souveräns ein. Die moderne Vertragstheorie ist ohne Thomas Hobbes undenkbar.

John Lockes Zwei Abhandlungen über die Regierung Der zweite Teil des Werks gehört zu den bedeutendsten Büchern in der Geschichte der Philosophie und ist vermut­ lich das einflussreichste philosophische Werk überhaupt (gemessen an den sozial-politischen Folgen). Es ist das Gründungsdokument der liberalen Demokratie und des Ka­ 158

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12.1. Die Top 10 der Meisterwerke der Philosophie

pitalismus. Darüber hinaus hat es die politischen Ereignisse in England Ende des 17. Jahrhunderts mitbestimmt (Glo­ rious Revolution) sowie die amerikanische als auch die fran­ zösische Verfassung maßgeblich geprägt.

Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Kants Grundlegungsschrift ist in vielerlei Hinsicht eine der einflussreichsten Arbeiten in der Ethik. In seinem Werk weist Kant nach, dass alle rationalen Wesen sich gemäß einem fundamentalen Moralprinzip verhalten müssen, den er den kategorischen Imperativ („Handle nur nach derjeni­ gen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“) nennt. Diese bloß for­ male Bestimmung der Moral gilt vielen als ein echter Genie­ streich.

Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft Die Kritik der reinen Vernunft gehört zu den einflussreichs­ ten Werken der Philosophiegeschichte und gehört dem In­ halt nach zur Erkenntnistheorie. Kant schlägt in seiner Kri­ tik einen dritten Weg zwischen Rationalismus (nur Verstand) und Empirismus (nur Sinnlichkeit) vor. Dieser dritte Weg begreift den Verstand und die Sinnlichkeit als gleichberech­ tigte Quellen von Erkenntnis (Transzendentalphilosophie). In Kants Transzendentalphilosophie geht es um die Ermitt­ lung der allgemeinen und notwendigen Bedingungen von Erkenntnis.

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12. Toolbox für das Philosophiestudium

John Stuart Mills Utilitarismus In der Abhandlung Utilitarismus entwirft Mill die klassische Position des Utilitarismus, nach der eine Handlung dann moralisch richtig ist, wenn sie den Nutzen für alle Betroffe­ nen maximiert. Diese Ethik legt den Fokus auf die Folgen einer Handlung. Mill übt scharfe Kritik daran, das Hand­ lungsmotiv (Kant) oder den Charakter einer Person (Tugen­ dethik) als für die Richtigkeit einer Handlung bestimmend anzusehen.

Martin Heideggers Sein und Zeit Heideggers Buch Sein und Zeit gehört zu den Gründungs­ schriften des Existentialismus und hat einen erheblichen Einfluss auf die moderne Philosophie, vor allem auf die Kontinentalphilosophie gehabt. Das Hauptthema ist „die Frage nach dem Sinn von Sein“. Heidegger versucht, die Lehre vom Sein (Ontologie) im Rekurs auf seine Da­ seinsanalyse wiederzubeleben und damit dem Sein ein neu­ es Fundament zu geben. Er untersucht die dem Sein einge­ schriebenen Beziehungen und macht deutlich, dass diese nur vor einem zeitlichen Hintergrund strukturiert und da­ mit zuallererst plausibel gemacht werden können. Heidegger nennt seinen Ansatz Fundamentalontologie. Ich denke, dass diese Liste von vielen Philosophen ge­ teilt wird. Obgleich es immer sein kann, dass andere Kolle­ gen das eine oder andere Buch durch ein anderes ersetzen würden. Insgesamt bleibt jedoch zu konstatieren, dass die oben genannten Werke nicht nur philosophische Klassiker darstellen, sondern echte Meilensteine der Philosophie sind.

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12.2. Die Werkzeuge der Philosophen

12.2. Die Werkzeuge der Philosophen Dieses Kapitel richtet sich insbesondere an Studierende der Philosophie und interessierte Laien, die wissen möchten, welche Ressourcen und Quellen Philosophen für ihre Arbeit nutzen. Dies ist genau dann relevant, wenn es darum geht, sich ebenfalls jene Werkzeuge zu Nutze zu machen, um sich zum Beispiel über bestimmte Themen und Debatten einen genaueren Überblick zu verschaffen. Dies ist insbesondere dann hilfreich, wenn Haus-, Bachelor- und Magisterarbeiten geschrieben werden müssen und man noch keinen hinrei­ chend genauen Einblick über die philosophischen Ressour­ cen bekommen hat. Im Folgenden werden die unten aufge­ führten Hilfsmittel vorgestellt und kurz kommentiert, damit Sie einen ersten Eindruck bekommen, was Sie genau erwar­ tet 1. 2. 3. 4.

Die wichtigsten Online-Enzyklopädien Die wichtigsten Suchportale für philosophische Literatur Die wichtigsten philosophischen Nachschlagewerke Die wichtigsten philosophischen Zeitschriften in Deutschland 5. Weitere interessante philosophische Links Die seriöse philosophische Arbeit basiert darauf, dass man die wichtigsten Werkzeuge kennt und in der Lage ist, diese für die eigene Arbeit gewinnbringend einzusetzen. Wenn man eine etwas längere philosophische Arbeit oder einen Forschungsaufsatz schreiben und erfolgreich veröffentlichen will (bzw. eine gute Note dafür bekommen möchte), dann muss man zunächst einmal die relevante Literatur zum The­ ma kennen. Nur in der intensiven philosophischen Ausein­ andersetzung mit anderer Fachliteratur (und dem philoso­ phischen Gespräch), kann man sein eigenes philosophische

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12. Toolbox für das Philosophiestudium

Denken entsprechend schärfen und dann selbst etwas zu einer aktuellen Forschungsdebatte beisteuern. In der Regel wird man im Philosophiestudium im Rahmen eines speziellen Seminars mit den gängigen Hilfs­ mitteln und Werkzeugen der Philosophie vertraut gemacht, doch dies ist leider nicht immer der Fall. Dann obliegt es den einzelnen Fachkollegen, die Studierenden auf das wis­ senschaftliche Arbeiten entsprechend vorzubereiten. Auch dies geschieht nicht immer in ausreichender Weise, so dass dieses Kapitel eine Hilfestellung für Studierende sein soll, die einen soliden und kompakten Überblick über die Werk­ zeuge der Philosophen haben wollen.

Online-Enzyklopädien Die drei wichtigsten Online-Enzyklopädien für Philosophie sind allesamt in englischer Sprache und versuchen, die Ge­ samtheit der philosophischen Disziplinen und Themen ab­ zudecken (es kommen laufend weitere Beiträge hinzu). Die Beiträge in den aufgeführten Quellen stammen in der Re­ gel von führenden Experten auf ihrem Gebiet. Die hohe Qualität der Beiträge wird durch ein mehrstufiges Gutach­ terverfahren (peer review) sichergestellt, worauf man sich im Allgemeinen sehr gut verlassen kann. 1. Stanford Encyclopedia of Philosophy 2. Internet Encyclopedia of Philosophy 3. Oxford Bibliographies Philosophy Die Stanford Encyclopedia of Philosophy (SEP) gehört ohne Zweifel zu den besten Ressourcen für die philosophische Forschungsarbeit. Die qualitativ ausgezeichneten Beiträge sind nicht nur informativ, lehrreich und umfassend, sondern

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12.2. Die Werkzeuge der Philosophen

gehören zu den besten Überblicksarbeiten, die es in der Phi­ losophie gibt. Die Beiträge richten sich in der Regel an Fach­ kollegen, Doktoranden sowie bereits erfahrene Studierende und werden regelmäßig überarbeitet, um die aktuelle For­ schung abzudecken. Alle Beiträge sind frei über das Internet abrufbar. Die Internet Encyclopedia of Philosophy (IEP) ist ein ausgezeichnetes Werkzeug für alle Studierenden und inter­ essierte Laien, die einen guten, soliden und kompakten Überblick über bestimmte Themen in der Philosophie haben wollen. Im Vergleich zur SEP sind die Beiträge in der IEP etwas verständlicher geschrieben, da sich die Zielgruppen unterscheiden, und können somit auch von philosophischen Laien mit Gewinn gelesen werden. Etliche Beiträge der IEP sind mit der hohen Qualität der Beiträge in der IEP ver­ gleichbar. Alle Beiträge sind frei über das Internet abrufbar. Die Oxford Bibliographies Philosophy gibt es erst seit einigen Jahren, doch sie hat sich bereits als ein herausragen­ des Nachschlagewerk in der Philosophie etablieren können. Die Beiträge unterscheiden sich inhaltlich von denen der SEP und der IEP dahingehend, dass ein Thema ausschließ­ lich anhand der relevanten Literatur erschlossen wird. Die verwendete Literatur wird jeweils pointiert dargestellt, so dass man einen guten ersten Eindruck vom Inhalt des Textes bekommt. Die Beiträge können entweder über die eigene Universität frei abgerufen (wenn die Universität einen Ver­ trag mit dem Verlag hat) oder aber kostenpflichtig herunter­ geladen werden. Mit Blick auf das philosophische Arbeiten empfiehlt es sich immer, vom Allgemeinen auf das Besondere zu gehen, so dass man ein Thema zunächst im Rekurs auf die Beiträge der oben genannten Ressourcen erschließen sollte, um sich dann weiter vorzuarbeiten. Vom allgemeinen Überblicksar­ tikel hin zu spezifischen Aufsätzen und Büchern, die das https://doi.org/10.5771/9783495999233

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12. Toolbox für das Philosophiestudium

Thema fokussiert angehen. Im nächsten Abschnitt werde ich kurz auf drei philosophische Suchportale eingehen, die man bei der Literaturrecherche unbedingt verwenden sollte.

Suchportale in der Philosophie Die Kenntnis der drei wichtigsten Suchportale in der Philo­ sophie sind eine notwendige Voraussetzung für das zeitge­ mäße philosophische Arbeiten. Eine angemessene philoso­ phische Literaturrecherche der relevanten Publikationen zu einem Thema ist im Grunde genommen ohne die Verwen­ dung dieser Portale nicht mehr möglich. 1. The Philosopher’s Index 2. Philpapers 3. Philportal Der The Philosopher’s Index ist eine bibliographische Da­ tenbank für philosophische Publikationen und umfasst alle Themenbereiche der Philosophie. Diese Datenbank war lan­ ge Zeit der Goldstandard für die philosophische Literatur­ recherche und wird von einem Team von Fachphilosophen betreut. Philpapers ist eine sehr umfangreiche bibliographische Datenbank, die seit einigen Jahren mit Recht zum Standard­ werkzeug für die philosophische Literaturrecherche gewor­ den ist und den (kostenpflichtigen) The Philosopher’s Index abgelöst hat. Diese Datenbank enthält in der Regel auch Links zu den gesuchten Publikationen, die dann häufig kos­ tenfrei runtergeladen werden können. Hier sind alle The­ men und Disziplinen der Philosophie vertreten. Das Philportal des Fachinformationsdienstes (FID) Phi­ losophie wird von der Universitäts- und Stadtbibliothek

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12.2. Die Werkzeuge der Philosophen

Köln in Kooperation mit dem Philosophischen Seminar und dem Cologne Center for eHumanities der Universität zu Köln betreut und ist erst seit Kurzem am Start. Der The Phi­ losopher’s Index ist Teil dieses FID Philosophie. Man kann auf viele Zeitschriftenbeiträge und etliche Publikationen (Bü­ cher) vollständig zugreifen und häufig auch herunterladen. Ohne Zweifel ist dies eine willkommene deutsche Alternati­ ve zu den englischsprachigen Suchportalen.

Wichtige Nachschlagewerke Es gibt eine Reihe von ausgezeichneten philosophischen Nachschlagewerken, die Philosophiestudierende kennen soll­ ten, um das Studium erfolgreich bestehen zu können. Die folgenden Werke gehören mit Recht zu den wichtigsten phi­ losophischen Werkzeugen (darüber hinaus gibt es natürlich noch weitere sehr gute Nachschlagewerke): 1. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 8 Bände 2. Historische Wörterbuch der Philosophie, 13 Bände (einschließlich Registerband) 3. Großes Werklexikon der Philosophie, 2 Bände 4. Routledge Encyclopedia of Philosophy, 10 Bände 5. The Cambridge Dictionary of Philosophy 6. Geschichte der Philosophie, 14 Bände 7. Grundriss der Geschichte der Philosophie, 30 Bände geplant 8. Geschichte der Abendländischen Philosophie, 4 Bände Die Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie von Jürgen Mittelstraß (Herausgeber) ist ein Standardwerk in der deutschsprachigen Philosophie und wurde seit der ers­

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12. Toolbox für das Philosophiestudium

ten Auflage deutlich erweitert, aktualisiert und komplett überarbeitet. Es liegen über 4000 Sach- und Personenartikel vor, die systematisch und historisch reflektierend das jewei­ lige Thema darstellen. Ein Must-have für jeden Philosophen. Das Historische Wörterbuch der Philosophie von Joachim Ritter (Herausgeber) ist ein umfassendes Standardwerk für die begriffsgeschichtliche Darstellung aller wichtigen philo­ sophischen Termini. Es wird sowohl der jeweilige Begriff detailliert erklärt als auch sein Bedeutungswandel in der Philosophiegeschichte genau beschrieben. Das Großes Werklexikon der Philosophie von Franco Volpi (Herausgeber) enthält zum einen über 800 biographi­ sche Einträge von Autoren und zum anderen ca. 1800 Arti­ kel zu den wichtigsten Werken der Philosophie. Die Artikel geben einen guten ersten Eindruck vom Inhalt der jeweili­ gen Texte wieder. Die Routledge Encyclopedia of Philosophy von Edward Craig (Herausgeber) ist das englischsprachige enzyklopädi­ sche Standardwerk und umfasst ca. 3000 Artikel, wovon ein Teil auch die nicht-abendländische Philosophie abdeckt. Die Onlineausgabe der Enzyklopädie wird stetig aktualisiert und erweitert. Hier lohnt es sich, eine private Subskription zu haben, wenn man keinen universitären Zugang hat. Das The Cambridge Dictionary of Philosophy von Robert Audi (Herausgeber) ist eine wirklich gute Alternative zu den teuren und mehrbändigen Ausgaben anderer Herausgeber. Unterschiedliche Traditionen werden genauso dargestellt wie Personen und Fachtermini. Einige Überblicksartikel run­ den das Paket sinnvoll ab. Die Geschichte der Philosophie von Wolfgang Röd (Her­ ausgeber) ist eine verständliche und gut lesbare Darstellung der abendländischen Philosophie, jedoch weniger detailreich und umfänglich als der Neue Ueberweg. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass es sich hierbei insgesamt um eine solide 166

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12.2. Die Werkzeuge der Philosophen

und ordentliche Darstellung der Philosophiegeschichte han­ delt. Der Grundriss der Geschichte der Philosophie ist eine stark erweiterte und ergänzte Neuauflage der von Friedrich Ueberweg (Herausgeber) konzipierten klassischen Philoso­ phiegeschichte, die nunmehr von Helmut Holzhey (Heraus­ geber) verantwortet wird. Die Einträge sind sehr umfassend und detailliert und geben den aktuellen Forschungsstand wieder. Das sehr umfangreiche Projekt ist jedoch noch nicht abgeschlossen, sondern work in progress. Die Geschichte der Abendländischen Philosophie von Sir Anthony Kenny (Autor) ist die deutsche Übersetzung einer kompakten englischsprachigen Philosophiegeschichte und insbesondere für den Einstieg sehr gut geeignet. Sie ist aus einem Guss geschrieben und besticht durch seine kenntnis­ reiche Darstellung. Diese Philosophiegeschichte ist beson­ ders für Studierende im Grund- und Hauptstudium geeignet.

Deutsche Philosophiezeitschriften Die wichtigsten philosophischen Zeitschriften in Deutsch­ land sollen im Folgenden kurz dargestellt werden. Darüber hinaus gibt es noch weitere, doch die hier aufgeführten zäh­ len zu den wichtigsten Organen. Die Qualität der Beiträge wird durch ein mehrstufiges Gutachtersystem gewährleistet. Über die oben genannten Suchportale ist es möglich, alle re­ levanten Zeitschriften nach entsprechenden Texten zu durch­ suchen. Es lohnt sich jedoch immer, auch die Portale der jeweiligen Zeitschriften anzugucken, um etwaige Neuigkei­ ten zu erfahren. 1. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2. Zeitschrift für philosophische Forschung https://doi.org/10.5771/9783495999233

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12. Toolbox für das Philosophiestudium

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Erkenntnis Archiv für Geschichte der Philosophie Zeitschrift für Praktische Philosophie Ethik in der Medizin Zeitschrift für Politische Theorie

Die Deutsche Zeitschrift für Philosophie wird seit 1953 her­ ausgegeben und erscheint alle zwei Monate. Die Beiträge sind in der Regel solide und kenntnisreich von Experten ge­ schrieben. Die Zeitschrift ist für alle philosophische Schulen und Traditionen offen. Die Zeitschrift für philosophische Forschung wird seit 1946 herausgegeben und erscheint viermal im Jahr. Sie ist eine der renommiertesten deutschsprachigen Fachzeitschrif­ ten für Philosophie und enthält viele sehr gute Beiträge. Die Zeitschrift ist für alle philosophische Schulen und Traditio­ nen offen. Die Zeitschrift Erkenntnis wurde 1930 erstmalig her­ ausgegeben und erscheint in der Regel sechsmal im Jahr (es gibt jedoch in früheren Jahrgängen etliche Ausnahmen). Während die Beiträge am Anfang noch in deutscher Spra­ che publiziert wurden, sind nahezu alle aktuellen Beiträge in Englisch abgefasst. Dies liegt daran, dass sich die Zeit­ schrift zu einer herausragenden internationalen Zeitschrift entwickelt hat. Die Beiträge sind überwiegend Themen im Kontext der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Logik und Sprachphilosophie gewidmet. Das Archiv für Geschichte der Philosophie wird seit 1888 herausgegeben und gehört damit zu den traditionsreichs­ ten deutschen Philosophiezeitschriften. Beiträge können in vier unterschiedlichen Sprachen – Deutsch, Englisch, Fran­ zösisch und Italienisch – eingereicht werden. Thematisch geht es insgesamt um Arbeiten zur Geschichte der Philoso­ phie.

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12.2. Die Werkzeuge der Philosophen

Die Zeitschrift für Praktische Philosophie gibt es erst seit 2014 und gehört damit zu den jüngsten Zeitschriften in der deutschen Philosophie, die zweimal im Jahr erscheint. Alle Beiträge können erfreulicher Weise kostenfrei als pdf heruntergeladen werden. Thematisch sind alle Bereiche aus der praktischen Philosophie willkommen, wobei alle Schu­ len und Traditionen berücksichtigt werden. Die Zeitschrift bietet gerade auch jüngeren Kollegen/Innen die Möglichkeit, etwas zu publizieren. Die Ethik in der Medizin wird seit 1989 herausgegeben und erscheint viermal im Jahr. Es gibt sowohl deutsche als auch englische Beiträge, die die Gesamtheit des medi­ zinethischen Bereichs abdecken. Die Zeitschrift hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung zugenommen. Die Zeitschrift für Politische Theorie wird seit 2010 her­ ausgegeben und erscheint zweimal im Jahr. Auch wenn die Zeitschrift eher der Politikwissenschaft zuzuordnen ist, gibt es dennoch zahlreiche Beiträge, die auch für die politische Philosophie bedeutsam sind.

Weitere Hilfsmittel Mit Blick auf die obigen Beispiele gibt es weitere wichtige Hilfsmittel für Philosophen (und interessierte Laien). Einige interessante Informationen können über folgende Links ab­ gerufen werden. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

GoogleScholar Academia Dailynous Leiter Reports. A Philosophy Blog Information Philosophie Listserv https://doi.org/10.5771/9783495999233

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12. Toolbox für das Philosophiestudium

Viele Philosophen haben ein Profil auf GoogleScholar, auf dem ihre Publikationen aufgelistet sind und angezeigt wird, wie oft eine Publikation von anderen zitiert wird. Dies ist ein wichtiger Indikator dafür, wie hoch der Einfluss des ei­ genen philosophischen Beitrags mit Blick auf die Forschung anderer Kollegen/Innen ist. Die Daten werden regelmäßig aktualisiert. Es gibt jedoch immer wieder technische Proble­ me, so dass nicht immer alle Zitationen erkannt werden. Wenn ein Beitrag häufig zitiert wird, dann kann man davon ausgehen, dass der Einfluss insgesamt höher ist, als wenn ein Beitrag im wissenschaftlichen Kontext gar nicht wahrge­ nommen wird. Grundsätzlich bleibt jedoch zu konstatieren, dass über 95% aller philosophischen Publikationen (es gibt wirklich sehr viele) keinmal zitiert werden. Mit anderen Worten: Jede Zitation ist bereits ein schöner Erfolg. Die Webseite www.academia.edu ist so etwas wie Face­ book für Akademiker. Hier können sich die Wissenschaft­ ler/Innen in ihrem besten Licht präsentieren und ihre Publi­ kationen hochladen (allerdings häufig nur in einer vor­fina­ len Fassung), ihren Lebenslauf zeigen, ihre aktuellen Publi­ kationen zur Diskussion freigeben (um wertvolles Feedback zu bekommen), nach interessanten Stipendien und Projek­ ten Ausschau halten, nach Literatur suchen oder mit Kolle­ gen/Innen Kontakt aufnehmen. Die Webseite Dailynous bietet eine Vielzahl von unter­ schiedlichen aktuellen Informationen in und um Philosophie, Philosophen und ihre Arbeit. Es lohnt sich immer, mal wie­ der dort reinzuschauen. Der Leiter Reports ist ein sehr populärer Philosophieb­ log und seit 2003 online. Hier erfährt man alles rund um die Philosophie, Philosophen, ihre Arbeit und aktuelle Stellung­ nahmen zu unterschiedlichen Themen. Sehr lesenswert. Die Zeitschrift Information Philosophie enthält nicht nur interessante Beiträge zu aktuellen Themen, sondern infor­ 170

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12.2. Die Werkzeuge der Philosophen

miert über alles, was das Philosophenherz interessiert: Neu­ igkeiten, Neuerscheinungen, aktuelle Berufungen, Stellung­ nahmen, eine Zeitschriftenschau, philosophische Events etc. Es lohnt sich, diese Zeitschrift zu abonnieren, um auf dem Laufenden in der deutschsprachigen Philosophie zu sein. Der Newsletter der Universität von Liverpool namens Listserv ist ohne Zweifel die wichtigste philosophische In­ formationsquelle mit Blick auf wissenschaftliche Events (Workshops, Konferenzen, Vorträge, Summerschools), Jobs, allgemeine Ausschreibungen und Neuigkeiten etc. Täglich erhält man bis zu 40 Emails mit den neuesten Informatio­ nen in der Philosophie.

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Epilog Unsere philosophische Reise ist nunmehr zu Ende gegan­ gen und ich hoffe, dass ich Sie für die Philosophie und das philosophische Denken im Allgemeinen interessieren konnte. Es ist klar, dass diese kleine Einführung in die Phi­ losophie weder Vollständigkeit anstreben wollte noch dies möglich gewesen wäre. Es ging mir allein darum, Ihnen ei­ nige grundlegende Themen in der Philosophie in verständ­ licher Weise vorzustellen und Sie zum Mit- und Weiterden­ ken anzuregen. Wenn mir das mit diesem Buch gelungen ist, dann bin ich zufrieden. Die Literaturempfehlungen um­ fassen etliche Schriften, die Ihnen bei der weiterführenden Lektüre helfen können. Ich habe darauf geachtet, dass die Literaturliste sowohl verständliche Publikationen enthält als auch fachphilosophische Bücher umfasst.

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Bibliographie Kapitel 1 John-Stewart Gordon, Moralische Orientierung. Eine kurze Phi­ losophie des guten Lebens, Verlag Karl Alber, Freiburg/Mün­ chen 2021 Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, Piper, München 1994 Thomas Nagel, Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einfüh­ rung in die Philosophie, Reclam, Stuttgart 2012 Bertrand Russel, Philosophie des Abendlandes, Piper, München 2004 Holm Tetens, Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung, C.H. Beck, München 2015

Kapitel 2 A.C. Grayling, The History of Philosophy, Penguin, München 2020 Anthony Kenny, Geschichte der Abendländischen Philosophie, 4 Bände, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2014 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philoso­ phen, Meiner Verlag, Hamburg 2015 A.A. Long and D.N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen: Texte und Kommentare, J.B. Metzler, Heidelberg 2006 Jaap Mansfeld und Oliver Primavesi, Die Vorsokratiker, Reclam, Stuttgart 2021

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Bibliographie

Susan S. Meyer, Ancient Ethics, Routledge, London 2007 Julian Nida-Rümelin, Angewandte Ethik: Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch, Kröner Ver­ lag, Stuttgart 2012 Wolfgang Röd, Geschichte der Philosophie, 14 Bände, C.H. Beck, München 2021 Bertrand Russel, Philosophie des Abendlandes, Anaconda Verlag, Köln 2012

Kapitel 3 Peter Baumann, Erkenntnistheorie: Lehrbuch Philosophie, J.B. Metzler, Heidelberg 2015 Ansgar Beckermann, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, De Gruyter, Berlin 2008 Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, De Gruy­ ter, Berlin 2013 Gottfried Gabriel, Grundprobleme der Erkenntnistheorie: Von Descartes zu Wittgenstein, UTB, Stuttgart 2019 Thomas Grundmann, Analytische Einführung in die Erkenntnis­ theorie, De Gruyter, Berlin 2017 Christoph Horn, Einführung in die Moralphilosophie, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2018 Christoph Horn, Einführung in die Politische Philosophie, Wis­ senschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2012 Johannes Hübner, Einführung in die theoretische Philosophie, J.B. Metzler, Heidelberg 2015 Dietmar Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, UTB, Stuttgart 2018 Will Kymlicka, Contemporary Political Philosophy: An Introduc­ tion, Oxford University Press, Oxford 2001 Thomas Metzinger, Grundkurs Philosophie des Geistes: Band 2: Das Leib-Seele-Problem, Brill/Mentis, Paderborn 2019

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Kapitel 4

Julian Nida-Rümelin, Angewandte Ethik: Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch, Kröner Ver­ lag, Stuttgart 2012 James Rachels, The Elements of Moral Philosophy, McGraw-Hill Education, New York 2018 Christof Rap, Metaphysik: Eine Einführung, C.H. Beck, München 2016 Heinrich Schmidinger, Metaphysik: Ein Grundkurs, W. Kohlham­ mer, Stuttgart 2009 Markus Schrenk, Handbuch Metaphysik, J.B. Metzler, Heidel­ berg 2017 Peter Singer, Praktische Ethik, Reclam, Stuttgart 2013 Steven B. Smith, Political Philosophy, Yale University Press, New Haven 2012 Jonathan Wolff, An Introduction to Political Philosophy, Oxford University Press, Oxford 2016

Kapitel 4 René Descartes, Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen (Hrsg. Christian Wohlers), Meiner, Hamburg 2011 Gerhard Ernst, Einführung in die Erkenntnistheorie, Wissen­ schaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2012 Markus Gabriel, Die Erkenntnis der Welt. Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2012 Thomas Grundmann, Analytische Einführung in die Erkenntnis­ theorie, De Gruyter, Berlin 2017 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (Hrsg. Wilhelm Wei­ schedel), Bände III/IV, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974 John Locke, An Essay Concerning Human Understanding/Ein Versuch über den menschlichen Verstand (Englisch/Deutsch), Reclam, Stuttgart 2020 https://doi.org/10.5771/9783495999233

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Bibliographie

Kapitel 5 Aristoteles, Nikomachische Ethik (Hrsg. und übersetzt Ursula Wolf), Rowohlt, Hamburg 2006 John-Stewart Gordon, Moralische Orientierung. Eine kurze Phi­ losophie des guten Lebens, Verlag Karl Alber, Freiburg/Mün­ chen 2021 John-Stewart Gordon, Ethik als Methode, Verlag Karl Alber, Frei­ burg/München 2019 Günther Grewendorf und Georg Meggle, Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974 Christoph Horn, Einführung in die Moralphilosophie. Eine Ein­ führung, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2018 Dietmar Hübner, Einführung in die Ethik, UTB, Stuttgart 2021 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Hrsg. Wilhelm Weischedel), Band VII, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000 Alasdair MacIntyre, Geschichte der Ethik im Überblick, Beltz Athäneum, Weinheim 2000 John Stuart Mill, Utilitarismus (Hrsg. und übersetzt Manfred Kühn), Meiner, Hamburg 2009 Peter Singer, Praktische Ethik, Reclam, Stuttgart 2013

Kapitel 6 Anselm von Canterbury, Proslogion (Hrsg. und übersetzt Robert Theis), Reclam, Stuttgart 2005 René Descartes, Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen (Hrsg. Christian Wohlers), Meiner, Hamburg 2011 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (Hrsg. Wilhelm Wei­ schedel), Bände III/IV, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974

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Kapitel 7

John L. Mackie, Wunder des Theismus. Argumente für und ge­ gen die Existenz Gottes, Reclam, Stuttgart 1986 Alvin Plantinga, God, Freedom, and Evil, William B Eerdmans Publishing Co, Michigan 1959 Wolfgang Röd, Der Gott der reinen Vernunft. Ontologischer Gottesbeweis und rationalistische Philosophie, C.H. Beck, München 2009 Richard Swinburne, The Existence of God, Oxford University Press, Oxford 1979 Richard Swinburne, The Coherence of Theism, Oxford Universi­ ty Press, Oxford 1977

Kapitel 7 Udo Bredow und Annemarie C. Mayer (Hrsg.), Der Mensch – das Maß aller Dinge?, Primus Verlag, Darmstadt 2001 Ernst Cassirer, Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur, Kohlhammer, Stuttgart 1960 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Gesamtausgabe, Band 3, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1993 Odo Marquard, Anthropologie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (Hrsg. Joachim Ritter), Band 1, 1971, 362–374 Helmut Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Gesammelte Schriften, Band 4, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003 Paul Rabinow, Was ist Anthropologie?, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Meiner, Hamburg 2018 Christian Thies, Einführung in die philosophische Anthropologie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2009

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Bibliographie

Kapitel 8 Aristoteles, Nikomachische Ethik (Hrsg. und übersetzt Ursula Wolf), Rowohlt, Hamburg 2006, Kapitel 5. John-Stewart Gordon, Aristoteles über Gerechtigkeit. Das V. Buch der Nikomachischen Ethik, Verlag Karl Alber, Frei­ burg/München 2007 John-Stewart Gordon, Ethik als Methode, Verlag Karl Alber, Frei­ burg/München 2019 John-Stewart Gordon, Moral Egalitarianism, in: Internet Ency­ clopedia of Philosophy, online 2007 Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines libera­ len Egalitarismus, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004 Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (Hrsg. Iring Fetscher), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984 Christoph Horn und Nico Scarano (Hrsg.), Philosophie der Ge­ rechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Suhr­ kamp, Frankfurt am Main 2002 Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, Reclam, Stuttgart 2000 Angelika Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000 Platon, Der Staat (Hrsg. Thomas Szlezák, übers. Rüdiger Rufe­ ner), De Gruyter, Berlin 2011 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristenzeitung, Nr. 5, 1946, 105–108

Kapitel 9 Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Fischer, Frankfurt am Main 2003

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Kapitel 10

Robert Kane, The Oxford Handbook of Free Will, Oxford Univer­ sity Press, Oxford 2011 Geert Keil, Willensfreiheit, De Gruyter, Berlin 2017 Ulrich Pothast, Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise, Suhr­ kamp, Frankfurt am Main 1987 Ulrich Pothast, Seminar: Freies Handeln und Determinismus, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1978 John R. Searle, Freiheit und Neurobiologie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004 Henrik Walter, Neurophilosophie der Willensfreiheit, Mentis, Paderborn 1999

Kapitel 10 Isaac Asimov, Alle Roboter-Geschichten, Bastei Lübbe, Köln 1982 Ansgar Beckermann, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, de Gruyter, Berlin 2008 Ansgar Beckermann, Das Leib-Seele-Problem: Eine Einführung in die Philosophie des Geistes, UTB, Stuttgart 2011 Nick Bostrom, Superintelligence: Paths, Dangers, Strategies, Ox­ ford University Press, Oxford 2005 Mark Coeckelbergh, AI Ethics, MIT Press, Cambridge (US) 2020 John-Stewart Gordon und Sven Nyholm, The Ethics of Artificial Intelligence, in: Internet Encyclopedia of Philosophy, 2021 David Gunkel, Robot rights, MIT Press, Cambridge (US) 2018 David Gunkel, The Machine Question. Critical Perspectives on AI, Robots, and Ethics, MIT Press, Cambridge (US) 2012 Johannes Hübner, Einführung in die theoretische Philosophie, J.B. Metzler, Heidelberg 2015 Ray Kurzweil, Menschheit 2.0. Die Singularität naht (übers.), Lo­ la Books, Berlin 2014

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Bibliographie

Janina Loh, Roboterethik. Eine Einführung, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2019 Thomas Metzinger, Grundkurs Philosophie des Geistes: Band 2: Das Leib-Seele-Problem, Brill/Mentis, Paderborn 2019 Cathrin Misselhorn, Grundfragen der Maschinenethik, Reclam, Stuttgart 2018

Kapitel 11 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Rowohlt, Hamburg 2006 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philoso­ phen, Hamburg 2015 Philippa Foot, Die Wirklichkeit des Guten, Fischer, Frankfurt am Main 1997 John-Stewart Gordon, Moralische Orientierung. Eine kurze Phi­ losophie des guten Lebens, Verlag Karl Alber, Freiburg/Mün­ chen 2021 John-Stewart Gordon, Modern Morality and Ancient Ethics, in: Internet Encyclopedia of Philosophy, 2013 Martha C. Nussbaum, Creating Capabilities. The Human De­ velopment Approach, Harvard University Press, Cambridge (Mass.) 2013 Elif Özmen, Moral, Rationalität und gelungenes Leben, Mentis, Paderborn 2005 Wolfgang Pleger, Das gute Leben. Eine Einführung in die Ethik, J.B. Metzler, Heidelberg 2020 Susan Wolf, Happiness and Meaning. Two Aspects of the Good Life, in: Self-interest (Hrsg. E. F. Paul, F. D. Miller, und J. Paul), Cambridge University Press, Cambridge 1997: S. 207–225

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Kapitel 12

Kapitel 12 Annemarie Pieper und Urs Thurnherr, Was sollen Philosophen lesen?, Erich Schmidt Verlag, Berlin 1994

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